V Geschlechterverhältnisse im Bildungssystem – Eine Zwischenbilanz
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V Geschlechterverhältnisse im Bildungssystem – Eine Zwischenbilanz
In: Rolff, H.-G./ Bauer, K.-O./ Klemm, K./ Pfeiffer, H. (Hg.): Jahrbuch der Schulentwicklung Bd. 10, Weinheim 1998, 163-199. Hannelore Faulstich-Wieland, Elke Nyssen V Geschlechterverhältnisse im Bildungssystem – Eine Zwischenbilanz 1 Einleitung 2 2 Zur Situation von jungen Frauen und Männern im allgemeinbildenden und beruflichen Bildungssystem - statistische Daten 3 2.1 Bildungswege von jungen Frauen und Männern am Ende der Sekundarstufe I 3 2.2 Geschlechterdifferenzen in der Sekundarstufe II 5 2.3 Junge Frauen und Männer in der beruflichen Ausbildung 8 2.4 Studium und Geschlecht 10 2.5 Fazit zur statistischen Zwischenbilanz 12 3. Schulische Modellversuche zur Förderung der Chancengleichheit von Mädchen und Jungen 14 3.1 "Mehr Mädchen in Naturwissenschaften und Technik" - Einfluß der Lehrkraft auf Erfolg oder Mißerfolg19 3.2 "Ohne Jungs ganz anders?" - Bedeutung des "Umfeldes" 20 3.3 Koedukation im Physikunterricht - "mädchengerechte" Didaktik als Lösung 22 3.4 Mathematik und Technikunterricht – Wichtigkeit von Schulkultur, Monoedukation und Vorbildfunktion 23 3.5 Zwischenfazit 25 4. Schule und Berufsorientierung 26 4.1 "Zur Förderung von Selbstfindungs- und Berufsfindungsprozessen von Mädchen in der Sekundarstufe I"27 4.2 "Berufsorientierung und Lebensplanung von Mädchen und Jungen" 29 4.3 Fazit 30 1 5. Perspektiven 31 Literatur 32 1 Einleitung Vor nahezu 15 Jahren haben wir an eben dieser Stelle, nämlich im Jahrbuch der Schulentwicklung Band 3, eine Bilanz über damals 20 Jahre Bildungsentwicklung gezogen (Faulstich-Wieland/ Horstkemper/ Tillmann/ Weißbach 1984). Wir haben gefragt, wie sich die geschlechtsspezifische Bildungsbeteiligung in der Bundesrepublik entwickelte und in welchem Maße die Benachteiligungen der Mädchen aufgehoben wurden. Die damalige Bilanz fassten wir im Titel "Erfolgreich in der Schule, diskriminiert im Beruf" zusammen. Die Benachteiligung der Mädchen konnten wir auf drei Ebenen festmachen: "Zum ersten sind (den Mädchen) weite Felder der beruflichen Ausbildung - vor allem im gewerblichtechnischen Bereich - praktisch verschlossen. Zum zweiten ist das Feld traditionell-weiblicher Ausbildung quantitativ beschränkt und führt teilweise nur zu minderqualifizierenden Abschlüssen auf der Basis zweijähriger Kurzausbildungen. Zum dritten schließlich geraten die Mädchen in dem verhältnismäßig kleinen Bereich, der für beide Geschlechter zugänglich ist, in harte Konkurrenz zu den Jungen, die selbst bei schlechteren Schulnoten gelegentlich vorgezogen werden" (ebd., S. 132). Die neue Frauenbewegung hat mit ihrem Engagement den Ansprüchen der Frauen auf Berufsund Erwerbschancen zu einer breiten Öffentlichkeit verholfen. Dabei wurde die Verantwortung der allgemeinbildenden Schule keineswegs außen vor gelassen: Die Tatsache, daß Schülerinnen zwar die besseren Abschlüsse machten, dann aber ihre Vorteile nicht in anschließenden Berufsausbildungen und Studien verwerten konnten, ließ engagierte Wissenschaftlerinnen und Lehrerinnen fragen, ob nicht bereits in der Schule subtile Benachteiligungen vorlägen. Ein Schwerpunkt solcher Diskriminierungen wurde in der geringen Teilhabe der Mädchen und jungen Frauen an naturwissenschaftlichen und technischen Qualifizierungen gesehen. Wann immer Wahlmöglichkeiten existierten, tauchten die Schülerinnen entweder in entsprechenden Angeboten nicht mehr auf oder sie verschwanden allmählich aus ihnen. Dabei wurde von einem engen Zusammenhang zwischen der Abwahl naturwissenschaftlich-technischer Kurse und dem Berufswahlverhalten der Mädchen ausgegangen. Die Kritik an diesen Mißständen führte dazu, in Modellversuchen zu erproben, wie hier Abhilfe zu schaffen sei. Die Modellversuche konzentrierten sich entsprechend der vorgenommenen Kritik vor allem auf zwei Bereiche: • Zum einen ging es darum, mehr Schülerinnen für mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Fächer zu interessieren. • Zum anderen sollten sie in ihren Berufswahlprozessen unterstützt werden mit dem Ziel, ein breiteres Berufswahlspektrum zu entwickeln. Die Bemühungen der neuen Frauenbewegung nehmen wir zum Anlaß, • in einer erneuten Zwischenbilanz zunächst einmal zu prüfen, ob sich seit unserer Analyse der Bildungs- und Ausbildungssituation von jungen Frauen von 1984 grundlegende Änderungen ergeben haben und • die durchgeführten Modellversuche aus den o.g. Bereichen daraufhin zu sichten, ob und wie sie ihre Zielsetzungen, die naturwissenschaftlich-technischen Interessen und Potentiale der Mädchen zu erweitern und die Schülerinnen in ihrer Berufsfindung zu unterstützen, realisiert haben. Zwar besteht keine unmittelbare Verbindung zwischen den Daten der allgemeinen Bildungsstatistik und den Ergebnissen von Modellversuchen, die Modellversuche lassen sich jedoch indirekt als Reaktion der Schule auf die statistischen Daten zu den Leistungs-, Studien-, und Berufs"wahlen" der jungen Frauen interpretieren. Wir fragen deshalb danach, welche 2 Möglichkeiten die Schule hat, um geschlechterbezogenen Ungleichheiten entgegenzusteuern, wie tragfähig die schulischen Anstrengungen sind und welche zukünftigen Perspektiven für Mädchen- und Jungenförderung erkennbar/wünschenswert/notwendig sind. 2 Zur Situation von jungen Frauen und Männern im allgemeinbildenden und beruflichen Bildungssystem - statistische Daten Wir knüpfen an den Jahrbuch-Beitrag von 1984 an und erweitern die damalige Analyse um die verfügbaren neuen Statistiken. Dabei wird einerseits die Expansion der allgemeinen Bildung eindrucksvoll deutlich werden, von der insbesondere die jungen Frauen profitiert haben. Ein genauerer Blick auf die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen wie auch auf die berufliche Bildung bringt andererseits aber auch nach wie vor bestehende Ungleichheiten zu Tage. Diese zeigen sich trotz zahlenmäßiger Angleichung der Geschlechter und trotz einiger inhaltlicher Annäherungen auch bei der Umsetzung der Hochschulzugangsberechtigung in Hochschulstudien. 2.1 Bildungswege von jungen Frauen und Männern am Ende der Sekundarstufe I Beide Geschlechter befinden sich mit 16 Jahren zum überwiegenden Teil noch im allgemeinbildenden Schulwesen. Dieser Anteil ist von 1960 bis 1995 dramatisch von einem Fünftel auf nunmehr Zweidrittel gestiegen. Während junge Frauen 1960 und 1970 im allgemeinbildenden Schulsystem noch deutlich unterrepräsentiert waren, sind sie seit 1980 stärker vertreten als junge Männer, wobei dieser Abstand sich nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zugunsten der jungen Frauen vergrößert hat. Dies geht vor allem auf den Gymnasialbesuch zurück. Fast ein Drittel der jungen Frauen gegenüber nur einem knappen Viertel der jungen Männer besuchen ein Gymnasium - der Abstand zwischen den Geschlechtern hat sich damit von 3,6 Prozentpunkten 1990 auf 7,4 Prozentpunkte 1995 mehr als verdoppelt. Auch in der Realschule sind die jungen Frauen etwas stärker vertreten als die jungen Männer mit 17,3% gegenüber 16,6%. In der Hauptschule dagegen finden wir 16% der 16jährigen jungen Männer und nur 13,1% der jungen Frauen. Bei beiden Geschlechtern ist allerdings der Anteil derjenigen, die eine Hauptschule besuchen, von 1990 bis 1995 - also nach der Wiedervereinigung - gestiegen. 2,0% der 16jährigen jungen Frauen befinden sich 1995 in Sonderschulen gegenüber 3,2% der 16jährigen jungen Männer.1 Komplementär zu den Anteilen im allgemeinbildenden Schulsystem sind die Anteile im beruflichen Bereich ebenso dramatisch von fast Dreiviertel auf ein knappes Drittel zurückgegangen. 1995 waren etwa ein Drittel der jungen Männer, aber nur 28,3% der jungen Frauen in beruflicher Bildung. Auch hier hat sich der Abstand zwischen den Geschlechtern nach der Wiedervereinigung von 2 Prozentpunkten auf fast 5 Prozentpunkte zuungunsten der Mädchen vergrößert. 1 Die Tabelle zur Bildungsbeteiligung differenziert nicht nach Schulen für Lernbehinderte und für sonstige Behinderte. Die Daten über die Zahl der Schülerinnen und der Schüler in den verschiedenen Schularten weist für 1995 für die BRD folgende Relationen aus: Insgesamt besuchen 391.100 Sonderschulen, davon 221.000 Schulen für Lernbehinderte, davon wiederum sind 83.400 weiblich. An Schulen für sonstige Behinderungen sind insgesamt 170.100, davon 58.800 weiblich. Der Anteil von Mädchen und jungen Frauen beträgt also an Sonderschulen insgesamt 36,4%, an den Sonderschulen für Lernbehinderte 37,7%, an den anderen Sonderschulen 34,6%. Anders gesagt: Knapp 2/3 derjenigen, die in Sonderschulen unterrichtet werden, sind männlich. 3 Tabelle V/1: Die Verteilung der 16-jährigen Schülerinnen und Schüler auf die Bildungswege im allgemein- und berufsbildenden Schulsystem 1960 - 1995 Jahr Gymnasium Realschule Hauptschule Gesamt * Gesamt BerufsFachgymBerufsschul fachsch. nasium e w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. 1960 10,9 15,1 7,2 7,0 0,5 0,6 18,7 22,8 71,3 73,3 64,9 70,5 6,4 2,8 1970 14,7 18,0 6,8 8,4 1,2 1,8 23,0 28,7 67,7 69,7 57,9 61,6 8,9 5,4 0,9 2,7 1980 22,8 21,0 14,4 13,2 7,0 8,3 47,7 46,7 48,4 50,5 32,4 42,6 14,6 6,6 1,4 1,3 1990 27,6 24,0 18,0 16,7 11,4 13,9 62,4 61,5 33,6 35,7 21,4 28,0 10,5 6,2 1,7 1,5 1995 31,6 24,2 17,3 16,6 13,1 16,0 69,5 66,2 28,3 33,1 weiter im allgemeinbildenden System 16,4 26,1 9,1 4,8 2,8 2,2 Übergang ins berufsbildenden System alle Sechzehnjährigen * Gesamt umfasst Gymnasium, Realschule, Hauptschule und außerdem Freie Waldorfschule, Gesamtschule und Sonderschule 1990 bezieht sich auf die alten Bundesländer, 1995 auf alle 16 Bundesländer Quelle: Grund- und Strukturdaten 1982/83, S. 36ff. für die Jahre 1960 bis 1980; 1992/93 für 1990, S. 28/29; 1996/97 für 1995 4 2.2 Junge Frauen und Männer in der Sekundarstufe II 1960 befanden sich Dreiviertel der 18-jährigen Frauen und Zweidrittel der jungen Männer weder im allgemeinbildenden noch im berufsbildenden Schulsystem. Auch 1970 waren Zweidrittel der jungen Frauen mit 18 Jahren nicht mehr in Bildungsgängen zu finden, während bei den jungen Männern bereits mehr als die Hälfte noch in schulischer oder beruflicher Bildung war. Ab 1980 allerdings ist die Mehrheit bei beiden Geschlechtern noch in allgemeinbildenden oder berufsbildenden Einrichtungen. 1995 befinden sich dort 85,1% der jungen Frauen und 87,7% der jungen Männer. Insgesamt sind damit die 18jährigen Frauen etwas weniger im Bildungssystem vertreten als die 18jährigen Männer - wenn auch der Abstand gegenüber der Spitzendifferenz von 22,1 Prozentpunkten 1970 deutlich geringer geworden ist und 1995 nur noch 2,6 Prozentpunkte beträgt. Die Hauptunterschiede der Bildungsbeteiligung der beiden Geschlechter liegen weiterhin in der größeren Teilhabe junger Frauen an gymnasialer Bildung (28,2% zu 22,7%) und ihrer geringeren Präsenz in der Berufsschule (35,1% zu 50,3%). 