folter 2014 - Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm

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folter 2014 - Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm
FOLTER 2014
30 JAHRE GEBROCHENE
VERSPRECHEN
Bericht zur weltweiten
Anwendung von Folter
30 Jahre nach
Verabschiedung der
Antifolterkonvention
der Vereinten Nationen
© Amnesty International, 28. Mai 2014
V.i.S.d.P.: Markus N. Beeko
Alle Rechte an den in dieser Broschüre abgebildeten Fotos liegen,
soweit nicht anders angegeben, bei Amnesty International.
Amnesty International
Inhalt
1 ANGRIFF AUF DIE MENSCHENWÜRDE – DIE GLOBALE KRISE
AUS GRAUSAMKEIT, VERSAGEN UND ANGST 4
Einleitung von Salil Shetty,
internationaler Generalsekretär von Amnesty International
2 FOLTER – EINE MENSCHENRECHTS­VERLETZUNG UND EINE STRAFTAT 6
3 DAS GLOBALE AUSMASS DER FOLTER 7
4 WER IST IN GEFAHR? 8
5 WANN UND WARUM KOMMT ES ZU FOLTER? 9
6 WELTWEITE Kampagne „Stop Folter“ 11
7 SCHLÜSSELFAKTOR SCHUTZMechanismen 12
8 SCHWERPUNKTLÄNDER DER KAMPAGNE 14
9 Foltermethoden 18
10 In Haft eingesetzte Folterinstrumente 20
11 Zur Lage in den verschiedenen Weltregionen 21
Afrika 21
Asien und Pazifik 22
Europa und Zentralasien 24
Naher und mittlerer Osten und Nordafrika 27
Amerika 30
Anhang 32
Zusammenfassung des rechtlichen Rahmens 32
Definitionen und Begriffe 36 BERICHT / 3
BERICHT / 4
Amnesty International
„Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 5
1 ANGRIFF AUF DIE MENSCHENWÜRDE –
DIE GLOBALE KRISE AUS GRAUSAMKEIT,
VERSAGEN UND ANGST
Einleitung von Salil Shetty,
Internationaler Generalsekretär
von Amnesty International
Elektroschocks. Schläge. Vergewaltigung. Demütigung.
Scheinhinrichtungen. Verbrennungen. Schlafentzug.
Wasserfolter. Viele Stunden in gekrümmten Positionen.
Einsatz von Zangen, Drogen und Hunden.
Die Worte allein klingen bereits wie der Stoff, aus dem
Alpträume gemacht sind. Doch für zahllose Männer,
­Frauen und Kinder in vielen Teilen der Welt gehören
­diese unvorstellbaren Schrecken zur täglichen Realität.
Folter ist abscheulich. Sie ist grausam und unmensch­
lich. Sie ist niemals gerechtfertigt. Sie ist falsch und
kontraproduktiv. Und sie vergiftet das Rechtsstaats­
prinzip, indem sie es durch Terror ersetzt. Niemand ist
mehr sicher, wenn Regierungen dem Einsatz von Folter
zustimmen.
Nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges haben
Regierungen weltweit diese grundlegenden Wahrheiten
anerkannt, als sie 1948 die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte verabschiedeten. Eine Erklärung, in der
das Grundrecht auf ein Leben ohne Folter, ohne Grau­
samkeit, verankert ist – für jeden Menschen überall auf
der Welt.
1966 wurde dieses Recht, das unserem menschlichen
Miteinander zugrunde liegt, in einem rechtsverbind­
lichen internationalen Abkommen, dem Internationalen
Pakt über bürgerliche und politische Rechte, durch ein
ausdrückliches und umfassendes Verbot der Folter und
anderer Formen der Misshandlung festgeschrieben.
Vor 30 Jahren, im Jahr 1984, wurde dieser Fortschritt
durch die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen
weiter ausgebaut. Diese Konvention war bahnbrechend,
denn sie bot konkrete Schritte, um das internationale
Folterverbot durchzusetzen, indem sie rechtliche Regeln
festlegte, die speziell dazu dienen, Folter zu verhindern,
die Täter_innen zu bestrafen und Gerechtigkeit und
­Wiedergutmachung für die Opfer sicherzustellen.
Diese Maßnahmen sollen jedoch nicht nur Folter und
andere Misshandlungen auf nationaler Ebene verhindern,
sondern sie stellen auch sicher, dass niemand in ande­
re Länder verschleppt werden darf, um dort gefoltert
zu werden, und dass Täter_innen nicht anderswo einen
sicheren Zufluchtsort finden.
Menschen, die andere gefoltert haben, werden heute
über Landesgrenzen hinweg strafrechtlich verfolgt. Es
gibt eine verlässliche internationale Rechtsgrundlage.
155 Länder sind Vertragsstaaten der UN-Konvention.
Das ist tatsächlich ein bedeutender Fortschritt.
Dennoch kommen zahlreiche Regierungen ihrer Verant­
wortung nicht nach. Drei Jahrzehnte nach Verabschie­
dung der Konvention – und mehr als 65 Jahre nach
Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Men­
schenrechte – ist Folter nicht nur weiterhin existent, sie
ist sogar auf dem Vormarsch. Das erschreckende Aus­
maß, in dem Folter heute angewendet wird, zeigt die tiefe
Kluft zwischen dem, was die Regierungen vor 30 Jahren
beschlossen haben, und dem, was sie heute tun.
Amnesty International
BERICHT / 5
In den vergangenen fünf Jahren hat Amnesty International
über Fälle von Folter und anderen Formen der Misshand­
lung in 141 Ländern berichtet. In einigen Ländern wurde
Folter routinemäßig und systematisch angewandt, in
anderen wurden Einzel- und Ausnahmefälle dokumentiert
– doch selbst ein einziger Fall von Folter und Misshand­
lung ist absolut inakzeptabel.
Unsere weltweite Befragung zeigt zudem, dass die
überwältigende Mehrheit der Menschen eindeutige Vor­
schriften gegen Folter verlangt. Solche Vorschriften und
andere Schutzmaßnahmen könnten Folter verhindern
und schließlich ganz abschaffen. Die herrschende Dop­
pelmoral hinsichtlich Folter muss entschieden bekämpft
werden. Die Straflosigkeit muss beendet werden.
Folter ist ein beliebtes Mittel der Unterdrückung. Ihr
Einsatz ist jedoch nicht auf autoritäre und diktatorische
Regime beschränkt – wenngleich sie dort besonders weit
verbreitet ist. Folter ist auch nicht nur der Geheimpolizei
vorbehalten. Zwar nehmen viele Staaten das absolute Fol­
terverbot ernst und haben bereits bedeutende Fortschrit­
te im Kampf gegen Folter erzielt, dennoch sind auf allen
Kontinenten Regierungen jeglicher politischer Couleur an
diesem extremen Verfall der Menschlichkeit beteiligt. Sie
wenden Folter an, um Informationen zu erpressen, um
Geständnisse zu erzwingen, um abweichende Meinungen
zum Verstummen zu bringen und als grausame Form der
Bestrafung.
Seit mehr als 50 Jahren setzt sich Amnesty International
dafür ein, eines der heimtückischsten Verbrechen aus­
zumerzen, das ein Mensch einem anderen antun kann.
Vor 30 Jahren hat unsere Bewegung die Kampagne für
ein absolutes Folterverbot angeführt, die zur Verabschie­
dung der UN-Antifolterkonvention geführt hat. Jetzt rufen
wir eine weltweite Kampagne „Stop Folter“ ins Leben,
um die damaligen Versprechen in die Tat umzusetzen.
Die jüngste Kampagne in unserem langjährigen Kampf
hat zum Ziel, Folter endgültig zu beenden. Wir können
das schaffen, wenn sich jeder einzelne – vom Menschen
auf der Straße bis zum Staatsoberhaupt – zwischen den
Folterer und sein Opfer stellt.
Eine neue weltweite Befragung im Auftrag von Amnesty
International kommt zu dem besorgniserregenden Er­
gebnis, dass – 30 Jahre nach Verabschiedung der UNKonvention – fast die Hälfte der Menschheit noch immer
in Angst vor schrecklichen Misshandlungen lebt.
Hier zeigt sich ein gewaltiges politisches Versagen –
genährt von einer zerstörerischen Haltung, die schlicht
leugnet, dass Folter existiert. Diejenigen, die Folter an­
ordnen oder anwenden, müssen in der Regel keine Straf­
verfolgung fürchten. Folter bleibt in den meisten Fällen
ungesühnt – es wird nicht ermittelt, und niemand wird
vor Gericht gestellt. Viele der Regierungen, die sich der
weltweiten Ächtung von Folter angeschlossen und diese
entmenschlichende Praxis gesetzlich verboten haben,
setzen Folter weiterhin ein oder erleichtern zumindest
ihren Einsatz.
Amnesty International wird sich weltweit dafür einsetzen,
Folter abzuschaffen. Wir werden Regierungen anspre­
chen, ­wir werden demonstrieren und die Brutalität dieser
Misshandlung öffentlich machen. Wir werden uns an die
Seite derjenigen stellen, die sich mutig für den Schutz
vor Folter einsetzen. Wir werden gemeinsam eingreifen,
wann immer Menschen gefoltert werden. Wir werden
Folterer zur Rechenschaft ziehen. Wir werden Folteropfer
wissen lassen, dass sie nicht allein und vergessen sind.
Anstatt durch eine Nulltoleranz-Politik gegenüber Folter
das Rechtsstaatsprinzip zu achten, belügen Regierungen
beharrlich ihr eigenes Volk und die ganze Welt. Anstatt
sich um wirksame Maßnahmen zum Schutz ihrer Bevöl­
kerung vor Folterern zu kümmern, schaffen sie Voraus­
setzungen dafür, dass Folter zunimmt. Dieses weit
verbreitete und schädliche Vorgehen beweist, dass ein
globales Folterverbot nicht ausreicht.
Der Kampf gegen Folter ist Teil unserer Geschichte, er ist
unser Auftrag, und er wird uns so lange begleiten, bis die
letzte Folterkammer geschlossen ist.
BERICHT / 6
Amnesty International
2 FOLTER – EINE MENSCHENRECHTS­ VERLETZUNG UND EINE STRAFTAT
Unter Folter versteht man jede Handlung, bei der eine
Person einer anderen vorsätzlich große Schmerzen
oder Leiden zufügt, um einen bestimmten Zweck zu
erreichen, so zum Beispiel, um Informationen oder
Geständnisse zu erhalten, um jemanden zu bestrafen,
einzuschüchtern oder zu nötigen. Die Täter_innen sind
entweder selbst Staatsbedienstete oder ihre Handlungen
werden zumindest in irgendeiner Form von staatlichen
Behörden gebilligt.
So lässt sich die rechtliche Definition von Folter nach
der UN-Antifolterkonvention zusammenfassen. Sie
spiegelt die vollkommene Ablehnung der internationalen
Gemeinschaft gegenüber Handlungen wider, bei denen
Menschen andere körperlich und/oder seelisch angreifen
und ihren Opfern absichtlich große Schmerzen zufügen,
wobei diese Schmerzen als Mittel zum Zweck eingesetzt
und die Opfer zu reinen Instrumenten gemacht werden.
Es überrascht daher nicht, dass das Recht auf Schutz vor
Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und er­
niedrigender Behandlung oder Strafe das völkerrechtlich
wohl am besten geschützte Menschenrecht ist.
Die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten lassen
absolut keinen Spielraum: Folter und andere Formen
der Misshandlung sind unter allen Umständen, in jedem
Land der Welt und an jedem Menschen verboten.
Dieses Verbot gilt auch für Zeiten extremer Ausnahme­
zustände, wie Kriege, innere Unruhen sowie natürliche
und menschengemachte Katastrophen. Und es schützt
auch Personen, die eine extreme Bedrohung darstellen,
wie feindliche Soldat_innen, Spion_innen, Schwer­
verbrecher_innen oder Terrorist_innen.
Rechtlich gesehen ist das absolute Verbot von Folter und
anderen Formen der Misshandlung nicht verhandelbar
– es kann also selbst während eines Ausnahmezustands
nicht gelockert werden. Das Verbot wurde international
mit solch großer Einigkeit angenommen, dass es zu einer
Regel des Völkergewohnheitsrechts geworden ist, das
selbst für die Staaten bindend ist, die nicht zu den Ver­
tragsstaaten der betreffenden Menschenrechtsabkommen
gehören.
Folter und bestimmte Formen von Misshandlungen sind
Straftaten nach dem Völkerrecht. So gelten sie zum
Beispiel nach den vier Genfer Konventionen, die von allen
Staaten der Welt ratifiziert wurden, als Kriegsverbrechen.
Unter bestimmten Umständen können diese Handlungen
auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völker­
mord darstellen – zum Beispiel nach dem Rom-Statut
des Internationalen Strafgerichtshofs.
Bereits eine einzige Folterhandlung ist laut Völkerrecht
eine Straftat. Dies bedeutet – zumindest für die 155
Staaten, die die Antifolterkonvention ratifiziert haben –
dass Regierungen verpflichtet sind, Folter unter Strafe zu
stellen, jegliche Foltervorwürfe umfassend und unpar­
teiisch zu untersuchen und die Täter_innen bei entspre­
chender Beweislage zu bestrafen.
Befindet sich ein mutmaßlicher Folterer in einem Ver­
tragsstaat der Antifolterkonvention, so muss dieser Staat
dem „Weltrechtsprinzip“ folgend eine Untersuchung
des Falls einleiten, die verdächtige Person gegebenen­
falls festnehmen und sie entweder an ein anderes Land
oder Gericht zur Strafverfolgung überstellen oder selbst
strafrechtlich verfolgen. Dies gilt selbst dann, wenn die
eigentliche Folterhandlung in einem anderen Land ausge­
übt wurde und keine eigenen Staats­bür­ger_innen beteiligt sind.
Alle Opfer von Folter und anderen Formen der Misshand­
lung – Überlebende von Folter und Familienangehörige
von zu Tode gefolterten Menschen – haben das Recht auf
Entschädigungsleistungen, Rehabilitation, Gerechtigkeit
und andere Formen der Wiedergutmachung.
30 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Konvention muss
endlich sichergestellt werden, dass diese Gesetze und
Normen überall umfassend in die Praxis umgesetzt
werden.
BERICHT / 7
Amnesty International
3 DAS GLOBALE AUSMASS DER FOLTER
Es ist unmöglich, das globale Ausmaß der Folter
umfassend und statistisch präzise zu ermitteln. Folter –
verstanden als internationale Straftat, als politischer und
diplomatischer Skandal, als Übergriff, der von fast allen
Regierungen abgelehnt und rhetorisch oder in der Praxis
verurteilt wird – findet im Verborgenen statt. Regierun­
gen bemühen sich oftmals mehr darum, die Existenz von
Folter abzustreiten oder zu vertuschen, als effektive und
transparente Untersuchungen zu Foltervorwürfen einzu­
leiten und die Täter_innen vor Gericht zu stellen.
Folter ist in den meisten Ländern nur lückenhaft doku­
mentiert. Bei den Opfern handelt es sich oft um Tatver­
dächtige, die kaum Möglichkeiten haben, Beschwerde
einzulegen, und die problemlos ignoriert oder zurück­
gewiesen werden können, wenn sie es doch tun. Häufig
sind die Opfer auch nicht in der Lage oder zu verängstigt,
um Folter zu melden, und glauben nicht daran, dass tat­
sächlich wirksame Maßnahmen ergriffen werden, sollten
sie Anzeige erstatten.
Verlässliche länderbezogene Statistiken gibt es nicht.
Es ist unmöglich, zu sagen, wie viele Menschen im
vergangenen Jahrhundert, im vergangenen Jahrzehnt
oder selbst im vergangenen Jahr gefoltert wurden. Alle
Statistiken zu Folter – ob zur Zahl der Länder, in denen
Folterfälle gemeldet wurden, oder zur zahlenmäßigen
Entwicklung von Foltervorwürfen in einem bestimmten
Land – sind mit Vorsicht zu behandeln.
Dennoch belegen die von Amnesty International gesam­
melten Beweise, die weltweite Recherche der Organi­
sation und ihre Erfahrungen, die sie in mehr als fünf
Jahrzehnten der Dokumentation und des Kampfes gegen
diese Misshandlung gewonnen hat, dass Folter – 30 Jahre
nach Verabschiedung der UN-Antifolterkonvention – wei­
ter auf dem Vormarsch ist.
In den vergangenen fünf Jahren hat Amnesty Internati­
onal über Folter und andere Formen der Misshandlung
in mehr als drei Viertel aller Länder berichtet. In einigen
kommt es nur vereinzelt zu Fällen von Folter und anderen
Misshandlungen, in vielen ist Folter jedoch noch immer
an der Tagesordnung.
Zwischen Januar 2009 und März 2014 hat Amnesty
International Berichte über Folter und andere Misshand­
lungen durch Staatsbedienstete aus 141 Ländern erhal­
ten. Dies sind nur die Fälle, die der Organisation bekannt
wurden, daher spiegeln sie nicht das gesamte Ausmaß
der Folter weltweit wider. Da in diesen Statistiken nur
Fälle berücksichtigt werden, die sich belegen lassen, ist
das tatsächliche Ausmaß vermutlich bedeutend größer.
Amnesty International
BERICHT / 8
4 WER IST IN GEFAHR?
Wenn Regierungen erst einmal Foltermaßnahmen an­
wenden oder erlauben, ist niemand davor sicher.
So gut wie jeder kann zum Opfer werden – unabhängig
von ­Alter, Geschlecht und ethnischer oder politischer
Zugehörigkeit. Oftmals foltern die Behörden direkt und
stellen dann erst Fragen.
