Die Passionsmusik Via Crucis von Franz Liszt Eine
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Die Passionsmusik Via Crucis von Franz Liszt Eine
Die Passionsmusik Via Crucis von Franz Liszt Eine spiritualitätsgeschichtliche Studie Peter Hofmann Master-Thesis zur Erreichung des akademischen Grades Master of Advanced Studies in Theology of Spirituality Betreuer PD Dr. Simon Peng-Keller Ennenda (Glarus), Januar 2014 Titelbild: Albrecht Dürer (1471-1528): Schmerzensmann mit gehobenen Händen. Franz Liszt hatte sich für die Herausgabe der Via Crucis vom Verleger einen Holzschnitt von Dürer als Titel-Illustration gewünscht (vgl. Kap. IV.1.). 2 Lasst in eurer Mitte Psalmen ertönen, Hymnen und geistliche Lieder, singt und musiziert dem Herrn aus vollem Herzen. Brief an die Epheser (5,19) Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum unter euch: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit, singt Gott, von der Gnade erfüllt, in euren Herzen Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder! Brief an die Kolosser (3,16) 3 4 Inhaltsverzeichnis Vorwort 7 I. Musik und Spiritualität im kirchlichen Kontext 9 1. Musik und Spiritualität - Ein vielschichtiges Verhältnis 9 2. Musik in Bibel und Kirche 10 3. Passionsmusik in den Konfessionen 11 4. Passion bei Franz Liszt 14 II. Zugänge 1. Franz Liszts Wege im Leben 16 1.1 Der Roman eines Lebens 17 1.2 Geburt 18 1.3 Entwicklung zum Wunderkind 18 1.4 Pariser Jugendjahre 19 1.5 Lebenskrise 21 1.6 Wichtige Kontakte 22 1.7 Wanderjahre mit Marie d’Agoult 23 1.8 Kapellmeister in Weimar und Carolyne von Sayn-Wittgenstein 24 1.9 Rom und letzte Lebensphase 24 2. Liszts Kompositionen 27 2.1 Weimarer Zeit 29 2.2 Rückblende 30 2.3 Wieder Weimar 32 2.4 Legende von der heiligen Elisabeth 33 2.5 Christus 36 2.6 Zusammenfassung und Ausblick 37 3. Die Kreuzwegandacht: Geschichte, Spiritualität, Musik 39 3.1 Kreuzwegbrauchtum im Überblick 39 3.2 Der Kreuzweg in der Bibel 40 3.3 Der Kreuzweg in den Anfängen christlicher Liturgie 42 3.4 Antike Passionsliturgie 42 5 3.5 Das wahre Kreuz Christi 44 3.6 Zisterziensische Spiritualität der Passion Christi 46 3.7 Franziskanische Weiterführung der Passionsmystik 48 3.8 Leonardo de Porto Maurizio (1675-1751) 49 3.9 Der Kreuzweg in Rom zur Zeit Franz Liszts (Ende 19. Jh.) 51 3.10 Musik zur Kreuzwegandacht in Italien bis und mit Liszt 52 III. Die Passionsmusik Via Crucis 1. Einleitung 55 1.1 Entstehung 55 1.2 Aufbau 57 1.3 Mitfühlende Kreuzwegmeditation 58 2. Einzelkommentare 2.1 O Crux, ave (Einleitungschor) 60 2.2 Innocens ego sum (Station I) 64 2.3 Ave Crux (Station II) 66 2.4 Stabat mater dolorosa (Stationen III, VII, IX) 70 2.5 O Haupt voll Blut und Wunden (Station VI) 76 2.6 O Traurigkeit, o Herzeleid (Station XII) 83 2.7 Ave Crux, spes unica (Station XIV) 88 IV. Schlussteil 1. Rezeptionsgeschichte 92 2. Zusammenfassung 93 3. Abkürzungen, Literaturliste, Abbildungsnachweis 96 5. Ehrenwörtliche Erklärung 100 6 Vorwort Wie die christliche Gemeinde nie ohne Lieder existierte, wie ihre ersten Lebensäusserungen Cantica und Hymnen gewesen sind (vgl. Eph 5,13; Kol 3,16), kam mein Bezug zur Kirche in erster Linie über die Musik. Das Singen von Liedern aus Schemellis Musicalischem Gesangbuch von J. S. Bach hat mich ebenso geprägt wie das Hören von Oratorien und das Mitsingen in Chören. Noch heute fällt es mir leicht, durch Musik etwas von der göttlichen Dimension unseres Lebens zu erahnen. Dieses Berührtwerden erfreut mich ebenso, wie wenn ich beim Hören einer Predigt oder der Lektüre eines spirituellen Klassikers von einer tieferen Wahrheit erfasst werde, auf die ich selber nicht gekommen wäre. So ist es naheliegend, meine MAS-Arbeit einem Thema aus dem Bereich der Kirchenmusik beziehungsweise der Liturgik zu widmen. Dass meine Wahl auf das Werk des Klaviervirtuosen und Komponisten Franz Liszt fällt, liegt darin begründet, dass mir seine als Kreuzwegandacht angelegte Via Crucis mit den dort vertonten lateinischen Hymnen seit mehr als zwanzig Jahren bekannt ist. 1992 befand ich mich im Theologiestudium, als ich von einem befreundeten Musiker die Anfrage erhielt, ein Konzept zu verfassen für eine Aufführung dieser Via Crucis in der Katholischen Kirche St. Peter und Paul (Zürich). Der genaue Auftrag lautete, durch einfache paraliturgische Elemente dem Konzertpublikum das Verständnis der alten lateinischen Texte zu erleichtern und darüber hinaus einen gottesdienstlichen Rahmen für die Aufführung zu schaffen. Der Kreuzweg Jesu als Meditation von 14 Stationen war mir, einem in der Tradition der reformierten Kirche des Zwinglikantons aufgewachsenen Christen, allerdings bis dahin nicht geläufig. Durch die Bekanntschaft mit einer in meiner angestammten Liturgietradition nicht vorkommenden Form eines Karfreitagsgedächtnisses (vgl. KG 408; 409) wurde mir damals eine Dimension erschlossen, die es sich heute, nach der zwischenzeitlichen Beschäftigung mit Wegen der Compassio im Rahmen des MASLehrgangs Christliche Spiritualität (2011-2013), lohnt, nochmals genauer angeschaut zu werden. Ennenda (Glarus), 23. Januar 2014 Peter Hofmann 7 8 I. Einleitung: Musik und Spiritualität im kirchlichen Kontext 1. Musik und Spiritualität - Ein vielschichtiges Verhältnis Augustinus wird die Sentenz zugeschrieben: „Einmal gesungen ist zweimal gebetet“. Damit kommt zum Ausdruck, dass Singen eine besonders intensive Form des Betens ist. Wer mit Kindern beim Zubettgehen religiöse Lieder singt, merkt, wie dabei andere Sphären wirksam werden. Ähnliches erleben Sängerinnen und Sänger in Kirchenchören: Wie neuere Untersuchungen bestätigen, zeitigt Singen nicht nur positive physiologische Wirkungen, sondern wirkt auch für die Seele klärend.1 Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie tief religiöse Lieder der christlichen Kultur auch heute berühren, so brauchen wir nur an Weihnachtslieder zu denken, die schnell Erinnerungen an glückliche Momente der Kindheit wecken. Und dies selbst bei Menschen, die mit der Kirche und ihrer Überlieferung nichts mehr am Hut haben. Ganz zu schweigen von alten Menschen, die feuchte Augen bekommen, wenn sie von ihren Erinnerungen erzählen, die ihnen beim Anstimmen solcher Lieder aus der Kindheit kommen. Auch andere intensive emotionale wie spirituelle Momente werden von gemeinsamem Singen religiöser Lieder begleitet und wesentlich mitgetragen: An Hochzeiten, Taufen und auch bei Trauerfeiern. Wie hoch die Bedeutung von Liedern gerade in gottesdienstlichen Feiern zu veranschlagen ist, hat treffend jene Angehörige kundgetan, die im Vorbereitungsgespräch zur Abdankung für ihre verstorbene Mutter mir gegenüber meinte: „Ich habe meine Predigt schon gehabt, wenn ich ein Lied gehört habe“. So gesehen gilt es, bei der Auswahl von religiösen Liedern ein wachsames Auge zu haben auf ihre Aussagekraft, oder, um das Gemeinte mit einem Fachausdruck zu belegen, auf ihre kerygmatische Funktion. 1 vgl. Bossinger, Wolfgang (2006): Die heilende Kraft des Singens, Von den Ursprüngen bis zu modernen Erkenntnissen über die soziale gesundheitsfördernde Wirkung von Gesang; Heymel, Michael (2006): Wie man mit Musik für die Seele sorgt. 9 Da Musik zum Guten wie zum Bösen gebraucht werden kann - mit Musik wurden Millionen von Soldaten in den Krieg geschickt - ist sie, wie Religion auch, eine höchst komplexe und ambivalente Erscheinung. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht der verwundete Arzt aus Nazareth, der gekreuzigte Auferstandene, erkennbar für immer an den Wundmalen: das Opfer mitmenschlicher Gewalt.2 Diese Wundmale sind ihm ins Fleisch geschrieben. Sie können an äussere oder innere Wunden heute lebender Menschen erinnern. Dies wirkt auf manche irritierend, provokativ. Es wirft Fragen auf. Warum lässt Gott furchtbares und unverschuldetes Leiden zu? Auf diese WarumFrage nach Not und Leid kennt das Christentum keine abschliessende Antwort.3 Aber es kennt das Kreuz als Gegenstand der Meditation ebenso wie es den Karfreitag als Orientierungspunkt im christlich geprägten Jahreslauf in allen Liturgietraditionen gottesdienstlich begeht. 2. Musik in Bibel und Kirche Sucht man im Land der Bibel nach musikalischen Bräuchen rund um Leidensbewältigung, stösst man auf den für den ganzen Alten Orient typischen Klagegesang vornehmlich von Frauen. Besonders anschaulich unterrichtet das Buch Jeremia über die Aufgaben von professionellen Klagefrauen (Kap. 9,16f.): So spricht JHWH Zebaot: Ruft die Klagefrauen,/ sie sollen kommen./ Nach den weisen Frauen schickt,/ dass sie wehklagen./ Sie sollen eilen/ und über uns anheben das Trauerlied,/ dass unsere Augen von Tränen fliessen/ und unsere Wimpern von Wasserströmen.4 Die hohe Bedeutung von Musik in der Bibel lässt sich an vielen Eckdaten festmachen. Vor allem im Alten Testament fehlt es nicht an Belegen: Da wäre als erstes David zu nennen. Ihm gelang es, die Verwirrung und wahnsinnige Raserei Sauls mit Harfenspiel zu besänftigen, was gleichzeitig ein frühes Beispiel ist für die bereits erwähnte positive Wirkung von Musik wie für das Funktionieren musiktherapeutischer Intervention. Hinweisen kann man auch auf die Lieder des Mose, der Mirjam und der 2 Gotthard (2008): Nicht von der Welt, aber in die Welt gesandt - Christliche Existenz in der Welt, in: Institut für Spiritualität Münser (Hg.): Grundkurs Spiritualität, Stuttgart, S. 258-267; ders. (2011): Vom Mehrwert des Christlichen - Zur Debatte zwischen Willigis Jäger und Thomas Ruster. 3 Vgl. Kiechle, Stefan (2011): Warum leiden? 4 Dieses Beispiel findet sich in: Staubli, Thomas (2007): Musik in biblischer Zeit und orientalisches Musikerbe, S. 62. 10 Hanna. Und sicher nicht unerwähnt darf die Jersusalemer Tempelmusik bleiben. So gehört Musik in biblischer Zeit so selbstverständlich zum Kult, wie sie als universales Menschheitsphänomen schlechthin beschrieben werden kann. Und so scheinen Glaube und Musik seit Menschengedenken Seelenverwandte zu sein. Wie aber hat sich das Christentum zu Kultmusik verhalten? Mit dem Ende des Tempels und seiner Musik konzentrierte sich die Kirche - und auf diese Entwicklung kommt es uns an, auch wenn hier nur in elementarsten Grundzügen auf den Anfang der mitteleuropäischen Musikgeschichte hingewiesen werden kann - in der Folge und in Absetzung von der hellenistischen Kult- und Zirkusmusik auf den gesungenen Vortrag von Texten. Neben der Bibel bildet deshalb vor allem die Liturgie die Basis für die erst im Mittelalter wirklich beginnende Geschichte der europäischen Kunstmusik. Stichwort dafür ist der Gregorianische Choral. Bis im 14. Jahrhundert hatte dieser sich zur Mehrstimmigkeit entwickelt und vertrackte rhythmische und formale Konstruktion gefunden.5 Bei der weiteren Entwicklung bis heute bleibt die grundsätzliche Orientierung am Wort leitend. Dies wird jeweils mit unterschiedlicher Akzentsetzung und mit Hilfe der drei Grunddimensionen musikalischer Ordnung zu Wege gebracht (Rhythmik, Melodik, Harmonik). 3. Passionsmusik in den Konfessionen Wer das Stichwort Passion im musikalischen Sinne hört, dem wird als Referenz sicher Johann Sebastian Bach (1685-1750) einfallen. Vielleicht auch noch dessen Vorläufer Heinrich Schütz (1585-1672). Und diese beiden Beispiele dienen dann oft schon als Inbegriff dessen, was für uns eine Passionsvertonung - als nun ausgeprägt mitteleuropäische Form christlicher Leidensbewältigung - sein kann und ausmacht. Kaum ist uns dabei bewusst, dass es von alters her einen sehr lebendigen Strom von verschiedenen reichen Formen musikalischer Leidensverkündigung gab. Gerade die Beschäftigung mit dem romantischen Geist des 19. Jahrhunderts kann uns den Blick dafür öffnen. Denn es waren die Exponenten dieser Musikergenerationen, die sich bei der Findung ihres Stils zwischen Fortschritt und Rückwendung bewegten. 6 5 Einen guten Kurzüberblick zum biblischen Musikerbe im abendländischen Christentum bietet: Andreas Marti, in: Staubli 2007, S. 91-96. 6 vgl. Hochstein, Wolfgang (2013): Zwischen Fortschritt und Rückwendung. Stilfragen im 19. Jahrhundert, in: ders./Krummacher, Christoph (2013): Geschichte der Kirchenmusik in 4 Bänden, Bd. 3, S. 79-86. 11 Nach der Ära Bach kam es zu keinen neuen Passionskompositionen mehr. Dazu beigetragen hatte auch die Verabschiedung des Passionsgesangs aus dem protestantischen Gottesdienst. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an einen einschlägigen Beschluss der Kirchenbehörden von Leipzig aus dem Jahr 1766. Schon sechzehn Jahre nach Bachs Tod hiess es: Der liturgische Vortrag einer Passion habe nur noch als Lesung zu erfolgen; die Gemeinde solle sich am Singen von Passionsliedern orientieren.7 Aus Zuhörersicht konnte man es ob des Fehlens von neuen Passionen als Glücksfall bezeichnen, dass es Felix Mendessohn Bartholdy (1809-1847) zur Passionszeit 1829 gelang, die Wiederaufführung von Bachs Matthäuspassion in die Wege zu leiten. Für liturgische Zwecke waren die Bachschen Passionen aber viel zu lang. Anders als im Protestantismus, wo, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, die musikalische Gattung der Passion nach Bachs Tod aus dem Gottesdienst verschwunden war, stellte sich die Situation im Katholizismus dar. Hier kam es ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu vorsichtigen Neuanfängen für neue Passionskompositionen. Diese orientierten sich an älterer geistlicher Musik: Kurz vor und nach 1850 wurden Ausgaben der Passionen des 16. Jahrhunderts (Tomás Luis de Victoria; Orlando di Lasso) publiziert - mit dem Zweck, diese Werke auch liturgisch aufzuführen. Die restaurative Bewegung des Cäcilianismus machte sich für diese Reliturgisierungstendenzen stark. In Teilen schloss sich auch Franz Liszt dieser Bewegung an. An seinem Alterswerk Via Crucis von 1878/79 lässt sich in geradezu exemplarischer Weise einerseits die Orientierung an älteren Formen musikalischer Leidensverkündigung ablesen, wie sich andererseits eine in die Zukunft gewandte Form musikalischer Aneignung des Passionsmotivs zeigt. Als Zürcher muss ich einleitend - und weil ich hier auch das konfessionelle Thema angeschnitten habe - noch etwas über spezifisch reformatorische Musik-Spiritualität ausführen. Diese hat bei Luther sehr viel mit der Pflege des evangelischen Kirchenliedgutes zu tun. Nach Kräften trug er zu dessen Pflege mit eigenen Gedichten bei (Lutherlieder), wobei auch hier auffällt, dass bei ihm Passionslieder gänzlich fehlen. Bei Zwingli war die Ausgangslage nochmals anders. Bei ihm gab es nicht nur keine 7 von Fischer, Kurt (1997): Die Passion - Musik zwischen Kunst und Kirche, S. 112. 