des Magazins - Metropolregion Mitteldeutschland
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median Das Info-Magazin für Mitteldeutschland r Somme 2016 metropolregion mitte deutschland WIRTSCHAFT, WISSENSCHAFT & KULTUR IM ZENTRUM Editorial median 03 3 Integration braucht den Dialog auf Augenhöhe Seit Herbst vergangenen Jahres steht Deutschland vor einer der größten Herausforderungen seit der Wiedervereinigung. Hunderttausende Menschen aus den Krisengebieten der Welt fliehen vor Krieg und Armut in unser Land. In den ersten Wochen und Monaten dieser Entwicklung standen vor allem die akute Hilfe für die Flüchtlinge, deren Unterbringung und Versorgung im Vordergrund. Mittlerweile rücken andere Fragen in den Fokus: Die Menschen, die zu uns gekommen sind und bleiben werden, brauchen eine Perspektive. Integration beginnt bei der Sprache, bei der Vermittlung unserer gesellschaftlichen Werte – aber ganz entscheidend wird sein, die Menschen in Arbeit zu bringen, sie in den Unternehmen zu integrieren. Burkhard Jung Vorstandsvorsitzender der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland und Oberbürgermeister der Stadt Leipzig Viele Menschen in Mitteldeutschland gehen mit gutem Beispiel voran. Neben den Unternehmen, die sich bei der beruflichen Integration engagieren, gehören dazu ebenso der interkulturelle Dialog zwischen deutschen und syrischen Musikern in Jena oder der Erfurter Verein „Spirit of Football”, der seit über zehn Jahren auf die verständigende Kraft des Sports setzt. Dieser Integrationsprozess wird auch uns, unsere Gesellschaft und die Art unseres Zusammenlebens verändern. Es liegt nun an uns, offen zu sein für Neues und gleichzeitig klar unsere Werte zu vertreten, damit – trotz aller Schwierigkeiten – eine Integration im Miteinander und auf Augenhöhe gelingen kann. Jede Menge Denkanstöße wünschen Ihnen Der Metropolmarathon Mitteldeutschland zwischen Leipzig und Halle (Saale) Marathon Händellauf Halbmarathon Salzwirkerlauf (3,6 km) Metropolstaffel Stadtwerke Halle 10-km-Lauf Mitteldeutsche Hochschulmeisterschaften 10-km-Walking TOTAL 4er-Marathonstaffel www.mitteldeutscher-marathon.de Reinhard Kroll 2. Vorsitzender der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland Burkhard Jung Reinhard Kroll 04 median Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis median Inhalt 05 14 10 22 28 34 50 54 Flucht ins Ungewisse 03 Editorial 06 Aktuelles aus der Region. 10 Nicht in Grenzen denken Interview mit Dr. Robert Nadler vom Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig. 14 Flucht ins Ungewisse Der Leipziger Fotograf Michael Bader porträtiert Menschen entlang der Balkanroute. 22 Nicht über Nacht Interview mit Prof. Dr. Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle. 26 Fit für die Ausbildung Im BMW-Werk Leipzig absolvieren Flüchtlinge ein Praktikum. 27 Zuzug als Chance Die GP Günter Papenburg AG sucht Azubis unter Migranten. 28 Ankommen und arbeiten Eine Bestandsaufnahme regionaler Projekte zur Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen. 32 Neue Wege ans Ziel In Leipzig entwickeln Führungskräfte neue Lösungen für die Jobintegration. 34 Gelebte Integration Der syrische Student Abdulaziz Bachouri engagiert sich ehrenamtlich für Geflüchtete. 37 Kulturwandel Die Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz wurde zu einer Willkommensbehörde. 38 Willkommen in der Kindheit Kitas in Sachsen und SachsenAnhalt stellen sich auf Bedürfnisse geflüchteter Kinder ein. 39 Stimme der Hofnung Studierende und Mitarbeiter der HHL entwickeln Hilfsangebote für Migranten. 40 Sprache ist der Schlüssel für die Bildungsperspektive von geflüchteten Schülern, Studenten und Akademikern. 42 Gute Menschen Eine Hindu-Familie flieht vor den Taliban und wagt den schweren Neuanfang in Erfurt. 46 Die Chance nutzen Der Burgenlandkreis setzt auf Zuwanderung. 48 Kolumne Die Mainstream-Medien sind tatsächlich in der Krise. 49 Fakten gegen Fake Der Blog „Asylfakten” sammelt Argumente gegen den Hass in den sozialen Netzwerken. 50 Mit Kloppo für Integration Der Verein „Spirit of Football” setzt auf die verständigende Kraft des Fußballs. 53 Teamarbeit Im Altenburger Land vernetzt ein Migrationsbeirat die Akteure und berät die Politik. 54 Vom Zauber der Musik Bach trifft Weltmusik: In Jena spielen Musiker aus Syrien und Thüringen gemeinsam. 60 Kulturtipps Ausgewählte Höhepunkte aus Kunst und Kultur der Region. 62 Terminkalender Messen, Tagungen, Workshops und Events in Mitteldeutschland. 63 Partner der Wirtschaft Die Wirtschaftsförderer in Mitteldeutschland. 63 Impressum Unter diesem Leitmotiv nähert sich der Leipziger Fotograf Michael Bader Menschen auf der Flucht, gibt ihnen ein Gesicht und eine Stimme. Die Aufnahmen und Interviews entstanden während zweier Reisen entlang der Balkanroute von Passau bis Griechenland im Dezember 2015 und im März 2016 auf die Inseln Lesbos und Chios sowie nach Athen. In dieser Ausgabe des median präsentieren wir Ihnen eine erste Auswahl der Porträts und Geschichten, die im Rahmen des noch laufenden Projektes entstanden sind. 06 median News News median Aktuelles aus der Region Vom Braunkohlestandort zur Innovationsregion Wegweiser für ausländische Fachkräfte Das Mitteldeutsche Braunkohlerevier soll in den kommenden Jahren zu einer „Region des Umstiegs” werden. „Angesichts der globalen Bemühungen um den Klimaschutz wird die thermische Verwertung der Braunkohle schrittweise zurückgehen. Um negative Auswirkungen für die wirtschaftliche Entwicklung des Südens Sachsen-Anhalts zu vermeiden, bedarf es eines aktiven Strukturwandels hin zu einer Innovationsregion, aus der neue Ideen und Technologien für die Energiewende kommen”, skizziert Götz Ulrich, Landrat des Burgenlandkreises und Aufsichtsratsmitglied der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland (EMMD) das Vorhaben. Im Rahmen des Transformationsprozesses soll die mitteldeutsche Energie- und Chemieindustrie zusammen mit der neuausgerichteten Hochschule Merseburg (FH) zum Zentrum einer mitteldeutschen Innovationsregion werden. Nach dem Vorbild des erfolgreichen Innovationsprojektes HYPOS sollen neue Technologien für die Energiewende entwickelt und Angesichts des anhaltenden Fachkräfte- und Lehrlingsmangels auf der einen sowie dem Anstieg der Flüchtlings- und Asylbewerberzahlen auf der anderen Seite will die Staatskanzlei Sachsen-Anhalt nun aktiv Migranten und Unternehmen zusammenbringen. Die Broschüre „Wegweiser nach Sachsen-Anhalt” in deutscher, englischer, spanischer, französischer und arabischer Sprache gibt hierfür einen Überblick zu den wesentlichen Informa- tions- und Unterstützungsangeboten und benennt konkrete Ansprechpartner im Land. Für ansässige Unternehmer hält der Wegweiser ebenfalls wichtige Informationen sowie Kontaktadressen und Ansprechpartner bereit. Den Wegweiser können Interessierte im Integrationsportal des Landes abrufen oder als Broschüre bestellen. www.integriert-in-sachsen-anhalt.de XX hochwertige Arbeitsplätze in der Region gesichert werden. Dazu ist die Gründung einer Projektgruppe „Transformation des Braunkohlestandortes Mitteldeutschland” unter dem Dach der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland geplant, in der die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft mbH (MIBRAG), der Burgenlandkreis, der Saalekreis und der Landkreis Leipzig zusammen mit weiteren Partnern den Strukturwandel aktiv gestalten werden. Mitte Mai trafen sich Landrat Götz Ulrich, Metropolregions-Geschäftsführer Jörn-Heinrich Tobaben, Geschäftsführer und Professor Dr. Andreas Berkner, Leiter der Planungsstelle des Regionalen Planungsverbandes Leipzig-Westsachsen mit Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der seine Unterstützung für das Projekt zusagte. www.mitteldeutschland.com XX VW feiert Rekord und Jubiläum in Zwickau Mit über 300.000 neuen Golf und Passat am Fertigungsstandort Zwickau erzielte der Automobilhersteller Volkswagen 2015 sein bislang bestes Produktionsergebnis. Die Fertigung steigerte sich dabei um ganze 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Gegenüber 1991, als der erste VW Golf in Zwickau vom Band lief, hat sich die maximale Tagesproduktion nach Unternehmensangaben sogar verzehnfacht. Mehr als 2,7 Millionen Golf wurden seitdem in Sachsen produziert. Für Geschäftsführer Technik und Logistik der Volkswagen Sachsen GmbH belegt das 25-jährige Produktionsjubiläum „das Vertrauen in unseren Standort.” Gleichsam sei es „das Resultat einer starken Mannschaftsleistung.” Für den Automobilkonzern arbeiten heute im Freistaat Sachsen 10.250 Personen. www.volkswagen-sachsen.de XX Fotos: Rainer Weißflog, Volkswagen Sachsen GmbH, Katja Trumpler, BMWi / Michael Reitz, FSU/Kasper Digitales Kompetenzzentrum für Chemnitz Im Rahmen der Förderinitiative „Mittelstand 4.0 – Digitale Produktionsund Arbeitsprozesse” entsteht bis Jahresmitte eines von bundesweit zehn Kompetenzzentren zur Digitalisierung des Mittelstandes in Chemnitz. Unter Leitung der TU Chemnitz haben die Unternehmen die Möglichkeit, sich über neue digitale Anwendungen und Fragen zu Kosten sowie zur Sicherheit bei der Einführung von Industrie 4.0-Technologien beraten zu lassen. Zudem können eigene technische Entwicklungen, Schnittstellen zu Produkten oder Kunden hier unter professioneller Anleitung ausgetestet werden. Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig erklärte: „Von dieser Entscheidung wird die gesamte sächsische Wirtschaft, die besonders stark durch kleine und mittlere Unternehmen geprägt ist, profitieren.” www.mittelstand-digital.de XX Forschungszentrum in Jena eingeweiht An der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat ein deutschlandweit einzigartiges Institut seine Arbeit aufgenommen. Das neue Forschungszentrum für Energie- und Umweltchemie soll mit der Erforschung innovativer Batteriekonzepte zum Vorreiter bei den erneuerbaren Energien avancieren und der global immer dringlicher werdenden Frage nach klimafreundlichen, nachhaltigen und risikoarmen Energiespeichern begegnen. Ein besonderer Fokus liegt auf der Untersuchung von Kunststoffen, Keramiken und organischen Solarzellen, die haltbarer und leistungsfähiger sind als herkömmliche Batterien und Akkus. Das 14,4 Millionen Euro teure Forschungszentrum ist eine gemeinsame Investition der Ernst-AbbeStiftung, der Carl-Zeiss-Stiftung und des Landes Thüringen. www.uni-jena.de XX 07 7 08 median News News median 09 9 Aktuelles aus der Region IQ-Preis 2016 für Wasserstoftechnologie Die Kumatec Sondermaschinenbau & Kunststoffverarbeitung GmbH ist Gesamtsieger des 12. IQ Innovationspreises Mitteldeutschland. Das Unternehmen erhielt die Auszeichnung für seinen neuartigen Hochdruckelektrolyseur zur Wasserstoffproduktion. Das Gerät realisiert erstmals Drücke von 100 bar und verfügt über einen Wirkungsgrad von über 80 Prozent. Die Kombination von eigenentwickelten Systembestandteilen mit günstigen Vorzeigestadt für Energie- und Klimaschutz Großserien-Komponenten ermöglicht die Skalierbarkeit des Systems und reduziert die Herstellungskosten. Noch 2016 soll im Rahmen des HYPOSProjektes eine Wasserstofftankstelle mit der Technologie ausgerüstet werden. Mit dem Wettbewerb fördert die Europäische Metropolregion Mitteldeutschland die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit in der Region. Als erste Kommune in SachsenAnhalt ist die Stadt Dessau-Roßlau im Januar mit dem European Energy Award (eea) ausgezeichnet worden. Oberbürgermeister Peter Kuras, der den Award entgegennahm, würdigte das Klimaschutzkonzept der Stadt, das die Grundlage zur erfolgreichen Teilnahme am eea darstellte, und schloss: „Dieser Prozess wird weitergeführt. Gestalten wir die Zukunft, bevor sie uns gestaltet.” www.iq-mitteldeutschland.de XX Logistikunternehmen investieren in Star Park neues Verteilzentrum bauen, an dem zukünftig bis zu 80 neue Arbeitsplätze entstehen sollen. Außerdem lässt das Unternehmen Fiege im Star Park ein neues Logistikzentrum mit rund 100 Arbeitsplätzen errichten. Darüber hinaus sind bereits IT Solar aus Norwegen, der Tetrapack-Hersteller GA Pack aus China und der Spinndüsenhersteller Enka Technica im Star Park ansässig. www.starpark-halle.de XX Millionen-Förderung für neue Industrieläche Um Unternehmen mit großem Flächenbedarf auch in Zukunft in Gera zu halten, fördert das Thüringer Wirtschaftsministerium die Erschließung eines neuen Industriegebiets in der Stadt mit knapp 12 Millionen Euro. Im ersten Schritt sollen im kommenden Jahr ca. 42 Hektar im Gebiet „Cretzschwitz” erschlossen werden, die zukünftig an Unternehmen mit einem Flächenbedarf von bis zu acht Hektar vermarktet werden. Die bisher vorhan- denen Gewerbeflächen im Stadtgebiet sind bereits jetzt zu über 90 Prozent ausgelastet. „Von der Großfläche versprechen wir uns einen neuen industriellen Schub für die gesamte Region”, teile Geras Oberbürgermeisterin Dr. Viola Hahn zufrieden mit, die den Förderbescheid von Thüringens Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Wolfgang Tiefensee im Dezember entgegennahm. www.gera.de XX www.dessau.de XX Milliarden-Chance im Kampf gegen Alzheimer Fotos: Tom Schulze, Additiv PR, Monique Pucher, Lutz Sebastian, Ann Larie Valentine , Dorit Gaetjen, Anne Günther / FSU, Gert Mothes In den Gewerbepark bei Halle (Saale) kommt neuer Schwung. Den Auftakt bildete die große Eröffnung des neuen E-Commerce-Logistikzentrums von Ebay Enterprise im November vergangenen Jahres, von dem aus Waren für andere europaweite Online-Händler versandt werden. Nun ziehen weitere Logistiker nach. Für rund 12,5 Millionen Euro will auch der Logistikdienstleister Hellmann Worldwide Logistics hier ein Das Konzept eea ist zugleich Auszeichnung sowie Qualitätsmanagementsystem und Zertifizierungsverfahren, mit dem die energie- und klimapolitischen Bemühungen einer Gemeinde erfasst, geprüft und gesteuert werden. Erst wenn mindestens die Hälfte der im strikten eea-Maßnahmenkatalog geforderten Punkte verwirklicht wird, ist eine Auszeichnung möglich. Neue Hoffnungen in der Alzheimer-Forschung weckt derzeit das Pharmaunternehmen Probiodrug aus Halle (Saale) mit einem neuartigen Therapieverfahren und der vielversprechenden Substanz „PQ912”. Der Hemmstoff konnte das Fortschreiten der Erkrankung in bisherigen Tests unterbinden und befindet sich nun in der mittleren klinischen Phase. Schon in der zweiten Jahreshälfte sollen erste Ergebnisse zur Verabreichung an Patienten vorliegen. Die realistische Aussicht auf einen echten Durchbruch in der Alzheimer-Forschung wird durch die Tatsache untermauert, dass der Aktionärskreis von Probiodrug überwiegend aus renommierten Biotechnologieinvestoren besteht. Angesichts der steigenden Patientenzahlen könnte sich für das Unternehmen bei Erfolg ein Milliarden-Markt öffnen. www.probiodrug.de XX Mitteldeutsche Köpfe Der Leiter des Rostocker Volkstheaters Stefan Rosinski wird zu Beginn der neuen Spielzeit im Sommer den Posten als neuer Geschäftsführer der Bühnen Halle antreten. Rosinski war zuvor als Generaldirektor der Stiftung Oper in Berlin sowie Chefdramaturg und stellvertretender Intendant an der Berliner Volksbühne tätig. Dr. Kristina Meyer von der FriedrichSchiller-Universität Jena wurde mit dem Willy-Brandt-Preis für Zeitgeschichte ausgezeichnet. Die Historikerin erhielt die seltene Ehrung für ihre Dissertation „Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1974”, in der sie sich kritisch mit der Partei und der jungen Bundesrepublik auseinandersetzt. Dr. Alexander Steinhilber hat die Nachfolge als Geschäftsführer im Bach-Archiv Leipzig angetreten und löst damit Dr. Dettloff Schwerdtfeger ab. Der Musikwissenschaftler und Kulturmanager plant die wissenschaftliche Arbeit des BachArchivs sichtbarer zu gestalten und verstärkt jüngere Menschen für das Bachfest zu begeistern. 10 median Interview Interview median 11 Menschen denken nicht in Grenzen Dr. Robert Nadler vom Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig im Gespräch über die Ursachen von Migration und die Frage, warum sich Zuwanderung nur schwer regulieren lässt. Interview: Kai Bieler / Fotos: Michael Bader Derzeit sind nach Angaben des UNHCR weltweit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Wo liegen die Ursachen dafür? Bei den Gründen ist man ganz schnell bei den „klassischen” Ursachen von Flucht und Vertreibung: kriegerische Konflikte, politische Verfolgung und die Verletzung von Menschenrechten. Fluchtgründe können aber auch Armut, Hungersnöte oder die fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven sein. In der Praxis ist das oft schwer voneinander zu trennen. Denn im Zuge von Konflikten brechen zumeist auch die regionalen Wirtschaftskreisläufe einen großen Teil der syrischen Flüchtlinge auf. Im Fall der ostafrikanischen Flüchtlingswanderung nimmt beispielsweise Äthiopien sehr viele Menschen auf. Darüber hinaus muss man beachten, dass zu diesen 60 Millionen auch Menschen gehören, die innerhalb ihres Landes wandern. Das ist sogar der weitaus größere Teil gegenüber den Flüchtlingen, die in andere Länder fliehen. Zwischen welchen Regionen inden die größten Wanderungsbewegungen statt? Wenn man sich die globalen Wanderungsbewegungen insgesamt ansieht, zeigt sich, dass die größten Ströme zwischen Südasien und den Golfstaa- In Deutschland wird die Diskussion um Migration stark von der aktuellen Flüchtlingssituation bestimmt. Gerät dabei die „normale“ Zuwanderung aus dem Blick ? Diesen Eindruck kann man gewinnen. Dabei machen Flüchtlinge weiterhin nur einen kleinen Teil der Zuwanderung nach Deutschland aus. Laut Schätzungen des Statistischen Bundesamtes sind 2015 rund zwei Millionen Ausländer nach Deutschland eingewandert. Demgegenüber wurden im selben Zeitraum 476.649 Asylanträge gestellt – darunter gerade einmal 162.510 Anträge durch syrische Flüchtlinge. Aus welchen Gründen kommen Zuwanderer nach Deutschland? »Die größten Wanderungsbewegungen innerhalb der Europäischen Union finden zwischen Deutschland und Polen statt.