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Zwischen Kirchenbank und Bettsofa die „Jungen“ in der „alten“ Gemeinde Samuel Müller Autor: Samuel Müller Art: Abschlussarbeit Version: - Datum Erstellung: August 2007 Seiten: 66 (inkl. Deckblatt) Copyright: IGW International Adresse IGW IGW International Josefstrasse 206 CH - 8005 Zürich Tel. 0041 (0) 44 272 48 08 Fax. 0041 (0) 44 271 63 60 info@igw.edu www.igw.edu Rechtliches Das Institut für Gemeindebau und Weltmission (IGW) ist urheberrechtliche Eigentümerin dieses Dokumentes. Der Inhalt dieses Dokumentes ist ausschliesslich für den privaten Gebrauch und die Verwendung im kirchlichen profitlosen Kontext bestimmt. Falls dieses Dokument für einen anderen (z.B. gewerblichen) Zweck benützt werden soll, benötigen Sie die vorherige, ausdrückliche und schriftliche Zustimmung von IGW und dem Autor. Vorwort von IGW International Theologische Arbeit ist Dienst an der Gemeinde, sie ist Hirtendienst. Die enge Verknüpfung von theologischer Ausbildung und Gemeinde zeigt sich unter anderem in den Abschlussarbeiten der IGW-Absolventen. Jedes Jahr werden rund 40 solche Arbeiten geschrieben. Die intensive Beschäftigung mit einem Thema ist eine gewinnbringende Erfahrung, bei der die Studierenden durch überraschende Entdeckungen und neue Erkenntnisse ihren Horizont erweitern. Auch die Gemeinde soll und darf von diesem Ertrag profitieren. Die Schulleitung von IGW begrüsst darum die Veröffentlichung der vorliegenden Arbeit. IGW International ist mit weit über 300 Studierenden die grösste evangelikale Ausbildungsinstitution im deutschsprachigen Raum. Sie bietet verschiedene Studiengänge für ehrenamtlichen, teil- oder vollzeitlichen Dienst an. In der Schweiz und in Deutschland existieren Studienzentren in Zürich, Bern, Olten, Essen, Karlsruhe, Chemnitz und seit Herbst 2008 auch in Braunschweig. In Österreich unterstützt IGW den Aufbau der Akademie für Theologie und Gemeindebau AThG. Das IGW-Angebot umfasst eine grosse Vielfalt an Ausbildungen und Weiterbildungen: vom Fernstudium (für ehrenamtliche Mitarbeiter und zur Vertiefung einzelner Themen) über das Bachelor-Programm (als Vorbereitung auf eine vollzeitliche Tätigkeit als Pastor) bis zum Master als Weiterbildung und für Quereinsteiger mit akademischer Vorbildung. IGW ist Teil des Netzwerkes GBFE/Unisa, über dieses Netzwerk wird ein Doktoralprogramm angeboten. Weitere Informationen finden Sie auf www.igw.edu. Seit Herbst 2008 macht IGW alle Abschlussarbeiten online zugänglich, welche die Beurteilung „gut“ oder „sehr gut„ erhalten haben. Die Arbeiten stehen gratis auf der Homepage zur Verfügung (www.igw.edu/downloads). Für die Schulleitung Dr. Fritz Peyer-Müller, Rektor IGW International diplomarbeit thema: 2007 zwischen Kirchenbank und Bettsofa – die „Jungen“ in der „alten“ Gemeinde student: Samuel Müller mentor: Karl Flückiger igw diplomarbeit ii Einleitende Gedanken Zwischen Kirchenbank und Bettsofa Die „Jungen“ in der „alten“ Gemeinde! Kirchenbank ist bezeichnend für: Standhaftigkeit; massive Verarbeitung, langlebig Einseitigkeit; unflexibel in der Anwendung Erkennungseffekt; weist auf Standort hin Ordnung; exakte Anordnung, strenge Struktur Standort; externer Lebensraum, Kirchengebäude Bettsofa ist bezeichnend für: Veränderung und Innovation; flexibel in der Anwendung Bequemheit; angenehm zum Sitzen Lebensraum; in der Wohnstube, nahe beim Menschen, Geselligkeit Unterschiedlichkeit; verschiedene Ausführungen, den Bedürfnissen angepasst Der Vergleich erscheint im ersten Moment banal, vielleicht witzig, aber doch eher abstrakt. Wir müssen die Begriffe mit Gruppen von Menschen füllen, um sie lebendig zu machen. Der Kirchenbank steht für die traditionelle Kirche, deren Geschichte und Kultur einer Zeit und Tradition entstammt und in einem evolutionären Wandel ist, der langsam vonstatten geht. Gleichzeitig leben eine Reihe von „Pionieren“ und jungen, postmodernen Christen in der ständigen Spannung zwischen ihrer kirchlichen Herkunft und ihrer apostolischen Berufung. Bezeichnend für diese Gruppe von Menschen steht der Bettsofa. Sie lieben die Kirche, in der sie gross geworden und die sie im Glauben unterwiesen hat. Gleichzeitig sind sie aufgerufen, die Welt ausserhalb dieser Kirche zu lieben. „Im besten Fall ist diese Spannung konstruktiv, weil sie missionarisches Handeln und kirchliche Ordnung in eine dynamische Balance bringt. Im schlimmsten Fall kann man sie weder lösen noch mit ihr leben“ (Herbst 2006: 238). igw diplomarbeit iii INHALTSVERZEICHNIS 1 EINFÜHRUNG 1 1.1 Persönlicher Hintergrund 1 1.2 Motivation für diese Arbeit 1 1.3 Meine Fragestellung 2 1.4 Methodik und Vorgehensweise 3 1.5 Weiterführung einer früheren Diplomarbeit 3 2 GESCHICHTLICHER RÜCKBLICK 2.1 Lokale Geschichte der Kirche Steinmaur 2.1.1 Die Kirche im Dorf 4 4 4 2.2 Der traditionelle „kirchliche Unterricht“ der Jugend 6 2.3 Etwas zur Geschichte und den Gegenwartsproblemen der Kantonalkirche 8 2.4 Luthers Anliegen 2.4.1 2.5 Was wollte die Reformation? Die Dynamik der Jugend 3 GEMEINDE WERDEN 3.1 Unterschiedliche Auffassungen 10 10 11 13 13 3.1.1 Was ist Kirche? 13 3.1.2 Wo entsteht Kirche? 15 3.1.3 Unterschiede der traditionellen Pastorenkirche zur Urgemeinde 16 3.2 Was ist der Antrieb für die Gemeinde? 18 3.3 Mission als gemeinsamer Auftrag 19 3.3.1 3.4 Der gemeinsame Auftrag verbindet Wieso braucht es Aufbrüche? 3.4.1 Kritische Worte zu Aufbrüchen und Anpassung der Kirche 4 ANALYSIEREN, LERNEN, VERSTEHEN 19 20 21 24 4.1 Eine neue Jugendkultur 24 4.2 Jugendkultur und Generationenunterschiede – Zerriss oder Chance? 27 4.2.1 Die Gemeinde muss Einheit vorleben 28 4.2.2 Zielgruppenorientierte Mission bedeutet nicht Gemeindespaltung 28 4.2.3 Der Preis und die Grenzen der Integration 29 4.2.4 Einander die Herzen zuwenden 30 4.2.5 Keine Angst vor Neuem 31 4.2.6 Was brauchen wir? 32 igw diplomarbeit iv 4.3 Von anderen lernen 33 4.3.1 Die Anglikanische Kirche Englands 33 4.3.2 Beispiel Soul Survivor 35 4.3.3 Emerging church – ein frischer Ansatz für Gemeindebau 35 4.3.4 Welche Kräfte sind zu beachten? 36 4.4 Wieso braucht es etwas radikal Neues? 38 4.5 Welchen Weg sollen wir gehen? 39 4.5.1 Wo sind die Gefahren beim Neuen? 5 ANWENDUNG 5.1 Wie könnte das Neue aussehen? 40 41 41 5.1.1 Priorität von Werte oder Strukturen? 41 5.1.2 Die zukünftigen Leiter herausfiltern 44 5.1.3 Lernen, neu zu denken und entsprechend zu handeln 44 5.2 Verschiedene Ideenskizzen 45 5.2.1 Lebensgemeinschaften 45 5.2.2 Kulturrelevante „Jugendkirche“ 46 5.2.3 Jüngerschaftsbewegung / Hauskirchen 46 5.2.4 Die Summe der Vorschläge: Die Holding Church 47 5.3 Ein Plan für die Zukunft 5.3.1 Vorgehensweise in der Bildung einer regionalen Jugendarbeit 48 48 Schlussfolgerungen 51 6 BIBLIOGRAPHIE 55 7 ANHANG 58 5.4 igw diplomarbeit 1 1 EINFÜHRUNG 1.1 Persönlicher Hintergrund Aufgewachsen mit vier jüngeren Geschwistern in einer christlichen Familie, war ich Zeit meines Lebens Teil der reformierten Landeskirche der beiden Dörfer Steinmaur und Neerach. Mein Elternhaus befindet sich gleich neben dem Kirchengebäude. Ich wuchs in dieser Kirchgemeinde auf, durchquerte alle Kinder- und Jugendprogramme und wurde 1998 in der Gemeinde konfirmiert. Meine bewusste Hinwendung zu Jesus geschah einige Monate früher an der Explo 971 in Basel. Nach der Lehrzeit, der anschliessenden Berufsmatur sowie der Rekrutenschule ging ich im Winter 02/03 für eineinhalb Jahre nach Australien ans Hillsong Leadership College2. Das gab mir zum ersten Mal tieferen Einblick in eine andere Gemeinde. Im Herbst 2004 kam ich zurück in die Schweiz und begann als 21-jähriger mein Studium bei IGW sowie die Arbeit als Jugendcoach3 in meiner alten Gemeinde, der Landeskirche Steinmaur-Neerach. Bis zum heutigen Zeitpunkt bin ich zu 50% für den Bereich Jugend angestellt. Bezüglich der Generationenfrage würde ich mich zur frühen Postmoderne zählen, wobei meine Erziehung sicherlich von der Moderne geprägt war. Diese Begriffe werden unter dem Abschnitt 4.1 „eine neue Jugendkultur“ weiter definiert. 1.2 Motivation für diese Arbeit Meine Arbeit setzt sich mit einer Fragestellung auseinander, die mich als Jugendarbeiter in unserer Gemeinde und Region konkret beschäftigt: Ist Jugendarbeit in einer etablierten Kirche möglich, wenn ja, wie? Gerne möchte ich einen Impuls für Gespräche und Entscheidungen geben. Ich möchte Chancen und Gefahren für unsere Gruppe und Gemeinde aufzeigen und nach Lösungsansätzen fragen. Ich weiss, dass am Ende viele Erkenntnisse nicht neu sind, irgendwo bereits existieren und umgesetzt oder kritisiert werden, und dennoch möchte ich forschen und zusammentragen, damit ich persönlich und die Leiter um mich herum einen Überblick der Thematik erhalten und von da aus weitergehen können. Meine Diplomarbeit soll Leitern und Pastoren von lokalen Gemeinden in unserer Region und darüber hinaus die Sicht eines Jugendleiters aufzeigen, Verständnis wecken und denjenigen 1 Christliche Grosskonferenz, organisiert von Campus für Christus. 2 Bibel- und Leiterschaftsschule der Hillsong Church in Sydney (www.hillsongcollege.com). In anderen Gemeinden auch Jugendpastor oder Jugendleiter genannt. 3 igw diplomarbeit 2 weiterhelfen, die ähnliche Fragen haben. Ich möchte meine subjektiven Erfahrungen durch ein breites Spektrum an Meinungen und Ansichten ergänzen, mich in Gesprächen mit Jung und Alt belehren lassen, durch Literatur inspiriert und hoffentlich, so bete ich, von Gottes Geist geführt werden. 1.3 Meine Fragestellung In den vergangenen neun Jahren ist unsere Jugendarbeit von drei auf ca. 70 Personen angewachsen. Auch sind die Menschen, die von Beginn weg dabei waren, älter geworden. Mit fortschreitendem Alter ändern die Bedürfnisse und so stecken wir im Moment in einem Prozess, wo wir uns als junge Erwachsene die Frage stellen, wie wir in unserer Gemeinde weitergehen wollen. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Einerseits fühlen wir4 uns wohl in der Gemeinde, die als Landeskirche enorm innovativ ist, anderseits stellen wir fest, wie schwer es ist, gleichaltrige oder jüngere Freunde in die Gemeinde einzuladen und sie zu integrieren. Die Art und Weise, wie wir leiten, reden, planen und Gemeinde bauen scheint oft so völlig anders zu sein, als dies unsere Eltern und die Generationen davor getan haben und tun. Es herrscht eine Spannung zwischen der wachsenden Jugendarbeit und der traditionellen Gemeinde. Diese Spannung ist weder provoziert noch geplant, fast scheint es, als sei es natürlich, dass zwischen Generationen solche Spannungen entstehen. Ich würde sie denn auch als eine „organische Spannung“ bezeichnen, die nicht destruktiv, sondern konstruktiv sein kann, wenn wir lernen, richtig damit umzugehen. Im Blick auf andere Gemeinden in unserer Region stelle ich fest, dass ähnliche Spannungen vorhanden sind. Gerade jetzt, wo ich diese Worte schreibe, herrscht grosse Unsicherheit in der benachbarten Baptistengemeinde5. Alle drei vollzeitlich angestellten Pastoren werden die Gemeinde innerhalb eines Jahres verlassen. Die Gründe sind verschieden, aber ein zentraler Streitpunkt besteht in der Frage, wie man künftig alle Generationen in die Gemeinde integrieren sollte. Die Spannung zwischen Jugend und traditioneller Gemeinde scheint hier (zumindest kurzfristig) eine destruktive Wirkung zu entfalten. Vorstellungen von Leitern und Ältesten driften auseinander. Es herrscht ein Vakuum an Vision, wie Gemeinde mit Jung und Alt aussehen könnte. Ältere erkennen die Chance nur schleierhaft, die in einer neuen, jungen Generation steckt. Aufgrund solcher Beobachtungen habe ich mir folgende Fragestellung gesetzt: 4 Wenn ich z.T. in der „wir-Form“ spreche, dann vertrete ich eine allgemeine Meinung der Gruppe von jungen Erwachsenen in unserer Gemeinde. 5 Baptistengemeinde Bülach. Ich kenne alle drei Pastoren persönlich und habe mit dem Hauptpastor Ernst Gerhard Fitsch am 16.2.07 ein Gespräch über die aktuelle Gemeindesituation geführt. igw diplomarbeit 3 Wo entsteht Gemeinde und was ist ihre Aufgabe? Worin liegt die Chance der Jugend, die anders Gemeinde baut als die Generationen zuvor? Ein Grundproblem moderner Gemeindesituation ist die immer stärker werdende Zersplitterung unserer Gesellschaft. Wo und in welcher Weise kann hier ein gesunder Weg zwischen Abkapselung einer Gemeindeform und einer Zielgruppengemeinde gefunden werden? Wie könnte junge Erwachsenenarbeit in einer traditionellen Gemeinde aussehen? Ausgehend von den Erfahrungen in der eigenen Gemeinde, dem weiten Blick in Geschichte und Gegenwart hin zu einem Raster für Gemeinden unserer Region. 1.4 Methodik und Vorgehensweise In einem ersten Schritt schaue ich zurück in die Kirchengeschichte und versuche herauszufinden, was die Gemeinden damals gerade im Bezug auf die Jugend beschäftigt hat. Da ich meine Wohn-Gemeinde als Modell für eine traditionelle Gemeinde nehme, gehe ich bei meinen Beobachtungen oft von ihr aus. In einem zweiten Teil möchte ich untersuchen, was das Wesen einer neutestamentlichen Gemeinde ist und wo diese entsteht. Die Erkenntnisse sind wichtig für die anschliessende Auseinandersetzung mit der Frage, wie Jugendarbeit in einer traditionellen Gemeinde aussehen könnte. Im dritten und vierten Teil soll meine Arbeit sehr praktischen Charakter erhalten. Aufgrund meiner Nachforschungen, dem Lesen von Literatur und führen von Gesprächen möchte ich versuchen, verschiedene Ansätze für unsere Gemeinde und Region zu präsentieren, die Gesprächsgrundlage für gemeinsame Entwicklungen sein sollen. Da meine Gemeinde eine reformierte Landeskirche ist, werde ich mich stark am Vorbild der anglikanischen Kirche Englands orientieren. 1.5 Weiterführung einer früheren Diplomarbeit Ich habe die IGW Diplomarbeit von Stefan von Rüti und Silvan Geissbühler erhalten, die im Jahre 2003 über das Thema „Generationenkonflikt“ nachgeforscht und geschrieben haben. Dabei haben sie ähnliche Themengebiete und Fragestellungen angeschnitten, wie ich dies in meiner Arbeit tun werde, wobei ich mehr Gewicht auf Lösungsansätze legen möchte. Meine Arbeit kann als Fortsetzung dieser Diplomarbeit aus dem Jahre 2003 angesehen werden. igw diplomarbeit 4 2 GESCHICHTLICHER RÜCKBLICK 2.1 Lokale Geschichte der Kirche Steinmaur Als Landeskirche kennen wir eine lange Geschichte und es liessen sich an dieser Stelle viele interessante Daten zusammentragen, die seit der Reformation um 1520 gesammelt wurden. In meinen Nachforschungen durchstreifte ich Kirchengeschichtsbände, Gemeinde- und Kirchenchroniken, blickte in die Unterlagen unseres Gemeindearchivs und sprach mit Gemeindemitgliedern. Aufgrund meiner Fragestellung sind aber nicht alle gefundenen Daten für diese Arbeit relevant. Als Überblick und geschichtliche Zusammenfassung soll folgender Abschnitt dienen: 2.1.1 Die Kirche im Dorf6 Die reformierte Kirche in Obersteinmaur prägte lange Zeit nicht nur das Ortsbild, sondern auch das religiöse Leben der Gemeinde. Ins Wanken geriet die zentrale gesellschaftliche Stellung der Kirche in den 1960er-Jahren. Mit dem Aufkommen der Wohlstandsgesellschaft und der Liberalisierung im Denken wandten sich immer mehr Leute von der Kirche ab. Was war geschehen? Die liberale Neuordnung des Staates machte 1831 die Religion zur privaten Angelegenheit des einzelnen Bürgers. Die neue Verfassung garantierte erstmals Religionsfreiheit. Sie erklärte den evangelisch-reformierten Glauben aber zur Staatsreligion. Verfassungsrechtlich wurde nun klar zwischen der Kirchgemeinde und der politischen Gemeinde unterschieden, wobei sich die Gebiete der beiden Institutionen im Kanton Zürich in der Regel deckten. Auf politischer Ebene hatten sich allerdings die beiden Dörfer Neerach und Riedt von Steinmaur getrennt, was auf kirchlicher Ebene nicht der Fall war. Schule und Armenpflege wurden schrittweise dem Einfluss der Kirche entzogen. Der alle Lebensbereiche dominierende Einfluss der Kirche ging zurück. Mit der Aufhebung des obrigkeitlichen Kirchenzwangs in der Mitte des 19. Jahrhunderts gingen auch die Besucherzahlen zurück, so dass die werktäglichen Gottesdienste und Abendgebete aufgegeben wurden. Dem Verlust ihres Einflusses auf die Jugendlichen in der Schule versuchte die Kirche mit der Einführung von Sonntagschulen entgegen zu wirken. Steinmaur gehörte zu den ersten Gemeinden, die in den 1880er-Jahren eine Sonntagsschule einrichteten. 6 Zusammenfassung aus dem Buch „Steinmaur im 20. Jahrhundert“ von Markus Brühlmeier. S. 113-120 igw diplomarbeit 5 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich das Verhältnis zwischen Kirche und Staat weitgehend geklärt. Die Kirche war als sinn- und wertevermittelnde Institution unbestritten. Faktisch besass sie weiterhin beträchtlichen Einfluss, indem der Pfarrer beispielsweise in der Schul- und Kirchenpflege als Präsident amtete. In den 1930er-Jahren wurden auf Initiative des Pfarrers und der Kirchenpflege die Gemeindekrankenpflege, eine kirchliche Jugendgruppe und ab 1934 jährlich ein „Alterstag“ eingeführt. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel der Nachkriegszeit, der einen beispiellosen Wohlstand zur Folge hatte, und viele Wertvorstellungen und Leitbilder ins Wanken brachte, blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Kirchgemeinde. Rückgang der Kirchenbesucher und zunehmende Austritte waren nur zwei Folgen davon. 1970 betrug der Anteil der Konfessionslosen noch ein Prozent, im Jahr 2000 gehörte ein Zehntel der Bevölkerung von Steinmaur keiner Glaubensgemeinschaft mehr an.7 Die Kirchgemeinde reagierte auf die neuen Umstände von den 1970er-Jahren an durch einen starken Ausbau des Angebots über den Gottesdienst hinaus. Im Kern wurden die Ansätze aus den 1930er-Jahren verstärkt: Jugendarbeit, Altersbetreuung und Bildung. Die Jugendarbeit erlebte eine wechselvolle Geschichte. Von der „jungen Kirche“, über das „Grüppli“, den „Jugend-Gesprächskreis“, den „Jugendtreff“, dem „Jugend-Kafi“ bis zur „upstream Jugendgruppe“8 mit einer Band. Obwohl die Kirchgemeinde immer wieder Rückschläge mit Jugendlichen hinnehmen musste, die sich nicht an die Hausordnung hielten, engagierte sie sich immer wieder von neuem in der Jugendarbeit und füllte in diesem Bereich eine wichtige Lücke aus. Nachdem seit den 1980erJahren regelmässig Kinderlager durchgeführt wurden, rief die Kirchgemeinde 1993 eine Jungschar, heute CEVI genannt, als Angebot für die Kinder ins Leben. Die neuen Aktivitäten der Kirche machten mehr Raum nötig. 