12 Passionslieder, sondern gar keine Gemeindelieder, konnte doch der auf dem Predigtgottesdienst fussende reformierte Gottesdienst historisch gesehen ohne Musik auskommen - anders als die in der Tradition des Messgottesdienstes stehende Liturgie der lutherischen Kirche. Auch Genf unterschied sich schon zu Beginn der Reformation von Zürich, wofür der von Calvin angeregte Genfer Psalter als gewichtiges kulturgeschichtliches Überlieferungsgut Pate steht.8 Später haben sich dann aber die protestantischen Aufbruchsbewegungen wie der Pietismus oder die Erweckungsbewegungen geradezu als eigentliche Singbewegungen verstanden. Die Ironie an der reformierten Zürcher Geschichte aber liegt darin, dass selbst der ursprünglich gesangslose Predigtgottesdienst Zwinglis nicht lange ohne Musik bestehen blieb: Bereits um 1600 wurde in Zürich in allen vier Stadtkirchen (Grossmünster, Fraumünster, Predigern und St. Peter) in jedem Hauptgottesdienst wieder zweimal gesungen, zu Beginn und am Schluss.9 Dietrich Bonhoeffer ist dann schliesslich im vergangenen 20. Jh. einer der prominentesten Zeugen dafür, wie gerade vertonte Gedichte zu zentralen Begleitern für das geistliche Leben so wie als Sprachschule des Glaubens und des Gebets werden können. So hat ihn, nach eigenen Angaben, Paul Gerhardts dritte Strophe Ich lag in tiefster Todesnacht von Ich steh an deiner Krippe hier ganz besonders bewegt.10 Eben dieser evangelische Pfarrer Paul Gerhardt war es, der 1656 mit seiner Dichtung O Haupt voll Blut und Wunden bei einem aus dem Mittelalter stammenden Hymnus anknüpfte. Gerhardts barocke Nachdichtung ist dank der Aufnahme in J.S.Bachs Matthäuspassion (1727) derart berühmt geworden, dass sie auch aus keinem Gesangbuch mehr wegzudenken ist - ein Umstand, auf den wir bei der Besprechung der sechsten Kreuzwegstation zurückkommen werden. 8 Bernoulli, Peter Ernst/Furler, Frieder (Hrsg.; 2001): Der Genfer Psalter - Eine Entdeckungsreise. 9 Das erste nachreformatorische Zürcher Gesangbuch stammt aus dem Jahr 1598. Es enthielt 37 Psalmen sowie 28 weitere geistliche Lieder für Festtage und zur häuslichen Andacht. Weitere Auflagen folgten ein Jahr später sowie 1605. Bereits 1641 enthielt das Gesangbuch alle 150 Psalmen; vgl. Ehrensperger, Alfred (2.A. 1989): Die Stellung Zwinglis und der nachreformatorischen Zürcher Kirche zum Kirchengesang und zur Kirchenmusik, in: Musik in der evangelisch-reformierten Kirche - Eine Standortbestimmung, S. 15-44, bes. S. 39f. 10 Seinen Eltern hatte Bonhoeffer am 25. April 1943 von seinem täglichen Umgang mit Bibel und Gesangbuch im Gefängnis berichtet: „Bis zum Einschlafen sage ich mir die über Tag gelernten Verse auf, am Morgen um 6 Uhr freue ich mich dann, Psalmen und Lieder zu lesen und an Euch alle zu denken und zu wissen, dass ihr auch an mich denkt.“ 13 4. Passion bei Franz Liszt Als Thema wähle ich allerdings nicht J. S. Bach und seine Passionen und auch nicht Paul Gerhardt, sondern ein am Rande des Musiklebens stehendes Werk. Liszt vertont Worte aus verschiedenen Epochen, die für reformiert geschulte Theologen prima vista nicht ohne weiteres zugänglich sind. Zu sagen ist bereits an dieser Stelle, dass die Via Crucis von Franz Liszt polystilistisch angelegt ist. Dies tifft nicht nur auf die Musik zu, sondern auch für die vom Komponisten vertonten Texte. Sie lesen sich wie ein Repetitorium in Spiritualitätsgeschichte.11 Das macht dieses Werk für mich zu einem spannenden Forschungsgegenstand und auch weil man bei Liszt merkt, dass es ihm um eine Verbindung von Kunst und Kirche gelegen war. Nicht nur bei Bach, sondern auch bei Liszt kann man demnach beobachten, wie anziehend die grossen und aller Spiritualität zugrunde liegenden Motive des Christentums wie Jesu Geburt, Passion und Auferstehung sind. Liszt wurde vor allem durch die eigene Teilnahme an der Liturgie zu religiösen Kompositionen inspiriert. In der Folge entstanden Werke zur Verehrung des Kreuzes, zum Beispiel anlässlich des Festes der Kreuzerhöhung (14. September), ferner Vertonungen einzelner Psalmen, der Seligpreisungen oder des Pater Noster. Dabei beschritt er teils rückwärtsgewandt-restaurative, teils vorwärtsgewandt-avantgardistische Wege. Wenn man sich mit Liszts Lebenslauf auseinandersetzt,12 kommt man zum Schluss, dass sein Leben ebenso von Erfahrungen des Scheiterns, des Verlustes, wie auch von vielen Aufbrüchen geprägt war. Dies macht Liszt für mich zu einem wichtigen Glaubenszeugen. Denn ich vermute, dass er, als selber vom Leben Gezeichneter, für die hier zu erörternde Leidensthematik besonders empfänglich war. In der Tat bewegte sich Liszts Leben zwischen den Polen von Leiden und Leidenschaft. Er war getrieben von vielerlei Rastlosigkeiten und einem unbändigen Durst nach Wissen. Gleichzeitig war er auf der Suche nach Sammlung und Einkehr. Tatsächlich verstand sich Liszt als Priestermusiker (Abbé) in umfassendem Sinn. Sei11 vgl. zum Überblick Kap. II.3. sowie die Einzelkommentare in Kap. III.2. Angesichts zahlreicher neuerer Biographien fällt eine Orientierung nach heutigem Forschungsstand einigermassen leicht. Sie kamen alle auf den Zeitpunkt des 200. Geburtstages des Komponisten um das Jahr 2011 heraus, vgl. Dömling, Wolfgang (2011): Franz Liszt; Hamburger, Klára (2010): Franz Liszt - Leben und Werk; Meier, Barbara (2011): Franz Liszt; Meyer, Anton (2010): Franz Liszt - Musikgenie und Frauenschwarm; von Arnim, Jan Jiracek (2011): Franz Liszt - Visionär und Virtuose: Eine Biografie; vgl. unten Kap. II.1. 12 14 nem Beispiel wenden wir uns nun in je einer Betrachtung zu seinem Leben (II.1.) und Schaffen (II.2.) zu. Danach wird die Tradition des Kreuzweges, seine Spiritualität und Musik bis Franz Liszt beschrieben (II.3.). Damit sind dann jene Zugänge gelegt, welche die Voraussetzung bilden für exemplarische Einzelkommentare zur Via Crucis (III.). In einem frühen Aufsatz formulierte Liszt, was für ihn selber die Funktion von Musik ist. Nach allem bisher Gesagten schliesse ich diese Einführung zum vielschichtigen Verhältnis zwischen Musik und Spiritualität mit seiner schlichten Formel: Er wolle Musik schaffen, die Menschen bessert, veredelt und tröstet - und Gott lobt und preist.13 13 Liszt, Franz: Sämtliche Schriften, hrsg. von Detlef Altenburg (2000), Bd. 1: Frühe Schriften, hrsg. von Rainer Kleinertz, S. 59. Musizieren „ad maiorem dei gloriam“ - so lautet die lateinische Formulierung. Man könnte die Funktion von Musik im kirchlichen Kontext auch mit einem anderen lateinischen Motto umschreiben, wie es die Dominikanerinnen von Cazis (GR) für ihre eigene Berufung auf die Fahne geschrieben haben: laudare benedicere - praedicare. Musizieren 1. zum Lobe Gottes, 2. zur Segnung des Lebens und 3. als Verkündigungsdienst, der Menschen erbaut. 15 II. Zugänge 1. Franz Liszts Wege im Leben Wer Ende der 1860er Jahre in Rom spazieren ging, der begegnete bisweilen einer auffälligen Erscheinung: einem hageren, hoch aufgeschossenen End-Fünfziger in der Soutane eines Abbés. Der eine oder andere Passant blieb womöglich stehen, um ihn höflich zu grüssen; die meisten aber tuschelten und lächelten süffisant hinter seinem Rücken: „Schau nur, der Abbé Liszt…“.14 Was führt dazu, dass einer der berühmtesten Musiker Europas, ein brillanter Pianist, der das Klavierspiel mit seiner Virtuosität für Zeiten revolutionierte, und dem sein Publikum, teilweise mit einer an Hysterie grenzenden Begeisterung zugejubelt und ihn mit Ehrenbezeugungen überhäuft hatte, sich im Alter von 54 Jahren im Vatikan tonsurieren liess, wie das für die erste niedere Weihe (zum Ostiarier) vorgesehen war?15 Was bewog Liszt, drei wietere niedere Weihen zu empfangen (Lektor, Exorzist, Akolyt)?16 Abb. 1: Photographie 1865 Gerüchte, Spekulationen und spitze Bemerkungen dazu gab es damals nicht nur in Rom, sondern in ganz Europa, denn Liszt war als Konzertpianist weit herumgereist und auch als Dirigent, Komponist und Musiklehrer berühmt. Der deutsche Schriftsteller und Historiker Ferdinand Gregorovius in Rom sprach von Liszt als von einem „Mephisto in der Soutane“, wohl in Anspielung sowohl auf dessen übernatürliche, geradezu mephistophelisch erscheinende Wirkung als Musikerpersönlichkeit wie auch in Kenntnis um dessen vier von ihm so benannten grossartigen MephistoWalzer. Eine der gängigsten Vermutungen war, Liszt spekuliere auf das Amt des vatikanischen Hofkapellmeisters an der Sistina. Andere wiederum meinten, er verfolge das Ziel, eines Tages auch die höheren Weihen zum Diakon oder sogar zum Priester zu erlangen. 14 Einleitung nach Stegemann, Michael (2011): Mephisopheles im Priesterrock - Franz Liszt und die Kirchenmusik. 15 Am 25. April 1865 16 Am 30. Juli 1865; niedere Weihen hatten keinen sakramentalen Charakter. Sie wurden im Sinne von Beauftragungen zu liturgischen Diensten verstanden. Seit der Neuordnung von 1972 durch Papst Paul VI. sind sie nicht mehr in Geltung, vgl. das Apostolische Schreiben Motu Proprio Ministeria quaedam vom 15. August 1972. 16 Liszt nahm zu solchen Vermutungen selber und unmissverständlich wie folgt Stellung: Wenn der Mönch sich im Innern vollständig herausgebildet hat, weshalb sollte ihm dann nicht das äussere Gewand entsprechen? – Aber ich vergesse, dass ich keinesfalls beabsichtige, Mönch, im strengen Wortsinn, zu werden. Dazu fehlt mir die Berufung, und es genügt mir, der Hierarchie der Kirche auf einer Rangstufe anzugehören, die mir die niederen Weihen zuweisen.17 In der Tat: Wäre es nach Franz Liszt selber gegangen, er wäre vermutlich gar nicht Musiker geworden, sondern hätte schon früh das Kloster gewählt. Sogar die Unterstützung seiner Mutter wäre ihm zumindest anfänglich nicht versagt geblieben, denn sie ahnte, wie strapaziös die vielen Konzertreisen für ihren Sohn werden würden, vor allem so lange dieser noch ein Kind war. 1.1 Der Roman eines Lebens18 Es wird nun Zeit, Liszts bewegtes Leben in einigen Grundlinien und von Anfang an nachzuzeichnen. Dabei sind die anlässlich seines 200. Geburtstages anno 2011 erschienenen Biographien eine grosse Hilfe.19 Von besonderem Interesse sind für mich jene Stellen, in denen die religiöse Neigung des frühen Liszt zur Geltung kommt. Damit kann schon jetzt festgehalten werden, dass Liszts in Rom so offensichtlich zur Schau gestellte Religiosität (Soutane) kaum gespielt, sondern echt war. Dies sowie ein religiöses Schwärmertum wurden ihm zwar immer wieder vorgehalten. Gemäss jüngeren Forschungen kann dies aber als Verengung der Perspektive bewertet werden. Denn es genügt offensichtlich nicht, Liszt als legendären Pianisten zu beschreiben und ihn auf bestimmte biographische Klischees zu fixieren, denen er teilweise durch entsprechendes Verhalten selber Vorschub geleistet hatte. Jedoch wird gerade in neusten Publikationen der Tatsache, dass viele seiner Werke nur über die Entschlüsselung zahlreicher religiöser Inhalte erfasst werden können, mehr Beachtung geschenkt. Hierbei spielt die Prägung durch den in seinem Elternhaus kennengelernten, spezifisch österreichisch-ungarischen Katholizismus auch eine Rolle.20 17 Zitat eines Briefes von Liszt an den Fürsten Constantin von Hohenzollern-Hechingen, zit. nach Meier 2011, S. 113. 18 vgl. de Pourtalès, Guy (1926): Franz Liszt - Roman des Lebens. 19 Zum Beispiel: Dömling 2011; Hamburger 2010; Meier 2011; Meyer 2010; von Arnim 2011; s.o. Fn. 12. 20 Altenburg, Detlef (2013): Franz Liszt, in: Hochstein, Wolfgang / Krummacher, Christoph (Hrsg.; 2013): Geschichte der Kirchenmusik in 4 Bänden, Bd. 3 (= Das 19. und frühe 20. Jh.), S. 197-200. 17 1.2 Geburt Franz Liszt war Einzelkind. Seine Mutter Maria Anna (geborene Lager) war eine in Wien als Stubenmädchen tätige Bäckerstochter, der elf Jahre ältere Vater Adam Verwaltungsangestellter mit hoher Affinität für Musik, Philosophie und Theologie. Die beiden heirateten im Januar 1811 in Raiding im Burgenland (bis 1920/21 ungarisch).21 Neun Monate später, am 22. Oktober 1811, wurde ihr Sohn Franz geboren. Damit sollte ein angehender Musiker das Licht der Welt erblicken, der andere Frühromantiker um einiges überleben würde:22 Während sich Liszts Lebenskreis nach 75 Jahren schloss, starb Mendelssohn bereits mit 38, Chopin mit 39, Schumann mit 46 und Berlioz mit 66. Einzig Wagner hatte ähnliche Lebenszahlen wie Liszt. Er wurde 70. Mit allen erwähnten Musikern war Liszt zeilebens bekannt und teilweise eng befreundet. 1.2 Entwicklung zum Wunderkind Den Eltern fiel die musikalische Begabung ihres Kindes früh auf. Nach einer von auffällig vielen Krankheiten durchzogenen Kleinkindphase begann Franz im sechsten Lebensjahr mit dem Klavierspiel, zuerst unterrichtet von seinem Vater. Um den neunten Geburtstag trat Franz bereits mit einem Klavierkonzert von Ferdinand Ries und einer eigenen Improvisation im Casino von Sopron erstmals vor öffentliches Publikum (Oktober 1820). In einem zweiten Konzert kurz danach (26. November) - es fand im Palais Esterházy in Pressburg statt (heute: Bratislava, Slowakei) - traten die „ausserordentlichen Fähigkeiten dieses Künstlers“ öffentlich zutage. So heisst es in einer Konzertbesprechung. Insbesondere wurde Liszts ausgeprägtes Talent für das prima-vista-Spiel hervorgehoben: Verflossenen Sonntag, am 26. dieses Monats, dieses in der Mittagsstunde, hatte der neunjährige Virtuose Franz Liszt, die Ehre, sich vor einer zahlreichen Versammlung des hiesigen hohen Adels und mehrerer Kunstfreunde, in der Wohnung des hochgeborenen Herrn Grafen Michael Eszterházy, auf dem Clavier zu produciren. Die außerordentliche Fertigkeit dieses Künstlers, so wie auch dessen schneller 21 Deutsch war hier in Deutsch-Westungarn die Umgangssprache. Weil Liszt seine Jugendjahre in Paris verbrachte, wurde Französisch zu seiner bevorzugten Sprache. Ungarisch sprach er nur gebrochen, im Gegensatz Französisch und Deutsch. Nichtsdestotrotz rüttelte er keinesfalls an seiner ungarischen Staatsangehörigkeit. In der Öffentlichkeit konnt er sich schon mal als Magyaren bezeichnen (indigener Name für Ungarn). 22 Die Eltern fanden schon während der Schwangerschaft, dass die Geburt ihres Kindes unter einem besonderen Stern stehen würde. Im Sommer 1811 war tatsächlich während längerer Zeit ein Komet am Himmel sichtbar. 