maedchen regencape tragen muessen
Transcription
maedchen regencape tragen muessen
Behind the door was another door and behind that was another. (Matthew Sweeney) Eine Reise nach Forest Row Die Fingernägel sind geschnitten, auch die der rechten Hand, ein Tag vor der Reise. M., die ihm die Schere lieh, hatte es wohl nicht in Verbindung mit seiner Abreise gebracht. Aber, er führe ungern mit zu langen Fingernägeln, sagte er, und: Zu frisch geschnitten ist bei den SynthetikFunktions-Kleidungsstücken auch nichts. Gleich ist es 21:00 Uhr. Fast genau vor acht Tagen saß er schon einmal hier auf dem Bett im Zimmer Nummer 6. Irgendjemand hatte den Zimmerschlüssel mitgenommen – er darf einen Ersatzschlüssel benutzen, den aber nicht mit außer Haus nehmen. Vor einer Woche, als er ankam, war es etwa 21:30 Uhr. Er war angekommen - aber wie! Mit seinem Telefon hatte er ausgerechnet, dass 30 Meilen ungefähr 48,2 km betragen, 40 Meilen dann schon 64,3 km - also der Umrechnungsfaktor ist 1,6. Wieder der erste, der an Bord geht als Passagier. Die Rampe hoch: Normaler Gang, in den Stand, kein Wiegetritt (wegen den schweren Packtaschen an beiden Seiten, geübt auf dem Weg von Forest Row nach Dover, immer dann, wenn er verließ die Hauptstraßen (englischte er hier?) und die Nebenstraßen nur noch auf und ab führten), hinter ihm all die wartenden Menschen in ihren Autos, eingereiht in Gang X bis Gang 52. Bis oben würde er es schaffen im Stand, im geschalteten Gang – all die Blicke, sie werden da sein, wohin sollten sie auch sonst gerichtet sein nach der Wartezeit in der Schlange, schieben ihn nach oben, er spürt es, es drückt in den Rücken, angenehm, ein warmer Druck. Ein Vogelschwarm gleitet über das Wasser, berühren die Vögel das Meer? Formiert zu einer Eins, den Zugvögeln gleich. Eben sah er erstmals auf den Weg nach Dunkerque das Festland, dachte an den 6. Juni 1944, dachte, was bedeutet es, überhaupt daran zu denken und wie. War es ihm auf der Hinreise überhaupt eingefallen? An seinen Vater hatte er da gedacht, auf der Fahrt nach Calais - gegen den Wind, gegen die Zeit, im Regen! Türme, Industrieanlagen, aber die Fähre fuhr nicht darauf zu, ließ all dies „rechts liegen“. Zwei Inseln gleich am Horizont deuten beim Näherkommen auf riesige Tanks. Dazwischen unbewegliche Giraffen. Zwei sich von einander abwendend. Immer wieder Forest Row - Biografiearbeit mit den Menschen hier an den Tischen? So viele Körper. Geist und Körper. Kleider machen Leute? Körper machen Leute? Lothar Flachmann, September 2013 1(38) Bestimmt ein Dutzend hoher Kräne um drei Tanks. Feuer aus zwei Schornsteinen. Erinnerung an den nächtlichen Traum, ohne Inhalt, nur als Gefühl – auch das nicht beschreibbar, einer Ahnung nur. Ein Hafen ohne Stadt. Rechts grün, links rot: Ein sicherer Hafen. Manchmal ist er nicht zu sehen, der Turm von Diksmuide (Yserturm 1), „AVVVK“ steht daran). Bäume, kleine Unebenheiten. Die Kühe, jetzt links, erkennen ihn wieder, er sieht es; sie scheinen auf ihn gewartet zu haben. Die Frau sitzt weiterhin vor Ihrem PC! Dunkle, dunkle nicht bis hierher - ein Anruf an dies Grau über ihm. Von der Meeresseite her – wie der Wind. Der Turm bei Diksmuide: Selten fuhr er direkt darauf zu, dachte an das Schützengrabensystem. Die Frau, die ihm öffnete, die ihn einwies in die Besonderheiten des Hauses, z. B. die extrem schmalen Stufen der Außentreppe, das kleine Tor in einer Art Stadtmauer, hatte, als er sich an den Frühstückstisch gesetzt hatte, gefragt, ob sie sich dazu setzen dürfe, sie hätte auch noch nicht gegessen. Sie sagte da - und er musste grad daran denken - schauen Sie die Soldatenfriedhöfe an, wie sich die unterscheiden: Ein deutscher sieht anders aus als ein französischer … Viele Hinweisschilder. Etliche dieser Friedhöfe waren nahe der Straße, eben noch kam er an einem vorbei: Links, auf dem ein paar Menschen zwischen den Tafeln umhergingen. Vor 99 Jahren – solange wir ein Erbbaurecht laufen kann. Wo er wohnt, kauft man ein Grab für 25 Jahre. Jetzt erst, wo ich dies aufschreibe, fallen (und schon eine Assoziation bei diesem Wort) mir andere Friedhöfe ein: Judenfriedhöfe in der Nähe von Xanten. Bei zweien hatten wir – im Mai war es – angehalten, die Räder abgestellt, angelehnt einmal an einem frisch gestrichenen Lattenzaun, beim anderen stehen gelassen auf dem kleinen Schotterweg vor der noch nicht geschnittenen hohen Hecke, waren zwischen den verwitterten und weiter verwitternden Grabsteinen umhergegangen, Sonnenlicht erhellte fleckenhaft das schon recht hoch stehende Gras beim einen. Unten an der Hauptstraße war ihnen das Hinweisschild schon vorher 1 ) Yserturm Der neue Yzerturm von 1965. Der Yserturm (niederländisch IJzertoren) ist ein Mahnmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen flämischen Soldaten der belgischen Armee. Es befindet sich auf dem Gebiet von Kaaskerke, einer Teilgemeinde der Stadt Diksmuide, direkt am Fluss Yser und ist 84 m hoch. Der Turm wurde 1930 eingeweiht. Er entwickelte sich rasch zu einem wichtigen Versammlungsort der Flämischen Bewegung und ist besonders mit der politischen Wallfahrt IJzerbedevaart verbunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Yserturm 1946 durch einen Sprengstoffanschlag zerstört. Aus seinen Trümmern wurde 1950 das Friedenstor errichtet. Der Bau des heutigen Yserturms begann 1951, nur wenige Meter von den Resten des ursprünglichen Turms entfernt. Die Grundsteinlegung erfolgte 1952. Eine neue Gruft wurde 1958, der Turm selbst 1965 eingeweiht. (Quelle: Internet, Wikipedia) Lothar Flachmann, September 2013 2(38) aufgefallen, das eingebettet war von einem frischen Blumenbeet – ein alter Mann pflege es, sagte man uns. 100 Jahre, 99 Jahre, nur ein Jahr dazwischen: Aber welch andere Bedeutung im Alltag! Dunkle Wolken – ihm war ein Traum eingefallen, ein Traum in die Zukunft: Er hatte das noch bevorstehende Training vergessen. Allein im Wohnzimmer: Vier Etagen Schweine: Porzellan, Ton, Glas. Vor ihm auf dem Tisch: Yaourt & Fruit: Fraise-Aardlei, Cerise-Kres. “A house it not a home without a Mastiff”, las er. Berglandschaft an der Wand gegenüber: Berg mit Schnee, Wildbad, Tannen. Auf der Packung: GOURMET Aufgetragen auf die helle Schicht Streichkäse – ob Kers oder Rode bes, es vermischt sich zu einer Farbe, die er nicht lassen will als Frühstücksbild. Sieben Jahre der Mastiff – alt für diese Rasse, diese großen Hunde. Was ist Hund, was ist (Wasch-) Bär? Die Katze saß plötzlich auf der Sofalehne, Couchgarnitur, sagt man wohl zu diesem Gebilde, das ein ganzes Zimmer ausfüllen kann. An dem riesigen Tisch hatte er königlich allein Brot, Brötchen, Käse, Kaffee gegessen, getrunken – nun war der leere Raum ausgefüllt von der lebenden Masse: Mastiff. Sie hielt diese Masse davon ab, ihn zu besabbern, er war ihr dankbar dafür – hatte nur eine Hose dabei auf der Reise. Eine Katze war aufgestellt die letzte halbe Stunde neben dem als Pferd geformten Metall auf dem Sims des Kamins, silbergrau und leuchtend gelbes Halsband (so seine Erinnerung). Was ist schon silbergrau? Sie vertragen sich – sollte es anders sein? Manchmal, nur selten, würde sie ihn ärgern: In spärlichem Englisch, spräche sie holländisch – vielleicht könnte er sie besser verstehen, platt versteht er ja. Holländisch-flämisch sprächen Sie hier, sie komme von ihr, woanders eher französisch. Am Abend dieses Unwetter - es war doch noch rüber gekommen! Sein Spurt hatte sich also doch gelohnt, auch wenn er danach erschöpft gewesen war. Sie hatte ihm noch angeboten, sich in den Garten zu setzen. Von wegen: Duschen, etwas essen, den folgenden Tag vorbereiten. Er hatte einige Zeit am Fenster gestanden. Weit konnte er nicht sehen, auch nicht vor dem Unwetter. Warum hatte sich noch nicht das Vordach repariert? War es noch nicht dazu gekommen oder wusste es nicht mehr wie das geht? Brussel-Nord, eben Brussel-Central, davor noch was aus Brussel. Schreiende Kinder, lachende Jugendliche, hin-und her laufende Menschen. Was ist bedrohlicher? Die hingeklotzten Hochhäuser oder die heruntergekommenen und teilweise leer stehenden Häuser hier? Und immer noch kein Regen. Am Abend war es ihm gelungen mit mehreren fernen Bedienungen Bilder auf Lothar Flachmann, September 2013 3(38) dem Bildschirm eines klobigen Gerätes erscheinen zu lassen. Schon bald erläuterte eine nette Frau ausgiebig den Wetterbericht bis zum Samstag. Seite 9: 2) Der morgige Tag würde demnach der feuchteste werden: Nur Regen! Auch die folgende Begebenheit sollte bezweifelt werden. Viele werden Sie bereits kennen, häufig habe er sie da und dort erzählt – Ein paar Kugeln des Atomiums3) im Nebel nicht klar zu erkennen – vielleicht ist heute diese Sichtweise sogar die anschaulichere? Mag sein, dass er sie von häufigen Wiederholungen nun selbst als wahre Geschichte annehme?! Irgendjemand versucht auf der Autobahn mit dem Auto (VW) schneller zu sein als der Zug. Der Zug ruckt regelmäßig so stark, dass er meint, das sei nicht gut, da kann was kaputt gehen – und das bei (toller) voller Fahrt. Es wird ihm etwas schlecht sogar. Wird etwa schlagartig kurz der Elektromotor umgepolt? Verstreut stehen links die Kühe auf einer riesigen Weide und geben kein klares Bild ab. Proben Sie etwa für ein Standbild für das Fernsehgerät von gestern Abend? Er erinnerte sich: Auf dem Bahnsteig in Liège 4). Der IC in eine andere Richtung war lang gewesen – wo war denn das Fahrradabteil? Den „conducter“ fragen, hatte man ihm gesagt. Liège. Der Bahnhof von Liège. Diesen Bahnhof gibt es nur in Liège. Es ist auch nicht mehr der Bahnhof von Lüttich, es ist für ihn der Bahnhof von Liège. Mit dem Neubau ist es der Bahnhof von Liège und es gibt keinen Wagenstandsanzeiger an dem er ein Fahrradabteil ablesen könnte. Aber, jetzt weiß er wie es geht: Den “conducter“ finden wenn der Zug eingefahren ist, ihn ansprechen, er fragt dann "Wohin" – natürlich nicht in Deutsch. Drittletzter Wagen hatte er verstanden und startete eine Radtour zum anderen Ende des Bahnsteiges, es gab keinen Kiosk hier oben, egal, seine Trinkflasche war noch gefüllt und auch zu essen hatte er noch. Die üblichen Begegnungen auf so einem Bahnsteig eines größeren Bahnhofs: Ziellos umherirrende Reisende. Touristen, die ihrem Guide hinterher eilen, verlassenes Gepäck, das Tränenbäche auf den Bahnsteig hinauslässt. Das alles jetzt aber auf dem Rad und mit hoher Geschwindigkeit – der Zug hält ja nicht ewig! 48/15, gibt er die Übersetzung an! Also, da rast der über den Bahnsteig und zählt die Ritzel!? 2) Die Seitenzahlen beziehen sich auf Seitenangaben von irgendwelchen Notizblättern. Ich finde, sie stören. Er besteht aber darauf, dass sie bleiben sollen! 3) Atomium: Bei ihrer Errichtung waren die neun Riesenkugeln des Atomiums noch aus Aluminium. Anlässlich einer Renovierung wurden die Kugeln mit einer glänzenden Edelstahlhaut überzogen. Das Atomium stellt einen Elementarkörper eines Eisen-Moleküls dar, der 165 Milliarden Mal vergrößert wurde. (Über das Atomium kann man an vielen Stellen lesen.) 4) Santiago Calatrava – TGV-Bahnhof Liège Ein Fundstück von youtube, ein schönes Video zum neuen Bahnhof Liège, Belgien. (Hatte er sich angesehen und es mir sofort empfohlen) Lothar Flachmann, September 2013 4(38) Und: Als erfahrener Radfahrer, als der er sich ausgibt, fährt man nicht vorn auf dem großen Kranz auf dem Bahnsteig herum! Das Andere nehme ich ihm ab: Dass es an einer Stelle sehr eng ist, der Bahnsteig ist da zu schmal: Verbauung auf dem Bahnsteig (Stützpfeiler für das hohe Kuppeldach? Oder Bauten für andere Zwecke? Die Rolltreppe? – Wofür auch immer). Ihm war klar, er fuhr sehr dicht an einigen Menschen vorbei, die ihn sofort anfeuerten, so dass er noch schneller wurde. Eine Gruppe Kinder stob allein durch sein Herannahen auseinander – die Frau mittendrin wird Mühe gehabt haben, die Meute wieder zusammen zu treiben. Zwei Menschen, die schreiend ihren auf den Bahnsteig fliegenden Gepäckstücken gefolgt waren, in der Meinung, in den falschen Zug gestiegen zu sein, waren durch die Nachbartür wieder in den Zug hineingesprungen, als er mit quietschenden Bremsen vor dem Gepäckstücken und dann auch vor ihnen zum Stehen gekommen war. (Auftrager! Auftrager!) Fast am Ende des Bahnsteiges angekommen, zählte er die Waggons, wo jetzt einsteigen, jeder Waggon hat vorn und hinten Türen? Er steigt bei der nächsten Tür ein! (Welcher Zielbahnhof? Dann drittletzter Waggon – genauso war es gegangen!) Irgendwann kommt der Schaffner. Er schließt einfach, wo das Fahrrad steht, die Außentür und die Tür zum WC ab. Wo das Fahrrad steht ist jetzt das Fahrradabteil und es kommen noch mehrere hinzu - Fahrräder. Ein Fahrgast wartet lange vor der Toilette bevor er in den nächsten Waggon geht. Dann sagte er, du weißt wie das hier abläuft - jetzt beim zweiten Mal - hast eine halbe Stunde Aufenthalt auf diesem Bahnhof: Zeit und Raum (in Summe) genug und jetzt stell dir vor, wie du wahrnimmst! Ob das die Bauherren, die Architekten bedacht haben? Und schlug mit der rechten einen großen Bogen, als wolle er die Bahnhofskuppel nachzeichnen. Er wolle noch Daten liefern – mal sehen, ob er es tut. Angleur: Es regnet nicht, 15:36 Uhr zeigt die Kirchturmuhr. Die Bahn fährt so häufig über Bäche – ist es gar nur einer? Pepinster: Der breite und dann spitz zulaufende Bahnsteig. Die Überdachung lädt Regen ein, der auch hier nicht ist. 15:51 Uhr. Schon wieder der Bach. Lothar Flachmann, September 2013 5(38) Ein Fahrrad passt in diesen Schienenbus: Oben ein Haken, unten eine kleine Führung für das Hinterrad. Verviers-Central: ? Welkenraedt: 16:10 Uhr Hergenrath: Endlich regnet es (leicht). Aachen: Regen, 16:24 Uhr Der Zug: Aachen – Paderborn: „Is cancelled“! Seite 11: Endlich eine Störung - er ist dankbar (versucht es zu sein!). Das Automatenbedienungshilfspersonal fischte ihn aus der Warteschlange vor den Schaltern des DB-Reisezentrums. Er gab ihm die bereits gezogene Bedienungsreihenfolgenummer und bedankte sich für die Auskunft und Aufhebung der Zugbindung auf seiner Fahrkarte. Nur 20 Minuten würde er später ankommen. Nun aber die Umstiege in Düsseldorf und nicht in Hamm. In Düsseldorf kannte er sich ja nun auch schon aus, wusste um die zu kurzen Aufzüge, wo man Fahrräder nur mit Mühe hinein und herausbekommt. Der Schaffner verlangt die Fahrradkarte. Hatte vorher gefragt ob das Fahrrad von ihm sei. „Die hängt am Fahrrad.