1962 wurde der Pfarrschopf in einen Jugendraum umgebaut. Zwei Jahre später folgte der Kauf von Land zum Bau eines Kirchgemeindehauses. Dieser verzögerte sich jedoch, so dass 1971 die dringendsten Raumprobleme durch den Kauf eines Pavillons, der beim Flughafenausbau überflüssig geworden war, entschärft wurden. 1985 war es dann soweit, dass das Kirchgemeindehaus eingeweiht wurde, das nach den Worten des damaligen Kirchgemeindepräsidenten dank dem Anstoss der Jugendgruppe, dem „Grüppli“, zustande gekommen war. Der Pavillon blieb bestehen. Nachdem er im Jahr 2000 abgebrannt war, baute ihn die Kirchgemeinde wieder 7 Ein geringer Anteil der 10% dürften Leute sein, die in einer Freikirche engagiert blieben. 8 Upstream ist seit dem Jahr 2000 der Name der heutigen Jugendarbeit ab Oberstufenalter (www.upstream.li). igw diplomarbeit 6 auf. Heute wird der Pavillon für Jugendanlässe sowie als Proberaum der jungen Musiker benutzt. 2.2 Der traditionelle „kirchliche Unterricht“ der Jugend Wie wir aus dem obigen Text erfahren, hat unsere Kirchgemeinde eine bewegte Vergangenheit mit vielen Aufbrüchen hinter sich. Immer wieder haben Leute die Initiative ergriffen und Neues in Gang gebracht. Was auf freiwilliger Basis gestützt war, kannte Blüteund Sterbezeiten. Besonders die Jugendarbeit erfuhr viele Wechsel und Turbulenzen. Beständige Angebote waren vor allem der kirchliche Unterricht. Da es bis heute eine weitverbreitete gesellschaftliche Tradition und somit angebracht ist, sich in der Kirche konfirmieren zu lassen, nehmen viele Kinder und Teenager an den kirchlichen Angeboten teil, die Voraussetzung dazu ist. So kann sich unsere Gemeinde immer mit vollen Konfirmandenklassen „brüsten“, die jahrelang unsere kirchliche Kinder- und Jugendarbeit durchstreift haben. Das weitverbreitet Phänomen, dass wir junge Leute im Alter von 16 Jahren aus der Kirche herauskonfirmieren, macht aber auch bei uns nicht halt. Obwohl wir die besten Absichten für die Konfirmanden verfolgen, finden die Wenigsten Zugang zur Gemeinde. Was mögen die Gründe dafür sein? Ein Grund mag im Druck von aussen liegen. Solange ein „Zwang“ zum Besuch des Unterrichts oder Jugendgottesdienstes von Seiten der Kirche und den Eltern besteht, beugt sich der junge Mensch diesem Anliegen. Sobald er jedoch bei der Konfirmation als Glied in die Gemeinde aufgenommen wird, zahlt er oft nur noch Kirchensteuern, beteiligt sich jedoch kaum mehr am Gemeindeleben. Oskar Farner (1942) sagte dazu: „Die Gemeinde der Erwachsenen trägt die Hauptschuld daran, dass Jahr für Jahr mehr junges Volk aus der Kirche hinaus, als in die Kirche hinein konfirmiert wird.“ In seinen mutigen „Wegmarken“9 äussert er sich kontrovers über das Thema Konfirmation. In einer anderen Wegmarke sagt er: „Nehmt der Kirche die Konfirmation, und ihr nehmt Ungezählten die heilsamste Verhaftung ihres ganzen Lebens.“ Wenn der jahrelange kirchliche Unterricht, der mit der Konfirmation endet, für viele eine heilsame Sache ist, darf sich die Gemeinde freuen. Wenn es aber die verkrampfte Übung ist, Menschen in ein kirchliches System einzubinden, müssen wir prüfen, ob dies im Sinne der Bibel ist. Leider zeigt sich in der Praxis, dass viele Menschen mit der bestehenden Form der Landeskirche wenig anfangen können und sich dementsprechend auch nicht einbinden oder angliedern lassen. Es könnte sein, dass wir es ihnen zu einfach machen. Farner sagt, dass man es unseren Konfirmanden nicht zu billig machen darf. „Die 9 Zu finden unter: www.zh.ref.ch igw diplomarbeit Kirche muss es wagen, für ihren Herrn etwas zu verlangen; sonst darf sie nicht hoffen, für ihn etwas zu erlangen.“ Vor 200 Jahren, als Jugendliche noch etliche Jahre länger in den kirchlichen Unterricht gehen mussten, hatte der Pfarrer für die Durchführung der Christenlehre zu sorgen. Die Eltern wurden ermahnt, ihre Kinder zum Besuche anzuhalten. Diese Pflicht dauerte bis zum 20. Altersjahr, mancherorts noch darüber hinaus (Pfister 1984 Band 3: 102). Kleiner Exkurs: Welche Wirkung könnte erreicht werden, wenn der kirchliche Unterricht länger dauern würde? In unserer Gemeinde werden die Konfirmanden im Alter von 15 oder 16 Jahren konfirmiert. Die Allermeisten wechseln im selben Jahr von der Schule in die Lehrzeit, was viele Veränderungen mit sich bringt. Besonders sichtbar wird die Veränderung im Wechsel des Beziehungsnetzes. Man findet neue Kameraden und bewegt sich in einem neuen Umfeld. Die Pubertätszeit ist überwunden und bei manchen stellt sich Selbständigkeit ein. Man möchte unabhängig sein und mit dem ersten Lohn das Leben selber meistern. Da erscheint es fremd, sich einer Gemeinschaft von Gläubigen anzuschliessen, weil man das Leben ja gut selber regeln kann. Es kommt zur Trennung mit der Kirche. Würde der Unterricht länger dauern, könnte die Phase der vielen Wechsel eventuell besser aufgefangen werden und die Jugendlichen würden bestehende Beziehungen im Rahmen der Kirche weiter pflegen. Mit fortgeschrittenem Alter, wo man verbindlicher wird, aber auch die ersten ernsthaften Probleme zu bewältigen sind, wären die Beziehungen innerhalb der Kirche und zur Kirche gefestigt. Die Katholische Kirche sammelt in einigen Pfarreien seit Jahren Erfahrungen damit, die Firmung erst ab 17 oder 18 Jahren anzubieten. Man möchte erreichen, dass der Mensch mit Eintritt ins Erwachsenenalter und dem damit verbundenen Einstieg ins Berufsleben die Befähigung zu einem aktiven Christentum erlangt. Für den Weihbischof Peter Henrici (2003) ist es kein grosses Übel, wenn mit dem neuen Modell nicht mehr alle Jugendlichen auf den Firmweg gehen und sich firmen lassen; der persönliche Einsatz ist wichtiger als das Mitläufertum. Die Firmung ab 17/18 ist ein 7 igw diplomarbeit 8 Schritt auf dem Weg von einer anonymen Volkskirche zu einer Kirche der Engagierten. 2.3 Etwas zur Geschichte und den Gegenwartsproblemen der Kantonalkirche Unsere lokale Kirchgemeinde ist eine Exotin unter vielen Landeskirchen im Kanton Zürich. Bei uns haben wir seit Jahrzehnten Pfarrer, Kirchenpfleger und sozial-diakonische Mitarbeiter, die ein überzeugtes Christentum leben. Zudem sind viele freiwillige Mitarbeiter in der Gemeinde engagiert. Dies ist Grund zur Freude. Gleichzeitig sollte uns bewusst sein, dass die überwältigende Mehrheit der Landeskirchen im Kanton ein Existenzproblem hat, dem seit Jahrzehnten nicht wirklich entgegengewirkt werden kann. Obwohl die Landeskirche auch als Kirche des Volkes bezeichnet wird, scheint die Mehrheit des Volkes sich nicht mit ihr identifizieren zu können. 93 Prozent der Reformierten Bürger stimmen der Aussage zu, dass sie auch „ohne Kirche an Gott glauben“ können, und 84 Prozent nehmen für sich in Anspruch, auch „ohne Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen Mitglied sein“ zu können.10 In diesem Selbstverständnis kommt der „Status quo“ sowie die im Christentum angelegte Individualisierung zum Ausdruck, worin der Bezug zur Institution als zweitrangig gilt. Diese Beobachtungen von Dr. Stolz sind keine neuzeitlichen Erscheinungen. Die Landeskirche hatte schon sehr bald nach der Reformation Probleme, die Leute wirklich zu erreichen. Zum Beispiel war in der reformierten Kirche seit der Reformation der tägliche Werksgottesdienst üblich. In der Bevölkerung versiegte jedoch schon bald der Wille zur Teilnahme an diesen Gottesdiensten. So wurden diese Gottesdienste in Zürich im Jahre 1785 beendet (Pfister 1984 Band 3: 98). Mittelpunkt des kirchlichen Lebens blieb im 18. Jahrhundert die Predigt als Verkündigung von Gottes Wort; Gebete nach der Liturgie und gottesdienstliche Lieder waren damit verbunden (: 96). Mit dem Aufkommen des Pietismus verschwand zunehmend das orthodoxe Schema der Gelehrsamkeit, da jetzt ein Nachdruck auf der persönlichen Glaubenserfahrung bestand (: 97). „Der Wunsch, die Gottesdienstordnungen mit den traditionellen Gebeten inhaltlich und sprachlich den Zeitbedürfnissen anzupassen, wurde immer wieder im schweizerischen Protestantismus laut (: 95)“. Dem Verlangen nach Veränderung konnten die meisten Kirchgemeinden nicht gerecht werden. Leider war das kirchlich-religiöse Leben bis ins 19. Jahrhundert durch zahlreiche obrigkeitliche Vorschriften geregelt (: 95). Die Kirchenpflegen wurden damals „Stillstände“ genannt, irgendwie 10 Bericht zur Religiosität im Kanton Zürich von Dr. Jörg Stolz aus dem Jahr 1999. igw diplomarbeit 9 bezeichnend dafür, dass lange Zeit vieles still stand und man sich schwer tat und immer noch tut, Veränderungen einzuleiten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Kirche und Religion durch die moderne Kultur aus dem Mittelpunkt menschlichen Lebens verdrängt worden (: 368). David Bosch (zitiert nach Herbst 2006: 68) bemerkt dazu: „Seit dem 17. Jahrhundert entdecken die Menschen – anfangs zu ihrer eigenen Überraschung – mehr und mehr, dass sie Gott und die Kirche ignorieren können, ohne dass es ihnen schlechter geht“. Es scheint, als verliere die Landeskirche immer mehr Relevanz in unserer Gesellschaft.11 Sie kann die Menschen nicht mehr mit ihren religiösen Programmen erreichen und an sich binden.12 Da ist keine Magnetwirkung auf die Mitglieder vorhanden. Wenn wir davon ausgehen, dass die regelmässigen Gottesdienstbesucher zum grössten Teil ältere Menschen sind, ist der Anteil an jungen Menschen in der Landeskirche erschwindend klein bis nicht existent. Natürlich muss man hier anfügen, dass nebst dem Sonntagmorgengottesdienst in allen Gemeinden weitere Angebote vorhanden sind, von denen ich einige durchaus als „Gottesdienst“ einstufen würde. Dennoch, in den meisten Gemeinden ist der Gottesdienst am Sonntagmorgen das Zentrale und Wichtigste, und hier haben viele ein Besucherproblem. Dass insbesondere junge Leute der Kirche fern bleiben ist kein neues Phänomen. Bereits Luther kämpfte mit der Herausforderung, junge Menschen in die Kirche zu integrieren. 11 12 Siehe hierzu auch R. Scharnowski „Am Ende der Christenheit“. Zu finden unter www.gemeindeinnovation.net Ein Indikator dafür sind die Kirchenaustritte. Dr. Stolz (1999) schreibt in seiner Untersuchung zur Religiosität im Kanton Zürich, dass 49 Prozent der Reformierten schon einmal daran gedacht haben, aus ihrer Kirche auszutreten. Dabei nimmt der Kanton Zürich den Spitzenplatz ein und überflügelt sogar noch Basel. Der zweite Indikator ist der allgemeine Kirchenbesuch. Insgesamt gehen 12 Prozent der Reformierten mindestens einmal im Monat in die Kirche. Interessant ist, dass Menschen wesentlich häufiger beten als sie in die Kirche gehen. Die Häufigkeit des Betens interpretiert Dr. Stolz als ein Bedürfnis „nach Kontakt mit der Transzendenz, dem Nichtverfügbaren“. Der bekannte Alterungseffekt wird in der Studie bestätigt. Ältere Personen über 60 weisen höhere christliche Religiosität auf als die Jüngeren. Auch keine Überraschung ist, dass sich Frauen mehr als Männer für Religion interessieren. Mit zunehmendem Alter ist man eher der Meinung, man sei Mitglied der Kirche, weil man eben so aufgewachsen sei und weil man nie wissen könne, ob man die Kirche nicht doch einmal benötigen werde. Die Zahlen aus der Untersuchung bezüglich dem Gottesdienstbesuch im Kanton Zürich reden Klartext. Eine kleine Rechung bestätigt den geringen Gottesdienstbesuch. Am 31. Dezember 2005 zählte die evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich 487'097 Mitglieder in 179 Ortsgemeinden (www.wikipedia.org). Geht man davon aus, dass 12 Prozent dieser Mitglieder ein Mal im Monat in einen Gottesdienst geht, so ist dies ein wöchentlicher Gottesdienstbesuch von durchschnittlich 80 Personen pro Kirchgemeinde. Für viele Freikirchen ist ein Gottesdienstbesuch von 80 Personen gut, weil sich dann fast alle Gemeindemitglieder im Gottesdienst zeigen. Für die landeskirchliche Gemeinde, die durchschnittlich 2720 Mitglieder hat, ist es jedoch sehr ernüchternd. igw diplomarbeit 10 2.4 Luthers Anliegen Am 25. November 1532 hielt Luther eine Predigt in Wörlitz bei Dessau vor den Fürsten zu Anhalt, in der er auf der Grundlage von ersten Timotheus 1, 5-7 den christlichen Glauben umfassend darstellte. In einer kurzen Einleitung wandte er sich dem Thema "Gottesdienstbesuch" zu: "Gott hat diesen einen Dienst besonders gepriesen und hervorgehoben, nämlich sein Wort zu hören und zu predigen. Das sage ich nun, um uns zu ermahnen, dass wir eifrig Gottes Wort hören und zur Predigt gehen sollen, nicht nur, weil das ein strenges Gebot Gottes ist, sondern vor allem, weil es die höchste Verheißung Gottes besitzt: Es ist ihm angenehm und ist der höchste und liebste Dienst, den wir Gott tun können.“13 Trotz dieser klaren Worte beklagt sich Luther in einer gleichzeitigen Tischrede, es wären neben den Fürsten kaum zehn Bauern in der Kirche gewesen. Die neue Freiheit der Reformation, die auch die Pflicht des sonntäglichen Messbesuchs aufgehoben hatte, lud zu Missverständnissen ein. 2.4.1 Was wollte die Reformation? Zu Luthers Zeiten hatte die Geistlichkeit das Monopol auf Wissen. Die Gläubigen hatten dazu kaum Zugang. Von der christlichen Lehre wussten sie deshalb wenig mehr als ihnen volkstümliche Legenden erzählten. Dieses Verständnis von Priesterschaft ist Martin Luther ein Dorn im Auge. Er predigt: „Das Evangelium hat allen Gläubigen die Priesterschaft übertragen.“ Und: „Zwischen dem Kirchenvolk und Gott ist kein Mittler notwendig. Die Pfarrer haben nur Gottes Wort zu verkündigen und die Bibel auszulegen. Dazu müssen sie die Ohren und die Herzen der Menschen erreichen. Nicht zuletzt mit Musik und Gesang.“14 Luther ist bestrebt, das Volk wieder mit dem Evangelium anzusprechen. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht Luthers Vorrede zur Deutschen Messe (1526). Er betont hier, dass die äusserliche Ordnung an sich keine geistliche Bedeutung hat, sondern nach dem Zuhörer gewählt werden soll. Es geht Luther um einen evangelistischen Gottesdienst für Nichtchristen und Neubekehrte! Bei Luther lassen sich Aussagen finden, die man als „Willow-Creek-Prinzipien“ des 16. Jahrhunderts bezeichnen könnte (Stadelmann 2001). Er möchte den Gottesdienst auf die Zielgruppe der Kirchendistanzierten ausrichten: „...umb solcher willen mus man lesen/ singen/ predigen/ schreyben und dichten/ und wo es hulfflich und 13 www.martinluther.de/cgi-bin/vm/luther 14 www.hpk-info.de/musik/musik_kirche igw diplomarbeit 11 fodderlich dazu were/ wolt ich lassen mit allen glocken dazu leutten/ und mit allen orgeln pfeyffen/ und alles klingen lassen was klingen kunde/“.15 In dieser Vorrede zur deutschen Messe wird auch klar, dass er „um des jungen Volkes willen“ den Gottesdienst reformieren möchte. Nebst der Form und Ausrichtung des Gottesdienstes ging es Luther aber noch um einen weiteren Aspekt. Die Reformation war mit dem Anspruch angetreten, mehr und besser als die katholische Kirche zu sein: Kirche als das menschliche Mittel der Offenbarung in der Hand Gottes, als menschliche Gemeinschaft, in der dem Reden Gottes durch Menschen gedient wird und dieses Reden Gottes an Menschen Ereignis wird (Schöpsdau 2005). Wenn Luther von Reformation sprach, dann nicht von Strukturveränderungen, sondern von entschiedener Kehrtwendung zu Jesus Christus. So begann die Reformation mit der ersten der 95 Thesen, nach der das ganze Leben des Christen eine Busse sein sollte, eine entschlossene Kehre zum Herrn der Kirche (Knuth 2004). Wenn wir von Veränderung und Strukturreformen reden, dann beruft man sich gerne auf Martin Luther, von dem angeblich der Ausspruch stammt: „Ecclesia semper reformanda est” – die Kirche muss ständig reformiert werden. Tatsächlich stammt das Wort aber aus der reformierten hugenottischen Tradition, ein Jahrhundert nach der Reformation: „Ecclesia reformata semper reformanda.” Luther war kein Bilderstürmer und kein Revolutionär (Knuth 2004). Immerwährende Reformation der Kirche heißt jedenfalls nicht, wie ein Spötter übersetzt hat: „Die Kirche ist wegen Bauarbeiten ständig geschlossen!” Reformation bedeutet neben strukturellen Anpassungen also insbesondere, dass wir uns wieder am Wort Gottes orientieren. Es bedeutet, Wege frei zu halten zur Begegnung mit der Kraft und der Herrlichkeit des Wortes vom Kreuz, Verwandlung zu ermöglichen, zur Umkehr einzuladen und Gesellschaft human mitzugestalten (Knuth 2004). Luthers Bemühungen zum Fragen nach dem Wesen der Jugend schlechthin fordern auch von uns die Bereitschaft, sich heute neu mit der Thematik auseinanderzusetzen. In einem veränderten Umfeld wirken neue Kräfte und fordern ein ständiges Hinterfragen der Methoden und Strukturen des Gemeindebaus. Was ist besonders im Blick auf die Jugend zu beachten? 2.5 Die Dynamik der Jugend Der Begriff Dynamik (griech. dynamiké „mächtig“ bzw. dynamis „Kraft“)16 bezeichnet eine Triebkraft oder eine auf Veränderung gerichtete Kraft. Jugend steht für einen Abschnitt im 15 www.afet.de/etm_07_1/fagpt.htm / Evangelistische Zielgruppengottesdienste igw diplomarbeit 12 Leben, wo verschiedene Kräfte aufeinandertreffen und wirken. In der Jugendzeit fallen die Pubertät, das Ende der Schulzeit, der Beginn der Berufsausbildung, die Abnabelung vom Elternhaus und die Identitätsfindung aufeinander. Deswegen wird die Jugendzeit sowohl vom Jugendlichen, der sie durchlebt, als auch von den Eltern, als oftmals sehr schwierig angesehen. Es ist auch eine Zeit der Rebellion gegen das Bekannte. Es geht darum, vom abhängigen Kind zum eigenständigen Erwachsenen zu werden. Die Jugendzeit stellt dabei den Verwandlungsprozess dar. Es ist wie die Metamorphose der Raupe. Weil Jugendliche selbständig werden, gleichzeitig jedoch an wenig Verpflichtung gebunden sind, können sie eine enorme Dynamik für verschiedenste Dinge entwickeln. Jugendliche neigen allgemein zu Extremen. Die traditionelle Kirche, schwermütig und eintönig, muss mit der Dynamik von Jugendlichen kollidieren, falls Junge überhaupt in der Kirche sind. Es ist schon aufgrund der Veranlagungen nicht möglich, dass die beiden Kräfte gleichsam nebeneinander stehen. Ähnlich wie zwei Magnete, werden sie sich entweder anziehen oder abstossen. So geschah es denn auch, dass in der Kirchengeschichte immer wieder Aus- und Aufbrüche aus der jungen Generation kamen. Ein positives Beispiel stellt Georges Williams dar, der, damals 23jährig, 1844 in London den „Christlichen Verein junger Männer CVJM“ mit gleichgesinnten jungen Männern, die verschiedenen Kirchen angehörten, gründete. Diese Jugendbewegung breitete sich sehr rasch in Nordamerika und Europa aus (Pfister 1984 Band 3: 411). Andere Bewegungen sind Taizé, Fokolar oder JMEM, die sich in rasantem Tempo entwickelten. Eine aktuelle Bewegung ist in den Jesus Freaks sichtbar und ihrem Bibelübersetzungsprojekt, der„Volxbibel“. Innerhalb kürzester Zeit entstehen grosse Bewegungen und Projekte, die Massen von Menschen mobilisieren und erreichen können. Es ist ein Phänomen, wie es in dieser Art wohl nur bei Jugendlichen zu beobachten ist. Die Fähigkeit zur Entwicklung und Freisetzung grosser Kräfte ist in diesem Lebensabschnitt am stärksten. 