« Dr. Robert Nadler zusammen. Die Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs verschlechtert sich, die Preise steigen inflationär an, die Menschen können nicht mehr zur Arbeit gehen oder werden dafür nicht mehr bezahlt. Das heißt, neben der Gefahr für Leib und Leben ist auch das wirtschaftliche Überleben nicht mehr gesichert. Welche Länder nehmen die meisten Flüchtlinge auf? Das sind die Länder in unmittelbarer Nachbarschaft von Konfliktregionen. So nehmen die Türkei und der Libanon ten zu finden sind. Das sind zumeist Gastarbeiter. Es gibt außerdem eine sehr starke Binnenwanderung innerhalb des afrikanischen Kontinents sowie von Latein- nach Nordamerika. Und wir haben auch ein sehr großes Migrationsvolumen innerhalb des postsowjetischen Raums. Die größten Wanderungsbewegungen innerhalb der Europäischen Union finden übrigens zwischen Deutschland und Polen statt. Deren Geschichte reicht sogar bis ins 19. Jahrhundert zurück und begann mit der Zuwanderung oberschlesicher Arbeiter ins Ruhrgebiet. Das können wir nur für Menschen aus Drittstaaten sagen, denn Zuwanderer aus EU-Staaten genießen die freie Wohnortwahl und müssen nicht angeben, warum sie kommen. Ein Großteil der Drittstaatenangehörigen erklärte, hier Studium oder Ausbildung aufnehmen zu wollen. An zweiter und dritter Stelle stehen der Familiennachzug und die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit. Nur 23 Prozent sind über eine Duldung im Rahmen eines laufenden Asylantragsverfahrens im Land, weitere neun Prozent leben in Deutschland auf Basis bereits bewilligten Asyls. Seit 2007 forscht Dr. Robert Nadler zu Wanderungsbewegungen und Migration, der Entwicklung der Kultur- und Kreativwirtschaft in Metropolregionen und zur Integration grenzüberschreitender Arbeitsmarktregionen in der EU. 12 median Interview Unterscheidet sich die Zuwanderung nach Ost- und Westdeutschland? Ja, hier zeigen sich auch über 25 Jahre nach der Wiedervereinigung einige Unterschiede, die aus der unterschiedlichen Zuwanderungsgeschichte von West- und Ostdeutschland resultieren. Auch in der DDR gab es ja mit den „Vertragsarbeitern” eine Art Gastarbeitermodell. Die Menschen Sowjetunion – hier insbesondere Russland und die Ukraine – sowie Vietnam bedeutende Herkunftsregionen. Der größte Unterschied aber liegt im Umfang der Zuwanderung. Während der Anteil ausländischer Staatsbürger an der Gesamtbevölkerung bundesweit bei rund elf Prozent liegt, beträgt er im Osten zwischen 3,5 und vier Prozent. median Interview 13 Interesse, Zuwanderungsprozesse quantitativ oder qualitativ zu steuern. Dazu existieren viele Instrumente, von Aufenthaltsgesetzen und Regelungen zur Visavergabe über sprachliche und finanzielle Anforderungen an Einwanderer bis hin zu einem strikten Grenzregime in Form von Mauern und Zäunen, wie es zwischen den USA und Mexiko existiert. Die Geschichte zeigt »Die Geschichte zeigt, dass staatliche Kontrolle und Lenkung von Migrationsbewegungen selten funktionieren.« Dr. Robert Nadler kamen aber aus anderen Ländern als im Westen. Diese historischen Unterschiede können wir heute noch erkennen. Während Zuwanderer in den alten Bundesländern oft aus Polen, Italien, Spanien und der Türkei stammen, sind in den neuen Bundesländern das Gebiet der ehemaligen Ist es aus Ihrer Sicht sinnvoll und möglich, Zuwanderung staatlich zu steuern? Grundsätzlich ist die Zuwanderung wichtig für demografische Stabilität in Deutschland, denn die Außenwanderungsbilanz der Deutschen ist seit 2005 durchgehend negativ. Trotzdem gibt es natürlich immer wieder das politische aber, dass staatliche Kontrolle und Lenkung von Migrationsbewegungen selten funktionieren. Denn wir haben es mit Menschen zu tun, die bestimmte Vorstellungen von ihrem Leben und individuelle Motive für ihr Handeln haben. Diese stimmen in den wenigsten Fällen mit den Interessen und Grenzziehungen von Nationalstaaten überein. Auch Deutschland hat in der Nachkriegszeit diese Erfahrungen gemacht. Die damalige Bundesregierung wollte mit den Gastarbeitern billige Arbeitskräfte für das Wirtschaftswunder ins Land holen. Gekommen sind aber Menschen, die eigene Interessen hatten und nicht wieder gegangen sind, als sie in den 1970er Jahren nicht mehr gebraucht wurden. Viele ostdeutsche Landkreise setzen große Hoffnungen in die demograischen Effekte der aktuellen Zuwanderung. Ist diese Hoffnungen berechtigt? 2013 schloss Dr. Robert Nadler seine Promotion im Fach Urban and Local European Studies an der Universität Mailand-Bicocca ab. Ich bin eher skeptisch, ob die aktuelle Flüchtlingszuwanderung wirklich größere Chancen für den ländlichen Raum bereithält. Denn die Zuwanderung nach Deutschland zielt seit Jahren sehr stabil auf die Großstädte allgemein und Zuletzt leitete er das EU-Forschungsprojekt „Re-Turn: Regions benefitting from returning migrants”, welches sich mit Rückwanderung in ländliche Räume Mittelosteuropas beschäftigte. insbesondere auf die wirtschaftsstarken Regionen in Westdeutschland ab. Das ist auch nachvollziehbar, denn der wichtigste Baustein für die Integration ist die Teilnahme am Arbeitsmarkt. Und dafür sind die Chancen in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands nun mal nicht so groß wie in westdeutschen Metropolen. An diesem Punkt geht es Migranten nicht anders als der deutschen Bevölkerung. Der aktuelle Entwurf der Bundesregierung für ein Integrationsgesetz sieht eine Wohnortzuweisung für Flüchtlinge vor. Ist das eine sinnvolle Maßnahme? Das halte ich für problematisch. Solch eine Vorschrift gab es ja bereits in den 1990er Jahren für die deutsch-russischen Spätaussiedler – mit überschaubarem Erfolg. So konnten wir im Rahmen eines Forschungsprojektes am Beispiel der Oberlausitz beobachten, dass die erste Generation der Spätaussiedler zumeist noch in der Region geblieben ist und sich sozial integriert hat. Aber schon ihre Kinder folgten den ganz normalen Wanderungsmustern. Das heißt, sie verließen – wie ihre deutschen Altersgenossen – nach der Schule die Region, um in den Großstädten eine Ausbildung bzw. ein Studium zu beginnen oder Arbeit zu suchen. An diesem individuell nachvollziehbaren Verhalten können auch Verwaltungsvorschriften wenig ändern. Und als Mittel gegen die gefürchteten Parallelgesellschaften? Nein. Die Segregation, also die Entmischung der Bevölkerung entlang ethnischer oder religiöser Grenzen, ist ein häufiges Phänomen im Rahmen von Wanderungsbewegungen. Zuwanderer ziehen vor allem in Regionen, wo bereits soziale Netzwerke ihrer eigenen Bezugsgruppe existieren, denn diese erleichtern den Neustart in einem fremden Land. Der oft beschworene „Schmelztiegel” New York war lange eher ein Nebeneinander von ethnisch homogenen Quartieren, wie „Chinatown” oder „Little Italy”. Auch deutsche Auswanderer haben historisch immer wieder sehr geschlossene Gruppen gebildet, mit eigener Sprache, deutschen Kirchgemeinden und Kulturvereinen. Dieses Verhalten wird immer erst dann schwächer, wenn sich genügend Anknüpfungspunkte zur Integration bieten, die auch mit individuellen sozialen Aufstiegschancen verbunden sind. Solche Prozesse lassen sich nicht per Wohnortzuweisung steuern, die für mich auch dem europäischen Gedanken auf Freizügigkeit widerspricht. Es gibt Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass in durch Zuwanderung heterogener werdenden Gesellschaften die gesellschaftliche Solidarität abnimmt. Umso wichtiger ist es, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu bestimmen, der die Basis von gesellschaftlichem Zusammenhalt darstellen kann. In klassischen Zuwanderungsländern wie den USA ist es das Bekenntnis zur Verfassung. Denn sie beschreibt die grundlegenden Spielregeln des Zusammenlebens in einer kulturell und ethnisch pluralistischen Gesellschaft. In Deutschland spiegeln sich verbindende Wertvorstellungen im Grundgesetz. Ein Blick darauf könnte helfen, die Herausforderungen durch die Zuwanderung zu meistern, ohne dabei auf die aus meiner Sicht peinlichen und überholten Versuche der Definition einer „Leitkultur” zurückgreifen zu müssen. Vielen Dank für das Gespräch. 14 median Titel Titel median 15 Flucht ins Ungewisse Der Fotograf Michael Bader porträtiert Menschen entlang der Balkanroute und macht so ihre Geschichten sichtbar. Als im Herbst 2015 die Flucht von hunderttausenden Menschen nach Europa begann, konnte sich auch der Leipziger Fotograf Michael Bader nicht der Macht der omnipräsenten Bilder in den Medien und dem Zugriff der endlosen Diskussionen in sozialen Netzwerken und im Bekanntenkreis entziehen. Ihm war schnell klar, diese Entwicklung wird uns und unser Land verändern. Es entstand der Wunsch, sich mit dem Thema künstlerisch auseinanderzusetzen. Michael Bader lebt und arbeitet als Fotograf in Leipzig. Seit 2005 ist er für seine Kunden aus Werbung und Industrie in den Bereichen Porträt, Lifestyle, Architektur und Reportage unterwegs. Authentische Bilder und feinfühlig inszenierte Porträts sind sein Markenzeichen. Michael Bader fotografiert seit 2015 auch regelmäßig die Interview-Partner im median-Magazin. Monatelang lebten tausende Flüchtlinge im Hafen von Piräus vor den Toren der griechischen Hauptstadt Athen. Mitte April räumte die Polizei das illegale Lager. Scannen Sie den QR-Code, um weitere Bilder, Interviews und Informationen zum Projekt ‚Flucht ins Ungewisse’ abzurufen. Im Dezember 2015 und März 2016 reiste er entlang der Balkanroute von Passau bis in den Hafen von Athen sowie auf die Inseln Lesbos und Chios, um den Menschen ein Gesicht und eine Stimme zu geben, sie aus der anonymen Masse herauszulösen. Es entstanden Porträts, welche die Flüchtlinge scheinbar herauslösen aus dem Kontext der Zeltlager, Parkplätze, Bahnhöfe und Hafenanlagen, aus dem Übergangszustand zwischen der verlorenen Heimat und dem ungewissen Morgen. Zusätzlich führte Michael Bader Interviews mit den Porträtierten, um die Geschichte ihres früheren Lebens und ihrer Flucht zu erfahren. Einen ersten Zwischenstand des – durch die Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst unterstützten – Projektes präsentierte Michael Bader im Frühjahr im Rahmen des Galerierundgangs im Leipziger Tapetenwerk, wo sich auch sein Atelier befindet. Im Laufe des Jahres sollen weitere Reisen in die Türkei und nach Jordanien folgen – außerdem sind Porträts und Interviews mit angekommenen Syrern in Deutschland geplant. Auf den kommenden Seiten zeigen wir Ihnen eine Auswahl der Fotos und (zum Teil gekürzten) Interviews. www.mbader.com/tags/refugee XX 16 median Titel Samer Arqaui (24) und Rafat Makhoush (20) im Hafen von Athen (Piräus), Griechenland, März 2016. Samer: Ich habe in Damaskus internationales Business studiert und beim Roten Kreuz geholfen. Wir waren ein paar Freunde, die alle in verschiedenen Organisationen gearbeitet haben, um den Flüchtlingen innerhalb des Landes zu helfen. Viele aus Homes oder anderen zerstörten Städten kamen nach Damaskus. Letzten Sommer hatte ich mein letztes Examen an der Uni in Damaskus – ich konnte die ganzen Wochen vorher natürlich nicht im Geringsten daran denken und war mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Doch ich ging hin und bestand diese Prüfung. Ich hatte irgendwie nichts zu verlieren. Nach der Uni hätte ich direkt zur Armee gemusst – so beschloss ich zu fliehen. Meine Familie organisierte Geld und einen Pass, damit ich über den Libanon nach Istanbul fliegen konnte. In Istanbul hatte ich einen Freund, der half uns, eine Bleibe zu finden und einen Job. Ich arbeitete dort drei Monate. Ich habe mich mit meinem Abschluss in Mannheim an der international business school beworben und wurde genommen. Ich hatte alle Papiere dahin geschickt. Die haben natürlich auch keine Möglichkeit mir zu helfen und rieten mir, über die Flüchtlingsroute nach Deutschland zu kommen. Titel median 17 Malek Rashi (25) aus Taldou (Syrien) mit Vater und Geschwistern im Hafen von Athen (Piräus), Griechenland, März 2016. Ich habe zu Beginn der Revolution studiert. Das habe ich dann aber abgebrochen, um mich um meine Familie zu kümmern. Am 25. Mai 2013 sind in meinem Dorf Taldou 130 Menschen getötet worden. Soldaten von Assads Armee und Schiiten irgendeiner Splittergruppe sind nachts in unser Dorf gekommen und haben den Sunniten mit dem Messer die Kehle durchgeschnitten. Aus meiner Familie sind dabei zwei Frauen ermordet worden. Wir hatten kein Geld – alles im Haus verkauften wir, um genug Geld für die Reise zu haben. Wir kamen in ein Gebiet 150 km östlich von Aleppo, das von der ISIS kontrolliert wurde. Hier fand ich Arbeit als Bauarbeiter. Dort habe ich das andere Gesicht der ISIS kennengelernt. Sie töten und köpfen willkürlich. Dann eines Tages erwischten die ISIS-Leute meinen Vater beim Rauchen und wollten mich zwingen, dass ich mich ihnen anschließe. Wir mussten nun schnell verschwinden. Wir brachen in die Türkei auf – im September 2015. Auch hier habe ich wieder Arbeit als Bauarbeiter gefunden. Ich habe zusammen mit meinem Vater Stahlarmierung gebaut und Beton gegossen. Als wir genug Geld hatten, reisten wir nach Istanbul und haben zu Schleppern Kontakt aufgenommen. Unsere Überfahrt klappte erst beim fünften Mal. In Deutschland will ich wieder studieren. 18 Titel median Titel median 19 Khaled aus Ägypten arbeitet für die serbische NGO „Praxis” in Idomeni, Griechenland, Dezember 2015. Genna (57) und Sohn Sedat (28) aus Syrien im Hafen von Athen (Piräus), Griechenland, Dezember 2015. Kata Nujic in einem Camp in Slovanski Brod, Kroatien, Dezember 2015. Ameer Hamza (17) aus Pakistan im „no border kitchen” – Camp auf Lesbos, Griechenland, März 2016. Ich bin seit September hier und organisiere die Hilfe in Idomeni – direkt am Grenzübergang von Griechenland nach Mazedonien. Wir kümmern uns um die Versorgung mit Wasser und Essen, Kleidung und Medizin. Wir hatten in den letzten Wochen bis zu 20.000 Flüchtlinge gleichzeitig hier. Das staute sich schnell, als nur noch Syrer, Afghanen und Iraker hier über die Grenze gelassen wurden. Normal hatten wir einen Durchlauf von 2.000-3.000 Menschen jeden Tag. Jetzt wo die Grenze dicht ist, sind es nur noch 500-600 täglich. Wir sind Syrer und haben seit 2011 im Irak gelebt. Wir haben unseren Weg in die Türkei gesucht – und nun mit dem Boot nach Griechenland. Jetzt sind wir am Ende und haben nichts mehr. Im Irak hatten wir kein Leben. Meine Mutter ist sehr krank – wir hatten kein Geld und keine Möglichkeit, zum Arzt zu gehen. Den Behörden dort ist das egal. Wir haben beide jeden nur möglichen Job angenommen, damit wir genug Essen hatten und eine Unterkunft bezahlen konnten. Wir haben einfach nur überlebt. Mein Traum ist es, anderen Menschen zu helfen. Also mache ich das auch. Ich arbeite hier und ich höre, dass diese Menschen sehr lange Wege auf sich nehmen, um an ihre Ziele zu gelangen. Und dass es sehr hart ist und dass sie sehr gelitten haben. Ich wünsche mir, dass diese Menschen ihr Ziel erreichen und dass ihre Träume in Erfüllung gehen. Ich komme aus Mandi Bahauddin im Norden Pakistans. Meinen Freund Kamran kenne ich schon immer – wir haben in der gleichen Straße gewohnt und uns gemeinsam auf den Weg gemacht. Wir haben von vielen gehört, die es gewagt haben. Wir konnten an nichts anderes mehr denken. Schlimm war es für die, die hier nicht mehr weiterkommen. Es ist gerade eine sehr schwierige Zeit hier. Und wir tun alles, was wir tun können. Diese Leute sind sehr liebe Menschen. Das sind KEINE Terroristen. Sie haben nichts – sie haben alles verloren. Es gibt kein Essen. Nichts. Ich weiß nicht, was ich der deutschen Bevölkerung sagen kann, aber diese Leute sind wirklich liebenswert. Wie es weitergeht, wissen wir nicht. Wir wollen einfach nur weiter – dorthin, wo wir würdevoll leben können – am liebsten nach Deutschland. Wir danken den Deutschen, die in Frieden leben und uns empfangen, für diese Chance. Sie respektieren die Menschen. In Kroatien kennen wir den Krieg und können nachempfinden, wie es diesen Menschen geht. Wir wissen, dass es sehr hart für sie ist und wollen helfen. Vor 20 Jahren hatten wir hier Krieg und unzählige bosnische, kroatische und serbische Familien mussten ihre Heimat verlassen. Wir haben damals eine bosnische Familie bei uns aufgenommen und mein Bruder hat sogar eine Frau aus dieser Familie geheiratet. Sie sind sehr, sehr glücklich und leben jetzt in Zagreb. Wir haben die Vergangenheit hinter uns gelassen und gelernt, damit umzugehen. Wir haben gelernt, zu vergeben. Unsere Familien sammelten das Geld zusammen. Es werden Dinge verkauft. Es wird alles in diese Hoffnung investiert, dass einer aus der Familie durchkommt und Geld schickt oder die anderen nachholt. 