“ Das interessiere ihn nicht, er solle ihm die Karte zeigen. Er gibt ihm die Belege für Hin- und Rückfahrt. Damit könne er nichts anfangen, er möchte die Fahrradkarte sehen! „Die hängt am Fahrrad, da wo sie angebracht werden muss.“ Das wäre ihm neu. Er sagt, er solle zum Fahrrad gehen und schauen. Dazu hätte er jedoch keine Lust, sagte der Schaffner (forsch auftretend). Der Fahrradknotenpunkt „Zehn“ war im Zentrum von Diksmuide. Er kam die Straße entlang, die er schon kannte. Eben war er richtig abgebogen – auf dem Hinweg hatte er sich einmal vertan oder die Ausschilderung war nicht gut. Links die Pizzeria, die sie empfohlen hatte und dann zu hatte, gegenüber gab es noch eine – welch Glück – er war da reingegangen – warum denn nicht? Hatte es ihr am nächsten Morgen erzählt. Nur dies hatte er ihr erzählt – nichts von der jungen Frau, die dort hinterm Tresen stand, als er hereinkam und ihn begrüßte, so dass er gar nicht mehr hätte herausgehen können (wäre er wohl auch nicht, denn er hatte Hunger, richtig Hunger und es war für ihn schon fast zu spät um zu essen). Pizzeria, Bedienung – hierzu muss er unbedingt noch etwas sagen!! Seite 12: Lothar Flachmann, September 2013 6(38) Sie hatte ihm darauf hin gesagt, warum sie die andere empfohlen hätte. Das hatte sie ihm am Abend zuvor aber nicht gesagt, dachte er. Schöne alte Häuser um den zentralen Platz wurden von Sonnenstrahlen hervorgehoben – andere aber auch. Er fuhr etwas herum, suchte einen Bäcker. Etwas Brot für den Abend und Proviant, morgen, wenn er fahren kann, wegen dem Wetter, würde er keine Zeit für irgendwelche Einkäufe haben und wenn er die Punkterouten benutzen sollte, würde es dünn werden mit Läden, das hatte er schon bemerkt – stimmte, was sie ihm gesagt hatte! Er stellte das Rad ab vor einem Supermarkt, sprang hinein: Ein Getränk (Direkt-Saft), ein saftiges Gebäck, ein Rosinenbrot (geschnitten), ein Croissant – schon war er wieder draußen. Füllte das Getränk in die leere Trinkflasche, den Rest wollte er trinken zu dem Croissant. Zu seinem Rad waren zwei weitere gestellt worden, eins davor, ein dahinter – nicht schlecht während der Fahrt diese Formation, dachte er. Er grüßte den jungen Mann, der die beiden Räder wohl bewachte – irgendwie seines gleich mit, kurz - er wollte ja schnell weiter. Er setzte den Pappbehälter zu einem großen, zu großen, Schluck an und schon wird er angesprochen und verschluckt sich: Seite 13: Ob er aus Deutschland käme, aus Bielefeld? Er hätte Bielefeld auf dem Trikot gelesen. (Jetzt wurde ihm klar, das er das Vereinstrikot angezogen hatte, wegen dem Reißverschluss und nicht wegen des Namens und war anfangs erstaunt gewesen, dass ihn hier jemand in der Stationstraat in Diksmuide erkennt). Ostwestfale sei er und hoffte, dass der Mann um die Gesprächigkeit dieses Menschenschlages wüsste und die Unterhaltung somit jetzt beendet sei. Noch mehr hoffte er, dass der Mann nun nicht die Frage stellen würde, was denn ein Ostwestfale sei (Ist Ostwestfalen einfach der Osten von Westfalen? Wo liegt darin Falen und Ostfalen? … Er brauchte nichts erklären!) Das Gespräch dauerte doch nun länger, er konnte dabei in Ruhe trinken und essen, aß auch noch das Gebäck. Legte plötzlich den „Ostwestfalen“ ab und tat, als sei er das Gegenteil. Woher, wohin, das Übliche (von üblen?). Flandernrundfahrt die Beiden. Kartenkauf zu Hause gescheitert, nichts gefunden, deshalb am ersten Tag an der Hauptstraße gefahren, lebensgefährlich (was ja stimmte). Der Onkel seiner Begleiterin sei auch aus Ostwestfalen, dem Nachbarort, Wahnsinn, wie man sich in der Welt trifft. Er wiederum lobte noch einmal diese Fahrradknotenpunkte, das Fietsnetwerk, tadellos, sagte er, ganz anders in Sussex oder Kent, da hätten sich die Schilder für Fahrradrouten manchmal einfach „aufgelöst“. Immer wenn der andere von ihren Radtouren erzählte, ließ er etwas von seinen Touren durchblicken, die natürlich immer die der anderen übertrafen. Da kam die Begleiterin, er stellte mich vor: Aus Bielefeld, in der Nähe von deinem Onkel – sie schien das nicht zu interessieren. Wie lange sie nur für die paar Teile zum Einkaufen gebraucht hatte – was machte der sich eigentlich für Gedanken, dachte ich. Nun müsse er aber weiter, grüßte beide, warf Papier und Pappschachtel in die Mülltonne neben dem Lothar Flachmann, September 2013 7(38) Supermarkeingang, auf die er während des Gespräches ab und an geschaut hatte – seltsam, dachte er, die befindet sich links und der andere Radfahrer stand rechts? Er fuhr noch zu der ersten Unterkunft seiner Reise – hatte plötzlich immer mehr Zeit! - und steckte die Radkarte in den Briefkasten von Haus Nummer 51 (der war nicht am Haus selbst, war rechts daneben in einem dunkel gestrichenen Holztor, durch dessen rechten Flügel er sein Rad geschoben hatte und für diese Tür auch keinen extra Schlüssel haben wollte, den sie ihm angeboten hatte, da er am Abend nicht mehr mit dem Rad fahren wollte, obwohl es doch so viel zu sehen gäbe in Diksmuide und Umgebung – sie hatte ihm alles erklärt, gesagt und empfohlen – obschon, da gab sie ihm recht, vieles schon geschlossen hätte oder auch jetzt am Abend nicht mehr zu schaffen sei – wenn er geduscht und wieder angezogen sei, wird es „half past 8“ sein, hatte er ihr gesagt und hielt immer noch seine schweren Taschen in der Hand – stimmt sagte sie, trotzdem, wenn er den Schlüssel brauche, solle er sie rufen!), die Frau war nicht da. Fuhr nun auf Fahrradknotenpunkt Nummer 59 zu, los geht's. Erst die Hauptstraße mit Radweg – gut. Frisch gestärkt, das geht ab! Langsam könnte mal wieder ein Schild kommen – kommt aber nicht. Hinten bis zu der Kurve, wenn dann immer noch nicht, dann wieder zurück, hätte jetzt die Karte gebraucht, die Frau hatte ihm ja gesagt, schicken sie sie mir einfach von zuhause zurück, dann haben sie sie noch in Belgien. Seite 14: Dann tauchten Nummern auf, aber ganz andere. Also umkehren und der Himmel wurde bedrohlich dunkel. Fast wieder im Ort, sah er ein Schild von fern von hinten. Dran vorbei auf die andere Seite der Straße Nr. 59 Hatte da eben ein Lkw davor gestanden? War er noch tief in dem ebigen (ich finde dies Wort nicht im Wörterbuch!) Gespräch eingetaucht gewesen? Wie jeden Tag, wenn er mit dem Rad auf dieser Tour war, gab er alles die letzten Kilometer, manchmal war es schon Atem raubend und in Lothar Flachmann, September 2013 8(38) den Kurven – da musste er aufpassen mit dem Gepäck – aber heute hatte er es gleichmäßig auf beide Taschen verteilt. Er bekam ab und an schon einen Tropfen ab. Ein guter Schluck aus der Trinkflasche, die Strecke bis zur nächsten Nummer schien länger zu sein, er hatte darauf verzichtet, die Entfernungen zwischen den Punkten zu notieren. 59, 18,17, 15, 16 und jetzt 39. Beim Erreichen der N36 die Route verlassen und rechts auf der N36 weiter und die erste Straße im Ort – welche wird das sein? – links ab (so hatte er es sich gemerkt, als er die Karte noch hatte). Er fand keinen Straßennamen – da nutze auch nicht, dass er in den Unterlagen noch einmal nachlas! Er versuchte die einzig infrage kommende. Schwül, aber auch sonst … Sein Unterhemd klebte an der Haut, die Haare unter dem Helm nass. Vorn rechts ging eine Frau in Badeschlappen mit einer großen Einkaufstüte zur Haustür. Ein Kind folgte ihr. Hinter einer geöffneten Heckklappe hob ein Mann (Ende 30?) Getränkekisten aus dem Auto. Er fragte ihn, ob dies die Amersveldestraat sei, merkte, dass er einen Tonfall und eine Betonung nach holländischer Art versuchte – war sofort vorsichtig dabei, hatte dies als Masche oft eingesetzt und es ins Lächerliche gezogen, was er hier ganz und gar nicht beabsichtigte. Der Mann nickte, wohin denn? Weiter hinten, er wüsste jetzt weiter, nur bei der Straße war er sich nicht sicher – so in etwa war das kurze Gespräch. Saß schon wieder auf dem Rad und nun ohne Pause mit hohem Tempo die „unendliche“ Straße lang von Haus zu Haus – nur an einigen Häusern konnte er eine Haus-Nummer entdecken! Seite 15: Ein Schild, rechte Seite (ich frage ihn, ob die Angabe „rechts“, „links“ wichtig wäre, häufig würde er sie machen! Er antworte spitz sogar: Ja!), die richtige Nummer, hinein in die Einfahrt, vor ihm eine geöffnete Garage (Schwingtor), ein Auto darin, ein oder zwei links (!), auf dem Hof rechts (!) ein betongeplatteter Gang zur Haustür, ein Druck auf die Schelle, nass geschwitzt, eine Frau öffnete, sagte fragend seinen Namen (er musste es sein, hatte ihr geschrieben, dass er später käme, von Dunkerque mit dem bike – ahja, bike und Dover: War schon, will er noch erzählen oder hat er es schon? Er weiß es nicht, ich auch nicht). Ja er sei es - schön, dass Sie da sind Atem holen, Reißverschluss auf, Helm ab, „Ich zeige Ihnen erst einmal das Zimmer!“ Er hätte lieber gleich die Taschen mitgenommen. „Jetzt erst mal ihr Zimmer.“ Sie sagte es leise, mit gesenktem Kopf, schon schüchtern. Vor dem Hund brauche er keine Angst zu haben. Er suchte einen Hund, fand keinen, erst als er wieder hoch schaute, schaute er ihn fast in Augenhöhe an. Darein gebe es das Frühstück, ja wann und was? Früh, bei schönem Wetter früh los, wolle bis Gent, bei Regen egal, dann mit dem Zug von Kortemark – ist das weit von hier? Nein, der Sohn fährt auch damit manchmal, 10 Minuten etwa. Sie stehen auch früh auf. „Macht es Ihnen was aus, wenn ich schon um 7 Uhr …?“ fragte er zaghaft. Kein Problem - der Mann führe schon um 7 zur Arbeit – stimmte dann nicht ganz, nun gut. Rechts die Tür zur Garage, wenn er von draußen das Rad reinschöbe, könne er gleich hier ins Haus mit den Taschen. Nun zeige ich Ihnen aber erst das Zimmer. Seite 16: Lothar Flachmann, September 2013 9(38) Das Bad, dort Toilette. Welches Bett? Egal. Dann wies sie mit der Hand auf die Wand neben der Treppe (der rechten oder der linken Hand? Wollte ich wissen!) In den Garten könne er gehen, sagte sie, während ihre Hand immer noch auf die Wand gerichtet war - dort etwas trinken, im Kühlschrank wäre Bier, Wasser, Saft. Auch unten könne er sich aufhalten. Gut gemeint – aber duschen, etwas zu Essen hätte er noch und: Er sei müde. Jetzt nur noch die Taschen, dachte er: Wieder unten - sie folgte ihm noch auf der Treppe - verwechselte er die Tür zur Garage: „Left side!“ von hinten! („Wer weiß, wo ich gelandet wäre mit der anderen Tür?“, er zu mir.) Toll, wollte er ihr sagen, von innen sieht man das Auto von vorn und von draußen sieht man es von hinten – aber er hätte erst übersetzen müssen und dann hätte sie es vielleicht anders verstanden. Die Garage war groß, das Auto auch. Um das Fahrrad hinten hinzustellen, war seitlich zu wenig Platz um es durchzuschieben. An die Seite stellen, meinte sie. Hätte dann aber keiner mehr durchgehen können – und wenn es kippte? Das Auto hatte schon genug Schrammen und Nachformungen. Blieb nur der Platz hinter dem Auto, und der war eng. Sie schätzten ab, ob er reichen würde, wenn das Tor geschlossen würde. Ja – und das Auto würde auch nicht mehr rausgefahren heute und ihr Mann fahre früh, aber mit einem anderen Auto. (All das in deutsch, holländisch, englisch, händisch und mimisch!) – Der Kreis hatte sich geschlossen: Er stand nun wieder an seinem Fahrrad auf dem Hof vor der Garage. Über ihnen tobte bereits ein Unwetter, nur der Wasserhauptlieferant war noch nicht da. Am nächsten Morgen stand das Rad hinten in der Garage, das Auto draußen, das Garagentor auf und Wassertropfen fielen noch immer auf den Hof, das Haus, den Garten, das Gemüt. RE1, Bielefeld – Düsseldorf: Das Fahrrad-, Kinderwagen-, Rollstuhl-und Sonstiges-Abteil mit innenliegender Toilette, auch für Behinderte. Wie viele Menschen ihr Rad im Berufsverkehr mitnehmen! Wie viele stur sitzenbleiben, wenn Menschen mit Kinderwagen einsteigen. Eine laufende Klimaanlage, die auf tiefste Temperatur herunterkühlt, egal welche Temperaturen draußen sind. Die Entlüftung der Toilette scheint durch das Abteil zu gehen. Viele verstehen das Schließen und Öffnen der Schiebtür der Toilette nicht; grad wieder hält ein Mann, der auf einem der Klappstühle neben einer Metallstange sitzt, es nicht aus, zuzusehen, wie jemand, der dringend zu müssen scheint, die Tür nicht zu bekommt und springt auf vor innerer Lothar Flachmann, September 2013 10(38) Not um das Probieren endlich zu beenden, rast zur Toilette, drückt auf den ihm bekannten, entscheidenden Knopf und: Nichts passiert! Das Umsortieren der Räder und Rollstühle und Kinderwagen vor jeder Station, das ihn besonders aufregt und nervös macht, wenn der Zug schon am Bahnsteig hält und dann einige überhektisch hantieren oder noch schlimmer bei der Aktion einzuschlafen scheinen. Die Menschen, die ihre Räder in den bereits vorhandenen Räderhaufen werfen. Er wettert noch einige Zeit so weiter. Scheint sich auszukennen mit dem „legendären“ NRWExpress, zieht Vergleiche mit einem anderen Express, der vor Jahren auf dem Balkan verkehrte. Er solle nicht abschweifen, sage ich. Wer wissen will, was so abgeht in Deutschland, solle mit dem NRW-Express fahren, nicht nur oben in dem Dosto 5), unten, unten und immer mal wieder in diesem Mehrzweckabteil. Ob ich wüsste, dass es einer der Züge mit der höchsten Auslastung in Deutschland sei? Einige Male hätte er diese Wochenendfahrten mitgemacht. Fahrten im Winter: Schrecklich! Fahrten im Sommer: Erkältungsgefahr wie im Winter! „Also, wie war das jetzt auf deiner Reise?