16 www.de.wikipedia.org/wiki/Dynamik igw diplomarbeit 13 3 GEMEINDE WERDEN Nachdem ich versucht habe, von den Anliegen der Reformation die lokale und kantonale Geschichte der Landeskirche im Bezug auf Jugendarbeit und gesellschaftliche Relevanz etwas darzustellen, frage ich nun, wie wir Gemeinde werden können. Was ist das Wesen der Gemeinde? Was verbindet die Gemeindeglieder? Wo müssen allenfalls Vorstellungen korrigiert werden? 3.1 Unterschiedliche Auffassungen Kürzlich habe ich mir einige Webseiten von Zürcher Landeskirchen angeschaut.17 Im Aufbau sind sich die meisten Seiten sehr ähnlich, da man ein vorgegebenes Design übernehmen und mit eigenem Inhalt füllen kann. Auf der Startseite findet sich meistens ein Gemeindeporträt mit einem Bild. Bilder vermitteln eine Botschaft. Sie dringen über unsere Augen ein und lösen eine Kettenreaktion von Gefühlen, Gedanken und Meinungen aus. Zu meinem Erstaunen fand sich in jedem Gemeindeportrait das Bild des Kirchengebäudes, und nur des Kirchengebäudes. Dies war auch auf unserer eigenen Gemeindewebseite, die erst kürzlich aufgeschaltet wurde, nicht anders. Sofort schrieb ich unserem Webmaster eine E-mail mit der Bitte, in nächster Zeit womöglich ein Bild von Menschen auf die Startseite zu stellen. 3.1.1 Was ist Kirche? Ich achte unser Kirchengebäude sehr. Massive Mauern, hoch gebaut, ein Turm mit riesiger Uhr und Glocken. Die Kirche als Gebäude strahlt Standhaftigkeit aus, erregt sakrale Gefühle und flösst Ehrfurcht ein. Sie steht mitten im Dorf, wo jeder Bürger sie sehen kann. Ich bewundere die Bauherren, die zur Ehre Gottes ein solch gewaltiges Gebäude erbaut haben, das wohl auch noch die nächsten 1000 Jahre stehen wird. Die fade Nebenwirkung ist, dass heute viele Menschen Kirche mit dem Gebäude verwechseln. Sie sagen am Sonntag vielleicht: „Heute gehe ich in die Kirche“. Genau genommen machen sie hier eine theologisch falsche Aussage. Die Kirche besteht aus Kindern Gottes, die sich zu einer Versammlung treffen und auch andere Menschen zum Glauben führen wollen (Apg 14,27). Wir können eigentlich nicht in die „Kirche“ gehen, weil wir die Kirche sind (Kimball 2005: 88). Im neuen Testament hat der Begriff "Kirche" nichts mit einem Gebäude zu tun. Das griechische Wort dafür ist "ekklesia" und bedeutet „Versammlung von Herausgerufenen“. 17 Finden sich unter: www.zh.ref.ch/Kirchgemeinden igw diplomarbeit 14 Man versammelte sich nicht in der Kirche, sondern die Kirche versammelte sich (: 89). Im alten Griechenland war „ekklesia“ auch ein politischer Begriff. Er bezeichnete zum Beispiel die Versammlung der wehrfähigen Männer auf dem Markt zur Beratung wichtiger Fragen. Für die alttestamentlichen Juden war "ekklesia" eine heilige Versammlung zu religiösen Zwecken, zum Beispiel um das mosaische Gesetz zu hören (Schmid 2006). Die jungen, christlichen Gemeinden des neuen Testaments verstanden darunter eine kleine oder grössere Versammlung von Christen. Kirche in diesem Sinn entstand und entsteht nicht durch eine Rechtsform, sondern nur durch das Hören des Wortes Gottes (Schmid 2006). Über die Jahrhunderte hinweg hat sich diese Definition weg von den Menschen hin zu einem Ort verengt. Man geht in die Kirche, so wie man in ein Geschäft geht. Man besucht einen Gottesdienst, so wie man ein Theater besucht. Man gehört zu einer Kirche, so wie man zu einem Sportverein gehört. Sowohl Mitglieder als auch andere sehen in der Kirche einen Anbieter religiöser Waren und Dienstleistungen (Kimball 2005: 90). Vor rund 15 Jahren wurden in unserer Kirchgemeinde die ersten Hauskreise gestartet. Diese Entwicklung hat ein gewisses Umdenken mit sich gebracht, was „ekklesia“ wirklich bedeutet. Dennoch stelle ich fest, wie zentral der Sonntagmorgengottesdienst im Denken der Leute verhaftet ist. Gemeinschaft bedeutet für viele (ältere) Menschen, dass Jung und Alt in der Kirche versammelt sind und sich eine Stunde den Pfarrer und den Hinterkopf des Vordermannes anschauen. Oder es bedeutet Unterhaltung, als würde man ins Kino gehen. Zusammengefasst kann man sagen: „We have made church nothing more than a religious show that takes place on Sunday, and after it’s done we all go home, until church starts again next week, same time, same place“ (Cole 2005: XXV).18 Leider geschieht im Gottesdienst oft wenig echte Gemeinschaft. Es gibt zu wenig Elemente, wo man sich spürt und voneinander profitieren kann. Bereits die Sitzordnung mit den starren Bänken zeugt davon. Als ich nach meinem Auslandaufenthalt zurück in die Gemeinde kam, störte ich mich daran, dass im Gottesdienst die vordersten Sitzbänke immer leer blieben. So entschloss ich mich, von nun an zuvorderst Platz zu nehmen. Der erwünschte Effekt setzte bald ein, indem sich andere Jugendliche zu mir gesellten und die vorderen Sitzbänke nicht mehr leer blieben. Gleichzeitig erlitt die Gemeinschaft mit den älteren Menschen einen unerwünschten Einbruch. Da diese meist alle weit hinten sitzen und sich beim Gottesdienstende eine lange Warteschlange vor dem Ausgang bildet, sind sie bereits 18 Wir haben Kirche zu nichts mehr gemacht als einer religiösen Show, die Sonntags stattfindet. Wenn alles vorüber ist gehen wir alle nach Hause, bis Kirche nächste Woche wieder startet. Selbe Zeit, selber Ort. igw diplomarbeit 15 nach Hause gegangen, wenn die Jungen nach draussen kommen. Ich habe die Vermutung, dass „neutestamentliche Gemeinschaft“ so nicht gedacht ist. 3.1.2 Wo entsteht Kirche? Obwohl viele Mitarbeiter sich mit Herzblut in unserer Gemeinde engagieren, staune ich immer wieder, wie verschieden das Verständnis von Kirche ist. Dass die Zusammenarbeit dennoch funktioniert, ist für mich ein Wunder. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wo Kirche entsteht, ist zentral, wenn ich herausfinden will, wie eine junge Generation in einer traditionellen Gemeinde mit traditionellem Gemeindeverständnis weitergehen will. Unser Verständnis davon verleiht „kirchlichen Angeboten“ unterschiedliches Gewicht. Als Landeskirche entstammen wir der Tradition einer Pastorenkirche, deren Strukturen im vierten Jahrhundert von Kaiser Konstantin begründet wurden. Wir haben nach 12 Jahrhunderten wohl eine Reformation durchgemacht und seither viele Veränderungen getätigt, dennoch hat sich die Grundkonstruktion unserer Gemeinde nur unwesentlich verändert. Folgende Elemente lassen sich in jeder traditionellen Gemeinde identifizieren: Ein Gebäude Einen besonderen Tag (Sonntag) Eine professionelle Leitung (Pfarrer, Klerus) Ein besonderer Gottesdienst, der für die Besucher angeboten wird Bei uns steht das gewaltige Kirchengebäude mitten im Dorf. Alleine die Grösse und der Standort sprechen unweigerlich davon, dass Kirche in der Kirche stattfindet. Für viele traditionell-denkende Menschen ist das Kirchengebäude der Ort, wo Gottesdienst gefeiert wird und Gemeinde entsteht.19 Für den Gottesdienst trifft man sich am Sonntagmorgen. Die wichtigste Person in einer Gemeinde ist der Pfarrer. Mit seinem Job verbunden ist das Predigen, schliesslich hat er Theologie studiert und ist kompetent in allen geistlichen Fragen. Ob er die Gabe dazu besitzt, ist eher unwichtig. Die Identifikation der älteren Generation mit dem Pfarrer ist sehr stark, seine Person auch in der Gesellschaft ausserhalb der Kirchenmauern meist akzeptiert. Es ist üblicherweise der Pfarrer, der viel Zeit und Kraft in die Planung und Gestaltung des Gottesdienstes steckt. Da der Gottesdienst als zentraler Versammlungsort der Gemeinde gilt, muss den Besuchern etwas geboten werden. 19 Ich muss hier anmerken, dass wir als Gemeinde auch regelmässig ausserhalb der Kirche Gottesdienste feiern und diese vom Kern der Gemeinde gut besucht werden. igw diplomarbeit 16 Meine Generation, um mal etwas pauschal zu sprechen, hat ein anderes Verständnis davon, wo Gemeinde stattfindet. Ja, sie findet in der Kirche statt, aber dies ist nur ein Ort unter vielen. Kirche findet auch unter der Woche auf dem Sofa im Wohnzimmer statt. Dazu braucht es keinen Pfarrer, der eine Predigt hält. Wenn immer möglich, sollen viele Menschen in die Gestaltung eines Treffens (oder Gottesdienstes) miteinbezogen sein. Es sollte im besten Fall nie eine Einmannshow, sondern immer ein Miteinander, sein. Ich möchte diese Äusserlichkeiten nicht werten, sie mögen in ihrer Verschiedenheit Menschen erreichen. Ob wir unter Kirche eine Ortsgemeinde, Landeskirche oder eine Konfession meinen, sie lebt nie vom Gebäude, nie von Gesetzesrechtsformen oder bestimmten anderen Äusserlichkeiten. Die wahre Kirche lebt nur von Jesus Christus, der das Haupt der Gemeinde (ekklesia) ist. Kirche entsteht, wo Menschen im Namen Jesus zusammenkommen (Schmid 2006). Denn wo zwei oder drei in meinem Namen zusammenkommen, da bin ich selbst in ihrer Mitte (Mat 18,20). Die Bibel zeigt uns dies in vielen Bildern: Jesus Christus ist der gute Hirte der Herde (Joh 10,14), er ist der Bräutigam und die Gemeinde die Braut (Joh 3,29), er ist der Weinstock und wir Christen die Reben (Joh 15,5). Es geht nie um eine Mitgliedschaft, sondern um eine innere Bereitschaft, Jesus nachzufolgen und als Mitte im persönlichen Leben zu akzeptieren. 3.1.3 Unterschiede der traditionellen Pastorenkirche zur Urgemeinde Unsere Tradition hat uns geprägt. Der Gottesdienst bildet das Zentrum der Kirche. Dies hat sich seit der Reformation nicht geändert: „Mittelpunkt des religiösen Lebens in den reformierten Gebieten der Schweiz war der Gottesdienst. In der Zeit nach der Reformation wurden Übertretungen der kirchlichen Ordnungen streng geahndet. Deshalb traten die Äusserungen individueller Frömmigkeit zurück, was schwere Auseinandersetzungen mit dem aufkommenden Pietismus zur Folge hatte“ (Pfister 1984 Band 2: 521). Als Landeskirche schieben wir immer noch ein System vor uns her, das viel Kraft kostet. Wolfgang Simson (1999: 58) stellt in seinem provokativen Buch „Häuser, die die Welt verändern“ die traditionelle Pastorenkirche der neutestamentlichen (Haus-)Kirche gegenüber: igw diplomarbeit Ort Hauptfunktionär Traditionelle Neutestamentliche Pastorenkirche (Haus-) Kirche Trifft sich in kirchlichen Bewegt sich von Haus zu Räumen Haus Pastoren, Lehrer, Apostel, Propheten, Älteste 17 Evangelisten Finanzierung Zehnter, Opfer Man teilt, was man hat Lebensstil Individuell Gemeinschaftlich Evangelisation Evangelistischer Einsatz, Natürliches „Zu-Jüngern- Aktionen, Programm, Machen“ von Nachbarn; Spezialisten multipliziert sich selbst Bringt mehr Menschen in Bringt die Kirche zu den die Kirche! Menschen! Grosse, unpersönliche Kleine Gruppen mit engen Gruppe Beziehungen Statisch, Predigtzentriert Kinetisch, Frage-und- Schlachtruf Grösse Lehrstil Antwort-Stil Der Gottesdienst in der Das Leben in einem Kirche gewöhnlichen Haus Wichtigste Aufgabe des Gute Predigten halten; Christen anzuleiten den Pastors Hausbesuche; volles pastoralen Dienst selbst Programm bieten wahrzunehmen Schlüsselwort Werde Mitglied! Geht und macht zu Jüngern! Dienst Vorführungscharakter, Ausbildungszentriert, beeindruckt andere ermächtigt andere Das Aussenden besonderer Gemeinde sendet sich Missionare selbst als multiplizierende Zentrum Mission Einheit Tabelle 1: Vergleich Pastorenkirche und Hauskirche Im Zusammenhang mit dieser Gegenüberstellung ist die Definition von Kirche in der Kirchenordnung des Kantons Zürich äusserst spannend, da sie eigentlich nichts zur Struktur sagt: „Kirche ist überall, wo Gottes Wort auf Grund der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes verkündigt und gehört wird, wo Menschen, durch den Heiligen Geist zum Glauben erweckt und zur lebendigen Gemeinschaft verbunden, Jesus Christus als das Haupt igw diplomarbeit 18 der Gemeinde und als den Herrn und Erlöser der Welt anerkennen und durch ihr Leben die Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes bezeugen“ (Kirche Art. 1.).20 3.2 Was ist der Antrieb für die Gemeinde? Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte in Möttlingen (D) eine Erweckung, die durch die Befreiung der Gottliebin Dittus (26. Juni 1842) ausgelöst wurde. Der Sohn Blumhardt’s sucht in dem Buch „damit Gott kommt“ nach Gründen, weshalb die Erweckung zum Stillstand kam. Folgendes schreibt der Herausgeber, Wolfgang Bittner, im Vorwort des Buches: „Und die Menschen, die sich um Blumhardt in Bad Boll versammelten? Wurden sie zu Trägern einer neuen Bewegung? Blumhardt mag das erhofft und erbetet haben. Lange hat auch der Sohn darum gerungen. Was er aber vor sich sah und zunehmend als tiefsten Schaden erkannte, das war die Art, wie sich die Geisterfahrung immer wieder mit dem Egoismus der frommen Menschen verband. Nicht die Widerstände von aussen lähmten den Fortgang. Es waren die Christen selbst, die mit Gott tiefe Erfahrungen gemacht hatten. Sie wollten Gottes Kraft für sich erfahren. Als es darum ging, dem lebendigen Gott für seinen Dienst an der Welt ohne Vorbehalte zur Verfügung zu stehen, meldete sich erbitterter Widerstand. Als Gottes Hoffnung in die Welt zu tragen, begab man sich lieber in abgeschlossene Kreise im Unterschied von anderen, und ihr wisst, auf diesem Boden wächst das allermeiste christliche Fleisch, das imstande ist, wenn es nicht beizeiten stirbt, den Geist Christi zu töten“ (Blumhardt 1992: 8). Die grösste Gefahr droht der Kirche, wenn sich die Gläubigen damit begnügen, sich selber zu füttern. Johannes Reimer hat dies mit dem provokativen Ausdruck „geistliche Masturbation“ zusammengefasst.21 Das Gegenteil dazu wäre die Mission, also das aktive Hinaustreten, der Dienst an der Welt, der Dienst der Versöhnung zu den Verlorenen. Mission stammt vom griechischen Wort missio und dem lateinischen Wort mittere, was entsenden, schicken oder werfen bedeutet.22 Wir stehen in der Versuchung, Mission als einen Arbeitsbereich der Gemeinde zu sehen, der an willige Profis delegiert werden kann. Wir betrachten uns nicht mehr als gesandte Gemeinde, sondern senden nur noch einzelne Glieder und plötzlich stecken wir viel Kraft und Nerven in die Bildung von Strukturen, damit die (gewonnen) Schafe im Stall gehalten werden können. Es ist entscheidend, dass die Strukturen so sind, damit der Auftrag der Kirche, ein Licht in dieser Welt zu sein, ausgeführt werden kann. „Wer Kirche als Ausgangspunkt nimmt und mit ihr startet, dem wird wahrscheinlich die Mission verloren gehen. Wer mit Mission startet, wird vermutlich die Kirche finden“ (Herbst 2006: 211). 20 www.zh.ref.ch/Strukturen 21 Aus dem Vortrag am fgi vom 23.3.07 in der FCG Aarau. www.de.wikipedia.org/wiki/Mission 22 igw diplomarbeit 19 Ein Engagement für andere beansprucht die seelischen und geistlichen Reserven. Wenn ich mit Menschen über Jesus spreche, intensive Fürbitte leiste oder Menschen diene im Sinne von diakonischem Handeln, brauche ich Tankstellen im Leben. Es ist nach Zeiten der „aktiven Mission“, wo ich neu gefüllt werden muss. Jetzt brauche ich Orte, um neu aufzutanken. Ich habe die vage Vermutung, dass manche Unzufriedenheit in den Gemeinden daher kommt, dass bei vielen Leuten die Tanks allesamt voll sind und die beste Lobpreiszeit und Predigt nichts Neues hineinfüllen können. Mission setzt Kräfte frei und ist der Grund, weshalb Kirche existiert. Wenn wir diese Mission nicht mehr umsetzen, können wir uns auflösen (Schäfer 2006: 29). 3.3 Mission als gemeinsamer Auftrag Es ist bequemer, sich in den vier Wänden der Kirche einzunisten und abzuwarten, bis Jesus wiederkommt anstatt herauszutreten und Menschen die frohe Botschaft zu bringen. „The gospel says ‚go’, but our church buildings say ‚stay’. The gospel says ‚seek the lost’, but our churches say ‚let the lost seek the church’” (Howard Snyder, zitiert nach Cole 2005: 31).23 Wollen wir echte Gemeinde sein, verstehen wir uns als Gesandte. Das kann der Herzschlag der Gläubigen werden. Die Mission ist gemeinsames Brennen, aus dem Vision und Ziele hervorgehen. Gemeinde lebt in Beziehungen, zeigt sich im gegenseitigen Helfen, Unterstützen, Ermutigen und Trösten. Gemeinde lebt davon, den zu suchen, der Jesus noch nicht kennt. „Gemeinde lindert Leid, ist Salz und Licht der Welt, das die Umwelt verändert. Das alles ist weit mehr als eine Veranstaltung. Gemeinde als Ganzes kann sich also über einen gemeinsamen Auftrag definieren, kann sich im direkten Miteinander der Generationen zeigen“ (Schäfer 2006: 133). 3.3.1 Der gemeinsame Auftrag verbindet Im vergangenen Jahr haben wir ihm Rahmen unserer Jugendarbeit ein Worshipalbum aufgenommen mit dem Namen „Generation“. Auf der CD befinden sich ausschliesslich selbstgeschriebene Mundartlieder. Wieso wir das Album „Generation“ nannten, wird im Eingangstext des CD-Booklets erklärt: „Jede Generation ist eine Generation ihrer Zeit – geprägt vom Lauf der Geschichte mit ihren unterschiedlichen Entwicklungen. Mit jeder Generation erreicht Gott einen neuen Abschnitt in seinem Heilsplan. Jede Konfession, jede Denomination, jede Kirche und jeder Christ ist aufgefordert, die Liebe Gottes zu leben. Manche dienen öffentlich, andere im Stillen, aber niemand 23 Die Bibel sagt „gehe“, aber unser Kirchengebäude sagt „bleibe“. Die Bibel sagt „suche den Verlorenen“, aber unsere Kirchen sagen „lass den Verlorenen die Kirche suchen“. igw diplomarbeit 20 unbemerkt vor Gott. Manche dienen in einer grossen, andere in einer kleinen Kirche - und was interessiert Gott die Zugehörigkeit? Er kennt eine Gemeinde, einen Glauben und eine Hoffnung. Die Kirche Gottes ruft Jesus Christus, Sohn Gottes, Retter! Sie muss rufen in den Sprachen der Hörer mit den Worten der Zeit. Mit Orgel und Schlagzeug, von der Kanzel und unter der Haustür, im Stadion und in der Stube, am Morgen und bei Nacht. Ein Rufen so unterschiedlich, wie die Menschen es hören. Wenn Generationen zusammen rufen, wird es 24 keinen Ort geben, wo die Botschaft der Rettung nicht gehört wird.