Es gibt jedoch Personen und Gruppen, die häufiger Opfer
von Folter werden als andere. In zahlreichen Ländern
werden Personen gefoltert, weil sie eine bestimmte poli­
tische Haltung vertreten oder von ihrem Recht auf freie
Meinungsäußerung Gebrauch machen. Menschen, die
einer bestimmten religiösen Gruppe oder einer anderen
Minderheit angehören, oder die wegen ihrer Identität
ins Visier der Behörden geraten, droht ebenfalls erhöhte
Foltergefahr. Personen, die einer Straftat verdächtigt
werden, werden häufig zum Opfer von Folter. Auch
Angehörige bewaffneter Gruppen, Terrorismusverdächtige
und Menschen, die aus anderen Gründen als Gefahr für
die Staatssicherheit gelten, sind besonders gefährdet.
In vielen Ländern kann mit großer Sicherheit davon aus­
gegangen werden, dass sie gefoltert werden.
Andere werden gefoltert, weil sie zur falschen Zeit am
falschen Ort waren, weil man sie verwechselt hat oder
weil sie das Missfallen mächtiger wirtschaftlicher oder
politischer Interessengruppen erregt haben – dies ist vor
allem in den Ländern ein großes Problem, in denen der
Polizeiapparat von Korruption durchzogen ist.
Viele Opfer von Folter gehören benachteiligten Gruppen
an: Frauen, Kinder, Angehörige ethnischer Minderheiten,
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Inter­
sexuelle. Besonders häufig sind auch Menschen betrof­
fen, die in Armut leben. Es sind genau diese Menschen,
die nur unzureichenden oder überhaupt keinen Zugang
zu Wiedergutmachungsleistungen haben. Es fehlt ihnen
am notwendigen Wissen, an Kontakten und finanziel­
len Mitteln, um eine Beschwerde gegen ihre Folterer
einzureichen. Sie halten es für unwahrscheinlich, dass
die Behörden ihnen Glauben schenken, und sie müssen
befürchten, im Falle einer Anzeige erneut misshandelt
zu werden.
Kinder und Jugendliche werden in zahlreichen Ländern
zum Opfer von Folter. In Polizeigewahrsam drohen ihnen
häufig Vergewaltigung und andere Formen sexueller Ge­
walt durch Polizeiangehörige und Mithäftlinge.
In vielen Ländern werden Frauen Opfer von Vergewalti­
gungen und anderen sexuellen Übergriffen durch Staats­
bedienstete. In vielen Fällen haben sie kaum Zugang zu
Rechtsmitteln und werden durch Gesetze diskriminiert,
sodass es für sie noch schwieriger ist, Gerechtigkeit zu
erlangen. Auch Männer werden Opfer von Vergewaltigung
und anderen Formen sexueller Gewalt – die Hauptbetrof­
fenen sind jedoch Frauen. Einige Formen von Folter und
Misshandlungen betreffen ausschließlich Frauen, wie
zum Beispiel Zwangsabtreibungen, Abtreibungsverbote,
Zwangssterilisationen und Genitalverstümmelungen.
Inhaftierte Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und
Intersexuelle werden ebenfalls in anderer Weise angegrif­
fen als heterosexuelle Häftlinge. Transgender-Personen
werden oftmals entsprechend ihrer äußeren Geschlechts­
merkmale Hafteinrichtungen zugewiesen und nicht
entsprechend des Geschlechts ihrer Wahl. Lesbische und
schwule Häftlinge werden häufiger Opfer sexueller und
anderer Gewalt als heterosexuelle Häftlinge, und zwar
sowohl durch Mithäftlinge als auch durch das Personal
der Hafteinrichtungen.
Maßnahmen zur Bekämpfung von Folter müssen deshalb
alle Geschlechter umfassen und geschlechtsspezifische
Aspekte berücksichtigen. Außerdem sind spezifische
Maßnahmen notwendig, um den Schutz von Lesben,
Schwulen, Bisexuellen, Transgender-Personen und Inter­
sexuellen zu gewährleisten.
Amnesty International
BERICHT / 9
5 WANN UND WARUM KOMMT ES ZU FOLTER?
Zwei Dinge liegen der Anwendung von Folter haupt­
sächlich zugrunde: Erstens profitieren die betreffenden
Regierungen von ihr – oder zumindest glauben sie das.
Der zweite Grund ist die anhaltende Kultur der Straf­
losigkeit, die dazu führt, dass die Verantwortlichen für
schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte und
des humanitären Völkerrechts nicht vor Gericht gestellt
werden.
In zahlreichen Ländern wird Folter nicht nur eingesetzt,
um einem bestimmten Opfer Schmerzen zuzufügen,
sondern auch, um Dritte zu terrorisieren – seien es
Strafverdächtige, politisch Andersdenkende oder ver­
meintliche Feind_innen. Sie sollen so von Handlungen
abgehalten werden, durch die sich die Regierung in
ihren Interessen bedroht fühlt. Häufig dient Folter dazu,
möglichst schnell „Geständnisse“ zu erhalten, denn
das Opfer ist bereit, alles zu unterzeichnen. Wenn dann
noch Gerichte über diese Praktik hinwegsehen, kann
die Polizei schnell und einfach Verurteilungen erreichen,
selbst wenn die eigentlichen Straftäter_innen womög­
lich gar nicht gefasst sind. Oft wird auch gefoltert, um
Menschen zu erniedrigen, um Geld von den Opfern zu
erpressen oder weil es einfach zum Polizeialltag gehört.
In vielen Teilen der Welt wird Folter nur in seltenen
Fällen als schwere Straftat gemäß Strafgesetzbuch
verfolgt, vor Gericht verhandelt und bestraft. Wenn
Untersuchungen eingeleitet werden, so kommt es wegen
Untätigkeit, Ineffektivität oder Mittäterschaft der ermit­
telnden Behörden häufig zu Verzögerungen. Nur sehr
selten werden Folterer tatsächlich zur Verantwortung
gezogen.
Es gibt viele Faktoren, die dazu beitragen, dass Folter
begünstigt wird, dass Täter_innen nicht strafrechtlich
verfolgt werden und den Opfern keine Gerechtigkeit
widerfährt. Dazu zählt, dass Häftlinge ohne Kontakt zur
Außenwelt festgehalten werden und ihnen der umge­
hende Zugang zu Rechtsbeiständen und unabhängigen
Gerichten verweigert wird.
Weitere Gründe sind: mangelndes Engagement der
ermittelnden Behörden; die soziale Stigmatisierung, die
zum Beispiel Vergewaltigungsopfer erleiden; die Angst
vor Vergeltungsmaßnahmen der Peiniger und geringe
Strafen für verurteilte Polizeibeamt_innen. Oft fehlt es
auch an einer unabhängigen und angemessen finanzier­
ten Institution, die Beschwerden entgegennimmt und
Misshandlungsvorwürfe untersucht. Auch falschverstan­
dener Korpsgeist, das Vertuschen von Misshandlungen
durch andere Staatsbedienstete, Amnestien und Begna­
digungen für Folterer sowie fehlender politischer Wille
begünstigen Folter.
Menschen, denen ihre Freiheit entzogen wurde, sind vor
allem dann von Folter bedroht, wenn es keine klaren
und wirkungsvollen Schutzmaßnahmen gibt, bzw. diese
unzureichend oder wirkungslos sind. Insbesondere Per­
sonen, die sich vor der Anklageerhebung und während
der Untersuchungshaft in Polizeigewahrsam befinden,
werden immer wieder Opfer von Folter. Die Berichte
über Folter betreffen jede Phase des Zusammentreffens
mit Polizei und Sicherheitskräften – von der Festnah­
me bis zur Inhaftierung. Da es bereits kurz nach der
Festnahme oder sogar währenddessen zu ersten Fol­
terhandlungen kommen kann, müssen entsprechende
Schutzmaßnahmen von Anfang an greifen und über­
wacht werden.
Auch das Verschwindenlassen von Personen begünstigt
Folter. Für die Betroffenen ist es fast unweigerlich eine
Form der Folter; für die Angehörigen der Opfer stellt es
eine Form der Misshandlung dar. Wie die Folter ist auch
das Verschwindenlassen gemäß Völkerrecht absolut
verboten. Bei Amnesty International gehen weiter­
hin Berichte über Menschen ein, die an unbekannten
Orten oder in geheimen Hafteinrichtungen festgehalten
werden, was dem Verschwindenlassen gleichkommt.
Die Inhaftierung ohne Kontakt zur Außenwelt begüns­
tigt Folter und kommt grausamer, unmenschlicher und
erniedrigender Behandlung oder sogar Folter gleich.
Amnesty International
Regierungen sind laut Völkerrecht und anderen inter­
nationalen Normen dazu verpflichtet, das Recht eines
jeden Menschen auf Schutz vor Folter und anderen
Formen der Misshandlung sicherzustellen. Dies gilt
auch, wenn vergleichbare Straftaten von privaten Ein­
zelpersonen, Gruppen oder Institutionen verübt wer­
den. Eine Regierung verstößt deshalb auch gegen ihre
internationalen Verpflichtungen bezüglich des Schutzes
vor Folter und anderen Misshandlungen, wenn sie zum
Beispiel häusliche Gewalt oder rassistische Angriffe
nicht mit der notwendigen Sorgfalt verhindert, verfolgt
und bestraft.
Die Rechte von Frauen, Kindern, Minderheiten, Lesben,
Schwulen, Bisexuellen, Transgender-Personen und Inter­
sexuellen sowie anderer Menschen, die Diskriminierung
ausgesetzt sind, können nur gewahrt werden, wenn Staa­
ten dazu verpflichtet werden, auch bei Misshandlungen
durch Privatpersonen einzugreifen. Institutionalisierte
Diskriminierung führt oft dazu, dass Opfer weniger
Schutz und Unterstützung durch die Behörden erfahren.
So werden bestimmte Formen der Gewalt gegen Frauen
in vielen Ländern beispielsweise nicht als Straftaten
betrachtet, und dort, wo sie als Straftat gelten, werden
sie selten mit Nachdruck verfolgt.
In einigen Ländern wenden nichtstaatliche Akteure,
wie Angehörige politischer Parteien oder bewaffneter
Gruppen, Folter an.
BERICHT / 10
BERICHT / 11
Amnesty International
6 WELTWEITE Kampagne „Stop Folter”
Im Mai 2014 startet Amnesty International eine welt­­weite Stop-Folter-Kampagne mit dem Ziel, alle
Menschen vor Folter zu schützen. 30 Jahre nach Ver­
abschiedung der UN-Antifolterkonvention greift die
Organisation auf ihre mehr als 50-jährige Erfahrung
zurück und fordert die Regierungen der Welt auf, ihre
Versprechen zu erfüllen und das Völkerrecht einzuhalten.
Amnesty International fordert Menschen weltweit auf,
sich für ein Ende der Folter einzusetzen.
Die Kampagne konzentriert sich auf Folter in staatlichem
Gewahrsam (dazu zählt neben der normalen Strafjustiz
auch der Gewahrsam von Militär, Polizei, Spezial­
einsatzkräften und Geheimdienst). Sie umfasst auch
Situationen, in denen Notstandsrechte, -regelungen und
-richtlinien gelten, sowie inoffizielle und geheime Haft­
einrichtungen, in denen eine besonders hohe Foltergefahr
besteht.
Die Kampagne bezieht sich nicht auf Folter durch nichtstaatliche Akteure oder Misshandlungen, die außerhalb
des staatlichen Gewahrsams verübt werden, wie zum
Beispiel die exzessive Anwendung von Gewalt während
Demonstrationen. Amnesty International wird sich jedoch
jenseits der aktuellen Kampagne natürlich auch weiterhin
entschieden gegen derartige Formen des Missbrauchs
einsetzen. Die Organisation wird ihre Mitglieder in aller
Welt im Rahmen der Kampagne „Stop Folter“ auffordern,
sich gegen Folter in folgenden fünf Ländern einzusetzen:
Marokko, Usbekistan, Nigeria, Mexiko und Philippinen.
Nach Auffassung von Amnesty International können Ver­
besserungen nur durch die Einführung und Umsetzung
wirksamer Schutzmaßnahmen erreicht werden. Wenn sol­
che Maßnahmen umgesetzt werden, sind die Menschen
sicher. Gibt es solche Schutzmaßnahmen nicht, oder
werden sie in der Praxis nicht umgesetzt, wird sich Folter
immer weiter ausbreiten.
BERICHT / 12
Amnesty International
7SCHLÜSSELFAKTOR SCHUTZMechanismen
Regierungen müssen wirksame Schutzmechanismen
gegen Folter einrichten und auch tatsächlich anwenden.
Sie sind ein Schlüsselfaktor auf dem Weg zur Abschaffung der Folter. Dort, wo Schutzmaßnahmen wirksam
umgesetzt werden, geht die Zahl der gemeldeten Folterfälle deutlich zurück. Nachfolgend sind die wichtigsten
Schutzmechanismen aufgelistet.
Bei der Festnahme
Festnahmen nur durch befugte Staatsbedienstete
und aus angemessenen Gründen.
Betroffene über die Gründe ihrer Festnahme sowie
über ihre Rechte informieren.
Festgenommene haben das Recht, ihre Familien­
angehörigen und weitere Personen zu informieren.
Folter und andere Misshandlungen während des
Transports von Häftlingen verhindern (auch beim
Transport von einer Hafteinrichtung zur anderen
und auf dem Weg zum Gericht).
Alle Festnahmen amtlich dokumentieren.
Während der Haft
Geheime Haft und Haft ohne Kontakt zur Außenwelt
muss verboten sein, und der Zugang zu Angehörigen,
medizinischer Versorgung, rechtlichem Beistand und
Gerichten etc. muss gewährleistet sein.
Menschliche Behandlung aller Häftlinge sicherstellen,
unter anderem durch Haftbedingungen, die dem
mentalen und körperlichen Wohl der Häftlinge würdig
und zuträglich sind.
Es muss einen leicht zugänglichen,
unabhängigen, unparteiischen und wirksamen
Beschwerdemechanismus geben, der angerufen
werden kann, ohne negative Konsequenzen fürchten
zu müssen.
Während des Gerichtsverfahrens
Häftlinge zeitnah einer unabhängigen gerichtlichen
Instanz vorführen.
Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsanwalt von
Anbeginn der Haft respektieren.
Häftlingen die Möglichkeit bieten, die Rechtmäßigkeit
ihrer Haft überprüfen zu lassen.
Aussagen, die unter Anwendung von Folter oder
anderen Misshandlungen gemacht wurden, vor Gericht
nur dann zulassen, wenn sie zum Beweis eben dieser
Misshandlungen vorgelegt werden
Während der Vernehmung
Vernehmungsmethoden und Zwangsmaßnahmen, die
Folter oder anderen Misshandlungen gleichkommen,
verbieten.
Video- oder zumindest Audioüberwachung und
­-dokumentation aller Vernehmungen.
Anwesenheit eines Rechtsbeistands während der
Vernehmung.
Das Recht auf einen Dolmetscher gewähren.
Zugang zu medizinischen Untersuchungen und
Versorgungsleistungen während der Zeit der
­Vernehmung ermöglichen.
Detaillierte Dokumentation aller Vernehmungen.
Die Aufsicht über die Vernehmung und die
­Verantwortung für die Haft unterschiedlichen Behörden
übertragen.
Bestimmte Häftlinge
Das Völkerrecht und andere internationale Normen
enthalten Bestimmungen bezüglich der besonderen
Bedürfnisse und Rechte bestimmter Personengruppen
unter Freiheitsentzug – dazu gehören unter anderem
Kinder, Menschen mit Behinderungen und Frauen.
Nach der Freilassung
Die Freilassung aus der Haft birgt weitere Risiken.
Nach der Freilassung sollte es den Betroffenen möglich
sein, ihre Rechte einzufordern, sollten sie während der
Zeit in Gewahrsam zum Opfer von Folter oder anderen
Misshandlungen geworden sein. Hierzu ist Folgendes
erforderlich:
• Die Freilassung aus der Haft genau dokumentieren.
• Zugang zu unabhängigen und wirksamen Beschwerde­ mechanismen nach der Freilassung ermöglichen,
sowie Maßnahmen ergreifen, um die Beschwerde führer_innen und deren Angehörige vor Vergeltungs­ maßnahmen und Drangsalierung zu schützen.
• Zugang zu einer medizinischen Untersuchung bzw.
Ausstellung eines medizinischen Gutachtens durch
unabhängige Gerichtsmediziner_innen ermöglichen.
• Die ehemaligen Häftlinge weder direkt noch
indirekt in solche Länder oder an solche Orte über stellen, in denen ihnen möglicherweise Folter oder
andere Formen der Misshandlung drohen.
BERICHT / 13
Amnesty International
Umfassende Überwachungs- und Kontrollmechanismen
Folterer zur Verantwortung ziehen
Es muss eine wirksame und unabhängige
Überwachung aller Orte geben, an denen Menschen
die Freiheit entzogen ist. Ebenso sollten wirksame
Kontrollmechanismen eingesetzt werden, um das
Verhalten der Strafvollzugsbehörden zu überwachen.
Folgende Organisationen und Institutionen kommen für
die Überwachung von Hafteinrichtungen in Frage:
• nationale Menschenrechtsinstitutionen;
• nationale Präventionsmechanismen, die gemäß
dem Fakultativprotokoll zur Antifolterkonvention
eingerichtet wurden oder sich an deren Vorbild
orientieren;
• nationale, regionale und internationale Nicht regierungsorganisationen;
• regionale Institutionen wie der Sonderberichterstatter
für Gefängnisse und Haftbedingungen der Afrikanischen
Union oder das Europäische Komitee zur Verhütung
von Folter;
• internationale Institutionen wie der Unter ausschuss zur Verhütung von Folter und anderer
grausamer, unmenschlicher und erniedrigender
Behandlung oder Strafe des UN-Ausschusses gegen
Folter, der UN-Ausschuss gegen Folter selbst und
der UN-Sonderberichterstatter über Folter.
In vielen Ländern herrscht Straffreiheit für Folterer, sodass sie
ohne Angst vor Festnahme, Strafverfolgung oder Bestrafung
handeln können. Straflosigkeit untergräbt das Strafjustizsystem
und das Rechtsstaatsprinzip. Außerdem verhindert sie, dass die
Opfer Gerechtigkeit erlangen.