5 Tabelle V/2: Die Verteilung der 18-jährigen Schülerinnen und Schüler auf die Bildungswege im allgemein- und berufsbildenden Schulsystem 1960 - 1995 Jahr im allgemeinbildenden im berufsbildenden Schulwesen im Schulwesen Bildungssystem 4 Gymnasium Gesamt 1 Gesamt Berufsschule 2 BerufsFachgymGesamt fachsch. 2,3 nasium2 w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. 1960 6,3 10,4 6,5 11,0 19,5 26,6 14,3 23,9 5,2 2,7 26,0 37,6 1970 8,9 12,7 9,1 13,3 26,4 44,3 18,2 37,9 8,2 6,4 35,5 57,6 1980 18,8 18,3 19,2 18,9 46,2 55,8 33,5 48,2 12,7 7,6 65,4 74,7 1990 24,7 22,4 25,4 23,3 53,1 61,0 38,6 50,4 11,0 6,5 3,5 4,1 78,7 84,7 1995 28,2 22,7 29,5 24,1 53,9 62,1 35,1 50,3 12,1 5,0 6,7 6,8 85,1 87,7 1) für 1995 einschl. Haupt-, Real- und Gesamtschule; 2) für die Jahre 1960, 1970 und 1980 weisen die Zahlen für Berufsschulen nur die Anteile im dualen System aus, diejenigen für die Berufsfachschulen beinhalten außerdem Berufsaufbauschuen, Fachoberschulen und das Berufsgrundbildungsjahr, weshalb Fachgymnasien nicht gesondert ausgewiesen sind; 3) einschl. Schulen des Gesundheitswesens; 4) einschl. Sonderschule und Hochschule 1990 alte Bundesländer, 1995 Bundesrepublik Deutschland Quelle: Grund- und Strukturdaten 1982/83, S. 36ff. für 1960, 1970 und 1980; 1992/93 für 1990, S. 30/31; 1996/97 für 1995 6 Mit der massiv gestiegenen Bildungsbeteiligung beider Geschlechter und insbesondere der von jungen Frauen korrespondiert entsprechend ein Ansteigen höherer Bildungsabschlüsse. Dabei verlassen deutlich mehr junge Männer als junge Frauen die Schule ohne Abschluß oder mit einem Hauptschulabschluß, d.h. umgekehrt mehr junge Frauen als junge Männer verfügen über einen Realschulabschluß bzw. über die Fachhochschul- oder Hochschulreife. Die Schule war also hinsichtlich der formalen Qualifizierung außerordentlich erfolgreich. Ein zentraler Kritikpunkt der neuen Frauenbewegung richtete sich jedoch auf die "subtile Diskriminierung" von Frauen, die in der Konzentration von Schülerinnen auf den sprachlichen Bereich, von Schülern auf den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich liegt. Wir werfen deshalb zunächst einen Blick auf die Leistungskurswahlen in der gymnasialen Oberstufe, um zu prüfen, wie stark diese Ungleichverteilung ist. Die Leistungskurswahlen in der gymnasialen Oberstufe werden nicht bundesweit veröffentlicht und auch die einzelnen Bundesländer differenzieren ihre Leistungskursdaten in der Regel nicht nach Geschlecht. Wir greifen deshalb zunächst auf die neuesten verfügbaren Daten zurück. Diese erhielten wir von der Hamburger Schulbehörde. Dort liegen bei den jungen Frauen im letzten Jahr vor dem Abitur Deutsch, Biologie, Englisch, Bildende Kunst und Mathematik auf den ersten fünf Plätzen. Bei den jungen Männern finden wir Biologie auf Platz 1, gefolgt von Englisch, Mathematik, Erdkunde und Deutsch. Die gravierenden Prozentunterschiede lassen sich der Abbildung V/1 entnehmen. Doppelt soviele junge Frauen wählen Deutsch (39,5% zu 18,4%) und doppelt soviele junge Männer Mathematik (23,1% zu 12,1%). Weitere gravierende Unterschiede finden sich dann bei der bildenden Kunst und den anderen Fremdsprachen, die beide in der Gunst der Frauen hoch liegen, sowie in Gemeinschaftskunde und Physik. Diese beiden Fächer liegen bei den Männern auf Rangplatz 6 und 7 ihrer Leistungskurswahlen und werden bei Gemeinschaftskunde von fast dreimal (14,5% zu 5,7%) bzw. bei Physik sogar von fast sechsmal (15,4% zu 2,7%) soviel jungen Männern wie jungen Frauen gewählt. Abbildung V/1: Leistungskurswahlen im 3. Halbjahr der gymnasialen Oberstufe in Hamburg 1996/97 50% 40% 30% weiblich männlich 20% 10% ik ys e ns ch af Ph nd ie ts ku he m de C ht un dk ic ch G es ra Sp re ei em G an de Er ch at e en ik t he at M de en ld Bi m Ku is ns ch ie og gl En ol ts eu D Bi ch 0% Quelle: eigene Berechnungen nach BSJB V 532 Solche Unterschiede sind weder eine Hamburger Besonderheit noch eine des Schuljahres 7 1995/96. Sie finden sich vielmehr über die Jahre hinweg in Hamburg wie auch in anderen Bundesländern (vgl. Roeder/ Gruehn 1997). Die Prozentzahlen differieren dabei je nach Regelung der Wahlen bzw. je nach Berechnungsart, die Verteilungen und die Unterschiede zwischen den Geschlechtern finden sich jedoch in ähnlicher Form in allen bisher veröffentlichten Statistiken (vgl. die Zusammenstellung in Faulstich-Wieland 1991 für Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Hamburg S. 76, 77, 79, vgl. Horstkemper 1995 für Rheinland-Pfalz). Die rechtlichen Regelungen, die für einen Ausgleich dieser Diskrepanzen sorgen sollen, indem durch die Wahl von Grundkursen gegengesteuert wird, greifen für Sozialkunde und Mathematik bei den jungen Frauen, für Deutsch und Englisch bei den jungen Männern. Bei Biologie, Französisch, Theater und Spanisch einerseits und bei Physik und Informatik andererseits wird der Geschlechterbias dagegen sogar noch verstärkt (Roeder/ Gruehn 1997 S. 882). Anders als bei der Bildungsbeteiligung junger Frauen insgesamt haben wir es also bei den Fächerwahlen keineswegs mit Veränderungen über die Jahre hinweg zu tun, sondern mit einer ziemlich stabilen Schwerpunktsetzung bei beiden Geschlechtern. 2.3 Junge Frauen und Männer in der beruflichen Ausbildung Neben der Kritik an Lehrplänen und Curricula, an den Interaktionsstrukturen im Unterricht und vor allem an der Wahl der Leistungskurse in der gymnasialen Oberstufe, die Ausgangspunkt der Koedukationsdebatte waren, stand von Anfang an die Diskussion um die Berufswahlen (wenn denn von Wahlen überhaupt die Rede sein kann) der Mädchen im Mittelpunkt der Analyse, kam doch in diesen "Wahlen" - trotz aller öffentlich propagierten und gesetzlich fixierten Gleichheitspostulate - zweierlei zum Ausdruck: • der geschlechtsspezifisch segmentierte Arbeitsmarkt, der durch die Berufswahlen der Mädchen und Jungen jeweils reproduziert wird, und • die unterschiedliche Berufs- und Lebensplanung der Geschlechter. Die Trennlinie zwischen den Geschlechtern wird manifest im Übergang vom allgemeinbildenden zum berufsbildenden Ausbildungssystem bzw. im Übergang zur Hochschule, wie folgende Befunde deutlich machen: • Junge Frauen sind in den schulischen Berufsausbildungen und im qualifizierenden Moratorium überrepräsentiert. Das entspricht ihrer Unterrepräsentanz in der dualen Ausbildung. • Die geschlechtsabhängige Segmentierung des dualen Ausbildungsmarktes entwickelt sich fort. Junge Frauen sind in gewerblich-technischen Berufen nach wie vor unterrepräsentiert. Mit 70% sind die weiblichen Jugendlichen in den schulischen Berufsausbildungen überrepräsentiert. In diesen Schulen absolvieren sie außerhalb des dualen Systems liegende vollzeitschulische Ausbildungen. Dazu gehören z.B. die Ausbildungen in Berufen wie Erzieherin, Kinderkrankenschwester oder Kinderpflegerin (vgl. Gewerkschaftliche Bildungspolitik H. 1/2-98, S. 18). Die schulischen Berufsausbildungen bedeuten in der Regel höhere Allgemeinbildungsvoraussetzungen, finanzielle Einbußen und ein stärkeres Arbeitsplatzrisiko. Es entfällt nicht nur die Ausbildungsvergütung, sondern es müssen z. T. hohe Schulgelder bezahlt werden. Dabei lassen sich die schulischen Berufsausbildungen nicht in entsprechende Verdienste auf dem Arbeitsmarkt umsetzen. So liegt z.B. der tarifliche Verdienst von Erzieherinnen (Realschulabschluß) unter denen des Schlossers (Hauptschulabschluß) (vgl. Krüger 1995, S. 140). Das Arbeitslosigkeitsrisiko ist nach vollzeitschulischen Ausbildungen deutlich größer für die 8 jungen Frauen. So betrug 1995 der Anteil der jungen Frauen mit einer in einer Berufsfachschule/ Fachschule abgeschlossenen Berufsausbildung an den Arbeitslosen 54,7%, unter jenen mit einer betrieblichen Ausbildung dagegen 41,3%. Noch problematischer stellt sich die Situation in den neuen Bundesländern dar: 63,7% aller Arbeitslosen sind Frauen, 68% der Arbeitslosen mit einer schulischen Berufsausbildung und 65,4% der Arbeitslosen mit einer betrieblichen Berufsausbildung sind weiblich – d.h. hier sind insgesamt Frauen in allen Bereichen deutlich stärker von Arbeitslosigkeit betroffen (BMBW: Grund- und Strukturdaten 1997/98, Tab. 9.2.1). Obwohl in den alten Bundesländern 49%, in den neuen gut 51% der BewerberInnen um einen Ausbildungsplatz weiblich sind (Berufsberatung 1996/97, (1998) S.68, 69), stellen die jungen Frauen nur 39,8% (alte Länder 40,4%, neue Länder 37,5%) der Auszubildenden in der dualen Ausbildung. Ihr Anteil ist zudem in den letzten Jahren gesunken, 1990 betrug er in den alten Ländern noch 42,6% (vgl. Berufsbildungsbericht 1997, S. 61ff.). Innerhalb der dualen Ausbildung gibt es immer noch klare geschlechterdifferenzierende Schwerpunkte: Frauen sind überproportional im Dienstleistungsbereich, Männer überproportional in Fertigungsberufen zu finden (vgl. Bildung im Zahlenspiegel 1997, S. 79). Unter den von den jungen Frauen am stärksten besetzten 20 Ausbildungsberufen, in denen sich immerhin 74,3% aller jungen Frauen in der dualen Ausbildung befinden, gehört nur der von 1,5% gewählte Beruf der Bauzeichnerin zum gewerblich-technischen Bereich. Bei den jungen Männern dagegen dominiert der gewerblich-technische Bereich (vgl. Bildung im Zahlenspiegel 1997, S. 97). Diese Segmentierung und die Anteile der jungen Frauen bzw. der jungen Männer an den einzelnen Segmenten lassen sich zusammenfassend noch einmal anders deutlich machen: Ordnet man die Ausbildungsberufe nach solchen, in denen sich vor allem Männer befinden, nach solchen, in denen vor allem Frauen ausgebildet werden, und schließlich nach solchen, die etwa gleichermaßen Frauen wie Männer in Ausbildungsverhältnissen haben, dann zeigt sich zwar ein Anstieg der "Frauenberufe", d.h. vor allem des Dienstleistungsbereichs gegenüber 1980, aber immer noch eine deutliche Männerdominanz im dualen System. Knapp die Hälfte aller Ausbildungsverhältnisse werden in "Männerberufen" abgeschlossen, an denen Frauen einen Anteil von 8,7% haben - eine Steigerung gegenüber 1980 um 1,5 Prozentpunkte. Der Anteil von "Frauenberufen" beträgt 30,7% - innerhalb dieser besetzen junge Männer 19,4% der Stellen (1980 waren dies 16,1%). Der Anteil von Ausbildungsberufen, in denen beide Geschlechter etwa gleich vertreten sind, ist insgesamt gesunken, nämlich auf 21,5%, wobei die Männer hier ihre Zahl steigern konnten, nämlich auf 45,7% - gegenüber 39,4% 1980. Die Überschneidungen, d.h. die bei beiden Geschlechtern "beliebten" Berufe, sind vor allem die kaufmännischen Berufe außer der Kauffrau für Bürokommunikation. Die Angleichung bei den kaufmännischen Berufen erweist sich allerdings nur auf den ersten Blick als Angleichung. Sie "beschränkt sich (...) auf den attraktiveren Teil der Bank-, Großhandels- und Industriekaufleute; die wenig perspektivreichen Verkaufstätigkeiten im Einzelhandel oder im Nahrungsmittelhandwerk sind in der männlichen Hitliste der Ausbildungsberufe nicht enthalten" (Horstkemper 1995, S. 197). Junge Frauen sind nicht nur in den schulischen Berufsausbildungen über- und in der dualen Ausbildung unterrepräsentiert sind, sie haben auch weniger Chancen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Nimmt man die Relation von Ausbildungsplatzsuchenden zu noch nicht vermittelten Bewerberinnen und Bewerbern, so zeigt sich, daß es für junge Frauen immer noch schwieriger ist, einen Ausbildungsplatz zu erhalten: Ende September 1997 waren 6,5% der Bewerberinnen 9 um einen Ausbildungsplatz gegenüber 5,8% der Bewerber noch nicht vermittelt (Bundesanstalt für Arbeit 1998, S. 64). Dies gilt vor allem in den männlichen Domänen (vgl. ebd.). Die Berufseinmündungen der jungen Frauen haben deutlich negative Folgen für ihre gesamte Berufsbiographie. Indem sich die Ausbildung der jungen Frauen auf wenige Berufe konzentriert, sind sie stärker als die jungen Männer von demographischen, konjunkturellen und wirtschaftsstrukturellen Entwicklungen abhängig. Sie finden schwieriger einen Erwerbsarbeitsplatz nach der Ausbildung und haben ein höheres Arbeitsplatzrisiko, von den Aufstiegschancen ganz zu schweigen. 