20 Titel median Titel median 21 Hannabal (Hani) aus Syrien im Auffanglager Vial auf Chios, Griechenland, März 2016. Katarina (75) aus Palios auf Lesbos, Griechenland, März 2016. Hussam (35) aus Homes (Syrien) im Hafen von Athen (Piräus), Griechenland, März 2016. Ahmad (45) aus Homes (Syrien) mit Frau und Kindern auf Chios, Griechenland, März 2016. Ich bin erst vor zwei Wochen aus Damaskus geflohen. Ich habe bis zum Schluss versucht zu bleiben – aber dann wurde mein Haus bei einem Bombenangriff zerstört. Da habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich weiß nicht, ob das richtig war. Jetzt bin ich in einem Auffanglager, das sich wie ein Gefängnis anfühlt. Ich will ein ruhiges Leben – in Sicherheit. In Syrien habe ich viel Tod gesehen. Die Flüchtlinge kommen schon sehr lange mit den Booten. Ich habe in den 1990er Jahren schon welche gesehen. Wenn sie hier in der Bucht ankamen, haben wir ihnen Decken gegeben und Feuerholz. Dann sind sie weitergezogen. Heute ist das alles richtig organisiert. Viele NGOs sind auf der Insel. Wir kommen aus dem Norden von Homes – aus einem kleinen Dorf mit viel Landwirtschaft. Mein Bruder ist vom Assad-Regime getötet worden. Alle meine Brüder und ich waren schon einmal inhaftiert – wurden gefoltert und kamen wieder frei. Mich haben sie an meinen Armen aufgehangen, bis ich ohnmächtig wurde. Vor sieben Monaten bin ich aus meinem Dorf geflohen und habe die Flucht für den Rest der Familie organisiert. Wir haben 5 Monate gebraucht, bis wir die ganze Familie einzeln durch die Checkpoints durchbekommen haben. Wir sind schon seit zwei Wochen hier und werden auch noch länger warten. Hier ist es besser als in Athen oder Idomeni. Es ist gut hier. Keine Flieger. Meine Kinder wachen nachts noch immer bei jedem Flugzeug auf und haben Angst. Ich habe Menschen gesehen mit abgeschnittenen Köpfen – die lagen einfach so am Straßenrand. Mein Bruder ist im Gefängnis gestorben. Ich verstehe nicht, warum es hier so viele unterschiedliche Nationen gibt. Nicht überall ist Krieg! Wenn ich mein Land liebe, bleibe ich in meiner Heimat. Viele dieser Menschen lieben ihre Heimat nicht. Mein Vater war in den 1980ern in Deutschland. Er hat in Leipzig Ökonomie studiert. Das hier habe ich mir nicht ausgesucht – in diesen Tagen habe ich kein Glück. Eine komische Wendung des Schicksals. Mein Sohn ist Fischer und lebt hier draußen mit mir. Manchmal fahre ich noch mit ihm raus. Letzte Woche kam ein Boot mit 160 Leuten – das Boot da draußen. Es ist gekentert an den Felsen. Sie haben mir gerade das Telefon geklaut. An der Aufladestation. Ich denke, es waren Afghanen oder Syrer. Mein Sohn sollte aufpassen, weil ich auf die Toilette musste. Ich bin sehr verärgert. Da sind alle Telefonnummern drin – alle wichtigen Menschen, meine Familie. Mein Bruder und mein Vater sind noch in Syrien. Wir haben vor unserer Flucht in Homes alles verkauft, was noch übrig war. Die Bomben haben viel zerstört. Früher hat meine Frau Unterwäsche geschneidert und ich habe Schuhe gemacht – ich bin Schuster. Ich war sogar schon einmal in Wien zu einer Leder- und Schuh-Messe. Das war vor zehn Jahren. Mein Traum ist nach Norwegen zu gehen – vielleicht Deutschland. Mein Bruder ist in Deutschland. 22 median Interview Text: Kai Bieler / Fotos: Michael Bader Professor Dr. Oliver Holtemöller ist Leiter der Abteilung Makroökonomik am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und dessen stellvertretender Präsident. Integration kommt nicht über Nacht Professor Dr. Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) über die Kosten und Effekte von Zuwanderung sowie die Jobchancen von Flüchtlingen. Seit Monaten diskutieren Politik und Ökonomen über die Kosten und Folgen der aktuellen Flüchtlingsmigration für den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme. Gibt es dazu schon verlässliche Zahlen? Wir können im Moment die Effekte nicht exakt beziffern. Wir wissen ja noch nicht einmal genau, wie viele Menschen ins Land gekommen sind und immer noch kommen. Und wir wissen auch nicht genau, wie diese qualifiziert sind und wie ihre Altersstruktur aussieht. Allerdings gibt es eine umfangreiche wirtschaftswissenschaftliche Forschung zu den Effekten von Migration auf den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme. Basierend auf diesen Erfahrungen der Vergangenheit kann man natürlich Projektionen der zu erwartenden Kosten vornehmen. Mehr als eine ungefähre Größenordnung kann dabei aber nicht herauskommen. Trotzdem bestimmen immer neue Zahlen im zwei- oder gar dreistelligen Milliardenbereich die öffentliche Diskussion. Dass Zahlen den medialen Diskurs bestimmen, ist kein Spezifikum des Flüchtlingsthemas. Das ist regelmäßig auch bei Konjunkturprognosen der Fall, bei denen die Nachkommastelle des Bruttoinlandsproduktes thematisiert wird. Dabei liegt die Messungenauigkeit mindestens bei einem halben Prozentpunkt. Die Frage ist, wie geht man mit einem solchen Indikator um? Das ist eher ein Problem der Medien als der Wissenschaft. Natürlich bringt jeder Euro, der für die Flüchtlinge ausgegeben wird, eine kurzfristige Stimulation der Konjunktur auf der Nachfrageseite. Davon können die Baubranche, die Gesundheitswirtschaft, Sicherheitsdienste oder soziale Träger profitieren. Allerdings reden wir hier auch von Größenordnungen im Nachkomma-Bereich des Bruttoinlandsproduktes. Voraussetzung dafür ist außerdem, dass dieses Geld auch zusätzlich ausgegeben und nicht an anderer Stelle eingespart wird. Wirklich nennenswerte, positive Effekte auf die deutsche Wirtschaft sind aus meiner Sicht erst zu erwarten, wenn diese Menschen mittel- und langfristig in den Arbeitsmarkt integriert sind. 23 bessere Zukunft für sich und ihre Kinder. Das ist aus meiner Sicht ein klarer Indikator dafür, dass sie motiviert sind, ihre persönliche Situation zu ändern, etwa durch mehr Bildung. Das ist aber ein langfristiger Prozess und er wird Geld kosten. theoretischen Komponenten in der Vergangenheit sehr gut gefahren. Die Arbeitswelt ändert sich permanent und Menschen müssen in jungen Jahren vor allem befähigt werden, zu lernen und sich an neue Rahmenbedingungen anzupassen. Über welchen Zeitraum reden wir dabei? Das gilt für Flüchtlinge genauso wie für die über eine Million einheimischen Langzeitarbeitslosen. In den meisten Fällen ist ja das zu geringe Ausbildungsniveau nicht die Ursache, sondern die Folge von Defiziten bei den sozialen Kompetenzen. Das beginnt im Bereich der frühkindlichen Bildung, etwa beim Erwerb von Sprache oder der Ausbildung der Fähigkeiten zur Aus Untersuchungen wissen wir, dass die Erwerbsbeteiligung von Flüchtlingen erst nach zehn bis zwölf Jahren dem Niveau der einheimischen Bevölkerung entspricht. Eine schnelle Arbeitsmarktintegration von hunderttausenden Flüchtlingen über Nacht wird es also nicht geben. Aber wenn wir als deutsche Gesellschaft nicht »Die Erwerbsbeteiligung von Flüchtlingen entspricht erst nach zehn bis zwölf Jahren dem Niveau der einheimischen Bevölkerung. Eine schnelle Arbeitsmarktintegration über Nacht wird es also nicht geben.« Prof. Dr. Oliver Holtemöller Das ifo-Institut geht von rund 19.000 Euro jährlich pro Flüchtling für Unterbringung, Verplegung, Deutschkurse, Ausbildung, Verwaltung usw. aus. Ist das eine realistische Größenordnung? An den Erfolgsaussichten für diese Integration sind zumindest Zweifel angebracht, wenn man sich die OECD-Bildungsindikatoren für die Herkunftsländer der Flüchtlinge ansieht. Bei den Kosten für Unterbringung, Verpflegung und medizinische Versorgung gehen wir von einer Größenordnung von rund 10.000 Euro pro Jahr und Flüchtling aus. Die darüber hinaus gehenden Integrationskosten, also für Sprachkurse, Bildung und berufliche Eingliederung, lassen sich dagegen aus den genannten Gründen derzeit noch nicht wirklich abschätzen. Ja, diese Zahlen gibt es. Allerdings sind die Menschen in Syrien und anderen Ländern ja nicht per se weniger intelligent als Deutsche, sondern sie sind in einem schlechteren Bildungssystem aufgewachsen. Sobald sich diese Rahmenbedingungen ändern, sind sie also prinzipiell zu den gleichen Bildungsleistungen in der Lage. Einige Ökonomen sehen die Flüchtlingshilfe als schuldeninanziertes Konjunkturprogramm. Teilen Sie diese Ansicht? median Interview Darüber hinaus muss man davon ausgehen, dass die meisten Menschen, die sich auf den Weg zu uns machen, ein starkes Motiv haben. Sie wollen eine jetzt in ihre Qualifizierung investieren, werden sie mit Sicherheit keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Das käme uns langfristig noch teurer. Selbst wenn ein Teil der Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehrt, wird sich das für Deutschland rentieren, weil es die Krisenregionen stabilisiert und dabei hilft, die Gründe für Flucht zu beseitigen. Selbststeuerung. Das sind Prozesse, die im Wesentlichen bis zum vierten Lebensjahr abgeschlossen werden und deren Ergebnisse sich später kaum noch revidieren lassen. Deshalb ist es auch bei Kindern von Flüchtlingen so wichtig, dass sie so früh wie möglich unsere Sprache lernen, in Kitas und Schulen sozial integriert werden. Was wir in diesem Punkt jetzt verpassen, wird uns in zehn bis fünfzehn Jahren auf die Füße fallen. Müssen sich die Ausbildungsangebote in Deutschland ändern, um gering qualifizierten Menschen einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen? Welche Voraussetzungen braucht es aus Ihrer Sicht dafür? Das kann höchstens eine Übergangslösung in einzelnen Bereichen sein. Denn letztlich sind wir mit dem dualen Ausbildungssystem inklusive seiner Wir müssen – völlig unabhängig von der Flüchtlingsproblematik – dafür sorgen, dass sich die geringe soziale Durchlässigkeit im deutschen Bil- 24 median Interview Interview median 25 Prof. Dr. Oliver Holtemöller forscht zu den Themen Empirische Wirtschaftsforschung, Quantitative Makroökonomik und Konjunkturzyklen, Geldtheorie und Geldpolitik sowie Wirtschaftspolitik. Der Diplom-Volkswirt und Doktor der Wirtschaftswissenschaft hat außerdem an mehreren Gutachten für die Bundesregierung mitgewirkt und als Sachverständiger an Anhörungen im Deutschen Bundestag teilgenommen. dungssystem erhöht. In unserem Land ist der Bildungserfolg von Kindern immer noch in starkem Maße vom sozioökonomischen Status ihrer Eltern abhängig, also von deren Bildungsgrad, Einkommen, kulturellem Konsum und sozialem Status. Es gibt Studien, auch aus unserem Haus, die zeigen, dass zum Beispiel Arbeitslosigkeit in Deutschland vererbt wird. Insbesondere Söhne, deren Väter arbeitslos waren, haben eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit, selbst arbeitslos zu werden. Das gilt interessanterweise aber nicht für Migranten. Das sagt viel über die Motivation der Menschen aus. Wir sollten also nicht davon ausgehen, dass die Menschen zu uns kommen, um von Transferleistungen zu leben. Aktuell werden verschiedene Förderinstrumente für die Jobintegration von Flüchtlingen diskutiert, etwa Beschäftigungsgutscheine, ein betriebliches Integrationsjahr oder Ausnahmen beim Mindestlohn. Wie bewerten Sie diese? Wir haben in Deutschland eine große Tradition von staatlichen Maßnahmen, die den Arbeitsmarkt beleben sollen. Doch die empirische Forschung zeichnet in den meisten Fällen ein eher ernüchterndes Bild, was den Erfolg dieser Bemühungen betrifft. Ich halte den Mindestlohn grundsätzlich für ein falsches Instrument zur Schaffung einer größeren Einkommensgerechtigkeit. Aber es gibt darüber nun mal einen breiten gesellschaftlichen Konsens, den es auch als Wissenschaftler zu akzeptieren gilt. Deswegen darf es aus meiner Sicht auch keine Ausnahmen vom Mindestlohn und damit eine soziale Konkurrenz zwischen Flüchtlingen und einheimischen Arbeitslosen geben. Also sind die deutschen Unternehmen auch ohne staatliche Unterstützung in der Lage, hunderttausenden von Flüchtlingen eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt zu geben? Natürlich. Die deutsche Wirtschaft verfügt über große Erfahrungen mit der Integration von ausländischen Arbeitskräften aus den vergangenen Jahrzehnten. Die Unternehmen werden dazu also sicher in der Lage sein, wenn im Vorfeld die bereits genannten Investitionen in die berufsvorbereitende Qualifikation der Flüchtlinge getätigt werden. Das ist allerdings eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Darüber hinaus sollten die Flüchtlinge – nach dem positiven Abschluss ihres Asylverfahrens – volle Freizügigkeit innerhalb Europas genießen, um sich in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft integrieren zu können. Denn sie sollen ja dorthin gehen können, wo Arbeitsplätze existieren und nicht dahin, wo Wohnungen leer stehen. Eine gezielte Steuerung der Flüchtlingszuwanderung zur Belebung strukturschwacher Regionen befürworten Sie also nicht? Grundsätzlich wird die aktuelle Flüchtlingsmigration nicht die demografischen Strukturprobleme in Deutschland lösen. Ländliche Regionen können und sollten eigene Anstrengungen unternehmen, um attraktiv für den Zuzug durch Migranten zu sein. So lassen sich im Einzelfall zum Beispiel Schulschließungen verhindern. Aber das lässt sich nicht zentral von oben verordnen, sondern hängt vom Engagement der Akteure vor Ort ab. Bund und Länder können dabei nur Anreize schaffen, dass in den Kommunen und Landkreisen diese Chance ergriffen wird. Wäre aus Ihrer Sicht – unabhängig von der Aufnahme von Flüchtlingen – eine stärker ökonomisch orientierte Regulierung der Zuwanderung sinnvoll? Das muss man klar voneinander trennen. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine humanitäre Aufgabe, die zu unserem Werte-Kanon gehört und deshalb nicht in erster Linie einem Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen werden darf. Bei der Organisation von Zuwanderung haben wir in Deutschland in der Tat noch einige Defizite. Diese sollte stärker nach den ellen Erfolg am Arbeitsmarkt darüber entscheidet, wer nach Deutschland kommen darf und wer nicht. Jeder Migrant, der zu uns kommt und einen Job findet, hilft uns dabei, unsere schrumpfende Bevölkerungszahl und die Finanzierung unseres Sozialsystems zu stabilisieren. Wir müssen uns anstrengen, dass wir zum einen auf einer individuellen Ebene. Es gibt Studien, die belegen, dass ethnisch, kulturell und sozial heterogen zusammengesetzte Teams innovativer und kreativer sind. Ähnliche Effekte lassen sich auch für Unternehmen als Ganzes empirisch beobachten. Firmen, die auf ausländischen Märkten aktiv sind, werden »Wir sollten nicht davon ausgehen, dass die Menschen zu uns kommen, um von Transferleistungen zu leben.« Prof. Dr. Oliver Holtemöller wirtschaftlichen Interessen Deutschlands organisiert werden. Aber durch die aktuelle Flüchtlingszuwanderung ist diese dringend notwendige Debatte leider in den Hintergrund gerückt. Wie könnte das konkret geschehen? Da gibt es verschiedene Modelle, etwa Punktesysteme für den Qualifizierungsgrad potenzieller Einwanderer. Allerdings halte ich nicht viel davon, dass ein Beamter anhand von Unterlagen und Prognosen über den individu- für Zuwanderung von qualifizierten Menschen attraktiv sind. Hier braucht es den Abbau bürokratischer Hürden, gekoppelt an klare Regeln für den Fall einer nicht erfolgreichen Arbeitsmarktintegration. Wer nach einer gewissen Zeit keinen Job findet, muss zurückgehen. produktiver und wettbewerbsfähiger. Die Teilhabe am internationalen Wettbewerb, die Begegnung mit anderen Märkten, Kulturen und Menschen spiegelt auch positiv zurück in die Unternehmen. Was bringt Zuwanderung über die Deckung des Fachkräftebedarfs hinaus für deutsche Unternehmen? Das zeigt, Integration ist keine Einbahnstraße. Wenn wir es richtig anstellen, kann sich unsere Gesellschaft dadurch auch zum Positiven verändern. Internationalität bringt klare wirtschaftliche Vorteile mit sich. Das gilt Vielen Dank für das Gespräch. 26 median Fachkräfte Fachkräfte median 27 Fit für die Ausbildung Im BMW Group Werk Leipzig erhalten Flüchtlinge ein siebenmonatiges Praktikum. Ziel ist es, die Grundlagen für eine Ausbildung bei dem Autobauer zu legen. Text: Marcus Hengst / Fotos: BMW Group „Als weltoffenes und tolerantes Unternehmen, das auf allen Kontinenten agiert und produziert, wollen wir ein Zeichen im Umgang mit Flüchtlingen setzen”, sagt Dirk Wottgen, Personalleiter des BMW Group Werks Leipzig. Der Automobilhersteller startete Anfang 2016 eine Ausbildungsinitiative, in der Flüchtlingen die theoretischen und praktischen Grundlagen für metallverarbeitende Berufe vermittelt werden. Acht Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea und Albanien erhalten erstmalig die Chance, ein Praktikum zu absolvieren. „Wir Sprache mächtig sein. Damit das gelingt, nehmen die jungen Männer an Deutschkursen und interkulturellen Trainings teil. „Sprache öffnet Türen und eröffnet Chancen, um sich in Deutschland leichter und schneller integrieren zu können. Der Berufsbildungsstart bei BMW bildet einen idealen Ausgangspunkt dafür”, ist Dirk Wottgen überzeugt. BMW kooperiert dabei eng mit der Bundesagentur für Arbeit. Darüber hinaus haben sich engagierte BMW-Mitarbeiter gefunden, die den Flüchtlingen bei Alltagsaufgaben Bundesweit arbeiten 3.500 Mitarbeiter für die GP Günter Papenburg AG, allein in Halle (Saale) sind es 1.350. Zukünftig soll die Belegschaft noch internationaler werden. Zuzug als Chance Die Suche nach Auszubildenden im Baugewerbe ist kein leichtes Unterfangen. Deshalb setzt die GP Günter Papenburg AG aus Halle auf die positiven Efekte von Zuwanderung. Text: Marcus Hengst / Foto: Marco Warmuth Acht Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea und Albanien starteten Anfang 2016 ein Praktikum im Leipziger BMW-Werk. wollen sie für die Ausbildung bei BMW fit machen”, erklärt der Personalleiter, der bis dato einen positiven Eindruck von den Praktikanten gewonnen hat. „Die jungen Männer sind zwischen 20 und 27 Jahren, allesamt hochmotiviert, zeichnen sich durch einen starken Willen aus und haben eine hohe Lernbereitschaft.” Ob sie mit diesen Eigenschaften den Sprung in die Ausbildung schaffen und welche Tätigkeit am besten zu ihnen passen wird, entscheidet BMW nach sieben Monaten. „Jeden Tag lernen wir sie und ihre Qualitäten besser kennen, sodass wir später bei entsprechender Eignung sicherlich den richtigen Platz bei BMW finden werden.” Nach Abschluss des Praktikums sollen die Flüchtlinge im Herbst dieses Jahres mit einer Ausbildung inklusive Berufsschulunterricht beginnen – dafür müssen sie der deutschen wie bürokratischen Behördengängen unter die Arme greifen. Im Werk selbst steht ein Ausbilder zur Verfügung, der ausschließlich die Flüchtlinge betreut. „Es ist für uns selbstverständlich, dass wir einen Beitrag zur beruflichen und sozialen Integration leisten. Denn bei uns arbeiten schon sehr lange die unterschiedlichsten Nationalitäten zusammen”, betont der Personalleiter. Das derzeitige Engagement für Diversity gilt übrigens bei BMW bundesweit: Während in Leipzig die acht jungen Männer das EQJ-Programm absolvieren, schult die BMW Group in ganz Deutschland rund 500 Flüchtlinge im Rahmen eines neunwöchigen Praktikums. www.bmw.de XX Experten gehen davon aus, dass der deutschen Wirtschaft im Jahr 2030 mehr als sechs Millionen Arbeitskräfte fehlen werden. Einige Unternehmen