Straflosigkeit geht häufig auf fehlenden politischen Willen zurück,
schließlich ist in vielen Fällen der Staat selbst – oder staatliche
Institutionen wie Polizei und Militär – unmittelbar für Folter
verantwortlich oder an ihrer Anwendung beteiligt. In zahlreichen
Ländern werden Foltervorwürfe nicht gründlich und unparteiisch
untersucht, weil Polizei und Staatsanwaltschaft eng mit den Be­
schuldigten zusammenarbeiten. Ein weiterer Grund für Straflosig­
keit kann das Versäumnis einer Regierung sein, den Menschen­
rechten Priorität auf der innenpolitischen Agenda einzuräumen.
Auch bewaffnete Konflikte können zu Straffreiheit führen – wenn
sich beide Parteien darauf einigen, auf die Untersuchung und
Bestrafung von Verstößen zu verzichten.
Stellt ein Staat Folterer nicht vor Gericht, so geht er meist auch
Foltervorwürfen nicht nach und entschädigt die Folteropfer
nicht. Dies führt zu einem dreifachen Bruch der internationalen
Verpflichtungen des Staates: Denn nach dem Völkerrecht haben
Opfer ein Recht darauf zu wissen, was passiert ist, Gerechtigkeit
zu erfahren und für das Leid, das ihnen zugefügt wurde, best­
möglich entschädigt zu werden.
Wirksame, unabhängige Mechanismen zur Untersuchung von Fol­
terwürfen und zur Strafverfolgung von Folterern sind unverzicht­
bar. Notwendig ist aber auch der politische Wille, Gesetze und
Institutionen zu reformieren, dauerhaft wachsam zu bleiben, Dis­
kriminierung zu bekämpfen und auf jeden Folterfall zu reagieren.
BERICHT / 14
Amnesty International
8SCHWERPUNKTLÄNDER DER KAMPAGNE
Mexiko
Am 7. August 2012 brachen Angehörige der Marine
gegen drei Uhr nachts in das Haus von Claudia Medina
Tamariz in Veracruz ein. Sie wurde zum örtlichen Marine­
stützpunkt gebracht, wo man ihr Elektroschocks zufüg­
te, sie schlug, trat und dazu zwang, eine sehr scharfe
Sauce zu inhalieren. Um die Spuren der Misshandlung
zu verbergen, wurde sie in Plastikfolie eingewickelt. Man
warf Claudia Medina Tamariz vor, Mitglied einer mächti­
gen und gewalttätigen Bande zu sein, obwohl sie erklärte,
dass sie nichts über diese Bande wisse.
Claudia Medina Tamariz wurde gezwungen, ein falsches
Geständnis zu unterschreiben, das sie sich vorher nicht
einmal durchlesen durfte. Später sagte sie Amnesty In­
ternational: „Wenn sie mich nicht gefoltert hätten, hätte
ich diese Erklärung niemals unterschrieben.“ Obwohl die
meisten Anschuldigungen gegen Claudia Medina Tamariz
später fallengelassen wurden, ist sie weiterhin eines
schwerwiegenden Verbrechens angeklagt. Darüber hinaus
wurden die von ihr erhobenen Foltervorwürfe bis heute
nicht untersucht. Eine wirksame medizinische Unter­
suchung ist notwendiger Bestandteil einer zeit­nahen,
umfassenden und unparteiischen Ermittlung gemäß
des international anerkannten Istanbul-Protokolls, das
die internationalen Richtlinien zur Dokumentation und
Untersuchung von Folter und deren Folgen umfassend
einbezieht. Amnesty International fordert den General­
staatsanwalt von Mexiko auf:
Die mutmaßliche Folter und Misshandlung von
Claudia Medina Tamariz wirksam zu untersuchen, die
Ergebnisse zu veröffentlichen und die Verantwort­lichen
vor Gericht zu stellen.
Sicherzustellen, dass Claudia Medina Tamariz im
Rahmen dieser Untersuchung medizinisch und
psychologisch begutachtet wird, wie es das von der UN
unterstützte Istanbul-Protokoll vorsieht. Die Gutachten
sowie weiterführende Berichte müssen Claudia Medina
Tamariz schnellstmöglich vorgelegt werden.
Zu gewährleisten, dass alle medizinischen Unter­
suchungen mutmaßlicher Folteropfer durchweg dem
Istanbul-Protokoll entsprechen, und auf diese Weise
die Ermittlungen zu Foltervorwürfen entscheidend
zu verbessern.
„Amnesty International kann mich
unterstützen und so dafür sorgen,
dass in allen anderen Ländern
bekannt wird, was in Mexiko
passiert, was die mexikanischen
Behörden machen.”
Claudia Medina Tamariz
In ganz Mexiko kommt es weiterhin häufig zu Folter und Miss­
handlungen durch Polizei und Sicherheitskräfte. In der Regel
bleibt dies jedoch ohne strafrechtliche Konsequenzen. Mexiko ist
zahlreiche Verpflichtungen eingegangen, um Folter und andere
Formen der Misshandlung zu verhindern und zu bestrafen. Die
ergriffenen Maßnahmen sind jedoch unzureichend und bleiben
weitestgehend unbeachtet. Gesetze, die Folter unter Strafe
stellen, werden regelmäßig umgangen. Das gilt auch für Gesetze,
die verhindern sollen, dass in Strafverfahren Beweismittel
verwendet werden, die unter Einsatz von Folter oder anderen
Misshandlungen erlangt wurden. Die Regierung des Landes
verkündet jedoch stolz, dass es kaum noch Fälle von Folter und
anderen Misshandlungen gebe.
Amnesty International
Marokko und Westsahara
Am 24. November 2011 wurde Ali Aarrass wegen
angeblicher Mitgliedschaft und Unterstützung einer
kriminellen Bande und einer terroristischen Vereinigung
verurteilt. Berichten zufolge war der einzige Beweis, der
während des Verfahrens gegen ihn vorgelegt wurde, ein
„Geständnis“, das er unter Folter abgelegt hatte und vor
Gericht widerrief.
Im Dezember 2010 war Ali Aarrass zwölf Tage lang
in einer geheimen Haftanstalt des marokkanischen
Geheimdienstes DST ohne Kontakt zur Außenwelt
festgehalten worden. Seinen Angaben zufolge wurde
er während dieser Zeit gefoltert. Man habe ihm auf
die Fußsohlen geschlagen (eine als „Falaqa“ bekannte
Foltermethode), ihn mit Elektroschocks an den Genitalien
gequält, über längere Zeiträume an den Handgelenken
aufgehängt und mit Zigaretten verbrannt.
Amnesty International fordert den marokkanischen
Justizminister auf, eine unabhängige und unparteiische
Untersuchung der von Ali Aarrass erhobenen
Foltervorwürfe einzuleiten und einem Beschluss der
UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen
vom 28. August 2013 nachzukommen. Sie hatte
die Haft von Ali Aarrass als willkürlich bezeichnet
und seine sofortige Freilassung sowie angemessene
Entschädigungsleistungen gefordert.
BERICHT / 15
„Ungerechtigkeit zu erfahren und
seiner Freiheit beraubt zu sein, führt
zu schwer­w iegenden seelischen
und körperlichen Schäden. Noch
niederschmetternder ist es, wenn
man aufgegeben und vergessen wird,
wenn Angehörige und Freunde nicht
weiter für einen kämpfen, während
man selbst von Mauern umgeben und
hilflos ist. Ich danke Gott, dass es bei
mir anders ist. Aber ich bitte euch,
an all diejenigen zu denken, denen
es so geht, an die Opfer von willkür­
licher Haft, die von allen verlassen
wurden.“ Ali Aarrass
Die Jahrzehnte, in denen König Hassan II. Marokko regierte (1956
bis 1999), werden als „bleierne Jahre“ bezeichnet. Kritische Stim­
men wurden unterdrückt, Hunderte Menschen verschwanden,
Tausende wurden willkürlich inhaftiert, Folter und andere Miss­
handlungen wurden systematisch angewandt. Auch wenn sich die
Menschenrechtslage in Marokko seit der Krönung von König Mo­
hammed VI. deutlich verbessert hat, erhält Amnesty International
nach wie vor Berichte, dass es bei Verhören in Gewahrsam zu Folter
und anderen Misshandlungen durch Angehörige der Polizei oder der
Gendarmerie kommt. In manchen Fällen beziehen sich die Folter­
vorwürfe auch auf geheime Haftanstalten, in denen Menschen ohne
Kontakt zur Außenwelt festgehalten werden, und auf Gefängnisse.
Folter und andere Formen der Misshandlung sind in Marokko bereits
seit einigen Jahren ausdrücklich verboten und gelten per Gesetz als
Straftat, dennoch werden sie immer wieder angewandt. Gerichte
und Staatsanwaltschaften leiten bei Vorwürfen von Folter und
anderen Misshandlungen nur selten Untersuchungen ein, sodass
nur wenige Täter_innen tatsächlich vor Gericht gestellt werden. Die
abschreckende Wirkung der marokkanischen Antifoltergesetze wird
auf diese Weise durch faktische Straflosigkeit konterkariert. Defizite
des Justizsystems führen nach wie vor dazu, dass Folter und andere
Misshandlungen begünstigt werden, weil zum Beispiel bei polizei­
lichen Verhören keine Rechtsbeistände anwesend sind. Für die Ur­
teilsfindung sind weiterhin durch Folter erzwungene „Geständnisse“
aus den Vernehmungsprotokollen der Polizei von zentraler Bedeutung
– sie werden Sachbeweisen und gerichtlichen Zeugenaussagen
vorgezogen. Die derzeitigen Pläne, das marokkanische Justizsystem
zu reformieren, bieten eine einmalige Chance für Veränderungen.
Amnesty International
Nigeria
Moses Akatugba wurde 2005 von der Polizei
festgenommen und gefoltert – damals war er gerade
einmal 16 Jahre alt. Er berichtete, man habe ihn auf der
Polizeiwache geschlagen, in die Hand geschossen und
stundenlang an den Extremitäten aufgehängt.
Moses Akatugba gab an, er habe nur aufgrund der
Folter eingewilligt, eine Erklärung zu unterschreiben,
in der er die Beteiligung an einem Raubüberfall zugab.
Im November 2013, nach acht Jahren des Wartens,
wurde Moses Akatugba zum Tode verurteilt. Die von ihm
erhobenen Foltervorwürfe sind nie untersucht worden.
Amnesty International fordert Dr. Emmanuel Uduaghan,
den Gouverneur des nigerianischen Bundesstaates Delta,
auf, das Todesurteil aufzuheben und die von Moses
Akatugba erhobenen Foltervorwürfe zu untersuchen.
Usbekistan
BERICHT / 16
„Die Schmerzen, die man unter
Folter erleidet, sind unerträglich.
Ich hätte nie gedacht, dass ich den
heutigen Tag noch erleben würde.
Der Schmerz, den die Polizeikräfte
mir zugefügt haben, war unvorstellbar. Ich bin in meinem ganzen
Leben noch nie derart unmenschlich behandelt worden.”
Moses Akatugba
Amnesty International ist sehr besorgt über den zunehmenden
Einsatz von Folter in Nigeria. Nach aktuellen Recherchen der
Organisation setzen Angehörige der Polizei und des Militärs Folter
regelmäßig ein, um Informationen und „Geständnisse“ zu erhal­
ten und um Häftlinge zu bestrafen und zu zermürben.
Informationen, die unter Einsatz von Folter und anderen Miss­
handlungen erlangt wurden, werden routinemäßig als Beweis­
mittel vor Gericht zugelassen, was eine Verletzung nationaler
Gesetze sowie des Völkerrechts darstellt. Den Behörden fehlt
offensichtlich der politische Wille, internationalen Menschen­
rechtsverpflichtungen nachzukommen.
Erkin Musaev, ein ehemaliger Beamter des Verteidi­gungs­
ministeriums, arbeitete für das Entwicklungs­pro­gramm
der Vereinten Nationen in Usbekistan, als er im Januar
2006 von Angehörigen des Nationalen Sicherheits­
dienstes (SNB) inhaftiert wurde. Man klagte ihn wegen
Spionage an und hielt ihn mehrere Wochen ohne Kontakt
zur Außenwelt fest. Berichten zufolge wurde er einen
Monat lang tagsüber geschlagen und nachts verhört. Außerdem drohte man ihm, seinen Angehörigen etwas anzutun.
Folter und andere Misshandlungen sind in Usbekistan an der
Tagesordnung. Amnesty International erhält regelmäßig glaub­
würdige Berichte über routinemäßige und weit verbreitete Folter
und andere Misshandlungen durch Sicherheitskräfte und Ge­
fängnispersonal. Laut dieser Berichte werden Menschen bei der
Festnahme, während des Transports, in Untersuchungshaft sowie
in Hafteinrichtungen Opfer von Folter. Nur sehr wenige
Täter_innen werden wegen des Einsatzes von Folter vor Gericht
gestellt. Zudem leiten die Behörden bei Folter- und Misshand­
lungsvorwürfen in der Regel keine effektiven Untersuchungen ein.
Erkin Musaev unterschrieb schließlich ein „Geständnis“,
unter der Bedingung, dass der SNB seine Familie in Ruhe
lasse. Er wurde nach drei unfairen Prozessen in den
Jahren 2006 und 2007 wegen Hochverrats und Amts­missbrauchs zu insgesamt 20 Jahren Haft verurteilt. Alle
drei Gerichte lehnten die formellen Beschwerden, die
Erkin Musaev wegen seiner Folter in Haft eingereicht
hatte, ohne angemessene Überprüfung ab. Im Mai 2012
ent­schied der UN-Menschenrechtsausschuss, dass
Usbekistan gemäß Artikel 7 (Folterverbot) des Inter­
nationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte
die Rechte von Erkin Musaev verletzt habe. Amnesty
International fordert eine umfassende, unparteiische und
effektive Untersuchung der von Erkin Musaev erhobe­nen
Foltervorwürfe.
Amnesty International
Philippinen
Am 3. Oktober 2013 sprach die philippinische Polizei
Alfreda Disbarro an einem öffentlichen Ort an und be­
schuldigten sie des Drogenhandels. Die alleinerziehende
Mutter bestritt dies und leerte freiwillig ihre Taschen, in
denen sich lediglich ein Handy und eine Fünf-Peso-Münze
befanden. Ohne Vorwarnung richtete die Polizei plötzlich
eine Waffe auf Alfreda Disbarro und schlug sie auf die
Brust. Dann legte man ihr Handschellen an und brachte
sie in das Polizeihauptquartier von Parañaque.
Um ein Schuldeingeständnis zu erhalten, drückte ein
hochrangiger Polizist Alfreda Disbarro gegen eine Wand.
Er versetzte ihr mehrfach Schläge in den Magen und
ins Gesicht, schlug sie mit einem Schlagstock, drückte
ihr seine Finger in die Augen, ohrfeigte sie, zwang sie,
einen Wischlappen zu essen und schlug ihren Kopf gegen
die Wand. In den Tagen nach ihrer Misshandlung hatte
sie so große Schmerzen, dass sie nichts essen konn­
te, Schwierigkeiten beim Atmen hatte und sich immer
wieder übergeben musste. Alfreda Disbarro ist derzeit in
einem örtlichen Gefängnis inhaftiert und wartet auf ein
Gerichtsverfahren wegen des Verkaufs und des Besitzes
illegaler Drogen. Obwohl sie von einem Amtsarzt un­
tersucht wurde, sind bisher keine Ermittlungen zu ihrer
Misshandlung durch die Polizei eingeleitet worden.
Amnesty International fordert die Abteilung für innere
Angelegenheiten der philippinischen Nationalpolizei
dazu auf:
Sicherzustellen, dass schnell eine unparteiische,
wirksame und effiziente Untersuchung der
mutmaßlichen Folter und anderweitigen Misshandlung
von Alfreda Disbarro eingeleitet wird.
Sollte die Untersuchung die Foltervorwürfe bestätigen,
den Fall zur strafrechtlichen Verfolgung weiterzuleiten
und zu kooperieren, wenn das Gericht weitere
Untersuchungen anordnet.
Unmittelbar Disziplinarmaßnahmen gegen alle Polizei­
beamt_innen einzuleiten, die an der Folter und
Misshandlung von Alfreda Disbarro beteiligt waren.
In der philippinischen Nationalpolizei eine Einrichtung
zu schaffen, an die sich Informant_innen bedenken­
los wenden können, wenn sie Kenntnis von Folter­maß­
nahmen haben, z. B. auch im Fall von Alfreda Disbarro.
BERICHT / 17
„Er [ein inoffizieller Hilfspolizist]
stellte mir eine Schnapsflasche auf
den Kopf und zielte mit seiner Waffe darauf. Er sagte, dass er die Flasche auf meinem Kopf abschießen
werde. Er war nur etwa eineinhalb
Meter von mir entfernt. Am Ende
hat er nicht geschossen, aber ich
hatte schreckliche Angst, er würde
mich erschießen. Aus lauter Angst
habe ich die Augen geschlossen.”
Alfreda Disbarro
Amnesty International ist sehr besorgt über den weit verbreite­
ten Einsatz von Folter auf den Philippinen. Die Polizei und andere
staatliche Sicherheitskräfte foltern Verdächtige und Häftlinge.
Die meisten Folteropfer haben keine Möglichkeit, Gerechtigkeit
zu erlangen. Täter_innen werden so gut wie nie zur Rechenschaft
gezogen.
Das Land verfügt über eine umfangreiche Gesetzgebung zur
Verhinderung von Folter, und die philippinische Regierung hat
zugesichert, sich künftig verstärkt dafür einzusetzen, dass diese
Gesetze auch umgesetzt werden. Die Philippinen haben außerdem
wichtige internationale Antifolterabkommen und -mechanismen
unterzeichnet. Dennoch herrscht noch immer Straflosigkeit.
Amnesty International
BERICHT / 18
9Foltermethoden
Diese Zeichnungen stellen die von Ali Aarrass erlittenen Folterungen dar (siehe Details zum Fall auf S. 15). Ein Mitgefangener erstellte sie unter seiner Anleitung.