“ Ich bin überzeugt, dass ein Miteinander der Generationen möglich ist, wenn jede Generation ihren individuellen Auftrag wahr nimmt und wir nicht versuchen, als gesamte Gemeinde eine Generation zu erreichen. Weil jede Generation für die Mission ihrer Generation und der nachfolgenden verantwortlich ist, müssen die Strukturen angepasst werden. Dies führt unweigerlich dazu, über Aufbruch und Bruch mit Traditionen nachzudenken. Jede Generation soll es der nächsten sagen, sie soll rühmen, was du vollbracht hast, und deine machtvollen Taten weitererzählen (Ps 145,4)! 3.4 Wieso braucht es Aufbrüche? "Nun heißt leben, sich ständig verändern, heißt ständig Abschied nehmen von vertrauten Lebensformen. In diesem Sinne gibt es immer einen Abschied in der Kirche, das heißt von manchen äußeren Formen der kirchlichen Repräsentanz. Die Kirche des 19. Jahrhunderts war nicht unsere Kirche, und unsere Kirche wird nicht die Kirche des zweiten Jahrtausends sein, sofern wir ihr äußeres Kleid betrachten. Strukturen und äußere Formen, das Kleid der Kirche, werden sich ändern und müssen sich ändern. Durch Reden allein wird es allerdings zu keinen Veränderungen kommen“ 25 (Franz Kardinal König). Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich massiv verändert. Das (landes-)kirchliche System mit seinen Ortskirchengemeinden geht davon aus, dass der Wohnort mit seiner Nachbarschaft so etwas wie die Lebensmitte des Menschen darstellt. Deshalb wird kirchliches Leben um diese Lebensmitte herum organisiert: Mein Nachbar ist mit mir zusammen Kirchenmitglied vor Ort, bei unserem Pfarrer, in unserem Gottesdienst, der hier gefeiert wird. Im 21. Jahrhundert ist es nun aber so, dass Wohnort oft nur noch Schlafstätte ist und der Nachbar keineswegs zu den engeren Kontakten zählt. Hinzu kommen kulturelle Individualisierungsprozesse, die von der Kirche Veränderung und Pluralität26 fordert, will Sie missionarisch sein (Herbst 2006: 15). Pluralismus bezeichnet die Koexistenz von 24 Autor: Samuel Müller, Infos unter www.upstream-generation.ch 25 Franz Kardinal König war von 1956 bis 1985 Erzbischof von Wien. Quelle: www.neu-bybarny.de 26 „Man sieht, dass sich unter der Aufgabe einer gemeinsamen Sendung sehr unterschiedliche Partner zusammenfinden. Allen geht es um eine Kirche für die ganze Nation, die von der Mission Gottes geformt wird“ (Herbst 2006: 16). igw diplomarbeit 21 verschiedenen Interessen und Lebensstilen in einer Gesellschaft. Deshalb kann unsere von Vielfalt geprägte Konsumgesellschaft kann niemals durch eine Standartform von Kirche erreicht werden (: 30). Wir sind aufgefordert, die bestmöglichen Wege zu finden, Menschen in unserer Umgebung mit dem Evangelium zu erreichen. In unserer Kirchgemeinde haben wir mindestens acht verschiedene Generationen.27 Es ist möglich, dass acht Generationen von Christen miteinander Gottesdienst feiern, weil man gelernt hat, Schritte auf den Nächsten zu machen, aber ich bezweifle, dass wir mit diesem Gefäss acht Generationen von Nichtchristen miteinander erreichen. Es wäre fantastisch, den Missionsauftrag auf diese Weise auszuführen, aber wenn es einen effizienteren Weg gibt, müssen wir von der Idylle Abschied nehmen. Wir müssen die Bereitschaft dafür aufbringen, um den Verlorenen willen. Gleichzeitig sollen wir als Gläubige verbunden bleiben, wie es Psalm 148,12 ausdrückt: Lobt ihn, ihr Männer und Frauen, Alte und Junge miteinander! Es hat unglaubliche Kraft, wenn das Volk Gottes vereint anbetet und gleichzeitig ist es unser Auftrag, Menschen in die Anbetung von Jesus zu führen, die ihn jetzt noch nicht kennen. Dies erzeugt eine Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Verheissung und Einheit des Volkes Gottes und pragmatischen, der gesellschaftlichen Wirklichkeit angepassten Konzepten, zwischen mutigem Erneuern und halbherzigen Vorschlägen. Dem Versuch, beiden Seiten gerecht zu werden, folgen Trennungen und Zielgruppenkirchen. Ist dies völlig verkehrt oder ist es eine natürliche Reaktion auf missionarisches Handeln? Aufbrechen muss ja nicht bedeuten, mit der Vergangenheit abzubrechen. Es bedeutet lediglich, den nächsten Schritt zu tun. 3.4.1 Kritische Worte zu Aufbrüchen und Anpassung der Kirche Immer wieder haben sich grosse Theologen kritisch gegenüber einer zu starken Anpassung der Kirche an die Welt und die Anliegen der jungen Menschen geäussert. Die Kirche muss sich ständig erneuern, aber sie muss sich hüten, modisch zu werden. Dies ist die andere Gefahr, neben der, nur der Tradition anzuhängen: "Die wahre Reform ist jene, die sich um das verdeckte, wahrhaft Christliche bemüht, sich von ihm fordern und formen lässt; die falsche Reform ist jene, die hinter dem Menschen herläuft, anstatt ihn zu führen, und damit das Christentum in einen schlecht gehenden Krämerladen umwandelt, der um Kunden schreit“ (Ratzinger 1969: 27). Nicht der Welt hinterherlaufen soll die Kirche, sondern den Menschen die Richtung weisen. Diese Worte des heutigen Papstes werden von einem Gedicht eines Marxisten noch 27 1935-1945 „Kriegsgeneration“, 1945-1955 „Nachkriegsgeneration“, 1955-1965 „Skeptische Generation“, 1965-1979 „68erBewegung“, 1970-1980 „Generation X“, 1980-1990 „MTV-Generation“, 1990-2000 „Internet-Generation“, aktuell „Generation Praktikum“. Quelle: wikipedia.org igw diplomarbeit 22 verstärkt: "Die Kirche ist taub geworden, sie rennt mit der Zeit um die Wette, will neuzeitlich, fortschrittlich, hygienisch, funktionell, leistungsfähig, trainiert, motorisiert, elektronisch sein. Sie wollen diese Welt beherrschen? Was sage ich, 'beherrschen', Sie wollen der Welt gefallen" (Kolakowski 1971)! Wenn wir Traditionen hinter uns lassen ist immer eine gewisse Gefahr dabei, dass wir Kirche darauf ausrichten, dass sie Menschen gefällt. Bonhoeffer (1981: 121), um hier auch noch einen reformierten Theologen zu zitieren, macht der Kirche schwere Vorwürfe, wie sie mit dem jugendlichen Wunsch nach Veränderung und Erneuerung umgegangen ist: „Die Kirche bekennt, an dem Zusammenbruch der elterlichen Autorität schuldig zu sein. Der Verachtung des Alters und der Vergötterung der Jugend ist die Kirche nicht entgegengetreten aus Furcht, die Jugend und damit die Zukunft zu verlieren, als wäre ihre Zukunft die Jugend! Sie hat die göttliche Würde der Eltern gegen eine revolutionierende Jugend nicht zu verkündigen gewagt und hat den sehr irdischen Versuch gemacht, ‘mit der Jugend zu gehen’. So ist sie schuldig an der Zerstörung unzähliger Familien, an dem Verrat der Kinder an ihren Vätern, an der Selbstvergötterung der Jugend und damit an ihrer Preisgabe an den Abfall von Christus.” Diese Sätze von Bonhoeffer machen deutlich, in welchem Spannungsfeld das Thema „Jugend” steht. Was heißt es denn, „mit der Jugend zu gehen”? Und auf der anderen Seite: Wie viel „Anpassung” an die „Zielgruppe” ist möglich, nötig und richtig? Anlässlich eines Vortrags zum Thema „Kirche und Jugend“ vertritt Bonhoeffer (1960: 262) folgende Thesen: Aufgabe der Jugend ist nicht Neugestaltung der Kirche, sondern hören des Wortes Gottes, Aufgabe der Kirche ist nicht Eroberung der Jugend, sondern Lehre und Verkündigung des Wortes Gottes. Unsere Frage ist nicht: Was ist die Jugend und was ist ihr Recht?, sondern was ist die Gemeinde und welcher Ort kommt der Jugend in ihr zu? Das Generationenproblem ist in der Gemeinde aufgehoben. Die Jugend hat in der Gemeinde kein Vorrecht. Sie soll der Gemeinde dienen, indem sie das Wort hört, lernt und einübt. Die Bibel urteilt über die Jugend sehr nüchtern. Als Beispielvers gibt Bonhoeffer 1 Petrus 5,5 an, wo steht: Euch Jüngeren aber sage ich: Ordnet euch den Ältesten unter! Überhaupt müsst ihr – das sage ich allen – im Umgang miteinander jede Überheblichkeit ablegen. Ihr wisst doch: „Gott widersetzt sich den Überheblichen, aber denen, die gering von sich denken, wendet er seine Liebe zu.“ Es kann sein, dass die Jugend das Recht des Protestes gegen die Alten hat. Dann wird sich aber die Echtheit solchen Protestes daran erweisen, ob die Jugend sich igw diplomarbeit 23 solidarisch mit der Schuld der Gemeinde weiss und in Liebe die Bürde trägt und selbst in der Busse vor dem Wort Gottes bleibt. Anmerkung: Bonhoeffer „schaut“ ein neues Zeitalter, das für die Kirche anbrechen wird. Es geht ihm dabei weder um sein persönliches Schicksal noch um die Zukunft seiner Kirche. Er weiss, dass das Dritte Reich bald untergehen wird, ahnt aber auch, dass er den Sieg nicht erleben und seine Verlobte nicht mehr sehen wird. Vielmehr fragt er sich, welchen Weg die Kirche in einem religionslosen Zeitalter gehen soll. Und er findet eine Formel dafür: „Kirche für andere“ (Schlingensiepen 2005: 41). Bonhoeffer fordert heraus, genauer über die Stellung der Jugendlichen in der Gemeinde nachzudenken. Die Jugend hat sich den Ältesten unterzuordnen und darf nicht aus Rebellion ihr Recht einfordern. Wenn Kirche aber für andere da sein soll, gibt es offensichtliche Gründe, dem Anliegen von Jugendlichen nachzukommen. igw diplomarbeit 24 4 ANALYSIEREN, LERNEN, VERSTEHEN Mission als die Kernaufgabe der Gemeinde fordert eine Analyse der Gruppe, die es zu missionieren gibt und eine Reflektion der Situation, in der man sich befindet. Es fordert, dass wir bereit sind, von anderen zu lernen, die uns voraus sind. Gleichzeitig müssen wir verstehen, wieso andere Denkansätze erlaubt und notwendig sind. 4.1 Eine neue Jugendkultur „Diese heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird nie wieder so sein wie die Jugend vorher und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten!“28 Diese Worte wurden vor 5000 Jahren aufgeschrieben und wirken daher fast schon beruhigend auf unsere heutige Situation. Es beweist, dass Veränderungen zu jeder neuen Generation dazugehören und Gott dies offensichtlich auch zulässt. „Alle paar hundert Jahre durchläuft die Geschichte einen entscheidenden Wandel. Innerhalb weniger Jahrzehnte erschafft die Gesellschaft sich neu – ihr Weltbild, ihre grundlegenden Werte, ihre soziale und politische Struktur, ihre Künste, ihre Bräuche und die wichtigsten Einrichtungen“ (Peter Drucker, zitiert nach Kimball 2005: 63). Die Bibel spricht recht nüchtern über diese Tatsache: Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen (Pred 1,4). Gut, dass Gott sich nicht verändert und immer derselbe bleibt. Die einzige Konstante beim Menschen, die seit dem Sündenfall quer durch die Menschheitsgeschichte dieselbe ist, hat Blaise Pascal folgendermassen formuliert: „Im Herzen eines jeden Menschen befindet sich ein gottförmiges Vakuum, das durch nichts Erschaffenes erfüllt werden kann als allein durch Gott, den Schöpfer, so wie er sich in Christus offenbart.“29 Da jede Generation anders ist, bleibt es eine immerwährende Aufgabe und Herausforderung der Kirche, die besten Wege zu finden, diesen ewigen Gott zu verkünden. Am Anfang des dritten Jahrtausends geschehen grosse Veränderungen und Umbrüche. „Was wir in unserer Gesellschaft erleben, ist nicht bloss ein Konflikt der Generationen, sondern ein Wandel im Weltbild“ (Kimball 2005: 56). Das Resultat dieses Wandels ist unter anderem, dass sich eine neue Jugendkultur, oder besser gesagt, Jugendkulturen, bilden und zwar sowohl innerhalb wie ausserhalb der Kirchenmauern. „Tausend Stile und Szenen. Die 28 29 Stammt von einem babylonischen Kulturkritiker und wurde vor 5000 Jahren geschrieben. Quelle: www.lehrerverband.de www.thinkexist.com/quotation igw diplomarbeit 25 heutige Jugendkultur ist nachchristlich und ausgesprochen antikirchlich. Autoritäten und imageschwache Organisationen werden abgelehnt. Jugendkultur ist nicht homogen, sie zerfällt in unzählige sich immer wieder verändernde Szenen und Gruppen. Man kann kaum noch „die Jugend“ ansprechen oder meinen. Leistung, Selbstbezogenheit und Konsum sind wichtige Werte für viele Jugendliche.“30 Die Kirche im Dorf war ursprünglich kirchliche Heimat für die Menschen im Dorf. Dies ist heute keinesfalls mehr so. Durch hohe Mobilität können an den Wochenenden weitere Entfernungen zurückgelegt werden. Kirchlich gesehen hat dies zum sogenannten „Church Shopping“ oder den „Church Hoppers“, also einer Art „Gemeindetourismus“ geführt (Herbst 2006: 37). Wenn vor Ort nicht geboten wird, was einem entspricht, setzt man sich ins Auto und fährt am Sonntagmorgen 45 Minuten zu der Gemeinde, die einem zusagt. „An einem Ort leben heisst nicht mehr zusammenleben, und zusammenleben heisst nicht mehr am selben Ort leben“ (Ulrich Beck, zitiert nach Herbst 2006: 42). Wir leben heute in einer Netzwerkgesellschaft31. Netzwerke können zum Beispiel Schulen, Kneipe, Fussballverein oder Krabbelgruppe sein. Sie haben die Nachbarschaftspflege nicht ersetzt, aber verändert und es gibt Menschen, die keinem Netzwerk angehören. Netzwerke haben sich zu einer neuen Art von Gemeinschaften entwickelt, zu denen sich Menschen zugehörig fühlen (: 44). Es sind spirituell hungrige Menschen, die sich ausserhalb der Kirche vernetzen. Konsumgesellschaft Die westliche Kultur ist neben der Netzwerkgesellschaft auch eine Konsumgesellschaft. Wo bei früheren Generationen die Identifikation in dem lag, was sie produzierte, identifiziert sich die heutige Generation darüber, was sie konsumiert (Herbst 2006: 46). Der Konsumismus hat auch Einfluss darauf, wie Menschen Wahrheitsansprüche beurteilen. Als Kirche sind wir berufen, „in“ der Welt zu leben, aber wir dürfen uns nicht „vom“ Konsumismus leiten lassen (: 49). Da heute allgemein das Konzept des Kundenservice gilt, erwarten und fordern wir, als Verbraucher behandelt zu werden. „Wenn du meine Unterstützung haben willst, dann solltest du dich besser um meine Bedürfnisse kümmern“ (McManus 2005: 45). Es ist gefährlich, wenn diese Ideologie für die Kirche zur alleinigen Maxime wird. Post-Christentum, die nachchristliche Gesellschaft Nach und nach starb auch die ganze ältere Generation, und es wuchs eine neue Generation heran, die vom HERRN nichts wissen wollte... (Richter 2,10). 30 Jugendarbeit_tg_04.pdf (als pdf im Besitz des Autors, genaue Quellenangabe unauffindbar) 31 Siehe das Buch von Manuel Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft igw diplomarbeit 26 Manche Leute mögen sich über die leeren Kirchenbänke in hiesigen Gemeinden damit trösten, dass sie sich sagen: „Irgendwann werden sie alle wieder in die Kirche kommen. Spätestens wenn die heutigen Jungen Kinder haben, werden sie wieder zu ihren Wurzeln und damit zur Kirche zurückkehren.“ Was wäre aber, wenn die jungen Leute überhaupt keine kirchlichen oder christlichen Wurzeln haben, zu denen sie zurückkehren können? Wie können sie zur Kirche zurückkehren, wenn ihre Wurzeln ein pluralistisches Gemisch der unterschiedlichen Weltreligionen, des Humanismus und der Philosophie ist? „Bei vielen Menschen ist nicht einmal ein Rest von christlichem Glauben vorhanden. Er ist nicht etwa verschüttet, er ist nicht existent“ (Gordon Bates, zitiert nach Herbst 2006: 51). Im postmodernen Zeitalter müssen wir akzeptieren, dass viele Menschen keinen jüdisch-christlichen Hintergrund mehr haben. Dan Kimball beschreibt die heutige Situation in seinem Buch „Die postmoderne Kirche“ mit folgender Grafik: Abbildung 1: Epochenwechsel von der Moderne zur Postmoderne Die wenigsten Menschen mögen Veränderungen, und schon gar nicht, wenn diese so fundamental sind wie ein Epochenwechsel. Wir können schimpfen und klagen, verurteilen und jammern und dennoch kann sich niemand dem Strom des Kultur- und Zeitwandels widersetzen. Wir sollten uns vielleicht mehr und mehr als Missionare im eigenen Land igw diplomarbeit 27 verstehen und anfangen, uns mit der Veränderung anzufreunden und sie als Chance zu sehen. Erwin McManus (2005: 79) beschreibt die Postmoderne als das Ende fester Kategorien und als den Beginn des Fliessenden. 4.2 Jugendkultur und Generationenunterschiede – Zerriss oder Chance? Traditionell kennen wir in unserer Gemeinde den Sonntagmorgengottesdienst mit Orgel und einer mehr oder weniger strikten Liturgie. Hauptakteure sind der Pfarrer, der Organist und der Sigrist. Man muss kein Trendforscher sein um festzustellen, dass die Art und Weise eines traditionellen Gottesdienstes wenig bis nichts mit dem Leben eines jungen, postmodernen Menschen zu tun hat. Von der Sprache über die Musik bis hin zur Atmosphäre ist so ziemlich alles verschieden. Vor eineinhalb Jahren starteten wir damit, einmal im Monat einen zweiten Gottesdienst am Sonntagmorgen anzubieten. Dieser fand nach dem traditionellen Gottesdienst um 11 Uhr nicht in der Kirche, sondern im Kirchgemeindehaus statt. Inhaltlich war er locker gestaltet, eine Band spielte „moderne“ Lobpreislieder, es war Platz für persönliche Zeugnisse und der Pfarrer predigte nicht von der Kanzel. Der Gottesdienst war immer gut besucht und viele junge Leute waren da. Wo etwas Neues entsteht sind die Kritiker meist nicht weit. Bald sprachen einige von Gemeindespaltung, andere von zu viel Aufwand und wieder andere beklagten sich darüber, die Jungen im traditionellen Gottesdienst zu vermissen. Wenn Heinz Strupler sagt, dass vor zirka dreissig bis vierzig Jahren die verschiedenen Generationen in den Gemeinden keine Rolle spielten, die Unterschiede viel kleiner waren und Alte und Junge in etwa denselben Musikgeschmack hatten, dann fällt mir das heute schwer zu glauben (Von Rüti/ Geissbühler 2003: 8). Ich erlebe es eher so, wie Andy Furlong (zitiert nach Herbst 2006: 153) es sagt: „Junge Menschen wachsen in einer anderen Welt auf als der, die vorangegangene Generationen erlebt haben.