2.4 Studium und Geschlecht Im Wintersemester 1996/97 waren 42,5% der Studierenden in Deutschland weiblich, bei den StudienanfängerInnen waren es 47,9% (Bildung im Zahlenspiegel 1997, S. 120). Der Anteil ist steigend: Im Wintersemester 1997/98 waren 52,2% der Studienanfänger weiblich (zitiert in Lehnert u.a. 1998, S. 5). Damit waren erstmals mehr Studentinnen als Studenten an deutschen Universitäten im ersten Semester. Deutliche Unterschiede, aber auch Angleichungen zwischen den Geschlechtern finden sich in den Studienfachwahlen, wie die folgende Tabelle über die zehn von allen Studierenden an Universitäten am häufigsten gewählten Studiengänge zeigt. 10 Tabelle V/3: Studierende (inklusive Studienanfänger/ Studienanfängerinnen) im WS 1995/96 in den 10 am stärksten besetzten Studienfächern – Deutsche und AusländerInnen weiblich Studienfächer männlich %Rang- Studienfächer Anteil platz Germanistik/Deutsch 7,6 1 Betriebswirtschaftslehre Betriebswirtschaftslehre 6,5 2 Maschinenbau/-wesen Rechtswissenschaft 6,2 3 Elektrotechnik/Elektronik Medizin (Allgemeinmedizin) 5,2 4 Rechtswissenschaft Erziehungswissenschaft (Pädagogik) 4,8 5 Wirtschaftswissenschaften Anglistik/Englisch 3,4 6 Bauingenieurwesen/Ingenieurbau Wirtschaftswissenschaften 3,3 7 Medizin (Allgemeine Medizin) Biologie 3,1 8 Informatik Psychologie 2,7 9 Physik Architektur 2,7 10 Architektur zusammen 44,5 zusammen %Anteil 8,2 6,5 6,1 5,8 5,0 4,5 4,2 4,0 2,9 2,6 47,8 Rangplatz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Quelle: Bildung im Zahlenspiegel 1997, S. 123 In den Bereichen Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sowie Architektur haben sich die Geschlechter angenähert, die Unterschiede bleiben jedoch gravierend: Während bei den jungen Frauen die Sprach- und Kulturwissenschaften in den 10 am häufigsten gewählten Studienfächern deutlich überwiegen, fehlen die Natur- (mit Ausnahme der Biologie), Technik- und Ingenieurwissenschaften hier völlig. Nahezu umgekehrt stellt sich das Bild bei den männlichen Studierenden dar. Als weiteres Indiz für nach wie vor bestehende Unterschiede zwischen den Geschlechtern können die Abschlüsse am Ende des Studiums angesehen werden. So finden wir immer noch Diskrepanzen zwischen den Geschlechtern bei den Promotionen zugunsten der Männer und beim Lehramt zugunsten der Frauen (vgl. Tab. V/4). Dies gilt ungeachtet der Frage, ob Frauen in einer Disziplin in der Mehrheit oder in der Minderheit sind. 11 Tabelle V/4: Prüfungen nach Abschluß des Studiums 1995 Insgesamt Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Sprach- und Kulturwissenschaften Mathematik, Naturwissenschaften Ingenieurwissenschaften Humanmedizin Quelle: Bildung im Zahlenspiegel 1997, S. 136/137 12 weiblich männlich weiblich männlich weiblich männlich weiblich männlich weiblich männlich weiblich männlich Diplom u.ä. 43,9% 47,4% 38,6% 49,3% 39,8% 52,1% 50,9% 56,7% 35,0% 35,1% 64,5% 61,4% Promotion 7,5% 11,2% 1,8% 4,7% 3,8% 12,6% 13,8% 22,4% 2,0% 5,3% 35,5% 38,7% Lehramt 20,9% 5,3% 3,8% 1,3% 53,1% 32,8% 28,6% 8,2% 2,6% 1,3% Fachhochschule 27,6% 36,1% 55,8% 44,7% 3,3% 2,5% 6,8% 12,8% 60,4% 59,0% 2.5 Fazit zur statistischen Zwischenbilanz Die Auswertung der vorliegenden Statistiken zur Bildungssituation von beiden Geschlechtern zeigt zum einen das beeindruckende Aufholen der jungen Frauen beim Erwerb weiterführender Bildungsabschlüsse. Erstmals in der Geschichte sind Frauen im allgemeinbildenden Schulsystem formal besser qualifiziert als die jungen Männer. Dennoch stellt sich die Situation für die jungen Frauen immer noch ambivalent dar. Auch 1998 können die jungen Frauen noch immer nicht ihre "Vorteile" im allgemeinbildenden Schulsystem in entsprechende berufliche Qualifizierungen umsetzen. Hier bestätigen sich nach wie vor die schon 1984 herausgearbeiteteten Benachteiligungen – schwierigerer Zugang zum gewerblichtechnischen Bereich, stärkere Präsenz im traditionell-weiblichen Feld vollzeitschulischer Ausbildungen, starke Konkurrenz im Feld der begehrten Ausbildungen zu Warenkaufleuten. Dies gilt auch für Studentinnen, die – selbst bei dem gleichen Studienfach – (mit Ausnahme des öffentlichen Dienstes) häufig weniger verdienen, stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sind bzw. eine Position einnehmen, die unter ihren formalen Voraussetzungen liegt (vgl. Hoose/Vorholt 1997, S. 28f; Zweiwochendienst Frauen und Politik Nr. 111/1996, S. 8). Die formal bessere Ausbildung der jungen Frauen schlägt sich zwar insgesamt in einer höheren Erwerbstätigkeit nieder - je besser junge Frauen formal qualifiziert sind, desto höher ist ihre Erwerbsquote (vgl. Block/ Klemm 1997, S. 86) - diese Daten sagen aber weder etwas aus über die Berufe, die Frauen ausüben, noch über die Hierarchieposition, die sie einnehmen, noch über die Art des Beschäftigungsverhältnisses, ob Teilzeit oder Vollzeit, noch über den Verdienst usw. usw. (vgl. Hoose/ Vorholt 1997, S. 28ff und 148ff; Lemmermöhle/ Nyssen 1998). Erst nachdem die Frauen hinsichtlich der formalen schulischen Qualifikation mit den jungen Männern gleichgezogen hatten bzw. diese überholt hatten, wurde der Widerspruch zwischen erreichter Allgemeinbildung und beruflicher Positionierung als schulisches Problem thematisiert. In diesem Zusammenhang wurden die strukturellen Begrenzungen, die es für Frauen (immer noch) gibt – der geschlechtsspezifisch segmentierte Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und die Zuständigkeit von Frauen für den Reproduktionsbereich und die mit beiden verbundene Problematik von Frauenerwerbstätigkeit – weiterhin analysiert, der Blick wurde jedoch auch auf die innerschulischen Mechanismen, die zu den genannten Widersprüchen führen, gelenkt. Die Schule ist zwar nicht die Verursacherin des geschlechtsabhängig segmentierten Arbeitsmarktes, sie wirkt aber offensichtlich nicht der Einengung des inhaltlichen Spektrums der Kurswahlen der Mädchen (und Jungen) und in deren Folge auch der Einengung der Berufs- und Studienwahlen entgegen. Über Prozesse des heimlichen Lehrplans, so scheint es, werden die strukturellen Benachteiligungen von Frauen eher verstärkt als abgebaut. Dabei unterstellen wir nicht einen linearen Zusammenhang zwischen Kurs- und Studien- bzw. Berufswahlen. Dieser vermittelt sich vielmehr über Prozesse von Geschlechterstereotypisierungen, Entwicklung von Selbstbewußtsein und Geschlechtsidentität, die wiederum Einfluß auf die Interessenentwicklung nehmen. Wie die Schule versucht, diesem komplexen Zusammenhang gerecht zu werden und Mädchen in Naturwissenschaften, Informatik, Technik und Mathematik zu stärken sowie die Berufsfindung und Lebensplanung der jungen Frauen zu unterstützen, wollen wir im folgenden analysieren. 13 3. Schulische Modellversuche zur Förderung der Chancengleichheit von Mädchen und Jungen Der Beitrag, den Schule zur sublimen Ungleichheitsbehandlung der Geschlechter leistet, ist von der feministischen Schulforschung breit diskutiert worden (vgl. zusammfassend u.a. Faulstich-Wieland 1991, 1995; Nyssen 1990, Nyssen/ Schön 1992, 1994). Als Verursachungsfaktoren für diese Ungleichbehandlung wurden sowohl curriculare und didaktische wie auch interaktionelle Prozesse identifiziert. Schulbuchanalysen zeigten, daß Schülerinnen weit weniger Identifikationsmöglichkeiten in den gebotenen Beiträgen finden konnten als Schüler. Interessenuntersuchungen zum naturwissenschaftlichen Unterricht spürten auf, daß Schülerinnen an anderen Inhalten wie an anderen didaktischen Vorgehensweisen interessiert waren als Schüler. Interaktionsstudien konnten dominantes Verhalten von Schülern und ungleiche Aufmerksamkeitsverteilungen durch Lehrerinnen und Lehrer nachweisen. Konsequenterweise haben Lehrerinnen und Lehrer, Schulministerien, WissenschaftlerInnen und Eltern eine Vielzahl von Schul- bzw. Modellversuchen initiiert, um vor allem Schülerinnen zu unterstützen. In den letzten Jahren ist die Zahl der LehrerInnen, denen das Geschlechterverhältnis im Klassenzimmer zum Problem geworden ist und die sich gezielt um Gleichbehandlung der Geschlechter bemühen, deutlich angestiegen: Immer mehr Projekte entstehen, mit denen LehrerInnen vor Ort Mädchen und Jungen fördern (wollen). Die alle zwei Jahre stattfindenden "Frauen-und-Schule-Kongresse" stoßen nach wie vor auf große Resonanz (vgl. u.a. die Dokumentationen: Kaiser 1996; Lutzau von 1998). LehrerInnen überprüfen Curricula und entwickeln sie neu, sie experimentieren mit geschlechtshomogenen Gruppen, sie widmen der Berufsorientierung der Mädchen mehr Aufmerksamkeit und sie wollen die Naturwissenschafts- und Technikkompetenz der Mädchen ebenso erweitern wie die sozialen Kompetenzen der Jungen entwickeln. Auf Fachtagungen werden Wege diskutiert, die koedukative Praxis zu verbessern und Mädchen- und Jungenförderung zum Inhalt von Schulentwicklung und Schulprogramm zu machen (vgl. Dokumentation der Fachtagung Neue Wege zur Gestaltung der koedukativen Schule 1998). Es gibt keine umfassende Übersicht über die Ansätze, eine Reihe von ihnen - vor allem diejenigen, die durch Länderministerien oder zur Mädchenförderung durch die Bund-LänderKommission für Bildungsforschung finanziert wurden - sind jedoch publiziert worden. Abbildung V/2 gibt eine Zusammenstellung der uns bekannten Modellversuche zur Berufsorientierung und Lebensplanung sowie zur Förderung der Mathematik-, Technik- und Naturwissenschaftskompetenz von Mädchen wieder. Die Ungleichheit der Geschlechter in der Schule manifestiert sich, wie wir gezeigt haben, in der Präferenz der sprachlichkünstlerischen Fächer durch die Mädchen und ihrer Distanz zu den naturwissenschaftlichen, mathematischen und technischen Fächern. Konsequent beziehen sich deshalb die meisten der schulischen Modellversuche zur Mädchenförderung auf die Fächer Physik, Chemie, Mathematik, Technik und Informatik. Modellversuche, die die Distanz der Jungen gegenüber den sprachlichen und künstlerischen Fächern abbauen wollen, sind uns nicht bekannt. Einzig der rheinland-pfälzische Versuch "Mädchen und Jungen in der Schule - Kompetenzen entwickeln - die eigene Rolle finden" bezieht auch die Fächer Deutsch, Geschichte und Sozialkunde mit ein. Ein zweiter Schwerpunkt der Modellversuche betrifft die Berufsorientierung, deren Wichtigkeit die Analyse der Berufsbildungssituation gezeigt hat. Darüberhinaus setzen einige Versuche allgemeiner an der Stärkung des Selbstbewußtseins der 14 Mädchen und der Entwickung sozialer Kompetenzen von Jungen an. So fördert beispielsweise das Land Nordrhein-Westfalen an 600 Schulen Selbstbehauptungstrainings für Mädchen (vgl. WR vom 4.4.1998). Schließlich beziehen sich viele Ansätze auf den Sportunterricht, der in der Koedukationsdebatte schon immer eine Sonderrolle gespielt hat (vgl. Faulstich-Wieland 1991, Henkel/ Pfister 1998). Allerdings sind die Versuche aus dem Sportunterricht eher selten dokumentiert und veröffentlicht worden. 