Die von Amnesty dokumentierten Foltermethoden unterscheiden sich von Land zu Land und von Region zu
Region. Nachfolgend sind einige der Foltermethoden
aufgelistet.
Schläge sind heutzutage die weltweit häufigste Form der
Folter und Misshandlung. Sie können Tritte, Fausthiebe
sowie den Einsatz von Stöcken, Gewehrkolben, improvi­
sierten Peitschen, Eisenstangen, Baseballschlägern und
Elektroschockern um­fassen. Die Opfer erleiden Bluter­
güsse, innere Blutungen, Knochenbrüche, Zahn­verluste
und Verletzungen der Organe. In manchen Fällen führen
Schläge gar zum Tod.
Andere weit verbreitete Methoden sind Stromstöße,
erzwungenes Verharren in schmerzhaften Positionen und
lang andauernde Isolation – teilweise werden die Opfer
über mehrere Monate oder sogar Jahre in Einzelhaft
gehalten.
Weniger häufig, aber immer noch weit verbreitet, sind
Foltermethoden wie Peitschenhiebe, Scheinhinrichtungen,
Waterboarding und Sauerstoffentzug, für den oft Plastik­
tüten oder abgedichtete Gasmasken eingesetzt werden.
Aus einigen Teilen der Welt gibt es Berichte von Folter­
überlebenden, denen in Haft Nadeln unter die Fingernägel
geschoben und mit Zigaretten Verbrennungen zugefügt
wurden. Einige berichten sogar von Stichwunden. Weite­
re Häftlinge wurden offenbar gezwungen, ihren eigenen
Urin, verunreinigtes Wasser und Chemikalien zu trinken.
Es liegen Berichte über Schlaf- und Reizentzug sowie
über mehrtägigen Nahrungs- und Wasserentzug vor.
Berichte über Vergewaltigungen und die Androhung von
Vergewaltigung gibt es aus zahlreichen Ländern, auch
Demütigungen werden weit verbreitet eingesetzt. Schein­
hinrichtungen und die Androhung von Gewalt gegen die
Opfer selbst und/oder ihre Angehörigen sind häufige
Formen der psychischen Folter.
BERICHT / 19
Amnesty International
Die Zwangsverabreichung von Psychopharmaka wurde
ebenso gemeldet wie Folter in Form von Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen.
Viele Häftlinge werden in schmutzigen, überfüllten
Zellen festgehalten, in denen drückende Hitze herrscht.
Unmenschliche Haftbedingungen können – wenn sie
vorsätzlich und zielgerichtet eingesetzt werden – Folter
gleichkommen.
Einige Staaten verhängen noch immer Körperstrafen.
Zu den häufigsten Formen gehören Auspeitschungen und
Amputationen. Das Amputieren von Körperteilen und
das Zufügen von Verbrennungen gehören zu den Folter­
methoden, die entwickelt wurden, um die Betroffe­nen
dauerhaft zu verstümmeln. Aber auch alle anderen Kör­
perstrafen können langfristige oder dauerhafte Verletzun­
gen nach sich ziehen. Was immer das jeweilige nationale
Recht diesbezüglich vorsieht – laut Völkerrecht sind alle
Formen von Körperstrafen verboten, da sie grausam,
unmenschlich und erniedrigend sind und oftmals Folter
gleichkommen.
Einige Regierungen nutzen die religiöse Überzeugung ei­
nes Opfers, um es zu foltern oder zu misshandeln, indem
beispielsweise einem muslimischen Mann gegen seinen
Willen der Bart abrasiert wird.
Folterüberlebende gaben an, dass sie über lange Zeiträume extremer Hitze oder Kälte ausgesetzt wurden,
oftmals mehrere Tage lang. Andere berichten, dass man
ihnen immer wieder kochend heißes Wasser über die
nackte Haut schüttete oder ihre Knie, Ellbogen und
Schultern mit elektrischen Bohrern misshandelte.
Auch Hunde oder Ratten, wiederholte Beleidigungen
rassistischen oder religiösen Inhalts, das Überstülpen von
Kapuzen oder das Verbinden der Augen werden zu Folter­
zwecken eingesetzt.
Es gibt Berichte von Häftlingen, denen mit Absicht oder
aus Fahrlässigkeit die medizinische Versorgung verweigert
wurde. In einigen Fällen führte dies zum Tod.
Folter kann dauerhafte und langfristige körperliche
Verletzungen zur Folge haben, auch wenn manche
Foltermetho­den nur wenig sichtbare Narben hinterlas­
sen. Klar ist, dass alle Formen von Folter verheerende
und langfristige Konsequenzen nach sich ziehen können.
Zu den häufigsten psychologischen Symptomen gehören
Angststörungen, Depressionen, Reizbarkeit, Gefühle von
Scham und Erniedrigung, Gedächtnisstörungen, verrin­
gerte Konzentrationsfähigkeit, Kopfschmerzen, Schlafstö­
rungen und Alpträume, emotionale Instabilität, sexuelle
Probleme, Amnesie, Selbstverstümmelung, Selbstmord­
gedanken und soziale Isolation.
Im vergangenen Jahr wurden 27 Foltermethoden
dokumentiert
Die folgende Liste enthält 27 Foltermethoden, deren Verwendung
Amnesty International von 2013 bis 2014 weltweit dokumentiert
hat. Es handelt sich hierbei nicht um eine vollständige Liste
aller gemeldeten Methoden. Während einige der aufgelisteten
Methoden über viele Jahre systematisch angewandt wurden, kann
es sich bei anderen um Einzelfälle handeln.
1.Schläge
2.Stromschläge
3.Erzwungenes Verharren in
schmerzhaften Positionen
4.Lang andauernde Isolation
5.Peitschenhiebe
6.Scheinhinrichtungen
7.Wasserfolter / ­
Sauerstoffentzug
8.Schieben von Nadeln unter
die Fingernägel
9.Verbrennungen mit
Zigaretten
10.Stichwunden
11.Einflößen von verunreinig­
tem Wasser, Urin und
Chemikalien (Chiffon)
12.Schlafentzug
13.Reizentzug
14.Zwangsabtreibung /
-sterilisation
15.Vergewaltigung /
Angedrohte Vergewaltigung
16.Demütigungen
17.Androhung von Gewalt
gegen Häftlinge / deren
Familien
18.Zwangsverabreichung von
Drogen
19.Unmenschliche
Haftbedingungen
20.Nahrungs- und
Wasserentzug
21.Körperstrafen
22.Gewaltsames Abrasieren
der Bärte muslimischer
Männer
23.E xtremer Kälte / Hitze
aussetzen über lange
Zeiträume
24.Übergießen mit kochend
heißem Wasser
25.Durchbohren der Gelenke
26.Verweigerung medizinischer
Versorgung
27.Übergießen des Rückens
mit geschmolzenem Plastik
BERICHT / 20
Amnesty International
10 In Haft eingesetzte Folterinstrumente
Trotz des absoluten Folterverbots stellen private Unter­
nehmen Gerätschaften her, die einzig der Folterung und
Misshandlung von Menschen dienen, und verkaufen diese
an die Strafverfolgungsbehörden einer Reihe von Staaten
weltweit. Amnesty International setzt sich dafür ein, dass
bestimmte Ausrüstungsgegenstände für die Strafverfol­
gung und den Strafvollzug vollständig verboten werden.
Außerdem fordert die Organisation strenge Regeln für
den Einsatz und Handel mit solchen Ausrüstungsgegen­
ständen, deren Einsatz zwar als zulässig gilt, die aber
auch zur Folterung oder Misshandlung von Menschen
missbraucht werden können.
Amnesty International fordert die Behörden weltweit auf,
den Einsatz und Handel mit verschiedenen Formen von
Ausrüstungsgegenständen folgendermaßen zu regeln:
1.Unmenschliche Ausrüstungsgegenstände für die
Strafverfolgung und den Strafvollzug grundsätzlich
verbieten. Darunter fallen Gerätschaften, die
ausschließlich zur Vollstreckung der Todesstrafe, zur
Folter oder anderweitigen Misshandlung vorgesehen
sind. Dazu zählen Stühle zur Fixierung von Menschen,
mit Gewichten beschwerte Fesseln, Daumenschellen,
Schlagstöcke und mit Dornen besetzte Polizeiknüppel.
Das Verbot bezieht sich auch auf am Körper getragene
Elektroschockgerätschaften und Fesseln, die
gleichzeitig den Hals, die Handgelenke und/oder die
Knöchel umschließen.
2.Ausrüstungsgegenstände nicht weiter verwenden,
die sich aufgrund ihrer Konstruktion zur Folter
eignen, und die Folgen ihres Einsatzes untersuchen.
Beispiele für solche Gegenstände sind tragbare
Elektroschockgeräte, bestimmte akustische Waffen
und einige Plastik- und Gummigeschosse, mit
denen nicht genau gezielt werden kann oder deren
Abschussgeräte zu stark sind. In diese Kategorie fallen
in der Regel waffentechnologische Neuentwicklungen.
3.Für die Strafverfolgung und den Strafvollzug zu­lässige Ausrüstungsgegenstände, die als Folter­
instrumente missbraucht werden können, streng
kontrollieren. Dazu zählen gewöhnliche Handschellen,
die von der Polizei und in Haftanstalten eingesetzt
werden, und Schlagstöcke, wie zum Beispiel
Polizeiknüppel.
Ein „Folterrad“ in einem Geheimversteck der Polizei in der Provinz Laguna im
Süden Manilas (Philippinen). Anfang 2014 machten Polizeibeamt_innen inter­
national Schlagzeilen, als sie dabei entdeckt wurden, wie sie dieses Rad als
­spaßiges Mittel verwendeten, um zu entscheiden, welche Foltermethode sie gegen
Gefangene einsetzen wollten. © Menschenrechtskommission der Philippinen
EU-Verordnung zu Folterinstrumenten
Die EU-Verordnung zu Folterinstrumenten („Anti-Folter-Verord­
nung”) ist weltweit das einzige Beispiel für eine internationale
rechtliche Zusammenarbeit mit dem Ziel, den Handel mit Folter­
werkzeugen zu verbieten. Die EU führte im Juni 2005 beispiellose
und verbindliche Handelskontrollen für eine Reihe von Gütern ein,
die häufig zur Vollstreckung der Todesstrafe oder zur Folter und
anderen Formen der Misshandlung eingesetzt werden („Folter­­in­strumente“), die sich aber in der Regel nicht auf den Ausfuhr­
listen der EU-Mitgliedsstaaten zu militärischen, strategischen
und Dual-Use-Gütern befinden. Amnesty International setzt
sich für vergleichbare rechtlich abgesicherte Exportkontrollen in
anderen Teilen der Welt ein.
BERICHT / 21
Amnesty International
11 Zur Lage in den verschiedenen
Weltregionen
Afrika
Folter und andere Misshandlungen sind in Afrika weit
verbreitet. In mehr als 30 afrikanischen Ländern –
darunter Angola, Gabun, Sierra Leone und Tschad –
stehen Folter und andere Formen der Misshandlung nicht
einmal unter Strafe. In vielen afrikanischen Staaten ist
die Folter von Häftlingen an der Tagesordnung, und es
gibt kaum Bemühungen, die Verantwortlichen vor Gericht
zu stellen. Die Afrikanische Charta der Menschenrechte
und der Rechte der Völker beinhaltet ein ausdrückliches
Folterverbot, dennoch gibt es nur in zehn afrikanischen
Ländern Gesetze, die Folter unter Strafe stellen.
Polizeigewalt und erzwungene Geständnisse
Folter einzusetzen, um Geständnisse zu erpressen, ist
für die Sicherheitskräfte vieler afrikanischer Staaten eine
Selbstverständlichkeit, so zum Beispiel in Äthiopien,
Gambia, Kenia, Mali, Mauretanien, Nigeria, Senegal,
Simbabwe und Sudan. Häufig werden die Häftlinge
geschlagen, in schmerzhaften Positionen gefesselt,
extremen Wettersituationen ausgesetzt, an der Decke
aufgehängt oder sexuell missbraucht.
In Mauretanien haben die Gerichte entschieden, dass
Geständnisse, die unter Folter und anderer Misshandlung
abgelegt wurden, als Beweismittel vor Gericht zulässig
sind – selbst dann, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt
zurückgezogen werden.
In Ländern, in denen Homosexualität unter Strafe steht,
wie beispielsweise Kamerun oder Sambia, werden
mutmaßlich homosexuelle Menschen Foltermaßnahmen
ausgesetzt, zu denen unter anderem gewaltsame
Untersuchungen des Analbereichs gehören. Am 6. Mai
2013 wurden zwei Männer in Sambia festgenommen,
denen man vorwarf, „entgegen der natürlichen Ordnung“
eine sexuelle Beziehung unterhalten zu haben. Die beiden
Männer mussten sich Untersuchungen des Analbereichs
unterziehen und warten noch immer auf ihr Verfahren.
Körperstrafen
Im Sudan verhängt die für „Öffentliche Ordnung“
zuständige Behörde Körperstrafen für öffentliches
Verhalten, das als unmoralisch und/oder anstößig
betrachtet wird. Im November 2013 wurde
einer Menschenrechtsverteidigerin und einem
Menschenrechtsverteidiger, die beide im Land bekannt
sind, „anstößiges Verhalten“ vorgeworfen. Angeblich
hatte der Mann seine Hand auf die Schulter der Frau
gelegt. Einen Monat später wurden die Anklagen fallen
gelassen, nachdem ein Richter in Port Sudan die
vorliegenden Beweise für nicht ausreichend erachtete.
Auch Amputationen werden im Sudan als Bestrafung ein­
gesetzt. Seit 2001 wurden mindestens 16 Ampu­ta­tions­
strafen vollstreckt. So wurde im April 2013 drei Männern
in Nord-Darfur jeweils die rechte Hand amputiert. Sie
waren in einem Gerichtsverfahren, bei dem sie keinen
Rechtsbeistand hatten, schuldig befunden worden, Speise­
öl im Wert von 3.300 US-Dollar gestohlen zu haben.
Gefängnisse
In vielen Ländern Afrikas sind die Haftbedingungen
äußerst unmenschlich – so zum Beispiel in Ghana,
Kamerun, Liberia, Mauretanien, Mauritius und Nigeria.
Oftmals sind die Zellen extrem überbelegt und es fehlt
an sanitären Einrichtungen. In Liberia hat Amnesty
International extreme Überbelegung, fehlendes fließendes
Wasser und sehr dürftige sanitäre Einrichtungen
dokumentiert. Die Zellen sind dort so klein, dass sich die
Häftlinge nur abwechselnd Schlafen legen können.
Misshandlungen von Häftlingen, unter anderem durch
Schläge und Vergewaltigungen, werden in Angola,
Mosambik und anderen Ländern regelmäßig dokumen­
tiert. Auch aus Eritrea gibt es Berichte über Misshand­
lun­gen von Gefangenen. Betroffen sind unter anderem
viele Personen, die sich regierungskritisch geäußert
haben oder abweichende politische Meinungen vertreten.
Viele Häftlinge werden geschlagen, gezwungen, barfuß
über scharfe Gegenstände zu laufen oder sich über
scharfkantige Steine zu rollen. Man will sie damit für die
versuchte Flucht aus dem Land oder andere mutmaßliche
Vergehen bestrafen, Informationen von ihnen erpressen
oder sie zwingen, ihre Religion aufzugeben.
Misshandlungsvorwürfe wurden im vergangenen Jahr
auch in einem privat geführten Hochsicherheitsgefängnis
im südafrikanischen Mangaung erhoben, unter anderem
war von Schlägen und Elektroschocks die Rede. Die
private britische Sicherheitsfirma G4S, die das Gefängnis
noch bis vor kurzem betrieb, soll angekündigt haben, den
Vorwürfen selbst nachgehen zu wollen.
BERICHT / 22
Amnesty International
Fallbeispiel
Tajeldin Ahmed Arja stammt aus Nord-Darfur und wird seit
seiner Festnahme am 24. Dezember 2013 ohne Kontakt zur
Außenwelt in Haft gehalten. Der 26-jährige Student und Blogger
wurde vom Sicherheitsdienst des Präsidenten festgenommen,
nachdem er auf einer Konferenz den tschadischen und den
sudanesischen Präsidenten offen kritisiert hatte.
Tajeldin Ahmed Arja soll gleich zu Beginn der Konferenz auf­
gestanden sein und die beiden Präsidenten für die in Darfur
verübten Gräueltaten verantwortlich gemacht haben. Personen,
die vor Ort waren, berichteten Amnesty International, dass acht
Angehörige des Sicherheitsdienstes Tajeldin Ahmed Arja gepackt
und ihn aus dem Saal geführt hätten.
Sein Aufenthaltsort ist noch immer unbekannt und es besteht
große Gefahr, dass er gefoltert und anderweitig misshandelt wird.
Bewaffnete Konflikte
Im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten kommt es
weiterhin in ganz Afrika zu Folter und Misshandlungen,
oftmals durch Milizen und andere bewaffnete Gruppen.
Seit Dezember 2012 sind in der Zentralafrikanischen
Republik Hunderte Zivilpersonen – vor allem Muslime –
vorsätzlich getötet worden. Tausende wurden Opfer von
Folter und anderen Formen grausamer, unmenschlicher
und erniedrigender Behandlung, darunter auch Verge­
walti­gungen und andere Arten sexueller Gewalt. Ähnliche
Misshandlungen sind in den vergangenen Monaten im
Südsudan dokumentiert worden.
In der Demokratischen Republik Kongo haben bewaffnete
Gruppen in der gesamten Provinz Nord-Kivu Männer,
Frauen und Kinder gefoltert und vergewaltigt.
Im Zuge der anhaltenden politischen Krise in Mali sind
Folter und Misshandlungen weit verbreitet, darunter
Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Steinigungen.
Verantwortlich dafür sind sowohl die malischen
Sicherheitskräfte als auch bewaffnete Gruppen.