18 Überblick im Lösen der schwersten Stücke, indem er alles, was man ihm vorlegte, vom Blatt wegspielte, erregte allgemeine Bewunderung, und berechtigt zu den herrlichsten Erwartungen.23 Noch Jahre später werden die ausserordentlichen pianistischen Fähigkeiten nicht nur das Konzertpublikum faszinieren, sondern vor allem auch zeitgenössische Pianisten wie Charles Hallé in Verzweiflung treiben. Clara Wieck, eine andere Pianistin jener Zeit und ihrerseits technisch durchaus versiert, war verblüfft, wie „Liszt alles das vom Blatt spielt, wo sich unsereins plagt und es doch zu nichts bringt“.24 Wer sich mit dem Leben des jungen Liszt auseinandersetzt, wird an die frühen Jahre des ebenso begabten Wolfgang Amadeus Mozart erinnert: einmal wegen der sich früh zeigenden musikalischen Begabung, dann wegen des zielgerichteten Erziehungsstils ihrer Väter. Sowohl Leopold Mozart wie Adam Liszt förderten ihre Söhne konsequent: Sie arbeiteten beide ambitioniert auf eine erfolgreiche musikalische Karriere hin. Bei Franz Liszt führte das freilich zu einer verpassten Allgemeinbildung, welche er später im Selbststudium nachholen sollte, und zum Unterdrücken seines Wunsches, der Kirche statt dem Klavier zu dienen und Geistlicher (Priester) zu werden. 1.3 Pariser Jugendjahre Statt Verständnis für diesen Wunsch aufzubringen, das Priesterseminar besuchen zu dürfen, gab Vater Adam Liszt seine Stellung als Gutsverwalter in Esterházyschen Diensten (bei Fürst Nikolaus II Esterházy de Galantha) auf, um seinem Sohn eine qualifizierte musikalische Ausbildung angedeihen zu lassen und ihn umso lückenloser auf diesem Gebiet zu fördern. Dank der Unterstützung durch ungarische Adlige studierte Franz Liszt bei Carl Czerny (Klavier) und Antonio Salieri (Musiktherorie). Die Familie zog dafür 1821 nach Wien, wo diese beiden Künstler unterrichteten und Franz zudem erstmals ausserhalb seiner Heimat in aristokratischen Kreisen Erfolge feierte. Nach einem ersten öffentlichen Konzert in Pest (heute Budapest) vom Mai 1823 zog die Familie mit dem jungen Pianisten nach Paris, wo Franz bei Ferdinando Paër und Anton Reicha weiter studierte. Sein Kompositionlehrer Salieri hielt diesen Schritt allerdings noch für zu früh, weil Liszt gerade so gut am studieren sei. Die bei23 Städtische Pressburger Zeitung vom 28. November 1820, zit. nach Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Liszt#Entwicklung_zum_Wunderkind 24 Schonbergh, Harold C. (1983): Die grossen Komponisten - Ihr Leben und Werk, S. 196. 19 den neuen Lehrer waren in der Tat so etwas wie Notlösungen, denn das angestrebte Ziel, Aufname im jüngst eröffneten Pariser Konservatorium zu finden, wurde nicht erreicht, weil man dort keine Ausländer zum Studium zulassen wollte, auch wenn sie noch so gut und mit noch so vielen Empfehlungsschreiben unterwegs waren. Das empfanden die Liszts als Demütigung. Dennoch war die Pariser Zeit (bis 1839) für Liszt von weitreichender Bedeutung. Sein ganzes Weltbild wie seine Ideale sollten sich hier wesentlich formen.25 In Paris verdiente der junge Künstler in Paris dank vieler erfolgreicher Auftritte in diversen Salons erstes Geld und festigte damit seinen Ruf als genialer Pianist und Improvisator. Verschiedene Konzertreisen führten ihn von Paris aus in die französische Provinz, dreimal nach England (1824ff), 1826 auch in die Schweiz. Alle Unternehmungen standen unter der Leitung des Vaters. Die Musikwissenschaftlerin und Liszt-Kennerin Klára Hamburger beschreibt in ihrer Liszt-Biographie, wie just das hohe Lebenstempo dieser Jahre beim Halbwüchsigen zu einer frühen seelischen Krise führte: „Er [Franz Liszt] suchte, wie auch bei späteren Zusammenbrüchen oder wenn er der Welt und der Gesellschaft überdrüssig wurde, Trost und Beruhigung in der Religion, im Glauben und auf dem Wege zu Gott. Er wollte Geistlicher werden.“26 Tatsächlich traten bei Franz Liszt neben der Musik wie schon in früher Kindheit nicht nur literarische, sondern auch religiöse Interessen und Sehnsüchte auf. Adam Liszt war aber weit davon entfernt, Verständnis zu haben dafür, die musikalische Karriere wegen Ermüdungserscheinungen seines Jungen abzubrechen. „Er war ganz und gar nicht geneigt, seinen durch so grosse Opfer zum Künstler und Ernährer erzogenen Sohn der Kirche zu überlassen.“27 Drei Jahre lang ist man rastlos konzertierend unterwegs. Der Heranwachsende beginnt auf den Reisen durch England Tagebuch zu schreiben. Darin verzeichnet er vor allem religiöse Gedanken, Zitate, Gebete. Er sucht Stütze und Kraft in religiösen Schriften und liest eines der verbreitetsten christlichen Erbauungsbücher schlechthin: Die Nachfolge Christi des Thomas von Kempen (um 1380-1471). 25 Altenburg 2013. Hamburger 2010, S. 32f. 27 Ebd. 26 20 Nach einer Typhus-Erkrankung starb Vater Liszt überraschend am 28. August 1827. Damit ereilte den Sohn dasselbe traumatische Schicksal wie seinerzeit den etwas älteren Mozart in Paris, als dieser plötzlich seine Mutter verloren hatte: Er wurde auf einen Schlag zum Halbweisen. Liszt aber wurde auch noch zum Alleinunternehmer. 1.4 Lebenskrise Dieser frühe Verlust des Vaters führte bei ihm zu einer Krise. 28 Tragisch war, dass sich die beiden Liszts eigentlich zur Erholung des von Konzerten ausgelaugten Jünglings an den Badeort Boulogne-sur-Mer zur Kur begaben, als der Vater erkrankte und starb. Es war, als würde das bis zu diesem Zeitpunkt genährte Spannungsfeld zwischen Begabung (Wunderkind) und Prägung (Förderung durch den Vater; gesellschaftliche Erfolgserlebnisse) mit diesem überraschenden Tod nun schlagartig aufbrechen, das bisherige Leben als junger Konzertvirtuose in Frage gestellt und dafür von Liszts alter Sehnsucht nach Religion abgelöst. Dies verwirrte ihn und liess seine pianistischen Ambitionen für eine Weile in den Hintergrund treten. Es war niemand mehr da, der die Konzerte für ihn organisierte. Die aus Graz angereiste Mutter war nicht imstande die Lücke des Vaters zu füllen. Sie riet aber auch nicht, wie noch zur Kinderzeit, die Karriere jetzt zugunsten eines Engagements für die Kirche an den Nagel zu hängen. So begann Liszt Klavier- und Musiktheorieunterricht zu erteilen, sicher auch, um sich und seine Mutter finanziell durchzubringen. Dabei verliebte er sich in eine seiner Schülerinnen: Die gleichaltrige Caroline. Diese Liebe erlebte er als „die reinste Offenbarung des göttlichen Segens auf Erden“.29 Nicht nur die Sprache verrät einen Hang zu religiöser Deutung seines Liebesschicksals (Offenbarung; göttlicher Segen). Auch der Inhalt selbst (Liebe zur Geliebten) zeigt entschieden andere als ausschliesslich mönchische Neigungen, nach denen Liszt sich vor kurzem noch sehnte. Es ist berührend zu erfahren, wie sehr die Jugendliebe der beiden auf Gegenseitigkeit beruhte. Traurig aber ist es umgekehrt zu vernehmen, wie bald die Beziehung zwangsweise aufgelöst werden musste: Der Vater der geliebten Caroline, Graf Saint-Cricq, eröffnete dem jungen „Habenichts“ eines Tages, seine Tochter wäre für einen Mann aristokratischer Abstammung vorgesehen. 28 29 Während Adam Liszt im 51. Lebensjahr verstarb, wurde Mutter Maria Anna 78-jährig (verst. 1866). Wohlfarth, Hansdieter (1991): Franz Liszt - Rausch und Versenkung / Meditations religieuses. 21 Damit wurde dem Siebzehnjährigen wieder einmal die Tür gewiesen, wie es schon bei der Ablehnung am Conservatoire von Paris der Fall gewesen war. Auch diesmal (1828) war die Rückweisung tief verletzend, gar demütigend. Liszt erkrankte in der Folge schwer und lange. Zwei Jahre lang hörte man nichts mehr von ihm. In der Zeitung soll sogar bereits ein Nekrolog erschienen sein. 1.5 Wichtige Kontakte Dass er sich von dieser Lebenskrise überhaupt wieder erholte, hatte Liszt einigen Freunden sowie der Bekanntschaft mit drei Künstlerpersönlichkeiten der damaligen Zeit zu verdanken: Hector Berlioz, Frédéric Chopin und Nicolo Paganini. Ohne diese drei und ohne die Julirevolution 1830, die Liszt mit der christlich-sozialrevolutionären Bewegung der Saint-Simonisten unter der Leitung ihres damaligen Reformers, eines Abbé (F. R. de Lamennais), in Kontakt brachte,30 wäre der vom Schicksal gebeutelte Liszt nicht mit neuem Lebenselan erfüllt worden. Berlioz Symphonie fantastique aber machte ihn mit faszinierenden neuen Orchestrierungs-, Harmonisierungs und Kompositionstechniken vertraut. Als Pianist war er dank seines ausserordentlichen Talents sogar imstande dies alles auf dem Klavier nachzuahmen, wofür Berlioz ein Orchester brauchte, was wiederum den Klangfarbenspielraum seines Spiels verfeinerte und später auch auf seine Tätigkeit als Komponist einen wichtigen, weil ermutigenden Einfluss haben sollte. Auch Chopin und Paganini stachelten seinen Ehrgeiz an, das eigene Virtuosentum weiterzutreiben, womöglich noch über diese Vorbilder hinaus. Dank dieser beiden von ihrem Typ her so unterschiedlichen Virtuosen auf ihrem Instrument (bei Chopin war es bekanntermassen das Klavier und bei Paganini die Violine) konnte Liszt diese depressive Krankheitszeit hinter sich lassen und zum Eigentlichen vorstossen. Es war, als sähe er in diesen drei Künstlerpersönlichkeiten gleichsam vorgebildet, was in ihm selber steckte und wohin und vor allem auch worüber hinaus er es womöglich selber bringen konnte, wenn er nur genüg übte. Und so begann Liszt nachzuholen, was er an Schulbildung - während der einseitigen pianistischen Förderung durch seinen Vater - verpasst hatte:31 Er begann viel und vieles zu lesen (u.a. die Bibel, Platon, Victor Hugo). Und er übte während eines guten halben Tages täglich diszipliniert Klavier. Ein bekanntes Zitat aus einem Brief an den 30 s.u. Kap. II.2.2 Tatsächlich hatte Liszt nur bis zum zehnten Lebensjahr eine reguläre Schulbildung genossen. Danach begann das Konzertieren und Reisen. Die weitere Ausbildung war eine rein musikalische gewesen. 31 22 Schweizer Pianisten Pierre Wolff gibt darüber Auskunft. Es schildert eine Wende vom hochbegabten, aber dressierten und unter unglaublichem Erfolgsdruck stehenden Knaben hin zu einem jungen Mann, der sein eigenes Künstlertum anstrebt. Es sollte ein Künstlertum aus freien Stücken und freiem Antrieb werden, ein Künstlertum mit Visionen, das sich zudem aus unterschiedlichsten geistigen Quellen nährt: […] mein Geist und meine Finger arbeiten wie zwei Verdammte - Homer, die Bibel, Platon, Locke, Byron, Hugo, Lamartine, Chateaubriand, Beethoven, Bach, Hummel, Mozart, Weber umgeben mich. Ich studiere, befrage, verschlinge sie gierig; ferner über ich vier bis fünf Stunden (Terzen, Sexten, Okatven, Tremolos, Triller, Kadenzen, etc, etc) Ah! Vorausgesetzt, dass ich nicht toll werden - wirst Du [Pierre Wolff] einen Künstler in mir wiederfinden! Ja, einen Künstler nach Deinem Geschmack, so wie man sie heutzutage braucht.32 1.7 Wanderjahre mit Marie d’Agoult Im Jahr, als Liszt solche ambitionierten Zeilen schrieb, lernte er anlässlich eines Pariser Hauskonzertes Marie d’Agoult kennen.33 Er verliebte sich in die sechs Jahre ältere, unglücklich verheiratete Gräfin. Bald galten sie als „Liebespaar des Jahrhunderts“. Die Gräfin brachte zwei Töchter in die Beziehung. Von ihrer Einstellung her sympathisierte sie, obwohl in aristokratischer Verbindung und von bürgerlicher Herkunft, mit den Ideen der Aufklärung. Die kritisch-emanzipatorische Haltung dieser Frau faszinierte Liszt. Die Beziehung wurde 1835 gesellschaftlich zunehmend unhaltbar, weshalb sich das Paar entschloss, von Paris wegzuziehen. Zuerst reisten sie in die Schweiz, woraus der erste Band des neun Klavierstücke umfassenden Albums mit dem programmatischen Titel Années de Pèlerinage (Suisse) entstand.34 Programmatisch ist dieser Titel deshalb zu nennen, weil mit dem Abschied von Paris 32 Brief vom 2. Mai 1832 an den Schweizer Pianisten Pierre Wolff, zit. nach Hamburger 2010, S. 44; Ausganspunkt der französischen Romantik bildete die Entdeckung Shakespeares und Dantes. Kopf der Bewegung war Victor Hugo. Ein wichtiges Element der romantischen Haltung eines Künstlers war seit Chateaubriands 1802 erschienenem Le Génie du Christianisme ein religiöses Gefühl; vgl. Chateaubriand, François-René de (2004): Geist des Christentums oder Schönheiten der christlichen Religion. Das Ideal war nicht das Schöne im Sinne der Klassik, sondern „der kunstvolle Ausdruck des Eigentümlichen, Extremen, Grotesken und Dämonischen“ (Hamburger aaO., S. 36). 33 Marie d’Agoult (1805-1876) entstammte dem französischen Hochadel und war unter dem Pseudonym ‚Daniel Stern‘ als Schriftstellerin tätig. Ihr bekanntestes Werk erschien zwischen 1851 und 1853: Geschichte der Revolution von 1848 (französisch: Histoire de la Révolution de 1848). Es zählt zum Besten, was darüber geschrieben wurde (Richard Bolster). 34 Vgl. zum Beispiel darin das Stück Au lac de Wallenstadt, das im Zusammenhang mit dem Aufenthalt in Weesen entstanden ist. Liszt kam mit d’Agoult von Basel her am 19. Juni 1835 am Walensee an und reiste später weiter nach Genf. 23 über eine längere Zeitspanne unstete Wanderjahre mit Virtuosenreisen begannen, 35 die auch nach Italien und 1839 zum ersten Mal nach Rom führten, wo ihn der berühmte Chor der Cappella Sistina faszinierte. In dieser Zeit gebar Marie d’Agoult ihre drei gemeinsamen Kinder Blandine, Cosima und Daniel.36 Die neue Rolle als häuslicher Familienvater wollte Liszt allerdings nicht so recht passen. Er wurde „melancholisch“37 und fühlte sich eingeengt. Es kam zu Spannungen und Auseinandersetzungen, die schliesslich zur Trennung von Marie führten (1844). 1.8 Kapellmeister in Weimar und Carolyne von Sayn-Wittgenstein Der vielen Konzertreisen längst überdrüssig, lernte Liszt auf einer letzten Tournée nach Russland 1847 die damals verheiratete Carolyne von Sayn-Wittgenstein in Kiew kennen. Diese Fürstin war, wie schon zuvor Marie d’Agoult, schriftstellerisch tätig. Sie war gut sieben Jahre jünger als Liszt und lebte schon kurze Zeit nach der Geburt ihrer einzigen Tochter getrennt von ihrem Ehemann. 38 Liszt entschloss sich fortan zur Beendigung der Virtuosenkarriere. Das konnte er sich leisten, weil er schon 1842 zum „Ausserordentlichen Herzoglichen Hofkapellmeister von Weimar“ gewählt worden war, einer Stelle, die er jetzt, 1848 antreten wollte, um sie bis 1858 erfolgreich innezuhaben. Diese sogenannte Weimarer Phase gilt in kompositorischer Hinsicht als Liszts produktivste Zeit. Denn Weimar bot dem vielseitig begabten Musiker die Gelegenheit, zum Beispiel auch Werke von Richard Wagner aufzuführen. So dirigierte er 1850 die Urauffühurng des Lohengrin. Ferner studierte er Werke von Berlioz und Schumann ein und brachte dem Publikum Kompositionen der kommenden Schule erstmals zu Gehör (Raff, Cornelius, Verdi). 1.9 Rom und letzte Lebensphase 1858 kam es zur Niederlegung des Weimarer Kappellmeisteramtes. Nach einer missglückten Premiere von Peter Cornelius‘ Barbier von Bagdad war der Musiker, 35 Ein zweiter Band Années de Pèlerinage (Italie) spiegelt einen Teil der kompositorischen Arbeiten dieser Zeit; vgl. zum ganzen Zeitabschnitt mit den „Wanderjahren des Virtuosen“ z.B. Hamburger 2010, S. 59-96; den dritten und letzten Band der Années de Pèlerinage (1877-1882) komponierte Liszt auf seinen Reisen in- und ausserhalb des Dreiecks Weimar - Rom - Pest (heute Budapest), vgl. ebd. S. 177-230. 