“ Vor wenigen Monaten haben wir den 11 Uhr Gottesdienst wieder mit dem traditionellen 9.45 Uhr Gottesdienst zusammengelegt, wobei eine „moderne Ausrichtung“ des Gottesdienstes beibehalten werden soll. Es ist möglich, die Generationen in einem Gottesdienst zu vereinen, aber nur, wenn Alt und Jung bereit sind, Kompromisse einzugehen und zu verzichten. Wie effizient sich mit diesem Spagat Gemeinde bauen lässt, ist die andere Frage. Vielleicht schaffen wir es, den biologischen Nachwuchs unter grössten Anstrengungen in der Gemeinde zu halten, aber im igw diplomarbeit 28 Bezug auf die Mission sehe ich wenig Spielraum.32 Wie viele andere Gemeinden auch werden wir von einer gewissen Angst angetrieben. Es ist die Angst, dass bei Veränderungen und Neuaufbrüchen etwas verloren gehen könnte. Darum beschränkt man sich sehr stark darauf, das Erreichte zu bewahren. Es herrscht ein Selbsterhaltungstrieb. Auch wenn die eigene Struktur oft überlegt wird, haben Veränderungen meistens nur kosmetischen Charakter (Von Rüti/Geissbühler 2003: 49). 4.2.1 Die Gemeinde muss Einheit vorleben Natürlich muss die Gemeinde die Philosophie des Miteinander haben und es soll nicht wie in der Welt sein, wo die Generationen einfach auseinander driften (Paul Amacker, aus Von Rüti/Geissbühler 2003: 10), aber es darf auch nicht sein, dass wir jüngere Menschen in eine Gemeindekultur hineinintegrieren wollen, die ihnen überhaupt nicht mehr entspricht (: 63). „Wir dürfen uns nicht spalten und splitten aus Streit, aber wir dürfen uns spalten und etwas neues entstehen lassen aus einer Sendung heraus. Gemeinde ist kein Spiel, denn es steht zuviel auf dem Spiel. Wenn wir es nicht schaffen, dass Alt und Jung mit ihren unterschiedlichen Kulturen auskommen, haben wir keine Botschaft, um rauszugehen“ (Eckhard Kohl, zitiert nach Von Rüti/Geissbühler 2003: 13). Einheit in einer Gemeinde kann auf verschiedenen Pfeilern basieren:33 Auf dem Gottesdienstbesuch am Sonntagmorgen Auf einem gemeinsamen Charakter aller Veranstaltungen Auf einer geistlichen Führerfigur (zum Beispiel auf einem Pfarrer) Auf der gemeinsamen christlichen Lehre Auf gemeinsamen Grundsätzen und Zielen (vielleicht in Form eines Leitbildes) 4.2.2 Zielgruppenorientierte Mission bedeutet nicht Gemeindespaltung „Nicht der Generationenkonflikt ist die entscheidende Grenze, die man überschreiten muss, um unter jungen Menschen missionarisch arbeiten zu können, sondern die grundlegende Änderung der Kultur“ (Herbst 2006: 153). Wenn diese Aussage stimmt und wir die Mission als Kernaufgabe der Gemeinde sehen, sollten wir vorsichtig mit dem Ausdruck „Gemeindespaltung“ umgehen. Bevor wir verurteilen, müssen wir die Absicht hinter dem Neuen analysieren. Es ist nicht richtig, einfach etwas Neues zu gründen, weil einem das Alte 32 Untersuchungen ergaben, dass Freikirchen in der Deutschschweiz 30 bis 50 Prozent der eigenen Jugendlichen nicht integrieren können. Quelle: Magazin Praxis, Heft 1/00, S. 23 33 Magazin Praxis, Heft 1/00, S. 35 igw diplomarbeit 29 nicht mehr entspricht, aber es ist richtig, etwas Neues zu beginnen, um damit Menschen mit Gott in Beziehung zu bringen. Hier müssen wir uns auch fragen, warum sich Gespräche über Konflikte zwischen den Generationen immer um die Jungen drehen? Kann es auch sein, dass ältere Menschen vielerorts die Vision für ihre Altersgenossen verloren haben (Von Rüti/Geissbühler 2003: 33)? Rheinhold Sharnowski spricht von der Gemeinde als einem Marktdach mit mehreren Ständen darunter; eine heterogene Gemeinde also, in der verschiedene kulturelle Gruppen ihren Platz haben (: 32). Es ist möglich, Gemeinde zu sein, ohne dass sich die ganze Gemeinde jeden Sonntagmorgen versammelt. Ich plädiere dafür, dass es gemeinsame Treffen und Gottesdienste gibt, aber vielleicht braucht es einen Paradigmenwechsel, was den Sonntagmorgengottesdienst betrifft. „Die Aussage: ‚Unsere Gottesdienste sind für alle da!’ muss endlich als das entlarvt werden, was sie ist; nämlich frommer Selbstbetrug. Sie ist etwa so seriös wie die Aussage eines Metzgers, der behauptet, in seinem Laden dürften auch Vegetarier einkaufen“ (Douglas 2001: 231). 4.2.3 Der Preis und die Grenzen der Integration34 Die Behauptung, der Sonntagmorgengottesdienst müsse seine Gestalt stark verändern, damit er jugendgerecht würde, ist nicht richtig. Auch die älteren Menschen haben ein Recht auf einen Gottesdienst, der ihnen vom Stil und Inhalt entspricht. Junge Menschen brauchen zum entwickeln der Selbständigkeit Freiräume, auch in der Kirche. Der Versuch, alle Jugendgruppen in den Gottesdienst zu integrieren ist daher nicht unbedingt zu begrüssen. Die Verwirklichung des Einheitsgedankens in einem Gottesdienst setzt geistliche Reife, Toleranz und Belastbarkeit voraus. Junge und ältere Menschen können oder wollen ihre Kultur meist nicht über längere Zeit verleugnen, indem sie zum Beispiel einen Gottesdienst besuchen, der ihnen fremd erscheint. Es ist wichtig, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen und mit verschiedenen Frömmigkeitsstilen einen Gottesdienst besuchen können, in welchem sie sich wohl fühlen und wohin sie ihre Freunde mitnehmen können. Sonst werden sie wahrscheinlich ihre Generation und ihre kulturelle Schicht nicht mit dem Evangelium erreichen. Wegen der missionarischen Dimension kann eine christliche Gemeinde nicht darauf verzichten, sich den jeweiligen kulturellen, sozialen und auch lokalen Gegebenheiten anzupassen (vgl. 1 Kor 9,19-23). 34 Thesen entnommen aus dem Magazin Praxis, S. 35 igw diplomarbeit 30 Für die Einheit der Gemeinde spielt das gegenseitige Aufeinanderzugehen und das Gemeinschaftserleben eine bedeutende Rolle. In Zukunft werden wir uns aber vermehrt mit der Förderung des Gemeindebewusstseins aufgrund einer gemeinsamen Lehre und gemeinsamer Grundsätze und Ziele zu befassen haben, weil die Identitätsbildung aufgrund eines bestimmten Gottesdienstbesuches oft nicht mehr der heutigen Kultur und der gelebten Realität entspricht. 4.2.4 Einander die Herzen zuwenden Wichtiger als ein gemeinsamer Gottesdienst ist die Verbundenheit der Generationen über die Herzen. Der gemeinsame Auftrag und die gegenseitige Liebe und Achtung stärken die Einheit. Die Jungen werden allzu oft als Rebellierende gegen alte Formen und Strukturen wahrgenommen, anstatt in ihnen die zukünftigen Leiter der Gemeinde zu sehen. Im Grunde ist es lieblos, ihnen einfach ihr eigenes Gefäss zu finanzieren und sie machen zu lassen, da sie sich nach etwas anderem sehnen. „Viele Väter und Mütter verwechseln Vater- und Mutterschaft mit der Delegation von Verantwortung (Keller 2006: 47). Väter, die nur delegieren, lassen wohl die Arbeit und Verantwortung, aber nicht die Herzensbeziehung zu ihren Söhnen und Töchtern wachsen. Die Frucht der Arbeit wird anerkannt und gewünscht, doch das Herz und die tiefsten Bedürfnisse des strebenden Dieners verkannt“ (: 48). Junge Menschen möchten lernen und von einer älteren Garde trainiert werden. Konstruktives Training erlebt der Jünger jedoch nur in einer Beziehung, wo einander die Herzen geschenkt werden. Geschieht dies nicht, wird er denselben Vorgang oft als destruktive Machtausübung empfinden (Willis 2002: 23). „Viele Trennungen, besonders auch die zwischen den Generationen, geschehen nicht aufgrund falscher Motive, sondern aus reiner Unwissenheit, wie man sich den Bedürfnissen des Gegenübers annehmen kann“ (Keller 2006: 49). Wenn die Herzen einer Gemeinde zusammenwachsen sollen, muss daran gearbeitet werden. Es sollte mindestens so viel Zeit und Aufwand darin investiert werden wie sonst in ein Gemeindeprogramm. Die Herzen der Generationen wachsen nicht einfach so zusammen. Andreas Keller (: 30) schreibt dazu: „In Zeiten der Ablösung und Unabhängigkeit werden so manche Abstecher der Kinder bis an die Grenzen des Mach- und Verantwortbaren geführt. Das sind in der Regel gesunde und ganz normale Abnabelungserscheinungen, doch können auch verborgene Verletzungen, erlebtes Unrecht oder schlicht und einfach der eigene Stolz, der schon im Himmel gegen alle Autorität rebelliert hat, die Ursache dafür sein.“ igw diplomarbeit 31 In diesem Prozess der Herzenszuwendung wird auch echte Gemeinschaft entstehen. Sie ist bedeutend wertvoller als das Stillsitzen am Sonntagmorgen. Gemeinsame Zeiten beim Gebet, Mittagessen oder der Mithilfe im Garten etc. verbinden auf vielfache Weise und bringen die Generationen zusammen. Für die Jungen ist es leichter, Schritte auf ältere Menschen zuzumachen. Wenn Väter und Mütter aber nochmals aufbrechen, verdienen sie unseren grössten Respekt. Sie gehen in vielerlei Hinsicht ein grösseres Wagnis ein und werfen mehr in die Waagschale als viele junge Draufgänger, die ihr Leben noch vor sich haben (: 102). 4.2.5 Keine Angst vor Neuem „Failure is only the opportunity to more intelligently begin again“ (Henry Ford, zitiert nach Cole 2005: 195).35 Viele traditionelle Gemeinden verstehen die gemeindliche Jugendarbeit als Spielplatz, auf dem sich die „jungen Wilden“ kontrolliert austoben können, bis sie sich dann schliesslich beruhigt haben und sich artig in die Hauptgemeinde integrieren lassen (Schäfer 2006: 86). Junge Menschen sind meistens noch voller Energie. Oft haben sie noch keine familiäre Verantwortung und somit genug Zeit, sich mit voller Kraft im Reich Gottes investieren zu können. Diese Dynamik der Jugend sollten wir ausnutzen und nicht lähmen. Wir brauchen keine Angst zu haben, wenn aus der Jugend heraus Neues entsteht. Ich meine sogar sagen zu können, dass dies zwingend der Fall sein sollte. Andreas Keller (2006: 105, 117) beschreibt es folgendermassen: „Es ist schön, wenn Väter und Mütter in die schallisolierten Jugendkeller kommen und sich an die Bar setzen. Doch es ist nicht (mehr) ihre Welt! Es ist auch wunderbar, wenn junge Menschen in die Dienste ihrer Eltern reinschauen und sich verhalten (müssen), als wären sie plötzlich 20 Jahre älter. Doch es ist (noch) nicht ihre Welt. Obwohl wir viel vom gemeinsamen Vorwärtsgehen der Generationen reden, möchte ich doch betonen, dass es auch klare generationen-abhängige Aufgaben im Reich Gottes gibt.“ Vielleicht brauchen wir als Gemeinde(n) einfach neuen Mut und Kühnheit, das Neue zu wagen. Ich möchte nicht bereuen, Gelegenheiten verpasst oder aus Furcht etwas versäumt zu haben, das Grosses für Gott hätte bewirken können. Oder wie Mark Twain (zitiert nach Cole 2005: 207) es sagt: “Twenty years from now you will be more disappointed by the 35 Versagen ist die Möglichkeit, nochmals cleverer zu starten. igw diplomarbeit 32 things that you didn’t do than by the ones you did do. So throw off the bowlines. Sail away from the safe harbour. Catch the trade winds in your sails. Explore. Dream. Discover.“36 Wenn man stets auf der sicheren Seite sein will, wird man nichts von den heftigen Möglichkeiten Gottes erleben. John Wimber hat immer gesagt: „Glaube wird R.I.S.I.K.O. buchstabiert!“ (Schäfer 2006: 82). 4.2.6 Was brauchen wir? „Wir sehnten uns nach einem geistlichen Zuhause, wo wir unseren Glauben authentisch und alltagsnah leben und unseren Freunden zeigen konnten, was wir gefunden hatten. Zu lange hatten wir in zwei Welten gelebt, waren hinund hergerissen zwischen unserer und der traditionellen Gemeindewelt, die so ganz anders war. In unserer Welt und der unserer nichtchristlichen Freunde konnten wir einfach wir selber sein. Der einzige Unterschied war unser Glaube. In der Gemeindewelt hingegen war die einzige Gemeinsamkeit der Glaube, der Rest des Lebens war eher befremdlich und fern“ (Mark Reichmann, zitiert nach Schäfer 2006: 86). Es geht mir in unserer Gemeinde manchmal sehr ähnlich, wie Mark Reichmann es im obigen Text beschreibt. Ich halte treu zur Gemeinde, weil ich sehe, dass viel Gutes entsteht, und gleichzeitig verspüre ich diese Zerrissenheit in mir, weil wir unsere Generation durch „traditionellen Gemeindebau“ schlecht erreichen. Wir haben gekämpft, die Generationen zusammenzubringen und es ist uns tatsächlich gelungen. Von Jung bis Alt sitzen alle im Gottesdienst und freuen sich aneinander. Ich denke sogar, es ist mehr als das; man beschenkt einander. Gemeindeintern haben wir in den vergangenen Jahren Frieden erhalten. Ohne dies kleinzureden oder abzulehnen glaube ich, dass es an der Zeit ist, neue Gefässe zu schaffen. So wie alle Gemeinden in gewisser Weise einmal Gemeindepflanzungen – also neue Initiativen, um verschiedene Menschen auf verschiedene Weise mit dem Evangelium zu erreichen, waren, sollten wir Orte haben, wo die Bekehrung nicht ein Transfer von Individuen aus ihrer eigenen Kultur heraus und hinein in die Kultur der Kirche ist (Herbst 2006: 75). Vielmehr sollte ihre Kultur bekehrt werden und das kulturelle Leben der Kirche bereichern (: 164). „Die Aufgabe besteht darin, Kirche für sie, bei ihnen und mit ihnen zu sein und sie unter der Leitung des Heiligen Geistes dahin zu führen, Kirche in ihrem eigenen kulturellen Kontext zu werden. Der Abgrund, der uns von den unkirchlichen Menschen trennt, ist so gross wie der, den jeder Missionar erlebt, der in einer fremden Kultur arbeitet“ (: 93). 36 In 20 Jahren wirst du mehr enttäuscht sein über Dinge, die du nicht getan hast als über diejenigen, die du getan hast. Deshalb löse die Seile. Segle fort aus dem sicheren Hafen. Nutze die Winde in deinen Segeln. Erforsche. Träume. Entdecke. igw diplomarbeit 33 Als Kirche wird es uns nur dann gelingen, wieder zur Gesellschaft und zum Individuum Verbindung aufzunehmen, wenn wir gleichzeitig die Vielfalt und Einheit leben, die ihre Wurzeln in unserem dreieinigen, unendlich kreativen Gott haben (: 53). Unterschiedliche Ausdrucksformen von Gemeinde zeigen, dass nach dem Prinzip der Inkulturation des Evangeliums gearbeitet wird, statt der Vielfalt der Kulturen unserer Gesellschaft eine einzelne Kultur oder einen einzelnen Stil überzustülpen (: 154). Ich spreche nicht davon, dass wir Jungen ausziehen, der Gemeinde den Rücken kehren und unsere eigene Gemeinde gründen. Vielmehr sehe ich neue Gefässe, die unter dem Dach der Gemeinde relativ selbständig stattfinden. „Die alte Form von Gesellschaft und Kirche hat eine auf bestimmte Weise gewebte Struktur. Wir möchten nicht einfach Flicken auf das alte Gewebe setzten, sondern einen neuen Webstuhl bauen, um für die zukünftige Gesellschaft des Reiches Gottes eine neues Gewand zu weben“ (: 227). Dabei müssen wir vorsichtig sein, biblische Wahrheiten als solche in einem veränderten Rahmen und einer neuen Kultur zu erhalten. Die Botschaft bleibt die Gleiche, wobei die Form der Übermittlung sich ändern kann. „Der Versuch relevant zu sein kann zum Synkretismus37 führen und umgekehrt kann die Angst vor dem Synkretismus dazu verleiten, irrelevant zu bleiben“ (Lesslie Newbigin, zitiert nach Herbst 2006: 172). 4.3 Von anderen lernen 4.3.1 Die Anglikanische Kirche Englands Die „Landeskirche“ von England hat erkannt, dass im Bereich Jugendarbeit gewaltige Veränderungen geschehen müssen, wollen sie die jungen Menschen von heute mit dem Evangelium erreichen. In der Vergangenheit wurde oft davon ausgegangen, dass Jugendliche aus der Phase des „anders sein“ herauswachsen und dann wie die ältere Generation sein würde. Die Bischöfe der anglikanischen Kirche kommen jedoch zum Schluss, dass diese Einstellung angesichts der heutigen Situation weder haltbar noch weise ist. Es sei unwahrscheinlich, dass Stil und Werte der bestehenden Kirche je so sein werden, dass junge Menschen sich darin wohl fühlen (entnommen aus Herbst 2006: 154). Die anglikanische Kirche Englands hat einen Nationalen Jugendfonds eingerichtet, der missionarische Jugendprojekte unterstützen und fördern soll. Im Strategiepapier „Good news for young 37 Synkretismus ist ein Prozess, in dem Elemente einer Religion oder Glaubensrichtung an die einer anderen angepasst oder mit ihr vermischt werden, so dass der fundamentale Charakter der Religion verloren geht. igw diplomarbeit 34 people“38 sind gewonnene Erkenntnisse und wünschenswerte Handlungen beschrieben. Im folgenden einige Punkte aus diesem Strategiepapier:39 Jugendevangelisation ist eine dringende Priorität der Kirche Englands, weil der Glaube jeder Generation wieder neu verkündet werden muss. Jugendarbeit ist nicht in erster Linie ein Spalt zwischen Generationen, sondern ein Spalt zwischen Kulturen (culture gap). Die Kirche ist Missionarin, weil sie nie als Objekt für sich selber, sondern nur als Gesandte des Geistes, die das Reich Gottes bringt, verstanden werden darf. Konversion in die Kirche hinein ist wichtig, aber so, wie die gegenwärtige Kirche ist, oft das grösste Hindernis für Jugendevangelisation. Jugendarbeit und Jugendevangelisation muss beziehungsorientiert sein. Gemeindegrenzen sind meistens unrelevant und oftmals Hinderungsgrund für effektive Jugendarbeit. Jugendarbeit sollte nicht darauf abzielen, junge Menschen in eine Kirchenkultur hinein zu ziehen, die ihnen fremd ist. Jugendarbeit ist eine Verpflichtung zu neuen Formen der Kirche für eine neue kulturelle Ära. Es sind junge Menschen, denen wir im Glauben helfen und die wir ausrüsten, die aufkommende Kultur zu prägen und neue Formen von Kirche und Anbetung zu entwickeln, die eines Tages die Hauptrichtung sein werden. Es ist unrealistisch und unangebracht zu erwarten, dass die Mehrheit der Gemeindemitglieder sich einer auftauchenden Kultur (emerging culture) anpassen wird, in der sie nicht aufgewachsen sind. Entscheidend für die Mission der Kirche wird die Fähigkeit sein, junge erwachsene Leiter, die mit den neuen Entwicklungen vertraut sind, zu erkennen, freizusetzen und zu unterstützen. Wir müssen das Risiko eingehen, diesen Leitern Verantwortung anzuvertrauen, mit neuen Formen von Anbetung und Jüngerschaft zu experimentieren. Die theologische Grundlage dafür findet sich im „eschatologischen“ Heiligen Geist, dessen Rolle es ist, ein Vorgeschmack von Gottes Zukunft in die Gegenwart zu bringen. Wenn die Praktiken der Vergangenheit begrenzte Verwendung haben, ist es das Werk des Heiligen Geistes in der nächsten Generation von Leitern, dem wir vertrauen müssen. Haben wir genug Mut und Gnade, dies zu tun? 38 Zu finden unter: www.cofe.anglican.org 39 Youthstrategietwo.pdf, Seiten 19-22. Auszüge des Originaldokuments finden sich im Anhang. igw diplomarbeit 35 4.3.2 Beispiel Soul Survivor40 Soul Survivor wuchs aus der Anglikanischen Kirche St Andrew’s Chorleywood heraus. Diese Kirche veranstaltete Familienkonferenzen und wegen der grossen Anzahl jugendlicher Besucher war bald klar, dass etwas Eigenständiges für Jugendliche gebraucht wurde. So lancierte Soul Survivor ihre erste Jugendkonferenz im Jahre 1993. Seit dieser Zeit veranstaltet Soul Survivor jedes Jahr diverse Anlässe. Zur Konferenz erschienen im Sommer 2006 über 25'000 Jugendliche. Soul Survivor hat sich mittlerweile vervielfacht und in neun Regionen rund um die Welt ausgebreitet. Als 1993 der erste Soul Survivor Event über die Bühne ging, wurde gleichzeitig eine Jugendkirche gestartet, die mittlerweile 800 Besucher hat. Dies geschah aus der Not heraus, dass in der anglikanischen Mutterkirche St Andrew’s Chorleywood viel mehr junge Leute die Kirche verliessen, als zu ihr hinzukamen. Aus dieser Bewegung sind bekannte Persönlichkeiten wie Matt Redman oder Tim Hughes hervorgekommen, deren Worshiplieder heute weltweit in den Gemeinden gesungen werden. Bischof Graham Cray äusserte sich in einer Ansprache 1999 zu Jugendgemeinden folgendermassen: „Jugendgemeinden sind keine Übergangsstrategie. Sie sind kein temporäres Auffanglager, in dem junge Leute an die Kirche in ihrer heutigen Form angepasst werden. Sie sind nicht lediglich die Brücke zum Eigentlichen. Sie übernehmen vielmehr die volle Verantwortung für Gottesdienste, Seelsorge, Mission und Evangelisation. Für diejenigen, die dazugehören, sind sie und nur sie das Eigentliche! In Jugendgemeinden wird die Kirche Jesu Christi erlebbar“ (zitiert nach Herbst 2006: 154). 