“ Seite 17: Erst hatte er es nicht bemerkt, war halb eingeschlafen, der junge Mann in „Ganzkörpertätowierung“ hatte Löcher in den Ohrlappen, die durch Euro-Stück-große Ringe offen gehalten wurden. Er surfte mit einem Smartphone über Seiten zu Tätowierungen. Da war es wieder, das Thema Körper, Seele, Geist. In Düsseldorf war er umgestiegen, ähnliches Abteil. Neben ihm eine zarte Frau, daneben ein überdicker Mann, “Rheinländer“ – bestimmt kein „Ostwestfale“. Machte viel nebenbei darnieder, wenn er mit der Frau sprach – Grad war von hinten ein Schaffner gekommen, hatte kontrolliert, ging wieder zurück, da kamen von der anderen Seite zwei Schaffnerinnen, eine ganz jung, eine gab sich betont erfahren, sie war viel älter; schon ging es los: Da sei es schon wieder, dieses Paar, zu viel Personal, hätten keine Ahnung - ihr schien es zu gefallen. Fragte ihn, wohin die Reise ginge. Er beschränkte sich auf die Bahnfahrt: Über Aachen nach Gent, von Bielefeld (das stand ja auf seinem Trikot). Der Mann sackte in seinem Sitz zusammen, holte tief Luft und startete einen nicht mehr endenden Wortschwall: 5) Doppelstockwagen Lothar Flachmann, September 2013 11(38) Seite 18: Vollkommen daneben, reiner Quatsch, ein Umweg seinesgleichen, gleich ab Bielefeld über Wuppertal … – er weiß es nicht mehr, was er so alles aufzählte! Aber an dies konnte er sich erinnern: Ab Köln mit so einem Bummelzug nach Aachen? Da gäbe es ganz andere Züge, er hätte sie ja jahrelang benutzt. Immer schaute er überheblich - seiner Begleiterin schien es zu gefallen. Und dann noch eine Fahrradkarte, wahrscheinlich auch noch teuer bezahlt. Und in Belgien brauche man das gar nicht. Wer ihn denn beraten hätte? Ach diese Bahnbeamten, hätte er sich gleich gedacht. Hätte er also die „A.…-Karte“ gezogen. Na, jetzt wüsste er es ja fürs nächste Mal. Ob er denn was zu lesen dabei hätte, für die langweilige, lange Fahrt bis Aachen? “ Ich habe ja sie dabei, da brauche ich nichts zu lesen!“ Hatte er ihm geantwortet. Der Mann hatte daraufhin kräftig mit dem Kopf gewackelt und sein Fleisch, welches Kinnspitze mit Brust direkt verband, mächtig in Bewegung gebracht. Nein, er würde gleich aussteigen, nicht weiterfahren, so eine Fahrt täte er sich nicht an. Seite 19: 20 Plastiktaschen und diverse kleinere Tüten und Beutel von Obsteinkäufen und anderen Einkäufen, zählte er beim Auspacken Zuhause, in der Kleidung, in den Packtaschen noch etwas Emerson-Westwood-drei- Zimmer-drei-Geruch. Einige meinten, es sei im Keller, kannte die Hanglage nicht. Südseite hatte er, Ausgang zur Terrasse fast nebenan und nur unterwegs ein Leben aus Packtaschen mit Plastiktüten als Fächer- und Schubladenersatz. Seite 20: Als er die Einfahrt in den Düsseldorfer Bahnhof schilderte, schweifte er sofort auf frühere Begegnungen mit diesem Ort ab. Es kostete mich einige Mühe, ihn wieder in den Juni 2013, an den 21. Juni zu bringen und ich bin mir nicht sicher, was er da trotzdem vermischt hat – ich kann es nicht nachprüfen. Er erzählte es so: Beim Aussteigen versuchte er sich mit einer Frau, die aus der anderen Wagen-Richtung kam, zu einigen, wer von beiden erst aussteigen solle, er gab ihr den Vortritt, sie ihm. Er hätte dabei versucht, ganz auf grimmig zu machen, daraufhin gemeint, genau dies sei der Grund gewesen, dass sie ihm den Vortritt geben wollte. So hätte er blitzartig auf herzlich gemacht, worauf sie jetzt lächelnd ihn noch entschiedener aufforderte, vor ihm auf den Bahnsteig zu treten: Da bemerkten sie die Meute, die auf dem Bahnsteig immer ungeduldiger auf den Einstieg wartete – da gingen sie beide, gleichzeitig! Es wurde sehr eng in der Türöffnung! Seite 21: Zweimal sprach ich ihn an: „Sagen Sie, da ist so einiges unverständlich, was Sie mir da erzählt haben. Das verstehe ich nicht.“ Solche Einwände kanzelte er nur so ab – so sicher, als habe er schon auf meine Anmerkungen gewartet. Erstens wäre es gar nicht seine Absicht gewesen, Lothar Flachmann, September 2013 12(38) darüber zu berichten, schon gar nicht es aufzuschreiben oder aufschreiben zu lassen. Und wenn er schon erzähle hier, dann gehe es ihm auch um die Kommunikation mit mir und das wäre eben eine andere, seiner Meinung nach auch wichtigere, Ebene und da wäre der Inhalt nicht so entscheidend und erwartete oder gewohnte Zusammenhänge interessierten ihn schon gar nicht! Von „inszenierter Mündlichkeit“ sprach er - hat mich beeindruckt - aber wenn das jemand lesen soll! „Lesen, lesen, lesen!“ Naja. Ich möchte schon an einigen Stellen eingreifen, verändern – aber das ist ihm dann wiederum nicht genehm. Seite 22: Plötzlich fällt ihm eine alte Regel ein, so ganz aus dem Erzählen heraus: „Sitzt die Hausschnecke oben am Johannisbeerstrauch fällt ihr keine Beere auf den Bauch.“ „Ja und?“, frage ich. „Wie? Was und?“ Das war's dann wieder! Er ist bereits im Zug von Aachen nach Liége6). Gleichmäßiges Atmen, so hörte sich das Fahrgeräusch an. Dieser Zug wurde nicht angesagt im vorhergehenden Zug, auch nicht auf dem Bahnsteig in Aachen (Gleis 2, laut Plan). Eine Frau hatte ihn angesprochen, als er neben diesem kleinen alten Zug stand auf dem hinteren Bahnsteig (Gleis 8, recht dunkel hier, dunkler als an 2), mit seinem Fahrrad und fror. Es war die Zugbegleiterin, Personal, Schaffnerin. Sie öffnete ihm den Gepäckwagen, ein Museumswagen, dachte er, so ein Zieharmonika-artiger Verschluss, er hatte sie als Reisende angesehen. Sie wies ihm einen Platz für das Rad, es fiel sofort um, die Rückleuchte war herausgebrochen, sie zeigte es ihm. So ging es also nicht. Dann müsse man es wohl doch an den Haken hängen, meinte sie, er nahm die Taschen ab und hob das Fahrrad mit der Vorderseite nach oben und versuchte das Vorderrad in den Haken unter der Decke einzuhängen, es war schwierig: Der Haken direkt neben der Türöffnung, etwas daneben gezielt und er hätte sich hinaus gewuchtet mit dem Rad in der Hand, auch blendete das Licht von draußen – hier im Waggon war es noch viel dunkler als draußen, sie half ihm. 6) Liège-Guillemins (Lüttich); Die Schreibweise Liége galt bis 1949, danach Liège. Das nach den Entwürfen des Architekten Santiago Calatrava vollständig neu errichtete Bahnhofsgebäude wurde 2009 eröffnet worden. Drei Bahnsteige wurden auf 450 m Nutzlänge erweitert. Die Einfahrgeschwindigkeit in den Bahnhof wurde von 40 auf 100 km/h erhöht. Seit Eröffnung beträgt die Fahrtzeit zwischen Köln und Lüttich nur noch eine knappe Stunde. (Siehe Wikipedia) Lothar Flachmann, September 2013 13(38) Verviers-Central las er erst, als der Zug schon den Bahnsteig verließ. Das Handy meldete sich: Roaming Preise. Pepinster mit dem breiten Bahnsteig. Zwei Arbeiter lagen darauf über einem Plan. Mann und Frau auf zwei Bänken. Alles draußen nass, aber es regnete nicht mehr. Etwa 13:00 Uhr Bruessel-Nord/Bruxelles-Nord: Hohe glasverkleidete Bürohäuser auf der rechten Seite, unten viele alte, teils sehr heruntergekommene Häuser, teilweise noch bewohnt. An der Spitze eines Bahnsteigs sitzt ein Mann auf einem Stein, auf einem Steinsockel, ohne Strümpfe in den Sandalen und „spielt“ mit einem Handy. Brüssel-Zuid, Bruxelles-Midi. Er hatte kurz geschlafen. De volgende halte is Gent-Sint-Pieters Le prochain arrêt est Gand Saint Pierre Kurz vor Sint Pieters: Technische Probleme. Er schläft wieder kurz ein: Vier Uhr aufgestanden, die Umsteigeaktionen, in Düsseldorf Regen und kalt, erst die Ansage überhört, das der Zug auf dem anderen Gleis abfährt und dann wieder Hektik, im Zug nach Liège hatte er sich mehr anziehen müssen, da es kalt blieb, hatte sich geärgert, dass die Polster eine scharfe Kante hat und er daran hängenblieb mit seinen Beinlingen und ein Loch dadurch entstanden war. Der Bahnhof Sint Pieters wird umgebaut. N 43, N 37, N35 – Freitagnachmittag: Starker Verkehr auf den Straßen, LKWs. Ganz schmaler Seitenstreifen. Vor Teilt einer Rad-Ausschilderung gefolgt: Bestimmt 25 % länger, dafür keine rasenden Autos, keine stinkenden LKW’s, kein Lärm, keine Angst; bei dem starken Gegenwind darf der Weg aber nicht so viel länger sein, denkt er, da ist das Ziel heute nicht mehr erreichbar. Die Ausschilderungen sind dürftig: Manchmal ist die Karte erforderlich: Packtasche öffnen, die falsche, die andere öffnen, Karte raus, Karte aufklappen, falsche Seite, Karte drehen, der Wind schlägt alles wieder zu, knickt, die Karte reißt ein, Brille abnehmen, Karte dicht vor die Augen, die ausgeschilderten Ortsnamen sind nicht zu finden auf der Karte ….. Lothar Flachmann, September 2013 14(38) Er hatte mir einige Daten überlassen: So könne ich die Reise besser einordnen: 21. Juni 2013: Brake ab 5:42 Uhr, Gent an ca. 14:15 Uhr. 19:30 Uhr in Diksmuide (also etwa 5 Stunden auf dem Rad). 22. Juni 2013: Diksmuide: Abfahrt ca. 9:15 Uhr. Ankunft in Calais am Schalter ca. 17:00 Uhr, in Dünnkirchen war er um ca. 14:30 Uhr (Umwege gefahren ca. 30 Minuten). 23.Juni 2013: Abfahrt in Dover um ca. 9:30 Uhr, Ankunft in Forest Row um ca. 19:30 Uhr. Seite 23 „Unterwegs Schnecken?“ (Bietet sich ja an, die Vorlage aufzunehmen!). „Nein, keine Schnecken.“ Aber das ist natürlich unumgänglich: Die Beobachtung der Straße und dem, was darauf ist – als Radfahrer. Einmal ist er, der Radfahrer, selbst darauf. Bei Sonnenschein ist er nie allein: Sein Schatten fährt mit. Wenn man denkt, so, jetzt hab ich ihn abgehängt, ist er schon bald wieder nah dran, hat lautlos sich wieder drangehängt. Er ist ein Spiegel, der nichts hält von einer bunten Welt, ein Richtungsgeber und ein Zuschauer, der manchmal, an der Bergkuppe angekommen, klatscht und gratuliert, der anfeuern kann auf langer, gerader Strecke oder auch schiebt an hochprozentigen Steigungen. Er redet hauptsächlich über die Straßen, die er in Süd-Ost-England kennen gelernt hat, vielleicht, weil er wegen dem ungewohnten Linksverkehr mit anderer Aufmerksamkeit herumfuhr und: Wasser ist schon eine deutliche Grenze, da vermutet er schon, dass vieles einfach anders ist! – ? Wieder einer dieser Gedanken, Gedankensprünge, wenn man da nicht nachfragt! Ich weiß manchmal gar nicht, was er überhaupt sagen will! Also er sagte auf meine „Verständnisfrage“ folgendes dazu: „Wenn ich über ein Wasser fahre, wo ich nicht das andere Ufer sehen kann, so löst sich die Verbindung vom Land, von dem ich losgefahren bin, langsam mit dem Verschwinden des Festlandes hinter mir und je näher ich dann dem neuen Land komme, desto größer wird die Neugierde auf etwas Neues.