36 Während Liszts zweite Tochter Cosima (1837-1930) als spätere Gattin Richard Wagners (Heirat 1870) und, nach dessen Tod, als „Herrin von Bayreuth“ allgemein bekannt geworden ist, werden seine beiden anderen Kinder Blandine (1835-1862) und Daniel (1839-1859) von den Biographen zumeist übergangen, vgl. Burger, Ernst (2010): Franz Liszt - Die Jahre in Rom und Tivoli (1839 / 1861-1886). S. 30f; 70. 37 Marie d’Agoult an George Sand, vgl. Burger aaO., S. 30. 38 Tochter Marie kam 1837 auf die Welt. 24 der die kleine Stadt Weimar innerhalb kurzer Zeit zum Mittelpunkt einer progressiven musikalischen Bewegung machte, mit seiner Position nicht mehr glücklich. Doch auch in der Familie kam es zu einem unglücklichen Ereignis: 1859 starb, im jugendlichen Alter von zwanzig Jahren, sein Sohn Daniel an Tuberkulose. Liszt bezeichnete diesen Verlust später als grössten Schmerz seines Lebens. 39 Um an seinem 50. Geburtstag endlich sein Eheversprechen mit Carolyne von SaynWittgenstein einzulösen, verliess er Weimar 1861 definitiv in Richtung Rom.40 Nachdem die Verwandtschaft des ehemaligen Gatten der Fürstin beim Vatikan erfolgreich gegen die Ehe mit Liszt intervenierte, trennten sich die Wege der beiden. In Rom erlebte Liszt einen weiteren Todesfall in der Familie: 1862 starb sein erstgeborenes Kind, seine Tochter Blandine. Im Alter von 27 Jahren hatte sie ein Kind zur Welt gebracht. Zwei Monate später erlitt sie eine Brustentzündung, die vermutlich medizinisch unsachgemäss behandelt wurde, was zu ihrem tragischen Tod führte. In der Folge zog sich Liszt 1863 in das Kloster Madonna del Rosario auf dem Monte Mario zurück, von wo aus man eine gute Sicht hatte auf den Tiber, die Albaner Berge und die alles überragende Kuppel der Peterskirche - Zeichen und Inbegriff päpstlicher Macht. Für uns schliesst sich mit dieser nahezu mönchischen Geste des Aufsuchens eines Klosters zum Zwecke ungestörten Schaffens ein Kreis, den wir mit dem Empfang von vier niederen Weihen anfangs dieses Kapitels geöffnet hatten. In diesem Heim, in dem nur einige wenige Geistliche wohnten, bezog Liszt jedenfalls eine sehr einfache Kammer. Ferner heisst es, dass ihm nur ein kleines (fünfoktaviges) Klavier zur Verfügung stand. Seine relative Abgeschiedenheit wurde nur gelegentlich von Besuchern gestört, zu denen jedoch, als ein besonders denkwürdiges Ereignis, auch Papst Pius IX. (1846-1878) gehörte.41 39 Burger 2010, S. 30f. Seit 1855 war die Fürstin nach russischem Recht geschieden. Als Katholikin war sie aber nicht frei für eine weitere Ehe. Deshalb war die Reise nach Rom nötig, um vom Vatikan die Erlaubnis zur Ehe zu erhalten. 41 ebd., S. 76: Der Besuch Papst Pius‘ IX. war am 11. Juli 1865; Liszt spielte ihm auf dem Klavier vor. Am 16. Juli kam es zu einer Privataudienz. Im folgenden Jahr lud er Liszt, seinen „lieben Palestrina“, in die Sommerresidenz Castel Gandolfo ein, vgl. Meier 2011, S. 108. 40 25 Auch Carolyne von Sayn-Wittgenstein liess sich in Rom nieder. Beide lebten künftig getrennt. Die Fürstin inspirierte Liszt aufgrund ihrer Interessen und Kenntnisse in Literatur, Philosophie und vor allem auch in Religion.42 Ab 1869 verbrachte Liszt jeweils einige Monate im Dreieck Rom, Weimar und Pest. Die intensive Reisetätigkeit seines letzten Lebensjahrzehnts liessen ihn, auch wegen des zunehmenden Alters, nicht mehr so viel komponieren wie früher. Trotzdem entstanden Werke wie zum Beispiel der dritte Teil der Années de Pèlerinage (18771882).43 Es erstaunt kaum, dass die geistlich-kirchliche Musik Via Crucis, die wir hier besprechen, auch in dieser Zeit zwischen 1876 und 1879 entstanden ist. Scheint es doch, als könnte Liszt nun in Rom als Kirchenmusiker seine Erfüllung finden. Bahnte sich hier eine lebensgeschichtliche Synthese verschiedener Neigungen an? Die Komposition zweier Oratorien (Christus; Legende von der Heiligen Elisabeth), auf die wir im nächsten Kapitel zu sprechen kommen, spricht sehr dafür. Neben der Komposition leistete Liszt aber auch weiterhin zahlreichen Einladungen zu Aufführungen seiner Werke Folge. So war es bis zuletzt und vor allem auch in seinem Sterbejahr (1886): In England und Frankreich sollte er als Komponist noch einmal wahre Triumphe erleben, ausgerechnet mit seinem beliebtesten Oratorium, der Legende von der heiligen Elisabeth. Erschöpft und vor allem krank traf Liszt im Juli 1886 in Bayreuth ein, um auf Bitten seiner Tochter Cosima den Festspielen beizuwohnen und um an der Hochzeit seiner Enkelin Daniela teilzunehmen. Er war stark erkältet und hustete Blut, besuchte aber trotzdem die Aufführungen von Parsifal und Tristan, starb dann an den Folgen einer akuten Lungenentzündung vor Mitternacht am 31. Juli „ohne irgendeine Aufregung oder Kampf“, wie Klára Hamburger weiss. 44 Am 3. August fand die Beisetzung in einem kleinen Mausoleum auf dem städtischen Friedhof Bayreuth statt. Damit hatte ein ruheloses Musikerleben zu einem Abschluss gefunden. Man hätte Liszt manchmal etwas mehr von jener klösterlichen Ruhe und stabilitas loci gegönnt hätte, nach der er sich zeitweise selber sehnte. Als Romantiker 42 Sie verbrachte den Rest ihres Lebens mit geistlichen Übungen und schrieb in Rom an ihrer umfassenden theologischen Studie Des causes intérieures de la faiblesse extérieure de l'Église (Innere Ursachen der äusseren Schwäche der Kirche). Von den vierundzwanzig Bänden, die teilweise über tausend Seiten stark sind, wurden nach der Veröffentlichung alle ausser einem Band auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. 43 vgl. Fn. 35 (zum zweiten/dritten Band). 44 dies. 2010, S. 228. 26 hatte er aber Zugang zu einem natürlich empfundenen „Mönch im Innern“.45 Diese Fähigkeit war für ihn eine gute Gelegenheit, seinem „klösterlich-künstlerischen Ideal“46 näherzukommen. In seiner Musik schliesslich hat Liszt nach Wegen gesucht, Altes mit Neuem zu verbinden und einen Blick für die Zukunft zu haben. Hier war er mit seinen Ambitionen dem empfundenen Moment um Augenblicke voraus. Inwiefern sich dies in seiner Kirchenmusik zeigt, wird uns im nächsten Abschnitt beschäftigen. Abschliessen möchte ich dieses Kapitel mit einem Zitat von Liszt, das auch am Schluss der Biographie von Klára Hamburger steht:47 Meine einzige Ambition als Musiker war und wird es sein, meinen Speer in den unendlichen Raum der Zukunft zu schleudern […].48 2. Liszts Kompositionen Das Gesamtwerk von Franz Liszt ist umfangreich und vielfältig. Nur schon sein Klavierwerk ist gross, obwohl es aufs Ganze gesehen einen kleinen Teil ausmacht. Dass dieser Komponist gemeinhin mit Klaviermusik identifiziert wird, hat einerseits mit seinem Ruf als genialer Pianist zu tun, andererseits mit der Beliebtheit seiner Konzertetüden,49 den beiden gern gehörten und von jungen Pianisten auch heute bevorzugt dargebotenen Klavierkonzerte50 oder, um ein weiteres prominentes Beispiel aus dieser Gattung zu nennen, der spektakulären wie tiefgründigen Sonate hMoll.51 Bestimmt hängt der Reiz Lisztscher Klaviermusik heute genauso wie früher mit „donnernden Passagen, schwirrenden Läufen, gewaltigen dynamischen Steigerungen und schroffen Gegensätzen“ zusammen. So jedenfalls charakterisiert Reclams Konzertführer Liszts Musik für all jene, die sich lesenderweise auf das Klavierkonzert Nr. 1 einstimmen.52 45 vgl. oben Zitat zu Fn. 17. Franz Liszts Briefe, Hrsg. von La Mara [Marie Lipsius], Bd. 2, S. 41, zit. nach Meier 2011, S. 106. 47 Hamburger aaO, S. 280. 48 zitiert aus: Franz Liszts Briefe, aaO., Bd. 7, S. 58 (Orig. frz.), datiert vom 9. Februar 1874. 49 Es gibt drei Reihen von Konzertetüden: Douze études d’exécution transcendante (1851); Sechs Etüden nach Paganini (1851); Waldesrauschen und Gnomenreigen (1862/63) 50 Nr. 1 Es-Dur (1849) und Nr. 2 A-Dur (1839, bis 1861 mehrfach umgearbeitet) 51 erschienen 1854, Robert Schumann gewidmet 52 Renner, Hans / Schweizer, Klaus (1978): Reclams Konzertführer, S. 238. 46 27 Solche Musik kann das Publikum in Bann versetzen. Als Jugendlicher, selber schon etwas über die ersten Anfänge des Klavierunterrichts hinausgewachsen, war ich jedenfalls stolz, als mein Klavierlehrer meinte, ich könne einmal eine der einfacheren Ungarischen Rhapsodien von Liszt spielen. Zum Stolz gesellte sich auch der Ehrgeiz, mich mit dem übrigen Klavierwerk dieses Komponisten zu beschäftigen. Doch von einem sakralen oder religiösen Liszt, einem Liszt, der sich auch für Kirchenmusik stark machte, war mir bis dahin nichts bekannt. Und ich beobachte, dass es vielen Musikliebhabern auch heute so geht. Das systematisch-chronologische Werkverzeichnis, welches der britische Komponist und Liszt-Kenner Humphrey Searle zusammenstellte, umfasst nach dem Stand heutiger Forschung insgesamt 743 Einträge.53 Zum Vergleich können wir Zeitgenossen von Liszt heranziehen (Frédéric Chopin, Richard Wagner), die wesentlich weniger Kompositionen hinterliessen.54 Eine Übersicht zum Gesamtwerk bietet die Internet-Enzyklopädie Wikipedia. Zur groben Orientierung mag dies genügen. Liszts musikalisches Schaffen umfasst demnach 123 Klavierwerke, 77 Lieder, 65 geistliche und 28 weltliche Chorwerke, elf Werke für Orgel, eine Opernparaphrase, 25 Orchesterwerke, sieben Werke für Klavier und Orchester, neun Kammerkonzerte, fünf Melodramen und sage und schreibe 335 Arrangements (Transkriptionen) sowie 17 unvollendete Werke.55 Auffallend sind die im Vergleich zu den Klavierwerken (123) auffallend hohe Zahl geistlicher Chorwerke (65), ebenso die vielen Lieder (77). Doch wer hat schon Lieder von Liszt gehört? Diese Musikgattung fehlt heute, neben dem sakralen Liszt, fast völlig im Konzertbetrieb. Das zeigt uns ein für Liszt typisches Phänomen: Trotz hoher Qualität ist anderes als sein Klavierwerk selten gespielt und damit auch selten zu hören. Ein Grund liegt liegt in den hohen künstlerischen Anforderungen. Dies gilt besonders auch für die beiden 53 http://www.klassika.info/Komponisten/Liszt/index.html (letzter Aufruf 21.8.2013), vgl. Altenburg, Detlef (2004): Artikel Franz Liszt, in: MGG (2.A. 1994ff), Bd. 11, Sp. 203-311. 54 F.Chopin: 255 Einträge; R.Wagner: 143 Einträge. Während Chopin (1810-1849) jung starb, lebte Wagner (1813-1883) nur fünf Jahre kürzer als Liszt (1811-1886). 55 http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Liszt#Werk-.C3.9Cbersicht; in dieser Übersicht nicht enthalten ist Liszts literarisches Schaffen (Briefe, Aufsätze). 28 grossen Oratorien (Heilige Elisabeth; Christus). Liszts Werk ist nicht für Amateure geschrieben. Es ist, um ein Wort von Origenes zu benutzen, Athletenkost. 56 Liszt komponierte aber neben viel Klaviermusik und symphonischen Werken fünf Messen, darunter ein Requiem, und er schuf sechs Psalmvertonungen. Dazu kommen mehrere Kantaten, eine Reihe kleinerer liturgischer Stücke, wozu auch die Via Crucis gehört, sowie zwei Oratorien, die symphonisch angelegt sind. Bevor ich auf die beiden Oratorien näher eintrete, will ich skizzieren, inwiefern es kein Zufall ist, dass Liszt sich derart intensiv mit Kirchenmusik auseinandersetzte. Im ersten Kapitel (Biographie) haben wir Liszt als Menschen kennengelernt, dem der Kontakt zur Kirche wichtig war und der sich in schwierigen Lebensumständen gegen eine Laufbahn als Priester entschieden hatte und stattdessen bei der Kunst blieb. Sein inneres Ringen ging so weit, dass man sogar die These aufstellen kann: Wäre Liszt pianistisch deutlicher weniger begabt gewesen und hätte er stattdessen die nötige schulische Voraussetzung mitgebracht, er hätte wohl den Weg der Theologie eingeschlagen. So aber entfaltete er seine priesterliche Berufung mehr und mehr durch die Musik. 2.1 Weimarer Zeit Das Jahr 1847 bedeutete hierin eine Wende. Nicht nur, weil Liszt damals die strenggläubige Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein kennenlernte, sondern auch, weil er, durch die Fürstin ermutigt, fortan das Amt eines grossherzoglichen Kapellmeisters in Weimar innehatte.57 Und in Weimar wirkte Liszt fortan nicht nur als Dirigent, sondern er liess das Klaviervirtuosentum in den Hintergrund treten. Denn er wollte sich bewusst mehr Zeit zum Komponieren widmen. So entstanden in der Stadt Schillers und Goethes neben der Vertonung weltlicher Werke (u.a. Faust) schliesslich auch geistliche. Liszt hatte sich entschieden, die rastlose Existenz des Virtuosen aufzugeben und sich dauerhaft in der thüringischen Residenzstadt anzusiedeln. In der Altenburg, im „blauen Zimmer“ mit Blick auf den Garten, fand er das ideale Refugium für seine 56 57 Vom Gebet (Peri euches / De Oratione) 27,4. Vgl. Zugänge Kap. I.1.8. 29 kompositorische Arbeit. Zwischen Schreibpult und Flügel, im Angesicht von Albrecht Dürers (1471-1528) „Melancholia“ und einer Zeichnung seines Namenspatrons, des heiligen Franz von Paola (1416-1507), der über das Wasser schreitet, vollendete er in den nächsten Jahren seine Klavierkonzerte, die h-Moll-Sonate und die Symphonischen Dichtungen (eine Symphonie zu Dantes Divina Commedia und eine Faust-Symphonie in drei Charak-terbildern mit dem Chor über die Schlussverse aus Faust II: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“. 58 Wenn man von Liszts frühem, leider verschollenen Tantum ergo absieht, das er mit elf oder zwölf Jahren schrieb,59 sowie einzelnen weiteren geistlichen Vokalwerken der Virtuosenjahre,60 begann Liszt in Weimar mit der Umsetzung einer Vision von Kirchenmusik, die er in seiner Pariser Jugendzeit formuliert hatte. Zuerst widmete sich Liszt in Weimar zwar wie erwähnt symphonischer Orchestermusik. Doch schon 1848 entstand ein erstes grösseres geistliches Werk (Messe für Männerchor und Orgel). Es dokumentiert Liszts Auseinandersetzung mit dem Geist der Liturgie. 2.2 Rückblende Wir blenden zurück: Im Mai 1834 erschien in Frankreich eine radikale Schrift, die Paroles d’un croyant (Worte eines Gläubigen, die dt. Übersetzung erschien noch im selben Jahr in Hamburg). In Kreisen der Intellektuellen und der Künstler erregte sie grösstes Aufsehen. Liszt las sie ebenfalls und schrieb dem Verfasser einen hymnischen Brief. Von da an wurde aus der Bekanntschaft eine zwanzigjährige, treue Freundschaft, bis zum Tod des Verfassers (1854). Der Verfasser aber war Félicité Robert de Lamennais (1772-1854), ein katholischer Priester, der seit 1817 durch seinen Essai sur l’indifférence im öffentlichen Leben kein Unbekannter mehr war und seit da immer wieder Aufsehen erregte. Liszt begann übrigens schon 1830 eine Komposition gleichen Titels. Leider ist davon nur eine Skizze erhalten.61 Nach der Julirevolution 1830 jedenfalls übte Abbé Lamennais verstärkt Kritik an der Kirche. Er begann sich im Namen des Christentums und eines humanitären Ideals gegen sie zu 58 im Frühjahr 1857 fertiggestellt und im September in Weimar zur Aufführung gebracht. Detlef Altenburg: MGG, Bd. 11, Sp. 299. 