15 Abbildung V/2: Modellversuche zur Chancengleichheit von Mädchen und Jungen in Naturwissenschaft, Mathematik und Technik in der Sekundarstufe I und II (Eine Auswahl) Bezeichnung und Publikationen Ort, Zeit, Schulform und Zielsetzungen/ Maßnahmen Jahrgänge Schwerpunkte "Mädchen und neue Technologien" Frankfurt/Main Entwicklung auch an den Interessen Curriculumentwicklung mit den Faulstich-Wieland/Dick, 1988, 1989 1985 – 1988 von Mädchen orienterte GrundLehrkräften, Monoedukation im 8. Gesamtschule, bildung Jg., monoedukative AG, Computer im 8./9. Jahrgang 9. Jg. "Mehr Mädchen in Naturwissenschaften Berlin, Hamburg, NRW, BadenStärkung des schulischen und beruf- Curriculumrevision, Bildung monound Technik" Württemberg lichen Engagemens von Mädchen in edukativer Gruppen Hannover/Bettge 1993 1988 – 1989 Naturwissenschaften, Mathematik Gymnasium, 9. Jahrgang und Technik Förderung naturwissenschaftlichNRW Förderung der physikalischVeränderung des Physikcurriculums, technischer Bildung für Mädchen in der 1990 – 1992 technischen Potentiale der Mädchen, Einrichtung von Mädchengruppen, Realschule, 7./8. Jahrgang Realschule in NRW, Beinke/Richter Erweiterung des Informationen zur Berufsorientierung 1993 Berufswahlspektrums Hessen, Thüringen, Sachsen 1990 – 1993 1993 – 1995 "Geschlecht und Naturwissenschaften" Göttingen Mehr Chancen für Mädchen in Curriculumrevision, Bildung monoSchefer-Vietor u.a. 1994 1989 – 1992 Physik, Verbesserung des Zugangs edukativer Gruppen Gymnasium 8./9. und 11./12. von Mädchen zur Physik, Jahrgang Verbesserung des Physikunterrichts "Mädchen in Naturwissenschaften und Hessen Physik/Chemie, Seminar mit Lehrkräften, Projekttage, 1994 – 1995 Schwerpunkt: Mathematik Technik" Schnupperkurse an der TH Darmstadt, Diegelmann 1995 Gymnasium Jahrgang 9 – 13 Elternarbeit Schwerpunkt 11./12. Jahrgang "Mädchen und Informatik" Bremen Gleichwertige Chancen für Mädchen Monoedukative Gruppen Volmerg u.a. 1996 1990 – 1995 und Jungen in der Aneignung des Gymnasium, Sek II Faches Informatik 16 "Schulversuch Physik" Frank/ Jung 1997 Baden-Württemberg 1992 – 1996 Gymnasium 10./11. Jahrgang Verbesserung des Physikunterrichts für Mädchen und Jungen Chancengleichheit – Veränderung des Anfangsunterrichts Physik/Chemie unter besonderer Berücksichtigung der Kompetenzen und Interessen von Mädchen Hoffmann u.a. 1997 "Koedukation im Physikunterricht" Herzog u.a. 1997 Schleswig-Holstein 1991 – 1994 Gymnasium, 7. und 9. Jahrgang Erweiterung des Interesses von Mädchen an Physik/Chemie Bern/Schweiz 1994 – 1997 Gymnasium, Sek II Seminare Entwicklung von Unterrichtseinheiten, Sensibilisierung von Lehrerinnen und Lehrern "Mädchen und Jungen in der Schule – Kompetenzen entwickeln – die eigene Rolle finden" Horstkemper 1995 Horstkemper/Kraul 1995 Rheinland-Pfalz 1992 – 1998 6 Gymnasien, 2 Integrierte Gesamtschulen, 9. – 13. Jahrgang 6 koedukative Schulen, 1 Mädchengymnasium, 1 Jungengymnasium Hagen 1991 – 1994 Gesamtschulen Sekundarstufe I Verbesserung des koedukativen Physikunterrichts, Erkenntnisse über Methoden zur Gestaltung eines mädchengerechten Unterrichts, der die Jungen miteinbezieht Unterstützung bei Kompetenzerwerb und Identitätsfindung von Jugendlichen - Förderung von Vielfalt Unterstützung von Lebensplanung und Berufsorientierung, Stärkung des Selbstbewußtseins, Eröffnung geschlechtsuntypischer Berufe, Förderung der Technik- und Mathematikkompetenz von Mädchen Curriculumrevision im Technik- und Mathematikunterricht, Bildung monoedukativer Gruppen, LehrerInnensupervision, MädchenAGs, Selbstbehauptungskurse, Einrichtung von Mädchenräumen, Lebensplanungsseminare, berufsorientierende Maßnahmen "Zur Förderung von Selbstfindungsund Berufsfindungesprozessen von Mädchen in der Sekundarstufe I", Endbericht der Schulen 1994, Nyssen 1996 Fortbildung der beteiligten LehrerInnen, Ko- und Monoedukation, Veränderung von Methoden und Inhalten Veränderung des Anfangsunterrichts in Physik, Kombination von koedukativem und monoedukativem Unterricht Entwicklung und Erprobung von Unterrichtseinheiten in Deutsch, Geschichte, Sozialkunde, Mathematik, Physik, Chemie; Sensibilisierung von Lehrkräften 17 "Andere Berufe für Mädchen" Arbeit für Alte e.V. Abschlußbericht 1992 Bonnemann-Böhler, Adelheid/ Welpe, Ingeborg (Hrsg.) "Mädchen in technischen Berufen" Bredemeier de Diego, Inge/Fischer, Jutta/Krieger, Wolfgang 1995 Kiel/Rendsburg-Eckernförde 1989 – 1992 Haupt-, Real- und Gesamtschulen 1111 Schülerinnen 8./9. Jahrgang Kaiserslautern, 1993 Hauptschule 8. Klasse "Berufsorientierung und Lebensplanung Brandenburg Beginn Schuljahr 1994/95 bis von Mädchen und Jungen" Lemmermöhle u.a. 1997 Ende Schuljahr 1996/97 Haupt-, Real- und Gesamtschulen Sek I Erweiterung des Berufswahlspektrums, Stärkung des Selbstvertrauens in die eigenen handwerklichen und technischen Fähigkeiten Thematisierung und Reflexion von (geschlechtsspezifischen) Lebensentwürfen, Informationen über gewerblich-technische Berufe Unterstützung von Lebensplanung und Berufsorientierung von Mädchen und Jungen. Erstellung didaktischer Materialien durch Erweiterung, Modifizierung, Erprobung von "Wir werden, was wir wollen." Stärkere Berücksichtigung der Jungensozialisation, Einbeziehung des historisch anderen Erfahrungshintergrundes von Jugendlichen in den neuen Bundesländern Erstellung einer Broschüre zur mädchenspezifischen Berufsorientierung, Durchführung berufsbezogener Projekte, Fortbildung für LehrerInnen Schnupperkurs in einem gewerblichtechnischen Betrieb, Vor- und Nachbereitung in der Schule unter dem Aspekt Lebensplanung Fortbildung von LehrerInnen, Umsetzung der Materialien an den beteiligten Schulen 18 Es kann in diesem Beitrag nicht darum gehen, alle Versuche vorzustellen. Wir wollen jedoch versuchen, wichtige Ergebnisse über die verschiedenen Projekte hinweg herauszuarbeiten. Dabei lassen sich folgende Aspekte festhalten: • Zu Beginn standen "kompensatorische" Ansätze im Vordergrund, die an tatsächlichen oder vermeintlichen Defiziten der Schülerinnen ansetzten und diese ausgleichen wollten. Leistungsüberprüfungen fanden dabei in der Regel jedoch nicht statt. Nachdem deutlich wurde, daß der Defizitansatz eine Abwertung von Mädchen und Frauen implizierte, kamen die Differenzen der Geschlechter stärker in den Blick. Der Differenzansatz fand in curricularen Überlegungen Ausdruck, die an den Interessenunterschieden, aber auch an vermeintlich anderen Zugangsweisen von Mädchen und Jungen anknüpften: Damit richtete sich der Blick nicht mehr nur auf die Schülerinnen, sondern auch auf die Schüler. Erst seit kurzem wird empirisch untersucht, wie Geschlecht in Interaktionen konstruiert wird. Damit rückt das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in den Mittelpunkt der Analyse. • In fast allen Versuchen wurden inhaltlich-curricular-didaktische Veränderungen des Unterrichts gekoppelt mit organisatorischen Maßnahmen, die unterschiedliche Formen von Trennungen der Geschlechter beinhalteten. Die Interferenzen wurden jedoch selten systematisch kontrolliert. • Die Versuche wurden in den meisten Fällen "von unten" getragen, d.h. sie wurden durchgeführt von LehrerInnen, die engagiert um Chancengleichheit bemüht und stark sensibilisiert für Geschlechterungleichheiten waren. Diese "Personenvariable" wurde allerdings ebenfalls nicht systematisch "kontrolliert". Alle drei Aspekte erschweren die Herausarbeitung von eindeutigen Ergebnissen. Allerdings ist dies kein Spezifikum der Koedukationsdebatte oder der feministischen Schulforschung, sondern ein generelles Problem wissenschaftlichen Handelns im sozialen Feld. Insofern gehen wir davon aus, daß eine Nachzeichnung von Modellprojekten, die versuchen, der Komplexität der Situation methodisch gerecht zu werden, am ehesten geeignet ist, Erkenntnisse zu verallgemeinern. Wir greifen deshalb vier Projekte heraus, um an ihnen exemplarisch die schulischen Sozialisationsbedingungen aufzuzeigen, die an der Produktion bzw. an der Aufhebung von Geschlechterungleichheiten beteiligt sind. Es handelt sich hierbei um jene Projekte, die umfassend dokumentiert und wissenschaftlich begleitet waren und in denen eine kritische Reflexion der Maßnahmen erfolgte. 3.1 "Mehr Mädchen in Naturwissenschaften und Technik" - Einfluß der Lehrkraft auf Erfolg oder Mißerfolg Das Projekt "Mehr Mädchen in Naturwissenschaften und Technik" wurde 1988 und 1989 vom Institut für Psychologie der TU Berlin durchgeführt, die Initiative dazu ging von der Stiftung "Jugend forscht" aus, finanziert wurde das Vorhaben vom BMBW und der TUB (vgl. Hannover/Bettge 1993). Ziel war die "Entwicklung eines Interventionsprogrammes, durch das Mädchen für ein schulisches und berufliches Engagement im naturwissenschaftlich-technischen Bereich gewonnen werden können" (ebd., S. V). Der Zusammenhang zwischen Schule und Berufswahl wird explizit thematisiert. Die zentrale Maßnahme des Modellversuchs bestand in einer Curriculumveränderung. Gemessen an seiner Zielsetzung kann der Versuch insgesamt als erfolgreich gelten. Zugleich macht er deutlich, welche Rolle das Engagement und die Einstellung der Lehrkräfte spielt. 