merken den fehlenden Nachwuchs bereits jetzt. Dazu gehört auch die Bauunternehmensgruppe GP Günter Papenburg AG an ihrem Standort in Halle (Saale), wo vor allem Ausbildungsplätze als Berufskraftfahrer, Betonwerker, Baumaschinist und Bauhelfer schwer zu besetzen sind. „Mit Praktika und Berufsqualifizierungsmaßnahmen möchten wir für unsere Ausbildungsberufe werben und dabei die Qualitäten und Fähigkeiten der Interessierten besser kennenlernen”, erklärt Geschäftsführerin Angela Papenburg die Strategie. „Den Zuzug an Menschen aus anderen Ländern sehen wir dabei als eine Chance, um Nachwuchskräfte zu gewinnen.” Deswegen lud das Unternehmen im Januar 2016 rund 60 Flüchtlinge zu einer Werksbesichtigung in Halle ein. Diese waren entweder bereits in ihrer Heimat in Bauberufen tätig oder hatten Interesse an einer Ausbildung signalisiert. Die ersten Flüchtlinge, die bei GP Papenburg ihre Chance nutzen, sind zwischen 16 und 25 Jahre alt und stammen aus Syrien und dem Iran. Sie absolvieren eine Kombination aus Praktika, Sprachkursen und Bewerbungstrainings. Bis Ende 2017 will die GP Günter Papenburg AG gezielte Angebote für Flüchtlinge unterbreiten, von der Einstiegsqualifizierung bis zum Dualen Studium. „Wir versuchen Barrieren abzubauen, Ängste zu nehmen und Deutschland so zu zeigen, wie es ist: tolerant, aufgeschlossen und hilfsbereit”, betont Angela Papenburg. Sie weiß um die gesellschaftliche Verantwortung des größten mittelständischen Bauunternehmens der Region und erkennt zugleich das wirtschaftliche Potenzial der jungen und motivierten Bewerber. Die GP Günter Papenburg AG hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereits gute Erfahrungen mit der Integration von Ausländern gemacht und zahlreiche RusslandDeutsche und Südost-Europäer erfolgreich ausgebildet. Für Firmen, die auf der internationalen Bühne agieren, ein wichtiges Tool. „Wir haben durch unsere internationale Mannschaft die Möglichkeit erhalten, neue Kontakte zu knüpfen und Kooperationen zu schließen. Zudem ist unsere Mitarbeiterschaft vielfältiger geworden”, erkennt die Geschäftsführerin die Vorteile, die in den kommenden Jahren sukzessive ausgebaut werden sollen. Dann könnte bei der GP Günter Papenburg AG perspektivisch das Thema Fachkräftemangel der Vergangenheit angehören. www.gp.ag XX 28 median Fachkräfte Fachkräfte median 29 Ankommen und arbeiten In der Flüchtlingskrise ist es eine heftig umstrittene Frage: Werden die Neuankömmlinge dem deutschen Arbeitsmarkt nutzen oder ihn belasten? Eine Spurensuche in Mitteldeutschland. Text: Dörthe Gromes / Foto: Christian Hüller Patrick Ayosso aus Benin und Abdoulaye Ba aus GuineaBissau haben es geschafft: Seit Februar haben die jungen Männer einen Arbeitsvertrag bei einer deutschen Firma. Sie sind angestellt bei Innovate Wet Wipes in Naumburg, einem Unternehmen mit 115 Mitarbeitern, das spezielle Feuchttücher herstellt, die unter anderem im Klinikbereich Verwendung finden. Dort stapeln die zwei Afrikaner nun acht Stunden lang am Tag Kisten mit den fertigen Produkten. Eine einfache Tätigkeit, die jedoch mit Sorgfalt und Geduld getan werden muss. Alexander van Haren, der Geschäftsführer der Firma, erzählt, dass er es trotz der Arbeitslosenquote von knapp zehn Prozent in Naumburg schwer habe, für diese gering qualifizierten Jobs Arbeiter vor Ort zu finden. Deshalb hat das Unternehmen vor rund zwei Jahren in Polen um Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel mit Leuten, die keine Weisungen von Frauen akzeptiert haben”, berichtet der Geschäftsführer. Ein Grundverständnis hiesiger Normen und Prinzipien sei für alle Integrationsbestrebungen unabdingbar, so Alexander van Haren. Doch wie kommen Flüchtlinge und Unternehmen überhaupt zusammen? Dafür gibt es bislang keinen standardisierten Weg. Katrin Nitsch, die Personalreferentin von Innovate Wet Wipes, telefonierte am Anfang sehr viel herum. Irgendwann sprach sie auch mit einer Mitarbeiterin des Wirtschaftsamtes vom Burgenlandkreis. Seit Juli vergangenen Jahres gibt es dort ein auf vier Jahre angesetztes Projekt mit dem etwas sperrigen Titel „Berufliches Integrationszentrum für Ausbildung und Arbeit für Asylbewerber/-innen und Flüchtlinge im Bur- »Die meisten sind engagierte Leute, die hergekommen sind, um sich hier etwas aufzubauen.« Alexander van Haren Mitarbeiter geworben. Es war für Innovate Wet Wipes ein logischer Schritt, jetzt auch unter den Flüchtlingen nach Personal zu suchen. Bei Innovate Wet Wipes in Naumburg setzt man auf die berufliche Integration von jungen Flüchtlingen. Die zwei neueingestellten Mitarbeiter sprechen gut deutsch. Sie sind seit acht Monaten beziehungsweise knapp anderthalb Jahren im Land. Beide erzählen, dass sie aufgrund von ernsten Problemen in ihren Heimatländern nach Deutschland gekommen seien. Sie möchten außerdem ihre Familien in der Heimat unterstützen beziehungsweise nachholen. Alexander van Haren lobt die Motivation und das Pflichtbewusstsein seiner neuen Mitarbeiter: „Die meisten sind engagierte Leute, die hergekommen sind, um sich hier etwas aufzubauen.” Er bewertet den Begriff Wirtschaftsflüchtling deshalb auch nicht negativ. Allerdings würde sich nicht jeder Flüchtling so gut integrieren. „Wir haben auch schon schlechte genlandkreis”. Es wird durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Sozialfonds gefördert. Gemeinsam mit verschiedenen Bildungsträgern in Weißenfels, Zeitz und Naumburg wurden spezielle Integrationszentren aufgebaut. Die Flüchtlinge bekommen dort Sprachunterricht, gleichzeitig wird festgestellt, welche beruflichen Fähigkeiten sie mitbringen, und sie werden für den deutschen Arbeitsmarkt geschult. Die Kurse dauern zwischen drei und sechs Monaten. Entsprechend ihrem Sprach- und Bildungsniveau werden die Flüchtlinge zum Ende des Kurses an Unternehmen für Praktika vermittelt. Läuft das Praktikum gut, kann es wie im Fall von Patrick Ayosso und Abdoulaye Ba bestenfalls in einen festen Arbeitsvertrag münden. Überall befinden sich die Strukturen, um die große Zahl neuangekommener Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu 30 median Fachkräfte Fachkräfte median 31 ben darf, ist für Unternehmen eines der Haupthindernisse bei der Frage, ob sie Flüchtlinge einstellen oder ausbilden wollen. Das ergab eine Umfrage der IHK Sachsen unter ihren Mitgliedsunternehmen. Danach sind 90 Prozent der Firmen nur bereit, Flüchtlinge mit einer gesicherten Aufenthaltserlaubnis zu beschäftigen. Für 59 Prozent sind gute bis sehr gute Deutschkenntnisse eine Grundvoraussetzung. Danach folgt mit 45 Prozent eine nachweislich abgeschlossene Berufsausbildung. Weiterhin werden die unsichere Rechtslage, Unsicherheit über das Qualifikationsniveau der Flüchtlinge, die Sorge vor kulturellen Unterschieden sowie ein hoher organisatorischer Aufwand als Hinderungsgründe für die Einstellung von Flüchtlingen genannt. »Das Handwerk hat eine hohe Bereitschaft, Flüchtlinge auszubilden.« Im Bildungs- und Technologiezentrum der Handwerkskammer Halle (BTZ) erlernen junge Flüchtlinge seit Herbst 2015 die Grundlagen in den Bereichen Bau, Metallverarbeitung, Schweißen und Lackieren. Dr. Andrea Wolter Ziel der Kurse ist es, sie für weitere Ausbildungsangebote fit zu machen. zu Leipzig. „In Leipzig trafen sich Anfang April die ersten 60 Flüchtlinge mit verschiedenen unserer Mitgliedsunternehmen. Wir hoffen, dass in Kürze ein erster Lehrgang startet.” Bundesweit sollen durch eine gemeinsame Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), der Bundesagentur für Arbeit (BA) und des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks bis zu 10.000 Flüchtlinge beruflich integriert werden. Für das 24-monatige Programm stellt das BMF 20 Millionen Euro zur Verfügung. Die Ergebnisse dieser Umfrage sind keine sächsische Besonderheit, sondern decken sich in den wesentlichen Einschätzungen mit Umfragen, die auch andere Kammern Mitteldeutschlands unter ihren Mitgliedern durchgeführt haben. André Kühne, Pressesprecher der Handwerkskammer Ostthüringen, formuliert folgende Forderungen der Unternehmen an die Politik: „Wir brauchen ein beschleunigtes Asylverfahren, eine gesicherte Bleibeperspektive für mindestens fünf Jahre sowie eine stärkere Unterstützung der Unternehmen durch einen Ausbau der Integrations- und Sprachkurse.” Kühne merkt an, dass 60 Prozent der Handwerksunternehmen Ostthüringens Interesse an einer Beschäftigung oder Ausbildung von Flüchtlingen zeigen würden. besetzt werden kann. Darüber hinaus sollen Asylbewerber, die in Deutschland eine qualifizierte Berufsausbildung finden, während deren gesamter Dauer geduldet werden. Die Duldung soll noch bis zu einem halben Jahr nach der Ausbildung weiter gelten, um ihnen die Möglichkeit zu geben, in Deutschland auch einen Job zu finden. integrieren, noch im Aufbau. Oft sind es Kooperationen zwischen den ortsansässigen Jobcentern, Verwaltungen, Bildungsträgern und Kammern, die solche Integrationsprojekte tragen. Ein ähnliches Projekt wie im Burgenlandkreis hat zum Beispiel die Handwerkskammer Halle im Herbst 2015 ins Leben gerufen. Es heißt „Förderung der Ausbildung von jungen Flüchtlingen”. Im ersten Durchgang wurden bei zwölf Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea und Burkina Faso ihre beruflichen Kompetenzen festgestellt und ihnen dann im Bildungs- und Technologiezentrum der Handwerkskammer Halle (BTZ) Grundkenntnisse in den Bereichen Bau, Schweißen, Metallbearbeitung sowie Malen und Lackieren gelehrt. Ein zweiter Durchgang begann im Frühjahr dieses Jahres. Ziel ist es, die Teilnehmer anschließend in weitere Maßnahmen, Ausbildungen oder Praktika zu vermitteln. „Das Handwerk hat eine hohe Bereitschaft, Flüchtlinge auszubilden. Unsere Bildungszentren bieten gute Voraussetzungen, eine intensive fachliche Berufsorientierung und Berufsvorbereitung verbunden mit der notwendigen Sprachausbildung zu ermöglichen”, betont auch Dr. Andrea Wolter, Pressesprecherin der Handwerkskammer Doch mitunter stehen diesem Anliegen auch gesetzliche Rahmenbedingungen entgegen. So richtet sich der Zugang für Flüchtlinge zum deutschen Arbeitsmarkt nach ihrem Asylstatus. Menschen, denen Asyl bewilligt wurde und die in der Regel eine Aufenthaltserlaubnis von ein bis drei Jahren haben, unterliegen keinen Beschränkungen. Dagegen erhalten bislang diejenigen, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist, nur einen eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Das trifft ebenfalls auf die Menschen zu, deren Asylverfahren negativ ausgegangen ist, deren Abschiebung jedoch ausgesetzt wurde. Die Unsicherheit, wie lange ein Flüchtling in Deutschland blei- Diese Forderungen der Unternehmen greift der Ende Mai vorgestellte Entwurf der Bundesregierung für ein neues Integrationsgesetz zumindest teilweise auf. So sollen rechtliche Hürden abgebaut werden, um Asylbewerber in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dazu zählt eine Lockerung der sogenannten Vorrangsprüfung, wonach bei einem Jobangebot erst geprüft werden muss, ob die Stelle auch mit einem deutschen Bewerber oder EU-Bürger Die Firma Innovate Wet Wipes wird nach ihren bisherigen Erfahrungen auch weiterhin unter den Flüchtlingen nach Personal suchen. Geschäftsführer Alexander van Haren bemerkt dazu: „Natürlich ist es für mich als Arbeitgeber schwierig, wenn ich nicht weiß, wie lange die Leute im Land bleiben dürfen. Allerdings habe ich auch bei deutschen Mitarbeitern keine Garantie, dass sie langfristig bleiben werden.” Für sein Unternehmen sieht er in der Flüchtlingskrise vor allem den Vorteil von verfügbaren Arbeitskräften. Viele deutsche Firmen exportieren ihre Produkte in die ganze Welt. Warum sollten nicht auch die Belegschaften der Unternehmen aus vielen Ländern stammen? www.innovate-de.infoXXXwww.hwkhalle.de www.hwk-leipzig.deXXXwww.hwk-gera.de XX XX 32 median Arbeitsmarkt Arbeitsmarkt median 33 Neue Wege ans Ziel Im Rahmen des Projektes „Mitarbeiter für Verantwortung“ entwickelten Leipziger Führungskräfte und Entscheidungsträger praxistaugliche Ideen für die Jobintegration von Flüchtlingen. Text: Kai Bieler / Fotos: Franziska Werner „Die öffentliche Diskussion um die Flüchtlingsmigration wird oft von den damit verbundenen Problemen dominiert. Wir wollten dagegen bewusst den Blick auf die Potenziale der Zuwanderung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Leipzigs lenken und fragen, wie sich bestehende Hürden durch neue Denkansätze beseitigen lassen”, erklärt Jörg Müller, Geschäftsführer der IdeenQuartier – CSR und Kommunikation GmbH und Projektleiter von „Mitarbeiter für Verantwortung”. Das Programm ist Teil der Verantwortungsinitiative V FAKTOR der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland und bringt Führungskräfte und Entscheidungsträger aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Kultur zusammen, um neue Lösungen für eine konkrete Fragestellung der Leipziger Stadtgesellschaft zu finden. Während es im ersten Programmdurchlauf des Projektes „Mitarbeiter für Verantwortung” noch um die Senkung der Schulabbrecherquote in Leipziger Schulen ging, widmeten sich die 20 Teilnehmer des zweiten Durchgangs nun seit September 2015 dem Thema Zuwanderung. Eine von ihnen war Caroline Miosga, Projektmanagerin bei der MADSACK Konzernlogistik mit Sitz in Leipzig. Sie betreut auf strategischer Ebene das Recruiting von Zeitungszustel- lern und Briefträgern in der MADSACK Mediengruppe, zu der bundesweit neben der Leipziger Volkszeitung (LVZ) auch 14 weitere Tageszeitungen, mehr als 30 Anzeigenblätter sowie Postdienstleister und Full-Service-Agenturen gehören. „Wir sind ständig auf der Suche nach neuen Mitarbeitern in diesem Bereich und haben mit der Zuwanderung große Hoffnungen verbunden. Allerdings stellen der beschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge in den ersten Monaten und die damit einhergehende Vorrangprüfung, bei der geprüft wird, ob für den konkreten Arbeitsplatz bevorrechtigte Deutsche oder EU-Ausländer zur Verfügung stehen, uns vor große Probleme”, so die Projektmanagerin. Derzeit sei auch noch nicht absehbar, ob und in welchem Umfang es durch das geplante Integrationsgesetz hier zu Erleichterungen komme, so Caroline Miosga weiter. Neben der Präsenz auf zahlreichen Veranstaltungen wie der Integrationsmesse Leipzig sollen nun in einem gemeinsamen Projekt mit der Arbeitsagentur Leipzig gezielt Flüchtlinge über Jobangebote innerhalb der Logistik von LVZ und LVZ Post informiert werden. Die Mitarbeit am Programm „Mitarbeiter für Verantwortung” hat für Caroline Miosga neben jeder Menge neuer Impulse für die eigene Arbeit und neuen Kontakten auch auf emotionaler Ebene Bedeutung. „Die intensive Arbeit in der Gruppe und die persönliche Vertreter der Leipziger Stadtgesellschaft im Diskurs über die Potenziale der Zuwanderung. Begegnung mit Flüchtlingen in Gemeinschaftsunterkünften haben auch meinen Blick auf das Thema und die Menschen verändert”, resümiert die MADSACK-Projektmanagerin. Als konkretes Ergebnis von „Mitarbeiter für Verantwortung” sind zwei umsetzungsfähige Vorhaben entstanden, die zwei unterschiedliche Ansätze verfolgen. „Expedition Job” setzt auf eine frühzeitige Berufsorientierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Im Rahmen eines »Die Herausforderungen für unsere Städte verlangen aufgrund ihrer zunehmenden Komplexität nach neuen Lösungsansätzen.« Jörg Müller viertägigen Orientierungsverfahrens sollen diese an Berufsbilder des Handwerks, wichtige Inhalte von Bewerbungsgesprächen und erste Berufseinblicke durch Kurzpraktika herangeführt werden. Das Konzept wird federführend vom soziokulturellen Zentrum Haus Steinstraße e. V. umgesetzt werden. In fünf Workshops und weiteren Vor-Ort-Terminen informierten sich die Projektteilnehmer über das Thema, trafen beteiligte Akteure und suchten in zwei Arbeitsgruppen nach neuen Ansätzen für eine Integration von Flüchtlingen. geschuldet vor allem der interkulturellen Unkenntnis. Hier wollen wir durch den Transfer von Erfahrungen aus anderen Unternehmen und den persönlichen Kontakt mit geflüchteten Menschen Sicherheit vermitteln und geeignete Methoden aufzeigen, wie das Verhältnis von Unternehmen und Zuwanderern aufgebaut und gestaltet werden kann”, skizziert Toralf Wienholz, Filialdirektor bei der Deutsche Bank Privat- und Geschäftskunden AG und ebenfalls Teilnehmer von „Mitarbeiter für Verantwortung”, den Ansatz. Das zweite Vorhaben will den Abbau von Vorurteilen und die Verringerung von Hemmschwellen innerhalb von Unternehmen bei der Integration von Flüchtlingen fördern. Dabei helfen sollen die Bausteine „Aktionstag Integration” und „Basisworkshop Integration”, die nun in eigener Regie oder mit Unterstützung von Trainern in Unternehmen durchgeführt werden können. „Beim Thema Integration von Flüchtlingen gibt es bei vielen Unternehmen noch Vorbehalte, Als weiteres Ergebnis des vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit geförderten Vorhabens „Mitarbeiter für Verantwortung” wird ein Leitfaden für Politik, Verwaltung und Unternehmen entstehen, um die entwickelten Methoden und Ansätze einer intersektoralen Zusammenarbeit zukünftig für die Lösung komplexer Fragestellungen nutzen zu können. „Die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen für unsere Städte verlangen aufgrund ihrer zunehmenden Komplexität nach neuen Lösungsansätzen. Durch das Vernetzen von Führungskräften und Entscheidungsträgern aus einer Stadtgesellschaft können dabei neue Impulse entstehen”, betont Ideenquartier-Geschäftsführer Jörg Müller. www.v-faktor-mitteldeutschland.com XX 34 median Porträt Porträt median 35 Auklärung ist keine Einbahnstraße Der syrische Student Abdulaziz Bachouri engagiert sich ehrenamtlich für Gelüchtete und vermittelt den Eindruck, für manche hätte der Tag doch mehr als 24 Stunden. Text: Katharina Kleinschmidt / Foto: Christian Hüller Vom Beckenrand springen ist verboten! Eine Badehose ist Pflicht! Lärmen und Rennen unterlassen! Zwei Männer stehen im Schwimmbad in der Leipziger Tarostraße und entwerfen Plakate, auf denen sie die Haus- und Baderegeln visualisieren und ins Arabische übersetzen. Die bundesweiten Medienberichte über sexuelle Belästigungen in Schwimmbädern haben auch sie aufgeschreckt. Einer der beiden ist der Syrer Abdulaziz Bachouri. Er will vermitteln, ohne zu relativieren: „Ich sehe meine Aufgabe darin, Vorurteile abzubauen. Wenn die Vorwürfe aber stimmen, muss das selbstverständlich geändert werden.” Die Plakate sollen aufklären, genauso wie seine Vorträge in Erstaufnahmeeinrichtungen. Thema sind bei Weitem nicht nur Baderegeln. Von den unterschiedlichen Geschlechterrollen bis zur Mülltrennung ist alles dabei. Bachouri weiß, wovon er spricht: „Es ist ein Kulturschock, nach Deutschland zu kommen. Es ist alles so ruhig hier.” Irgendetwas fehlt: Der Trubel und das kleine bisschen Anarchie, über eine rote Fußgängerampel zu gehen. Auch einen Schwimmbadbesuch kennt er von zu Hause als lautes und unbändiges Freizeitvergnügen – undenkbar in Deutschland. Seinen Kulturschock hat Bachouri, den seine Freunde schlicht Aziz nennen, vor zehn Jahren, als er nach dem Abitur zum Studieren nach Deutschland kommt. Nach einem Jahr Sprachunterricht versucht er sich in Dresden mit dem Medizinstudium, muss das aber wegen der nicht ausreichenden Sprachkenntnisse aufgeben. Er wechselt nach Leipzig und beginnt Arabistik und DaF – Deutsch als Fremdsprache – zu studieren. »Ich mache es einfach – das gehört wie selbstverständlich zu meinem Leben.