4.3.3 Emerging church – ein frischer Ansatz für Gemeindebau „Emerge“ bedeutet auftauchen oder hervortreten und beschreibt eine neue Bewegung innerhalb des Christentums, die vorab darauf ausgerichtet ist, postmoderne Menschen mit dem Evangelium zu erreichen. Danny Gandy (2005: 11-18) hat einige Kennzeichen der emerging church Bewegung erfasst: Authentische Beziehungen; glaubwürdige Gemeinschaft unter Christen Auf Erfahrung, Beteiligung und Verbindung ausgerichtete Gottesdienste Kreative und künstlerische Entfaltung; da der Mensch als „imago dei“, also im Bilde Gottes, erschaffen wurde Ganzheitliche Spiritualität: das starke Verlangen nach Erlebnissen 40 Quelle: www.soulsurvivor.com.uk/about/history igw diplomarbeit 36 Inkarnatorische Missiologie; das Evangelium wird in die Kultur hineingeboren Organische Ekklesiologie; Gemeinde ist keine Institution, kein Ort oder Gebäude Dezentrale Leiterschaft; der Pastor wird vom Druck des Allrounder entlastet Soziale Gerechtigkeit; Verkündigung und Hilfeleistung gehören zusammen Eines der positivsten Merkmale der emerging church Bewegung ist das Streben nach kultureller Relevanz des Evangeliums in seiner jeweiligen Kultur. Man möchte den Glauben ohne Entschuldigung holistisch (ganzheitlich) ausleben und dabei ein Zeugnis von Gottes Liebe für die Mitmenschen sein. D.A. Carson (2005: 14) sieht die emerging church aber auch als Protestbewegung gegen moderne evangelikale Gemeinden, die sich nicht um ein authentisches Kulturverständnis bemühen und krampfhaft an alten, unzeitgemässen Methoden festhalten. Neue Bewegungen leben immer vom Protest gegen alte Strukturen. Carson (: 65) schreibt folgende Kritik dazu: „... it is difficult to find a paragraph in any of the emergent writing that says anything positive and grateful about modernism or about the Christian churches that went around the world under modernism. I am not suggesting that there is nothing to criticize in modernism. I am merely saying that for the emergent writers, modernism is bad and postmodernism is either good or a glorious opportunity.”41 In der ganzen Diskussion rund um die Postmoderne und neue, generationengerechte Gemeindemethoden steht die emerging church in der Gefahr, sich auf ihre Zielgruppe überzukonzentrieren (Gandy 2005: 22). Im Weiteren stellt der Synkretismus eine Gefahr für die emerging church dar. Obwohl emerging church Autoren vor dieser Gefahr warnen, geben sie in ihren Büchern kaum Raum dafür (Carson 2005: 126). Über Erfolg oder Misserfolg schreibt ein emerging church Gemeindeleiter: „Die Emerging church muss den Massstab für Erfolg neu definieren: Nicht anhand der Methoden, Zahlen, Strategien oder wie cool und innovativ wir sind, sondern anhand der Jünger Jesu, die unsere Gemeinden hervorbringen, anhand der Menschen, die für das Reich Gottes leben“ (Kimball 2005: 15). 4.3.4 Welche Kräfte sind zu beachten? Mark Driscoll ist Pastor der Mars Hill Bible Church in Seattle und hat ein interessantes Buch mit dem Titel „The radical reformission“ geschrieben. Die Hauptaussage ist, dass das Evangelium, die Kirche und die Kultur essentielle Teile unserer Mission als Christen sind. Die drei Kräfte Evangelium, Kirche und Kultur formen eine dreiseitige Beziehung. Jesus ruft uns 41 Es ist schwierig einen Abschnitt in emerging church Schreiben zu finden, die etwas Positives und Dankbares über die Moderne oder die Kirchen in der Moderne berichten. Ich sage nicht, dass es nichts zu kritisieren gibt, ich sage vielmehr, dass emerging Autoren die Moderne schlecht und die Postmoderne entweder gut oder als eine herrliche Möglichkeit empfinden. igw diplomarbeit 37 zum Evangelium (liebe den Herrn), zur Kultur (liebe deinen Nachbarn) und zur Kirche (liebe deinen Bruder) hin. Driscoll (2004: 20-22) präsentiert drei Formeln, um zu zeigen, was passiert, wenn eine Kraft vernachlässigt wird: Evangelium + Kultur – Kirche = Parakirche Aus Frustration mit Kirche entstehen Subgruppen (Campus, Navigatoren), die alterspezifisch und von lokalen Gemeinden getrennt sind. Probleme sind die theologische Unreife und der Verlust von Lebenserfahrung aus allen Altersgruppen. Liebe zu Gott und Nächsten, ohne Liebe zu Brüdern. Kultur + Kirche – Evangelium = Liberalismus Aus Bemühung, kulturell relevant zu sein, vernachlässigen sie das Evangelium. Es wird über institutionelle Sünde geredet, aber nicht persönliche. Liebe zu Nächsten und Brüdern, ohne Liebe zu Gott. Kirche + Evangelium – Kultur = Fundamentalismus Starke Betonung der Kirche mit Nöten, Programmen usw. Menschen werden in die Kirche gebracht, aber keine ausgesandt in die Kultur. Über die Zeit wächst der Fokus nach innen. Sie lieben Gott und Brüder, ohne Liebe zu Nächsten. Kultur Liberalismus Parakirche unsere Gemeinde Gemeinde Fundamentalismus Evangelium Das Kreuz in der Mitte kennzeichnet den Schnittpunkt der drei Kräfte. Es wäre der ideale Ort, wo Gemeinde, Evangelium und Kultur gleichmässig gewichtet werden. Ich habe den Ort mit einem roten Punkt markiert, wo ich unsere Gemeinde in Steinmaur im Moment sehe. igw diplomarbeit 38 4.4 Wieso braucht es etwas radikal Neues? In unserer Gemeinde veranstalten wir nebst den klassisch traditionellen Gottesdiensten zweimal im Monat einen „modernen Gottesdienst“. Der eine ist auf suchende Menschen ausgerichtet, der andere soll möglichst alle Generationen erreichen. Dem Bemühen nach harmonischen Gottesdiensten, wo sich alle irgendwie angesprochen fühlen, ist eigentlich nichts auszusetzen, nur ist das, was von unserer Elterngeneration als modern bezeichnet wird, für uns nicht modern. Diese Gottesdienste sind nämlich im Stil gemacht, wie unsere Eltern ihre Jugendgruppe erlebt haben. Es werden Lieder aus den 70er und 80er Jahren gesungen, die im Vergleich zum Kirchengesangsbuch zwar sehr modern erscheinen, es für uns aber nicht sind. Für die junge Generation sind diese Gottesdienste genauso unbefriedigend wie die traditionellen, weil sie zwar den Namen „modern“ tragen, in unserem Verständnis von modern jedoch weit davon entfernt sind. Was auf der Ebene kirchliche Gottesdienste geschieht, zeigt sich auch in der Jugendarbeit. Ein Leiter in mittlerem Alter steht in grosser Versuchung, Jugendgruppe so zu gestalten, wie er selber diese erlebt hat. „Wir nehmen die Vergangenheit zu oft als Massstab für die Gegenwart und halten die Gegenwart für die Zukunft. Wir verstehen die Zukunft als eine Rückgewinnung der Vergangenheit. So warten wir darauf, dass die gute alte Zeit wiederkommt“ (McManus 2005: 127). Weil wir gerne auf dem weiterbauen, das uns vertraut ist, haben es Menschen schwer bei uns, die von ihrer Grundausrichtung nicht bewahrend und harmoniebedürftig sind. Trendsetter, Avantgardisten, Querköpfe und Visionäre sind dann eher die Ausnahme in unseren Jugendgruppen. Ihnen ist Kirche (auch Freikirche) zu unkreativ, zu brav, zu wenig innovativ, zu sehr voraussagbar und damit zu langweilig (Garth 2004). Deshalb müssen wir den Mut aufbringen, neue Wege zu gehen. Die Jugend ist schon immer radikal gewesen. Diese Dynamik muss genutzt werden. Junge für das Reich Gottes begeisterte Menschen müssen wieder zur geistlich-missionarischen Speerspitze der Kirche werden, oder aber die Kirche verbürgerlicht und badet weiter im Mittelmaß betulicher Anständigkeit (Garth 2004). Auf welchem Boden wachsen geistlich-missionarische Speerspitzen? Wir denken oft, dass die Gemeinde versagt hat, wenn die Jungen weiterziehen, nicht bis zur Pensionierung in der Gemeinde bleiben, wo sie im Glauben erzogen wurden und radikal neue Wege gehen. Ich bin aber überzeugt, dass die heutigen Jugendgemeinden mit Leuten entstanden sind, die mehrheitlich in kleinen, traditionellen Gemeinden aufgewachsen sind. Deshalb können Jugendbewegungen und Jugendkirchen wie ICF oder Godi als unmittelbare Frucht der „traditionellen Gemeinden“ gesehen werden. Diese neuen Gemeinden sind nicht igw diplomarbeit 39 besser als die alten, sie dienen schlicht und einfach einem anderen Zweck. So muss denn auch nicht sein, dass traditionelle Gemeinden eine falsche Strategie verfolgen oder einen irrelevanten Stil haben. Ein Grund, wieso junge Pioniere weiterziehen, ist, dass in der Gemeinde eine ungesunde Kultur herrscht. Wenn die Gemeindekultur keine Kreativität, Erfindungskraft und Innovation zulässt, werden sich die Leiter einen anderen Ort suchen. 4.5 Welchen Weg sollen wir gehen? Vergessen wir mal alles, was wir über Kirche wissen. Vergessen wir mal die Art und Weise, wie Gottesdienst gefeiert wird, wo und wie oft man sich trifft, wie Hauskreise funktionieren, wie Lobpreis gemacht wird, wie die Leitung organisiert ist etc. Vergessen wir mal das Kirchengebäude und Gemeindeprogramm. Was für ein Bild formt sich in meinen Gedanken? Welche Gefühle melden sich? Bei mir ist es Unwissenheit, Unsicherheit, Unvorstellbarkeit und Unverschämtheit, weil ich nicht weiss, ob solche Gedanken überhaupt richtig sind. Ich flüchte rasch zurück zum Vertrauten und bleibe mit leicht unzufriedenem Gefühl beim Alten. Ich bin den Springturm hinaufgestiegen, habe mich umgeschaut, aber scheue mich vor dem Sprung ins Wasser. Das beklemmende Gefühl, sich beim Eintauchen weh zu tun, lässt einem wieder die Leiter hinabsteigen. Dabei wären wir so gerne gesprungen. Jetzt haben wir versagt, Schmach meldet sich, gedemütigt und geschlagen tümpeln wir am Rande des Beckens. Wie risikobereit sind wir jungen Leute wirklich? Schreien wir nur nach Veränderung oder haben wir wirklich den Mut, Verantwortung zu übernehmen? Sind wir bereit zu springen, uns weh zu tun, die Hosen zu verlieren? Nehmen wir in Kauf, alleine dazustehen, ja sogar zu scheitern? Das Neue kommt nicht, weil die „Alten“ uns nicht machen lassen. Es bleibt verborgen, weil wir Jungen nicht den Mut haben, wirklich Neues zu wagen. Spurgeon hat mal gesagt: „Kein Schiff kann den Ozean des Lebens befahren, ohne Stürmen zu begegnen.“42 Wir müssen aufbrechen im Wissen, Stürmen und Herausforderungen zu begegnen. Wir sollten vom Klagen und Jammern zum Handeln übergehen. Wenn wir neue Frucht sehen wollen, müssen wir Samen pflanzen. „Zieht nicht den ganzen Tag lang Furchen; geht ans Säen“ (Spurgeon). Wir sollten als Gruppe den Mut haben, selbst Wege zu gehen, deren Pfade noch nicht zu erkennen sind. Wir dürfen Pioniere sein und die Gemeinde neu ausleben, selbst mit dem Wissen, dass wir scheitern können und vielleicht ohne Hosen dastehen werden. 42 Gesammelte Zitate von Spurgeon in einem Kalender: Mach aus allem ein Gebet. igw diplomarbeit 40 4.5.1 Wo sind die Gefahren beim Neuen? Wir engagieren uns und stehen doch plötzlich vor dem Nichts Wir schwören uns auf ein Ziel ein und erreichen es nicht, weil plötzlich alles auseinander fällt, denn junge Leute heiraten, ziehen weg, sind mit Ausbildung beschäftigt oder gehen ins Ausland. Es kann sein, dass wir heute eine blühende Jugendarbeit haben, woraus etwas Neues für junge Erwachsene entstehen kann, und wir uns morgen fragen, wo all die Leute geblieben sind. Oder die Richtung ändert sich, wie dies beispielsweise bei Jugendkirchen oft zu beobachten ist. Nach einer radikalen Trennungen entwickeln sie sich in relativ kurzer Zeit in zwei Richtungen: Erstens, in Richtung Familienkirche, da junge Leute heiraten und Kinder bekommen. Zweitens in Richtung Drei-Generationen-Kirche, da sich ältere Menschen durch das Zeugnis von jungen Menschen bekehren und Heimat finden in der Gemeinde (Garth 2004). Das Neue ist nicht neu Eine andere Gefahr ist, dass wir Altes einfach in neuem Gewand machen, und somit Neues im Grunde gar nicht neu ist. Wir renovieren nur die Fassade, ohne die Grundmauern neu zu errichten. Ein Beispiel: Im Gespräch mit jungen Menschen habe ich festgestellt, dass viele anstelle einer ausgewogenen Gemeindeleitung mit demokratischer und daher langsamen Entscheidungsstrukturen eine starke Leiterschaft und Führung der Gemeinde wünscht. Zugleich herrscht in vielen Jugendarbeiten aber ebenfalls eine Basisdemokratie, nur wird diese nicht Gemeindeversammlung genannt. Wenn uns das Neue kein Bauchweh bereitet und sich zuerst einmal alles in uns dagegen wehrt, machen wir vielleicht gar nichts neues. Wir werden überheblich Gerade weil wir aus einem traditionellen Umfeld stammen, ist die Gefahr gross, überheblich zu werden und andere zu verachten, wenn die Jugendarbeit mal was neues wagt. Spurgeon (gesammelte Zitate) sagt dazu: „Andere verachten ist ein grosser Fehler, schlimmer als irgendein anderer, den wir vielleicht an ihnen sehen; wenn wir uns über ihre Schwächen lustig machen, beweisen wir unsere eigene Schwäche und unsere Bosheit obendrein.“ Wir warten ab, bis alle ja sagen Da nicht alle mögen, was wir tun, warten wir, bis alle zu etwas Neuem ja sagen. So werden wir nie starten. Widerstand soll prüfend machen, aber nicht stoppen. igw diplomarbeit 41 Wir machen uns als Leiter stark Jeder Leiter stellt eine gewisse Gefahr dar für die Gruppe, die er leitet. Jeder Leiter kann zum Hindernis werden. Im Bezug auf meine Fragestellung in dieser Arbeit trifft das auch auf mich zu. Ich bin das Zugpferd der Gruppe und initiiere die meisten neuen Projekte. Ich kann andere für etwas begeistern und meine Meinung durchsetzen. Das ist ein Segen für die Gruppe und kann gleichzeitig zur Gefahr werden. Die Chance ist gross, dass die Jugendarbeit von mir als Leiter abhängig bleibt. Was geschieht, wenn der Leiter nicht mehr da ist? Einem Leiter werden gerne Verantwortung und Entscheidungen überlassen. Unter diesem Druck können Fehler passieren. Jeder Leiter bringt ein bestimmtes Verständnis von Kirche und Gemeindebau mit sich und wird dieses automatisch auf andere übertragen, während er mit ihnen arbeitet. Dabei ist es gut möglich, dass er sich in einer Sache auch mal irrt. Entschärfen liesse sich die Gefahr, indem wir die Leiterschaft breiter abzustützen, sie multiplizieren. Jeder muss lernen, sich als Leiter zu verstehen und Verantwortung zu übernehmen. Die Grösse der Verantwortung ist zweitrangig, wichtiger ist die grundlegende Sicht und Haltung, sich als Leiter zu sehen. 5 ANWENDUNG Aufgrund gewonnener Erkenntnisse und erlangtem Wissen möchte ich in diesem Abschnitt versuchen, die vielen Gedanken in eine praktische Umsetzung münden zu lassen. Wissen ist nur gut, wenn ich es anwenden kann, ansonsten bleibt es blosse Information. 5.1 Wie könnte das Neue aussehen? In diesem letzten Kapitel untersuche ich, woraus neue Dinge entstehen und wie sich ein entsprechendes Umfeld schaffen lässt. Ich versuche, verschiedene Ideen für die Zukunft zu präsentieren und beschreibe, wie wir schrittweise dazu kommen können. 5.1.1 Priorität von Werte oder Strukturen? Eine Kultur bildet sich durch Menschen, die über längere Zeit bestimmte Werte leben und vermitteln. Also sind Werte der entscheidende Ausgangspunkt für alles weitere. Das Ziel wäre nun, Werte zu definieren, die eine Kultur kreieren, aus der heraus Christen bevollmächtigt werden, Konzepte, Strukturen und konkrete Projekte umzusetzen. igw diplomarbeit 42 Ein Beispiel dazu: Die Mosaic43 Gemeinschaft in Los Angeles stellt für mich eine revolutionäre und faszinierende Kirche dar. Mosaic steht bildhaft für die Unterschiedlichkeit der Menschen, die sich innerhalb der Gemeinde für Gemeinschaft treffen. Mosaic definiert sich über folgende Werte:44 Wind UNTERNEHMERGEIST Mission ist der Grund für die Existenz der Kirche. Bedeutung: Gott schafft eine Auftrags-Gemeinschaft. Er baut ein Volk, das gemeinsam Gottes Auftrag erfüllt. Er verbindet eine Gemeinschaft von Menschen, die miteinander eine Mission leben (McManus 2005: 224). Weil wir eine Mission haben, existiert unsere Kirche. Wasser AKTIVITÄT Liebe ist der Kontext aller Mission. Bedeutung: Der Leib Christi ist die Oase Gottes, zu der die kommen und trinken können, die nach wahrer Liebe und Annahme suchen. Gott schafft Orte der Liebe in der Gemeinde. Zugleich stellt uns die Liebe mitten unter die, die Gott brauchen (McManus 2005: 230). Holz INNOVATION Struktur muss sich immer dem Geist unterordnen. Bedeutung: Holz ist ein Bild für Verbindung und es geht darum, wie Mitarbeit gestaltet und organisiert wird. Viele Gemeinden haben oft Programme, Strukturen und sogar Rollen und Stellen etabliert, bevor man überhaupt weiss, wer die Menschen sind, die diese Stellen ausfüllen werden. Wenn man von Beziehungen ausgeht, ist das radikal anders. Man berücksichtigt dann, dass der Geist Gottes nicht in Programmen, sondern in Menschen wohnt. „Strategien sind nicht annähernd so wichtig wie Begabungen und es müssen diese einzigartigen Begabungen der Menschen sein, die ein Mitarbeiterprogramm bestimmen“ (McManus 2005: 232). 