19 An den Interventionen des Modellversuchs waren 16 Schulklassen im 9. Jahrgang an acht Gymnasien aus vier Bundesländern (Hamburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen, BadenWürttemberg beteiligt, 16 weitere Klassen dienten als Kontrollgruppe. Als Interventionen wurden folgende Maßnahmen erprobt: • Die Jugendlichen erhielten Experimentierkästen zum Thema Ökologie. • Im Mathematikunterricht wurde eine sechstündige Unterrichtseinheit durchgeführt, die speziell auf die Interessen der Schülerinnen und Schüler zugeschnitten war. • Betriebe aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich wurden besichtigt. • Die Schülerinnen und Schüler nahmen an einem technischen Leistungswettbewerb, bei dem kleine technische Geräte montiert wurden, und • an zweitägigen Wochenendkursen teil, bei denen Mädchen einen Computerkurs erhielten, Jungen einen Film über die Schwierigkeiten von Mädchen in Männerberufen sahen; weiterhin wurde ein physikalisches Experiment mit Alltagsbezug durchgeführt, der Umgang mit der Videokamera vermittelt und ein Film über die inhaltlichen Schwerpunkte des Wochenendes gedreht (ebd.). Als Ergebnisse der Interventionen werden herausgestellt, daß sich die Schülerinnen der Experimentalgruppe von denen der Kontrollgruppe unterscheiden, "indem sie 1. mehr Erfahrungen im praktischen Umgang mit alltäglichen technischen Problemen haben; 2. ihrer Ausbildung und ihrem zukünftigen Beruf relativ zu einer eigenen Familie ein höheres Gewicht beimessen; 3. weniger Angst vor Mißerfolg haben und leistungsbezogenen Herausforderungen aufgeschlossener gegenüberstehen; 4. positivere Vorstellungen über naturwissenschaftliche Berufe haben, mehr soziale Anerkennung bei der Wahl eines 'mädchenuntypischen' Berufes erwarten und eher beabsichtigen, einen Beruf im naturwissenschaftlich-technischen Bereich zu ergreifen" (ebd., S. Vf.). In Bezug auf die Einstellungen zur Mathematik haben sich keine positiven Veränderungen gezeigt (ebd., S. 158). In der Hamburger Stichprobe hat eine Lehrerin offensichtlich den beteiligten Schülerinnen und Schülern vermittelt, daß sie das Vorhaben für unsinnig hält. Im Ergebnis haben die beteiligten Jugendlichen sowohl destruktive Videofilme erstellt wie in den Befragungen Antworten gegeben, die Mißerfolg der Intervention signalisieren sollten. Aufgrund dessen wurde die Hamburger Stichprobe aus der Auswertung ausgeschlossen. Zugleich interpretieren die Wissenschaftlerinnen dies als deutlichen Beleg für die Wichtigkeit der LehrerInnen: "Inhaltlich belegt die negative Wirkung der Interventionen auf die Hamburger Jugendlichen den enormen Einfluß, den Lehrkräfte auf die Entwicklung der ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schüler haben. Lehrerinnen und Lehrer stellen eine entscheidende moderierende Instanz dar: welche Wirkung ein Lernangebot auf Schülerinnen und Schüler hat, wird eindeutig durch die Einstellung der Lehrkraft zu diesem Lernangebot vermittelt" (S. 145). 3.2 "Ohne Jungs ganz anders?" - Bedeutung des "Umfeldes" Das Projekt "Geschlechtersozialisation und soziale Herkunft in ihrer Bedeutung für Lernchancen und Lernhindernisse im Informatikunterricht der gymnasialen Oberstufe" lief in der Sekundarstufe II eines Bremer Oberstufenzentrums (Volmerg/ Creutz/ Reinhardt/ 20 Einselen 1996). Die Initiative zu diesem Versuch ging von Mitgliedern des Kollegiums aus. Beteiligt waren zwei Kursleiterinnen und zwei Kursleiter von Informatikkursen. Die wissenschaftliche Begleitung wurde von zwei Lehrerinnen sowie zwei Wissenschaftlerinnen der Universität Bremen durchgeführt. Finanziert wurde das Projekt vom Senator für Bildung und Wissenschaft sowie der Universität Bremen und dem Schulzentrum Am Rübekamp. Ziel des Projektes war die Förderung von Schülerinnen in Informatik. Rekonstruiert werden sollte, "was sich im Informatikunterricht zwischen Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern in der Vermittlung des Fachs und im Umgang mit dem Computer abspielt" (S. 13). Begleitet wurden fünf Informatikkurse in der gymnasialen Oberstufe, und zwar • ein Mädcheninformatikkurs im 11. Jahrgang, der von einem Lehrer betreut wurde (Pionierkurs, Beginn: 1989) • ein Mädcheninformatikkurs und ein gemischter Kurs im 11. Jahrgang, die jeweils von einer Lehrerin betreut wurden (Beginn 1990) • ein gemischter Kurs, der von einem Lehrer betreut wurde (Beginn 1990) und • ein Mädcheninformatikkurs, betreut von einem Lehrer (Beginn 1991). Zum Einsatz kamen vielfältige Methoden, von Fragebogenerhebung über Unterrichtsbeobachtungen, Gruppendiskussionen, Einzelinterviews bis zu Projekttagen und Evaluationsrunden. Ein zentraler Aspekt war der Vergleich der Mädchenkurse mit den koedukativen Kursen. Folgende Ergebnisse lassen sich aus dem Modellversuch festhalten: • Die Mädchen des ersten Mädchenkurses verstanden sich als Pionierinnen und als aktive Gestalterinnen des Schulversuchs. Ihre Identifikation mit dem Mädchenkurs war groß. • Die Mädchen der beiden folgenden Kurse nahmen dagegen ein schulisches Angebot wahr, ihre Basis war also keine kämpferische Mädchensolidarität. Insofern gab es bei Teilen von ihnen auch keine Identifikation mit dem Mädchenkurs, sondern Aussagen, daß sie lieber einen gemischten Kurs belegt hätten, was aber stundenplantechnisch nicht ging. • Die Orientierung der Mädchen an den Jungen wurde im Mädchenkurs nicht aufgehoben. Die Projektgruppe schreibt: "Die Eigengruppe der Mädchen stärkt sich durch die Schwächung der Fremdgruppe der Jungen. Damit rekrutiert sich das Selbstbild der Mädchen aus dem Fremdbild der Jungen" (Volmerg u.a. 1996, S. 138). • Ein Transfer der Erfolge im Mädchenunterricht in den anschließenden koedukativen Unterricht gelang nicht. "Der Erfolg im Mädchenkurs hat es den Mädchen offenkundig nicht ermöglicht, ein souveränes positives Selbstbild aufzubauen" (ebd., S. 141). • Gestärkt wurde aber offensichtlich die Wahrnehmungsfähigkeit für mädchenbenachteiligende Formen des koedukativen Kurses. Die Mädchen registrierten die Orientierung des Unterrichts an den Jungen und die größere Aufmerksamkeit, die diese erhielten, und übten hieran deutliche Kritik. Als Fazit aus dem Schulversuch resümieren die Autorinnen: "Geschlechtergetrennter (Informatik-)Unterricht in der gymnasialen Oberstufe macht ... dann für Mädchen Sinn, wenn die Schülerinnen und ihre Lehrkräfte in der Lage sind, den Raum jenseits 21 der Geschlechterrolle sinnvoll zu füllen" (ebd., S. 143). Dies geht jedoch nicht allein und nicht primär im getrennten Unterricht, wenn die Geschlechterverhältnisse ansonsten an der Schule unverändert sind, d.h wenn vor allem Lehrer im mathematisch-naturwissenschaftlichen, vor allem Lehrerinnen im sprachlichmusischen Bereich unterrichten, wenn Männer im allgemeinen Vollzeit-, Frauen zu großen Teilen Teilzeitstellen haben, wenn die Leitung ausschließlich aus Männern besteht. "Solange die Schulöffentlichkeit diesen heimlichen Lehrplan als alltägliche Realität nimmt, solange lernen Jungen und Mädchen die Nachrangigkeit des weiblichen Geschlechts in der gymnasialen Oberstufe. Und sie lernen ebenfalls polarisierte Geschlechtsrollenzuschreibungen. - All dies lernen auch Mädchen in Mädchenkursen" (ebd., S. 144). 3.3 Koedukation im Physikunterricht - "mädchengerechte" Didaktik als Lösung Dieses Projekt aus der Schweiz verstand sich als Interventionsstudie, in der es darum ging, den koedukativen Fachuntericht an schweizerischen Gymnasien und Seminaren zu verbessern (Herzog/ Labbude/ Neuenschwander/ Violi/ Gerber 1997). Die Besonderheit dieses Projekts liegt also darin, daß der koedukative Unterricht verbessert werden sollte. Das Projekt bildet einen Teil des Nationalprogramms 35 "Frauen in Recht und Gesellschaft". Es wurde von 1994 bis 1997 durchgeführt und von der Universität Bern wissenschaftlich untersucht. Für das Projekt wurden spezielle Unterrichtseinheiten zur Optik und Kinematik entwickelt und drei LehrerInnen-Experimentalgruppen gebildet, die sich darin unterschieden, inwieweit sie an der Entwicklung dieser Unterrichtseinheiten sowie an einer Sensibilisierung für das Projekt beteiligt waren, die Unterrichtseinheiten wurden jedoch von allen drei Gruppen unterrichtet. Eine Kontrollgruppe unterrichtete Optik und Kinematik nach ihrem gewohnten didaktischen Vorgehen (ebd., S. 22). Auf Seiten der Schülerinnen und Schüler nahmen 31 Klassen mit insgesamt 408 Schülerinnen und 206 Schülern teil. Der Jungenanteil in den Klassen schwankte zwischen 0 und 71,4%, er lag jedoch im Durchschnitt bei den Experimentalgruppen unter einem Drittel, bei der Kontrollgruppe bei knapp der Hälfte. Die Schülerinnen und Schüler wurden mit standardisierten Befragungen und Wissenstests befragt. Mit den Lehrkräften der Experimentalgruppen I und II wurden Interviews sowie Unterrichtsbeobachtungen in ihrem Unterricht durchgeführt. Die Auswertung der Ergebnisse ergab zunächst einmal keine Zusammenhänge zwischen dem experimentellen Design und der Ausprägung von Interessen und Wissen bei den Schülerinnen. Vielmehr zeigte sich, daß die Unterschiede innerhalb der Experimentalgruppen größer waren als diejenigen zwischen den Experimentalgruppen und den Vergleichsgruppen, und daß die Schulzugehörigkeit (Gymnasium versus Seminar) wichtiger war und keine zufällige Verteilung der Klassen auf die Gruppen erfolgt war. Das wissenschaftliche Begleitteam gruppierte daraufhin die Schülerinnen und Schüler um (ebd., S. 125f.). Diese Neugruppierung zeigte dann die erwünschten Ergebnisse. Die Projektgruppe leitet daraus didaktische Hinweise ab. Sie betont darüber hinaus die Notwendigkeit, die "reflexive Kompetenz der Lehrkräfte" zu stärken (ebd., S. 213). Ein "mädchengerechter" Unterricht, der - wie ja Martin Wagenschein schon vor langem feststellte (Wagenschein 1989, 1990) - auch Jungen nutzt, sollte sich an folgenden Aspekten orientieren: 22 • "Der Unterricht ist so zu gestalten, daß auf die unterschiedlichen Vorerfahrungen der Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Physik und Technik Rücksicht genommen wird. ... • Der Unterricht ist sprachlich so zu gestalten, daß er für beide Geschlechter verständlich ist. Es ist darauf zu achten, daß nicht unreflektiert Ausdrücke verwendet werden, die nur dem einen Geschlecht geläufig sind. ... • Der Unterricht ist hinsichtlich der Lehrstoffe kontextuell zu gestalten. Themen und Inhalte werden nicht abstrakt dargeboten, sondern in bezug auf deren Bedeutung für den Alltag oder für andere Disziplinen. ... • Der Unterricht hat auf den besonderen Lern- und Arbeitsstil von Mädchen Rücksicht zu nehmen. Dieser ist eher kooperativ als kompetitiv. Den Mädchen ist ausreichend Zeit für das Lösen von Aufgaben einzuräumen. Gruppenarbeiten sind geschlechtshomogen durchzuführen. Es ist darauf zu achten, daß der expansive Umgang von Knaben mit technischen Geräten den aufgabenorientierten Lernstil von Mädchen nicht stört. ... • Der Unterricht ist kommunikativ und argumentativ zu gestalten. Die Sprache ist als Medium einzusetzen, um physikalische Alltagsvorstellungen aufzudecken und zur Diskussion zu stellen. ... • Der Unterricht hat unvorteilhaften Leistungsattribuierungen entgegenzuwirken. Die Lehrkraft soll vermeiden, die bei Mädchen verbreitete Neigung, Misserfolge auf fehlende Begabung und Erfolge auf günstige äußere Umstände zurückzuführen, zu verstärken. ... • Der Unterricht ist so zu gestalten, daß der Eindruck vermieden wird, Physik sei eine Männerdomäne. Die aktive Teilnahme am Physikunterricht darf für die Mädchen nicht in Widerspruch zur Entwicklung ihrer weiblichen Geschlechtsidentität geraten. ..." (ebd, S. 20/21). 