60 Zu diesen geistlichen Werken, die während der Virtuosenjahre entstanden, zählen die Hymne de l’enfant à son réveil, Die heilige Cäcila, das Pater noster, das Ave Maria und die Männerchormesse Missa quatuor vocum, vgl. Altenburg aaO., sowie, für die zeitliche Datierung: Hamburger 2011. In den Virtuosenjahren komponierte Liszt v.a. Klaviermusik. 61 Dömling, Wolfgang (1985): Franz Liszt und seine Zeit, S. 80. 59 30 wenden. Seine Paroles aber führten zum endgültigen Bruch mit Rom. Er wurde im Juni 1834 exkommuniziert. (Nach seinem Lebensende verweigerte man ihm ein kirchliches Begräbnis. Er kam auf dem Friedhof Père-Lachaise ins Massengrab.) Liszt war nach seiner Existenzkrise nach dem Tod seines Vaters und der Mésalliance mit dem Mädchen des Hochadels (Caroline de Saint-Cricq) empfänglich für religiöse Sinngebung. Er verschlang alle Bücher, die ihm in die Hand fielen. Besonderen Gefallen aber fand er an Lamennais‘ Vision einer wahrhaft christlichen, das heisst zugleich auch einer menschlichen, neuen Welt. Ein Abschnitt aus der Schrift von Lamennais ist mir besonders aufgefallen. Rührt Liszts Verständnis für das Erlösungswirken Jesu am Kreuz vielleicht von dieser Stelle her? Lamennais beschwört darin mit zahlreichen apokalyptischen Motiven das baldige Kommen des Gottesreiches. Aus einer längeren Passage zitiere ich folgende Stelle: Ich sehe gen Mitternacht Menschen, die nur noch einen Überrest von Wärme in ihrem Haupte verschliessen, der sie berauscht; aber der Herr berührt sie mit seinem Kreuze und ihr Herz beginnt wieder zu schlagen. Ich sehe gen Mittag Völker unter einem unbekannten Fluche zu Boden gedrückt, ein lastendes Joch hält sie darnieder, sie gehen gebückt, aber der Herr berührt sie mit seinem Kreuze und sie erheben sich wieder.62 Durch Lamennais hatte Liszt zu seiner Weltsicht gefunden. War er vielleicht auch mit dem Kreuz des Herrn berührt worden, im Sinne einer inneren Erfahrung von Christusgegenwart? Darüber schweigen sich die Biographen aus. Sicher ist, dass Liszt bereits im August 1834 eine Skizze Über zukünftige Kirchenmusik verfasste.63 Seine Weltanschauung fasste er damals wie folgt zusammen: Ich glaube ein wenig an mein Herz, und stark an Gott und die Freiheit.64 1835 schreibt Liszt Zur Stellung der Künstler: Wir Künstler glauben so unerschütterlich an die Kunst wie an Gott und die Menschheit, die in ihr ein Organ und ihren erhabenen Ausdruck finden.65 62 ebd. S. 82. Die Veröffentlichung erfolgte am 30. August 1835, vgl. Steinbach-Ditsch, Angelika Anna Maria (2009): Liszts Christus, S. 11. 64 Gemäss einem Brief an Marie d’Agoult vom Mai 1834, zit. nach Hamburger 2010, S. 40. 63 31 Nach Liszts Überzeugung waren Tonkünstler seit diesen Jahren rund um die Revolution von 1830 „Priester“ und „Märtyrer der Kunst“. 2.3 Wieder Weimar Mit Ausdauer, Leidenschaft, Ernsthaftigkeit und aus solch visionärer Kraft schöpfend, wandte sich Liszt dann in Weimar ab 1853 sehr bewusst der oratorischen Aufgabe zu. So bemerkt er selber in einem späteren Brief, den er 1862 nach Vollendung seines dann ersten Oratoriums Legende von der heiligen Elisabeth verfasste: Nachdem ich dir mir gestellte symphonische Aufgabe in Deutschland, so gut ich es vermochte, zum grösseren Teil gelöst habe, will ich nunmehr die oratorische erfüllen.66 Mit dieser Bemerkung nimmt Liszt seine eigene Entwicklung vorweg, indem er sozusagen vom Jahr 1862 (und in Rom) vorwärts in die Zukunft blickt. Und es sollte tatsächlich nicht bei der Vollendung eines einzigen Oratoriums beiben. Schon 1853 hatte Liszt mit Arbeiten an seinem „Christus“, dem zweiten Oratorium, begonnen. Diesen Abschluss hatte er damals 1862 im Blick. Mit dem „Christus“ wurde er allerdings erst 1867 fertig. Beide Oratorien wollen nichts weniger bezwecken als die Erneuerung der Oratorienform. Musikalisch gesehen sind sie - ebenso wie die Symphonischen Dichtungen reich ausgestaltet. Sie haben hochdramatischen Charakter. Dabei bleiben sie gleichzeitig einem an liturgischer Frömmigkeit orientierten Geist treu. Sie strahlen, neben vielen unbändigen, exzessiv-gefühlserfüllten Stellen, immer wieder auch den Stil kirchlicher Würde und Tradition aus.67 Historisch gesehen müssen wir schliesslich noch Folgendes bedenken: Das oratorische Schaffen Liszts fällt in eine Zeit, in der die Wiederherstellung (Restauration) der katholischen Kirchenmusik, die Renaissance alter A-capella-Gesänge (Gregorianik; Palestrina) zur Vertiefung der Liturgie als „Quelle des Glaubens und der Frömmigkeit“ durch den „Allgemeinen Cäcilienverein für die Länder deutscher Zunge“ einsetzte.68 Wenn Liszt als schöpferischer Komponist nun andere Wege ging als die von 65 Zit. nach Steinbach-Ditsch aaO., S. 9 Oehlmann, Werner (1987): Reclams Chormusik- und Oratorienführer, S. 438. 67 ebd. 68 Hochstein/Krummacher 2013, S. 57. 66 32 der Kirche approbierten Liturgiker,69 so stimmte er doch mit deren hohen Auffassung des Zieles überein: Es ging ihm ebenfalls darum, seiner Zeit jene allgemein bedeutende, von christlichen Glaubenselementen und Klangformen durchdrungene religiöse Kunst zu geben, die sie seiner Meinung nach nicht mehr besass. Versucht man es von Liszt her zu betrachten, zählten seine beiden Oratorien sicher zu den persönlichen Höhepunkten seines Schaffens. Am besten kommt das in einer zeitgenössischen Zeichnung zum Ausdruck. Sie zeigt Liszt in der Soutane des Abbé, wie er die Heilige Elisabeth dirigiert (s.u. Abb. 2). 2.4 Legende von der heiligen Elisabeth Dieses erste Oratorium, dem ich mich jetzt im Sinne eines Überblicks zuwenden möchte, hatte Liszt 1857 tatsächlich noch in seiner dichten und arbeitsintenstiven Zeit in Weimar begonnen, nachdem er die oben erwähnten Messe für Männerchor mit Orgel abgeschlossen (1848) und zwei weitere, grossdimensionierte und symphonisch konzipierte geistliche Werke in Angriff nahm (Graner Messe; 13. Psalm). An der Legende von der heiligen Elisabeth arbeitete Liszt mit Unterbrüchen während fünf Jahren. 1862 vollendete er sie endlich, in Rom. Vier Wochen nach der Fertigstellung erreichte ihn im September 1862 die Nachricht vom tragischen Tod seiner erst 27 Jahre alten Tochter Blandine. 70 In den Monaten danach versuchte er einen Weg der Verarbeitung mit einem Klassiker der Kirchenmusik: Liszt schrieb Variationen über das Motiv von Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen. In musikalischer Hinsicht handelt es sich um eine Hommage an J.S. Bach. Das Thema der Variationenfolge ist das sich chromatisch senkende Seufzermotiv der Bachkantate Nr. 12 (mit demselben Titel) sowie das Crucifixus von Bachs h-MollMesse. Das Werk wird vor dem Schluss - wie spannend für einen in Rom bald mit 69 Die frühe, richtungsweisende Persönlichkeit der von Regensburg ausgehenden cäcilianischen Reformbewegung war Carl Proske (1794-1861). Eine prägende Gestalt war der Priester und Kirchenmusiker Franz Xaver Witt (1834-1888). Die Bewegung mündete 1868 in die Organisation des Allgemeinen Cäcilienvereins für die Länder deutscher Zunge, welche 1870 von Pius IX. kirchenamtlich bestätigt wurde (Breve Multum ad movendos animos), vgl. Kirsch, Winfried (2013): Kirchenmusikreform, Cäcilianismus und Palestrina-Renaissance, in: Hochstein, Wolfgang / Krummacher, Christoph (Hrsg.; 2013): Geschichte der Kirchenmusik in 4 Bänden, Bd. 3, S. 56-71. 70 vgl. Kap. I.1.8, Fn. 36. 33 hohen Kreisen der Kirche verkehrenden, zukünftigen Abbé! - ebenso wie bei Bach mit einem protestantischen Choral gekrönt: Was Gott tut, das ist wohlgetan.71 Eine zeitgenössische Zeichnung zeigt, wie der Komponist seine Heilige Elisabeth knapp drei Jahre später anlässlich der Uraufführung in Pest am 15. August 1865 selber dirigierte, und wie erwähnt in jener Soutane, die er im Frühjahr desselben Jahres in Rom seit dem Empfang der vier niederen Weihen trug. Auf den ausgedehnten Reisen blieb das AbbéGewand zwar im Koffer zurück. Man wusste in Europa über den neuen geistlichen Stand durchaus Bescheid und da war es kaum nötig, das Lächeln gewisser Kreise noch mehr herauszufordern als nötig.72 Abb. 2: Franz Liszt dirigiert sein Oratorium Legende von der Heiligen Elisabeth. Die Uraufführung verlief, ebenso wie wiederholte Aufführungen in anderen Städten, äusserst erfolgreich. Sie fand im Pester Redoutensaal statt. Man kann sich leicht vorstellen, wie ein in einem weltlichen Gebäude aufgeführtes, geistliches Konzert wirkt, das zudem von einem berühmten Dirigenten in klerikaler Gewandung geleitet wird. Hier wird eine religiöse Botschaft in die Welt hinausgetragen, mit der sich der Komponist offenbar zutiefst identifiziert. Kommt Künstlern demnach eine priesterliche Aufgabe zu? Von einem eindeutigen Ja in dieser Frage war Liszt seit 1834, als er eine frühe Skizze zu einer zukünftigen Kirchenmusik verfasste, zutiefst überzeugt: Heute, da der Altar erbebt und schwankt, heute, da Kanzel und religiöse Zeremonien Gegenstand des Zweifels und des Spottes sind, muss die Kunst notwendigerweise aus dem Tempel heraustreten, sie muss sich verbreiten und ihre kühne Entwicklung ausserhalb vollenden. Wie einst, und noch mehr, muss die Musik sich an VOLK und GOTT wenden; sie muss vom einen zum anderen gehen; den Menschen bessern, veredeln und trösten, Gott loben und preisen.73 71 vgl. Hamburger 2011, S. 168. de Pourtalès 1926, S. 321. 73 Die Kirchenmusik (1834), in: Liszt, Franz: Sämtliche Schriften, hrsg. von Detlef Altenburg (2000), Bd. 1: Frühe Schriften, hrsg. von Rainer Kleinertz, S. 57ff. 72 34 Nun endlich, mit der erfolgreichen Aufführung der Heiligen Elisabeth, war Liszt an jenem Punkt angelangt, „Volk und Gott“ auf eine Weise zusammengebracht zu haben, wie es ihm seit der politischen Wende vom Juli 1830 vorschwebte, als er Ideen der französichen Revolution auf die Musik und die Musiker übertrug:74 [Es] muss eine neue Musik geschaffen werden. Diese zutiefst religiöse, starke und wirksame Musik, die wir in Ermangelung eines anderen <Namens> Menschheitsmusik [musique humanitaire] nennen wollen, wird THEATER und KIRCHE in gewaltigen Ausmassen vereinigen. Sie wird zugleich dramatisch und weihevoll sein, prachtvoll und einfach, pathetisch und ernst, feurig und wild, stürmisch und ruhig, heiter und zart.75 Und in der Tat: Das Oratorium Heilige Elisabeth fusst auf einer volkstümlichen Legende und ist eine geistliche Parallelgeschichte zu Wagners Tannhäuser.76 Es ist in zwei grosse Teile mit sechs Lebensstationen angelegt und malt ein musikalisches Porträt über Elisabeth von Thüringen (1207-1231).77 Mit der vier Jahre nach ihrem Tod ungewöhnlich schnell heiliggesprochenen Frau hatte Liszt die Verbindung zu Ungarn gemeinsam. Beide teilten sie das Schicksal, schon in frühen Jahren aus ihrer Heimat in die Ferne geführt worden zu sein. Neben anderen biographischen Parallelen78 scheint mir wichtig, auf jene religiösen und kirchlichen Motive hinzuweisen, mit denen sich Liszt auseinandersetzte. Es sind dies das Rosenmirakel (I,10), ein Danksagungsgebet (I,11), ein Kreuzritterchor (I,12), ein Gebet Elisabeths (II,5), Werke 79 der Barmherzigkeit (II,7), ein Engel- (II,9) sowie ein Schlusschor „mit ungarischen und deutschen Bischöfen“ (II,14). Wie Wagner arbeitete Liszt mit Leitmotiven. Elisabeth charakterisiert er mit einer zarten Flötenmelodie auf die alte Weise Quasi stella matutina. Dieses Lied wurde im 16. 74 Vgl. Hamburger 2011, S. 38. Die Kirchenmusik (1834), in: Liszt, Franz: Sämtliche Schriften aaO., S. 59. 76 Michels Ulrich (2011): dtv-Atlas Musik, Bd. 2 (Musikgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart), S. 425. 77 Die zentralen Lebensstationen hat die strenggläubige Fürstin von Sayn-Wittgenstein angeregt, indem sie eine Handlungsskizze entwarf, aus der wiederum der Schriftsteller Otto Roquette (1824-1896) das Libretto schuf. Anregungen zum Werk empfing Liszt ferner von sechs Fresken des österreichischen Malers Moritz von Schwind (1804-1871). Die Fresken sind zwischen 1853 und 1855 auf der Wartburg entstanden, welches in der geographischen Nähe von Weimar liegt und nicht nur Liszts Lebens- und Wirkensort war, sondern auch jenes von Elisabeth. Insofern u.a. bildende Kunst den Komponisten zu seinem Stoff inspirierte, kann davon gesprochen werden, dass er nun mit musikalischen Mitteln ein Lebensbild dieser Heiligen zeichnete. 78 Vgl. Klaholz, Kerstin (2007): Revolutionär im Kirchengewand - Franz Liszt: Legende von der Heiligen Elisabeth (CD-Booklet zur Heiligen Elisabeth), S. 11. 79 Vgl. Jesu Rede vom Weltgericht Mt 25,31-40; zur späteren Unterscheidung von leiblichen und geistlichen Werken der Barmherzigkeit siehe KKK 2447. 75 35 Jahrhundert bei kirchlichen Festen der Heiligen gesungen und fand erst später als Weihnachtslied Joseph, lieber Joseph mein zu volkstümlicher Verbreitung. Ein anderes Leitmotiv ist die Verwendung eines Gloria-Motivs aus dem 10. Jh. Als Elisabeths Mann Ludwig seine Frau verlässt, weil er zum Kreuzzug aufbricht, singt der Kreuzritterchor: In’s heil’ge Land, ins Palmenland,/ wo des Erlöseres Kreuz einst stand,/ sei unsres Zugs Begleiter! (I,12) Das gregorianische Gloria-Motiv (Notenbeispiel 1) entwickelt sich hier zu einem ritterlichen Marsch (Notenbeispiel 2): Notenbeispiel 1: Franz Liszt: Gloria-Motiv Notenbeispiel 2: Die Legende von der heiligen Elisabeth, Kreuzritterchor Beispiele für derlei Kompositionstechnik lassen sich vermehren. Das Verfahren lautet: Man wählt ein Motiv der Liturgie und variiert dieses mit mannigfachen Bezügen auf eine Grundlage (idée fixe). Noch deutlicher als in der Heiligen Elisabeth dokumentiert das zweite Oratorium Christus Liszts Auseinandersetzung mit Elementen von Volksfrömmigkeit, Liturgie und dann in verstärktem Masse auch mit der Bibel. 