« Abdulaziz Bachouri Seitdem hat Bachouri in der neuen Heimat viele Erfahrungen gesammelt. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, verpackt er Bücher, telefoniert im Callcenter, serviert Sandwiches und trägt Zeitungen aus. Der Vorteil: er lernt schnell viele Menschen kennen – die Grundlage für eine gute Vernetzung in der Gesellschaft. Neben Studium und Jobs will Bachouri von Anfang an mehr: Er arbeitet im ‚Referat für ausländische Studierende’ mit, wird in den Akademischen Senat gewählt, ruft das interkulturelle Tandemkonzept ‚Be-Buddy!‘ ins Leben, das ausländischen Studenten beim Studienstart an der Universität Leipzig hilft. Und vieles mehr. Stolz macht ihn der Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) für hervorragende Leistungen ausländischer Studierender im Jahr 2012. Warum er das alles tut? „Ich mache es einfach – das gehört wie selbstverständlich zu meinem Leben”, sagt der 29-Jährige. Abdulaziz Bachouri unterstützt ausländische Studierende bei ihrer Integration. 36 median Die prekäre finanzielle Situation von Abdulaziz Bachouri wird erst besser, als er nach dem Bachelor ein Stipendium von der Friedrich-Ebert-Stiftung und damit auch mehr Zeit bekommt, sich ehrenamtlich zu engagieren. Als ab Sommer 2015 neue Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge fast im Wochentakt eröffnet werden, ist er als Dolmetscher vor Ort, bis die Betreiber die Sprachvermittlung selber organisiert haben. Er sammelt Spenden, zum Beispiel Turnschuhe Porträt siert Bachouri aber wissenschaftlich: In seiner Masterarbeit beschäftigt er sich mit der Rezeption des Syrienkonfliktes in den Medien. Und was fühlt Bachouri, wenn er seine Landsleute hier ankommen sieht? Zunächst denkt er an seine Familie, die immer noch im syrischen Hama lebt. Mit vielen von denen, die den weiten Weg geschafft haben, hat der junge Syrer »Wenn ich dann Steuern bezahle, kann ich endlich ein „richtiger“ Deutscher werden.« Abdulaziz Bachouri für ein Basketballprojekt, begleitet Familien bei Behördengängen und veranstaltet ein „deutsches” Weihnachtsfest für Geflüchtete. Aufklärung ist für Bachouri das A und O der Integration – allerdings keine Einbahnstraße. Ihn stört der Generalverdacht, unter den die Geflüchteten schnell geraten. Daher wird er nicht müde, auch die Deutschen zu informieren, zum Beispiel bei einem „Falafel-Abend”, den er im Rahmen der Interkulturellen Wochen organisiert. Die Kultur steht dabei im Vordergrund, Politik eher weniger. Die interes- Abdulaziz Bachouri erhielt 2012 den Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) . gesprochen: „Die Menschen wollen sich integrieren, die Sprache lernen und hier arbeiten – so schnell wie möglich. Und sie wollen etwas dafür tun.” Seine eigene Integration sieht der Noch-Student auf der Zielgeraden. „Jetzt geht das Arbeitsleben los”, freut er sich. „Wenn ich dann Steuern bezahle, kann ich endlich ein ‚richtiger’ Deutscher werden.” Ob er das denn will? „Das will ich sehr gerne”, sagt er und lacht. www.stura.uni-leipzig.de XX Verwaltung median 37 Kulturwandel Die Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz war Teil eines Modellprojekts, das aus ihr eine Willkommensbehörde machen sollte. Eine Bestandsaufnahme. Text: Marcus Hengst / Foto: Toni Söll Als im Oktober 2013 das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Projekt „Ausländerbehörden – Willkommensbehörden” initiierte, ahnte von der aktuellen Größenordnung der Herausforderungen durch die Zuwanderung hunderttausender Flüchtlinge niemand etwas. Aber was damals auf den ersten Blick nur nach einem Wechsel des Etiketts klang, war in Wahrheit ein handfester struktureller Umbau, dem angesichts der derzeitigen Situation besondere Bedeutung beikommt. „Aus heutiger Perspektive können wir mit Gewissheit sagen: Ohne das Projekt hätten wir heute noch wesentlich größere Probleme, die Situation in den Griff zu bekommen”, sagt Astrid Gertig, Leiterin der Ausländer- und Staatsangehörigkeitsbehörde in Chemnitz. Die sächsische Stadt nahm als eine von bundesweit zehn Kommunen an dem zweijährigen Projekt teil. Dessen zentrales Ergebnis ist ein sogenannter Werkzeugkoffer, der zahlreiche Instrumentarien für die Transformation von der Ausländerbehörde zur Willkommensbehörde enthält. Die 200 Seiten starke Broschüre gibt dabei keine starre Agenda an Maßnahmen vor, sondern formuliert Fragen für den internen Veränderungsprozess: Läuft die Vernetzung zu anderen Ämtern reibungslos? Welche Mittel in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit tragen zur Imageverbesserung bei? Wie können mobile Arbeitsplätze und Online-Termin-Systeme zu mehr Flexibilität und weniger Belastung der Mitarbeiter beitragen? Auch in der Chemnitzer Ausländerbehörde wurde auf Basis des Werkzeugkoffers eine Reihe an Veränderungen in den Bereichen Strategie, Organisation, Personal und Vernetzung vor Ort realisiert. „Im Rahmen des Projektes haben wir Prozesse neu gestaltet, unser Selbstverständnis reflektiert und die Vernetzung verbessert”, so das Fazit von Behördenleiterin Astrid Gertig. So verbesserten der Einsatz von Glaselementen und schalldämmenden Materialien, neue Farbanstriche und ein mehrsprachiges Besucherleitsystem die Orientierung im Gebäude ebenso wie die Atmosphäre in den Wartebereichen und in den Beratungszimmern. Mit der Einführung eines Terminvergabesystems inklusive fester Bestellzeiten gehörten stundenlange Wartezeiten der Vergangenheit an. Englischkurse und andere Schulungen In Chemnitz wagte man den Schritt vom Ausländeramt zur Willkommensbehörde. für die Behördenmitarbeiter verbesserten deren sprachliche und interkulturelle Kompetenzen. Zusätzlich verstärkt eine Dolmetscherin für Deutsch, Französisch und Englisch das Team. Nicht zuletzt wurde die Ausländer- und Staatsangehörigkeitsbehörde bereits Anfang 2015 aus dem Ordnungsamt ausgegliedert und dem Bürgeramt zugeordnet. Auch hierdurch wird der Wandel von der reinen Ordnungsbehörde zu einer kundenorientierten Willkommensbehörde zum Ausdruck gebracht. „Mit dem Projekt ist das Thema aber für uns noch längst nicht abgeschlossen”, so Chemnitz’ Rechtsbürgermeister Miko Runkel. „Wir wollen in unserer Arbeit auf den Erfahrungen aufbauen und uns als Willkommensbehörde weiterentwickeln.” So ist die weitere Intensivierung der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren vor Ort wie der TU Chemnitz, der Bundesagentur für Arbeit und dem Migrationsbeirat der Stadt Chemnitz geplant. Termine sollen zukünftig auch online beantragt sowie die Öffnungszeiten und die telefonische Erreichbarkeit der Behörde weiter ausgebaut werden. www.bamf.de/werkzeugkoffer XX 38 median Soziales Bildung median 39 Stimme der Hofnung Im Rahmen des Projektes „Voice of Hope“ entwickeln Studierende und Mitarbeiter der HHL Leipzig Graduate School of Management konkrete Hilfsangebote für Migranten. Text: Kai Bieler / Foto: HHL Stabile Beziehungen, gewohnte Tagesabläufe und die eigene Sprache sollen Flüchtlingskindern etwas Heimat in der Fremde ermöglichen. Willkommen in der Kindheit Jeder 7. Flüchtling ist jünger als sechs Jahre. Mit dem Modellprojekt „WillkommensKITAS“ wollen Sachsen und Sachsen-Anhalt auf die speziellen Bedürfnisse dieser Kinder reagieren. „Als im vergangenen Herbst innerhalb weniger Tage in der Ernst-Grube-Halle eine Erstaufnahmeeinrichtung für fast 500 Flüchtlinge quasi vor unserer Haustür entstand, war schnell klar: Wir wollen helfen”, erinnert sich Maximilian Schreiter. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Finanzmanagement und Banken an der HHL Leipzig Graduate School of Management gründete zusammen mit Kollegen und Studenten die Initiative „Voice of Hope”. In den ersten Wochen dominierte vor allem die akute Soforthilfe. Die internationalen Studenten der Hochschule halfen als Dolmetscher für Arabisch oder Persisch, eröffneten eine Sammelstelle für Sachspenden, stellten Räume für Sprachkurse zur Verfügung und unterstützten die ehrenamtlichen Helfer bei Sportangeboten und bei der Kinderbetreuung. Doch bald wuchs bei den HHL-Studenten und Mitarbeitern Rund 35 Prozent der 650 Studenten an der HHL kommen aus dem Ausland. Text: Kathrin Sieber / Foto: Frank Grätze Häufig stehen schutzsuchende Kinder mit ihren Eltern in den Kindertagesstätten und sind einfach da. Sie haben kein Zuhause mehr, betreten sprachliches und kulturelles Neuland und haben eine anstrengende Flucht erlebt. Jeder siebte Flüchtling in Deutschland ist jünger als sechs Jahre. Was die Kinder erlebt haben, können die Erzieher nur ahnen und es stellt sie vor neue Herausforderungen. Bereits im Sommer 2014 startete deshalb in Sachsen das bundesweite Modellprogramm der „WillkommensKITAs”. In dessen Rahmen werden zehn Kitas und Horteinrichtungen mit Fortbildungen, Einrichtungscoachings vor Ort oder Materialien bei der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingskindern unterstützt. „Die Bedürfnisse sind ganz unterschiedlich, wir lernen hier jeden Tag dazu. Wichtig ist der Aufbau von lokalen Netzwerken. Dazu zählen zum Beispiel das Jugendamt, das Gesundheitsamt, die Migrationsdienste, die ehrenamtlichen Flüchtlingshilfen oder auch die Ansprechpartner in den Unterkünften”, erklärt Axel Möller, Leiter des Modellprogramms. Hinter dem dreijährigen Programm steht die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS). Die Kosten werden vom Landesprogramm „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz” und dem Sächsischen Kultusministerium getragen. Die Kinder kommen aus Syrien, Libyen, Tschetschenien oder Mazedonien, fast alle sprechen kaum ein Wort Deutsch. Mit Händen und Füßen lernen die Kinder voneinander, und oftmals schneller als ihre Eltern. „Wir achten darauf, dass sie ihre eigene Herkunftssprache in der Kita wiederfinden. Sie sollen sich willkommen fühlen”, so Sarah Tröbner, Leiterin des Landesmodellprojektes der DKJS. „Die Kinder benötigen vor allem Normalität und gleichbleibende Tagesabläufe. Dafür müssen stabile Beziehungen und Vertrauen zu den Erziehern aufgebaut werden. Mit den speziellen Bedürfnissen von Kindern aus asylsuchenden Familien umgehen zu können, ist eine große Herausforderung für die Pädagogen”, so Sarah Tröbner weiter. Das notwendige Wissen und die Methodik erhalten die Erzieher in Fortbildungen und Workshops. Davon profitieren auch andere Einrichtungen. „Wir geben die Erfahrungen weiter, vermitteln Netzwerkpartner und Infomaterialien. Das Interesse ist riesig, der Bedarf steigt”, sagt Axel Möller. Seit November 2015 läuft auch in Sachsen-Anhalt ein Modellprojekt mit 26 „WillkommensKITAs”. Soziale Träger aus anderen Regionen haben ebenfalls bereits Interesse bekundet. www.dkjs.de/sachsen XX »Wir verfügen über große Erfahrungen bei der Beratung unserer internationalen Studenten. Diese geben wir nun weiter.« Anke Plänitz auch der Anspruch, mittel- und langfristige Projekte zu entwickeln, welche die Kernkompetenzen der renommierten Business School widerspiegeln. So finden seit März dieses Jahres einmal im Monat Bewerbertrainings für Migranten statt. „Wir verfügen über große Erfahrungen bei der Beratung unserer internationalen Studenten im Umgang mit der Bürokratie des deutschen Arbeitsmarktes. Diese geben wir nun an Migranten aus Syrien, Afghanistan, Eritrea oder Georgien weiter”, erklärt Anke Plänitz von der Abteilung Studienangelegenheiten der HHL. Die Hochschule kooperiert dabei mit dem IQ Netzwerk Sachsen und dem Projekt RESQUE 2.0, das gemeinsam von Aufbauwerk Region Leipzig GmbH, Caritasverband Leipzig e.V., Deutsche Angestellten Akademie GmbH und Stadt Leipzig, Referat Migration und Integration umgesetzt wird. Die Workshops beinhalten unter anderem ein individuelles Coaching zur Erstellung des Lebenslaufs und des Motivationsschreibens sowie ein kostenloses Shooting von Bewerberfotos durch Leipziger Fotografen, die das Projekt ehrenamtlich unterstützen. Im Anschluss betreuen die Studenten und Mitarbeiter der HHL die Teilnehmer weiter bei der Jobbewerbung. In den Startlöchern steht aktuell ein weiteres „Voice of Hope”-Projekt. Im Rahmen von „Refugees on Rails”, das im Herbst 2015 in Berlin startete, erlernen Migranten das Coden, also das Programmieren von Software und Webapplikationen. Zusammen mit der Sage GmbH will die HHL das Vorhaben jetzt auch in Leipzig etablieren und sucht noch weitere Partner, die das Projekt durch Spenden von Laptops und als Kurstrainer unterstützen. Darüber hinaus vergibt die Hochschule drei Fridtjof-Nansen-Gedächtnisstipendien für ihre im September 2016 startenden Management-MasterProgramme. Das Angebot richtet sich an Flüchtlinge, die bereits über einen ersten qualifizierenden Studienabschluss, gute Englischkenntnisse und Berufserfahrung verfügen. Die Stipendien decken die Studiengebühren sowie die Lebenshaltungskosten ab. Aktuell sind noch Bewerbungen möglich. www.hhl.de XX 40 median Bildung Bildung median 41 Sprache ist der Schlüssel Unter den Flüchtlingen beinden sich auch Schüler, Studierende und Akademiker. Mitteldeutsche Schulen, Bildungsträger und Universitäten wollen ihnen eine Bildungsperspektive geben. Text: Kathrin Sieber / Foto: picture alliance / ZB Nach Schätzungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind über die Hälfte der aktuell erfassten Asylbewerber unter 25 Jahre alt. Ein großer Teil befindet sich noch im schulpflichtigen Alter, andere haben bereits das Abitur, sind Studenten oder verfügen über einen akademischen Abschluss. Damit diese Menschen in Deutschland weiter zur Schule gehen, studieren oder wissenschaftlich arbeiten können, braucht es neben einer anerkannten Zugangsberechtigung vor allem ausreichende Sprachkenntnisse. In sogenannten Vorbereitungsklassen erhalten Flüchtlinge einen speziellen Sprachunterricht in „Deutsch als Zweitsprache” (DaZ). So besuchten nach Angaben des sächsischen Kultusministeriums Anfang Mai 2016 über 8.700 Kinder und Jugendliche, davon 2.362 unbegleitete minderjährige Flüchtlingskinder, eine der insgesamt 509 Vorbereitungsklassen an den allgemeinbildenden Schulen. Ältere Jugendliche erhalten den Sprachunterricht unter anderem in speziell dafür vom Bundesamt für Mig- Berufsorientierung. Einige wenige wollen studieren. Diese Sprachschüler können wir aufgrund der Vorkenntnisse im Einstufungstest meist in unsere fortgeschrittenen Kurse integrieren. Nach acht Monaten besitzen sie dann das Sprachniveau, das sie für ein Studium brauchen”, erläutert Sandy Klein, Inhaberin der studio lingua Leipzig, einem der privaten Kursträger mit Lizenz vom Bundesamt für Migartion und Flüchtlingen. Entsprechend der wachsenden Schülerzahlen steigt auch der Bedarf an speziell für diesen Unterricht ausgebildeten Lehrern. Allein von September 2015 bis Januar 2016 stieg die Zahl der DaZ-Lehrer in Sachsen von 332 auf 843 und der Freistaat stellt weiter neue Pädagogen ein. Zusätzlich werden vorhandene Lehrer für die neuen Anforderungen berufsbegleitend ausgebildet und die Lehrpläne an ausbildenden Universitäten wie in Dresden, Leipzig und Chemnitz um entsprechende Studienfächer erweitert. Unter den eingestellten Lehrern befinden sich Lehrer mit Deutsch als Zweitsprache-Ausbildung sowie »Geflüchtete Abiturienten haben in der Regel nach acht Monaten in unseren Kursen das Sprachniveau, das sie für ein Studium brauchen.