“ Fliegen und Reisen über Land seien da anders, meinte er. Seite 24: In Zimmer Nummer sechs öffnete er die Tür des Schrankes neben dem Bett. Zwei Fächer voll Bücher, teils dicke Bücher, dabei für ihn ansprechende. Alle Ausgaben älteren Datums – hatte Heather sie gelesen oder hatten sie Ferien-, Übernachtungsgäste liegengelassen für andere Reisende? (Ausgelesen, zu wenig Platz in der Reisetasche, langweilig?) Lothar Flachmann, September 2013 15(38) Er versuchte eine Richtung, ein bestimmtes Leseinteresse herauszufinden. Die meisten Autoren oder Autorinnen kamen wohl aus England – er gab zu, gerade die englische Literatur nicht gut zu kennen – ein amerikanischer Autor, ein französischer, (ins Englische übersetzt). Wenn er in seinem noch Jugendalter, auch noch Anfang seiner Zwanziger erstmals in die Wohnung von Bekannten oder Freunden kam, las er genau die Buchrücken; bei einer damaligen Bekannten fühlte er sich bedroht aufgrund der Titel im Bücherregal. Seite 26: Kurz hinter Diksmuide - Knotenpunk 48 war oder kam - krabbelten kleine Kaninchen kreuz und quer über den Radweg. Kaum, dass sie ihn wahrgenommen hatten, versuchten sie dem entgegenkommenden Gefährt zu entkommen, krochen fast, auf die Hecke zu, der dichte Maschendrahtzaun verhinderte den direkten Weg dorthin. Einige kannten wohl das Schlupfloch, andere suchten es hastig, liefen in die eine Richtung, liefen wieder in die andere – schon war er vorbei gerauscht, geschwind, geschwind. In England sah er sie mehr - an eine ähnliche Begebenheit kann er sich nicht erinnern – auch in Belgien war dies mit dem Maschendrahtzaun einmalig. Platt gefahrene Frösche in feuchter, sumpfiger Umgebung, Schnecken eher auf Radwegen – Autoreifen lassen da nicht viel übrig! Vögel und Igel nur auf Autostraßen. Auch jetzt wieder die Raben, die am Igelaas zerren, aber: Hatte er jemals einen toten Raben auf der Straße liegen sehen? Oder gar beides zusammen: Igel und Rabe? Obwohl in England vieles anders war, so waren zügiges und auf Sicherheit bedachtes Fahren der gesamten Fahrt gemein, dazu kamen: Autos, Autos, Autos, Schlaglöcher, Schlaglöcher und Richtung. Manchmal, wie z. B. in einem riesigen Kreisverkehr in Ashford, wo sich A20 und Bad Münstereifel Rd begegnen, kamen sogar all diese „Ereignisse“ zusammen. Er dachte an die unterschiedlichen Straßenbeläge, den Müll am Straßenrand und in den Straßengräben, die Geräusche der Autos. An den Straßenrändern könne man finden: "Von …, bis …!" sagte er! Die dunklen, buschigen Raupen hatte er auch auf dieser Reise einige Male gesehen, sie laufen mit vielen Beinchen quer über die Straße, er versuchte ihnen auszuweichen, wusste aber oft nicht, ob es auch dem Hinterrad gelang! Hat die Raupe es geschafft bis zur Mitte, kommt manchmal noch der Gegenverkehr auf der anderen Straßenseite! Und die kleine Maus: Die verhielt sich noch anders! Die lief vor und zurück - die Geschwindigkeit des Autos, die Reifenbreite, die Laufrichtung der Maus! Man weiß, es ist unausweichlich, aber noch nicht geschehen: Genau das ist es was das eigene Herz kurz zu stoppen scheint! Und die Tierchen, die man nicht sieht? Seite 28: Lothar Flachmann, September 2013 16(38) Der Ausgang durch die Stadtmauer - der ganze Gang vom Zimmer bis zur Straße war nicht ganz einfach: Zimmerschlüssel, Etagenschlüssel, bisher nur Stufen und Treppchen, die Außentreppe mit den sehr schmalen verzinkten Stahlgitterroststufen, (hatten sie rutschhemmende, doppelt gelochte Sicherheitsantrittskanten? Er meint nicht!) die gerade und sehr steil in den Innenhof führte, die etwas versteckte Steintreppe in die Stadtmauer hinunter, erste Tür (?), wie ein kleines Verlies in der Stadtmauer, alten Holzriegel beiseite schieben und mit dem letzten Schlüssel vom Bund das hölzerne Tor zur Straße, die parallel zum Kanal (Handzamevaart) verläuft, öffnen, von draußen wieder schließen – dass im Dunkeln alles rückwärts? Er wollte ja nur etwas essen und dann schnell ins Bett! Dann dürfte es noch nicht ganz dunkel sein, meinte er, dann würde er es schaffen. Seite 29: Den nächsten vereinbarten Termin sagte ab. Er wollte fort, lange in Erwägung gezogen, letztendlich schon Ostern, nun sei eine Möglichkeit da, in drei Tagen wollte er sich auf die Reise machen und sich in ca. drei Wochen wieder melden. Tatsächlich, er hatte mich nicht vergessen. Aus drei war vier geworden, aber immerhin. Die Zahl „vier“ geschrieben fand er gut: 4 Buchstaben. Lothar Flachmann, September 2013 17(38) Er hatte mir etwas mitgebracht: O. T. Links am Horizont ein Windpark eine kleine Kugel darüber: ein Ballon rechts tauchen Flügel auf und unter in ein dunkelgrünes Bett Tags war es heiß sehr heiß der Wind jetzt fast kühl auf der Haut Das gleichbleibende Geräusch trägt er herüber von der Bundesstraße kantige hohe Gebäude ragen vereinzelt empor aus dunklem Grund gemacht für Menschen darin etagenweise zu wohnen Zwei Ballons wollen grad von all dem nichts wissen. (3. Fassung) Er hätte auf einer Bank am Hang des Rotzberges gesessen. Offiziell hieße es Rottsberg oder Rottberg – wie es tatsächlich hieße oder woher der Name käme, wisse er nicht. Ihm wäre bewusst, dass es nichts von seiner Reise nach Forest Row war, bestand noch einmal auf die 3. Fassung – und doch, ohne Forest Row hätte er dies nicht aufschreiben können. In Forest Row, hatte er am 30. Juni oben auf der Bank gesessen, allein, hatte sich verlassen gefühlt: Die Konferenz war am Nachmittag zu Ende gegangen, früh am nächsten Morgen würde er abreisen. Genau zur gleichen Zeit, aber eine Woche vorher hatte er hier auf dieser Bank und auch allein gesessen, der Anreisetag war es gewesen. Er betrachtete die Wolken, die weichen Linien der Lothar Flachmann, September 2013 18(38) hügeligen Landschaft, helleres Grün ging in dunkleres über, mal Wiesen, dann wieder Wälder, die zu ihm ansteigende saftige, grüne Wiese mit eingesprenkeltem Weiß, Rot, Braun und Gelb – ein fasst identisches Bild, aber wie viel hatte sich in diesen paar Tagen in ihm verändert? Soviel, dass er dachte, Menschen die ihn jetzt nach einer Woche wiedersehen, würden ihn nicht mehr kennen! Nun saß er, wieder abends, erhöht auf einer Bank, allein und schaute Landschaft und musste sofort an die Momente in Forest Row denken, als er auf der Bank dort saß und in die Landschaft eintauchte. Nach der einen Woche: Was war nicht alles geschehen! Und jetzt? Ein paar Wochen sind erst vergangen – ist überhaupt etwas geschehen – damals? Seite 31: Er war die zwei Stufen hochgegangen, hatte die Glastür eher aufgestoßen als geöffnet, urplötzlich die Assoziationen zum Hochwasser in Deutschland – das war ja erst ein paar Tage her! Was mag das für ein Geschäft gewesen sein bevor es Pizzeria wurde? Die gesamte Stadt, hier der Kern mit all den alten schönen Häusern aus dem 17. Jahrhundert – schätzte er – ist 1923 oder 1924 erbaut worden. Hatte seine Vermieterin eben noch auf der Straße getroffen, Mühe gehabt, sie wieder zu erkennen, nun mit einem capeartigen Umhang, Holzkorb und Schirm, noch zusammen gefaltet darin stecken: Die Stadt sei evakuiert worden, bis zum Wiederaufbau hätten die Bewohner in Notunterkünften gelebt. Hier sei alles zerstört gewesen...Verabredungen, müsse leider weiter … Und er solle sich in Ruhe alles ansehen. Vielleicht gebe es noch Regen, er wolle sich nicht weit entfernen – und er hätte einen langen Tag gehabt. Seite 32: Wie es innen aussah wusste er bereits durch die Einblicke durch die ehemaligen Schaufenster, die bis zum Fußboden reichten. Die Frau, die hier bediente, hatte gerade zu tun, er wartete. „Ein Platz, für mich allein!“ Da, da – er könne wählen. Er hatte ihr länger ins Gesicht geschaut, als es für die Klärung des Sitzplatzes notwendig gewesen wäre. Obwohl sie dünn war, waren die Gesichtszüge trotz deutlicher Ausprägung, weich, die hellblauen Augen schauten sehr interessiert und vermittelten ihm trotz ihrer kühlen Farbe Wärme, sie hatte eine Anziehungskraft auf ihn, er spürte es. Er vermutete an dem hinteren Platz mehr Behaglichkeit als hier am Schaufenster direkt neben der Tür. Sie hatte ihm Zeit gelassen, sich zu setzen, sich auszubreiten, sich umzuschauen – vorher wusste sie, dass er es unangenehm empfand, wenn er noch nicht richtig Platz genommen hatte schon gefragt wurde, was er trinken möchte. Seite 33: Seine Plastiktüte mit Landkarte, Block und Stift und „Wertsachen“, ein kaputter Schirm, den er im Zimmer gefunden hatte und seine Kappe, seine Plastik-Windjacke: Nun alles um sich verstreut. Sie hatte dann die Getränkebestellung entgegengenommen und wollte schon wieder Lothar Flachmann, September 2013 19(38) gehen – nun hatte sie Routine walten lassen, doch er nannte ihr bereits das gewünschte Gericht, eine kurze Nachfrage dazu und die Bestellung war komplett! Seit Jahren schon gab es für ihn nur eine handvoll Gerichte zur Auswahl in einer Pizzeria, da ging es meistens ganz schnell. Die anderen Gäste waren jünger, teils viel jünger als er und eher hochsommerlich gekleidet, er fror leicht. Die meisten Kunden, die jetzt noch eintraten, gingen direkt zum Tresen und holten vorbestellte Gerichte ab, der Koch brachte dann, wenn sie in die Küche rief, einen Stapel dunkler Pappkartons und stellte sie auf den Tresen. Beim Zurückgehen strich er ihr mit der rechten Hand über einen bloßen Arm oder drückte leicht in ihre Taille. Apfelschorle, nicht zu kalt und ohne Kohlensäure, kein Konzentrat – da trennt sich dann schnell Spreu vom Weizen und meistens wird Salat geliefert. Seine Landkarte füllte den ganzen Tisch aus, er hatte sie vollständig ausgeklappt, aber wieder alles auf dem Kopf, da stand sie schon mit der Pizza neben dem Tisch und fragte sehr ernst, wo sie den Teller hinstellen solle! Er schaute ihr wieder länger als eigentlich erforderlich ins Gesicht, musste leicht grinsen, nach einem kurzen Moment grinste auch sie, hatte erkannt, dass er ihr Spiel verstanden hatte. Ja sei es denn eine belgische oder eine französische, fragte er. Da müsse sie den Koch fragen. Seite 35: Das wollte er nun ganz und gar nicht und schlug ihr vor, den Teller auf die Grenze zu stellen, vielleicht zwei Drittel belgisch. Sie stellte den Teller vor ihm hin und wünschte sehr guten Appetit. Sie hatte jetzt viel zu tun: Die meisten Gäste zahlten und gingen, etliche Abholer kamen – fast gleichzeitig: War vielleicht gerade Pause in einem Fernsehspektakel oder war die entscheidende Ampel im Ort endlich auf Grün gesprungen? Eben erst war ihm aufgefallen, dass sie barfuß in Sandalen herumlief – er fror zwar nicht mehr wie vorhin, aber das war doch auch hier kein Sommer! Hatte sie ihr ganzes Leben keine engen Schuhe getragen? War sie immer in solchen Sandalen herumgelaufen? Kein Zeh war verformt, alle gleichmäßig gewachsen. Wenn er aufschaute, sah er das junge Paar, weißer Pulli, weiße Bluse, schauten sich an – oder schauten sie aneinander vorbei? Meistens hielten sie sich die Hände auf oder unter dem Tisch und sagten nichts. Wortloses Glück. Von außerhalb wurde schon lange nichts mehr bestellt. Bald gingen auch die beiden. Nun ja … Als er morgens aufwachte, war ihm warm. Es regnete leicht. Nach der Vorhersage konnte es sein, dass der Regen ab und an unterbrochen würde, dass es manchmal Regenunterbrechungen gäbe. Lothar Flachmann, September 2013 20(38) Abend (auch eine dritte Fassung!) dünne Gardinen bewegen sich leicht in der weiten Öffnung der Tür oben am Ende der langen Treppe außen am hellen Gebäude und die Nachmittagssonne sieht es schon eine wolkenlückelang der Saal ist menschenleer der Weg zur Bank oben am Ende der Wiese hat sich nicht verändert ich sitze am linken Rand auf den kalten Kunststofflatten im kühlen Wind von rechts ziehe die Jacke an schaue über die ungemähte Wiese aufgeschreckt manchmal durch wogende Ähren der Gräser dicht neben mir wenn ich noch einen Menschen träfe wollte ich mit ihm sprechen an diesem Abend nach dieser Woche Seite 36: Selbstbedienungsdeck. Er sagte ein paar Mal die Decknummer wo sein Fahrrad stand. Beide Packtaschen unter dem runden Tischchen, Rucksack und Helm neben sich auf dem kühlen roten Kunststoffpolster einer Eckbank. So saß er da, hinter ihm fuhren immer noch Fahrzeuge in den Schiffsrumpf – er hörte es, er sah auf die Bar – auf Bildschirmen Werbung. Manche Menschen kamen von rechts und manche von links, suchten nach Sitzplätzen, einige setzen sich auf die nächst freien, andere nehmen erst Sitz- und Sichtproben… Man kennt es. Seite 37: Er kaute Kaugummi. An dem Nebentisch, rechts, hatten sich Paare gesetzt, älter als er, Männer, Frauen, hatten einen Ausflug gemacht, vermutete er. Ein Mann erzählte, die anderen mussten zuhören, Engländer, englisch ist anders als amerikanisch, dachte er und kaute, kaute langsam, Lothar Flachmann, September 2013 21(38) kaute schneller und schneller, kam an eine Kau-Geschwindigkeits-Grenze, wurde wieder langsamer, sein Gegenüber am Tisch hatte es bemerkt, als er ihn ansah, schaute der weg. Die Männer am Nachbartisch gingen los, wollten was zu trinken holen, dachten jetzt vielleicht an „alte Zeiten“, einer kann mit einem Bier zurück, der „Erzähler“, die anderen mit irgendwelchen Säften. Eine ältere Frau, gekleidet im Stil der frühen Sechziger, beobachtete die junge Familie ganz rechts in der Ecke, die Mutter zog sich ihre Jacke aus, streifte den Pullover über den Kopf, sie hatte nur noch ein dunkles ärmelloses T-Shirt darunter an, Arme, Hals, alles war komplett tätowiert, so das keine helle Haut zu sehen war; aber das schien nicht zu wärmen und sie zog den Pullover kurze Zeit später wieder an. Seite 38: Der junge Mann, sehr kräftig gebaut, ging mit einem Mädchen, seiner Tochter (?), umher, ein Spinngewebe am linken Ellbogen. Die ältere Frau schaute immer mal wieder ganz kurz zur Seite um genauso schnell wieder zurück zu drehen ihren Kopf mit der toupierten, haargefestigten Frisur. Er schaute ab und an auch mal zum Meer, musste sich etwas umdrehen dabei – wollte eigentlich in Fahrtrichtung sitzen, aber wo war denn vorn und wo hinten bei dieser Autofähre? Die See lag ganz entspannt, keine Wellen, warum hatte die Fähre 40 Minuten Verspätung gehabt? Das Kauen hatte geholfen, die Wirkung des Kaugummis hatte sich spontan auf das Meer übertragen – trotzdem: Er wollte weiter kauen bis das Schiff in Dover angelegt hätte. Seite 39: Noch zitterte er immer noch ein wenig. Der Tag hatte gut angefangen, das Aufstehen, das Frühstück mit dem langen