3.4 Mathematik und Technikunterricht – Wichtigkeit von Schulkultur, Vorbildfunktion und Monoedukation Mädchenförderung im Mathematik- und Technikunterricht waren Schwerpunkte im BLKModellversuch "Zur Förderung von Selbstfindungs- und Berufsfindungsprozessen von Mädchen in der Sekundarstufe I". Dieser Modellversuch wurde zwischen 1991 und 1994 an den drei Hagener Gesamtschulen durchgeführt. Der Modellversuch wurde finanziert von der BLK und dem Land Nordrhein-Westfalen. Die Mädchenförderung im Mathematik- und Technikunterricht war eingebettet in eine Vielzahl flankierender Maßnahmen wie Computer-AGs für Mädchen, Einrichtung von Mädchenräumen und Selbstbehauptungstrainings usw. (vgl. Nyssen u.a. 1996). Der Modellversuch wurde von Lehrerinnen aus allen drei Gesamtschulen initiiert und konzipiert. Im Mathematik- und Technikunterricht wurden die in den zuvor beschriebenen Modellversuchen herausgearbeiteten Maßnahmen zur Mädchenförderung gleichsam gebündelt: Curriculumrevision, Einrichtung monoedukativer Gruppen, positive Bedeutung der Lehrperson und die Relevanz des "sozialen Umfeldes", speziell die Atmosphäre in den LehrerInnenkollegien. Ziel der Mädchenförderung im Mathematikunterricht war es, ihren Anteil am Mathematikleistungskurs in der gymnasialen Oberstufe zu erhöhen und ihr Selbstbewußtsein hinsichtlich ihrer mathematischen Kompetenzen zu fördern. Im Mathematikunterricht der siebten, achten und neunten Klasse wurden im E-Kurs jeweils zwei monoedukative Gruppen für Mädchen und Jungen eingerichtet. Daneben gab 23 es noch zwei geschlechtsheterogene G-Kurse. Die leistungsmäßig besseren Schülerinnen und Schüler wurden also homogen unterrichtet. Der Mathematikunterricht wurde von zwei Lehrerinnen erteilt. Im zehnten Schuljahr wurden alle Kurse wieder koedukativ unterrichtet. Von der wissenschaftlichen Begleitung wurde der monoedukative Unterricht im 9. Jahrgang und der koedukative Unterricht im 10. Jahrgang beobachtet mit dem Ziel festzustellen, inwieweit sich der monoedukative Mathematikunterricht der Mädchen auf den koedukativen Unterricht und auf die Motivation und die Leistungen der Mädchen auswirkt. Außerdem wurden die Mädchen nach ihrem Wahlverhalten in der gymnasialen Oberstufe und ihrer Zufriedenheit mit der Monoedukation befragt. Hinsichtlich der Zielsetzungen • Entwicklung eines auf Mathematik Geschlechterstereotypisierungen bezogenen Selbstbewußtseins und Abbau von • Entwicklung von sozialer Kompetenz und • Förderung des Interesses an Mathematik und Entwicklung von Mathematikkompetenz muß das Projekt insgesamt als sehr erfolgreich bezeichnet werden. Nicht nur die Mädchen können von einem ihnen zugestandenen Freiraum im monoedukativen Unterricht profitieren, auch die Jungen fallen nach dieser Zeit durch ein zunehmend positives Unterrichtsverhalten auf, was Konzentration, Engagement und Hilfsbereitschaft betrifft. Die Mädchen und Jungen zeigen alle ein vergleichsweise großes inhaltliches Interesse am Fach Mathematik. Die Mädchen sind, was ihre faktischen Leistungen in diesem Fach und ihre Beteiligung am Unterricht betrifft, als überdurchschnittlich zu bewerten. Überzeugend ist auch die Selbstsicherheit und das Selbstbewußtsein, das die Mädchen den Jungen gegenüber an den Tag legen. Durch das Verhalten von Hilfsbereitschaft, Interesse und Solidarität statt Konkurrenzorientierung, das die Mädchen offensichtlich in der Phase des monoedukativen Mathematikunterrichts eingeübt haben, beeinflussen sie auch im koedukativen Unterricht die Jungen dahingehend positiv, daß die Konkurrenz zwischen den Geschlechtern und Geschlechterstereotypisierungen abgebaut, zumindest abgemildert werden. Dieses Ergebnis darf nicht mit der häufig gemachten Beobachtung und Aussage verwechselt werden, daß Mädchen durch ihr ausgeprägtes Sozialverhalten den Unterricht erst möglich machten. In solchen Äußerungen werden Mädchen zur ‘Sozialschmiere’ degradiert. In dem hier beschriebenen Mathematikunterricht handelt es sich - im Gegensatz zum traditionellen Unterricht - um Prozesse intendierter Mädchenförderung, die von den Lehrerinnen mit dem Ziel vorbereitet und durchgeführt wurden, daß Mädchen ihre Leistungspotentiale entwickeln und stärker als sonst entfalten können. Die Mädchen werden nicht - gleichsam unbewußt - dazu benützt, ‘die Jungen in Schach zu halten’, sondern sie sollen um ihrer selbst Willen und nicht in bezug auf die Jungen gefordert und gefördert werden. Die Mädchen sind in der siebten und neunten Klasse von den beiden Mathematiklehrerinnen nach ihrer Einschätzung der Monoedukation befragt worden. Es überwog bei weitem die positive Einschätzung mit den Begründungen, daß in monoedukativen Gruppen die Mädchen von den Jungen nicht abwertend kommentiert und ausgelacht wurden, daß die Mädchen mehr Mut hatten, Fragen zu stellen, und daß in den 24 monoedukativen Kursen ein gutes und ruhiges Arbeitsklima herrschte (vgl. Endbericht des Projektes 1994, S. 73f.). Auch drei Jahre später, kurz vor dem Abitur, überwiegt die positive Einschätzung. Sieben Mädchen lehnen die Monoedukation im Nachhinein ab ("fand ich nicht so gut, überflüssig"), 17 Mädchen dagegen betonen auch nach drei Jahren noch die positiven Auswirkungen ("war gut, man hatte mehr Mut, etwas zu sagen", "Ich finde die Teilung gut, da vor allem die Mädchen dann unter sich sind und sie nicht untergebuttert werden, so kommen die meisten aus sich heraus", "Diese Gruppierung finde ich auch heute noch gut", "Gut, weil sich viele Mädchen mehr getraut und sich mehr zugetraut haben"). Die Antworten der Jungen sind ambivalenter: entweder antworten sie gar nicht oder sie haben keine Erfahrung mit dem monoedukativen Mathematikunterricht, weil sie im G-Kurs waren bzw. von einer anderen Schule gekommen sind. Die anderen Antworten reichen von "super" bis "nutzlos" oder es wird der Stellenwert der Klassengemeinschaft unterstrichen. Neben der Verbesserung des sozialen Klimas zwischen den Geschlechtern und dem Abbau von Geschlechterstereotypisierungen sind als weitere Ergebnisse die Erhöhung der mathematischen Leistungen bei den Mädchen, aber auch bei den Jungen, und die Erweiterung des Interessenspektrums zu nennen. Am Ende des 10. Schuljahres sind die Mädchen und Jungen nach ihrer Wahl der Leistungskurse in der gymnasialen Oberstufe befragt worden. "Von 25 Mädchen wollen neun den Schwerpunkt Mathe (LK), Technik (GK) wählen, bei den Jungen sind es 15 von 29 Schülern. Zehn Mädchen, aber nur ein Junge, würden Mathematik als zweiten Leistungskurs wählen" (Endbericht des Projektes 1994, S. 76)2. Erwähnt werden muß das positive Vorbild der beiden Mathematiklehrerinnen, da sie einerseits allein durch die Tatsache, daß sie als Frauen Mathematik unterrichten, für die Geschlechtsidentifikation der Mädchen von Bedeutung sind, und weil sie andererseits durch ihren ermutigenden und motivierenden Unterricht Hemmungen und Unsicherheiten der Mädchen aus dem Weg räumen konnten (vgl. Nyssen u.a. 1996, S. 93ff). Die Ergebnisse zum Technikunterricht sind vergleichbar. Auch hier zeigten sich die Bedeutung monoedukativer Gruppen, von Curriculumrevision und die Wichtigkeit des LehrerInnenverhaltens – neben der gesamten Atmosphäre in der Schule und im Lehrerkollegium – als die wesentlichen Variablen für den Erfolg der Mädchenförderung (vgl. Nyssen u.a. 1996, S. 29ff). 3.5 Zwischenfazit Betrachtet man die vorgestellten Modellversuche noch einmal zusammenfassend, so liegt ihr Verdienst weniger darin, durch einzelne Maßnahmen ihre Ziele erreicht zu haben ohne dieses Ergebnis damit etwa gering schätzen zu wollen -, sondern darin, gerade in der Analyse auch der Schwierigkeiten und Probleme die Bedeutung des Zusammenspiels verschiedener Faktoren aufgewiesen zu haben. • Als zentral wichtige Variable ergab sich - dies läßt sich durchgängig konstatieren - die Bedeutung der Einstellung der beteiligten Lehrkräfte. Ihre Sensibilität und ihr Wille, 2 In dieser Schule werden in der gymnasialen Oberstufe jeweils zwei Fächer zu Schwerpunkten zusammengefaßt, hier Mathematik und Technik. Mathematik als 2. Leistungskurs wurde nicht angeboten. 25 Geschlechterverhältnisse zu verändern, junge Frauen zu stärken, ohne junge Männer zu benachteiligen, waren ausschlaggebend für die Akzeptanz von Maßnahmen wie für ihren Erfolg. • Ein zweites wesentliches Moment verweist auf die Rolle der Schülerinnen und Schüler an solchen Versuchen: Nur wenn sie als mitgestaltende Subjekte eingebunden sind - und nicht als zu behandelnde Objekte - kommt es zu veränderten Umgangsweisen und nicht zum "Geschlechterkampf". • Als weitere wichtige Faktoren sind die Entwicklung eines beiden Geschlechtern gerecht werdenden Curriculums und die reflektierte und flexible Veränderung der Unterrichtsorganisation zu nennen, die nicht schematisch angewandt werden, sondern eingebettet sein müssen in ein umfassendes Konzept von Mädchen- und Jungenförderung. 4. Schule und Berufsorientierung Berufsorientierung und Beratung bei Schullaufbahnen und Berufswahlentscheidungen ist in den letzten Jahren immer stärker als Aufgabe von Schule gefordert worden. In der jüngsten Umfrage des IFS stimmen 80% der Befragten in den neuen und 64% in den alten Bundesländern dem Statement zu, Schule solle sich mehr als bisher um die Vorbereitung auf das Berufsleben kümmern. Zu keinem anderen Statement ist die Zustimmung so hoch (vgl. S. in diesem Band). Die Notwendigkeit schulischer Berufsorientierung ist also unbestritten und wird auch von den Schülerinnen und Schülern gewünscht. Schülerinnen und Schüler stellen der Schule allerdings ein schlechtes Zeugnis aus: Sie erfüllt ihre Hausaufgaben hinsichtlich der Berufsorientierung nur recht mangelhaft, so das Ergebnis einer repräsentativen Befragung Flensburger AbiturientInnen von 1990. Die Mehrheit der Abiturientinnen (68,7%) und Abiturienten (59%) wünschen sich von der Schule mehr Orientierungshilfen bei der Berufswahl (vgl. Glumpler 1992, S. 248). Nicht positiver äußern sich die im Rahmen des Modellprojekts "Andere Berufe für Mädchen" befragten 889 Haupt-, Real- und Gesamtschülerinnen. 