« Sandy Klein ration und Flüchtlinge lizenzierten Ausbildungsstätten. Insgesamt werden in Sachsen aktuell rund 25.000 DaZSchüler gezählt. Nach aktuellen Prognosen sollen 2016 bis zu 15.000 weitere schulpflichtige Flüchtlinge nach Sachsen kommen. „Unsere Integrationskurse stehen allen Migranten offen. Derzeit besuchen 80 Flüchtlinge unsere Einrichtung. Nach unseren Erfahrungen benötigen jedoch rund 90 Prozent der Geflüchteten einen sogenannten Alphabetisierungskurs. Das bedeutet, dass sie keine oder nur sehr geringe Grundkenntnisse in Sprache und Schrift besitzen. Meist haben sie auch keine Ausbildung und stehen vor einer Lehrer für Deutsch als Fremdsprache und Seiteneinsteiger. „Unsere Kurse sind wie auch die der anderen privaten Träger gut nachgefragt. Im Moment haben wir auch genug Lehrkräfte, aber es wird für uns zunehmend schwieriger, Lehrer zu finden und zu halten. Durch den steigenden Bedarf der allgemeinbildenden Schulen wandern uns die Lehrkräfte ab”, erklärt Sandy Klein. Auch die Hochschulen in Mitteldeutschland bieten Sprachkurse für Migranten an, allerdings nur studienbegleitend. Für die Aufnahme eines Vollstudiums sind neben der Sprachprüfung auch die Anerkennung von Studienund Prüfungsleistungen und ein anerkannter Aufent- Allein in Sachsen erhalten aktuell rund 25.000 Migranten einen speziellen Sprachunterricht, um ihnen den Schulbesuch, eine Berufsausbildung oder ein Studium zu ermöglichen. haltsstatus notwendig. Über die Anerkennung bisheriger Leistungen und vorhandener Abschlüsse entscheidet die aufnehmende Hochschule. Aber wer denkt schon bei der Flucht an Formulare? Reichen die Nachweise nicht aus, ist eine Feststellungsprüfung notwendig. Die Studienkollege der Hochschulen bieten hierfür Vorbereitungskurse zu einzelnen Fächergruppen an. Für die Integration der Studienwilligen oder Akademiker stellen die Fach- oder Hochschulen und Universitäten zahlreiche Angebote bereit. Sie reichen von Orientierungsprogrammen, Gasthörerschaften, einem Schnupperstudium bis zu Brückenkursen. So zum Beispiel die Friedrich-Schiller-Universität in Jena (FSU), die bereits im vergangenen Jahr mit einer kostenlosen Gasthörerschaft für Flüchtlinge ein Programm zur Integration gestartet hat. Dieses soll Migranten mit entsprechenden Voraussetzungen den Einstieg in die Hochschule erleichtern. „Im aktuellen Sommersemester haben sich 43 Flüchtlinge angemeldet. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus Syrien, zwei aus Afghanistan und drei von ihnen aus dem Irak. Wir haben nicht erwartet, dass das Angebot so rege wahrgenommen wird”, berichtet Dr. Claudia Hillinger, Leiterin des Internationalen Büros der Universität. Jedem der neuen Gasthörer steht ein studentischer Mentor zur Seite, der bei der Einführung in das deutsche Studiensystem, der Gestaltung des Studierendenalltags und des Stundenpla- nes hilft. Das Internationale Büro und das Master-ServiceZentrum der Universität Jena bieten darüber hinaus Studienberatung, Zeugnisbewertung und ein Intensivprogramm zur weiteren Studienvorbereitung an. Auch im kommenden Wintersemester soll das Gasthörerprogramm fortgesetzt werden. Wissenschaftler oder Akademiker, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, haben es bislang sehr schwer, hier ihre Arbeit ohne größere Unterbrechungen fortzuführen. „Dies ist nicht nur eine persönliche Belastung für die Betroffenen, sondern auch ein Verlust von Wissen”, sagt Carmen Bachmann, Wirtschaftsprofessorin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre der Universität Leipzig. Deshalb initiierte sie im September 2015 die Online-Plattform „Chance for Science”. Das ehrenamtliche Projekt will im Stil eines sozialen Netzwerks geflüchtete Wissenschaftler, Akademiker und Studierende bundesweit mit ihren Kollegen an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen vernetzen und ihnen so den Zugang zu wissenschaftlichen Ressourcen erleichtern. „Aktuell verzeichnen wir rund 460 Anmeldungen, davon 50 von geflüchteten Akademikern. Darunter sind viele Ingenieure, aber auch Ärzte und Juristen”, so Carmen Bachmann. XX www.studio-lingua.de www.chance-for-science.de XX 42 median Porträt Porträt median 43 „Guten Menschen passiert auch Gutes“ Seit drei Jahren lebt die Familie M. aus Afghanistan in Deutschland, die meiste Zeit davon in Erfurt. Ein Beispiel für gelingende Integration dank festen Willens und vielfältiger Hilfen. 44 median Porträt Porträt median 45 Text: Ute Bachmann / Fotos: Tom Schulze Konzentriert sitzt die 16-jährige Shalini M. im Klassenraum und beantwortet die Fragen einer SozialkundeArbeit. Wie heißt das deutsche Wahlsystem? Wie lauten die fünf Wahlgrundsätze? Mit welchen Argumenten würdest du einen Freund davon überzeugen, überhaupt wählen zu gehen? Shalini kommt aus Afghanistan und ist vor drei Jahren mit ihren Eltern und ihren drei Schwestern nach Deutschland gekommen. Geflüchtet vor den Taliban, werden drangsaliert, diskriminiert, enteignet und vertrieben. Vater Chender hatte einen Imbiss, in dem er Speisen verkaufte, die seine Frau Sima zuhause zubereitete. Doch es kam immer häufiger vor, dass Gäste nicht bezahlten, ihn stattdessen mit Waffen bedrohten. Irgendwann ließ Chender seine Mädchen aus Angst kaum mehr aus dem Haus gehen. Rechnen brachte er seinen Töchtern selbst bei. Lesen und Schreiben lernten sie ein bisschen von ihrer »Papa sagte zu uns: Entweder wir leben irgendwo anders in Sicherheit oder wir sterben hier.« Ratena M. die der Familie das Leben in Kabul unerträglich gemacht haben, die den Eltern ihre erste Tochter und den vier Mädchen ihre große Schwester genommen haben. Als Hindus hatten sie es besonders schwer in dem seit Jahrzehnten vom Bürgerkrieg heimgesuchten Afghanistan. Hindus gelten als nicht-muslimische Ausländer, sie Die Hindu-Familie floh 2012 aus Afghanistan und lebt heute in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt. großen Schwester. Das letzte Jahr in Afghanistan hat die Familie Zuflucht in einem Tempel gesucht, nachdem in unmittelbarer Nachbarschaft Schreckliches passiert ist, worüber in der Familie bis heute nicht gesprochen wird. Während der Zeit im Tempel haben sie ihre älteste Tochter verloren – der Auslöser für die Flucht. Der körperlich angeschlagene Chender hatte das Gefühl, als einziger Mann der Familie seine Frau und seine Töchter nicht beschützen zu können. „Papa sagte zu uns: Entweder wir leben irgendwo anders in Sicherheit oder wir sterben hier”, erzählt Ratena, die mit 19 Jahren heute die älteste Tochter ist. Familie M. war angesehen und bekannt für ihre Hilfsbereitschaft. Nun war es an der Zeit, die Hilfe anderer in Anspruch zu nehmen. Sie machten ihr gesamtes Hab und Gut zu Geld und begaben sich in die Hände eines unbekannten Mannes, der sie aus Afghanistan rausbrachte. Deutschland war gar nicht unbedingt das Ziel – Hauptsache weg, schlimmer als hier kann es nicht werden. Irgendwann 2012 landeten sie in einer Flüchtlingsunterkunft in Gießen, ohne ein Wort Deutsch zu können. Drei Monate lang lebten sie dort, ehe sie ihr Weg in ein Wohnheim nach Erfurt führte. Und auch hier erhielten sie wieder Hilfe, vom Leiter der Einrichtung, der ihnen eine eigene Wohnung vermittelte, die Töchter an Schulen anmeldete, ihnen im Umgang mit der deutschen Bürokratie half. „Guten Menschen passiert irgendwann auch Gutes”, sagt Ratena, die heute vieles für die Familie regelt und organisiert. Sie musste schnell erwachsen werden und trägt heute Verantwortung für ihre Familie. In vielen Bereichen ist sie das Sprachrohr der Eltern. Da die Familie bis heute lediglich ein Abschiebungsverbot hat, aber keinen dauerhaften Status als Flüchtlinge oder gar Asylberechtigte, hatten die Eltern bisher keine Möglichkeit, einen Sprachkurs zu besuchen. Mit einem Anwalt aus Frankfurt am Main kämpft die Familie darum, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge besser eingestuft zu werden, wenigstens als subsidiär Schutzberechtigte. Ratena ist nicht nur beim Anwalt die Dolmetscherin, auch bei Behördengängen oder Arztbesuchen. „Mama und Papa haben so viel für uns getan”, sagt sie. „Früher waren wir abhängig von ihnen, jetzt helfen wir Kinder unseren Eltern.” Sie ist auch diejenige, die nach Hilfsangeboten sucht und Kontakte zu sozialen Trägern und Netzwerken knüpft. Sie hat nach nur drei Jahren in Deutschland die Regelschule mit 1 abgeschlossen und macht jetzt ihr Fachabitur mit wirtschaftlicher Ausrichtung. Ihre Schwestern haben ebenfalls sehr gute Noten. Shalini hat gerade ihren Ausbildungsvertrag unterschrieben. Sie wird IT-Expertin. Die dritte Schwester möchte gern Frisörin oder Visagistin werden. Das sind Perspektiven, an die sie in Afghanistan nie im Leben gedacht hätten. Der Alltag von Frauen dort kennt nur das Haus und die eigenen Kinder als „berufliche” Perspektive. Die jüngste Tochter ist jetzt in der 4. Klasse und wird bei einem Notendurchschnitt von 1,0 bald auf das Gymnasium wechseln. Ihre guten Noten haben alle vier Schwestern in erster Linie ihrem unbedingten Willen, es hier zu schaffen, und ihrem großen Hunger nach Bildung zu verdanken. Außerdem weist die Schule einen für Thüringer Verhältnisse großen Anteil Die 16-jährige Shalini M. steht kurz vor dem Start ihrer Ausbildung zur IT-Expertin. an Schülern mit Migrationshintergrund auf. Die Lehrer sind darauf eingestellt und richten ihren Unterricht auch entsprechend aus. Zusätzlich hat sich Ratena an die Diakonie gewandt, um Nachhilfe-Angebote für sich und ihre Schwestern in Anspruch zu nehmen. So entstand auch der Kontakt zu einem Lehrer-Ehepaar. Aus dieser Begegnung hat sich mittlerweile eine Freundschaft entwickelt. Die Eheleute helfen längst nicht mehr nur bei Schulaufgaben. Vater und Mutter M. haben außerdem Kontakte zu anderen Flüchtlingen in ihrer Wohngegend und zu den Hindu-Gemeinden in Frankfurt, München und Hamburg. Ob die Familie über eine Rückkehr nach Afghanistan nachdenkt? Die Mutter und die Töchter auf keinen Fall. „Manchmal denke ich, warum bin ich nicht hier geboren?”, sagt Ratena. „Dann hätte ich das alles von Anfang an gehabt.” Mit „alles” meint sie Dinge, die für deutsche Jugendliche ganz normal sind. Fahrradfahren zum Beispiel, Schwimmen lernen oder Volleyball spielen. An Afghanistan denkt sie kaum noch, nur ganz selten kommen die schlechten Erinnerungen wieder hoch. Vater Chender trägt auch schöne Bilder in sich, wenn er an seine Kindheit zurückdenkt. Doch hält er sich die heutige Situation vor Augen, dann sagt er, er wolle lieber hier in Deutschland sterben, denn in Afghanistan bekomme er wahrscheinlich nicht mal ein Grab. Sie werden also bleiben – und unser Land bereichern. 46 median Demografie Demografie median 47 Die Chance nutzen Der Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt ist stark vom demograischen Wandel betrofen. Die Zuwanderung könnte eine Chance zur Stabilisierung der Arbeitskräftesituation sein. Text: Katharina Kleinschmidt / Fotos: Guido Siebert, Puralube Holding GmbH Pyramide, Zwiebel, Glocke oder Bienenstock? Für die Darstellung der Altersstruktur einer Bevölkerung werden gerne Bilder aus Architektur oder Biologie herangezogen. Ist die Pyramide die Idealform, muss sich Deutschland wie viele Industriestaaten mit der Zwiebelform begnügen. Es gibt zu wenig Kinder und einen Überhang älterer Menschen. Eine der Folgen ist das stetige Absinken des Erwerbspersonenpotenzials, also der Arbeitskräfte, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind viele ländliche Regionen Ostdeutschlands. Eine von ihnen ist der Burgenlandkreis im südlichen Sachsen-Anhalt. Seit dem Jahr 2000 hat er knapp 20 Prozent seiner Bevölkerung verloren, bis 2025 prognostiziert das statistische Landesamt einen weiteren Rückgang von heute 182.000 auf 156.000 Einwohner. Mit Beginn des Ausbildungsjahres im Herbst 2015 waren im Burgenlandkreis hunderte Berufsausbildungsstellen aufgrund der sinkenden Schulabgängerzahlen unbesetzt. Für die Landespolitik ist deshalb die Zuwanderung von Migrantinnen und Migranten eine Chance, diese demografische Lücke wenn nicht zu schließen, so doch zumindest zu verkleinern. Auch die Unternehmen im Burgenlandkreis setzen auf die Flüchtlinge. „Wer Flüchtlingen Arbeit gibt, tut sich was Gutes und hilft den Flüchtlingen, in Deutschland anzukommen”, wirbt deshalb Sachsen-Anhalts Landwirtschafts- und Umweltminister Dr. Hermann Onko Aeikens und appelliert an Arbeitgeber im ländlichen Raum, bei der Suche nach Arbeitskräften auch Flüchtlinge zu berücksichtigen. Der ländliche Raum biete für Integration gute Voraussetzungen, etwa preiswerten Wohnraum in größerem Umfang. Die gleichen Ideen treiben auch Götz Ulrich um, seit 2014 Landrat des Burgenlandkreises. Er sieht in der Zuwanderung einen wirksamen Hebel, um dem demografischen Wandel entgegenzusteuern, bleibt aber realistisch: „Die Flüchtlinge haben einen positiven Einfluss auf die alternde Gesellschaft, von einer Trendumkehr würde ich aber noch nicht sprechen.” Im Burgenlandkreis waren im Jahr 2015 rund 2.200 Geflüchtete in Einrichtungen des Landkreises und etwa 600 Personen in Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes untergebracht, rund 80 Prozent von ihnen jünger als 35 Jahre. „Damit wirken die neuen Bewohner der demografischen Entwicklung im Landkreis zunächst entgegen, aber es bleibt abzuwarten, wer nach einer Anerkennung als Asylberechtigter oder Bürgerkriegsflüchtling hier wohnen bleibt”, sagt Götz Ulrich. Tatsächlich verlassen derzeit rund drei Viertel der anerkannten Personen den Landkreis in Richtung der großen Städte. Grund genug, alles daran zu setzen, die Geflüchteten zu halten. „Erster Schritt hierfür ist die dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge im gesamten Burgenlandkreis, auch in kleineren Orten”, erklärt der Landrat. Dort haben sich zahlreiche Initiativen gegründet, um den Neuangekommenen das jeweilige Dorf oder die Kleinstadt näherzubringen. Zentrale Stellschraube aber sind die Investitionen in die Bildung, für die unter anderem Projektgelder vom Europäischen Sozialfond (ESF) und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingeworben wurden. Damit werden Angebote zur ersten Orientierung für Migranten, Integrationskurse und Programme zur schnellen Einbindung in Arbeit und Ausbildung finanziert. „Zwischenzeitlich haben wir ein stabiles Netzwerk von Unternehmen aufgebaut, das Praktikumsplätze im ganzen Burgenlandkreis vorhält”, erläutert Ulrich. Neben einer Praktikumsbörse, Hospitationsmöglichkeiten, Der Burgenlandkreis im südlichen Sachsen-Anhalt hat seit dem Jahr 2000 knapp 20 Prozent seiner Einwohner verloren. Die Landespolitik hofft auf positive Effekte der Zuwanderung. Lernpartnerschaften und einer Berufsinformationsmesse gibt es speziell für jugendliche Geflüchtete praxisnahe Angebote, die in Kooperation mit der regionalen Wirtschaft entstanden sind. Deren Ziel ist es, für die Teilnehmer passgenau einen Lehrbetrieb und für Unternehmen den geeig- 2005 unzählige Projekte zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen auf den Weg gebracht hat. Dennoch wird die derzeitige Zuwanderung nicht alle demografischen Probleme in der Region lösen. „So wird es aufgrund des Geburtenrückgangs und der sinkenden Schülerzahlen auch im »Es bleibt abzuwarten, wer nach einer Anerkennung als Asylberechtigter oder Bürgerkriegsflüchtling in unserem Landkreis wohnen bleibt.« Götz Ulrich neten Auszubildenden zu finden. In Naumburg, Weißenfels und Zeitz werden jeweils 25 Personen auf eine Eignung zur Berufsausbildung geprüft und innerhalb von sechs Monaten vorbereitet. Die Früchte dieser Bemühungen werden nicht unmittelbar zu spüren sein – es braucht einen langen Atem und viele Akteure, die an einem Strang ziehen. Eine zentrale Plattform dafür bildet im Burgenlandkreis das „Bündnis für Bildung, Arbeit, Wirtschaft und Innovation”, ein Zusammenschluss von Politik, Verwaltung, Sozialpartnern, Wirtschaft und Forschung, der seit seiner Gründung im Jahr Burgenlandkreis zu Schließungen von Bildungseinrichtungen kommen”, prognostiziert Landrat Götz Ulrich. Den Einfluss von geflüchteten Kindern und Jugendlichen schätzt er dabei eher als gering ein. „Um diesen Trend umzukehren, bedarf es nicht nur eines kurzfristigen Zuwachses, sondern einer langfristigen Zuwanderung in Größenordnungen, die den anhaltenden Geburtenrückgang dauerhaft ausgleicht”, stellt Ulrich fest. Es sei allerdings derzeit überhaupt nicht absehbar, ob die zu beobachtenden Flüchtlingsbewegungen in dieser Dimension anhalten. www.burgenlandkreis.de XX 48 median Medien Medien median Mainstream-Medien in der Krise Fakten gegen Fake Der unsägliche Begrif „Lügenpresse“ ist seit Monaten allgegenwärtig in den sozialen Netzwerken. Einen medialen Mainstream-Efekt gibt es aber tatsächlich – und das hat strukturelle Gründe. Journalist und Medienberater Peter Stawowy recherchiert Ängste und bündelt im Blog „Asylfakten“ fundierte Argumente für die nächste Facebook-Diskussion. Text: Dr. Uwe Krüger / Foto: Olivia Jasmin Czok / Universität Leipzig Es war mehr ein Werbeclip als ein Nachrichtenbeitrag, was die ARDTagesthemen am 19. August 2015 unter dem Titel „Prominente äußern sich zur Flüchtlingsfrage” sendeten: Als Reaktion auf fremdenfeindliche Gewalttaten vor allem in Sachsen und auf massive Hetze im Internet appellierten Künstler wie Udo Lindenberg, Christine Neubauer, Lilo Wanders und Jeanette Biedermann an die Toleranz, Großzügigkeit und Menschlichkeit der Zuschauer, erzählten von eigenen Fluchterfahrungen, beschworen den Reichtum und die Leistungsfähigkeit des Landes. Ihre Gesichter teilweise in Großaufnahme, Zeitlupe und Schwarzweiß, im Hintergrund sanfte Klavierklänge. Die Intention der Redaktion war nachvollziehbar, der Beitrag gut gemeint – aber Journalismus sieht eigentlich anders aus. Anstelle von neutralen Beobachtern des Geschehens wollten viele große Medien im Sommer und Herbst 2015 Teil der „Willkommenskultur” sein, Teil des „hellen” Deutschland und nicht des „dunklen”, wie es Bundespräsident Joachim Gauck ausdrückte. Und sie waren offenbar bestrebt, mit ihrer Berichterstattung und Kommentierung ein Einvernehmen der Bevölkerung mit der Politik der offenen Grenzen herzustellen, die die Bundeskanzlerin betrieb, während sich der Rest Europas gegen die Flüchtenden abschottete. Diese publizistische Haltung war dem Vertrauen vieler Nutzer in die Medien offenbar nicht zuträglich. Laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts vom Dezember 2015 hatten vier von zehn Deutschen den Eindruck, dass sie überredet werden sollten, sich über den Flüchtlingsstrom keine Sorgen zu machen – und 53 Prozent meinten, dass die Medien kein zutreffendes Bild zeigten, was den Anteil von Familien und jungen Männern oder die berufliche Qualifikation der Flüchtlinge angeht. Es kommt häufiger vor, dass Medien wie Fische in einem Schwarm einem „Mainstream”, einer Hauptströmung folgen – und oft ist diese Strömung relativ konform mit der Regierungspolitik. Die Ukraine-Krise und die Schuldenkrise in Griechenland sind weitere Themen, bei denen sich dies in jüngerer Vergangenheit besonders deutlich gezeigt hat. Entsprechend groß ist bei vielen die Empörung über „gelenkte Medien” oder „gekaufte Journalisten”. Dabei kommen „Mainstream”-Phänomene ganz ohne Fremdsteuerung und Gängelband, ohne Korruption oder Dienstanweisungen aus dem Kanzleramt zustande. Journalisten großer Medien orientieren sich häufig an der Themenagenda und dem Meinungsspektrum im politischen Establishment – welches wiederum auf mediale Kompatibilität der eigenen Positionen achtet und auf „gute Presse” schielt. Die Strömung wechselt auch immer mal ihre Richtung, vor allem nach sogenannten Schlüsselereignissen: So kam nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht in Köln schnell eine Debatte über Integrationsprobleme muslimischer Männer in Gang. Gleichwohl bleibt die ständige Herausforderung an Journalisten, eigenständig Themen zu setzen, auch unbequeme Positionen zu vertreten und nüchtern soziale Realität abzubilden. Denn Medien sind die Augen und Ohren der Gesellschaft, und nur mit unverstelltem Blick können Probleme – auch bei der Integration von Flüchtlingen – angemessen bearbeitet werden. Dr. Uwe Krüger Dr. Uwe Krüger arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Journalistik am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Im Frühjahr 2016 veröffentlichte der Medienwissenschaftler das Buch „Mainstream: Warum wir den Medien nicht mehr trauen” (Verlag: C.H. Beck). Darin diagnostiziert Dr. Uwe Krüger eine Verengung des Meinungsspektrums in den Medien, durch die bestimmte Positionen unterrepräsentiert sind. Die Gründe dafür sieht er in Lobby-Netzwerken und vertraulichen Hintergrundkreisen ebenso wie in der sozialen Herkunft der Journalisten und den verschlechterten Arbeitsbedingungen der Branche. 