43 44 Im Internet zu finden unter: www.mosaic.org www.mosaicalliance.com igw diplomarbeit 43 Feuer ECHTHEIT Relevanz zur Kultur ist nicht optional. Bedeutung: Feuer ist ein unumkehrbarer Prozess. Wenn Gott zu den Menschen kommt, dann beginnt etwas Unaufhaltsames. Feuer symbolisiert die Gemeinschaft und Begegnung mit Gott. Es steht für eine Gemeinschaft, die eine Kultur der Begegnung lebt und die die Begegnung mit der Kultur sucht (McManus 2005: 240). Erde KREATIVITÄT Kreativität ist die natürliche Folge von Spiritualität. Bedeutung: Erde ist eine natürliche Metapher für unseren Charakter. Heiligkeit wird üblicherweise mit Dingen definiert, die wir nicht tun, statt mit Dingen, die wir für Gott tun (McManus 2005: 241). So predigen wir engagiert gegen die Sünde, aber haben wir jemals darauf hingewiesen, wie schrecklich es ist, wenn menschliches Potential verloren geht? „Je näher wir Gott kommen, desto mehr erkennen wir unser unerschlossenes Potential und die in uns brachliegende Kreativität“ (: 243). Der Ausgangspunkt für Veränderungen können also nicht Strukturen und Modelle sein, sondern durch Werthaltungen und deren „Fleischwerdung“ kreieren wir eine Kultur, die dann die notwendigen Strukturen zur Folge hat. Als Gruppe sollten wir uns folgende Fragen stellen: Fördern wir in der Kirche eine Kultur, in der das Potential und die Gaben von Einzelnen freigesetzt werden und es Platz dafür hat? Kreieren und fördern wir eine Kultur, wo Menschen wertgeschätzt werden, die Jesus noch nicht kennen? Fördern wir die Art von Kultur, wo Menschen mit Vision und Leidenschaft, also zukünftige Leiter, angezogen werden? Veränderungsprozesse gehen von Schlüsselpersonen aus, die nicht unbedingt die formellen Leiter sein müssen. igw diplomarbeit 44 5.1.2 Die zukünftigen Leiter herausfiltern Es werden immer natürlich begabte Leiter sein, die die Richtung einer Gruppe vorgeben. Wir beobachten das besonders gut bei jugendlichen Peergruppen. Überall gibt es Anführer, die niemand dazu eingesetzt hat. Erwin McManus, Hauptarchitekt von Mosaic, sagt dazu: „Leiter kann man nicht nachnehmen. Man kann sie nicht aufziehen wie ein Kalb. Leiter müssen erreicht werden. Sie sind Innovatoren, Querschläger, oft gelangweilt in einer bestehenden Gemeinde. Es sind die Letzten, die in eine normale Gemeinde hineinlaufen würden.“45 Zur Untermauerung seiner Aussage fragt er, wieso Mega-Churches wie Willow Creek, die uns lehren, Leiter nachzuziehen, ihre Pastoren von anderen Gemeinden rekrutieren müssen? Der Hauptgrund sieht er darin, dass die Gemeinden, die auf Sucher ausgerichtet sind, sehr viele gewöhnliche Menschen, aber wenig natürliche Leiter und Innovatoren erreichen. Für uns könnte das bedeuten, viel Kraft darin zu investieren, natürliche Leiter, die Jesus noch nicht kennen, zu erreichen. Es wäre vermessen zu fordern, dass wir uns als ganze Gruppe auf dieses eine Ziel einschwören. Aber diejenigen unter uns, die eine Gabe haben, solche Leute zu erreichen, sollten es zu ihrer Priorität machen, immer im Wissen, dass wir keine Leiter machen können. Wir können jedoch in das Leiterpotential eines anderen investieren. Es ist daher kritisch zu fragen, wie wir Leiter entwickeln. Leiterschaftsentwicklung bedeutet, Leben an anderes Leben weiterzugeben. Daher ist die entscheidende Frage am Schluss: Wer bin ich? Wenn Menschen in mein Leben treten, wer werden sie? Ich kann Leben mit anderen teilen, indem ich Zeit mit ihnen verbringe. Zeit ist sowieso das Wertvollste, das ich Jemandem geben kann. Je direkter und natürlicher ich meinen Glauben mit anderen teile, desto glaubwürdiger kommt es an. 5.1.3 Lernen, neu zu denken und entsprechend zu handeln Es geht nicht nur um die Leiter, sondern um eine grössere Gruppe von Menschen, die sich deren Vision anschliessen, ohne ihnen hörig zu sein, weil sie sich als Gesandte des Höchsten verstehen. Wie können wir Menschen, die an einer Subkultur teilhaben, in ihrem Christsein begleiten und unterstützen? Sie sind unsere Missionare, die jeden Tag in einem ungläubigen Umfeld arbeiten, Sport treiben, in die Schule gehen etc. Wenn ich in unserer Gemeinde frage, wie viele Missionare wir haben, werde ich als Antwort ungefähr die Zahl 7 erhalten. So viele Geschwister sind nämlich im Ausland tätig und werden von der Gemeinde finanziell 45 McManus war im Nov 06 von ISTL eingeladen und beantwortet zwei Tage lang Fragen der Studenten. igw diplomarbeit 45 unterstützt. Wir nennen die Christin eine Missionarin, die in einem Spital in Afrika arbeitet, aber diejenige, die in Zürich Kinder pflegt, ist nur eine Krankenschwester. Irgendwie haben wir da ein Durcheinander mit den Begriffen. Ich sehe eine Kirche voller Missionare. Als Gemeinde sollten wir bereit sein, Mittel freizusetzen, damit wir zukünftig auch Inlandmissionare unterstützen können. Normalerweise stellen wir nur Leiter an, damit sie für die Christen sorgen. Wieso nicht Leiter unterstützen, die vorwiegend mit Ungläubigen arbeiten? Zum Beispiel könnte das ein öffentlicher Jugendtreff, ein Café oder eine Beratungsstelle sein. 5.2 Verschiedene Ideenskizzen Nachdem ich die Priorität von Werten vertreten habe, stelle ich kurz vier Ideenskizzen vor, wo und wie neu geformte Jugendarbeit strukturiert sein könnte. 5.2.1 Lebensgemeinschaften Idee: Das Leben wird intensiv miteinander verbracht. Singles bilden geschlechtergetrennte Wohngemeinschaften, verheiratete Paare mieten sich zum Beispiel im selben Block ein oder bauen bzw. kaufen ein Haus zusammen. Begegnungen miteinander finden oft unter der Woche statt, mal bewusst, oft aber auch spontan. Durch gemeinsames Einkaufen, teilen eines Autos etc. können Lebenskosten eingespart werden. Dies ermöglicht es im Einzelfall, weniger als 100% zu arbeiten und somit mehr Zeit für diakonische und missionarische Arbeit zur Verfügung zu haben. Kleingruppen: Da das Leben intensiv miteinander geteilt wird, erhält die Kleingruppe einen anderen Stellenwert. Sie kann zum Beispiel in Form einer Hauskirche funktionieren und den traditionellen Gottesdienst am Sonntag ergänzen oder ersetzen. Kleingruppen mit Neubekehrten werden zum Gefäss für Jüngerschaft. Beziehung zur Region: Regionale Schwerpunkte, die einzelnen Gruppen nicht möglich sind. Gemeinsame Gottesdienste und Freizeitgestaltung, wo Begegnungen mit anderen Christen in erweitertem Kontext möglich wird. Soziales Engagement: Zum Beispiel können Jugendliche, die zu Hause nicht mehr erwünscht sind, aufgenommen werden. Missionarische Tätigkeit: Mission verbindet sich stark mit Diakonie. Jüngerschaft wird wieder vermehrt ausserhalb des Gemeindeprogrammes im Alltag gelebt und erlebt. Links, um von ähnlichen Projekten zu lernen: www.commonlife.ch - Das Schweizer Netzwerk zum Thema mit vielen Infos und Links. www.leuchthaus.ch - Ein Aufruf an Christen, ihr Licht in ihrem Umfeld leuchten zu lassen. igw diplomarbeit 46 www.jesus.org.uk - Internationale Bewegung für gemeinsamen Leben www.kommunitaeten.de - Verzeichnis von Gemeinschaften in Deutschland 5.2.2 Kulturrelevante „Jugendkirche“ Idee: Junge Erwachsene lösen sich relativ stark aus dem Programm der Muttergemeinde heraus und bilden eine „Jugendkirche“, die bewusst auf die Bedürfnisse junger Erwachsener zugeschnitten ist. Kleingruppen: Sie bilden das Fundament der Gemeinde, da in den Kleingruppen intensive Gemeinschaft gelebt werden kann. Es ist auch ein Ort für Jüngerschaft. Beziehung zur Gemeinde: Die Jugendkirche funktioniert selbstständig innerhalb der Muttergemeinde. Ein gemeinsamer Gottesdienst mit allen Generationen einmal im Monat wäre vorstellbar. Im Idealfall muss die Muttergemeinde die Jungen freisetzen, finanziell unterstützen und für die Gemeindegründung senden. Beziehung zur Region: Die Jugendkirche wird sofort starken Zustrom von Christen aus der Region haben, die sich nicht mehr zu einer traditionellen Gemeinde hingezogen fühlen. Es ist auch möglich, dass die Jugendkirche bewusst durch mehrere Jugendgruppen gemeinsam gestartet wird. Soziales Engagement und Missionarische Tätigkeit: Mission muss der Grund und die Kernaufgabe für die neue Gemeinde sein. Man engagiert sich bewusst in öffentlichen Ämtern oder Sportvereinen, um in Kontakt mit Menschen zu kommen. Links, um von ähnlichen Projekten zu lernen: www.godi.ch www.x-stream.org www.ekklesia-movement.ch 5.2.3 Jüngerschaftsbewegung / Hauskirchen Idee: Nicht der perfekte Gottesdienst wird erstrebt, sondern das Zurüsten von Jüngern für’s Reich Gottes. Das Begleiten von Neubekehrten wird zur wichtigsten Aufgabe und nimmt viel Zeit in Anspruch. Einmal im Monat treffen sich alle Hauskirchen für eine gemeinsame Celebration. Kleingruppen: Kleingruppen übernehmen die meisten Aufgaben der Gemeinde und können als Hauskirchen bezeichnet werden. Sie ersetzen zum grossen Teil den traditionellen Gottesdienst. igw diplomarbeit 47 Beziehung zur Gemeinde: Je nachdem, wie stark das Hauskirchenmodell gelebt wird, muss ein Bruch zur Gemeinde geschehen, weil man nicht für alles Zeit hat. Ansonsten soll die Beziehung weiterhin gepflegt werden, da man auch voneinander profitieren will. Beziehung zur Region: Gut vorstellbar, dass sich ein Netz von Hauskirchen in der Region bildet und sich somit automatisch Beziehungen zu anderen Gemeinden und Christen in der Region ergeben. Links, um von ähnlichen Projekten zu lernen: www.gpmc.ch - Jüngerschaftsbewegung in der Region Thun. www.hauskirchen.ch - Informationshomepage rund ums Thema Hauskirche. 5.2.4 Die Summe der Vorschläge: Die Holding Church Reinhold Scharnowski (2007) skizziert in seinem Aufsatz „die Holding Church“ eine Struktur von Gemeinde, möglichst viele und kreative Gemeinde-Formen zu ermöglichen und diese doch unter ein gemeinsames Dach zu bringen. Im folgenden eine kurze Zusammenfassung seiner Überlegungen: Eine Holding ist eine Gesellschaft ohne eigenen Produktionsbetrieb, die über Aktienbesitz an vielen Unternehmen beteiligt ist und für die effiziente Führung und den wirtschaftlichen Erfolg dieser Unternehmen verantwortlich ist. Die rechtliche Selbständigkeit bleibt den eingegliederten Unternehmen dabei erhalten. Auf die Gemeinde bezogen wäre das also ein Netzwerk von (eigenständigen) Gemeinden und Werken, die alle in ihren Stärken und in ihrem Bereich arbeiten, sich aber zu einer gemeinsamen Leitung zusammenschliessen. Es entsteht ein Netzwerk von Hauskirchen, traditionellen Gemeinden, Jugendkirchen, Missionswerken etc. zum gegenseitigen Nutzen. Damit dieses Netzwerk funktioniert, wird ein gemeinsames Wertesystem und eine Vision definiert. Eine gemeinsame Leiterschaft dient allen, ohne zu kontrollieren. Ein gemeinsamer Name kann Identität nach innen und aussen vermitteln. In regelmässigen Abständen wird eine Celebration gefeiert. Synergien werden nach Möglichkeit erzeugt, z.B. in gemeinsamen Schulungen, fünffacher Dienst, Gabeneinsatz etc. Anmerkung: Für uns junge Erwachsene könnte die Holding Church eine interessante Form sein, weil wir dies eigentlich bereits jetzt schon praktizieren. Regional machen wir regelmässig Schulungen, Veranstaltungen und Lager mit anderen Gemeinden zusammen. Mehrheitlich sind diese Angebote noch für das Alter von Jugendlichen. Was uns fehlt, ist eine gemeinsame Leitung und eine echte Verpflichtung der einzelnen Gemeinden, sich in einer Art Church-Holding zusammenzuschliessen. igw diplomarbeit 48 5.3 Ein Plan für die Zukunft 1. Persönliche Auseinandersetzung mit der Thematik und Problematik Bevor wir irgendetwas Neues anpacken, sollten sich junge und ältere Leiter unserer Gemeinde mit den Fragestellungen dieser Diplomarbeit beschäftigen. Es muss zu einer echten Auseinandersetzung mit den angesprochenen Themen kommen. Für manche bedeutet dies einen radikalen Paradigmenwechsel. Grundsätzlichste Fragen wie: Wieso existiert unsere Kirche bzw. unsere Gemeinschaft? müssen geklärt werden. 2. Werte definieren und vermitteln, die eine neue Kultur schaffen Innerhalb der Jugendarbeit werden Werte definiert, die die zukünftige Kultur unserer Gemeinschaft prägen. Die vorgeschlagenen Werte unter Punkt 5.1.1 können als Grundlage dafür dienen. Damit Werte eine neue Kultur schaffen, müssen sie vermittelt und gelebt werden. Die entstehende Kultur ist der Boden, aus dem Kreativität und Innovation herauswächst. Neue Strukturen und Programme müssen durch die einzigartigen Begabungen der Mitarbeiter bestimmt sein. 3. Leiter finden, fördern und vernetzen Wir investieren uns bewusst in die Querschläger und Innovatoren mit dem Ziel, sie als zukünftige Leiter im Reich Gottes zu sehen. Wir teilen unser Leben gezielt mit anderen und leben ein authentischen Christsein vor. Wir vernetzen Menschen mit ähnlichen Ideen, damit sie gemeinsam am Reich Gottes bauen können. 4. Neue Gefässe entstehen lassen Wir suchen danach, Gefässe zu schaffen, deren Teilmenge ein gesunder Ausgleich zwischen Kultur, Kirche und Evangelium ist. Dies kann innerhalb und ausserhalb der Ortsgemeinde sein, als einzelne Gruppe oder auch mit anderen Gemeinden zusammen. Wie diese Gefässe aussehen, bleibt abhängig von den Menschen, die sie aufbauen und dem Ziel, das sie verfolgen. Kirchliche Strukturen werden durch die Mission geformt (Herbst 2006: 19). 5.3.1 Vorgehensweise in der Bildung einer regionalen Jugendarbeit Auf das Bedürfnis hin, dem Mangel eine Antwort zu geben – „Was uns fehlt, ist eine echte Verpflichtung der einzelnen Gemeinden, sich in einer Art Church-Holding zusammenzuschliessen“ (5.2.4) – erstelle ich hier einen kurzen 12-Schritte-Vorschlag, wie eine regionale, von verschiedenen Gemeinden verantwortete Jugendarbeit, gebildet werden könnte: igw diplomarbeit 49 1. Verantwortungsträger informieren Damit keine Missverständnisse entstehen, müssen die Gemeinden bestmöglich informiert und für die Idee einer „gemeinsamen“ Jugendarbeit sensibilisiert werden. 2. Jugendleiter an einen Tisch holen Persönliches Kennenlernen der verantwortlichen Jugendleiter ist notwendig, damit ein gegenseitiges Vertrauen entstehen kann. Die Chancen und Gefahren einer zukünftigen Zusammenarbeit werden besprochen. 3. Identifikation mit dem Vorhaben Entscheidend ist, dass sich die Leiter mit dem Vorhaben identifizieren und die vorhandene Vision zu ihrer eigenen machen. Daraus kann eine gemeinsame Vision entstehen. 4. Echte Verpflichtung der Gemeinden Damit eine Zusammenarbeit funktioniert und effizient getan werden kann, braucht es eine echte Verpflichtung jeder Gemeinde. Diese kann schriftlich getätigt werden. Allenfalls ist auch eine finanzielle Verpflichtung nötig. 5. Gemeinsame Leitung bestimmen Für die Koordination der Zusammenarbeit wird eine Leitung bestimmt. Die genauen Kompetenzen dieser Leitung müssen gemeinsam geregelt und festgehalten werden. 6. Bereiche und Ziele der Zusammenarbeit definieren Nicht in allen Bereichen ist eine Zusammenarbeit sinnvoll. Wo die lokale Arbeit durch die regionale Zusammenarbeit nicht gefördert wird, sollte diese auch nicht geschehen. Zudem müssen die Ziele klar definiert und formuliert werden, damit der Erfolg der Arbeit überprüft werden kann. 7. „Organische“ Strukturen festlegen Um einer Institutionalisierung vorzubeugen, werden möglichst schlanke Strukturen festgelegt. Sie dienen der bestmöglichen Zusammenarbeit mit einem Minimum an administrativem Aufwand. Organisch bedeutet, dass sie jederzeit anpassungsfähig sind. 8. Termine aufeinander abstimmen und miteinander planen Damit eine Zusammenarbeit klappt, müssen die gemeinsamen Termine so weit wie möglich im Voraus festgelegt werden. Ein „Regio-Kalender“ bietet den lokalen Gruppen die Grundlage für die eigene Planung. 9. Leitertreffen / Leitertraining Um die gemeinsame Vision zu entwickeln und zu nähren, sind weitere Gesamttreffen der Jugendleiter und Verantwortungsträger notwendig. igw diplomarbeit 50 Ergänzend dazu kann ein Leitertraining bereichernd sein, welches auf die Bedürfnisse abgestimmt ist. 10. Kursänderungen einberechnen und tätigen Im Verlaufe des Prozesses muss die Bereitschaft bewahrt bleiben, Änderungen durchzuführen. Diese werden nach genauer Evaluation und Absprache dann auch getätigt. 11. Ziele und Erfolg überprüfen Um die „regionale Jugendarbeit“ zu rechtfertigen, muss ein Nutzen und ein daraus resultierender „Erfolg“ für die lokalen Arbeiten sichtbar werden. Ziele müssen laufend überprüft und neu gesetzt werden. 