Gespräch, der Regen hatte aufgehört, so war er losgefahren. Am vorletzten Fahrradknotenpunkt in Belgien hatte er noch den Umweg nach Veurne eingeschlagen, in der Hoffnung, dort in der Touristeninfo diese speziellen Radkarten schon für die Rückreise kaufen zu können, er raste mit Rückenwind nur so in den Ort hinein, ihm kamen ein paar Radfahrer entgegen, die sicherlich an diesem Tage, Samstag war es, einen kleinen Ausflug machten, sie kämpften gegen den Wind an. Schöne Altstadt. In der Touristeninfo hatte die Frau nicht die Karte aus dem Osten Belgiens, gebe es aber in einem Boekhandel: "Standard" in der Ooststraat, also ganz in der Nähe von hier, vom "Grote Markt". Dann: Sie zeigte auf eine große Landkarte an der Wand, darauf seien die Knotenpunkte vermerkt, er könne sie sich doch schnell notieren. Er hatte draußen sein Rad zwar untergestellt, aber unter einen Wasser-Speyer des alten Gebäudes, merkte er jetzt, es regnete nun stärker und sein Rad war fast trocken, aber der Sattel war nass, voll getroffen. Seite 40: Mittlerweile war es 13:00 Uhr. Er hatte den Richtungspfeil nach Punkt „01“ verloren, irrte an großen Kreuzungen am Rande von Veurne umher, „Duinkerkestraat“ las sich gut – aber wohin würde die ihn letztendlich führen? Er versuchte einen ganz kleinen Pfad: getroffen! Die Richtung Lothar Flachmann, September 2013 22(38) passte, er fuhr exakt gegen den Wind, zog schon bald das Regencape über – wurde nun noch häufiger von Böen zur Seite gedrängt, hatte bald Nummer „01“ erreicht, das war auch die Grenze nach Frankreich, Pause in einem verglasten Bushäuschen. Am Straßenrand hält ein riesiges weißes Personenauto, Scheibe geht runter, der Fahrer ruft ihn an der Beifahrerin vorbei an, er versteht nichts, geht näher ran: Sie suchen eine Tankstelle! Vom Sprachklang etwa: Hey, wo ´s die nächste Tankstelle!? Er schüttelt mit dem Kopf, sie fahren weiter, rumänisches Kennzeichen. Er packt sein nasses Cape in eine Tüte, zieht es wieder raus und bindet es möglichst mit der feuchten Seite nach außen auf eine Packtasche, jetzt aber nach Dünkirchen! Seite 41: Ohne einen Pass zu zeigen merkte er nach ein paar Metern, er ist in einem anderen Land. Er fährt die gerade Autostraße, direkt neben einem Kanal, der schnellste Weg, er rechnet aus, wann er in Calais sein wird: Es wird eng! Er erhöht das Tempo, dass ist zu schnell! Es regnet immer leicht, der Gegenwind konstant. Kurz vor Dunkirk ein kräftiger Schauer, er stellt sich neben die Wand eines Traffo-Häuschens seitlich einer Kreuzung, dort steht er geschützt vor Wind und Regen, er ist von seinem Proviant – auch die Frau hatte ihm heute Morgen während des Frühstücks gesagt, er solle sich etwas für die Reise einpacken –, beobachtet die Autos, die von dieser Seitenstraße nach links auf die Hauptstraße fahren, dort geht es nach Dünkirchen, dahin wollen sie bestimmt, einkaufen, nur einige fahren über die Kreuzung geradeaus, was sie da wollen, weiß er nicht, vermutet, da gebe es vielleicht ein Stadtrand Einkaufscenter mit Baumarkt, Imbiss, Discounter und Matratzencenter – so sinnt er vor sich hin, die Ampelphasen schwingen in den herüberkommenden Regenschauern vor sich hin. Er merkt, es ist Mittagszeit, er befindet sich so ein wenig im Halbschlaf, rafft sich auf, schaut auf die Karte: Gemäß Karte geht es auf der Hauptstraße weiter bis nach Calais, immer geradeaus! In Dünkirchen ein Schild an dieser Straße: Verboten für Fahrräder! Der Fahrradweg nicht eindeutig, die unendlich scheinende Suche in Dün-Kirchen nach dem Weg nach Calais – ist das Einzige was scheint. Tag, aber er erkennt die Himmelsrichtung nicht: Grau, grauer geht’s nicht. Straßen enden als Sackgassen an Anlegern und in Industrieanlagen oder enden ganz einfach: Straße, Schotter, Sand, Wand. Mal ist es die „N1“, die „ D940“ und dann wieder die „D601“. Nie heißt es „Calais" auf einem Straßenschild. 18:00 Uhr soll die Fähre gehen, eine Dreiviertelstunde vorher soll er da sein zum Einchecken, hatte er in Erinnerung. Seite 42: Vielleicht in der Nähe oder sogar in Gravelines kauft er in einem Supermarkt noch ein Getränk. Es war bereits 15:15 Uhr. An den Übersichtsplänen in den Bushaltestellen konnte er sich nicht orientieren, buntes Liniengeflecht, immer gleich von Haltestelle zu Haltestelle, sah er vom Rad aus, vorbeifahrend - eine junge Familie stieg in einen Bus ein, sah sie etwas später in einer anderen Gegend auf dem Gehweg wieder - das waren sie doch? Von eben? Vor einem riesigen neuen Kreisverkehr traf er einen jungen Mann, den fragte er, wie er nach Calais gelangen würde, Lothar Flachmann, September 2013 23(38) von hier aus. Samstagnachmittag. Der Lkw-Verkehr hatte sich ausgetobt, Aquaplaning auf der neuen Fahrbahn war bestimmt nicht mehr möglich: Die Fahrbahndecke war so grob, dass er kaum mit dem Rad darauf fahren konnte, er hoppelte mehr darauf herum als dass er fuhr. Manchmal, an Kreiseln, gab es Radwege, sonst nicht (doch: Als die Straße über einen anderen großen Verkehrsweg geführt wurde). Der Wind ging in Sturm über. In „Mark“ zog er noch einmal das Cape über, musste es aber hinter einem Haus wieder ausziehen: Der Wind, besser Sturm, hatte ihn damit nach hinten gedrückt, er war nicht mehr gegen ihn angekommen. Er schätzte nun seine Geschwindigkeit auf 10 km/h. Seite 43: Noch 10 km etwa, dann noch den Hafen finden, 17:15 Uhr war nicht mehr erreichbar! Er wischte schon gar nicht mehr seine Brillengläser frei. Außerhalb von „Mark“ peitschte der Regen von vorn und die Autos pfiffen an ihm vorbei, er fuhr mit gleich bleibenden Pulsschlag, achtete darauf. Die Vororte von Calais. Als er die Stadt erreichte, schien die Sonne von vorn, blendete, die Straße glitzerte, Wasserdampf stieg hoch - plötzlich war alles so hell, der Bürgersteig, die Hauswände, die kleinen Mauern, die die schmalen Vorgärten vom Bürgersteig abgegrenzten. Im letzten Moment sah er ein Hinweisschild zur Autofähre: Pfeil nach rechts, sogar bald auch eins für Radfahrer, noch ca. 2 km. Nicht einmal zum Ansehen des Rathausplatzes war Zeit, er hatte es sich ganz anders vorgestellt: Wollte neben den Bürgern von Calais sitzen – auch hier sah er Menschen, waren es nicht auch Bürger von Calais? Seltsamerweise wurde die Straße zur Fähre wieder schmaler, bei schlechtem Zustand. Aber es gab weiterhin Hinweisschilder, so muss der Weg richtig sein. Bald ein riesiger Kreisel, unter einer ganz breiten Straße hindurch, ein noch größerer Kreisel, Polizei, er folgte dem Schild nach rechts, aus dem Kreisverkehr hinaus, links und rechts hohe Zäune, kein Haus, kein Strauch, kein Baum, kurz geschnittener grüner Rasen zwischen den hohen Zäunen, dann stand er vor der riesigen Check-in-Anlage. Ganz rechts versuchte er es: „Einzuchecken“. Ein uniformierter Mann stoppt ihn, hier nicht, hier würden nur Busse abgefertigt, ja wohin denn? Er wies nach weiter weg und noch mal: Hier nicht! Alles in englisch, war er bereits ein Engländer? Er fuhr wieder zurück, entgegen der Fahrrichtung, wenden war nicht vorgesehen, nur in eine Richtung, wie sollte er ordnungsgemäß "da hinten" hinkommen? Er hatte Glück, kein Uniformierter hielt ihn fest auf der Fahrt gegen den Strom. „Da hinten“ wurde es noch schlimmer: Nicht nur mehrere Spuren, sondern ganz viele, PKWs, LKWs, Pkws mit Anhänger, Motorräder – keine Fahrräder, keine Fußgänger. Er fährt zwischen den heraneilenden Autos umher, die äußere Schlange ist kurz und da ist es auch nicht so hektisch. Seite 44: Da stellt er sich an, sucht Ausweis und Fahrkarte (Ticket nennt man es), welche FährGesellschaft? Daran hatte er gar nicht gedacht, dass es mehrere Gesellschaften geben könnte. Er hält sein Rad mit der einen Hand, hält seine Papiere mit der anderen, der Wind bläst, die Frau in dem Kontrollkasten gibt ihm einen Zettel, Lane 128 (ganz außen, müsse ganz hinten hinfahren, ganz vorn, sagt sie noch, Verspätung: Jetzt ist die Abfahrtszeit 18:40 Uhr, sie notiert 18:40 Uhr Lothar Flachmann, September 2013 24(38) auf den Zettel, sie glaubt nicht, dass er sie richtig verstanden hat. „Check in“ liest er auf der Karte, auf dem Zettel, den sie im reicht: 17:03 Uhr, eine halbe Stunde hätte er vorher da sein müssen und nicht eine dreiviertel Stunde – liest er auf der Fahrkarte – sie schaute ihn noch einmal an: Ob er alles verstanden hätte, fragt die Frau, hatte er nicht, sagte aber ja, denn es zieht, er muss zur Toilette und friert, ist ganz nass und kann sein Rad nicht mehr halten, die Leute in den Autos hinter ihm werden ungeduldig. Die Schranke geht auf und er schiebt weiter bis kurz hinter der Schranke, die auch schon wieder schließt, der einzige Mensch auf diesem riesigen Gelände, sonst nur Autos, Fahrbahnen, Anzeigen, Schranken, Häuschen und Motorengeräusche. Er steckt die Unterlagen in eine Packtasche, schon steht das Auto aus der Schlange wieder hinter ihm, er fährt los, den Zettel „Must be displayed" in der Hand, Lane 128, ganz hinten. Er kommt sich vor, als führe er durch ein riesiges Autobahnkreuz in Amerika, LA. Er findet Lane 128! Erleichterung! Etwa eindreiviertel Stunde Zeit! Die Sonne scheint weiterhin. Zentral ein Pavillon: „Snack, WC“, da fährt er hin, direkter Weg, quert alle möglichen Lanes, schiebt sein Rad hinein, endlich windgeschützt! Er stellt das Rad in eine Ecke neben einen Tresen, auf dem Jalousetten ruhen – der Kiosk? Schon geschlossen? Heute geschlossen? Noch nie geöffnet? Geht umher, schaut sich um hier, ist nicht allein. Gegenüber steht eine Tür auf, scheint eine Art Wickelraum für Kinder zu sein, Männer, Frauen sind darin, Kinder, die alle gewickelt werden? Leute kommen herein, schauen kurz, gehen wieder heraus. An einem Automaten kann man Snacks und Getränke ziehen. Er geht in die Toilette, schaut sich auch hier um, wo kann er sich umziehen. Er geht wieder zu seinem Fahrrad, für diese Aktion hatte nicht gepackt: Sucht sich aus beiden Packtaschen Kleidung zusammen, was soll er eigentlich anziehen? Trockene Radkleidung oder ganz normale Kleidung? In Dover muss er erneut aufs Rad, also ist die Entscheidung klar. Er steckt das, was er braucht, in eine Tüte. Mittlerweile haben sich zwei Familien neben ihn gestellt, sie haben ihre Probleme: Ebenfalls Toilette, den Automaten bedienen, einfach warten. Sie werden ihre Probleme nicht so schnell gelöst haben, denkt er, so lässt er dort das Rad mit all seinen Sachen, geht erneut in den Toilettenraum. Er sucht sich eine einigermaßen saubere Kabine. Das ständige Schlagen der Tür, wenn jemand herein kommt und wenn jemand hinausgeht, es gehen ständig Menschen ein und aus hier. Und jedes Mal schlägt die Tür: Dumm, dumm, dumm - dann: Dangk! Es ist nicht ganz einfach hier in dieser Kabine, er packt die nassen Sachen in eine weitere Tüte. Endlich trocken, er geht wieder zu seinem Fahrrad und verstaut die nassen Sachen, was wird er brauchen auf dem Schiff? Nun noch Zeit genug und die Sonne scheint. Er fährt zur Lane 128 und stellt sich vor eine Bretterwand und lässt sich von der tiefer stehenden Sonne wärmen, Seite 46: Da kommt ein Auto zu ihm gefahren, zwei Frauen, offiziell gekleidet, steigen aus und sagen, er solle sich ganz vorn hinstellen, er müsse als Erster an Bord. O.k., o.k., er fährt ganz nach vorn, direkt an die Einfahrt zur Brücke und hält neben einem kleinen Häuschen, ein Kontrollkästchen, vielleicht 2 × 3 m, 2,50 m hoch, ab etwa einem Meter Höhe verglast, hinten eine Tür, die Tür steht auf, der Wind kommt von vorn, perfekt, denkt er, die Frau mit langen braunen Haaren Lothar Flachmann, September 2013 25(38) kommt heraus, sagt, er dürfe hier nicht stehen, sondern da, wo bereits die Motorradfahrer seien, sie zeigt zu ihnen, er sieht ihren langen Schatten auf dem Asphalt, sieht auch den Schattenarm, der zu den Motorradfahrern zeigt, wie lang so ein Schatten sein kann. O.k., o.k. Er dreht schon, ach bleiben Sie, stört ja keinen. War anstrengend, einfach dazustehen und keinen zu stören. Wieder kommen Fahrzeuge, Hafen-Personal steigt aus, sie sprechen mit der Frau mit den langen braunen Haaren, sie spricht wieder in ein Sprach-Funk-Gerät, telefoniert mit dem Telefon im Häuschen, notiert auf Blättern, korrigiert in Listen, er hatte sein Rad so unanstößig wie möglich vor, neben, unter, über, durch und durch… abgestellt und drehte ebenso mit den Mitgliedern dieses Hafenclubs wichtige Runden und hielt Ausschau nach Kängurus und Kumuluswolken. Dann wurde es ganz still, ein paar Minuten lang, dann ein Telefongespräch, das erste Auto kam über die Verladebrücke, alles Routine! Später gab sie ihm ein Zeichen – und auf dem Schiff dem Personal folgen, die wissen, dass er käme. Absteigen sollte das Zeichen, dass er mit der Hand machte, bedeuten, vorn rechts das Rad abstellen, war ein nächstes Handzeichen, schon kamen die Motorradfahrer, die Räder wurden auf extra Halter geschnallt, er sah ein Seil an einer Stahlstange zwischen zwei Querspanten an der Außenbordwand, nahm die Taschen und Flaschen und Riemen und Tüten vom Rad und machte das Seil am Fahrradoberrohr mit einem Webeleinenstek fest, verzichtete auf einen halben Schlag - nichts übertreiben! Ein Bootsmann prüfte seinen Knoten: O.k., o.k. Seite 48: Bei der Ankunft in Dover stellte er fest, dass sein Rad richtig vertaut war, aber dass das Seil selbst nicht an dieser Eisenstange, es lag fast lose darüber! Doch das Rad stand noch: Es gab ja auf der ganzen Überfahrt nur eine Welle und die war nicht einmal aus Wasser. Irgendjemand hatte die Ankunft in Dover verpennt - unten im Laderaum gab es deshalb einen kleinen Stau auf einer Spur. First in, last out - war wohl hier das Prinzip, so stand er fertig gepackt neben seinem Rad, ebenfalls die Motorradfahrer. Sollte man jetzt warten bis einer ausgeschlafen hatte und endlich in sein Fahrzeug stieg und losfuhr? Er ging auf die äußere Spur und fuhr ganz langsam nur zum anderen Ende des Schiffs. Ein Bordmanager gab ihm ein Zeichen. Er war an Land, Dover, die Motorradfahrer folgten ihm. Auf dem Boden sah er eine Fahrrad-, Fußgängerspur, er fühlte sich angesprochen und folgte ihr, lernte darauf fahrend große Teile des Hafengeländes kennen. Vor einem Eisentor endete der Spaß, ein Pfeil zeigte auf einen Knopf, was auf dem Schild stand, konnte er ohne Lesebrille gar nicht entziffern, mutig drückte er auf den Knopf und suchte eine Kamera um freundlich darein zu lächeln. Mit lautem Quietschen öffnete sich das Tor bzw. die Tür, er schob hindurch und schon schlug sie hinter ihm krachend in eine Schloss: Gefangen! War dann auf die falsche Straße geraten, die führte gleich hoch an Dover vorbei, das musste falsch sein, hatte den Plan doch mehrmals angeschaut, schon zuhause, das war falsch (Der Weg natürlich!) Er machte kehrt auf diesem Highway, war gar nicht so einfach, die Autos und einige LKWs hatten hier oben schon eine hohe Geschwindigkeit erreicht, klar je höher desto schneller. Lothar Flachmann, September 2013 26(38) Unten hatte er dann die Fahrradmarkierung wiedergefunden, konnte auf einem Promenadenradweg am Strand von Dover entlang fahren – was man nicht alles für Radfahrer tut! Als er meinte, er sei auf der richtigen Höhe, verließ er die Promenade und gelangte an einen Kreisel, er vermutete, dort rechts hoch fahren zu müssen. Unten bog er noch einmal in eine Geschäftsstraße, Fußgängerzone, ein und es gelang ihm, aus einem Automaten Geld abzuheben, wieder tropfte es leicht. Nein, die Londen Road ist die Parallelstraße! Schon hatte er Hausnummer 59 gesehen: Aber keine Pension, kein Hotel oder sowas. Er schaute auf seinem Plan, hatte sich vertan, Nummer 29 sollte es sein, Einbahnstraße hier, er schob zurück auf dem Gehweg. Aber es gab Nummer 29 gar nicht, hin und her: Nichts zu machen, er rief Heather an. Er wäre nah dran, die Straße weiter, an den Traffic Lights links, etwas hoch usw. usw. usw. Er verstand sie schlecht, auch viel Lärm hier in der Nähe der London Road. Da war die Ampel schon, auch ging die Straße hoch, jedoch steil hoch und er musste anhalten, er war schon wieder nass, von innen. Er rief wieder an. Heather gab gleich das Gespräch weiter an ihren Mann. Der war nun gar nicht mehr zu verstehen und hier war es viel leiser als eben. Das Beste wäre, er führe wieder zurück, dahin von wo er gestartet sei, die London Road hoch, dann käme eine Eisenbahnbrücke – gut, dass würde er erst einmal machen – das wären nur ein paar Minuten. Er hatte einen kleinen Plan dabei, fand auch die Eisenbahnbrücke auf dem Plan, weiter oben über die London Road. Ca. 20 Minuten später war er darunter, rief wieder an: Jetzt weiter, dann an der Ampel links halten, Haus an der linken Seite und immer weiter, er verstand: Wälder, Wirrwarr, River. Er stünde auf dem Bürgersteig vor dem Haus und würde auf ihn warten. Jetzt hatte er verstanden: Es gab die London Road und es gab eine London Road (River), der Zusatz (River) stand aber nicht auf seinem Plan (jedoch war die Stelle der Unterkunft korrekt vermerkt!) Ja, da stand er, reagierte aber erst spät, hatte ein Motorrad erwartet, klar, er hatte auch immer vom bike geschrieben und gesprochen. Nun schon eingespielt: Ständer ausklappen, Riemen lösen, Rucksack vom Gepäckträger abnehmen und aufsetzen, linke Packtasche ab, rechte Packtasche ab. Heathers Mann wollte helfen, jetzt war es dunkel. Stufen runter, in den Wintergarten. Nein, auch das Fahrrad rein, klar, an die Seite, gut so vor dem Fenster, da stört es nicht. Wie war's, das Missverständnis! Ja ein Missverständnis, wohin und woher und die Weltlage, ja die Weltlage wäre schlecht, ganz schlecht, er wisse auch nicht wohin das führen wird, die Schlüsselgeschichte, er hätte Hunger bestimmt, er suchte Kekse, Muffins in der Küche, Kaffee? Ist auch auf dem Zimmer, könne er auch dort trinken, selbstverständlich. Er half wieder eine Tasche tragen - in der anderen Hand den Teller mit Keksen, Muffins, die schon bald Lothar Flachmann, September 2013 27(38) runterrutschen auf die Treppenstufen, wollte neue geben, nicht nötig. Da das Bad, Handtücher egal, er wolle gleich duschen, kein Bad nehmen. Ob er seine nassen Sachen irgendwo hinhängen könne? Seite 52: Über die Heizung legen, an die Gardinen Stange hängen! Er ging schnell ins Zimmer, drehte an den Heizkörpern. Ab wann Frühstück und was? 7:30 Uhr wäre das zu machen? 7:30 Uhr war o.k., o.k. Kein Fleisch, sonst alles. Er wiederholte: kein Fleisch, sonst alles, 7:30 Uhr – Bohnen auch? Wollte er noch wissen. Erst der Linksverkehr, dann die Haussuche, jetzt die Erkundung eines englischen Badezimmers in einem Haus in Dover: Er könne jetzt hier die Betätigung der Toilettenspülung erklären, aber alle Freude, die man bei der Erkundung der Bedienung hätte, ginge verloren, wenn er es hier breit austreten würde. Die Dusche war heiß, der Strahl stark genug, er war zufrieden, im Zimmer warm, was heißt warm, bestimmt jetzt wohl 30 °C und alles, was er besaß, hatte er hier ausgebreitet, saß auf dem Bett, aß Kekse und Muffins und trank einen Kaffee, nur eines wusste er jetzt nicht: Stellte sich seine Uhr automatisch auf die englische Zeit um oder musste er die Zeit mit der Hand einstellen? Das Packen zuhause war nicht ganz einfach, einmal musste er sich auf eine mehrtägige Radtour einstellen und andererseits noch auf die Konferenz: Alles musste in zwei Packtaschen. Die Grundausrüstung fürs Rad: Flickzeug, Ersatzschlauch, Regencape,-Jacke, Ersatzschuhe. Er fuhr vorn dreifach: 26/36/48. Sollte er besser auf 26/32/48 gehen? Er blieb beim 36er Ritzel. Da ihm Karten, gute Karten fehlten, er hatte keine Zeit mehr gehabt, sich welche zu beschaffen – hatte sich ja erst in den letzten Tagen für die Reise mit dem Rad entschieden (in einer der letzten Mails aus Forest Row hatte B. noch geschrieben, er solle mit dem Rad kommen, sie fände es gut). In einer Stunde wäre er mit dem Zug in Dortmund gewesen, dann Flugzeug nach Gatwick, hin und zurück: 79 €!, von Gatwick Airport nach East Grinstead in 1 h mit dem Zug, das alle 30 oder 60 Minuten und von East Grinstead nach Forest Row 4,1 Miles, mit dem Taxi 10 Minuten - das wäre es gewesen, bequem, sicher, konferenzangepasst! Einfacher geht es gar nicht! Seite 54: Die Verlockung war da und, er hätte sich ganz anders kleiden können: Anstatt der Plastikbeutel eine Ledertasche, keine Regenjacke aus Polyester, dafür eine beige Hanfweste. Alles konferenzentsprechend. „Mein Flieger" hatte wieder eine Verspätung: Die Landebahn war nicht freigegeben worden vom Tower… So sind die Gespräche heutzutage! Hatte dann noch einen Tag vor der Abreise bis spät am PC gesessen und dort Karten am Bildschirm studiert, Straßen und Orte. Nur einen wichtigen Aspekt zeigten diese Bildschirmkarten nicht an – in Belgien und Frankreich fiel es noch nicht auf! Aber in England: Lothar Flachmann, September 2013 28(38) Hier gab es neben Straßen und Orten auch Hügel und Berge, mit teilweise erheblichen Steigungen. Mit der Zahnkranzkassette 13/26 hinten kam er schnell an Grenzen, den 13/28-er hätte er mindesten gebraucht. Mit welcher Pedale sollte er fahren? Er entschied sich gegen die Klickpedale. Ach, da war noch etwas passiert, was ihm bisher selten passiert ist: Er stand am Freitag der Abreise früh auf, war zu aufgeregt gewesen, durfte den Zug nicht verpassen. Hatte alles gut geklappt, war zeitig aus dem Haus gekommen, es war recht mild, Bein- und Armlinge hatte er in der Tasche lassen können. Er fuhr die Straße hinunter zum Bahnhof. Dieser Vorort-Bahnhof ist bisher noch nicht modernisiert worden in Gänze. Die Bahn hat einiges abgerissen und der Bahnsteig ist erneuert worden, aber nicht der Aufgang unten von der Straße zum Bahnsteig. Kinderwagen, Fahrräder, Gepäck und Rollstühle muss man die Treppe hoch tragen. Er steht mit dem Fahrrad vor der Treppe, steigt ab, überlegt, ob er die Taschen abnehmen solle um dann Fahrrad und Taschen einzeln hoch zu tragen, fühlt sich kräftig genug heute Morgen, fast an das hintere Rohr des Rahmens, will das Fahrrad mit allem hochtragen, da merkt er, dass er die Luftpumpe, als er noch gestern das Fahrrad geputzt hatte, nicht wieder an den Rahmen gesteckt hatte. Was nutzte da das ganze Flickzeug, der Ersatzschlauch, wenn er unterwegs, möglicherweise auf einsamen Strecken, keine Luftpumpe dabei hatte. Er rief noch zuhause an – ein paar Minuten waren noch Zeit bis zur Abfahrt des Zuges – aber keiner meldete sich. So musste er ohne Luftpumpe losfahren. Dass er kein Kettenfett dabei hatte, fiel ihm erst ein, nachdem er die erste Regenfahrt in Belgien hinter sich hatte. Ob er denn irgendwann auch mal in Forest Row angekommen sei, wollte ich wissen, wenn er hier alles Mögliche bis ins Detail erzählt, wäre das vielleicht für ihn unterhaltsam. aber bei diesen ganzen Schilderungen hätte ich ganz gern mal gewusst, wann und wie er nun an seinem Ziel in England angekommen wäre. O.k., o.k. Ach, der Nickelspanner ist auch zuhause geblieben. Ja, die Ankunft in Forest Row, das war dann alles ganz schnell gegangen am Abend, Straße runter, es war kühl, die Sonne war bestimmt schon untergegangen, ein paar Autos auf der Straße, er hatte den Detailplan, ebenfalls aus dem Internet gedruckt, genau im Kopf, er steckte zwar in der Klarsichthülle, die er mit der genauen Routenbeschreibung für heute an seinen kleinen Rucksack geklemmt hatte, aber er brauchte da nicht mehr drauf schauen, dass Ortseingangsschild von Forest Row hatte er bereits gelesen, nun müsste bald eine kleine Straße von der Hauptstraße nach rechts abbiegen. Da war sie schon, ging noch leicht abwärts, dann stieg sie an, ein paar Wellen in der Straße, ein Auto von hinten, zwei Paare kamen ihm entgegen. Links ein Parkplatz, ein weiterer Parkplatz geradeaus, er fuhr links auf ein großes Gebäude zu, ein paar Menschen traf er dort, wer er es, ah ja, man erwarte ihn bereits, eine Frau nahm einen Lothar Flachmann, September 2013 29(38) Briefumschlag, der an einer Pinnwand draußen vor einer Tür befestigt war und gab ihm den Umschlag, darin sei der Schlüssel, das Haus fände er dort hinten, die Rezeption sei geschlossen schon, morgen früh könne er dorthin und alles Weitere klären. Sie wünschte ihm einen guten Abend und einen guten Start zur Konferenz. Er fuhr noch ein paar Meter mit dem Rad, stieg dann ab wegen dem Drahtgeflecht auf dem Untergrund und ging die letzten Meter zu Fuß, hatte das Haus erreicht, stellte das Rad ab, ging ins Haus, orientierte sich, wo war wohl sein Zimmer? Eine Treppe hoch, die Treppe wieder runter, war wohl verkehrt, eine andere Treppe nach unten, kam der Sache näher, vor den Türen klebten Namensschilder, und tatsächlich, er fand seinen Namen, nicht ganz korrekt geschrieben, aber so korrekt, dass er wusste, er sei gemeint. Der Schlüssel passte, er holte sein Gepäck, stellte sein Fahrrad in einen Fahrrad-Unterstand, die Dusche hatte er schon gefunden, duschte – jetzt sei aber genug mit seinem Neorealismus, möglicherweise wolle er nun noch erzählen wie er sich die Zähne putzte, Zahn für Zahn, wollte ihn stoppen, mir jedes Detail zu erzählen – er hatte noch etwas gegessen, war dann frisch geduscht, in "Konferenzkleidung" nun noch einmal hinausgegangen und hatte den Weg zur Bank gefunden und auf dieser noch eine ganze Zeit gesessen. Es war schon fast dunkel, als er wieder zurückging und tief einschlief. Am nächsten Morgen, die Konferenz begann erst später, traf er im Frühstücksraum W. Sie hatten sich lange unterhalten. Als er in Gand ausgestiegen war, begann eine weitere Etappe der Reise. Nun gab es keine Bahnfahrt mehr, nun musste er aufs Rad. Der Bahnsteig, der ganze Bahnhof war eine Baustelle, Bretterzäune, Absperrungen, Baulärm, große Maschinen. Er fand einen Weg nach draußen bzw. vom Bahnsteig hinunter auf die Straßenebene. Stand dann mitten in einer Baustelle, schob sein Rad durch Sand, über einen Steinhaufen bis er auf der Straße stand. Er stieg auf, fuhr im rechten Winkel zu den Bahngleisen, zur Bahnstrecke und meinte so die Straße nach Deinze zu finden. Er hatte den Weg auf Anhieb gefunden, war über den Kanal gefahren und befand sich auf der N43 und wollte dann ab Deinze weiter auf der N35 fahren. Die typische Ausfallstraße einer Stadt, noch starker Autoverkehr, es war Freitag, früher Nachmittag. Sehr kalt, er hatte seine Windjacke auch noch angezogen, Gegenwind. Er fror ein wenig. Auf beiden Seiten der Straße ein Radweg, so konnte man immerhin vom Autoverkehr getrennt fahren. Die fehlende Luftpumpe bestimmte seine Gedanken. Würde es gut gehen? Würde er sie brauchen? Würde er sie nicht brauchen? Was, wenn er hier außerhalb der Stadt einen Platten bekäme? Er beschloss, eine Luftpumpe zu kaufen. Sah auch schon die ersten Fahrradläden, hielt bei einem größeren an, stellte sein Rad ab und ging hinein, aber es war ein Laden, in dem Kompletträder verkauft wurden, kaum Zubehörteile. Er sah keine Luftpumpe in dem kleinen Regal, er ging wieder hinaus. Befuhr die Straße weiter und weiter, viele Autohändler und immer wieder Bars, bald kam es ihm vor, als würden an dieser ganze Straße nur Autohändler und Bars sein. Was es für Bars waren, daran gab es keinen Zweifel mehr. Es machte keinen Sinn, sie zu zählen, es waren sehr, sehr viele. Anscheinend großer Bedarf, sehr großer. Kam an einem neuen Gebäude vorbei und vermutete schon wieder ein großes Autohaus - es war aber ein Zweiradgeschäft, Motorräder und Fahrräder, der Verkäufer bediente gerade noch Lothar Flachmann, September 2013 30(38) Kunden, hatte ihn aber schon „vorgemerkt“. Eine Pumpe! Diese langen Pumpen führen sie nicht mehr! Er zeigte viele Modelle, das preiswerteste war dreimal so teuer als seine, die Zuhause im Regal lag. Er kaufte das Modell, dass der Verkäufer empfahl, die Pumpe war insofern gut, als das er sie während der ganzen Reise nicht benötigte. Im Laden war elektrisches Licht eingeschaltet obwohl das ganze Gebäude nur aus Glas und ein paar Metallstangen bestand. Draußen war es tatsächlich fast dunkel und es war erst (schon!!!) 