In Côte d‘Ivoire werden auch fast drei Jahre nach Ende
der Krise, die nach den Präsidentschaftswahlen von
2010 ausgebrochen war und fast 3.000 Tote gefordert
hatte, noch immer bekannte oder mutmaßliche
Unterstützer_innen des ehemaligen Präsidenten Laurent
Gbagbo in Haft gefoltert und anderweitig misshandelt.
In Somalia führt die bewaffnete islamistische Gruppe
Al-Shabab regelmäßig öffentliche Hinrichtungen,
Steinigungen und Verstümmelungen durch.
Elf Jahre nach Beginn des Konflikts in der sudanesi­
schen Region Darfur werden noch immer zahlreiche
Zivilpersonen Opfer von gezielten Tötungen, Schuss­
verletzungen, Schlägen, Vergewaltigungen und anderen
Formen sexueller Gewalt durch paramilitärische
Sicherheitskräfte und andere bewaffnete Milizen.
Asien und Pazifik
In vielen Ländern Asiens herrschen gravierende Defizite
bei der Verhinderung und Bestrafung von Folter – zu
den größten Folterern der Region gehören China und
Nordkorea. In einigen Ländern sind Körperstrafen wie
zum Beispiel Auspeitschungen noch immer zulässig.
Untersuchungen zum Einsatz von Folter werden nur sehr
selten durchgeführt.
Haft und erzwungene Geständnisse
Polizeikräfte wenden unter anderem in China, Fidschi,
Indien, Indonesien, Malaysia, Myanmar, Pakistan, den
Philippinen und Sri Lanka immer wieder Folter bei Ver­nehmungen und in der Untersuchungshaft an. Oftmals
sollen die Häftlinge gezwungen werden, Straftaten zu
„gestehen“. Manchmal überleben sie die Folter nicht.
So starb zum Beispiel der 42-jährige P. Karuna Nithi am
1. Juni 2013 im malaysischen Bundesstaat Negeri Sembilan in Polizeigewahrsam. Seine Angehörigen berichteten
Amnesty International, dass sein Körper Spuren von Schlägen und eine blutende Wunde am Hinterkopf aufwies.
Bei der Autopsie wurden 49 Verletzungen festgestellt.
In Sri Lanka kommen immer wieder Häftlinge aufgrund
brutaler Misshandlungen in Gewahrsam zu Tode. Allein im
ersten Quartal des Jahres 2013 gingen bei der Nationalen
Menschenrechtskomission 86 Beschwerden über Folter ein.
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Amnesty International
Misshandlungen in Polizeigewahrsam sind auch auf den
Philippinen dokumentiert, wo im Januar 2014 in einer Einrichtung der Geheimpolizei ein „Folter-Roulette“ entdeckt
wurde. Das Roulette-Rad enthielt eine Liste verschiedener Folterpositionen. Die „30-Sekunden-FledermausPosition“ bedeutete beispielsweise, dass der Häftling für
30 Sekunden wie eine Fledermaus kopfüber aufgehängt
wurde. 44 Häftlinge gaben an, in der Einrichtung gefoltert
worden zu sein. Zehn Polizeibeamt_innen, die an den
Misshandlungen beteiligt waren, sollen bisher entlassen
worden sein – vor Gericht gestellt wurde jedoch niemand.
Auf den Malediven sind Auspeitschungen noch immer
erlaubt. Die dortigen Gerichte verhängen sie gegen
Menschen, die wegen „Unzucht“ für schuldig befunden
werden.
Folter, um Aktivist_Innen zum Schweigen zu bringen
In einigen Ländern Asiens werden Menschenrechts­
aktivist_innen wegen ihrer rechtmäßigen Menschen­
rechtsarbeit zum Opfer von Folter.
In Vietnam sind Dutzende Aktivist_innen unter extrem
schlechten Bedingungen inhaftiert, um sie so von
ihrem Einsatz für die Menschenrechte abzuhalten.
Einige werden geschlagen und nicht angemessen
mit Nahrungsmitteln versorgt. Sie erhalten nicht die
erforderliche medizinische Betreuung und werden über
lange Zeiträume in Einzelhaft gehalten.
Auch in China bestrafen die Behörden Aktivist_innen für
ihr Engagement. Dies reicht so weit, dass ihnen sogar die
lebensnotwendige medizinische Behandlung verweigert
wird. Im März 2014 starb die 52-jährige Cao Shunli in
einem Krankenhaus in Peking an Organversagen. Zuvor
hatte ihr das Personal des Gefängnisses, in dem sie fünf
Monate lang festgehalten worden war, wiederholt die
erforderliche medizinische Behandlung verweigert.
Als die chinesische Regierung Ende 2013 ankündigte,
die Lager zur „Umerziehung durch Arbeit“ aufzulösen,
wurde dies als positives Zeichen gedeutet. Die Haft­
einrichtungen wurden dazu genutzt, Menschen unter
anderem wegen ihrer politischen Aktivitäten oder ihrer
Religionszugehörigkeit ohne Anklage oder Verfahren
festzuhalten und zu bestrafen. Doch die Veränderungen
sind weitgehend kosmetischer Natur: Noch immer gibt
es andere Formen der willkürlichen Inhaftierung, bei
denen Menschen unter ähnlich grausamen Bedingungen
festgehalten werden.
Gefängnisse und andere Haftanstalten
In vielen Ländern Asiens sind die Haftbedingungen sehr
schlecht.
Die Foltermaßnahmen in den Haftlagern Nordkoreas
gehören vermutlich zu den schrecklichsten weltweit. In
zahlreichen nordkoreanischen Hafteinrichtungen werden
Hunderttausende Menschen, darunter auch Kinder, unter
extrem unmenschlichen Bedingungen festgehalten.
Den Großteil ihrer Zeit müssen die Häftlinge unter
gefährlichen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten und
dürfen sich dabei kaum ausruhen. Wenn sie zu langsam
arbeiten, die Gefängnisordnung verletzen oder ­des
Lügens verdächtigt werden, bestraft man sie mit
Schlägen, zwingt sie zu extremer körperlicher Anstrengung
oder dazu, über lange Zeiträume bewegungslos zu
verharren. Da die Häftlinge nur unzureichend mit Essen
versorgt werden, unhygienischen Lebensbedingungen
ausgesetzt sind und keine medizinische Behandlung
erhalten, sterben einige während der Haft oder kurz nach
der Freilassung an deren Folgen.
In den Stammesgebieten im Nordwesten Pakistans hat
die Armee Tausende Männer und Jungen willkürlich festgenommen und hält sie in geheimen Hafteinrichtun­gen
fest, aus denen immer wieder von Folter berichtet wird.
Niaz (Name geändert) beschrieb 2013 seine Erfahrungen
in einer dieser Hafteinrichtungen folgendermaßen:
„In den ersten fünf Tagen schlugen sie uns pausenlos
mit Ledergürteln auf den Rücken, der Schmerz war
unbeschreiblich. Sie sagten, sie würden mich töten, wenn
ich nicht gestehen würde, den Taliban anzugehören.“
Der Bruder von Niaz starb in Haft.
Japan ist bekannt dafür, zum Tode verurteilte Menschen
über Jahrzehnte unter grausamen und unmenschlichen
Bedingungen in Isolationshaft zu halten. Im März 2014
entschied ein japanisches Gericht, den 78-jährigen Iwao
Hakamada freizulassen und seinen Fall erneut zu über­
prüfen. Er hatte wegen Mordes an seinem Vorgesetzten
vier Jahrzehnte im Todestrakt verbracht. Grundlage für
BERICHT / 24
Amnesty International
Fallbeispiel
Am 30. August 2013 wurde der pakistanische Journalist Ali Chishti
von Polizisten entführt und gefoltert. Der Mitarbeiter der pakista­
nischen Wochenzeitung „Friday Times“ – zuständig für das
Thema Innere Sicherheit – befand sich auf dem Heimweg von der
Arbeit, als sein Auto von einer Polizeistreife angehalten wurde.
Sechs der sieben Männer trugen Uniform, einer Zivil.
Die Polizisten zwangen Ali Chishti, in ein anderes Fahrzeug
einzusteigen, verbanden ihm die Augen und brachten ihn zu
einem Haus. Dort schlug man immer wieder auf ihn ein. Einer der
Männer stieß zudem fortwährend Beleidigungen gegen Najam
Sethi aus, den Vorgesetzten von Ali Chishti. Najam Sethi ist ein
bekannter Kritiker der pakistanischen Militärs und der Partei
MQM und wurde selbst bereits Opfer von Morddrohungen, Ent­
führung und Folter.
Ali Chishti wurde schließlich in der Nähe des DHA VIII ausgesetzt,
einem Wohngebiet, in dem ehemalige Angehörige der pakista­
nischen Streitkräfte untergebracht sind. Dort bat er die örtliche
Polizei um Hilfe, die sein Auto in einem angrenzenden Vorort fand.
Der Journalist sagte Amnesty International, er glaube, dass
die Täter im Auftrag einer weiteren Person gehandelt hätten.
Er reichte Beschwerde bei der Polizei ein, doch wurde bisher
niemand für seine Folter und Misshandlung vor Gericht gestellt.
Straflosigkeit
In der ganzen Asien-Pazifik-Region wird Folter nicht aus­reichend strafrechtlich verfolgt. In einigen Ländern fehlt es
an wirksamen Gesetzen, die Folter unter Strafe stellen,
so zum Beispiel in Indonesien, der Mongolei und Nepal.
Im Januar 2014 konnte in Taiwan eine positive Ent­
wick­lung verzeichnet werden: Das Land schaffte sein
Militärgerichtsystem ab und übertrug die Zuständigkeit
für Straftaten, die von Angehörigen des Militärs be­gan­
gen wurden, den ordentlichen Zivilgerichten. Im Juli
2013 war ein Unteroffizier der Armee an den Folgen
von Folter gestorben.
Europa und Zentralasien
Obwohl in Europa und Zentralasien Gesetze eingeführt
wurden, die Folter und andere Misshandlungen verbieten,
sind diese noch weit verbreitet, vor allem in den Län­
dern ­der ehemaligen Sowjetunion. Auch in Teilen der EU
wurden Folter und andere Misshandlungen dokumentiert.
Einige EU-Länder haben es zudem versäumt, effektive
Untersuchungen zu ihrer mutmaßlichen Beteiligung an
Folterungen im Zusammenhang mit US-geführten Maß­
nahmen zur Terrorismusbekämpfung einzuleiten.
Überblick
seine Verurteilung war ein „Geständnis“, das er
in der Untersuchungshaft unter Zwang abgelegt hatte.
Das Untersuchungshaftsystem in Japan gestattet
Folterungen und Misshandlungen. Die japanische
Staatsanwaltschaft hat angekündigt, Revision gegen
eine Prüfung des Falls von Hakamada einzulegen.
Dadurch wird die psychische Folter, der er seit
Jahrzehnten ausgesetzt ist, weiter verstärkt.
Australien hält Hunderte Asylsuchende unter haftähn­
lichen Bedingungen in einem Auffanglager in PapuaNeuguinea fest. Die Menschen sind auf extrem engem
Raum drückender Hitze ausgesetzt und erhalten weder
ausreichend Wasser noch die erforderliche medizinische
Betreuung. Einige der Asylsuchenden berichteten,
dass sie vom Personal der Einrichtung misshandelt
wurden. Sie sprachen von Tritten, Schlägen und Stößen.
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sind Folter
und andere Misshandlungen nach wie vor weit verbreitet.
Die im Laufe der vergangenen 20 Jahre eingeführten
Schutzmaßnahmen haben nur sehr wenig an der tatsäch­
lichen Praxis geändert. Vor allem gegen mutmaßliche
Angehörige separatistischer oder islamistischer Gruppen
wird Folter regelmäßig eingesetzt. Sie ist darüber hinaus
aber auch fester Bestandteil der alltäglichen Strafverfol­
gung. Korrupte und unterbezahlte Polizeikräfte sehen in
erzwungenen Geständnissen noch immer den einfachsten
Weg, um die von ihnen erwartete Überführung eines Tä­
ters zu erreichen. Erpressungen sind zudem eine nützli­
che Quelle für zusätzliches Einkommen.
Folter und andere Misshandlungen kommen in der regu­
lären Strafjustiz der meisten EU-Länder nur selten vor.
Kommt es jedoch zu Fällen von Misshandlungen, so ist
es keineswegs unüblich, dass keine oder viel zu geringe
BERICHT / 25
Amnesty International
Strafen gegen die Täter_innen verhängt werden. Die
meisten EU-Länder haben sich zudem sehr schnell den
US-geführten Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung an­
geschlossen und wurden so zu Mittätern bei zahlreichen
Rechtsverstößen, die damit einhergingen. So unterstütz­
ten einige Staaten zum Beispiel außerordentliche Über­
stellungsflüge oder beherbergten auf ihrem Staatsgebiet
Geheimgefängnisse. Den Menschen, die diesbezüglich
Gerechtigkeit und eine umfassende Aufdeckung der
Wahrheit fordern, wurde beides bisher verwehrt.
Von allen Ländern Europas und Zentralasiens hat die Tür­
kei in den vergangenen zehn Jahren wohl die größten Fort­
schritte erzielt, was Folter in Hafteinrichtungen betrifft –
sie wurde erfolgreich eingedämmt, wenn nicht sogar völlig
abgestellt. Dennoch bleibt der routinemäßige Missbrauch
von Gewalt gegen Demonstrierende ein tief verwurzeltes
Problem, das die türkische Regierung im vergangenen Jahr
eher vergrößert hat, anstatt es zu bekämpfen.
Erzwungene Geständnisse
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurden
zwar viele der wichtigsten formellen Schutzmaßnahmen
gegen Folter eingeführt. Doch hat sich dadurch kaum
etwas geändert – bei der Strafverfolgung sind weiterhin
althergebrachte Methoden vorherrschend. So wird die
Leistung von Polizeikräften noch immer nach Aufklä­
rungsquoten und erzielten Verurteilungen bemessen.
Geständnisse, die unter Folter erpresst wurden, sind
oft der schnellste Weg dorthin.
Zu den Foltermethoden, die Amnesty International in
den Ländern der ehemaligen Sowjetunion dokumentiert
hat, gehören Schläge, das Aufhängen an Deckenhaken,
Sauerstoffentzug mit Plastiktüten oder abgedichteten
Gasmasken, tödliche Stromstöße, das Schieben von
Nadeln unter Finger- und Zehennägel, Güsse mit eis­
kaltem Wasser und Vergewaltigungen.
In Zentralasien ist die Gefahr, gefoltert zu werden, für
diejenigen besonders groß, denen Mitgliedschaft in
einer islamistischen Gruppe oder Beteiligung an regie­
rungsfeindlichen Aktionen vorgeworfen wird. Im Nord­
kaukasus werden Personen, die im Verdacht stehen,
bewaffneten Gruppen anzugehören, fast immer gefoltert
oder anderweitig misshandelt, um Geständnisse, belas­
tendes Material und Informationen zu erhalten.
Rasul Kudaev wurde am 23. Oktober 2005 in Russland
festgenommen. Man warf ihm vor, am Angriff einer be­
waffneten Gruppe auf Regierungsgebäude in der Stadt
Nalchik beteiligt gewesen zu sein. Er wurde sowohl bei
seiner Festnahme als auch danach heftig geschlagen.
Sein Gesicht wies deutliche Spuren von Misshandlungen
auf, die Polizei behauptete jedoch, er sei absichtlich
hingefallen und habe sich selbst verletzt. Die Misshand­
lungsvorwürfe von Rasul Kudaev wurden nie untersucht.
Sein Gerichtsverfahren begann 2009 und beruhte fast
ausschließlich auf einem erzwungenen Geständnis. Fünf
Jahre später – neun Jahre nach seiner Festnahme –
läuft das Verfahren noch immer.
Umed Tojiev sprang aus einem Fenster im dritten Stock
einer Polizeiwache in Tadschikistan und brach sich
dabei beide Beine. Er war auf der Wache festgehal­
ten worden, nachdem man ihn gefoltert und zu einem
„Geständnis“ gezwungen hatte, in dem er erklärte, ein
Terrorist zu sein. Umed Tojiev starb zwei Monate später,
am 19. Januar 2014, angeblich an Blutgerinnseln in
einem Gefängniskrankenhaus.
In Belarus werden Berichten zufolge unter Folter
erzwungene Geständnisse als Grundlage für die Verhän­
gung der Todesstrafe genutzt. Belarus ist das einzige
Land Europas, das noch immer die Todesstrafe voll­
streckt.
Straflosigkeit
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion herrscht
für Polizeibeamt_innen, die für Folterungen und andere
Misshandlungen verantwortlich sind, nahezu unein­
geschränkte Straflosigkeit. Kaum ein Fall landet vor
Gericht, denn die erste Untersuchung der Vorwürfe wird
von Kolleg_innen oder nahestehenden Ermittler_innen
und Staatsanwält_innen vorgenommen. Nur in seltenen
Fällen stimmen die Gerichte einer eingehenderen Un­
tersuchung zu oder bitten selbst darum, wenn Strafver­
dächtige ihnen Beweise für Folterungen vorlegen.
In den EU-Ländern und den Balkanstaaten werden
Misshandlungen durch die Polizei nach wie vor häufig be­stritten. Die Reaktionen der Behörden auf diesbezügliche
Vorwürfe und die Gründlichkeit der Untersuchungen
lassen häufig zu wünschen übrig.
BERICHT / 26
Amnesty International
Proteste
Der Einsatz von exzessiver Gewalt und von Schlägen
zur Bestrafung von Demonstrierenden ist in den
Ländern der ehemaligen Sowjetunion weit verbreitet.
In den vergangenen Monaten hat Amnesty International
mehrere Fälle dokumentiert, in denen Demonstrierende
und Oppositionelle misshandelt wurden: in Russland, in
Aserbaidschan und – besonders sichtbar – in der Ukra­
ine im Zusammenhang mit den Maidan-Kundgebungen.
Schätzungen gehen davon aus, dass dabei mehr als tau­
send Menschen durch exzessive Polizeigewalt verletzt
wurden. Mehr als hundert Menschen sollen Schussver­
letzungen erlitten haben, von denen viele tödlich waren.