12. Ausdauer und Willen zeigen Die wenigsten Dinge entstehen einfach so über Nacht. Wille und Ausdauer, die Idee voranzutreiben und umzusetzen, sind entscheidend für den Erfolg. Rückschläge wird es allemal geben. Wie kann ich Wege sichern, damit die regionale Jugendarbeit auch ohne mich entsteht? Jedes Projekt, das zu stark von der initiierenden Person lebt, bleibt von dieser abhängig. Reich Gottes soll aber in erster Linie nicht auf Menschen, sondern auf Jesus Christus, der das Fundament ist, gebaut werden. Wir müssen bei allem Tun auf Gott vertrauen, dass er die Jugendarbeit entstehen lässt. Meine Aufgabe wird sein, Schlüsselpersonen ausfindig zu machen und miteinander zu vernetzen. Die Vision für eine gemeinsame Jugendarbeit muss zuerst in den Herzen der Leiter entbrennen. Multiplikation meiner Ideen und Gedanken sichern deren Umsetzung. Aber nochmals: Es geht darum, nach Gottes Willen zu fragen. Gott wird die Bestätigung für ein Projekt mehreren Personen geben. Ich kann helfen, Orte zu schaffen, wo darüber ausgetauscht werden kann. igw diplomarbeit 51 5.4 Schlussfolgerungen Grundsätzliche Beobachtungen Die Spannung zwischen Einheit und missionarischem Handeln Die Bibel fordert die Gläubigen auf, miteinander verbunden zu sein und Gott gemeinsam anzubeten (z.B. Ps 148,12). Gleichzeitig sollen wir einer von Vielfalt geprägten Konsumgesellschaft Jesus verkündigen. Dies erzeugt eine Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Verheissung und Einheit des Volkes Gottes und pragmatischen, der gesellschaftlichen Wirklichkeit angepassten Konzepten, zwischen mutigem Erneuern und halbherzigen Vorschlägen. Dem Versuch, beiden Seiten gerecht zu werden, folgen Trennungen und Zielgruppenkirchen. Die Spannung zwischen bewahren und erneuern Viele Gemeinden verstehen die Jugendarbeit als Spielplatz, auf dem sich die „jungen Wilden“ kontrolliert austoben können, bis sie sich dann schliesslich beruhigt haben und sich artig in die Hauptgemeinde integrieren lassen. Bei der Integration ist dann aber oft nicht der Generationenkonflikt die entscheidende Grenze, die man überschreiten muss, sondern die grundlegende Änderung der Kultur. In der Kirche darf es nicht wie in der Welt sein, wo sich Jung und Alt nicht begegnen können. Jugendarbeit sollte aber nicht darauf abzielen, junge Menschen in eine Kirchenkultur hinein zu ziehen, die ihnen fremd ist, sondern es ist eine Verpflichtung zu neuen Formen der Kirche für eine neue kulturelle Ära. Daraus resultiert, dass neue Gefässe innerhalb der Gemeinde und neue Gemeinden aus der Gemeinde heraus entstehen dürfen. Unterschiedliche Gefässe bedeuten noch nicht Spaltung. Die Spannung zwischen Erwartung und Umsetzung Viele Jugendliche sind unzufrieden mit der Situation in der Gemeinde, schreien nach Veränderung oder laufen davon. Viele haben nicht den Mut, Verantwortung zu übernehmen und selber Veränderung einzuleiten, womöglich aus Angst, zu versagen, oder aus fehlender Unterstützung von Eltern und Gemeindeleitern. Zusammenfassende Antworten auf meine Fragestellungen Wo entsteht Gemeinde und was ist ihre Aufgabe? Die Gemeinde wird nicht über den Gottesdienst am Sonntagmorgen definiert. Daher ist es auch nicht ihre Aufgabe, ein Programm zu bieten, wo sich ihre Mitglieder allesamt wohl fühlen. Vielmehr formen sich die Versammlungen und Strukturen durch eine gemeinsame Mission, zu der jeder Christ berufen ist. Die Gemeinde befindet sich in einem fortwährenden igw diplomarbeit 52 Prozess der Entwicklung und muss lernen, wie sie das Evangelium in Kulturen übersetzen und hineintragen kann, in deren Umfeld sie steht. Worin liegt die Chance der Jugend, die anders Gemeinde baut als die Generationen zuvor? Die Jugend wird Menschen in verschiedenen Kulturen und Subkulturen unserer Gesellschaft von Jesus erzählen können, die von einer traditionellen Gemeinde nicht erreicht, vielleicht nicht einmal als existent erkannt werden. Die Inkulturation des Evangeliums kann durch relevante Verkündigung geschehen. Dabei spielt die Dynamik der jungen Menschen eine entscheidende Rolle, weil die Fähigkeit zur Entwicklung und Freisetzung grosser Kräfte in diesem Lebensabschnitt am stärksten ist. Ein Grundproblem moderner Gemeindesituation ist die immer stärker werdende Zersplitterung unserer Gesellschaft. Wo und in welcher Weise kann hier ein gesunder Weg zwischen Abkapselung einer Gemeindeform und einer Zielgruppengemeinde gefunden werden? Unter dem gemeinsamen Dach einer Gemeinde, vielleicht sogar einer „Holding Church“, existieren viele kleine Gruppen, die in unsere zersplitterte Gesellschaft hineinwirken. Einheit definiert sich über den gemeinsamen Auftrag, die Liebe Gottes den Menschen zu bringen. Einander zugewandte Herzen überbrücken Generationen und festigen die Gemeinde. Echte Gemeinschaft muss aus dem Bedürfnis heraus entstehen, wirklich voneinander profitieren zu wollen. Aus dem Bewusstsein heraus, einer postchristlichen Gesellschaft den Glauben neu und relevant zu verkündigen, darf Neues entstehen. Wenn Jesus und seine Mission wieder das Zentrum unserer Existenz als Gemeinde bilden, schliessen manche Kampfplätze ihre Tore. Wie könnte Jugendarbeit und junge Erwachsenenarbeit in einer traditionellen Gemeinde aussehen? Die Jugendarbeit wird nicht durch ein vorgegebenes Programm, sondern durch die einzigartigen Begabungen der jungen Menschen geformt, die sich von Gott rufen lassen. Im richtigen Umfeld entdecken sie die in ihr verborgene Kreativität und beginnen, diese zu entfalten. Wenn nicht destruktive Strukturen und Traditionen vorhanden sind, die Neues im Keim ersticken lassen, wird die Jugendarbeit einer traditionellen Gemeinde einem Pilzgeflecht gleichen, das im Verborgenen wächst und überall Fruchtkörper hervorbringt. Durch eine Vernetzung der Jungen in der Region entsteht ein Synergismus. Speziell für kleine Gemeinden ist es entscheidend, dass Jugendliche sich in einem grösseren Rahmen treffen und vernetzen können. igw diplomarbeit 53 Schlussthesen Eine kulturell „angepasste“ Kirche will Menschen erreichen, eine traditionelle Kirche versucht, die Gläubigen zu behalten. Das Problem bei traditionellen Gemeinden ist oft nicht der Stil, sondern die ungesunde Kultur, die keine Kreativität, Erfindungskraft und Innovation zulässt. Deshalb sind die dringend gebrauchten Leute („natürliche“ Leiter, Querdenker und Innovatoren) die Letzten, die sich einer traditionellen Gemeinde anschliessen. Es sind oft nicht „die Alten“, sondern die Feigheit der Jugend, dass nichts neues entsteht. „Der Versuch relevant zu sein kann zum Synkretismus führen und umgekehrt kann die Angst vor dem Synkretismus dazu verleiten, irrelevant zu bleiben“ (Lesslie Newbigin). Mit der richtigen Sicht könnte sich unter dem Dach einer traditionellen Gemeinde ein ICF, Missionswerk und Orgelgottesdienst wunderbar ergänzen. Persönliche Umsetzung Die intensive Auseinandersetzung mit der Frage, wie Jugendliche in einer „alten“ Kirche weitergehen können, hat mich zu einem anderen Ziel geführt, als ich dies am Anfang vielleicht gedacht hatte. Ich wünschte mir wohl, am Ende dieser Arbeit ein perfektes Konzept in den Händen zu halten, das im Detail die Zukunft unserer Arbeit in der Gemeinde beschreiben würde. Keine Frage, ich hätte genaue Pläne erarbeiten können, stellte aber bald fest, dass dies am Wesen der Gemeinde vorbeischiessen würde. Wenn ich unserer Gruppe einen fertigen Plan präsentiere, beraube ich Menschen ihrer Kreativität und binde sie zurück, anstatt ein Umfeld zu schaffen, woraus die Zukunft entstehen kann. Als Machertyp fällt es mir schwer, nochmals zurückzugehen und ganz vorne zu beginnen. Ich dachte, wir hätten längst unsere Werte definiert gehabt, stelle jetzt aber fest, dass diese zu schwammig und zu wenig präsent sind. Also musste ich selber zuerst diesen Prozess durchlaufen, wo ich neu entdeckt habe, wieso wir als Gruppe überhaupt existieren und was unsere Aufgabe ist. Ich musste entdecken, dass es nicht so sehr auf die Strukturen ankommt als viel mehr darauf, wer wir sind und was wir verkörpern, welche Werte wir vertreten. Ich entdeckte, wie kostbar es ist, wenn Generationen zusammen in der Gemeinde sind, dies jedoch nicht das eigentliche Ziel ist. Unsere Aufgabe als Gemeinde ist es nicht, andere ins fromme Boot zu fischen und in unser Ebenbild zu verwandeln, sondern vielmehr, sie in ihrer Kultur auszusetzen und zu begleiten, damit sie in ihrem Umfeld ein Ebenbild von Jesus sind. Die Arbeit hat mich gedemütigt, weil ich erkannte, wie rasch wir Jungen nach Veränderung schreien und dabei nicht bereit sind, Opfer zu bringen. Wir wagten es bisher kaum, wirklich igw diplomarbeit 54 neue Wege zu gehen, womöglich aus Angst vor dem Unbekannten. Hoffentlich kann sich das durch diese Arbeit ändern. Träumen möchte ich jedenfalls davon. Und nun, wo stehen wir jetzt? Ich meine, wir befinden uns immer noch zwischen Kirchenbank und Bettsofa. Wir sind immer noch Teil dieser alten, traditionellen Gemeinde, und das ist gut so. Unser Denken hingegen wurde erneuert. Wir dürfen weitergehen und uns verändern, uns ausstrecken nach dem, was Gott für uns bereithält. Niemand wird uns daran hindern. Unsere Prägung mag im Alten wurzeln, aber die Ernte liegt im Neuen. Wir nehmen die Erinnerungen mit und lassen die Gegenstände mit Nostalgiewert zurück. Die Reise hat erst begonnen. Zum Abschluss lasse ich den Mann zu Wort kommen, der mich mit seinen Aussagen während dem Schreiben der letzten Kapitel am stärksten aufgewühlt, nachdenkend und zugleich träumend gemacht hat: „Eine Bewegung beginnt. Der Tradition trotzen. Befremdlich heilig und doch ein wenig entheiligend. Ohne Titel oder Privilegien. Revolutionär. Aus dem Verborgenen in die Geschichte. Eine Bewegung beginnt. Gegen alle Erwartungen. Ehrfurcht vor dem Bestehenden mit Relevanz verbinden. Unaufhaltsam. Alles hinterfragen und Gott allein verantwortlich“. Erwin Rafael McManus (2005: 19) igw diplomarbeit 55 6 BIBLIOGRAPHIE Literatur Blumhardt, Christoph 1992. Damit Gott kommt. Gedanken aus dem Reich Gottes. Basel. Giessen Verlag. Bonhoeffer, Dietrich 1981. Ethik. Zusammengestellt und herausgegeben von Eberhart Bethge. 9. Auflage. München. Chr. Kaiser Verlag. Bonhoeffer, Dietrich 1960. Gesammelte Schriften. Band 3. München. Chr. Kaiser Verlag. Brühlmeier, Markus 2004. Steinmaur im 20. Jahrhundert. Gemeindeverwaltung Steinmaur. Carson, Donald Arthur 2005. Becoming Conversant with the Emerging Church. Grand Rapids. Zondervan. Castells, Manuel 2001. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Leverkusen. Leske und Budrich Verlag. Cole, Neil 2005. 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IGW hat die grosse europäische Bildungsreform zum Anlass genommen, sein Ausbildungskonzept grundsätzlich zu überarbeiten und sich, so Co-Rektor Michael Girgis, «noch einmal neu zu erfinden.» Zum Start des Studienjahres im September 07 wurden daher teilweise tiefgreifende Neuerungen lanciert. So orientiert sich das Bachelor-Programm (BA), das Männer und Frauen in 4 Jahren für ihren Dienst in Gemeinden oder christlichen Werken ausbildet, neu an drei «Lernfeldern»: Theorie, Praxis und Praxisbegleitung. Theorie deckt ab, was man gemeinhin unter schulischer Aus- bildung versteht: Hier wird auf allen Gebieten der Theologie das für den Dienst notwendige Fachwissen vermittelt. Die Michael Praxis, bei IGW Girgis immer schon ein wichtiges Ausbildungselement, wird noch stärker in den Studiengang eingebunden, so dass im praktischen Dienst erworbene Kompetenzen dem Studium nun angerechnet werden können. Im Bereich Praxisbegleitung schliesslich werden in neu entwickelten Kursmodulen die grossen Ausbildungsthemen Persönlichkeitsentwicklung und Jüngerschaft über die gesamten 4 Jahre des Studiums vertieft. Ausführliche Informationen zur grossen Studienreform finden Sie auf www.igw.edu ➝ Ausbildung ➝ Studienreform 2010. Cla Gleiser, Studienleiter IGW Neue Fachrichtung bei IGW Studiengang Missionale Theologie Der Ruf nach qualifizierten und missionarischen Fachkräften in Werken, Gemeindeverbänden und Missionsgesellschaften wird immer lauter. Spürbar ist vor allem der Mangel an klassischen Evangelisten. Für den Dienst an Bevölkerungsgruppen aus orientalischen bzw. überseeischen Ländern werden auch Inlandmissionare gesucht. Gerade die Ausbildung zum Missionsdienst unter Moslems wird zunehmend an Wichtigkeit gewinnen. IGW stellt sich diesen neuen Herausforderungen und rüstet Menschen zum Dienst aus – nicht nur für die bisherigen klassischen Missionsländern, sondern gerade auch für das europäische Umfeld. Aus diesem Grund erweitert IGW sein Angebot an Fachrichtungen auf BA-Niveau: Neben Theologie (Schwerpunkt systematische Illustration: www.gleiser.ch und biblische Fächer), praktischer Theologie, Missiologie und Sozialdiakonie steht IGWStudenten ab September 2008 ein Studiengang in missionaler Theologie offen. Die neue Fachrichtung hat folgende Schwerpunkte: 1. Evangelisation im nachchristlichen Europa Seit einigen Jahren fehlen zunehmend Evangelisten für Gemeinden und spezielle übergemeindliche Anlässe. Wir sind überzeugt, dass dieser Dienst für die Zukunft wieder verstärkt gefragt sein wird. IGW wird sich vermehrt für die Gewinnung und Ausbildung von Menschen einsetzen, die in diesem Dienst ihre Zukunft sehen. 2. Gemeindegründung und Gemeindebau Europa ist zum klassischen Missionskontinent geworden. Damit gewinnt die Thematik «Mission» Relevanz für Gemeindebau und Evangelisation in unserer Gesellschaft. Die Ausbildung bei IGW vermittelt zuHelmut künftigen PionieKuhn ren und Gemeindegründern in diesen Bereichen Fachkompetenz und Perspektive. 3. Transkulturelle Mission Mission findet vor unserer eigenen Haustüre statt. Religionen und Weltanschauungen aus verschiedenen Kulturen prägen unsere Gesellschaft. Gerade der Dienst unter Moslems wird an Wichtigkeit zunehmen. IGW wird Studierende befähigen, das Evangelium in einer multikulturellen Gesellschaft weiterzugeben. Dabei sucht das Institut bewusst die Zusammenarbeit mit evangelistisch und missionarisch tätigen Partnern. Helmut Kuhn, Direktor EE Studiengang Bachelor of Arts (BA) Ziel: vollzeitlicher Dienst in Gemeinde oder Mission Voraussetzung: abgeschlossene Berufslehre Dauer: 4 Jahre (180 Credits) Studiengang Master of Theology (BTh-MTh) Ziel: vollzeitlicher Dienst in Gemeinde oder Mission Voraussetzung: Matura/Abitur Dauer: 5 Jahre (300 Credits) Studiengang igw.network Ziel: ehrenamtliche Mitarbeit in der Gemeinde Voraussetzung: abgeschlossene Berufslehre Dauer: 1 Jahr (30 Credits) mit Anschlussmöglichkeit an BA oder BTh-MTh www.igw.edu PUBLIREPORTAGE 10 ideaSchweiz l 14/2008 Kirche und Sozialarbeit Virtuelle Sozialdiakonie? «Wenn die Kirchen mehr leben würden, was sie predigen, dann würden Leute wie ich auch wieder hinkommen.» In den Kirchen wird zwar viel unternommen, um dieser Kritik zu begegnen. Aber für den grossen Teil der Gesellschaft ist die gute Nachricht von Jesus Christus, wie sie von der Kirche verkündet wird, zu wenig greifbar. Gleichzeitig gibt es immer mehr Menschen, die am Rande stehen und durch die Maschen des Sozialstaates fallen. Die verschiedenen Sozialwerke sind angesichts zunehmender Not und abnehmender Mittel nicht mehr in der Lage, genügend Hilfe zu leisten. Menschen in unserem Land erhalten zwar finanzielle Unterstützung, sind aber trotzdem einsam, überfordert, haben keine sinnvolle Beschäftigung und können auch grundlegende Herausforderungen des Lebens nicht mehr alleine beOlivier wältigen. Enderli Die Erkenntnis wächst, dass die Kirchen ihre gesellschaftliche Verantwortung neu wahrnehmen müssen. Hans-Peter Lang, Gründer und Leiter der Aargauer Stiftung Wendepunkt, moniert, dass wir «die christlichen Werte Wahrheit und Fürsorge – Grundlage des christlichen Abendlandes – verlassen haben. Die Kirche verkündet zwar gesellschaftlich relevante Sozialdiakonie, aber diese bleibt ein rein virtuelles Angebot. Wir Christen haben unsere Glaubwürdigkeit verloren und zer- stören so das uns anvertraute Evangelium, weil wir die Botschaft der Liebe und Gnade nicht leben.» Die drei Ur-Aufträge, die den Zweck der Kirche ausmachen, wollen wieder gemeinsam wahrgenommen werden: Bezeugung des Evangeliums (Martyria), die Anbetung Gottes (Liturgia) und schliesslich der praktische Dienst am Menschen (Diakonia). Daraus wächst eine ganzheitlich aktive, lebendige Gemeinde, wo der Dienst am Menschen durch die Menschen in den Kirchen geschieht und nicht nur an kirchliche Sozialwerke delegiert wird. Mit diesem Bild vor Augen brechen Gemeinden auf zu einem neuen Abenteuer von Kirche, die lebt, was sie predigt. olivier Enderli, Projektleiter FSSM IGW und FSSM: eine «sehr wichtige» Partnerschaft Die Herausforderung packen Eine Kirche, die ihr sozialdiakonisches Engagement aufbauen will, sieht sich mit Herausforderungen konfrontiert, denen vor dem Hintergrund einer rein theologischen Ausbildung schwer zu begegnen ist. Häufig fehlen Wissen und Erfahrung für den Aufbau von Behördenkontakten und die Erarbeitung von Betreuungskonzepten. Projekte müssen geplant, Märkte analysiert, Businesspläne entwickelt und Finanzen beschafft werden. Die Ausbildungspartner Fachschule für Sozialmanagement (FSSM) und IGW haben sich das Ziel gesetzt, Menschen für diesen Dienst grundlegend und praxistauglich auszubilden. «Für mich ist die Zusammenarbeit von IGW und FSSM sehr wichtig. In meiner Ausbildung am IGW bekam ich die Grundlage, welche Sicht Gott von den Menschen hat, wie Gemeinde sein soll und wie wichtig Ge- meindearbeit ist. Durch die Kurse an der Fachschule für Sozialmanagement erkannte ich, wie die praktische Ruedi Eggenberger Umsetzung der Theologie bei Menschen ausserhalb der Gemeinden aussehen kann. In dieser Kombination kommen Worte und Taten in ein Gleichgewicht, das mein Denken und Handeln befruchtet. Ich will für mich als Jugendarbeiter verstehen, wie ich meine Arbeit effizienter und gesellschaftsrelevanter gestalten kann. Denn ich bin überzeugt: Mit Worten allein verändert man keine Gesellschaft – aber mit aufopfernder Liebe und Hingabe, wie das Beispiel von William Booth, Gründer der Heilsarmee zeigt. Oder auf mich als Vater bezogen: Was bedeutet meinem Kind mehr? Wenn ich ihm sage, dass ich es liebe oder wenn ich es einfach in den Arm nehme?» Ruedi Eggenberger, Jugendarbeiter der Evangelischen Kirchgemeinde Niederuzwil, ist Absolvent des BA-Studienganges in der Fachrichtung Sozialdiakonie, die IGW im Jahr 2006 in Zusammenarbeit mit der Fachschule für Sozialmanagement lanciert hat. Cla Gleiser, Studienleiter IGW Beispiele aus der Praxis • Chrischona Frauenfeld, Stiftung Wetterbaum, www.wetterbaum.ch • Heilsarmee Huttwil, Beschäftigungsprogramm Leuchtturm, www.projekt-leuchtturm.ch • GvC Winterthur, Stiftung Quellenhof, www.qhs.ch • Vineyard Bern, DaN, www.vineyard-dan.ch • ICF Zürich, Stiftung ACTS, www.icf.ch/acts.html • EMK Zürich 4, NetZ4, www.netz4.ch IGW bietet mit seinem gemeindeintegrierten und praxisorientierten Modell seit über 15 Jahren neue Ansätze in der theologischen Ausbildung. Der Schwerpunkt der neuen Fachrichtung Sozialdiakonie besteht im Verständnis des Zusammenspiels von Sozialarbeit, Management und Theologie. Studierende im Bachelor-Programm absolvieren das Grundstudium (2 Jahre) komplett bei IGW, bevor sie im Aufbaustudium (3. und 4. Jahr) Kurse im Bereich Sozialdiakonie bei der Fachschule für Sozialmanagement besuchen und ein dreimonatiges Praktikum in einem christlichen Sozialwerk absolvieren. Alternativ besteht die Möglichkeit, die zweijährige, berufsbegleitende Weiterbildung zum „Sozialmanager“ an der Fachschule für Sozialmanagement zu besuchen. Auch auf diesem Weg ist es möglich, nachträglich über IGW einen Abschluss auf Bachelor-Stufe nachzuholen. Die Fachschule für Sozialmanagement bietet eine Weiterbildung für Menschen an, die sich im diakonischen und sozialen Bereich engagieren, Projekte realisieren oder Führungsverantwortung übernehmen wollen. Das modular aufgebaute Kursangebot umfasst die Fachbereiche Management, Sozialarbeit und Theologie. Es wird mit einem Praxiseinsatz abgerundet. Auch der Besuch einzelner Kurse als Gasthörer ist möglich. Gegründet wurde die Schule im Jahr 2004 von der Stiftung Wendepunkt. www.igw.edu www.sozialmanager.ch