49 Text: Tobias Ossyra Es gibt eine Menge Fragen in Sachsen, eine Menge Fragen in ganz Deutschland. Wie viele radikale Islamisten sind unter den ankommenden Flüchtlingen? Bringen Flüchtlinge Krankheiten nach Sachsen? Woher kommt plötzlich das Geld, jahrelang verfallende Schulen als Asyl-Unterkunft herzurichten? Die Flüchtlingskrise, sie ist auch eine Informationskrise, vor allem in den sozialen Medien. Als die Facebook-Diskussionen im vergangenen Jahr hochbranden und Mutmaßungen zu Meinungen werden, klinkt sich der Dresdner Journalist und Medienberater Peter Stawowy in die Kommentarspalten ein, teilt Links zu Gegenargumenten und Richtigstellungen. Denn ihm ist klar: „Das kann man so nicht stehen lassen, man muss dagegenhalten. Aber nicht emotional, sondern sachlich.” Im September 2015 ruft er mit seinem Redaktionsteam deshalb den Blog „Asylfakten” ins Leben, um Aufklärungsarbeit zu leisten und sich jener Themen und Ängste anzunehmen, die in den Netzwerken am heftigsten diskutiert werden. Zu viert geht die Redaktion mitunter ganz naiven Fragen auf den Grund, recherchiert, liefert Antworten, entkräftet Vorurteile, entlarvt Falschbehauptungen. Fakten gegen Fake, Wissen gegen Wut. Mehr als 100 Beiträge sind bislang entstanden, aggregiert aus journalistischen Beiträgen, wissenschaftlichen Studien, statistischen Daten und Behördendokumenten, stets mit Quellenverweis. Und allesamt zusätzlich zum Text in bunter Kacheloptik als verlinkbare Grafik aufbereitet – so fallen sie beim Durchscrollen der Debatten gleich ins Auge. Darüber hinaus gibt der Blog Leseempfehlungen zu weiterführenden Artikeln sowie eigenen Texten, im Dezember etwa erschien ein ausführliches Interview mit Sachsens Ausländerbeauftragtem Geert Mackenroth. Stawowy ist in der sächsischen Medien- und Politiklandschaft bestens vernetzt, betreibt das Medienblog Flurfunk Dresden, der seit 2014 auch als gedrucktes Magazin erscheint. Er berät das Innenministerium in Medienfragen und moderiert im Auftrag der Sächsischen Landeszentralne für politische Bildung sowie der Landesdirektion Sachsen seit Jahren Anwohnerversammlungen, dort wo neue Flüchtlingsunterkünfte entstehen. In Chemnitz-Einsiedel wurde er nach zweistündiger Diskussion unter „Volksverräter”- Rufen von einer aufgebrachten Menge aus dem Saal gebuht. Dennoch suchte er im Anschluss den Dialog mit einzelnen Bürgern: „Da sind extrem sachliche Gespräche entstanden. Wenn man vis-a-vis mit den Menschen spricht, sind sicherlich Sorgen, Ängste und der Frust der vergangenen 25 Jahre zu spüren, aber mitnichten sind das alles Nazis.” Deshalb ist auch der „Asylfakten”-Blog nüchtern und unaufgeregt. Stawowys Redaktion möchte aufklären, ohne dabei belehrend zu sein. „Es herrscht gerade eine große Hysterie, online wie im realen Leben. Aber nur, weil viele Menschen Hass-Kommentare posten, sind nicht alle voller Hass. Es gibt noch genug vernünftige Leute”, so der Journalist. Nach dem Lesen des „Asylfakten”-Blogs hoffentlich ein paar mehr. www.asylfakten.de XX FAKTENCHECK Wie hoch waren die Gesamtkosten für Flüchtlinge im Jahr 2015? Kommt es in Flüchtlingsunterkünften häufig zu Streitereien zwischen Christen und Muslimen? Warum reinigen Flüchtlinge ihre Unterkünfte nicht selbst? Wie wirkt sich die Flüchtlingssituation wirtschaftlich aus? ASYLFAKTEN.DE Dürfen Asylbewerber in Leipzig oder anderen Städten schwarzfahren? 50 median Sport Sport median 51 Mit Kloppo für mehr Integration Seit mehr als zehn Jahren setzt der Erfurter Verein „Spirit of Football“ auf die verständigende Kraft des Fußballs. Von den Bildungs- und Sportprojekten proitieren auch Gelüchtete. Text: Tobias Ossyra / Fotos: Hamish John Appelby An den Wänden haben sie Matten zum Tor aufgestellt, auf der Mittellinie teilen umgekippte Bänke zwei Spielfelder ein. Turnschuhe quietschen laut auf dem Parkett, aus den mitgebrachten Boxen tönt Reggae und Ska. Wild rennen sie von einer Seite zur anderen, bolzen und johlen, die Jugendlichen aus Syrien und Afghanistan, alle zwischen 15 und 18 Jahre alt. Geflüchtet mit ihren Familien vor Krieg und Verfolgung sind sie nun in Erfurt zu Hause; ob die Stadt eine zweite Heimat werden kann, ist für die meisten noch ungewiss. An diesem Dienstagabend aber, da zählen nur der Ball, das Spiel und die Gemeinschaft. Zwei Stunden dürfen sie kicken beim offenen Sporttreff, ehrenamtlich organisiert vom Verein „Spirit of Football” in Zusammenarbeit mit Erfurter Plastiktüten hergestellt. „Wir wollen gängige Stereotypen aufbrechen, indem wir die Geschichte von Menschen und ihren Herkünften nacherzählen”, sagt Aris. In Neuseeland aufgewachsen als Sohn britischer Auswanderer – der Vater Glasgow-Rangers-Anhänger, die Mutter Liverpool-Fan – kommt Aris nicht umhin, eine intensive Leidenschaft für den Sport zu entwickeln. Als junger Erwachsener spielt er zwei Jahre in der neuseeländischen U20-Nationalmannschaft, fliegt 2002 als Fan zur WM nach Südkorea. In den USA studiert er Betriebswirtschaft, um 2003 letztlich in Deutschland Fuß zu fassen. In Erfurt schreibt er sich für den Master in Public Policy an der Willy Brandt School der Universität Erfurt ein. Selbst seine »Wir wollen gängige Stereotypen aufbrechen, indem wir die Geschichte von Menschen und ihren Herkünften nacherzählen.« Andrew Aris Studenten, hier in der Turnhalle des Heinrich-Hertz-Gymnasiums, inmitten des Plattenbauviertels Roter Berg im Norden der Stadt. „Veranstaltungen wie diese schaffen für die Jugendlichen einen Ort der Sicherheit”, sagt Vereinschef Andrew Aris. Seit mehr als zehn Jahren setzt der Neuseeländer mit seinem Verein in Bildungsprojekten, Events und Turnieren auf die verständigende Kraft des Fußballs, auf Sport als gemeinsame Sprache, auf die Philosophie von Fair Play und globalem Lernen. Anfang 2015 sind Spiel- und Kulturabende für Geflüchtete hinzugekommen. Der Ball, er ist für Aris dabei nicht nur Sportgerät, sondern Symbol und Metapher für die Weltkugel, die sich alle Menschen teilen: „Ein Ball, eine Welt”, hat er deshalb eine Projektreihe genannt, in der Schulkinder gemeinsam mit Bildungsexperten aus Uganda, Brasilien oder den USA in Workshops die Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Mitmenschen erarbeiten. Spielerisch und kreativ, da werden im Klassenzimmer beispielsweise Fußbälle aus alten Abschlussarbeit dreht sich um den Fußball: Sie befasst sich mit den wirtschaftlichen und kulturellen Chancen für die Stadt Erfurt durch die Fußball-WM 2006. Aris spielt in dieser Zeit beim Lokalclub FC Borntal und sagt rückblickend: „Von den Jungs habe ich damals viel gelernt, vor allem, wie stark die deutsche Vereinskultur ist.” In dieser Zeit wird die Idee für das Projekt „Spirit of Football” geboren. Bestand die Arbeit des Vereins am Anfang noch aus einzelnen Events, so haben sich mit der Zeit größere Projekte entwickelt. Zentrales Aushängeschild sind seit 2002 die Reisen, bei denen Mitglieder des Vereins ein halbes Jahr vor jeder Weltmeisterschaft mit einem Ball als eine Art olympische Fackel des Fußballs über viele kleine Stationen zum Austragungsort reisen und Bildungsaktionen mit lokalen Partnern durchführen. Bei der WM 2014 führte der Weg vom Battersea Park in London, dem Geburtsort der modernen Fußballregeln, durch 25 Länder bis nach Brasilien. Der Clou: Nach jedem Event verewigen sich alle Betei- 52 median Sport ligten mit ihrer Unterschrift auf dem Ball, Profifußballer wie Amateure. Rund 18.500 Signaturen haben das Leder 2014 bis zur Unkenntlichkeit verfärbt, darunter die von Mats Hummels, Zico und Romario. Einen Zwischenstopp gab es damals auch beim FC Barcelona, dessen Stiftung Partner der Ballreise war und einen Workshop mit Kindern aus Barcelonas Sozialvierteln organisierte. Barça-Spieler Gerard Pique, Cesc Fàbregas und Dani Alves signierten den Ball anschließend. „Wenn wir bei unseren Schulprojekten diesen Ball präsentieren, dann sind die Kinder total fasziniert, davon, wer den alles schon in der Hand hatte”, sagt Aris. Der ‚Spirit’ des Balls und des Vereins, er wird auch geprägt von Andrew Aris’ neuseeländischer Art. Locker und offen- weiterhin prominenter Fürsprecher von „Spirit of Football”, gab im vergangenen September als Erster seine Unterschrift auf dem aktuellen Ball des „Ein Ball, eine Welt”-Projektes, das im Schuljahr 2015/2016 an zwölf thüringischen Schulen stattfindet. „Ich würde mich freuen, wenn auch du Mitglied unserer Mannschaft werden würdest”, sagt Klopp im VideoTrailer. „Ein immenser Ansporn für die Kinder, aktiv an diesem Projekt teilzunehmen”, erklärt Aris. Aktuell organisiert der Verein das Integrationsprojekt „Fairplay?!” zu den Themen Flucht und Asyl. Und zwar an einem besonderen Ort: Dem ehemaligen Erfurter Fabrikgelände der Firma Topf & Söhne, die während des Zweiten Weltkrieges Verbrennungsöfen für die NS-Vernichtungslager Mal mit Füßen, mal mit Händen, stets mit dem Herzen: Vereinschef Andrew Aris weiß, dass Fußball Menschen über kulturelle Grenzen hinaus verbindet, wie hier beim offenen Spieltreff mit Geflüchteten. herzig, den Optimismus im Kopf, die gute Laune im Herzen. „Wie geht’s, Alter”, hat der 38-Jährige einmal Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein begrüßt, der Schirmherr des Vereins ist. „Das könnten wir uns als Deutsche nie erlauben”, sagt Vereins-Vize Sven Söderberg, „aber Andrew ist eben Neuseeländer, die sind alle so verrückt wie er”. Es mag auch seiner sehr offenen Art geschuldet sein, dass Aris sich ein breites Netzwerk an Unterstützern aufbauen konnte. So traf er an einem verregneten Januarsonntag im Rahmen der Ballreise 2014 im Trainingszentrum von Borussia Dortmund auf die gesamte Mannschaft sowie den damaligen Trainer Jürgen Klopp. „Wir konnten ihm von unserem Projekt erzählen. Er hat das sofort aufgegriffen und am Ende haben er und fast alle Teammitglieder auf unserem Ball unterschrieben und sogar kurze Video-Statements für uns in die Kamera gesprochen”, erinnert sich Söderberg. Der derzeitige Liverpool-Coach, Spitzname „Kloppo” ist auch fertigte. Bis Oktober treffen hier Geflüchtete auf deutsche Schüler, um gemeinsam die Geschichte von Ausgrenzung zu verstehen. „Mit ihren Erfahrungen von Verfolgung und Flucht geben sie dem Projekt eine persönliche, höchst aktuelle Perspektive”, sagt Andrew Aris. In der Heinrich-Hertz-Turnhalle sitzen mittlerweile alle im Kreis: Deutsche, Afghanen, Syrer. Austauschrunde, der Ball fliegt umher, jeder soll berichten, wie er das Training erlebt hat. Gut natürlich, denn neben dem Spiel seien die Treffen vor allem fürs Deutschlernen wichtig, erzählen die Jungen. Nächste Woche wollen die meisten wiederkommen. Andrew Aris freut sich: „Diese Menschen kommen nicht einfach nur als Geflüchtete zu uns, sie kommen mit Talenten und Fähigkeiten. Nur wenn man diese verknüpft, kann Integration besser funktionieren.” www.spirit-of-football.de XX median Verwaltung 53 Integration als Teamarbeit Der Migrationsbeirat des Altenburger Landes vernetzt die verschiedenen Akteure zum hema Integration. Durch abgestimmte Angebote sollen Flüchtlinge im Landkreis gehalten werden. Text: Marcus Hengst / Foto: Altenburger Land Überall in Deutschland widmen sich unzählige ehrenamtliche Akteure, soziale Organisationen und staatliche Behörden der Integration von Flüchtlingen. Doch oft fehlt es im bürokratischen Alltag an einer Institution, welche die verschiedenen Aktivitäten und Informationen koordiniert und als zentrale Anlaufstelle dient. Um diese Lücke zu schließen, wurde Ende 2015 im Landkreis Altenburger Land ein Migrationsbeirat ins Leben gerufen. Dieser soll dabei helfen, die Arbeit der verschiedenen Akteure besser abzustimmen und die Integrationsangebote im Landkreis weiter auszubauen. „Mit der Zuwanderung oft junger Menschen verbindet sich für unseren Landkreis, der bundesweit einen der höchsten Altersdurchschnitte aufweist, ein großes demografisches Potenzial. Doch 2015 sind bei knapp 1.300 Asylbewerbern lediglich sieben Flüchtlinge mit einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung auch im Altenburger Land geblieben”, erklärt Ivy Bieber, Migrationsbeauftragte des Landkreises und zweite Vorsitzende des Migrationsrates. Um das zu ändern, bedürfe es gezielter und abgestimmter Angebote und Hilfestellungen zur Integration. „Die Menschen, die zu uns kommen, brauchen eigene Wohnungen, Arbeit, Unterstützung bei der Suche nach Kindergarten-, Schul- und Ausbildungsplätzen und Angebote zur gesellschaftlichen Teilhabe”, so Ivy Bieber weiter. Um das zu erreichen, hat Ivy Bieber mit ihren Mitstreitern bereits Struktur in die vielen ehrenamtlichen Aktivitäten im Altenburger Land gebracht. Zum Beispiel gibt es nun in allen Kommunen Ansprechpartner für die Bereiche Migration und Integration, die in engem Kontakt mit der Migrationsbeauftragten stehen. Mittlerweile beschäftigt der Fachdienst Flüchtlinge/Aussiedler des Landkreises darüber hinaus acht Sozialarbeiter in Altenburg und Schmölln. Außerdem wurde ein Modellverfahren etabliert, dass zukünftig die zentrale und schnelle Bearbeitung von Asylanträgen sicherstellen soll. Um die Integrationsmöglichkeiten für Migranten im Altenburger Land zu verbessern, berät der Migrationsbeirat den Kreistag und seine Ausschüsse in fachlichen Fragen zum Ivy Bieber, Migrationsbeauftragte des Landkreises Altenburger Land. Thema Migration und tritt im politischen Prozess als Interessenvertreter für Flüchtlinge auf. Dem 16-köpfigen Gremium unter Vorsitz der Landrätin Michaele Sojka gehören neben Mitgliedern des Kreistages, Vertretern von freien Trägern aus der Migrationsarbeit wie der Caritas und der Diakonie sowie des Landratsamtes auch vier Flüchtlinge an. Vier- bis fünfmal im Jahr wird der ehrenamtliche Beirat zukünftig zusammenkommen, um über aktuelle Herausforderungen zu beraten. Neben dem Ausbau der konkreten Angebote zur Integration steht für Ivy Bieber dabei auch die Etablierung einer Kultur des offenen Miteinanders im Fokus: „Beide Seiten können viel voneinander lernen, wenn sie sich zuhören. Dazu braucht es eine offene Atmosphäre und gegenseitige Akzeptanz”, ist die Migrationsbeauftragte überzeugt. www.altenburgerland.de XX 54 median Kultur Vom Zauber der Musik Bach meets Orient: In Jena setzen syrische und einheimische Musiker auf die verbindende Kraft der universellsten Sprache der Menschheit. Der Slowene Mitja Ficko vor seiner Atelierwand. Die Residenz funktioniert wie eine große WG von Kunstschaffenden aus aller Welt. Kultur median 55 56 median Kultur Kultur median 57 Text: Janet Schönfeld / Fotos: Tom Schulze Die Tür steht offen. Jeder, der möchte, kann einfach hereinkommen, kann in das schöne Zimmer treten, kann um das Cembalo herum Platz nehmen und die Wärme und Gemütlichkeit atmen, die das Holz und die Bücher ausstrahlen. Der Raum füllt sich. Um die vierzig Menschen, junge, ältere, Menschen aus anderen Ländern, anderen Kulturen, haben sich an diesem Abend in Jena zusammen gefunden, in der Wohnstube von Cornelie Mier. Es ist die Lange Nacht der Hausmusik, die im Rahmen der Thüringer Bachwochen schon zu einer Tradition geworden ist. Gemeinsam musizieren, in privaten Häusern, wie zu Zeiten Johann Sebastian Bachs. Bei Cornelie Mier begegnet Bach an diesem Abend dem Orient. „Ich möchte die Kulturen zusammenbringen”, sagt die Gastgeberin, „und wie kann man das besser als mit Musik. Sie ist die Muttersprache der Menschheit.” Cornelie Mier hat syrische Musiker eingeladen, „weil sie auch so wunderbar improvisieren können wie Bach.” Einer der Künstler ist Ghays Mansour. Ihn begleitet Hesham Hamra an der Oud, einer orientalischen Laute. Sie erzählen mit ihrer Musik von Damaskus, von ihrer Stadt. Eine Stadt, die sie die Liebe, die Kunst und die Freiheit lehrte, sagen sie. Sie werden für die Menschen ohne Heimat singen, für die Liebe in Zeiten des Krieges und von der Schönheit ihres Landes. Sie möchten Brücken bauen zwischen den Herzen. Und vielleicht ein paar verzerrte Bilder geraderücken. Auch ohne ein Wort Arabisch kann man diesen unerschöpflichen Kosmos an Poesie und Seele fühlen, der nicht nur eine Kunstform ist, sondern auch ein Lebenselixier zu sein scheint. Die klassische arabische Musik ist ein meisterhaftes Miteinander von Rhythmen und Klangwelten, mal zart und leise, mal freudig und voller Temperament, auf hohem musikalischen Niveau. Und mit viel gefühlsbetontem Gesang, der ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Ghays Mansour, der Sänger mit der außergewöhnlichen Stimme, war Profimusiker in Syrien. Mit sieben Jahren hat er sich in die Lieder seiner Region verliebt. Sein Vater, ein Dichter, hörte gern Klassik, und wenn er seine Kassetten einlegte, sang der kleine Ghays damals schon mit. Der Junge hatte schlechte Noten in der Schule. Weil er nicht mochte, was gelehrt wurde. „Immer die Wahrheit des Systems”, sagt er und meint damit nicht nur das syrische. „Das Leben ist meine Universität. Nirgendwo anders kann man mehr lernen.” Der Cornelie Slowene Mier Mitjaveranstaltet Ficko vor seiner HausmusikAtelierwand. Die Residenz funktioniert wiesyrischen eine großeMusikern. WG von Kunstschaffenden aus aller Welt. abende mit Damaskus, das ist für ihn der Duft von blühendem Jasmin, schwärmt der 22-Jährige in einem Gespräch nach dem Auftritt und bindet sich sein dickes, schwarzes Haar zusammen. „Es ist der Rauch von Apfeltabak aus Wasserpfeifen, 58 median Kultur Kultur ungewohnt. „Wir wollen nicht bewerten, was von beidem besser oder schlechter ist. Es wird ein gegenseitiger Austausch werden, ein Aufeinander-Zugehen”, sagt Friedrun Vollmer. Ihr nächster Plan ist die Integration von jugendlichen Geflüchteten in bestehende Ensembles, in Bands und in Orchester. In den Flüchtlingsunterkünften soll es für Kinder musikalische Früherziehung geben und in den Kindertagesstätten soll der Dialog zwischen arabischen und deutschen Müttern gefördert werden. Unterstützt wird dieses Projekt aus Bundesmitteln des Programms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung” und aus Lan- median 59 Menschen vor, die schon vor Generationen – aus welchen Gründen auch immer – nach Jena kamen.” Er habe auf seinem schweren Weg von Syrien nach Deutschland oft das Gefühl gehabt, er könne niemandem mehr vertrauen, erzählt Ghays Mansour. Er hat sein Vertrauen wiedergefunden, durch die Musik und die Begegnungen mit wunderbaren Menschen, die ihm hier geholfen haben, Fuß zu fassen. Es sind Begegnungen wie die im Wohnzimmer von Familie Mier, bei denen man etwas ungeheuer Einfaches tut: miteinander reden. „Es war ein unglaublich herzli- »Sie haben mich nicht erwischt. Ich lebe noch. Und nun hat mich das Leben nach Jena gebracht.