Im Januar 2014 wurde der ukrainische Student Mikhailo
Niskoguz von der Polizei gefoltert: Man schlug ihn, fügte
ihm mit einem Messer Schnittwunden zu und brach ihm
den Arm. Mikhailo Niskoguz hatte während einer regie­
rungskritischen Demonstration im Zentrum Kiews Fotos
gemacht.
Tausende Menschen, die 2013 in der Türkei in Zusam­
menhang mit den Gezi-Park-Protesten auf die Straße
gingen, erlitten Verletzungen infolge von Polizeieinsätzen.
Mindestens vier Personen starben an den Folgen der
Übergriffe.
Fallbeispiel
Frakturen des Schädels und des Gesichts, einschließlich einer
­Augenhöhle; Gehirnerschütterung und Blutergüsse, unter
anderem am Nacken.“ Dies ist das Fazit einer medizinischen
­Untersuchung von Vladislav Tsilytskiy. Der 23-jährige Program­
mierer war am 20. Januar 2014 zusammen mit vielen weiteren
Personen während einer Demonstration in der ukrainischen
Hauptstadt Kiew inhaftiert worden.
Vladislav Tsilytskiy musste aus dem Polizeigewahrsam sofort in
ein Krankenhaus gebracht werden. Noch während er im Kranken­
haus lag, sagte er seinem Rechtsanwalt, dass man ihn be­
wusstlos geschlagen habe. Ein Polizeibeamter soll ihn vom Dach
der Kolonnade des Dynamo-Fußballstadions gezogen und ihm
Tränengas auf die Genitalien gesprüht haben.
Es wurden keine Untersuchungen zu seinem Fall eingeleitet.
Hakan Yaman verlor ein Auge und erlitt Brüche des Wan­
genknochens, des Stirnknochens und des Kinns sowie
eine Schädelfraktur, als Polizeiangehörige ihn in der Nähe
seines Hauses in Istanbul im Juni 2013 brutal zusam­
menschlugen. Anschließend warfen sie den 37-Jährigen
in ein Feuer, weil sie annahmen, dass er tot sei.
Amnesty International hat in den vergangenen Jahren zu­
dem zahlreiche Fälle von Polizeigewalt in Zusammenhang
mit Demonstrationen gegen staatliche Sparmaßnahmen
dokumentiert, vor allem in Griechenland, aber auch in
Spanien, Rumänien und Italien.
Folter und andere Misshandlungen an der
EU-AuSSengrenze
In den vergangenen Jahren hat Amnesty International
an der EU-Außengrenze zahlreiche Menschenrechts­ver­
stöße dokumentiert, unter anderem das Zurückweisen
von Migrant_innen und Flüchtlingen an der griechisch-­
türkischen und an der spanisch-marokkanischen Grenze.
Bei diesen sogenannten Push-Backs werden die Be­
troffenen häufig Opfer von Schlägen und erniedrigender
Behandlung, wie glaubwürdige Berichte belegen.
Europäische Beteiligung an
auSSerordentlichen Überstellungen und
geheimen Inhaftierungen
In einigen EU-Ländern haben die Regierungen noch im­
mer keine gründlichen Untersuchungen ihrer Beteiligung
am CIA-Programm für außerordentliche Überstellungen
und Geheimgefängnisse durchgeführt. Im Zuge dieses
Programms kam es zwischen 2001 und 2007 zu zahlrei­
chen Fällen von Folter und anderen Misshandlungen.
Glaubwürdigen Informationen zufolge, die unter ande­
rem von der EU, dem Europarat, der UNO sowie von
Journalist_innen und NGOs stammen, unterhielt die CIA
zwischen 2002 und 2006 geheime Hafteinrichtungen
in Litauen, Polen und Rumänien. Ehemalige Häftlinge
dieser Einrichtungen gaben an, dort Opfer von Schlä­
gen, anhaltendem Schlafentzug und Scheinhinrichtun­
gen geworden zu sein.
In Rumänien gab es zu diesen Vorwürfen nur eine
geheime parlamentarische Untersuchung, die lediglich
wenige Stunden dauerte. Das Ergebnis wurde geheim
gehalten, bis auf eine kurze öffentliche Erklärung, in
BERICHT / 27
Amnesty International
der es hieß, das Land sei in keiner Weise an den Pro­
grammen zur Überstellung und geheimen Haft beteiligt
gewesen.
In Polen wurde 2008 eine strafrechtliche Untersuchung
eingeleitet, die jedoch von Verzögerungen und fehlen­
der Transparenz gezeichnet war. Allerdings wurde drei
Männern, die derzeit im US-Gefangenenlager Guantána­
mo festgehalten werden, im Rahmen der Untersuchung
offiziell der „Opferstatus“ zugesprochen. Laut einem
Bericht, der im Januar 2014 in der „Washington Post“
erschien, bezahlte die US-Regierung den polnischen
Behörden 15 Millionen US-Dollar für die Nutzung eines
Geheimgefängnisses.
Eine von Litauen eingeleitete Untersuchung konzentrier­
te sich fast ausschließlich auf die illegale Überstellung
von Mustafa al-Hawsawi, der sich ebenfalls in Guantá­
namo befindet und angibt, dass er in einer geheimen
Hafteinrichtung in Litauen festgehalten wurde.
Ein seltener Sieg für die Gerechtigkeit wurde 2012
erzielt, als der Oberste Gerichtshof Italiens in einem
Berufungsverfahren die Urteile gegen mehrere US-­
amerikanische und italienische Funktionäre bestätigte.
Sie waren für schuldig befunden worden, 2003 Abu
Omar entführt und nach Ägypten überstellt zu haben,
wo er gefoltert wurde.
Im Dezember 2012 stellte der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte fest, dass Mazedonien für die Men­
schenrechtsverletzungen, die der deutsche Staatsangehö­
rige Khaled el-Masri erleiden musste, verantwortlich war.
Der Gerichtshof machte Mazedonien für die rechtswidrige
Inhaftierung von Khaled el-Masri, für sein Verschwin­
denlassen, für die ihm zugefügte Folter sowie für seine
Überstellung an Orte, an denen er weitere schwere Men­
schenrechtsverletzungen erlitt, verantwortlich.
Insgesamt vorherrschend ist jedoch das Leugnen und
Verschleiern von Folter und der mangelnde politische
Wille der Staaten, sich für ein umfassendes, absolutes
und bedingungsloses Folterverbot einzusetzen.
Naher und mittlerer Osten
und Nordafrika
Der Nahe und Mittlere Osten und Nordafrika befinden
sich seit fast einem Jahrzehnt im Umbruch. Anfänglich
gab es die Hoffnung, die Menschenrechtslage würde sich
verbessern, und damit auch die Aussicht auf ein Leben
ohne Folter. Inzwischen ist diese Hoffnung vielerorts der
Verzweiflung über ausbleibende Fortschritte gewichen.
Oder sie hat sich – wie im Fall von Syrien – in Entsetzen
verwandelt, angesichts einer Menschenrechtskatastrophe,
in der Folter großflächig angewandt wird. In anderen Län­
dern, vor allem dort, wo langjährige Herrscher gestützt
wurden, herrscht Frustration über den schleppenden
Veränderungsprozess.
Neue Regierungen haben zum Teil einige wenige
positive Maßnahmen ergriffen, wie die Stärkung des
gesetzlichen Folterverbots. In Tunesien wurde 2012
ein Ministerium für Menschenrechte und Übergangs­
justiz eingerichtet, das Strategien zur Aufarbeitung
der Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit
entwickeln und den Schutz der Menschenrechte in der
Zukunft sicherstellen soll. Dennoch erweisen sich tief
verwurzelte Faktoren, die Verbrechen wie Folter lange
Zeit begünstigt haben, als unüberwindliche Hindernisse
bei der praktischen Umsetzung von Gesetzen.
Folter während und nach bewaffneten Konflikten
Die Berichte über Folter und andere Misshandlungen
in Syrien haben explosionsartig zugenommen, seit die
Behörden im März 2011 begannen, mit brutaler Gewalt
gegen die Protestbewegung im Land vorzugehen und sich
die Situation zu einem dauerhaften bewaffneten Konflikt
entwickelt hat. Häftlinge, denen die Beteiligung an Aktivi­
täten der Opposition vorgeworfen wird, werden regelmäßig
gefoltert und anderweitig misshandelt. Unter den Opfern
befinden sich auch friedliche Aktivist_innen und Kinder.
Berichten zufolge sind in Syrien Tausende Menschen in­
folge von Folter und Misshandlung in Gewahrsam zu Tode
gekommen. Amnesty International hat ebenfalls Folterun­
gen durch bewaffnete Gruppen dokumentiert.
Auch aus Ländern, in denen der Konflikt nicht mehr
virulent ist, gibt es weiterhin Berichte über Folter und
andere Misshandlungen. Im Irak wird in Gefängnissen
Amnesty International
und anderen Haftanstalten noch immer häufig gefoltert.
Zwischen 2010 und 2012 sollen mehr als 30 Menschen
an den Folgen derartiger Misshandlungen in Gewahrsam
gestorben sein.
In Libyen ist Folter nicht nur in den Hafteinrichtungen
des Staates weit verbreitet, sondern auch in denen, die
von Milizen betrieben werden. Amnesty International
hat seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes 2011 23 Fälle
dokumentiert, in denen Menschen durch Folter zu Tode
gekommen sind.
Proteste
In den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und
Nordafrikas greifen Regierungen vielfach auf Folter und
andere Misshandlungen zurück, um gegen abweichende
Meinungen und Proteste vorzugehen oder um auf mutmaß­
liche Bedrohungen der inneren Sicherheit zu reagieren.
In Ägypten setzten Armee und Sicherheitskräfte während
der Unruhen 2011 Folter als Waffe gegen Demonstrieren­
de ein. Unter der Militärherrschaft wurden im März 2011
Demonstrantinnen zu „Jungfräulichkeitstests“ gezwun­
gen. Auch heute sind Folter und andere Formen der
Misshandlung in Ägypten noch immer weit verbreitet.
Die derzeitige Regierung arbeitet an neuen Antiterror­
gesetzen, die – sollten sie verabschiedet werden – selbst
die bisherigen Schutzmaßnahmen gegen Folter und
andere Misshandlungen aushöhlen würden.
Im Iran setzen die Behörden Folter und andere Miss­
handlungen ein, um „Geständnisse“ zu erzwingen. Diese
dienen als Grundlage für Schuldsprüche, die die Todes­
strafe nach sich ziehen können. Betroffen sind sowohl
Menschen, die friedlich eine abweichende Meinung
vertreten haben, als auch Personen, denen Drogendelikte
vorgeworfen werden, oder Minderjährige. Die Folter­
maßnahmen werden häufig bei Verhören angewendet,
während den Häftlingen gleichzeitig der Zugang zu einem
Rechtsanwalt verweigert wird.
In einer Reihe von Ländern des Nahen und Mittleren
Ostens und Nord­afrikas mussten die Regierungen auf
eine reale Bedrohung der Zivilbevölkerung durch be­
waffnete Gruppen oder Einzelpersonen reagieren. Beim
Vorgehen gegen die mutmaßlichen Täter setzten sie
Berichten zufolge jedoch Folter ein. So wurden im
BERICHT / 28
Oktober 2012 in Jordanien elf Männer inhaftiert, die
Anschläge in Amman geplant haben sollen. Sie gaben
an, ihr Geständnis unter Folter abgelegt zu haben.
Im Zuge der Gefahrenabwehr geraten – oftmals ab­
sichtlich – jedoch auch Oppositionelle und Bürgerrecht­
ler_innen ins Visier. In Saudi-Arabien gibt es immer
wieder Berichte über die Folterung und Misshandlung
von Personen, denen Straftaten im Zusammenhang mit
der Sicherheit des Landes vorgeworfen werden – eine
Kategorie, die sich auch auf politisch Andersdenkende
anwenden lässt.
Aktuelle Berichte über Folterungen und Misshandlungen
von Häftlingen liegen auch aus weiteren Golfstaaten
wie Bahrain, Katar, Kuwait, Oman und den Vereinigten
Arabischen Emiraten vor. Von den betroffenen Häft­
lingen werden einige aus Gründen der „Sicherheit“
festgehalten.
In Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten
bietet die Misshandlung von Häftlingen – vor allem von
Palästinenser_innen – bei Festnahmen und Verhören
nach wie vor Anlass zu ernster Besorgnis. Obwohl seit
2001 mehr als 800 Beschwerden eingereicht wurden,
die dem Israelischen Sicherheitsdienst Folter vorwerfen,
ist bisher zu keinem Fall ein strafrechtliches Ermitt­
lungsverfahren eingeleitet worden.
Sowohl die Palästinensische Autonomiebehörde (PA)
im Westjordanland als auch die De-facto-Regierung der
Hamas im Gazastreifen sind für Folter und andere Miss­
handlungen von Häftlingen verantwortlich. Besonders
häufig werden die jeweiligen politischen Gegner_innen
zum Opfer von Misshandlungen. Die von der PA einge­
setzte Unabhängige Kommission für Menschenrechte
erhielt 2012 mehr als 142 Beschwerden wegen Folter
und anderen Misshandlungen im Westjordanland und
129 wegen derartiger Übergriffe im Gazastreifen.
Grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafe
Grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen,
wie Steinigungen, Auspeitschungen und Amputationen
finden sich in einigen Ländern des Nahen Ostens noch
immer in den Gesetzbüchern, insbesondere in den
Golfstaaten. Verhängt werden diese Strafen hauptsäch­
lich im Iran und in Saudi-Arabien.
BERICHT / 29
Amnesty International
Fallbeispiel
Der Blogger Sattar Beheshti starb 2012 in Gewahrsam der
iranischen Internetpolizei. Er soll durch Folter zu Tode gekommen
sein. Aus einem gerichtsmedizinischen Gutachten geht hervor,
dass er an inneren Blutungen in Lunge, Leber, Nieren und Gehirn
starb. Bis heute gibt es zu seinem Tod keine unabhängige und
gründliche Untersuchung.
Ein Muster des Staatsversagens
Die im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika tief
verwurzelten Muster von Folter und Misshandlung werden
dadurch begünstigt, dass Sicherheitskräfte weitgehend
unkontrolliert handeln können und dass die Rechtspre­
chung sich im Wesentlichen auf Geständnisse stützt.
Außerdem fehlt es den Justizbehörden in der Regel
an Unabhängigkeit, um die nötigen Konsequenzen zu
ziehen, wenn sie mit Berichten über derartige Übergriffe
konfrontiert werden.
Der Kern des Problems ist fehlender politischer Wille.
In Bahrain wurde nach der Niederschlagung der Unruhen
von 2011 auf internationalen Druck hin eine internationale
Expertenkommission eingesetzt. Das Gremium stellte fest,
dass die bahrainische Regierung Häftlinge systematisch
foltern ließ. Die Regierung erklärte, sie akzeptiere das Er­
gebnis des Berichts, die darin enthaltenen Empfehlungen
der Kommission wurden jedoch bisher nicht umgesetzt.
Gewalt gegen Frauen stellt in den Ländern des Nahen
und Mittleren Ostens und Nordafrikas ein anhaltendes
Problem dar. Die Staaten haben bisher keine wirksamen
Gesetze eingeführt, um Frauen vor geschlechtsspezifi­
schen Straftaten zu schützen, die von Privatpersonen
begangen werden. Faktisch tolerieren viele Staaten diese
Gewalttaten, da sie nicht sicherstellen, dass sie ange­
messen untersucht und strafrechtlich verfolgt werden.
In einigen Ländern wurde die mangelnde strafrechtliche
Verfolgung von schweren Menschenrechtsverletzungen
wie Folter noch durch Straferlasse verschlimmert. Im
Jemen erließ die Regierung im Januar 2012 ein Gesetz,
das dem ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Saleh
und allen Mitarbeitern seiner Regierung für „politisch
motivierte Handlungen“, die sie im Rahmen ihrer Dienst­
geschäfte ausübten, strafrechtliche Immunität gewährt.
In Algerien wurde den Sicherheitskräften und den vom
Staat bewaffneten Milizen, die während des Bürger­
kriegs in den neunziger Jahren schwere Menschen­
rechtsverletzungen begingen, Immunität vor strafrecht­
licher Verfolgung zugesichert.
Schritte in die richtige Richtung
Bezüglich eines gesetzlichen Folterverbots gab es in der
jüngsten Vergangenheit gewisse Fortschritte zu verzeich­
nen, insbesondere in Tunesien und Libyen. Die Paläs­
tinensische Autonomiebehörde und die Regierung des
Libanon, wo Folter und andere Misshandlungen ebenfalls
weiterhin ein Problem darstellen, haben Verhaltens­
regeln und Vorgaben für ihre Sicherheitskräfte eingeführt,
um derartige Übergriffe zu verhindern.
Zu den positiven Entwicklungen der jüngsten Zeit zählen
auch Bemühungen, Folter und andere Menschenrechts­
verletzungen der Vergangenheit juristisch aufzuarbeiten.
Ein erster entsprechender Versuch fand in Marokko und
Westsahara statt. Dort stellte eine 2003 eingerichtete
Kommission die staatliche Verantwortung für die zwi­
schen 1956 und 1999 von Sicherheitskräften verübten
Menschenrechtsverletzungen – zu denen auch Folter
gehörte – fest. Außerdem sprach die Kommission
vielen Überlebenden finanzielle Entschädigungsleistun­
gen zu. Dem Recht der Opfer auf Wahrheit und Gerech­
tigkeit wurde jedoch nicht vollständig Genüge getan.
Außerdem gibt es auch weiterhin Berichte über Folter
und andere Formen der Misshandlung. Betroffen sind
davon unter anderem Aktivist_innen, die sich für die
Selbstbestimmung der Westsahara einsetzen.
In Tunesien wurde im Dezember 2013 eine Kommissi­
on ins Leben gerufen, deren Aufgabe es ist, seit 1955
begangene Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen.