15 Uhr und 20 Minuten. Er schaltete den Dynamo nicht ein. Auf der anderen Straßenseite stand eine Frau im Schaufenster, dass von innen beleuchtet war, anscheinend war die Mittagspause vorüber, sie hatte einen ansprechenden Körper, als sie bemerkte, wie er zu ihr hinschaute, winkte sie, er solle vorbeikommen, irgendwie war ihm nicht danach und er schaute wieder nach vorn auf den Weg, es gab auf diesem Radweg so etliche Hindernisse. Zwei simple Zettel, ausgetrennt aus einem Notizblock, DIN A5. So liegen sie vor mir auf meinem Tisch. Er hat sie mir dagelassen, ich könne sie vielleicht noch verwenden? Da liegen sie unscheinbar nebeneinander und haben doch zwei volle Tage entscheidend mitbestimmt! Schnell aufgeschrieben, abends vor den Tagestouren, nur jede zweite Zeile beschrieben. Namen, ein paar Straßenbezeichnungen, dreimal eine Kilometerangabe. Ortsnamen, die nichts ihm sagten als Fixpunkte einer Route, die erst Gestalt annahmen beim Durchfahren, Erwartungen weckten, die sich je nachdem erfüllten, Namen, die sich einprägten, weil er sie viele Male las, sich vorsagte, laut und leise, eher laut - er war ja meistens allein auf der Straße, einige Namen gefielen ihm vom Klang, keinen dieser Orte kannte er, hatte ihn vorher gehört - Dover schon, auch Ashford, aber die anderen nicht. Heathers Mann hatte sich sehr für seine Route interessiert, Biddenden, Biddenden, Biddenden - auch ihm schien dieser Name zu gefallen. Die Route, gerade auch aus Dover heraus, wäre gut gewählt, er hatte ihm gesagt, dass er sie aus dem Internet hätte, ja, da sei das Internet nicht schlecht, kleine Straßen, nicht an der Küstenstraße entlang, da führen viele Autos und LKWs, der Hafen, der Tunnel, ob er auch schon durch den Tunnel gefahren wäre, ja, wäre er, sie hätten Bekannte in „Northrheinwestfälen“, ginge schnell, Angst hätte er nicht gehabt. Biddenden, da seien sie häufiger, aber mit dem Auto, sonntags mal. Alkham, Hawkinge, Etchinghill - kurz vorher hatte er auf dem schmalen Weg einen Radrennfahrer gefragt, ob es hier weiter nach Etchinghill gehe, er hatte angehalten, kurz, yes it’s correct, this is the way to Etchinghill! In Hawkinge stand auf dem Straßenschild „The STREET“, das konnte er sich merken, genauso die folgende Straße: „Aerodrome Road“. Er stand an der Ecke „The STREET“/„Canterbury Road“, rechts oder links? Neben ihm kniete eine Frau auf dem Gehweg und zupfte Kraut, sie war sich nicht ganz sicher, riet ihm den Weg nach rechts, holte ihren Schwiegersohn, rechts ginge, aber mit dem Rad und wenn man sich nicht auskennen würde …. also nach links, dann rechts, „Aerodrome Road“ - er fuhr nach links, hatte sich bedankt, kam später doch wieder sehr nah an diese „Vor-Tunnel-breite-Straßen-Konzentration“. „Three Chimneys“. Und eine Anzahl „Hurst’s“: Sissing-, Flishing-, Goud-, Lumber-. Hook- und Bells Yew Green. In Frant auf dem großen Rasenplatz war eine Sportveranstaltung, weiße Trikots und Lothar Flachmann, September 2013 31(38) was spielten sie? In Hartfield traf er Pooh. Für den Rückweg hatte er die „Country Tour“ über Tenderden gewählt, irrte irgendwann auf der Fahrradstraße nach Tenderden eine Stunde umher, um am Ausgangspunkt wieder anzukommen, die folgende „Country Tour“ ab Tenderden war schmal und ruhig, er traf keine Imbissbuden oder Souvenierläden. Im Süden sah er Kühltürme, die konnten doch nicht vom Atomkraftwerk bei Dungeness sein, hatte das überhaupt Kühltürme? Dungeness liegt im NATIONAL NATURE RESERVE, da fährt angeblich die kleinste Eisenbahn der Welt und transportiert Touristen, die Hauptattraktion an der Endstation Dungeness: Das Atomkraftwerk, hatte er gelesen, nach der Reise, im Internet. 7) Aber die Kühltürme? Biddenden war so für das Fotobuch. Immer wieder war ihm Diksmuide in den Kopf gekommen. Der erste Weltkrieg war so nahe gekommen - er hat sich nichts angesehen, nun der Turm war unübersehbar, aber er war in keinem Museum gewesen, hatte nicht die Schützengräben gesehen! Aber er war mitten drin, erinnerte sich an Verdun, an den Onkel, an Bücher, die er gelesen hatte, er hatte in einigen Prospekten, die in seinem Zimmer auslagen, geblättert, morgens hatten sie auch das Thema angesprochen, sie waren der gleichen Ansicht gewesen: Es ist gut, wenn man weiterhin daran erinnern kann, aber gleichzeitig muss man gemeinsam daran arbeiten, dass sich so etwas nicht so leicht wiederholt. Die „trauernden Eltern“, das Mahnmal der Käthe Kollwitz8), 1914 geplant, 18 Jahre später aufgestellt, hier, 18 Jahre alt war Peter, als er fiel am 23.10.1914. Ihrem Sohn zu Ehren wollte sie anfänglich ein Denkmal setzen, später aber auch all den anderen ins Verderben geschickten Männern - er meinte gelesen zu haben, dass dies auch ein Prozess war vom ganz persönlichen Leid zu einem Gedenken auch an andere. Er war nun eine ganze Zeit gefahren, hat es erst gar nicht wahrgenommen, an irgendeiner Kreuzung musste er sich aber entscheiden, wohin die Fahrt weitergehen sollte, dies hatte ihn aus einer Art Trance herausgerissen. Da wurde ihm klar, dass er nun schon etliche Stunden fuhr und noch keine richtige Pause gemacht hatte, plötzlich merkte er eine Erschöpfung, eine Unlust überhaupt weiterzufahren. Dann tauchte vor ihm der Ortskern von Biddenden auf. Da war er also angekommen, in diesem Biddenden, wie oft hatte Heathers Mann diesen Namen genannt! Er fuhr auf diese alten Häuser zu, die nicht mehr in diese Zeit passten, war er in einem früheren Jahrhundert gelandet? Er fuhr direkt auf eines dieser Gebäude zu, vor dem ein Schild auf einen Gasthof hinwies. Auf dem Bürgersteig davor stand ein Reiter, also eine Schautafel, auf dem Gerichte angepriesen wurden. Der kleine Hof vor dem Haus war mit Holzbänken und -tischen fast vollgestellt, aber keiner saß hier, es war wohl doch zu kalt um draußen zu sitzen. Ideal um sein Fahrrad abzustellen. Hängte den Helm an den Lenker und ging zur Tür, öffnete sie, musste 7) 8) n-tv vom 18.03.2011 siehe auch: Das steinerne Leid der Käthe Kollwitz, Gisbert Kuhn Lothar Flachmann, September 2013 32(38) aufpassen, dass er mit dem Kopf nicht an den Türrahmen stieß – der obere Balken sah so aus, als hätten ihn schon viele, viele Köpfe getroffen. Er schaute in die Gaststube und war erst einmal etwas irritiert: Wie niedrig die Räume waren! Überall standen Stützpfeiler aus Holz, viel Holz sah er, gleich rechts neben der Tür, am Fenster, war ein Tisch frei, die anderen waren belegt, so wie er es spontan sah. Er setzte sich an den Tisch, betrachtete noch einmal die Speisekarte, ja, da stand aufgelistet das, was er draußen auf der Holztafel bereits gelesen hatte. Seine Wahl war getroffen. Da kam eine junge Frau, schwarz gekleidet, an seinen Tisch und sagte, dass die Bedienung beendet sei, er hatte es nicht gleich verstanden und sie wiederholte es. Er interpretierte es so, dass sie gleich schließen würden. Fragte aber noch, ob er am Tresen etwas trinken könne. Ja selbstverständlich könne er noch etwas trinken, es gebe nur nichts mehr zu essen, die Küche wäre jetzt geschlossen. Er ging zum Tresen, musste wieder den Kopf vor einem Querbalken senken und setzte sich an die Theke auf einen Barhocker. Was er denn trinken wolle, fragte sie, die ebenfalls aus dem Gastraum nun in den Thekenbereich, hinter die Theke, gekommen war. Er überlegte kurz, hätte vielleicht gern einen Kaffee getrunken, entschied sich aber für ein großes Wasser. Ob er etwas darein haben wolle, fragte sie. Er überlegte wieder, was man so in einem Wasser haben könnte. Sie erkannte das Fragen in seinem Gesicht und bot an: Eine Zitrone. Ja, eine Zitrone. Sie schnitt eine Scheibe aus einer Zitrone heraus und ließ sie über dem Glas hineinfallen ins Wasser und stellte das große Glas mit Wasser, das sie vorher aus dem Wasserhahn hat einlaufen lassen, vor ihn hin. Wahrscheinlich hatte er gesagt, es solle nicht so kalt sein, hatte das Eis verweigert. Er tat einen großen Schluck – jetzt merkte er, dass er sehr großen Durst hatte. Nahm einen zweiten und dann einen dritten Schluck, lutschte an der Zitronenscheibe und wollte sein Getränk bezahlen. Sie sagte, dafür müsse er nichts bezahlen, es sei kostenfrei. Er bedankte sich und ging durch die Tür nach draußen. Zog die Radhandschuhe über, war gerade dabei seinen Helm aufzusetzen, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Er drehte sich um und eine ältere Dame stand neben ihm und erkundigte sich nach dem Hergang, sie hätte es beobachtet, es sei unmöglich gewesen, ihn so abzuweisen, sie wisse nichts davon, dass nun schon die Küche geschlossen sei. Er habe bestimmt Hunger, dann soll er ein paar yards weiter fahren, auf der rechten Seite wäre ein Restaurant, nannte auch den Namen, die hätten auf jeden Fall noch geöffnet und das Essen sei auch besser als hier, wenn er dorthin ginge, solle er nannte ein Gericht, er hatte es vergessen - eben dies bestellen. Ihr Mann war bereits an der Straße angelangt und öffnete die Tür eines Autos, das direkt gegenüber dieser Gaststätte am Straßenrand parkte. Er schaute auf die Speisekarte des empfohlenen Restaurants, später durch die Fenster nach innen und entschied sich nicht einzukehren – er wollte ja heute noch ankommen in Forest Row. Er kam nicht weit, war vielleicht erst ein oder 2 km aus Biddenden herausgefahren, da schüttete es von oben, er hatte keine Zeit, sich unterzustellen. Bemerkte die Nässe auf dem Kopf, an den Beinen, auf der Schulter. Plötzlich war es sehr kalt geworden – eben hatte sogar noch die Sonne geschienen. Er las ein Schild: Café. Auf der rechten Seite hinter einer langen Hecke lag etwas abseits der Straße, nicht viel, vielleicht 50 m, ein Gebäude, das eher in den Südwesten der USA gepasst hätte, er sah schon Cowboys, die ihre Pferde an einer Stange vor einem Saloon banden. Er kam auf dem großen kiesbedeckten Platz mit seinem Rad ins schlingern. Er musste Lothar Flachmann, September 2013 33(38) sogar die letzten Meter schieben um nicht zu stürzen. Er schob sein Rad auf die Veranda, die vor dem Holzgebäude sich befand, ließ die Taschen am Fahrrad, denn innen war genau an dieser Stelle ein Platz an einen Tisch frei, so hatte er jederzeit die Möglichkeit, auf sein Fahrrad Acht zu geben. Zufällig schaute er nach oben: Es gab kein Dach, man hatte nur Latten hierüber angebracht, vielleicht dass irgendwelche Gewächse darauf ranken könnten. Er ging durch die Tür, das Café: Sehr gut besucht. Die meisten Menschen saßen rechts in einem großen Saal, er ging nach links, setzte sich gegenüber seinem Fahrrad an einen Tisch. Es dauerte sehr lange, bis er bedient wurde, die Frau entschuldigte sich, sie hatte anderes zu tun gehabt, hatte ihn dann wieder vergessen. Er hatte sich in der Zwischenzeit an einer Kuchentheke einen Walnusskuchen auserkoren, den er zu einem Kaffee bestellte. Er konnte in den großen Raum hineinschauen, da bediente eine ältere Frau, die aber sehr attraktiv aussah, zeigte sehr viel Bein und sehr viel Brust. An der Wand hing eine Uhr, er rechnete wieder – das war nicht mehr zu schaffen, wie sollte er das noch schaffen, werde wahrscheinlich gerade mal die Hälfte der gesamten Wegstrecke geschafft haben, dachte er - und es war bereits 15:15 Uhr, kurz nach neun war er von Dover losgefahren. Der Kuchen hatte ihm geschmeckt, nach dem Kaffee fühlte er sich etwas wacher. Doch, er musste sich losreißen. Bezahlte, schob sein Fahrrad zur Straße und fuhr los, fuhr und fuhr, fand den Weg – nur einmal die falsche Richtung in Frant, machte noch eine kurze Pause, ca. eine halbe Stunde vor Forest Row und hatte es geschafft. Die Gedanken an eine Zwischenübernachtung waren vielleicht nicht schlecht gewesen, hatten ihn sozusagen noch einmal beflügelt. Sie hatten wieder einmal zusammengesessen, er wenig erzählt, ich wenig gefragt, fragen sollte ich auch gar nicht viel, nur zum Verständnis, so hatten wir es vereinbart - es war Routine eingekehrt: Als würde eine (nicht vorhandene) Checkliste abgearbeitet: Ah, heute die Begegnung in Dunkerque im Office de Tourisme … Was macht man, wenn man an so einem Punkt angelangt ist? Eine Pause? Aufhören, jetzt einfach Schluss machen? Abrunden, alles ordnen - war ja doch teilweise ein Wirrwarr entstanden? Wir trafen eine Vereinbarung: Er würde nun tatsächlich seine Themen, die ihm weiterhin noch einfielen, aufschreiben und wichten (professionelles Arbeiten!!), wir würden uns noch zwei Mal treffen, das müsse reichen, mit dem Gesagten hätte man doch vielleicht schon eine vage Vorstellung, wie seine Reise nach Forest Row (hätten wir es nicht korrekt Hin- und Rückreise nach Forest Row betiteln müssen? Ja, geografisch betrachtet - seltsam, ohne darüber gedacht zu haben, hatten wir den Titel schon so gewählt, wie wir ihn jetzt, nachdem wir darüber gesprochen hatten, gewählt hätten!) für ihn verlaufen war. Lothar Flachmann, September 2013 34(38) „A Day in the Life.