« Ghays Mansour Wanderer zwischen zwei kulturellen Welten: Der syrische Sänger Ghays Mansour kam von Damaskus nach Jena und brachte seine Musik mit. es sind die jahrhundertealten Basare mit ihren Bergen an Gewürzen und frisch gebrühtem Kardamomkaffee, es ist das Herumsitzen-und-der-Welt-Zusehen, es sind die verwinkelten Gassen, die Kirche neben der Moschee, die tausende Jahre alte Geschichte, und ja, es ist die Poesie, die Musik.” Und dann lacht er, Damaskus, das können aber auch zwölf Stunden Stromausfall sein. Vor allem ist es das Damaskus von vor dem Krieg. Aus einer Zeit, in der der junge Student einfach zur Universität gehen konnte, ohne die Angst, dass ihn Scharfschützen unterwegs erschießen. „Früher war das ein Weg von zehn Minuten, irgendwann dauerte er durch die vielen Checkpoints zwei Stunden”, erzählt er und schaut melancholisch aus seinen großen Augen. Dann zuckt er mit den Schultern und lächelt: „Sie haben mich nicht erwischt. Ich lebe noch. Und nun hat mich das Leben nach Jena gebracht, und darüber bin ich sehr froh.” Auch für ihn war es die berüchtigte Überquerung des Mittelmeers in einem übervollen Schlauchboot. „Wir hatten Glück”, sagt er in gutem Deutsch, „die See war ruhig an diesem Tag.” Bis zu seiner Flucht vor anderthalb Jahren spielten sie noch mit ihrem Ensemble Soul Trio, während die Bomben fielen. „Was will man auch machen”, sagt er, „du kannst den Krieg nicht dein ganzes Leben beherrschen lassen.” Es gab Momente, da saß er mit Freunden in einem Café und rauchte Wasserpfeife und ein paar hundert Meter weiter tobten die Kämpfe. Fast drei Monate dauerte die Flucht. Sein Vater, seine Mutter und sein Bruder sind noch in Damaskus. Manchmal, wenn sie telefonieren, kann er die Bomben durchs Telefon hören. desmitteln der Thüringer Staatskanzlei. Und dann möchte sie noch in den nächsten fünf Jahren den Bereich Weltmusik an der Jenaer Musik- und Kunstschule ausbauen. „Mir schwebt eine lebendige Zusammenarbeit von Vereinen und ches Geschnatter in der Pause, aus dem viele bereichernde Verbindungen entstanden sind”, freut sich Cornelie Mier. www.mks.jena.de XX Jetzt gibt Ghays Mansour Konzerte in Deutschland. Er sieht sich als Botschafter des Humanismus, erinnert die Menschen bei seinen Auftritten daran, dass es nicht um Religionen geht und dass es keine Zäune braucht als Grenzen zwischen den Ländern, sondern Respekt als Grenze zwischen den Menschen. Wir haben schließlich nicht selbst entschieden, an welchem Flecken Erde wir geboren werden wollten. Er hat nun eine Aufenthaltsgenehmigung für die nächsten drei Jahre, teilt sich mit einem Freund eine Wohnung in Jena und hat nicht nur in Musikerkreisen viele Freunde gefunden. Bei einem Konzert im Zirkuszelt des Jenaer Kinder- und Jugendzirkus MoMoLo begegnet er Friedrun Vollmer, der Direktorin der hiesigen Musik- und Kunstschule. Die Schule hatte bereits 2015 ein Flüchtlingsprojekt ins Leben gerufen, für Jugendliche, die mit ihren Familien in Jena sind. Neben einem intensiven Sprachkurs konnten diese in Musik- und Kunstangeboten ihre Gedanken und Gefühle zur Flucht und zu ihrer neuen Rolle in Deutschland ausdrücken, die sich oft in Entwurzelung und schweren Identitätskrisen zeigt. Nun wird Ghays Mansour einen Workshop an der Schule geben, um der arabischen Kultur mit europäischen Instrumenten nachzuspüren. Denn diese klassische Musik aus dem Orient, mit ihrem so andersartigen Tonsystem, ihrem eigenen Rhythmus und den hier eher unbekannten traditionellen Instrumenten, klingt in westlichen Ohren In Jena treffen Bachs Barockwerke auf die Klänge syrischer Musik. 60 median Kultur Kultur median 61 Kulturtipps Tipp de r Reda ktion Aufbruch in die Moderne Region Sachsen-Anhalt als gemeinsames Themengelände in Szene. Bis zum großen Jubiläum soll außerdem die Sammlung des Bauhauses, von der aus Platzgründen bisher nur ein kleiner Teil gezeigt werden kann, eine neue Präsentationsfläche erhalten. Für 25 Millionen Euro entsteht im Stadtpark von Dessau-Roßlau ein neues Museum, in dem die mit rund 40.000 Exemplaren zweitgrößte BauhausKollektion der Welt ein neues Zuhause finden soll. Mit ihrem Entwurf eines schwarzen Kubus mit schlichter Glashülle setzte sich das spanische Architekturbüro Gonzalez Hinz Zabala in der internationalen Ausschreibung gegen 800 weitere Einreichungen aus insgesamt 60 Ländern durch. www.bauhaus-dessau.de XX „Wenn ich nicht gewesen wäre, nimmer wäre es mit Luthero und seiner Lehr so weit kommen”, sagte der Theologe und Historiker Georg Spalatin von sich selbst. Ob die Beeinflussung der Obrigkeiten zugunsten der Erneuerungsbewegung oder die berühmte Unterbringung Luthers auf der Wartburg – Spalatins Geltung für die Reformation ist unumstritten. Grund genug, ihm zur Lutherdekade eine Sonderausstellung zu widmen. „Georg Spalatin – Martin Luthers Weggefährte in Altenburg” lädt ganzjährig in das Altenburger Residenzschloss, um dem Leben und Wirken des Gelehrten nachzuspüren. Mit einer musikalischen Zeitreise wartet die Lutherstadt Wittenberg in der Vorwoche zur Reformationsfeier auf. Vom 22 . bis zum 31. Oktober findet hier das „Renaissance Musikfestival” statt, bei dem Weltklassekünstler und Jungmusiker Konzerte vor der Kulisse historischer Spielorte geben. Darüber hinaus bietet das Programm Ausstellungen, Meisterkurse und Workshops mit Instrumentenbauern. Den Höhepunkt des Festivals bildet ein höfischer Ball im stilechten Ambiente des 16. und 17. Jahrhunderts mit authentischen Gewändern, Schmaus und Musikaufführungen. www.residenzschloss-altenburg.de www.wittenberger-renaissancemusik.de XX Termine 30. Juli 2016 „Merseburger DomMusik 2016“ Merseburger Dom „Johann Sebastian Bachs berühmte Goldbergvariationen in einer neuen klangräumlichen Adaptation bis 04. September 2016 Sachsen und Böhmen im Spiegel der Kunst um 1500 Kunstsammlungen Chemnitz Länderübergreifende Ausstellung in Kooperation mit der Nationalgalerie Prag über den kulturellen und sozialen Austausch zwischen Sachsen und Böhmen bis 10. Januar 2017 „Magie des Augenblicks“ Kunstmuseum Moritzburg, Halle (Saale) Werke von Matisse, Cézanne, ToulouseLautrec und van Gogh verwandeln die Moritzburg in einen Pariser Salon. Jena feiert ZEISS Emil Theis: Großflugzeug G 38 in Dessau, 1930er Jahre MELT!-Festival 2016 Ein blitzendes Lichtermeer und pulsierende Beats – Vom 15. bis 17. Juli 2016 erwacht die „Stadt aus Eisen” wieder zum Leben. Heiße Newcomer und internationale Größen treffen unter den Stahlgiganten in Ferropolis aufeinander. Ausschweifender Musikgenuss, die Grenzen zwischen laut und leise, Elektro, HipHop und Indie, Mainstream und Subkultur lösen sich auf. Besucher des MELT!-Festivals Renaissance live XX www.meltfestival.de XX Fotos: Emiel Theis, Melt! Festival GmbH & CO. KG , Residenzschloss Altenburg, Corinna Kroll Das Bauhaus, eine der bedeutendsten Schulen von Architektur, Design und Kunst, nimmt Kurs auf sein 100-jähriges Gründungsjubiläum. Den Auftakt für ein mehrjähriges, thematisches Programm bildet ab dem 04. Mai die Sonderschau „Große Pläne!” Die angewandte Moderne in Sachsen-Anhalt”, welche die Stimmung der ersten Bauhaus-Jahre und seinen visionären Versuchscharakter einfängt. Die Besonderheit der Ausstellung liegt in der räumlichen Verteilung der Präsentationsplätze. So werden unter Leitung der Bauhaus-Stiftung Dessau an verschiedenen Korrespondenzstandorten wie Halle, Merseburg, Leuna und Quedlinburg die unterschiedlichen Perspektiven zur Kunsthochschule jeweils ortsspezifisch herausgearbeitet. In diesem Verbund spiegelt sich auch das historische Zusammenspiel unterschiedlichster Bauhaus-Akteure und -Orte wider, die einen entscheidenden Einfluss auf die Kunsthochschule hatten. Aufgearbeitete historische Exponate, Installationen und Performances setzen so die Spalatins Erbe Urbane Kunst in Zwickau Die aktuelle Kabinettausstellung der Zwickauer Galerie am Domhof zeigt bis zum 07. August 2016 unter dem Titel „Sprühlack auf Leinwand” Malereien und Skulpturen verschiedener Künstler/-innen aus dem Bereich Urban Art. Als kulturelles Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts haben Graffiti, Schablonenkunst oder Skulpturen im öffentlichen Raum einige Städte zu großen Freiluftgalerien mutieren lassen. Was zuweilen als Zerstörung von Privateigentum und Vandalismus empfunden wird, hat parallel aber auch den Sprung auf die Leinwände und so in die Galerien der Welt gefunden. TASSO (Jens Müller), die GEBRÜDER ONKEL (Robby und Marcel Otl), TASKONE (Rico Gruner) und BEASTIE (Nadja Voss) zeigen in sensiblen bis widerspenstigen Werken die verschiedenen Gangarten der urbanen Künste. www.galerie-zwickau.de XX Es begann mit der Eröffnung eines kleinen mechanischen Ateliers in Jena, in dem ein junger, naturwissenschaftsbegeisterter Mann neue Lupen aus Spiegelglas schliff und einfache Mikroskope herstellte. Heute zählt ZEISS zu den international führenden Firmen der feinmechanisch-optischen Industrie. Zu Ehren des 200. Geburtstags von Firmengründer Carl Zeiss organisiert das Unternehmen zusammen mit den Institutionen der Stadt Jena noch bis September zahlreiche Sonderveranstaltungen und Aktionen. Neben thematischen Führungen auf dem Firmengelände, seltenen Archivöffnungen und Ausstellungen im Stadtmuseum können sich Interessierte in verschiedenen Vortragsreihen und Workshops ein Bild von der Gründerfigur machen. www.zeiss.de/carlzeiss200 XX 62 median Service Service median 63 Terminkalender Partner der Wirtschaft Aktuelle Messen, Tagungen, Workshops und Events aus den Bereichen Wirtschaft und Wissenschaft in Mitteldeutschland Die Wirtschaftsförderer in der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland beraten Unternehmen und Investoren zu allen Fragen rund um Ansiedlung und Standortmanagement. Wirtschaft 06. bis 07.07.2016 9. SYMPOSIUM MOTOR- UND AGGREGATE-AKUSTIK Gesellschaftshaus Magdeburg Plattform für Automobilhersteller, Zulieferer, Dienstleister und Hochschulen 18.08.2016 ENIGMA – Erste IT-Sicherheitskonferenz Mitteldeutschland Magdeburg Sicherheitslösungen für Unternehmen, Institutionen & öffentliche Einrichtungen 07.09.2016 9. ACOD-Kongress Gläserne Manufaktur Dresden Zukunft der Automobilindustrie – Digitalisierung in der Produktion und im Produkt 22.09.2016 Investforum Pitch-Day 2016 Magdeburg, Johanniskirche Matchingveranstaltung für Beteiligungskapital in Mitteldeutschland 05. bis 07.10.2016 G-FORUM 2016 HHL Leipzig Graduate School of Management 20. Jahreskonferenz zu Entrepreneurship, Innovation und Mittelstand 25.10.2016 bis 26.10.2016 INOVA 2016 – Das Karriereforum für Mitteldeutschland TU Ilmenau Ausgewählte Unternehmen präsentieren sich den Studenten der TU Ilmenau 03.11.2016 Zwickauer Wirtschafts- und Industriekontakte 2016 (ZWIK) Stadthalle Zwickau Recruiting- und Karrieremesse für Studenten, Absolventen und Young Professionals in Mitteldeutschland Wissenschaft 30.06.2016 bis 03.07.2016 RoboCup 2016 Leipziger Messegelände Führender und größter Wettbewerb für intelligente Roboter 01. bis 02.07.2016 Lange Nacht der Wissenschaften Halle (Saale) Entdeckungstour in Labore, Institute, Museen, Kliniken und Bibliotheken Mehr Termine Online-Kalender Scannen Sie den QRCode für weitere Termine auf der Webseite der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland. Stadt Halle (Saale) Wirtschaftsförderung Telefon: 0345 221-4760 Web: www.wirtschaft-halle.de 21. bis 25.08.2016 6th International Congress on Ceramics (ICC6) Internationales Congress Center Dresden Ideen und Visionen zur Zukunft der Keramik und anorganischen Materialien 18. bis 19.10.2016 bionection 2016 – Partnering-Konferenz für Technologietransfer Halle (Saale) Innovative Ideen der Life Sciences-Branche und mögliche Finanzierungsmodelle 27. bis 28.10.2016 10. Jenaer Lasertagung Konferenzzentrum Ernst-Abbe-Hochschule Jena Aktuelle Trends auf dem Gebiet der Lasermaterialbearbeitung Stadt Dessau-Roßlau Amt für Wirtschaftsförderung, Tourismus und Marketing Telefon: 0340 204-2080 Web: www.dessau-rosslau.de Stadt Gera Fachdienst 1200 Wirtschaftsförderung/Stadtentwicklung Telefon: 0365 838-1201 Web: www.gera.de 06. bis 08.07.2016 BIS 2016 – 19th International Conference on Business Information Systems Universität Leipzig Wirtschaftsinformatik-Konferenz zum Thema „Smart Business Ecosystems” 11. bis 14.09.2016 ESOPS20 – 20TH EUROPEAN SYMPOSIUM ON POLYMER SPECTROSCOPY Dreikönigskirche Dresden Entwicklungen und Anwendungen der spektroskopischen Charakterisierung und Analyse von Polymersystemen CWE – Chemnitzer Wirtschaftsförderungsund Entwicklungsgesellschaft mbH Telefon: 0371 3660-200 Web: www.cwe-chemnitz.de Wirtschaftsförderungsgesellschaft Jena mbH Telefon: 03641 87300-30 Web: www.jenawirtschaft.de Stadt Leipzig Amt für Wirtschaftsförderung Telefon: 0341 123-5810 Web: www.leipzig.de/wirtschaft Stadt Zwickau Büro für Wirtschaftsförderung Telefon: 0375 83-8000 Web: www.zwickau.de Saalekreis Referat Verwaltungssteuerung/Wirtschaft Telefon: 03461 401005 Web: www.saalekreis.de Altenburger Land Landratsamt Altenburger Land Wirtschafts- und Tourismusförderung Telefon: 03447 586285 Web: www.altenburgerland.de Landkreis Leipzig Stabsstelle des Landrates/ Wirtschaftsförderung Telefon: 03433 241-1051 Web: www.landkreisleipzig.de Burgenlandkreis Wirtschaftsamt Telefon: 03445 73-1308 Web: www.burgenlandkreis.de Wirtschaftsförderung Sachsen GmbH Telefon: 0351 2138-0 Web: www.wfs.sachsen.de IMG Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt mbH Telefon: 0391 56899-0 Web: www.investieren-insachsen-anhalt.de Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen mbH Telefon: 0361 5603-0 Web: www.invest-in-thuringia.de Wirtschaftsförderungsgesellschaft mbH des Landkreises Wittenberg i. L. Telefon: 03491 462393 Web: www.wfg-wittenberg.de Impressum 5. Jahrgang, Ausgabe 7 In der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland engagieren sich strukturbestimmende Unternehmen, Städte und Landkreise, Kammern und Verbände sowie Hochschulen und Forschungseinrichtungen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit dem gemeinsamen Ziel einer nachhaltigen Entwicklung und Vermarktung der traditionsreichen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturregion Mitteldeutschland. www.mitteldeutschland.com XX Herausgeber: Metropolregion Mitteldeutschland Management GmbH Schillerstraße 5 04109 Leipzig Telefon: 0341 60016-0 Telefax: 0341 60016-13 E-Mail: info@mitteldeutschland.com Web: www.mitteldeutschland.com Geschäftsführer: Jörn-Heinrich Tobaben, Reinhard Wölpert Konzeption und Redaktionsmanagement: trurnit Leipzig GmbH Uferstraße 21 04105 Leipzig Telefon: 0341 2539780 Web: www.trurnit.de Art Direction: DIE AUSSICHT Heinrich-Budde-Straße 29 04157 Leipzig E-Mail: alexander.dornheim@dieaussicht.de Autoren: Ute Bachmann, Kai Bieler, Dörthe Gromes, Marcus Hengst, Katharina Kleinschmidt, Uwe Krüger, Tobias Ossyra, Janet Schönfeld, Kathrin Sieber, Katja Trumpler Fotografen: Michael Bader, Christian Hüller, Jens-Ulrich Koch, Tom Schulze, Toni Söll Titelfoto: Alexander Dornheim Lektorat: Mirjam Becker www.textdoc.de Druckerei: Grafisches Zentrum Cuno GmbH & Co. KG Auflage: 8.500 Exemplare Redaktionsschluss: 20. Mai 2016 ph1.de Standort mit Standpunkt: Jede Kultur verdient Akzeptanz – und jeder Mensch in Not unsere Solidarität. Unsere Region heißt Menschen aus aller Welt willkommen. Dafür stehen wir. Hier und jetzt und in Zukunft. 6 3 www.mitteldeutschland.com ,QJHQLHXUH $UFKLWHNWHQ 'UHVGHQ /HLS]LJ 3RWVGDP =ZLFNDX In der EUROPÄISCHEN METROPOLREGION MITTELDEUTSCHLAND engagieren sich Unternehmen, Städte und Landkreise, Kammern und Verbände sowie Hochschulen und Forschungseinrichtungen aus SACHSEN, SACHSEN-ANHALT und THÜRINGEN.