2.5 Christus Wegen der lateinischen Sprache und den aus der Gregorianik entlehnten Melodien kann Christus, Liszt zweites Oratorium, das ebenfalls in Rom entstanden ist und fünf Jahre nach der Heiligen Elisabeth fertiggestellt wurde (1867), nur schwer mit Oratorien anderer Komponisten verglichen werden (Händel, Mendelssohn, Schubert, Bruckner). Es gliedert sich in drei Teile: erstens ein Weihnachtsoratorium, zweitens einen Teil Nach Epiphanias mit der Erzählung von Jesu Wirken und schliesslich drittens einen Passionsteil mit dem abschliessenden Resurrexit. Schon diese formale Anlage zeigt, dass Liszt auch hier alle üblichen Grenzen sprengt und Neues in Verbindung mit Altem wagt: Während J.S. Bach sein Weihnachtsoratorium unabhängig von den beiden Passionsvertonungen konzipierte, wird hier der Versuch unternom36 men, Jesu Leben, Sterben und Auferstehen integral zu fassen. Im Unterschied zu Bach und zur Heiligen Elisabeth sind die Textvorlagen allesamt lateinisch gehalten. Sie stammen aus der Bibel (Vulgata) und der Liturgie. Das deutet vordergründig einen konservativ-klerikalen Stil an. Dieser Eindruck wird aber sogleich wieder aufgehoben oder zumindest stark relativiert, weil Christus, genauso wie das Vorläuferoratorium, für Aufführungen nicht in Kirchen, sondern im Konzertsaal gedacht ist. Wenn die Auswanderung von „Kirchenmusik“ in den Konzertsaal im 19. Jahrhundert nicht etwas wirklich Revolutionäres darstellt, sondern zur damaligen Entwicklung gehört, dann ist doch speziell, wie Liszt, was sonst ausser ihm kein mir bekannter Komponist in solchem Masse tut, konsequent auf liturgische Motive, Formeln und Sprache zurückgreift und verwandelt, bis man das ursprüngliche Material nicht mehr heraushören kann. Das aber bedeutet, dass es Liszt darum ging, ins säkulare Umfeld hinein mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden Sprache, welches die Musik ist, in seiner Art priesterlich zu wirken. Denn ähnlich wie es ein Priester tut, wenn er betet und Gott stellvertretend für das Volk mithilfe liturgischer Formeln die Ehre gibt, so kommt es mir nun vor, als bete Liszt auch im Christus, wenn er in der Einleitung das gregorianische Thema Rorate coeli rein orchestral anstimmen lässt. Nur dass Liszt dies nicht mit der Sprache, sondern eben mit den Tönen tut. Oder er benutzt eine Parodie der Passionssequenz Stabat mater dolorosa, wenn er im dritten Stück die Mutterfreude Marias über das Kind in der Krippe beschreibt und daraus die Hymne Stabat mater speciosa formt. Es bleibt aber, wie beim betenden Priester, nicht beim blossen Zitieren gängiger Formeln auf einem überlieferten liturgischen Ton, sondern das Material (Töne) wird mannigfaltig variiert und entwickelt eine eigene Dynmanik. So wird eine von ihrem Kern her kirchliche Musik zu einer phantastischen, von der Freiheit des romantischen Geistes inspirierten, eigenen Feier. Beide Oratorien wurden bis ins 20. Jahrhundert hinein viel aufgeführt. Das 1869 abgeschlossene Requiem hingegen blieb weitgehend unbekannt. 2.6 Zusammenfassung und Ausblick Für Liszt war Musik eine Sprache, das musikalische Kunstwerk die Gestaltung einer poetischen Idee, eine „Dichtung in Tönen“. In den Symphonischen Dichtungen hat er die Idee der Programmmusik verwirklichkt: Charakteristisch für Liszts Konzeption ist 37 sein ästhetischer Anspruch, literarische (Faust, Divina commedia, Bibel) und bildnerische Werke der Weltliteratur (Gemälde: Die Hunnenschlacht, Sposalizio; Skulpturen: La notte, Il pensieroso) gleichsam in Musik aufgehen zu lassen. Was Liszt schon im Christus probiert hatte, setzte er, beeinflusst von kirchenmusikalischen Reformideen (G. Spontini; Cäcilianismus) in der Missa choralis (1865) fort: auf der Grundlage des Gregorianischen Gesangs an einer Stilsynthese zu arbeiten, die Elemente des strengen Palestrinastils mit differenzierten musikalischen Ausdrucksmitteln der Romantik vereinigt. Die Werke der letzten Schaffensperiode (1870 bis 1886) wurden in der älteren LisztForschung dann wegen der Kargheit ihres Stils als Indiz für die nachlassende Schaffenskraft Liszts gewertet. In der neueren Liszt-Forschung hingegen wird auf den Zusammenhang von Sujetwahl (Trübe Wolken; Von der Wiege bis zum Grabe; La lugubre gondola; Unstern) und der asketischen Schlichtheit des Stils hingewiesen und zum anderen auf die Vorwegnahme von Tendenzen der Neuen Musik des 20. Jh. hingewiesen. Dieser Zusammenhang wie dieser Fingerzeig in die Moderne können auch für die Via Crucis geltend gemacht werden. Vielleicht war sie Liszts später Versuch, die Utopie von 1834 zu realisieren - „eine zukünftige Kirchenmusik“ zu schaffen, die ‚humanitaire‘ ist, […] zutiefst religiöse, starke und wirksame Musik, […] [sie vereinigt] THEATER und KIRCHE in gewaltigen Ausmassen […]. Sie wird zugleich dramatisch und weihevoll sein, prachtvoll und einfach, pathetisch und ernst, feurig und wild, stürmisch und ruhig, heiter und zart.80 80 Die Kirchenmusik (1834), in: Liszt, Franz: Sämtliche Schriften aaO., S. 59; vgl. Dömling 1985, S. 84; s.o. II.2.4. 38 3. Die Kreuzwegandacht: Spiritualität, Geschichte, Musik Es ist ein historisches Kapitel zur Entwicklung der Kreuzwegandacht und seiner Spiritualität, das nun auf die Beschreibung von Liszts Leben und Werk folgt. Nach einer kurzen Exposition des liturgischen Brauchtums werde ich die biblischen Bezüge der einzelnen Stationen bezeichnen sowie ein paar Entwicklungen nennen, welche die biblische Passionsüberlieferung sowohl in der Musik wie in der Spiritualitätsgeschichte möglich machten. Kreuzwege sind neben musikalischen Passionen, Andachtsbüchern, Passionsspielen, Kruzifixen und Bildern (Ikonographie) der lebendige Teil einer vielseitigen Wirkungsgeschichte der biblischen Passionserzählungen. Die grosse thematische Vielfalt und Komplexität grenze ich auf die Haupttexte von Liszts Via Crucis ein. Dies führt, wie im Fall des Hymnus Vexilla regis prodeunt, zur Passionsfrömmigkeit der Alten Kirche, sowie, wegen des Salve caput cruentatum81 und des Stabat mater dolorosa, zur Passionsmystik des Hoch- und Spätmittel-alters. In ihrer franziskanischen Form war der Kreuzweg besonders in Rom wirksam. Wir werden sehen, dass Liszt sie in dieser Ausprägung auch dort kennen lernte. 3.1 Kreuzwegbrauchtum im Überblick Traditionell findet in katholischen Kirchen am Karfreitag keine Messe statt, sondern die Gläubigen versammeln sich zur Todesstunde Jesu (15 Uhr) zu einem Wortgottesdienst. Dort wird an das Leiden und Sterben Jesu gedacht. Die katholische Kirche kennt zudem den Brauch, an Kreuzwegandachten mit sogenannter Kreuzverehrung teilzunehmen. Die Kreuzwegandacht kann nicht erst am Karfreitag, sondern schon in der ganzen 40-tägigen Passionszeit begangen werden. Besonders feierlich ist dies aber am Karfreitag der Fall. Als reformierter Pfarrer kann ich nur schwer beurteilen, wo überall dieser Brauch in der Schweiz (noch) lebendig ist. Immerhin deutet der Umstand, dass von diversen Verlagen Material- und Werkhefte erscheinen und sich zwei liturgische Formulare auch im Katholischen Gesangbuch finden, darauf hin, dass der 81 In der sechsten Station ertönt O Haupt voll Blut und Wunden - die berühmt gewordene dt. Übertragung von Paul Gerhardt des aus dem 13. Jh. stammenden latenischen Hymnus Salve caput cruentatum, s.u. Kap. III.2.5. 39 Brauch, selbst wenn er da oder dort vielleicht eingeschlafen sein sollte, mit einer Portion frischen Mutes durchaus wieder zu neuem Leben erweckt werden kann. 82 Wie dem auch heute sei: Der Brauch der Kreuzwegandacht ist alt. Er geht ins 3. Jahrhundert zurück und zwar an den historischen Schauplatz der damaligen Geschehnisse rund um das Sterben und den Tod Jesu: nach Jerusalem. Denn in Jerusalem feierte man die ganze Woche vom Palmsonntag an (Heilige Woche), indem man Jesu Weg nachging. Vorläufer der heutigen Kreuzwegandachten sind seit dem 14. Jh. bekannt. Nach 1590 gab es dabei 12 Stationen, 1625 fügte der spanische Franziskaner Antonio Daza zwei weitere hinzu, so dass seit dem 19. Jh. Stationen üblich sind.83 Seit dem Beginn des 18. Jh. wurden Kirchenwände mit Kreuzwegbildern behängt. An heiligen Stätten entstanden entsprechende Wallfahrtskirchen und Wallfahrtswege. Die genaue Disposition des Kreuzweges, wie sie bis heute gilt, erstellte gegen Mitte des 18. Jahrhunderts ein weiterer Franziskaner: Leonardo de Porto Maurizio (16761751). Auf ihn werde ich später noch eingehen. Diese Spur führt uns direkt nach Rom. Doch zuvor soll noch etwas zu den Wurzeln der 14 Kreuzwegstationen gesagt werden. Sie sind biblischer Natur. 3.2 Der Kreuzweg in der Bibel Jesus starb vermutlich am 14. Nissan des Jahres 30 und zwar im Alter von 34 oder 35 Jahren.84 Wir müssen uns dabei vor Augen halten, dass dieses Todesalter für einen Mann der damaligen Zeit ziemlich normal war. Die Art jedoch, wie dies geschah, nämlich durch Kreuzigung, galt als grausamste Folter- und Hinrichtungsmethode der Antike. In der Regel führte eine Kreuzigung zum Erstickungstod - wenn der Todeskandidat die vorherige Tortur der Geisselung überhaupt lebend überstand. 82 Für die jüngste Vergangenheit in Deutschland repräsentativ ist der Ökumenische Kreuzweg der Jugend. Er wird seit 1958 begangen und feierte im vergangenen Frühjahr sein 55. Jubliäum, www.jugendkreuzwegonline.de. In Zürich wird am Karfreitag 2014 zum zwanzigsten Mal der Ökumenische Kreuzweg durch die Innenstadt stattfinden. 83 Kneller, Carl Alois (1941): Zur Geschichte der Kreuzwegandacht, in: GuL 16/3 (1941), S. 126-137; Herzog, Markwart (1992): Kreuzwege: Vergegenwärtigung von Entferntem und von Vergangenem, in: GuL 65/2 (1992), S. 122-133. 84 Begzüglich des Todestages bezieht sich die heutige Forschung stärker auf das Evangelium nach Johannes als auf die anderen drei Evangelien. Weil Jesus kaum am grössten jüdischen Festtag gekreuzigt worden sein dürfte (Pessach), wäre er am Freitag vor diesem Festtag, am sogn. Rüsttag des Pessachfestes gestorben (Joh 19,14). 40 Ich will nicht weiter auf die antiken Folter- und Bestrafungsmethoden eingehen. Die biblische Bewertung ist bezeichnend genug: Im Judentum war eine solche Strafe geichbedeutend mit dem Verfluchtsein durch Gott.85 Die Bibel kennt vier Passionsüberlieferungen (Mk 14/15; Mt 26/27; Lk 22/23; Joh 18/19). Zu den vierzehn Kreuzwegstationen lässt sich für zehn Stationen mindestens ein biblischer Bezug herstellen.86 Das kann wie folgt dargestellt werden: Biblische Überlieferung Thema der Station 1 Markus 14,61-64 par. Jesus wird zum Tod verurteilt 2 Johannes 19,14-17 par. Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schulter 3 -- Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz 4 Johannes 19,26f87 Jesus begegnet seiner Mutter 5 Markus 15,21 par. Simon von Zyrene hilft Jesus das Kreuz tragen 6 --88 Veronika reicht Jesus das Schweisstuch 7 -- Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz 8 Lukas 23,27-31 Jesus redet zu den weinenden Frauen 9 -- Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz 10 Johannes 19,23-24 par. Jesus wird seiner Kleider beraubt 11 Lukas 23,33 par. Jesus wird ans Kreuz genagelt 12 Lukas 23,44ff par. Jesus stirbt am Kreuz 13 Johannes 19,38ff par. Jesus wird vom Kreuz genommen 14 Matthäus 27,59ff par. Jesus wird ins Grab gelegt Übersicht 1: Die vierzehn Kreuzwegstationen und ihr biblischer Bezug 85 Dtn 21,23; Paulus: Gal 3,13; 1 Kor 1,23. Einzig für das dreimalige Umfallen Jesu (Stationen III, VII, IX) sowie die Reichung des Schweisstuches durch Veronika (Stat. VI) findet sich kein biblischer Bezug. 87 Der biblische Bezug von Stat. IV ist implizit: Eine direkte Begegnung mit seiner Mutter ist Legende. Johannes berichtet aber, wie Maria unter dem Kreuz stand und bis zu seinem Tod ausgeharrt hat (Joh 19,26f). 88 Seit dem sechsten Jahrhundert wird die Legende von Veronika überliefert. Sie knüpft an eine kurze Bemerkung bei Lukas an: "Es folgte ihm aber eine grosse Volksmenge und viele Frauen, die klagten um ihn und weinten“ (Lk 23,27). 86 41 3.3 Der Kreuzweg in den Anfängen christlicher Liturgie In der historischen Entwicklung des christlichen Gottesdienstes hat die Passionsüberlieferung unter den übrigen liturgischen Evangelienlektionen von Anfang an eine besondere Stellung eingenommen. Die ursprünglich nur gelesenen Textabschnitte aus der Passion entwickelten sich im Laufe der Geschichte der europäischen Kunstmusik durch die Klangwerdung der lateinischen Liturgie zu einer zukunftsträchtigen musikalischen Gattung. Mit Papst Leo I. (440-461) etablierte sich die Ordnung, an bestimmten Tagen der Karwoche jeweils zwei Passionskapitel entweder bei Matthäus (Palmsonntag) oder Johannes (Karfreitag) vorzulesen. Dieser Papst gilt übrigens wegen seiner Verdienste um die Kirchenmusik als Patron der Sänger und Musiker. Bis zum 10. Jh. hat sich diese Ordnung dann weiter verfeinert, dass auch die anderen zwei Evangelien vorgetragen wurden (Markus am Dienstag der Karwoche; Lukas am Mittwoch). Der Passionsgesang im Rahmen des römischen Messgottesdienstes war anfangs einstimmig. Er erfolgte nach bestimmten sogenannten Lektionstönen.89 Das ermöglichte eine Unterscheidung zwischen erzählenden und in direkter Rede formulierten Texten.90 Die schlichte, auf besonderen melodischen Formeln beruhende Art der Rezitation entsprach dabei, wie der Zürcher Musikwissenschaftler Kurt von Fischer feststellt, „durchaus dem Passionsverständnis und der Passionsfrömmigkeit, wie sie in der Westkirche bis ins frühe und mittlere 12. Jahrhundert vorherrschend waren und dem Leitsatz des Kirchenvaters Aurelius Augustinus (354-430) entsprachen: „Lignum pendentis cathedra factum est docentis“ („Das Holz des am Kreuz Hängenden ist zur Lehrkanzel geworden“).“91 3.4 Antike Passionsliturgie Die Haltung eines zuerst einmal überhaupt nicht leidenden, sondern ohne Zeichen von Qual vorgestellten, lebenden Jesus am Kreuz hat mit einem ersten frühen „Grundmodell von Passionsfrömmigkeit“ (Ulrich Luz) zu tun, das die Antike bestimmte.92 Obwohl das gr. Wort für das Passahfest (pascha)93 klanglich an gr. 89 Von Fischer, Kurt (1997): Die Passion - Musik zwischen Kunst und Kirche, S. 15. Diese Art des Vortrags geht letztlich auf Platons Rhetorik und Affektenlehre zurück, vgl. von Fischer ebd. 91 Ebd. 92 Luz, Ulrich: EKK I/4, S. 13-48 93 Fast in allen europäischen Sprachen (ausser engl. und dt.) ist pascha (lat./gr.) die Wurzel zur Bezeichnung für das Osterfest, vgl. U.Luz, aaO. 90 42 paschein (dt. leiden) erinnert, stand im frühen Christentum zuerst nicht der Gedanke des Leidens im Vordergrund, sondern die Bewegung vom Tod zum Leben, von Unwissenheit zu Wissenheit. So stand die Osternacht ganz im Zeichen der Osterfreude. Der Blick war auf den Auferstandenen gerichtet, das Kreuz ein Zeichen des Sieges. Auf Golgotha wird von Ostern her geblickt. Die Ikonographie jener Zeit veranschaulicht den Blick auf Golgotha von Ostern her deutlich: Ein Passionssarkophag aus dem Vatikan (um 340)94 stellt das Sterben Jesu unter den Aspekt des Sieges. Der Blick wird auf Christus als Auferstandenen gelenkt. Der Dornengekrönte wird herrscherlich dargestellt. Die Dornenkrone ist als Siegeskranz dargestellt. Damit wird auch hier das Kreuz nicht primär unter dem Aspekt des Leidens interpretiert, sondern der Kranz steht für Königskrönung und als Triumphzeichen. Schliesslich gewinnt die Passion Jesu unter dem Aspekt des Leidens in der Frömmigkeit der Alten Kirche dann doch bald auch ein eigenes Gewicht. So beginnt Augustinus über die Passion zu predigen (De passione Domini). Veränderungen manifestieren sich auch in liturgischer Hinsicht: Ab dem 4. Jh. erhält das triduum sacrum - die drei Tage von Karfreitag bis Ostersonntag - stärkeres Gewicht. Und im Zusammenhang mit dem Jerusalempilgertum kommt es zur Wiederentdeckung des Grabes und des Kreuzes in konstantinischer Zeit. Man beginnt sich die Örtlichkeiten des Passionsgeschehens genauer vorzustellen. Und noch mehr als dies: Es entsteht ein zunehmendes, bald reissendes Interesse an allen möglichen Realien, die auf das Leben und Sterben Jesu hinwiesen und dann alsbald als Reliquien eine „handfeste Verbindung“ zu ihm ermöglichen.95 Mit dem einsetzenden Reliquienkult war ab dem 5. Jh. in der Folge der Wurzelgrund für die mittelalterliche Frömmigkeit gelegt. Der Reisebericht der Pilgerin Egeria dokumentiert das Jerusalempilgern anschaulich und gibt dafür das früheste Zeugnis überhaupt. Ihr Itinerarium bietet nicht nur Rückschlüsse auf die Reliquienfrömmigkeit, sondern beschreibt auch, wie man sich im ausgehenden 4. Jh. jene Passionslesungen vorzustellen hat, die in die österliche Liturgie eingebettet waren: 94 95 Abbildung und detaillierte Beschreibung bei Luz aaO., S. 38f. Barbara Leicht (2013): Gold siehst du aussen, Christus innen, in: WUB 1/2013 (Jesus-Reliquien), S. 7. 