56% von ihnen wünschen sich von der Schule eine bessere Berufsorientierung (vgl. Freimuth 1994, S. 45). Die Bedeutung der Schule für die Berufsorientierung liegt nicht nur in der Berufsberatung im engeren Sinne, d.h. in der Informationsvermittlung über bestimmte Berufe, sondern auch darin, Mädchen (und Jungen) eine möglichst breite Interessensentwicklung zu ermöglichen. In Bezug auf die Berufsorientierung stellen sich der Schule – neben der Vermittlung von Informationen – weitere Aufgaben, die sich auf ihre Sozialisationsfunktion beziehen: die Stärkung des Selbstvertrauens von Mädchen und Jungen, auch für ihr Geschlecht untypische Berufe in Erwägung zu ziehen und ein breites Interessenspektrum zu entwickeln. Damit einher geht der Abbau geschlechtsstereotyper Zuschreibungen bestimmter Berufe als besonders für Frauen/ Männer geeignet. Angesichts der vorliegenden Daten und der gesellschaftlichen Bedeutung der Berufswahl der Mädchen stehen die Berufswahlorientierung und das Berufswahlverhalten von Mädchen in den letzten Jahren im Mittelpunkt vieler Maßnahmen zur Mädchenförderung. Seit den 80er Jahren starteten eine Vielzahl von Organisationen wie die Gleichstellungsbeauftragten der Kommunen, Gewerkschaften, Länder, einzelne Ministerien usw. Initiativen zur Erweiterung des Berufswahlspektrums der Mädchen (vgl. 26 Nyssen 1996, S. 138f). Diese Projekte "Mädchen in Männerberufe, Mädchen in die gewerblich-technischen Berufe" konzentrierten sich auf die Erweiterung der traditionellen Berufseinmündung von jungen Frauen und auf die Phase der Berufsausbildung und den Berufsverlauf in einem gewerblich-technischen Beruf (vgl. zusammenfassend Hoose/ Vorholt 19972, S. 132ff.). Schulische Modellversuche zur Förderung/ Erweiterung des Berufswahlspektrums von jungen Frauen sind uns aus dieser Zeit nicht bekannt bzw. sind nicht dokumentiert. Einen Überblick darüber, ob und wie Schule ihrer Aufgabe der Berufsorientierung – außer dem obligatorischen Betriebspraktikum in der Sek I in der Haupt-, Real- und Gesamtschule (vgl. Faulstich-Wieland 1996) – nachkommt, existiert u.W. nicht. Ebenso wenig haben wir Kenntnis davon, mit welchen Formen der Berufsorientierung wie Schnupperkurse, gezielte Betriebspraktika, Vorträge von ExpertInnen (beispielsweise im Rahmen von Öffnung von Schule) wieviele Schulen experimentiert bzw. was sie installiert haben. Die Bedeutung schulischer Berufsorientierung insbesondere für Mädchen wurde erst mit einer breiteren Rezeption der Ergebnisse der feministischen Schulforschung evident. Während den älteren Versuchen zur Mädchenförderung die Auffassung zugrunde lag, Mädchenförderung müsse als Kompensation für technische Defizite begriffen werden und es bedürfe einer Angleichung der jungen Frauen an die jungen Männer, berücksichtigen die neueren schulischen Modellversuche die spezifische Situation der Mädchen, die sich in ihrer doppelten Vergesellschaftung und ihrer doppelten Lebensplanung auf Beruf und Familie ausdrückt. Die heutigen Versuche zur Förderung der Berufs- und Lebensorientierung von Mädchen machen den Versuch, stärker an die gegenwärtigen Bedürfnisse und Interessen der Mädchen anzuknüpfen. Sie begreifen die Widersprüche und Ambivalenzen von Mädchen in ihrer doppelten Zukunftsorientierung auf Beruf und Familie als Ausdruck ihrer gesellschaftlich bedingten Lebenssituation. Sie haben das Ziel, Mädchen mehr Kompetenzen und Selbstbewußtsein für ihre berufliche und ‘private’ Zukunft zu vermitteln, ohne ihnen konkrete Vorschriften für richtige Lebensführung und Berufsentscheidungen zu machen. Dies beinhaltet die Erweiterung des Arbeitsbegriffs und die Grundannahme, Berufsorientierung als Lebensplanung zu begreifen. Ein solches Verständnis von Berufsorientierung liegt auch den BLK-Modellversuchen zur Berufsorientierung, auf die wir hier näher eingehen wollen, zugrunde. 4.1 "Zur Förderung von Selbstfindungs- und Berufsfindungsprozessen von Mädchen in der Sekundarstufe I" Hinsichtlich der Berufsorientierung verfolgt der bereits erwähnte Hagener Modellversuch die generellen Ziele, das Berufswahlspektrum der Mädchen zu erweitern, ihre Selbsfindungsprozeß zu unterstützen und eine selbstbewußte Berufswahl zu ermöglichen. Im achten Jahrgang liegt der Schwerpunkt der berufsorientierenden Förderung im gewerblich-technischen Bereich. Dabei ist die Berufsorientierung eingebettet in die gesamte Lebensplanung. Vorbereitet auf die berufsorientierenden Maßnahmen werden die Mädchen und Jungen in jeweils geschlechtshomogenen Gruppen in einem dreitägigen außerschulischen Lebensplanungsseminar. Danach nehmen die Mädchen und Jungen an einem einwöchigen Schnupperpraktikum in einer überbetrieblichen gewerblichtechnischen Ausbildungsstätte der Industrie- und Handelskammer (IHK) teil. Es folgen 27 Stadtteilprojekte in gewerblich-technischen Lehrwerkstätten, die sich über ein halbes Jahr erstrecken und einmal pro Woche an einem Nachmittag stattfinden. Im neunten Schuljahr steht das obligatorische Betriebspraktikum im Mittelpunkt der berufsfördernden Maßnahmen. Dieses wird in der Schule vor- und nachbereitet. Die Nachbereitung wird in Zusammenarbeit mit dem DGB in einem einwöchigen Seminar durchgeführt. Im zehnten Schuljahr findet dann zum Abschluß des Modellversuchs eine Projektwoche zur weiteren Berufsorientierung statt, in der die Schülerinnen - je nach Schulabschluß - in einzelnen Gruppen gezielt Informationen über berufliche Möglichkeiten und Studiengänge erhalten. Während der Projektwoche besuchen die Mädchen, die auf die gymnasiale Oberstufe wechseln werden, die naturwissenschaftlich-technischen Fachbereiche der Universität Dortmund und der Universität GH Wuppertal. Die Ergebnisse der berufsorientierenden Maßnahmen müssen vor dem Hintergrund der sozialen Voraussetzungen der Schülerinnen gesehen werden. Die Mädchen kommen zum überwiegenden Teil aus der Arbeiter- oder unteren Mittelschicht. Nur wenige Schülerinnen leben in einer Familie mit höherem Bildungsniveau. In den meisten Familien sind die Mütter und Väter berufstätig. 35 % der Mädchen leben in Einelternfamilien. 10 % der Schülerinnen sind zu Beginn des Modellversuchs Sozialhilfeempfängerinnen (vgl. Antrag der Schulen 1990, S. 11). Anfang 1996 sind es nach Auskunft einer Lehrerin bereits 18 %. Die Ergebnisse sind auch einzuordnen in die gesamte Mädchenarbeit, die in dieser Schule organisiert wird, wie ein Mädchenraum, Arbeitsgemeinschaften nur für Mädchen und Selbstbehauptungskurse. Der Modellversuch hat die Möglichkeiten von Schule, Selbstfindungsprozesse der Mädchen zu unterstützen und ihnen so eine selbstbewußte Berufswahl zu ermöglichen, ebenso deutlich gemacht wie die Grenzen schulischer Berufsorientierung. Die Ergebnisse sind ambivalent einzuschätzen. Als positive Auswirkungen lassen sich folgende Ergebnisse nennen: • Die Berufsmotivation der Mädchen ist ebenso hoch wie die der Jungen. Daß sie berufstätig sein wollen, ist für die Mädchen selbstverständlich. • Die Berufsmotivation der Mädchen ist in der zehnten Klasse im Vergleich zum achten Jahrgang deutlich gestiegen. Sie ist höher als diejenige der Mädchen, die nicht an gezielten Maßnahmen zur Erweiterung des Berufswahlspektrums teilgenommen haben. • Das Berufswahlspektrum der Mädchen ist erheblich erweitert worden. Sie haben neue, bislang für sie unbekannte Berufe kennengelernt, wenn auch für sich nicht angenommen. Dabei wird die Ablehnung, in den technisch-gewerblichen Berufen eine Lehre zu beginnen, von den Mädchen rational und argumentativ begründet. • Das Selbstbewußtsein der Mädchen hinsichtlich ihrer Kompetenzen in gewerblich-technischen Berufsbereichen ist gestiegen. Die Mädchen haben in ihr Selbstbild integriert, daß sie als Frauen genauso kompetent in technischen Berufen sein können wie Männer. • Ebenso hat eine intensive Auseinandersetzung mit der gesamten Lebensplanung, die sich auf Beruf und Familie, auf Produktion und Reproduktion bezieht, stattgefunden. Die Mädchen fordern zu Ende des Modellversuchs deutlich häufiger und eindringlicher die Mitwirkung des Partners im Reproduktionsbereich ein. 28 Die vorliegenden Ergebnisse legen die Vermutung nahe, daß der durch die Schule initiierte Berufswahlprozeß bei Schülerinnen, die einen hohen Schulabschluß wie das Abitur anstreben, eher dazu führen, das Berufswahlspektrum zu erweitern, als bei den Schülerinnen, die nach der zehnten Klasse die Schule verlassen. Zwar können sich weniger Mädchen als Jungen vorstellen, nach dem Abitur zu studieren, aber wenn sie studieren wollen, schließen sie die Wahl eines Studienfaches aus dem mathematisch-technisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen keineswegs aus. Ganz offensichtlich hat der Besuch an der Universität Dortmund einige Mädchen motiviert, über ein Studium nachzudenken, was sie vorher für sich ausgeschlossen hatten. Deutliche Grenzen zeigt der Modellversuch bei den Mädchen, die die Schule nach der zehnten Klasse verlassen und eine Lehrstelle suchen. Diese Mädchen verbleiben in den traditionell weiblichen Berufsbereichen. Deutlich geworden ist bei diesen Schülerinnen, daß der geschlechtsspezifisch segmentierte Arbeitsmarkt mit seinen Segmenten ohne Frauen das Berufswahlspektrum ebenso begrenzt wie geschlechtsabhängige Vorlieben der Mädchen für den ‘Umgang mit Menschen’, die gesellschaftlichen Einschränkungen durch die doppelte Orientierung auf Beruf und Familie und die nahezu ausschließliche Zuständigkeit von Frauen für den Reproduktionsbereich, die von einigen Mädchen verinnerlicht ist. Gleichzeitig zeigen die Mädchen aber auch ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein, indem sie an ihrem einmal gewählten Beruf festhalten. Sie lassen sich nicht in Berufe drängen, die sie nicht als die ihren akzeptieren und begründen ihre Ablehnung argumentativ. In Bezug auf die Jungen muß folgender Aspekt hervorgehoben werden: Die Jungen sind mit der Berufsorientierung mehrheitlich zufrieden. Hier zeigt sich deutlich, daß Maßnahmen zur Mädchenförderung auch den Jungen nutzen. Auch die Jungen haben mehr und ausführlicher über Berufe erfahren. Mädchenförderung bedeutet also, was die berufsorientierenden Maßnahmen betrifft, implizit auch Jungenförderung (vgl. Nyssen u.a. 1996, S. 133ff). 