“ Er weiss es nicht mehr genau. Vielleicht bei Etchinghill. Egal von welcher Seite er kam, es war ein markanter Ort. Dadurch fand er bei ihm, sicherlich tat er es auch bei anderen Radfahrern, besondere Beachtung, als es bergan ging, er sich mächtig anstrengen musste um den kleinen Gipfel der Straße zu erreichen. Die Energie, die grad noch in die Beine „geflossen“ war, ist plötzlich für andere Aktivitäten frei. Und, ganz markant an dieser erhöhten Stelle steht ein Fahnenmast, daran weht eine Fahne bei konstantem Wind in eine Richtung. Daneben steht eine Granate aus der Zeit des zweiten Weltkrieges - so schätzt er sie ein. Kühl. Auf dem Weg nach Dover hält er hier an, der Gasthof geschlossen, wieder? Oder für immer? Er stellt sich neben den Eingang, geschützt, der kühle Seewind hatte schon die Nebelschicht ganz unter die Sonne geschoben. Er entzifferte mühsam ein englisches Typenschild aus Messing, seitlich an der Granathülse angebracht. Wieder war ihm die eine Zeile aus dem BeatlesSong (Ein John Lennon-Text) eingefallen. Spätabends, nachdem er heiß geduscht hatte, in seinem überheizten Zimmer noch etwas gegessen hatte, war er mit dem Durcheinander in seinem Zimmer noch nicht so recht zufrieden gewesen, er musste noch etwas gestalten, auf dem vollgestellten Schreibtisch, nicht von ihm vollgestellt, lag ein kleiner Stapel mit alten Illustrierten. Auf einer war Queen Elisabeth abgebildet. Die Zeitung war alt aber die Abbildung, das Foto von Queen Elisabeth zeigte sie in sehr viel jüngeren Jahren, stand nicht irgendwo der Titel: 50 Jahre Queen Elisabeth? Er nahm diese Illustrierte und legte sie auf das Plüsch-Kopfkissen. Schon sehr früh hörte er, wie jemand unten in der Küche hantierte. Lothar Flachmann, September 2013 35(38) Da wurden Töpfe hin und her geschoben, Teller gestapelt, ein Wasserkocher pfiff. Er wusste immer noch nicht wie spät es nun genau war, er mutmaßte, dass sein Handy die Uhrzeit automatisch eingestellt hatte, er schaute noch einmal auf die Einstellungen. Um sicher zu gehen, ging er um 7:00 Uhr hinunter, wollte schon seinen „Routenplaner“ am Fahrradlenker befestigen und gleichzeitig schauen, wie spät es nun tatsächlich sei. Bei 7:00 Uhr wäre er entweder eine halbe Stunde zu früh oder eine halbe Stunde zu spät gewesen. Er war zu früh. In der Küche wirtschaftete Heathers Mann. Er war so beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie er vor der offenen Tür stand und ihn begrüßte. Irgendwann schaute er jedoch auf und sagte, er könne sich schon in den Frühstücksraum setzen, würde aber noch einen Moment dauern, aber der Kaffee wäre schon fertig. Diesem ganzen Spektakel hatte Heather beim nächsten Mal einen Riegel vorgeschoben, indem sie klipp und klar sagte, Frühstück gebe es ab 8:00 Uhr und nicht früher. Beim zweiten Mal war er auch schon früher unten im Flur gewesen um auch schon Sachen zu seinem Fahrrad zu bringen: Flasche, Helm, Handschuhe. Denn heute musste er genau auf die Uhrzeit achten, denn er wollte ja mit der Fähre fahren. Die Tür zum Frühstücksraum war bereits geöffnet und zwei Gäste, Mann und Frau, saßen bereits am Tisch und aßen. Heather kam aus der Küche und begrüßte ihn, es war noch lange nicht 8:00 Uhr. Sie machten sich schnell bekannt, die beiden kamen aus Schweden und wollten ebenfalls die Fähre um 10:00 Uhr benutzen. Wir unterhielten uns in Englisch so gut es ging. Die Frau sprach weniger englisch, der Mann mehr, er mittel. Manchmal kam Heather herein und brachte ihm das Englische Frühstück, alles bestens, wieder mit Bohnen und Rührei und Toastbrot. Bielefeld würde er kennen, er war noch nicht in Bielefeld, war immer vorbeigefahren, wenn er die Autobahn fuhr, die A2. Sie wollten jetzt auf der Heimreise einen Abstecher nach Münster machen, da würden Freunde von ihnen wohnen. Ja, Arminia Bielefeld sei jetzt wieder aufgestiegen in die zweite Liga. Siebenmal auf- und abgestiegen. Er überlegte, ob er irgendeine schwedische Fußballmannschaft kennen würde – ihm fiel keine ein. Aber man unterhielt sich schnell über anderes und er war froh darüber. Irgendwann kam Heather wieder herein, fragte ob alles in Ordnung sei, sie meinte, es wäre ja gut, dass sie sich englisch unterhielten, so hätte sie auch einiges erfahren. Uniformierte Schulkinder überquerten die Straßen, warteten an Ampeln, es war kühl und diesig. Der Weg bis zur Fähre zog sich doch, es war gut, dass er sich beeilt hatte. Wieder hatte er im Hafengelände die Fahrradspur verloren, hatte sie wieder gefunden, das Einchecken dauerte länger, er musste in ein Gebäude, sich dort anstellen, nicht lange, dann wurde ihm eine spezielle Karte ausgestellt, die Autofahrer konnten, wie er es sah, einfach durchfahren, nachdem sie Ausweis und Fahrkarte gezeigt hatten. Er stand wieder, ähnlich wie in Calais, in einer äußeren Spur ganz vorn. Hier gab es kein solches Kontrollhäuschen. Eine große elektronische Anzeigetafel zeigte alles Mögliche an. Hinter ihm tauchten manchmal weiße Flecken der Kreidefelsen im Nebel auf und verschwanden wieder. Es nieselte leicht, dann wieder stärker. Direkt vor ihm standen oder waren angelehnt 4-5 Fahrräder mit Gepäck. Er stellte sein Rad Lothar Flachmann, September 2013 36(38) dahinter, ging noch einmal zur Toilette (auch hier gab es ein zentrales Toiletten- und Imbisshäuschen). Die Fähre war bereits eingelaufen und hatte hier am Dock festgemacht. Später kam eine Gruppe Menschen die Verladebrücke herunter, waren es Inder? Wieder etwas später kamen Hafenangestellte und verteilten sich auf der großen Fläche in einiger Entfernung vor der Verladebrücke. Schon donnerte der erste Lkw die Brücke herunter, die Männer zeigten ihm die Richtung nach rechts. Nun setzte ein Dröhnen, Rattern und Schnauben ein: Aus zwei Richtungen kamen die LKWs, das untere Deck hatte die Ausfahrt rechts, das Oberdeck die Ausfahrt links (über die Verladebrücke), auf dem Platz trafen die Fahrzeuge wieder zusammen und reihten sich ein auf zwei Spuren, die hinaus aus dem Hafen führten. All dies spielte sich mit ungeheurer Geschwindigkeit ab, es nieselte weiterhin, alles war so diesig, dass man nicht weit schauen konnte, es war alles irgendwie irreal. Dann setzte Stille ein, ein, zwei Nachzügler kamen noch und dann lange Zeit nichts mehr - ihm fiel Diksmuide ein, etwa 1914. Von den anderen Radfahrern waren mittlerweile zwei oder drei zu ihren Rädern zurückgekehrt. Sie waren vielleicht 17 Jahre alt, Engländer. Einer vom Personal gab ein Zeichen, sie sollten kommen. Also wieder die Fahrradfahrer zuerst, so war es am ungefährlichen, dachte er. Während er die Rampe hoch fuhr, sah er die beiden noch fehlenden Fahrradfahrer zu ihren Rädern rennen. Kurze Zeit später standen sie alle zusammen und verstauten ihre Räder. Sie unterhielten sich kurz: Wohin er wolle? Und wohin sie wollten? Nach Amsterdam. Der eine hatte einen kleinen Seesack hinten über einen wackligen Gepäckträger gelegt, der andere trug einen Rucksack, einer hatte uralte, sehr kleine Packtaschen, die Räder sahen so aus, als wären es ihre ersten Jugendräder gewesen. Als sie wieder angelegt hatten, waren sie noch im Hafen zusammen gefahren, sie hatten ihm zu gewunken – mit welcher Dynamik sie losfuhren! Er war dann links ins Industriegebiet abgebogen, er erhoffte sich einen einfacher zu findenden Weg in Richtung zur belgischen Grenze, er konnte ihnen keinen Tipp geben, denn er wusste den Weg ja auch nicht genau, einer zog eine Landkarte aus seiner Jackentasche heraus und sie beratschlagten, er wechselte die Spur nicht ordnungsgemäß (schon wieder), dass war ihm klar, aber sonst hätte er einen riesigen Umweg fahren müssen um auf die andere Fahrbahn zu gelangen, gleich würde die Autokolonne sie erreichen. Irgendwo hoppelte ein Kaninchen auf der kurz gehaltenen Rasenfläche zwischen all diesen Spuren. Der Weg durch das Industriegebiet, durch den Industriehafen, an den vielen Tanks vorbei war richtig gewesen – trotzdem, es zog sich und zog sich. Irgendwann kam er wieder in eine Wohngegend, erkannte das ein oder andere Gebäude, die ein oder andere Kreuzung. War dann auf dem Hinweg doch nicht so ganz falsch gewesen hier. In der Innenstadt hatte er sich einen kleinen Übersichtsplan besorgt, das war sehr hilfreich. Es gab einen Weg direkt an der Promenade entlang. Am Malo-Les-Bains setzte er sich auf eine Bank, wollte eine kurze Pause machen, etwas essen. Vor ihm der Strand, Menschen gingen auf und ab, Kinder, ganze Schulklassen spielten und tobten auf dem Sand. Rechts neben ihm, ebenfalls auf einer Bank, saßen zwei Männer und tranken Bier. Links Industriegelände, Schornsteine, Verladekräne, Rauch. Je länger er saß auf der Bank, desto näher rückte Forest Row, er saß da auf der Bank, Lothar Flachmann, September 2013 37(38) allein und schaute über die langgestreckte, ungemähte Wiese mit den großen allein stehenden Bäumen darauf, im Hintergrund, das war der Ashdown Forest. Ein letzter Gang in den Ort, vorbei an dem Bauernhof, ein kleines Fest, für Kinder (?) löste sich auf. In Gedanken verloren – die Konferenz - ging er den bekannten Weg, grad an einer Hecke vorbei, hält links neben ihm ein Auto: "Do You need a lift?". Ihm war nicht ganz sicher, ob er gemeint sei, schaute sich um, der Mann am Steuer hatte es gemerkt, erneut: "Do You need a lift?". Er schüttelte den Kopf, bedankte sich, er wolle noch etwas gehen. Kortemark würde man auch mit dem Rad sehr schnell erreichen, hatte sie gesagt. Er hatte einen Moment abgepasst, als es nicht regnete, hatte sich verabschiedet, war aufs Rad gestiegen und nach Kortemark gefahren. Er hatte Kortemark tatsächlich sehr schnell erreicht. Es war trocken geblieben von oben. Die Straße noch nass. Auch der Bahnhof war leicht zu finden gewesen. 5 Minuten früher, er hätte mit dem Zug fahren können, der gerade an dem Bahnsteig angehalten hatte. Aber er besaß noch keine Fahrkarte. Die Züge fuhren stündlich. Hinter dem Schalter stand ein Schalterbeamter (stimmte die Bezeichnung eigentlich?). Er sagte allen, die bei ihm eine Fahrkarte kaufen wollten, er würde keine Fahrkarte verkaufen, sie müssten diese am Automaten draußen kaufen. Meistens trat er dann aus dem Raum heraus und man traf sich am Fahrkartenautomaten draußen auf dem Bahnsteig wieder und er zeigte auch ihm, wie man den Automaten bedienen müsste, drückte selbst die Tasten, nur das Geld musste man selbst in den Automaten hineinstecken. Er hatte nun noch fast 1 Stunde Zeit, was würde er tun? Er setze sich wieder aufs Fahrrad und fuhr in dem Ort ein wenig herum, vielleicht würde er ein nettes Café finden. Nichts. Um den Ortskern führt eine Straße, dies war eine Einbahnstraße. Er fuhr nun ein zweites Mal um den Ortskern herum, schaute irgendwo an dieser Straße in einem großen Spiegel, konnte sich sehen, wie er auf dem Rad saß und fuhr. Er fuhr ein drittes Mal um den Ortskern herum, schaute wieder in den Spiegel. Er wiederholte die Fahrten noch etliche Male, schaute immer wieder in den Spiegel, bis er meinte, es wäre Zeit zum Bahnhof zu fahren. Als er zurückkam, dachte er, das ist jetzt der letzte Abend, an dem er in Westwood drei die Treppe hinunter gehen würde - er öffnete die Glastür, ließ sie los und beeilte sich die paar Stufen hinunter, er würde es schaffen - wie die Tage zuvor, die zweite Tür zu öffnen, hindurchzugehen, bevor die Tür oben wieder ins Schloss fiel; manchmal war es ihm sogar gelungen, auch noch seine Zimmertür zu öffnen, ins Zimmer zu treten, bevor er oben hörte, dass die Tür schloss. Living next door with B.9) B. war ebenfalls wie die anderen Menschen hier an dem kleinen Flur, die zur Konferenz gekommen waren, schon abgereist. Aber er blieb ja noch eine Nacht, musste noch einige Male den Weg von oben hinunter ins Zimmer 3 gehen. Im Frühstücksraum traf er morgens A. 9) B. ist nicht immer gleich B. - und auch für anderes stehen! Lothar Flachmann, September 2013 38(38)