Auch andere Entwicklungen lassen auf eine Aufarbei­
tung hoffen: So wurden im März 2013 die sterblichen
Überreste von Faysal Baraket exhumiert, der im Oktober
1991 in Polizeigewahrsam zu Tode gefoltert worden war.
Eine Untersuchung widerlegte die von der damaligen
Regierung verbreitete Version, wonach der junge Mann
bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sei.
Das juristische Verfahren zu diesem Fall ist noch nicht
abgeschlossen.
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Amnesty International
Amerika
Der amerikanische Kontinent verfügt sowohl auf nationa­
ler als auch auf regionaler Ebene über Antifoltergesetze
und Kontrollmechanismen, die zu den solidesten weltweit
zählen. Dennoch kommt es in vielen Ländern weiterhin
zu Fällen von Folter und anderen Misshandlungen. Die
Verantwortlichen für derartige Übergriffe werden nur
selten vor Gericht gestellt. In einer Reihe von Staaten
akzeptieren weite Teile der Bevölkerung den Einsatz
von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und
erniedrigender Behandlung zur Bekämpfung der hohen
Rate an Gewaltverbrechen.
Haftbedingungen und Gefängnisse
Amnesty International erreichten im Laufe der Jahre aus
allen Teilen des amerikanischen Kontinents Berichte über
Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und
anderen Haftanstalten. In vielen Ländern werden Häft­
linge Opfer von Schlägen, Elektroschocks und sexuellem
Missbrauch, außerdem wird ihnen der Zugang zu medizi­
nischer Versorgung verwehrt. Häufig herrschen sehr
schlechte Haftbedingungen – einschließlich extremer
Überbelegung.
In den USA sind Tausende Menschen in Hochsicher­
heitsgefängnissen inhaftiert, in denen sie 22 bis 24
Stunden pro Tag in kleinen Zellen in Einzelhaft verbrin­
gen müssen. Viele von ihnen haben so gut wie keinen
Zugang zu Tageslicht oder zu Freizeitgestaltung außer­
halb ihrer Zellen, was grausamer, unmenschlicher und
erniedrigender Behandlung gleichkommt. Folter wird
auch eingesetzt, um Häftlinge zu bestrafen oder um Ge­
ständnisse von Personen zu erhalten, die einer Straftat
verdächtigt werden.
Am 12. April 2014 wurden Luis Manuel Lember Martínez
und Eduardo Luis Cruz in der Dominikanischen Republik
in Polizeigewahrsam gefoltert. Die Polizei soll die beiden
Männer aufgefordert haben, Bestechungsgeld zu bezahlen. Als diese sich weigerten, warf man ihnen illegalen
Waffenbesitz vor und brachte sie auf eine Polizeiwache.
Die Männer gaben an, man habe sie mit einem Brett
geschlagen und ihnen Plastiktüten um die Köpfe gewi­
ckelt. Eduardo Luis Cruz sagte Amnesty International, er
sei in die Hoden geschlagen worden, Luis Manuel Lember
Martínez habe man Stromstöße an den Beinen versetzt.
Die Staatsanwaltschaft hat eine Untersuchung zu den
Vorwürfen der Folter und Misshandlung eingeleitet.
In Brasilien fehlt von Amarildo Souza Lima jede Spur,
seit Angehörige der Militärpolizei ihn am 14. Juli 2013
in der Favela Rocinha in Rio de Janeiro festnahmen.
Eine Untersuchung der Behörden kam zu dem Schluss,
Amarildo Souza Lima sei widerrechtlich inhaftiert wor­
den, um verhört zu werden. Im Gebäude der Schlich­
tungspolizei (UPP) von Rocinha soll er dann gefoltert
und an den Folgen gestorben sein. Der Kommandant
der UPP und ein weiterer Polizeibeamter werden im
Zusammenhang mit dem Fall strafrechtlich verfolgt und
befinden sich in Haft. Die Leiche von Amarildo Souza
Lima ist bisher jedoch noch nicht gefunden worden.
In Mexiko haben Berichte über Folter seit 2006 zu­
genommen. Hintergrund ist der Kampf der Regierung
gegen das organisierte Verbrechen, der zu vermehrtem
Einsatz von Gewalt geführt hat. In zahlreichen Fällen
erfolgen Verhaftungen ohne Haftbefehl. Zur Begründung
heißt es, die Verdächtigen seien „in flagranti“ ertappt
worden – selbst in Fällen, in denen es keinerlei Verbin­
dung zwischen ihnen und der Straftat oder dem Tatort
gibt. Allzu oft gehören die Personen, die ohne Beweise
festgenommen werden, armen und ausgegrenzten Be­
völkerungsgruppen an und haben kaum Möglichkeiten,
wirksame rechtliche Unterstützung zu erhalten. Sie sind
daher besonders gefährdet, Opfer von Folter und ande­
ren Misshandlungen zu werden.
In Ländern wie Chile, Mexiko, Venezuela und Brasilien
kommt es bei Demonstrationen regelmäßig zu Übergrif­
fen der Sicherheitskräfte. Vor allem aus Brasilien gibt
es zunehmend Berichte über Polizeigewalt bei Protesten
im Vorfeld der Fußball-WM 2014 und bei militärischen
Operationen in den Favelas großer Städte wie Rio de
Janeiro.
Straflosigkeit
Die meisten Länder des amerikanischen Kontinents ha­
ben in den vergangenen Jahren Folter zu einer konkreten
Straftat erklärt und Menschenrechtskommissionen oder
Ombudsstellen eingerichtet, um Folter zu verhindern.
Was die juristische Aufarbeitung aktueller und vergan­
gener Folter- und Misshandlungsvorwürfe angeht, bleibt
hingegen noch einiges zu tun. Diejenigen, die Folter ver­
BERICHT / 31
Amnesty International
üben oder sie anordnen, werden nur in Ausnahmefällen
zur Rechenschaft gezogen.
Für die anhaltende Verbreitung von Folter und anderen
Formen der Misshandlung und für die tief verwurzel­
te Kultur der Straflosigkeit sind nicht zuletzt Defizite
in den Justizsystemen vieler amerikanischer Länder
verantwortlich. So werden zum Beispiel in Chile Fälle
von Menschenrechtsverletzungen wie Folter und andere
Misshandlungen, die von Angehörigen der Sicherheitskräf­
te begangen wurden, vor Militärgerichten verhandelt, die
nicht immer unabhängig und unparteiisch sind.
In einigen Ländern wurden zwar Schritte zur juristischen
Aufarbeitung der Vergangenheit unternommen. Doch gibt
es noch immer Tausende von Folterfällen, die während
der brutalen Militärdiktaturen in den sechziger, siebziger
und achtziger Jahren begangen wurden, für die bisher
niemand zur Verantwortung gezogen wurde.
In Ländern wie El Salvador und Uruguay gibt es nach wie
vor Amnestiegesetze, die verhindern, dass Tausende von
Menschenrechtsverletzungen untersucht werden. Dabei
könnten die Regierungen auf Grundlage ihrer völker­
rechtlichen Verpflichtungen solche Untersuchungen noch
immer anordnen.
In Guatemala wurde das Verfahren gegen den ehemali­gen
Staatschef General Efraín Ríos Montt im vergangenen
Jahr auf 2015 vertagt. Das Verfahren soll klären, inwie­
weit Montt als ehemaliger Präsident und Oberbefehls­
haber der guatemaltekischen Armee (1982-1983) für
die Tötung, Folter, den sexuellen Missbrauch und die
Vertreibung von 1.771 Angehörigen der indigenen Bevöl­
kerungsgruppe der Ixil verantwortlich ist.
Die während des seit 50 Jahren andauernden bewaffne­
ten Konflikts in Kolumbien verübten Menschenrechtsver­
letzungen, darunter Folter, wurden bislang nicht gründlich
untersucht. Alle Konfliktparteien, sowohl die Sicherheits­
kräfte und Paramilitärs, die teilweise gemeinsam operie­
ren, als auch die Guerillagruppen sind für rechtswidrige
Tötungen, Verschwindenlassen, Entführungen, Folter,
Vertreibungen und sexuelle Gewalt verantwortlich.
Die US-Regierung ist ihrer Pflicht zur strafrechtlichen
Aufarbeitung der Foltermaßnahmen und des Verschwin­
denlassen von Menschen im Rahmen der Antiterror­
operationen bislang ebenfalls nicht nachgekommen. Von
den Personen, die dafür verantwortlich waren, dass in
den CIA-Geheimgefängnissen weltweit Verhörtechniken
wie Waterboarding, anhaltender Schlafentzug oder das
Verharren in schmerzhaften Positionen zum Einsatz
kamen, wurde bislang niemand vor Gericht gestellt. ­Ein
Kongressausschuss (SSCI) hat das mittlerweile abge­
schlossene CIA-Programm untersucht. Der mehr als
6.000 Seiten umfassende Bericht wurde jedoch als
geheim deklariert.
Fallbeispiel
Der 21-jährige Juan Manuel Carrasco wurde bei einer Demons­
tration in der venezolanischen Stadt Valencia am 13. Februar
2014 festgenommen und bereits bei seiner Festnahme brutal
misshandelt.
„Wir wurden in eine kniende Embryonalstellung gezwungen und
geschlagen. Ein Polizist sagte, wir sollten nicht beten, denn
nicht einmal Gott würde uns retten. Sie sagten, unser letzter
Tag sei gekommen. Dann zogen sie meine Boxershorts herunter
und führten etwas von hinten in mich ein“, sagte er Amnesty
International. Drei Tage nach seiner Festnahme wurde Juan
Manuel Carrasco wieder freigelassen. Sein Fall wird derzeit von
der Generalstaatsanwaltschaft untersucht.
Seit Beginn der Proteste in Venezuela im Februar 2014 hat
Amnesty International Dutzende von Beschwerden erhalten, in
denen von Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte bei der
Festnahme, bei Transporten und in der Haft die Rede ist.
BERICHT / 32
Amnesty International
Anhang: ZUSAMMENFASSUNG DEs
RECHTlichen Rahmens
Folter und andere grausame, unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung oder Strafe sind absolut
verboten
gemäß
internationalen Menschenrechtsabkommen und
anderen Instrumenten, wie
• Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte
• Artikel 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche
und politische Rechte
• der UN-Antifolterkonvention
regionalen Übereinkommen, wie
• der Interamerikanischen Konvention zur Verhütung
und Bestrafung von Folter
• Artikel 5 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention
• Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention
Abkommen des humanitären Völkerrechts, wie
• den Genfer Abkommen
Völkergewohnheitsrecht
Das Verbot gilt absolut: Es gilt also ohne Einschrän­
kungen und Ausnahmen unter allen Umständen, auch
während eines Krieges oder bei drohendem Krieg, zu
Zeiten interner politischer Unruhen und während allen
anderen Notstandsfällen. Staaten können das Verbot
durch nichts außer Kraft setzen, auch nicht durch das
Unterzeichnen von Übereinkommen mit anderen Staa­
ten, die Folter erlauben.
Folter ist nach dem Völkerrecht immer eine Straftat.
Einige andere Formen grausamer, unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Strafe werden im Völ­
kerrecht ebenfalls als Straftaten angesehen, vor allem
dann, wenn sie in Zusammenhang mit bewaffneten
Konflikten oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit
stehen.
Gemäß der geläufigsten und weithin üblichen Definition
– die aus der UN-Antifolterkonvention stammt – ist Fol­
ter jede von Staatsbediensteten selbst oder mit deren
Zustimmung oder Einverständnis durchgeführte Hand­
lung, bei der einer Person vorsätzlich große körperliche
oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden
und die einen bestimmten Zweck, wie das Erlangen von
Informationen oder Geständnissen, die Bestrafung, Nö­
tigung oder Einschüchterung, verfolgt oder aus Gründen
der Diskriminierung begangen wird.
Das Völkerrecht enthält keine allgemein gültige Definition
zu „anderer grausamer, unmenschlicher und erniedri­
gender Behandlung oder Strafe“. Internationale Normen
stellen jedoch klar, dass größtmöglicher Schutz auch
vor derartigen Übergriffen bestehen muss. In der Praxis
stufen internationale und regionale Menschenrechts­
gremien Handlungen dann als grausam, unmenschlich
und erniedrigend ein, wenn nicht alle Voraussetzungen
der oben genannten Definition von Folter erfüllt sind.
So werden beispielsweise Handlungen, die nicht das Zu­
fügen „großer“ Schmerzen umfassen oder die nicht den
Zweck der Bestrafung oder der Erlangung von Informati­
onen verfolgen, als grausam, unmenschlich und erniedri­
gend betrachtet und nicht als Folter eingestuft.
Internationale Abkommen und Normen enthalten spezi­
elle Verfahrensgarantien und andere Schutzmaßnahmen
zur Stärkung des Folterverbots – zum Beispiel das Recht,
nach der Inhaftierung zeitnah einem Richter vorgeführt
zu werden, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsanwalt
und das Recht auf Kontakt zur Außenwelt. Die wichtigs­
te Rolle spielen dabei die UN-Antifolterkonvention, die
im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische
Rechte enthaltenen Vorgaben zu den Rechten auf Freiheit
und ein faires Verfahren, das Internationale Überein­
kommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwin­
denlassen und der UN-Grundsatzkatalog für den Schutz
aller irgendeiner Form von Haft oder Strafgefangenschaft
unterworfenen Personen.
Untersuchung, Rechenschaftspflicht und
Wiedergutmachung
Das Folterverbot verpflichtet die Staaten bzw. Regie­
rungen auch zur Untersuchung aller glaubwürdigen
Anschuldigungen über Folter und andere Misshandlun­
gen. Diese Untersuchungen müssen schnell, umfas­
send, effektiv, unabhängig, unparteiisch und öffentlich
durchgeführt werden. Dies bedeutet auch, dass sie
dazu geeignet sein müssen, die Täter_innen ausfindig
BERICHT / 33
Amnesty International
zu machen – hierbei handelt es sich jedoch um eine
Leistungspflicht, nicht um eine Erfolgspflicht; eine
Untersuchung, die nicht zur Identifizierung der ­
Täter_innen führt, wird nicht notwendigerweise als
ineffektiv betrachtet.
Gemäß der UN-Antifolterkonvention hat ein Staat die
Pflicht, sicherzustellen, dass Foltermaßnahmen im
Rahmen des Strafrechts als Straftaten gelten. Werden
Täter_innen ausgemacht, so müssen sie vom Staat zur
Verantwortung gezogen werden, was in fast allen Fällen
eine strafrechtliche Verfolgung erforderlich macht. All
dies bezieht sich nicht nur auf Folterungen und andere
Misshandlungen innerhalb des Staatsgebietes oder der
Gerichtsbarkeit eines Staates. Alle Staaten, die die UNAntifolterkonvention ratifiziert haben, haben die Pflicht,
Personen, die sich in ihrem Staatsgebiet oder inner­
halb ihrer Gerichtsbarkeit aufhalten und die der Folter
verdächtigt werden, entweder auszuliefern oder selbst
strafrechtlich zu verfolgen. Dabei ist es unwichtig, wo
auf der Welt die eigentliche Folterhandlung begangen
wurde (dies ist eine Form der vorgeschriebenen „uni­
versellen Gerichtsbarkeit“). Die Staaten müssen in
Form von Auslieferungen und gegenseitiger Rechtshilfe
zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass es keinen
sicheren Zufluchtsort für Folterer gibt.
Opfer von Folter und anderen Misshandlungen haben
das Recht auf angemessene, effektive und zeitnahe
Wiedergutmachung für das von ihnen erfahrene Leid.
Im Zusammenhang mit Folter und anderen Misshand­
lungen handelt es sich dabei in den meisten Fällen
um Rehabilitierung, Entschädigung und Formen der
Genugtuung (einschließlich des Rechts auf Wahrheit).
Die Wiedergutmachung kann jedoch auch eine Form
der Restitution umfassen, also den Versuch, das Opfer
so weit wie möglich in den Stand vor der erlittenen
Misshandlung zu versetzen. Staaten, die gegen das
Folterverbot verstoßen, haben außerdem die Pflicht
zur Abgabe von Garantien der Nichtwiederholung – sie
müssen Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Fälle
von Folter und anderen Misshandlungen ergreifen, die
häufig an die Verpflichtungen des Staates hinsichtlich
Untersuchungen, strafrechtlicher Aufklärung und Prä­
vention anknüpfen.
Schutzmechanismen
Das Völkerrecht überträgt den Staaten eine Reihe von
Verpflichtungen, die zumindest teilweise als Schutz­
mechanismen gegen Folter gedacht sind. Die nachfol­
gende Aufzählung enthält einige der wichtigsten Mecha­
nismen. Es handelt sich nicht um eine abschließende
Liste.
Bei der Festnahme müssen die Betroffenen über den
Grund ihrer Festnahme und ihre Rechte informiert wer­
den. Angehörige müssen von den Häftlingen oder den
Behörden über die Festnahme informiert werden. Haft
ohne Kontakt zur Außenwelt – die gemäß Völkerrecht ver­
boten ist – begünstigt Folter und andere Misshandlungen
und kann, wenn sie längere Zeit andauert, selbst eine
Form der Misshandlung darstellen. Daher ist ein Staat
verpflichtet, sicherzustellen, dass alle Häftlinge unmittel­
baren und regelmäßigen Zugang zu Rechts­anwält_innen,
ihren Familienangehörigen und zu unabhängiger medizini­
scher Behandlung haben.
Die Behörden müssen ein aktualisiertes Register der
Häftlinge führen, das den Rechtsanwält_innen, Familien­
angehörigen und jeder Person, die ein legitimes Interesse
an den darin enthaltenen Informationen hat, zur Verfü­
gung steht. Häftlinge dürfen nur an offiziell bekannten
Orten inhaftiert werden: geheime Haft ist verboten.
Personen, die festgenommen und inhaftiert wurden,
müssen ohne Verzögerung einem Richter zur Prüfung
der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung vorgeführt werden.