43 Wie man in Gethsemane angekommen ist, spricht man ein Gebet und einen Hymnus; dann liest man aus dem Evangelium die Stellen, da der Herr verhaftet worden ist. Beim Vortrag dieses Abschnitts entsteht ein solches Geschrei und Seufzen des ganzen in Tränen aufgelösten Volkes, dass man die Klagelaute fast bis in die Stadt hinein hören kann.96 Zur Intonation dieser Passionslesungen schreibt Egeria: Von der sechsten bis zur neunten Stunde hören die Lesungen nicht auf… Bei jeder Lektion und jedem Gebet sind alle Anwesenden in einem derartigen Zustand und stossen solche Seufzer aus, dass es ganz ausserordentlich ist; denn es gibt niemanden, der nicht während dieser drei Stunden in einer unglaublichen Weise darüber wehklagt, dass der Herr so viel für uns gelitten hat.97 In der Alten Kirche wurden die Passionstexte demnach nicht so vorgelesen, wie wir uns das gewohnt sind, sondern mit affektiver Beteiligung am Passionsgeschehen – ganz so wie die Klagefrauen bei Jeremia.98 3.5 Das wahre Kreuz Christi Der Legende nach soll sich in dieser Zeit neben Egeria noch eine andere, eine prominente Frau nach Jerusalem begeben haben: Helena, die Mutter von Kaiser Konstantin, und zwar mutmasslich in den Jahren 325-326. Eusebius von Caesarea (um 260-339/40) erwähnt jedenfalls in seiner kurz nach dem Tod von Kaiser Konstantin I. (um 270-337) verfassten Vita Constantini den Bau von Konstantins Basilika über der Stätte der Auffindung des Kreuzes. Die Zuschreibung der Auffindung durch die Kaiserinmutter bleibt jedoch Spekulation. Ein Satz eines von Eusebius zitierten Briefes Konstantins an den Bischof von Jerusalem zeigt immerhin, dass man nicht nur das Grab entdeckt hatte, sondern auch das lange Zeit unter dem Boden verborgen gewesene Erkennungszeichen [gnorísma] der glücklichen Passion.99 Die kostbare Kreuzreliquie erregte grosses Aufsehen. Dass Eusebius das Kreuz nicht wörtlich erwähnte, hat vermutlich mit seiner Theologie zu tun: Mit Vorliebe ging es auch ihm nicht um das Todessymbol, sondern um die Erhöhung des Logos und seine Auferstehung (Pierre Maraval).100 Wir begegnen hier wieder demselben, be96 zit. nach von Fischer 1997, S. 14; vgl. Egeria - Intinerarium - Reisebericht, übers. u. eingel. von Georg Röwekamp (Fontes christiani 20). 97 Ebd. 98 vgl. Kap. I.2. 99 in: WUB 1/2013, S. 35 100 Ebd. 44 reits beschriebenen Phänomen, die Passion unter den Aspekt des sieghaft errungenen, neuen Lebens zu stellen. Spannend ist es zu erfahren, wie die Kreuzreliquie bei den Pilgern zur meistbegehrtesten Reliquie wurde. Man versuchte um jeden Preis, etwas davon zu erhalten. Die Pilgerin Egeria berichtet, wie während der Kreuzverehrung am Karfreitag der Bischof und die Diakone die Gläubigen scharf überwacht hätten, weil jemand schon einmal eines Tages heimlich ein Partikel vom Kreuz davon abgebissen hatte. Derselbe Bericht deckt auf, dass bereits am Ende des 4. Jh. die Reliquie stark an Volumen verloren hatte und ein Silberkästchen genügte, sie zu transportieren. Teile von Jesus- und Kreuzreliquien gelangten in alle Welt. So auch nach Rom, wo die kuppeltragenden Säulen des Petersdoms bis auf den heutigen Tag vier thematisch verschiedene, aber auf die Passion Christi bezogene Reliquien enthalten. Die vier Statuen an den Säulen der imposanten Kuppel stehen dazu in Bezug. Während der Karwoche werden diese Reliquien den Gläubigen von den Balkonen aus gezeigt. Auch Franz Liszt wird als guter Katholik bei diesen Aussetzungen dabei gewesen sein. Bei den Reliquien handelt es sich um die Lanze des Longinus; das Schweisstuch der Veronika - welches auch als sechste Station in den Kreuzweg Eingang gefunden hat; ein Fragment des Kreuzes Christi - der Legende nach aus Jerusalem zurückgebracht von Kaiserin Helena selbst - und um den Kopf des heiligen Andreas. Die Begeisterung für Kreuzreliquien hielt auch das gesamte 5. und 6. Jh. hindurch an. Neben vielen anderen prominenten Empfängern von Kreuzessplittern, darunter dem oben bereits erwähnten Papst Leo, und weniger Prominente, sandte im Jahr 569 Radegundis, die Frau des Frankenkönigs Chlothar I., die Nonne geworden war, Kleriker und Mönche nach Jerusalem, um dort ebenfalls Reliquien zu besorgen. Die Kreuzreliquie, die sie mitbrachten, wurde in Radegundis‘ Kloster Sainte-Croix in Poitiers, ins erste Frauenkloster Europas überhaupt, überbracht und dort verwahrt. Aus Anlass des feierlichen Einzugs dieser Reliquie beauftragte Radegundis den in ihren Diensten stehenden Priester Venantius Fortunatus (um 535 - nach 600) mit dem Verfassen von Kreuzhymnen. Zwei von drei dieser Hymnen haben diesen Anlass bis heute überdauert, obwohl sie hisorisch gesehen und mit Alex Stock gesagt „reliquiäre Gelegenheitsdichtungen“ waren: Das Pange lingua gloriosi proelium certaminis“ (dt. Von dem lorberreichen Streite töne meiner Stimme Klang) einer45 seits101 und dann das Vexilla regis prodeunt (dt. Des Königs Banner wehn voran), welches Franz Liszt in der Einleitung der Via Crucis verwendet. Anzumerken bleibt noch, dass die Verbreitung der Kreuzreliquie mit dem Fest der Kreuzverehrung (3. Mai) auch in liturgischer Hinsicht Spuren hinterlassen hat. 3.6 Zisterziensische Spiritualität der Passion Christi Alle diese Entwicklungen machten es möglich, dass etwa seit dem 12. Jh. mehr und mehr die Passion Jesu zum eigentlichen Zentrum der Frömmigkeit wurde. Nicht so sehr auf den siegreichen Gottmenschen, sondern auf den leidenden Menschen Jesus richtete sich dabei das neue Interesse; nicht nur der Lobpreis von Gottes Heilstat, sondern noch mehr wurde nun die liebende „compassio“ Teil der menschlichen Antwort auf die Passion Jesu.102 Als einer der frühesten Vertreter dieser neuen Passionsfrömmigkeit gilt Bernhard von Clairvaux (1090-1153). Er verknüpfte die Leidens- mit der Liebesmystik des Hohenliedes („Jesusminne“). Der Zisterzienser las das Hohelied neu als Passionstext und deutete die Passion auf dem Hintergrund ebendieses Textes. Der Gekreuzigte wird in dieser Deutung zum Bräutigam, die gläubige Seele ist die Braut. Das ist ein wichtiger hermeneutischer Schlüssel für alle möglichen Lesarten von Stellen, wo in mittelalterlichen Texten zum Beispiel ein „süss“ im Zusammenhang mit Jesus und seinem Kreuz vorkommt. Denn der Aspekt, dass „süss“ nicht nur eine konkret-sinnliche Bedeutung hat (etwa wenn auf den Geschmack von Honig bezogen), sondern auch eine allgemein ästhetisch-sinnliche („angenehm“, „lieblich“ - kann auch auf Musik bezogen sein) wie eine auf Gott bezogene spirituelle (lat. „dulcis“ oder „suavis“ steht schon in der Vulgata für alles, was mit Heil und Leben zu tun hat), zeigt dank dieses sich im Hoch- und Spätmittelalter sich ausbildenden zweiten Grundmodells von Passionsfrömmigkeit nun doch sehr anschaulich, dass es bei einem „süssen Jesulein“ nicht um Kitsch geht, wie nicht wenige meinen, sondern um Heilsgeschichte. 103 Als besonders anschauliches Beispiel kann in diesem Zusammenhang an das Grabwun101 Das Pange lingua gloriosi proelium certaminis diente Thomas von Aquin OP anno 1264/65 sieben Jahrhunderte später als Vorlage für einen Vesperhymnus zu Fronleichnam (Pange lingua gloriosi corporis mysterium; dt.: Das Geheimnis lasst uns künden), vgl. Stock, Alex (2012): Lateinische Hymnen, S. 213-222. 102 Ulrich Luz, EKK I/4, S. 16ff. 103 Thomas Steiner (2008): Vom süssen Jesulein und süssen Nägeln, in: Musik und Gottesdienst, 62. Jg./2008, S. 253f. 46 der des Dominikus (1170-1221) erinnert werden: Auch hier verwendet das Mittelalter das Motiv des „süssen“ Duftes. Dieser steigt aus dem Grab des Dominikus auf und brachte für die damaligen Zeitgenossen und nach einschlägigem mittelalterlichem Sprachgebrauch den Wunder- und Heilscharakter von Dominikus‘ die irdische Zeit überdauernden Existenz zum Ausdruck.104 Zur methodischen Aneignung einer compassio-Frömmigkeit muss nun noch nachgetragen werden, denn solche meditationsspezifische Technik wurde ebenfalls im 12. Jh. erstmals beschrieben. Gemäss Kurt Ruh dürfte der Zisterzienserabt Aelred von Rivaulx (gest. 1167) der erste gewesen sein, der die „memoria vitae et passionis Christi“ explizit ausgeformt hat.105 Damit hatte Aelred eine Meditationsweise begründet, die man als Antwort auf die tendenzielle Intellektualisierung der Meditation verstehen kann, wie sie die scholastische Theologie an den Kathedralschulen entwickelt hatte.106 Im Gegenzug zu Hugo von St. Viktor (gest. 1141), der die Meditation als „wohlüberlegtes und anhaltendes Nachdenken, das auf verständige Weise den Grund, den Ursprung und die Art und den Nutzen jeder Sache erforscht“ definierte, entwickelte Aelred nun eine Betrachtungsmethode, die durch gezielten Einsatz von Repräsentationstechniken die Compassio der Betrachtenden zu wecken versuchte und Imagination wie Affekte auf neue Weise einzubeziehen wusste. 107 So zielte Aelreds Passionsmeditation darauf, das Leben der Betrachtenden zu transformieren. Seine Schwester, die als Inklusin lebte, wies er dabei an, Maria teilnehmend und einfühlsam auf ihrem Weg zu begleiten.108 Mit dieser Aufgabenstellung Aelreds an seine Schwester sind wir ganz nah an der Perspektive eines Stabat mater dolorosa, jenes Hymnus, der in die Identifikation mit der Gottesmutter Maria führt, welche ihrerseits im Hoch- und Spätmittelalter zur „Schlüsselfigur“ dafür wurde, sich mitleidendes Nacherleben des Leidens Jesu zu vergegenwärtigen.109 104 Nigg, Walter (1953): Vom Geheimnis der Mönche, S. 306. zit. nach Peng-Keller, Simon (2010): Einführung in die Theologie der Spiritualität, S. 111 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 vgl. Kap. III.2.4. 105 47 Ebenfalls ins 12. Jh. fallen die Anfänge der Herz-Jesu-Verehrung, der Verehrung der fünf Wunden und der Marterwerkzeuge (arma Christi). Franz Liszt war nicht nur vom Stabat mater dolorosa angetan, sondern auch vom Motiv der fünf Wunden. Dazu hat er eine litaneiartige Anrufung Jesu Christe - Die fünf Wunden geschrieben. Sie beruht auf folgenden Worten: Jesu Christe, pro nobis crucifixus, per sacrum vulnus, dexterae manus tuae, per sacrum vulnus sinistrae manus tuae, per sacrum vulnus dexterae pedis tui, per sacrum vulnus sinistrae pedis tui, per sacrum vulnus sacratissimi lateris tui, miserere nobis. Jesus Christus, der du für uns gekreuzigt worden bist, um der heiligen Wunde deiner rechten Hand willen, um der heiligen Wunde deiner linken Hand willen, um der heiligen Wunde deines rechten Fusses willen, um der heiligen Wunde deines linken Fusses willen, um der heiligen Wunde deiner göttlichsten Seite willen, erbarme dich unser. Die Kreuzzüge beendeten im 12./13. Jh. das Jerusalempilgern für eine Zeit. Für den Kreuzzug von 1228 hatte Walter von der Vogelweide (um 1170-1230), der Minnesänger, noch das Palästinalied geschrieben, ohne freilich selber ins Heilige Land mitzuziehen. Nachdem die Christen für eine Zeit dann nicht mehr nach Jersusalem reisen konnten, kam der Brauch auf, die via dolorosa zu Hause in Europa zu reinszenieren. Das nun war der Nährboden für die Entwicklung von heimischen Kreuzwegen. 3.7 Franziskanische Weiterführung der Passionsmystik Mit dem Aufkommen der Bettelorden (Franziskaner ab 1209; Dominikaner ab 1216) wurde die beschriebene frühe zisterziensische Passionsmystik (Bernhard, Aelred) in vielfältiger Weise aufgenommen.110 Ab dem 13. Jh. wurde die Passion dadurch breiten Volksschichten nahegebracht.111 Das Passionsgedenken des Franz von Assisi (um 1181-1226) beschränkte sich dabei nicht nur auf den innerlichen Nachvollzug, sondern äusserte sich in Symbolhandlungen, Gesten - bei Dominikus Gebetshaltungen - und in einem radikalisierten Lebensstil, zu dem absolute Armut ebenso gehörten wie Selbstkasteiung.112 Zeichen für die totale Identifikation mit dem Gekreuzigten war dann die Stigmatisierung von Franziskus. In ihr wurde die ersehnte und gelebte 110 Simon Peng-Keller 2010, S. 111 Ulrich Luz, EKK I/4, S. 17 112 Ebd. 111 48 conformitas mit dem leidenden Christus bis in die physische Existenz hinein Realität.113 Nach den Kreuzzügen hatten die Franziskaner dann erstmals im 14. Jh. wieder damit begonnen, jenen Weg in Jerusalem selbst abzuschreiten, den Maria, die Mutter Jesu, nach der Auferstehung täglich gegangen sein soll. Der Legende nach soll dieser Kreuzweg bereits vierzehn Stationen gehabt haben.114 Die Zeit war im 14. und 15. Jh. offenbar dafür reif: Europa war von verschiedenen Krisen gezeichnet. Hungersnöte, Pest, Verfall der landwirtschaftlichen Produktion und Bevölkerungsrückgang waren prägend. Das begünstigte das Entstehen neuer Formen öffentlicher Passionsfrömmigkeit. So kamen neben Kreuzwegen auch Kalvarienberge auf; die Passionsspiele wurden immer länger und dramatischer und prägten oft mehrere Tage lang das Leben der Städte. So wurden das 14. und 15. Jh. geradezu zu „HochZeiten“ der Passionsfrömmigkeit.115 Auch entstand eine umfangreiche Literatur zur Passion Jesu. Besonders einflussreich wurden die Schriften der Devotio moderna. Auf deren eine Schrift, Die Nachfolge Christi des Thomas von Kempen (um 13801471), sind wir bei Franz Liszt gestossen, als dieser sich als Heranwachsender religiöser Literatur zuwandte, u.a. auch der Nachfolge.116 3.8 Leonardo de Porto Maurizio (1675-1751) Machen wir nun einen Sprung in die Zeit der Aufklärung. Wir haben gesehen, dass es die Franziskaner waren, welche die Kreuzwegandacht besonders kultivierten. Im 18. und 19. Jh. wurde dieser Brauch beim Volk stärker beachtet als die offizielle Liturgie. Die Franziskaner bemühten sich ordentlich darum, dass das Volk an diesen Frömmigkeitsübungen teilnahm. Sie erreichten dies durch spezielle Ablässe, die sie beim Papst für das Absolvieren von Kreuzwegandachten erwirkten. Von nun an konnten demnach Busse und Ablass als Motivation für die Teilnahme an Passionsbräuchen gelten - oder sogar in den Vordergrund treten. 