4.2 "Berufsorientierung und Lebensplanung von Mädchen und Jungen" Der Modellversuch fand von 1994/95 bis 1996/97 in Zusammenarbeit mit 21 Lehrerinnen und Lehrern aus sieben Gesamtschulen, zwei Realschulen und einem Gymnasium in Brandenburg statt. Er wurde von der BLK und dem Land Brandenburg finanziert und unter Leitung von Doris Lemmermöhle wissenschaftlich begleitet. "Der Modellversuch setzte an einer engen Verbindung von Berufs- und Lebensplanung bzw. –gestaltung und einem auf die gesamte gesellschaftlich notwendige Arbeit bezogenen Arbeitsbegriff an und versuchte sowohl das persönliche Interesse der Jugendlichen an subjektiver befriedigender Arbeit als auch die tiefgreifenden Probleme und Herausforderungen der heutigen Berufs- und Arbeitswelt aufeinander zu beziehen" (Lemmermöhle u.a. 1997, S. XXIX). Ziel des Modellversuchs war die Erweiterung, Überprüfung und Erprobung des "Bielefelder Konzepts einer arbeitsorientierten und geschlechterbewußten Bildung für die Sekundarstufe I". Das Bielefelder Konzept beinhaltet didaktische Materialien für den Arbeitslehre-, Gesellschaftskunde-, Geschichts- und Deutschunterricht, die Ende der 29 80er/Anfang der 90er Jahre am Bielefelder Zentrum für Lehrerbildung unter Leitung von Doris Lemmermöhle erarbeitet und seitdem vielfach in Schulen eingesetzt und in LehrerInnenfortbildungen diskutiert wurden (vgl. Lemmermöhle 1990 ff.). Neu gegenüber dem ursprünglichen Konzept ist eine stärkere Berücksichtigung von Jungensozialisation, eine Aktualisierung auf die besonderen Entwicklungstendenzen in den neuen Bundesländern und die Anpassung an die unterrichtlichen Voraussetzungen in Brandenburg. Hauptmaßnahme waren Fortbildungsveranstaltungen mit den beteiligten LehrerInnen, die die Überarbeitung der Materialien vornahmen, sie im Unterricht erprobten und ihre Erfahrungen austauschten. Als ein wesentliches Ergebnis des Modellversuchs ist hervorzuheben, daß die Mehrheit der beteiligten Schulen Schulpläne zur Berufsorientierung und Lebensplanung, die von den Fachkonferenzen der Schule und bei schulinternen Fortbildungen entwickelt wurden, verabschiedet hat (vgl. ebd. S. XXXI). "An einzelnen der beteiligten Modellversuchsschulen sind inzwischen Berufebörsen/Berufemärkte in Kooperation mit regionalen Betrieben, Berufsberatungen, Kammern usw. durchgeführt worden, bei denen die Jugendlichen Informationen erhalten und mit ausbildenden Betrieben in Kontakt kommen. Auch wenn dies nicht unmittelbar zu weiteren Ausbildungsplätzen führt, so können diese Aktivitäten helfen, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, die Relevanz des Themas deutlich zu machen. Zugleich sind diese Aktivitäten Handlungsmöglichkeiten für die Jugendlichen, ihr Anliegen selbst zu vertreten" (ebd. S. XXXI). Alle teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrer halten es für unverzichtbar, "die unterschiedlichen Bedingungen und Perspektiven der Mädchen und Jungen im Unterricht zu berücksichtigen" (ebd. S. XXI), wobei die Reaktion der Schülerinnen und der Kollegien auf eine "geschlechterbewußte Bildung" in ihrer Mehrheit positiv ist (vgl. ebd. S. XXI). Berufsorientierung muß notwendig Lebensplanung umfassen, gerade in den neuen Bundesländern, darin waren sich alle beteiligten Lehrerinnen und Lehrer einig. Die Vertreterinnen des einzigen Gymnasiums verwiesen auf die Notwendigkeit von Berufsorientierung auch im Gymnasium, sind aber skeptisch hinsichtlich deren Realisierung (vgl. ebd. S. XXII). 4.3 Fazit Die Berufswahl der Mädchen stellt einen äußerst komplexen biographischen Prozeß dar, in dem objektive Bedingungen und subjektive Voraussetzungen ineinandergreifen. Die generelle Situation auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und die spezifische Situation in der Region, der Einfluß der Eltern und der peer-groups und gesellschaftliche Ideologien über die Rolle der Frau sind ebenso zu benennen und zu berücksichtigen wie die familiären Sozialisationsvoraussetzungen, die Schulausbildung, die Lebensplanung in bezug auf Partner und Kinder, die möglichen Vorbilder und viele andere Unwägbarkeiten. Vor allem die Entwicklungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und der Einfluß der Eltern begrenzen die Möglichkeiten schulischer Berufsorientierung. Alle diese Variablen können die gezielte Förderung und Erweiterung des Berufswahlspektrums durch die Schule unterstützen oder konterkarieren. Dennoch ist die Notwendigkeit schulischer Berufsorientierung unbestritten und wird auch von den Schülerinnen und Schülern eingefordert. Schule kommt im Prozeß der 30 Berufsorientierung von Mädchen und Jungen deshalb eine so entscheidende Bedeutung zu, weil sie die einzige Institution ist, die alle Mädchen und Jungen erfaßt und alle Mädchen und Jungen - zumindest formal – erreicht. Dabei kann, das haben die Erfahrungen vor allem in Brandenburg überaus deutlich gemacht, Berufsorientierung sich nicht auf Informationen über Ausbildungs- und Arbeitsplätze beschränken (zumal wenn es keine gibt), sondern muß den Prozeß der gesamten Lebensplanung mitumfassen. Die jüngste Shell-Jugendstudie (1997) belegt eindrucksvoll, daß "wenn die Arbeitsgesellschaft zum Problem wird, (...) auch die Jugendphase als Phase der biographischen Vorbereitung auf diese Gesellschaft zum Problem werden (muß)" (Jugendwerk der Deutschen Shell 1997, S. 13). "Schule wird Schülerinnen und Schüler darauf vorbereiten müssen, mit den Unsicherheiten der in die Krise geratenen Arbeitsgesellschaft und Arbeitsteilungen umgehen zu können. (...) Schule hat die Aufgabe, die Unsicherheiten der Zukunft aufzudecken und zugleich – denn sonst würde sie nur Angst vermitteln – Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten (...) und Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühles auch bei Mißerfolgserlebnissen zu ermöglichen (vgl. Baethge 1995)" (Lemmermöhle/ Nyssen 1998). Dies betonen als Ergebnis auch beide der hier dargestellten Modellversuche, leiser der Hagener Versuch, ausdrücklicher an die am Modellversuch beteiligten Schulen in Brandenburg sowohl: die beteiligten Schulen in Brandenburg als auch die Hagener Gesamtschulen haben "Berufsorientierung und Lebensplanung" entweder bereits in ihr Schulprogramm aufgenommen oder sie planen dies für die nähere Zukunft (vgl. Bertelsmann-Stiftung 1996, S. 267f und Lemmermöhle 1997, S. XXXI). 5. Perspektiven Modellversuche, die die Geschlechterverhältnisse in der Schule verändern wollen, befinden sich in einem hochkomplexen Feld, auf das sie letztlich nur unterkomplex reagieren können: Die gesellschaftlich vorherrschende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wirkt real wie symbolisch auch auf die Gestaltung von Schule. Dies widerspiegelt sich nicht zuletzt in den Zahlenverhältnissen von Lehrerinnen und Lehrern auf den verschiedenen Ebenen des Schulwesens. Die Grundschule als vermeintlich wenig professionalisierter Umgang mit Kindern ist das Feld von Frauen. Die Sekundarstufe II als vermeintlich am stärksten fachliche Ansprüche realisierende Bildungseinrichtung ist die Domäne von Männern. Teilzeitarbeit als Möglichkeit der Verbindung von Familie und Beruf wird vor allem von Lehrerinnen wahrgenommen. Leitungsaufgaben liegen nach wie vor primär in der Hand von Männern. Die ungleiche Verteilung der Lehrkräfte im männlich dominierten naturwissenschaftlich-technischen und weiblich dominierten sprachlichen Bereich bestärkt die symbolische Bedeutung dieser Bereiche als männlich bzw. weiblich. Die Symbolhaftigkeit dieser Ordnung aufzubrechen, erfordert also immer ein Gegensteuern, einen Verweis auf Ausnahmen und Besonderheiten. Dies schafft notwendig einen Widerspruch zur Zielsetzung, Gleichheit der Geschlechter zur Normalität und Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Dies betrifft vor allem die selbstverständliche Vorstellung, daß Mädchen einerseits gleiche Interessen an Mathematik, Naturwissenschaften und Technik ebenso haben (können) wie andererseits Jungen an Sprachen und den Künsten. 31 Dabei ist die eigene Person, sind die Lehrerinnen und Lehrer, in diesem Prozeß weit stärker gefordert als bei anderen schulischen Fragen: Mädchenförderung tangiert und betrifft nicht nur einzelne Aspekte des LehrerInnenhandelns, sondern berührt die eigene Geschlechtsidentität und damit die eigene Identität insgesamt. Es entsteht die Notwendigkeit, die eigene Geschlechtsrollenidentität, die eigenen Geschlechtsrollenstereotypisierungen zu hinterfragen und das LehrerInnenhandeln zu problematisieren. "Da die Geschlechterfrage jede Person in ihrer Identität, ihrem Selbstbild und ihrer Lebensgeschichte, in ihrer Emotionalität und sexuellen Selbstdarstellung berührt, ist es oft schwierig, die persönlichen und intimen Ebenen dieser Thematik angemessen zu bearbeiten und der Reflexion zugänglich zu machen" (Sommerkorn 1995, S. 15). Deutlich wird daran, daß eine Reform von oben, eine Verordnung des Themas kaum zum Erfolg führen kann. Gilt dies generell für Schulrefomen (vgl. Hänsel/ Huber 1996), so gilt es erst recht für Modellversuche, die das herrschende Geschlechterverhältnis in Frage stellen. Die von uns analysierten Projekte zur Mädchenförderung haben gezeigt, daß diese nur dann erfolgreich waren, wenn sie von denen, die sie durchführen (sollen), auch mitgetragen bzw. mitentwickelt worden sind. Allerdings ergibt sich hier ein Dilemma: Viele Schulleitungen und -kollegien nehmen Mädchenförderung erst dann zur Kenntnis oder erst dann ernst, wenn die Anstöße dazu gleichsam von ‘oben’ kommen, wie aus Berichten von Lehrerinnen zu entnehmen ist. Die Analyse der vorgestellten Modellversuche hat neben einer Fülle von didaktischen, curricularen und organisatorischen Hinweisen sowie neben dem Aufzeigen von Sensibilisierungsmöglichkeiten vor allem deutlich gemacht, daß es um Schulentwicklung insgesamt geht, wenn Geschlechterverhältnisse geändert werden sollen. Die Einbettung einzelner Maßnahmen in eine Veränderung der Schulkultur vermag sichtbare Erfolge zu erbringen. Ein zentrales Moment dafür ist jedoch der Wille zur Veränderung von Geschlechterverhältnissen bei den Beteiligten. In Nordrhein-Westfalen sind alle Schulen aufgefordert, Mädchen- und Jungenförderung in ihr Schulprogramm und –profil aufzunehmen. Damit ist zunächst einmal die Voraussetzung geschaffen, das Thema ernst zu nehmen, es als gesellschaftlich relevantes Problem zu sehen. Für die Umsetzung müssen die Lehrenden und Lernenden gewonnen werden, sie müssen befähigt werden, die ihnen zugeordneten Gestaltungsräume auszufüllen, sie müssen "ermutigt und in den Stand gesetzt werden, auf Probleme, die sie wahrnehmen, mit eigenen Entwürfen und Versuchen zu antworten" (Hänsel/Huber 1996, S. 10). Wie die Bildungskommission NordrheinWestfalen festgestellt hat, sollte den Lehrerinnen und Lehrern Supervision angeboten werden, um die Differenziertheit und Komplexität der Koedukationspädagogik bearbeiten zu können. Um reflexive Koedukation in Schule Wirklichkeit werden zu lassen, ist der erklärte politische Wille nicht zu unterschätzen. Darüberhinaus bedarf es aber wahrscheinlich eher der gezielten Unterstützung und Begleitung jener Schulen, die diese Aufgabe "von unten" aufnehmen als einer bürokratischen Durchsetzung an allen Schulen "von oben". Literatur Antrag der Schulen zum BLK-Modellversuch "Zur Förderung von Selbstfindungs- und 32 Berufsfindungsprozessen von Mädchen in der Sekundarstufe I". Hagen 1990 Baethge, Martin: Gesellschaftlicher Strukturwandel und das System Schule – Widersprüche der (bildungs-)politischen Entwicklung. In: Die Deutsche Schule 4/1995, 434-442 Beinke, Lothar/Richter, Heike (Hrsg.): Mädchen und Physikunterricht. Revision eines Lehrplanes in der Realschule. Abschlußbericht des BLK-Modellversuchs "Förderung naturwissenschaftlichtechnischer Bildung für Mädchen der Realschule in Nordrhein-Westfalen". Bad Heilbrunn 1993 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Schule neu gestalten. Dokumentation zum Sonderpreis "Innovative Schulen". Gütersloh 1996 Berufsberatung 1996/97. 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