Die Justizbehörde ist angehalten auch danach weiter
eine Kontrollfunktion wahrzunehmen und die Fortdauer
der Haft in regelmäßigen Abständen zu überprüfen. Die
Justizbehörde soll den Verdächtigen im Rahmen von
Anhörungen die Möglichkeit geben, Erklärungen zu deren
Behandlung in Haft abzugeben.
Durch Folter oder andere Formen der Misshandlung er­
zielte Erklärungen oder andere auf diese Weise erhaltene
„Beweismittel“ dürfen unter keinen Umständen zur Straf­
verfolgung genutzt werden. Ausgenommen sind Fälle, bei
denen sie zum Beweis ihrer Existenz gegen mutmaßliche
Folterer vorgelegt werden. Andere Normen – vor allem
im europäischen Strafjustizsystem – schreiben vor, dass
Aussagen, die unter Abwesenheit eines Rechtsanwal­
tes gemacht wurden, in Gerichtsverfahren nicht gegen
BERICHT / 34
Amnesty International
Verdächtige verwendet werden dürfen. Weitere Schutz­
maßnahmen umfassen die Trennung der behördlichen
Zuständigkeit für Verhöre und Haft, die Anwesenheit
eines Rechtsbeistandes während der Vernehmungen
und die Videoüberwachung aller Vernehmungen sowie
der Bereiche, in denen es häufig zu Folter und anderen
Misshandlungen kommt.
Internationale Schutz- und Präventionsmechanismen
Eine Reihe von internationalen und regionalen Organen
überwacht die Einhaltung von Übereinkommen:
Auf Ebene der UN überwacht der UN-Ausschuss gegen
Folter die Umsetzung der Antifolterkonvention, unter
anderem durch Individualbeschwerden und die Über­
prüfung von Staatenberichten. Die Überwachung der
Umsetzung des Internationalen Pakts über bürgerliche
und politische Rechte obliegt dem UN-Menschen­
rechtsausschuss. Andere Organe zur Überwachung
der UN-Abkommen kümmern sich entsprechend ihrer
jeweiligen Zuständigkeit gelegentlich ebenfalls um
Angelegenheiten, die in Verbindung mit Folter stehen.
Verschiedene regionale und UN-Sonderverfahren, ins­
besondere der UN-Sonderberichterstatter über Folter,
führen Besuchsmissionen in ausgewählten Ländern
durch, reagieren auf konkrete Situationen und erstellen
thematische Berichte im Zusammenhang mit Folter und
anderen Misshandlungen.
Auf regionaler Ebene verhandeln der Europäische Ge­
richtshof für Menschenrechte, die Interamerikanische
Kommission und der Interamerikanische Gerichtshof
für Menschenrechte sowie die Afrikanische Kommission
und der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte
Einzelfälle und/oder zwischenstaatliche Fälle mutmaß­
licher Verletzungen der relevanten regionalen Überein­
kommen.
Die beiden wichtigsten internationalen Mechanismen
zur Prävention von Folter und anderen Formen der
Misshandlung sind der UN-Unterausschuss zur Präven­
tion von Folter, der entsprechend des Zusatzprotokolls
zur Antifolterkonvention gegründet wurde, und das Eu­
ropäische Komitee zur Verhütung von Folter, das durch
das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von
Folter eingerichtet und von allen Mitgliedsstaaten des
Europarats ratifiziert wurde.
Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter
führt angekündigte und Ad-hoc-Besuche in den Ver­
tragsstaaten durch. In der Regel veröffentlicht der Aus­
schuss erst dann Berichte über diese Besuche, wenn
der betroffene Staat sein Einverständnis dazu gegeben
hat. In Ausnahmefällen gibt das Komitee jedoch öffent­
liche Erklärungen in Zusammenhang mit seinen Besu­
chen ab. Der UN-Unterausschuss zur Prävention von
Folter hat eine ähnliche Aufgabe wie der Europäische
Ausschuss zur Verhütung von Folter. Er ist gemäß dem
Zusatzprotokoll zur UN-Antifolterkonvention jedoch
nicht ausdrücklich dazu befugt, Ad-hoc-Besuche durch­
zuführen.
Artikel 17 des Zusatzprotokolls zur UN-Antifolterkon­
vention schreibt vor, dass die Vertragsstaaten unabhän­
gige nationale Präventionsmechanismen zur Verhütung
von Folter und anderen Misshandlungen unterhalten
und einrichten. Außerdem fordert es die Verankerung
weiterer völkerrechtlicher Bestimmungen im jeweiligen
nationalen Recht. Wie auch der UN-Unterausschuss zur
Prävention von Folter haben die nationalen Präventions­
mechanismen die Aufgabe, Besuche in Hafteinrichtun­
gen durchzuführen. Außerdem sollen sie den jeweiligen
Behörden Empfehlungen unterbreiten, um Personen,
denen die Freiheit entzogen ist, vor Folter und anderen
Misshandlungen zu schützen.
UN-Mindeststandards für die Behandlung
von Gefangenen
Die UN-Mindeststandards für die Behandlung von
Gefangenen sind ein Schlüsselelement zum Schutz von
Gefangenen und Häftlingen vor Menschenrechtsverlet­
zungen wie Folter sowie zur Sicherstellung menschen­
würdiger Haftbedingungen. Die Standards stammen
jedoch aus dem Jahre 1955 und sind daher nicht mehr
zeitgemäß. 2010 verabschiedete die UN-Generalver­
sammlung die Resolution 65/230 „Zwölfter Kongress
der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und
Strafrechtspflege“. Darin wird die Kommission für
Verbrechensverhütung und Strafrechtspflege dazu auf­
gefordert, offene zwischenstaatliche Sachverständigen­
gruppen einzusetzen, um Informationen über bewährte
Verfahren, nationale Rechtsvorschriften und geltendes
Völkerrecht sowie über Möglichkeiten zur Überarbeitung
der bestehenden Mindeststandards auszutauschen
– damit diese den jüngsten Fortschritten der Strafvoll­
Amnesty International
zugswissenschaft und der „best practice“ entsprechen.
Ziel soll es sein, der Kommission Empfehlungen über
mögliche nächste Schritte zu unterbreiten.
Amnesty International und andere Institutionen setzen
sich dafür ein, dass diese Überarbeitung zu Standards
führt, die den Menschenrechten mehr Rechnung tragen.
Einige Staaten unterstützen diese Bemühungen, andere
wollen möglichst wenig Veränderungen, und wieder an­
dere versuchen die Überarbeitung zu verzögern oder die
weitere Beteiligung von NGOs zu verhindern.
Nicht-staatliche Akteure
Auch Handlungen, die von Privatpersonen begangen wer­
den, können unter die völkerrechtliche Definition von Fol­
ter fallen. Der Staat trägt auch dann die Verantwortung,
wenn staatliche Behörden nicht die erforderliche Sorgfalt
an den Tag legen, um derartige Handlungen von Privat­
personen zu verhindern, zu bestrafen oder anderweitige
Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Unter bestimmten Um­
ständen können bewaffnete Gruppen oder Einzelpersonen
für begangene Folterungen wegen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen zur Rechenschaft
gezogen werden.
Non-Refoulement-Prinzip und diplomatische
Zusicherungen
Mit dem Prinzip des Non-Refoulement verbietet das
Völkerrecht die Überstellung von Personen in das Staats­
gebiet oder den Hoheitsbereich eines Staates, falls
ernsthafte Gründe zur Annahme vorliegen, dass ihnen
dort Folter oder andere Formen der Misshandlung drohen
(dies betrifft auch Fälle, in denen Personen anschließend
in das Staatsgebiet oder den Hoheitsbereich eines dritten
Landes überstellt werden könnten, wo sie von derartige
Menschenrechtsverletzungen bedroht wären). Das NonRefoulement-Prinzip ist ein grundlegender Bestandteil
des Verbots der Folter und anderer Misshandlungen.
Es ist sowohl in internationalen Abkommen – wie der
UN-Antifolterkonvention, dem Internationalen Pakt über
bürgerliche und politische Rechte, der Europäischen
Menschenrechtskonvention und der Flüchtlingskonvention
– als auch im Völkergewohnheitsrecht verankert.
In den vergangenen Jahren haben Staaten immer wieder
versucht, das Non-Refoulement-Prinzip durch „diplomati­
sche Zusicherungen“ zu umgehen. Dabei handelt es sich
BERICHT / 35
um die Zusicherung eines Staates, dass eine Person nach
der Rückführung in sein Hoheitsgebiet nicht gefoltert
oder anderweitig misshandelt wird. Amnesty Internati­
onal lehnt derartige diplomatische Zusicherungen als
Grund­lage und Rechtfertigung für die Auslieferung von
Personen an andere Staaten ab, wenn sie sich dort in
ernsthafter Gefahr befinden, in Haft gefoltert oder an­
derweitig misshandelt zu werden. Amnesty International
lehnt zudem auch Zusicherungen von Staaten hinsicht­
lich der Zulassung von Beweismitteln ab, die durch
den Einsatz von Folter oder anderen Misshandlungen
erzielt wurden – zumindest wenn es um Staaten geht,
in denen Folter und andere Formen der Misshandlung
weit verbreitet sind und systematisch angewandt werden
und/oder wenn dort durch derartige Übergriffe erhaltene
Beweismittel regelmäßig zugelassen werden.
BERICHT / 36
Amnesty International
Anhang: DEFINITIONEN UND BEGRIFFE
In diesem Dokument wird „Folter oder andere grausame,
unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Strafe“ oft
auf „Folter und andere Misshandlungen“ oder „Folter und andere
Formen der Misshandlung“ verkürzt. An einigen Stellen wurde der
Einfachheit halber lediglich „Folter“ geschrieben.
Folter
Die UN-Antifolterkonvention definiert Folter und andere
grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behand­
lung oder Strafe definiert Folter als „jede Handlung,
durch die einer Person vorsätzlich große körperliche
oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt wer­
den, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine
Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für
eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem
Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen
Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem
anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beru­
henden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von
einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer
anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person,
auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem
oder stillschweigendem Einverständnis verursacht wer­
den“. Andere rechtliche Definitionen, die in bestimmten
Kontexten zur Anwendung kommen, begrenzen Folter
nicht nur auf Handlungen, die von Angehörigen der
staatlichen Behörden oder mit deren Duldung begangen
werden.
Grausame, unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung oder Strafe
Folter und andere grausame, unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung oder Strafe sollten nicht als
unterschiedliche Kategorien verstanden werden. Sie
sind gleichermaßen durch das Völkerrecht verboten. Das
Verbot gilt für jede Art der Behandlung oder Strafe, die
als grausam, unmenschlich oder erniedrigend eingestuft
werden kann.
Das Völkerrecht enthält keine allgemeingültige Defini­
tion zu „anderer grausamer, unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Strafe“. Internationale
Normen stellen jedoch klar, dass größtmöglicher Schutz
auch vor derartigen Übergriffen bestehen muss. In
der Praxis stufen internationale und regionale Men­
schenrechtsgremien Handlungen dann als grausam,
unmenschlich und erniedrigend ein, wenn nicht alle Vo­
raussetzungen der oben genannten Definition von Folter
erfüllt sind. So werden beispielsweise Handlungen, die
nicht das Zufügen „großer“ Schmerzen umfassen, die
nicht vorsätzlich durchgeführt werden oder die keinen
bestimmten Zweck verfolgen, als grausam, unmensch­
lich und erniedrigend betrachtet. Es herrscht nicht
immer Übereinstimmung, ob eine bestimmte Tat Folter
oder anderer Misshandlung gleichkommt. Dennoch sind
alle Formen der Folter und anderer Misshandlungen
gemäß Völkerrecht – einschließlich Kriegsvölkerrecht –
absolut verboten.
Körperstrafen
Darunter werden körperliche Bestrafungen verstanden,
die durch richterliche Anordnung oder als Verwaltungs­
strafe verhängt werden. Zu den Körperstrafen gehören
Amputationen, Verbrennungen, Stockschläge, Prü­
gelstrafen und Peitschenhiebe. Körperstrafen stellen
immer eine grausame, unmenschliche oder erniedrigen­
de Strafe dar und kommen in einigen Fällen der Folter
gleich. Laut dem UN-Sonderberichterstatter über Folter,
dem UN-Menschenrechtsausschuss und anderen Men­
schenrechtsinstitutionen stellen Körperstrafen – auch
wenn sie in einem ordentlichen Gerichtsverfahren als
Strafe für ein Verbrechen verhängt werden – aufgrund
des Verbots der Folter und anderer Formen der Miss­
handlung unter keinen Umständen eine rechtmäßige
Strafmaßnahme dar.
Haft ohne Kontakt zur Aussenwelt
Damit sind Situationen gemeint, in denen Häftlinge kei­
nerlei Kontakt zu Menschen außerhalb der Hafteinrich­
tung haben. Insbesondere geht es um die Verweigerung
des Zugangs zu Rechtsbeiständen, Familienangehörigen
und unabhängigen Gerichten. Während der Haft ohne
Kontakt zur Außenwelt kommt es am häufigsten zu
Fällen von Folter und anderen Misshandlungen sowie
zu Verschwindenlassen. Dauert sie über einen längeren
Zeitraum an, so kommt sie selbst Folter und ande­
rer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender
Behand­lung oder Strafe gleich. Haft ohne Kontakt zur
Außenwelt ist nicht mit Einzelhaft gleichzusetzen. Meh­
rere Häftlinge können gemeinsam in einer Zelle festge­
halten werden oder miteinander in Kontakt stehen und
trotzdem keinen Zugang zur Außenwelt erhalten.
BERICHT / 37
Amnesty International
Vergewaltigung
Geheime Haft
Verschiedene Rechtssysteme enthalten unterschiedliche
rechtliche Definitionen von Folter, die sich im Laufe der
Zeit entwickeln. Historisch betrachtet wurde Vergewal­
tigung als nicht einvernehmlicher heterosexueller Ge­
schlechtsverkehr definiert. Das Rom-Statut des Interna­
tionalen Strafgerichtshofs definierte Vergewaltigung dann
geschlechtsneutral, als Übergriff, der nicht einvernehm­
liche Handlungen umfasst, die mit dem Einführen von
Gegenständen verbunden sind, oder Körperöffnungen
betreffen, die an sich nicht als sexualbezogen bewertet
werden. Die Vergewaltigung einer Person durch eine/einen
Staatsangestellte/n, in deren/dessen Gewalt oder Gewahr­
sam sie sich befindet, wie zum Beispiel Gefängnisange­
stellte, Angehörige der Sicherheitskräfte oder des Militärs,
ist immer als Folter zu betrachten, für die der Staat direkt
verantwortlich ist. Amnesty International vertritt die Auf­
fassung, dass auch Vergewaltigungen durch Privatperso­
nen Folterhandlungen darstellen können, für die der Staat
die Verantwortung trägt, wenn er nicht mit der nötigen
Sorgfalt versucht hat, derartige Verbrechen zu verhindern,
zu bestrafen oder hierfür zu entschädigen.
Mit geheimer Haft wird die Inhaftierung einer Person
an einem unbekannten Ort bezeichnet, wobei oftmals
nicht einmal die Inhaftierung an sich bekannt gemacht
wird. Als unbekannte Haftorte werden solche betrach­
tet, die nicht öffentlich bekannt sind, wie Privathäuser
oder -wohnungen, Militärlager, Geheimgefängnisse oder
versteckte Bereiche in größeren Einrichtungen. Geheime
Haft ist gemäß Völkerrecht verboten. Die meisten Fälle
von geheimer Haft entsprechen zudem der internationa­
len Definition des Verschwindenlassens.
Sind Staatsbedienstete an sexuellen Übergriffen betei­
ligt, bei denen es sich nicht um Vergewaltigung handelt,
so werden diese entsprechend der jeweiligen Handlungen
und Umstände entweder als Folter oder als Misshandlung
betrachtet.
Tod in Gewahrsam
Beschreibt Todesfälle in Gefängnissen, anderen offiziel­
len oder inoffiziellen Hafteinrichtungen, Krankenhäusern
oder anderen Umgebungen, in denen sich Häftlinge im
Gewahrsam der Strafverfolgungsbehörden, des Militärs
oder des Staatsschutzes befinden.
Verschwindenlassen
Dieser Begriff wird verwendet, wenn berechtigte Gründe
zur Annahme bestehen, dass eine Person von Behör­
den, deren Angestellten oder von Personen, die mit der
Duldung der Behörden handeln, festgenommen wurde,
die Behörden sich weigern, dies zu bestätigen oder den
Verbleib oder das Schicksal der Person verschleiern und
sie damit dem Schutz des Gesetzes entziehen. Gemäß
Völkerrecht gehören zu den Opfern des Verschwinden­
lassens neben der verschwundenen Person selbst auch
deren Familienangehörige.
Einzelhaft
Bei der Einzelhaft wird ein Häftling von anderen iso­
liert festgehalten. In den meisten Fällen haben solche
Häftlinge auch kaum Kontakt zum Gefängnispersonal.
Einzelhaft kann Folter oder anderen Formen der Miss­
handlung gleichkommen. Dies hängt von der Dauer der
Einzelhaft, den weiteren Umständen und dem Ausmaß
des aus der Einzelhaft resultierenden Reizentzugs ab.
Eine solche Form der Inhaftierung kann Folter und
andere Misshandlungen begünstigen. Einzelhaft darf
nicht mit Haft ohne Kontakt zur Außenwelt verwechselt
werden. Ein Häftling, der isoliert von anderen Häftlingen
festgehalten wird, kann trotzdem Zugang zum Beispiel zu
Rechtsbeiständen, Familienangehörigen oder unabhän­
giger medizinischer Betreuung haben. Einzelhaft kann
schwerwiegende negative Folgen für die psychische und
physische Gesundheit der Häftlinge haben. Kein Häftling
sollte Einzelhaft oder Reizentzug über lange Zeiträume
ausgesetzt werden. Einzelhaft sollte für Kinder, für Per­
sonen mit psychischen und anderen Beeinträchtigungen,
für Personen mit gesundheitlichen Beschwerden sowie
für schwangere Frauen oder Frauen mit Kleinkindern
verboten sein.
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