113 vgl. Franziskus´Offizium vom Leiden des Herrn, McGinn, Bernard (1999): Die Mystik im Abendland, Bd. 3, S. 90 (dort Fn. 71). 114 Er führte vom Abendmahlssaal zum Haus des Kaiphas, dann zum Grab über den Ölberg bis zum Berg Zion. 115 Datierbar sind erste Kreuzwege auf deutschem Gebiet zuerst in Lübeck (Ende 15. Jh.) und Nürnberg (1505, von Adam Krafft geschaffen). 116 vgl. zum Beispiel Kap. 12 bei Thomas von Kempen („Das heilige Kreuz - der königliche Weg zum Himmel“). 49 In Italien war es im 18. Jh. der Franziskanerpater Leonardo de Porto Maurizio (16761751), der die Kreuzwegandacht als Erinnerung an den Leidensweg Christi ins Zentrum seines Wirkens stellte.117 Hauptsächlich durch seinen Beitrag wurde die Kreuzwegandacht fortan gefördert. So sollen in Italien und auf Leonardos Initiative hin mehrere Hunderte solcher Wege errichtet worden sein. Leonardo war allem Anschein nach auch ein begnadeter Prediger. Er musste im Freien auftreten, weil ihn so viele Leute hören wollten. Auch beim Predigen orientierte er sich an den Kreuzwegstationen. Er publizierte dazu 1750 ein Kreuzwegbüchlein (Via sacra spianata et illuminata). Vom Erfolg Leonardos überzeugt, liess Papst Benedikt XIV. (1740-1758) noch im selben Jahr ein heiliges Jahr ausrufen. Und er liess dafür einen neuen Kreuzweg im Colosseum von Rom errichten. Leonardos Kreuzwegbüchlein erfuhr zwischen 1750 und 1760 eine musikalische Vertonung „per Tenori e Bassi con accompagnato di Pianoforte“ durch den Römer Claudio Casciolini (1697-1760).118 Dabei folgt dieser Komponist sehr genau dem Aufbau der Vorlage: Nach Vorbereitungsgebeten und einem Akt der Reue folgt ein Einleitungschor mit zwei Strophen. Während der Prozession wird gesungen (je zwei Strophen beim Wechsel zur nächsten Station). An den Stationen hält der Priester eine kurze Besinnung, worauf ein Gesang folgen kann (Adoramus te Christe; Miserere nostri). Der Abschluss findet in der Kirche mit einzelnen Strophen des Stabat mater statt (lateinisch oder als Paraphrase auf Italienisch). Weitere Gesänge aus der Karfreitagsliturgie konnten ad libitum folgen (O vos omnes; Popule meus). Gemäss Magda Marx-Weber nimmt die kunstvolle Vertonung Casciolinis unter den übrigen Vertonungen119 eine Sonderstellung ein. Auf das Verbindende wie Trennende im Vergleich zu Liszts Via Crucis werden wir im übernächsten Abschnitt eingehen (3.10). 117 vgl.: http://www.heiligenlexikon.de/BiographienL/Leonhard_von_Porto_Maurizio.html vgl. Marx-Weber, Magda (1990): Die Musik zur Kreuzwegandacht von Claudio Casciolini bis Franz Liszt, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch von 1989, S. 51-61. 119 u.a. von Niccolò Zingarelli (1752-1837), Giuseppe Gherardeschi (1759-1824); Giacomo Insanguine (17281795); Francesco Morlacchi (1784-1841), vgl. Magda Marx-Weber aaO. 118 50 3.9 Der Kreuzweg in Rom zur Zeit Franz Liszts (Ende 19. Jh.) Die für den Kreuzweg im Colosseum auf Initiative Benedikts XIV. im heiligen Jahr 1750 extra errichteten Kapellen wurden 1874 wieder entfernt.120 Franz Liszt hat den Kreuzweg aber sicher noch so erlebt und begangen. Er weilte ja bereits 1839 ein erstes Mal in Rom und dürfte sich dem Colosseum damals schon als geschichtsträchtigem Ort mit besonderer Aufmerksamkeit genähert haben. Dies kommt jedenfalls eindrücklich in Liszts Vorwort zur Via Crucis zum Ausdruck. Auffällig an diesem Vorwort ist der deutliche Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Kreuzweg und Busse, ferner die Überlegungen zur musikalischen Gestaltung des „in einzelnen Ländern verbreiteten und sehr volkstümlich gewordenen Brauches“, sowie dass der Komponist indirekt Einblick gewährt in sein inneres Gerührtsein („innere Bewegung“) durch den eigenen Vollzug der Kreuzwegprozession. Sehr direkt und auch elegant drückt er zudem aus, dass seine Musik weit hinter seiner Rührung zurückstehe, diese nur schwach (faiblement) wiedergebe: Die Andacht des Kreuzwegs, genannt Via crucis, von den Päpsten mit vielen Ablass-Bewilligungen zugunsten der Seelen der Verstorbenen ausgestattet, hat sich über alle Länder verbreitet und ist in einigen sehr volkstümlich geworden. Man findet auch in manchen Kirchen Malereien von Leidensstationen oder dergleichen Bilder an den Wänden. Die Gläubigen sprechen vor jeder von ihnen die ihnen geweihten Gebete, bald einzeln, bald in kleinen Gruppen, die die Worte unter sich verteilen. Manchmal wird diese Andacht von dem Priester auf einen bestimmten Tag und eine bestimmte Stunde festgesetzt, und er selbst geleitet die Gläubigen. Im ersteren Fall könnte die Orgel nicht verwendet werden, auch nicht dort, wo die Kreuzwegstationen sich im Freien befinden, wie in San Pietro in Montorio in Rom. Es ist leicht zu begreifen, dass man die feierlichste, die ergreifendste Art, diese rührende Andacht auszuüben, ehemals am Karfreitag im Kolosseum sah, an diesem Ort, dessen Boden mit dem Blut der Märtyrer getränkt ist. Vielleicht kann man eines Tages die sehr unvollkommenen Malereien, die sich dort befanden, durch die bewunderungswürdigen Kreuzwegstationen ersetzen, die der Bildhauer Galli modellierte, und ein grosses Harmonium dorthin bringen, um dort die Gesänge ertönen zu lassen, deren Stimmen durch diese tragbare Orgel unterstützt werden. Ich würde glücklich sein, wenn man dort eines Tages diese Töne vernehmen könnte, die nur schwach die innere Bewegung wiedergeben, von der ich durchdrungen war, wenn ich, auf den Knieen mit der frommen Prozession, mehr als einmal die Worte wiederholte: O! Crux ave! Spes unica! Franz Liszt 120 http://sanleonardoim.altervista.org/via.html 51 Der in diesem Vorwort121 genannte Zusammenhang von Liturgie und Busse (Ablass) ist historisch gesehen alt. Er geht auf die monastische Disziplin zurück: Das ausgeklügelte System der soganannten Tarifbusse, welches durch das iroschottische Mönchtum im 7./8. Jh. begründet wurde, entwickelte Formen stellvertretender Bussleistungen durch Gebet und Gottesdienst. Das hat sich in der Scholastik nicht nur nachhaltig auf das sakramentale Verständnis des Beichtwesens ausgewirkt, sondern auch auf das Verständnis von Liturgie. Es waren die Iren, die für Vergehen ein strenges Busswesen formulierten, bei dem man die Bussleistung zum Beispiel durch das Beten von Psalmen kompensieren konnte.122 Im 18. Jh. wurde es bezüglich des Abhaltens von Kreuzwegandachten üblich, dass Priester die Lesungen bei der zwölften Station (Jesus stirbt am Kreuz) mit einer Predigt über den Sinn des Leidens Jesu unterbrachen und zu Umkehr und Busse ermahnten. 3.10 Musik zur Kreuzwegandacht in Italien bis und mit Liszt Im 18. Jhdt. wurde in Italien neben Leonardos Kreuzwegbüchlein eine Unzahl von Kreuzwegbüchlein verfasst.123 Während viele Vorschriften über die bauliche Gestaltung des Kreuzweges und über die Ablässe erlassen wurden, kann aber, von den oben erwähnten Ausnahmen abgesehen (Casciolini), 124 so gut wie nichts über die Musik gesagt werden, die dazu ertönte.125 Klar scheint immerhin, dass meist einzelne Strophen des Stabat mater gesungen wurden. Bevorzugt wurde die sechste Strophe: Sancta mater, istud agas, crucifixi fige plagas cordi meo valide. Heilige Mutter, bewirke, dass die Wunden des Gekreuzigten tief in meiner Seele haften.126 Drücke deines Sohnes Wunden, so wie du sie selbst empfunden, heilige Mutter, in mein Herz!127 Anstelle des Stabat mater konnten auch der Hymnus Vexilla regis128 oder andere Strophen treten, bis hin zu extra zu diesem Zweck gedichteten Texten. 121 Dt. von Thomas Kohlhase (1977), im Vorwort zur Partitur der Via Crucis, S. 2. Klöckner, Stefan (2011): Der Gregorianische Choral: Entstehung - Repertoirebildung - Notation, in: Hochstein, Wolfgang / Krummacher, Christoph (Hrsg.; 2011): Geschichte der Kirchenmusik in 4 Bänden, Bd. 1 (= Von den Anfängen bis zum Reformationsjahrhundert), S. 30. 123 vgl. Marx-Weber 1990. 124 Kap. II.3.9 125 Magda Marx-Weber aaO. 126 In: Kaspar, Peter Paul (2002): Ein grosser Gesang. Musik in Religion und Gottesdienst, S. 229. 127 In: Stock 2012, S. 267. 128 s.o. Kap. II.3.5 122 52 Die Musik, welche die italienischen Andachten begleitete, basierte entweder auf italienischen Texten mit Paraphrasen zu liturgischen Texten. Oder es handelte sich um frei gedichtete Gelegenheitslieder (Canzoncine sacre). Für diese sind eine engräumige, in Sekundschritten sich bewegende Melodie und die Führung von zwei Stimmen in Terzabständen charakteristisch. Bevorzugte und durchgehende Tonart war FDur.129 Was nun verbindet Franz Liszts Via Crucis mit dieser italienischen Tradition und was trennt sie von ihr? Anscheinend sprang Liszt auf eine im Volk verbreitete Form geistlicher Übung auf, die der Franziskanerpater Leonardo populär gemacht hatte und die seit 1750 vom Heiligen Stuhl gefördert wurde. Bedacht werden muss bei der Suche nach Verbindungslinien auch, wie Liszt gerade dem Franziskanerorden zeitlebens nahe stand. Sein persönlicher Schutz- und Namenspatron war zwar nicht der heilige Franziskus von Assisi (um 1181-1226), sondern Franziskus von Paola (1416-1507), jener süditalienische Heilige, der den Orden der Minimiten gründete (PaulanerOrden). Von ihm hatte Liszt in der Altenburg in Weimar eine Zeichnung im Arbeitszimmer aufgehängt.130 Beiden Heiligen widmete Liszt in seinen FranziskusLegenden für Klavier ein musikalisches Votivbild (Michael Stegemann).131 Demnach nimmt nicht nur die Via Crucis in Liszts Schaffen eine franziskanische Thematik auf, sondern auch das in seiner ersten Legende für Klavier, der Vogelpredigt des hl. Franz von Assisi, eingefangene Zwitschern von Vögeln, wie Abb. 3: Franz Liszt in der Kapuze der Franziskanermönche. Anonyme, undatierte Bronzeplakette. er sie oft scharenweise am Himmel über dem Monte Mario beobachten konnte. Der franziskanischen Tradition hatte sich Liszt zudem am Sonntag, 11. April 1858 mit einem star- ken Zeichen verschrieben: In einer feierlichen Zeremonie im Budapester Franziskanerkloster liess sich Liszt dannzumal als Tertiarier in den Franziskanerorden aufnehmen.132 129 Marx-Weber aaO. II.2.1 131 Stegemann 2011, S. 5. 130 53 Unüblich gegenüber den italienischen Andachten sind, vom Wortbestand dieser Passionsmusik her beurteilt, jene Elemente der Via Crucis, die an Passionsoratorien erinnern: Dazu zählen die nüchternen, wörtlichen Zitate aus der Vulgata (innocens ego sum; crucifige; consummatum est) an jenen Stellen, wo in italienischen Andachten beschauliche Texte standen. Diese paraphrasierten zuweilen die Passionserzählung, zitierten sie aber nicht wörtlich. Versucht man sich den theologischen Hauptakzent der übrigen Texte zu vergegenwärtigen, bemerkt man, dass bei Liszt die Betonung mehr auf dem Sieg des Kreuzes als auf der Busse liegt. Das kommt zum Beispiel in der zitierten Strophe des Vexilla regis im Einleitungschor zum Ausdruck. Mit diesem Text wie mit dem dreimaligen Vorkommen des Stabat mater hingegen existiert wiederum eine starke Verbindung zu den italienischen Andachten. Denn diese beiden Hymnen wurden nachweislich schon bei Kreuzwegandachten in Italien gesungen. 133 Der entscheidende Unterschied zwischen Liszt und den italienischen Andachten liegt aber wohl darin, dass in der Via Crucis nicht vorgegebene poetische Meditationen vertont sind, sondern eine fast überwiegend instrumentale Illustration der vierzehn Kreuzwegstationen erfolgt. Die Via Crucis erinnert damit an einen dramatischen musikalischen Bilderzyklus, zu dem - gleichsam als Erinnerungsfetzen an kirchliche Prozessionen - auch noch traditionelle Hymnen aus verschiedenen Zeitepochen gehören. Der besondere Reiz, ein solches Werk zu schaffen, lag für Liszt vermutlich darin, sein persönliches religiöses Empfinden und seine Verbundenheit mit der Tradition der Kirchenmusik in einer von ihm bevorzugten Form eines Bilderzyklus zum Ausdruck zu bringen.134 In der Knappheit ihrer musikalischen Gestaltung aber - es fehlt der Via Crucis an grossen, polyphonen Chören: viele Stationen sind nur instrumental; es gibt leer tönende Oktavreihen der Orgel und Motiv-Wiederholungen; ferner wird weitgehend auf instrumentale Virtuosität, klangliche Fülle, melodische Kantabilität, Vielfalt und dramatische Spannung verzichtet - ist dieses Werk anders als seine Vorgängeroratorien und deshalb auf besondere Art berührend. 132 Ebd. Marx-Weber aaO. 134 In dieser Eigenschaft als dramatischer Bilderzyklus einer Kreuzwegprozession ist die Via Crucis mit einer Reihe anderer Werke des Komponisten verwandt, allen voran mit der Heiligen Elisabeth (Bence Scabolecsi), in: Marx-Weber aaO., S. 57; vgl. Kap. II.2.4 133 54 III. Die Passionsmusik Via Crucis Die Via Crucis zählt zusammen mit den nach 1870 entstandenen Klavier- und Vokalwerken zu den sogenannten Spätwerken von Franz Liszt. Grösser angelegte Werke als die 1878/79 vollendete Via Crucis für Soli, Chor und Orgel- oder Klavierbegleitung, hat Liszt in seine letzten Lebensphase keine mehr komponiert. Die Spieldauer beträgt ungefähr dreiviertel Stunden. Von Monumentalität kann angesichts dieser Kürze nicht gesprochen werden, vor allem wenn man als Vergleich die mehr als dreistündigen älteren Oratorien heranzieht (Heilige Elisabeth; Christus). 1. Einleitung Das Werk besteht aus einer Einleitung und der Vertonung der vierzehn klassischen Kreuzwegstationen.135 Gemäss dem Urteil der Musikwissenschaftlerin und langjährigen Generalsekretärin der ungarischen Liszt-Gesellschaft, Klára Hamburger, ist diese musikalische Kreuzwegandacht von Liszt eine „erschütternde, sehr individuelle, hochdramatische, zugleich subjektiv-verinnerlichte, ‚ökumenische‘ Musik, die Worte der Bibel, Texte und Melodien zweier frühchristlicher Hymnen und zweier Bachscher protestantischer Choräle verarbeitet“.136 Als Grobcharakterisierung mag das genügen. Sie löst aber auch falsche Vorstellungen aus, insofern sich der Protestantismus wirklich nur auf die beiden musikalischen Sätze von O Haupt voll Blut und Wunden und O Traurigkeit, o Herzeleid bezieht, keinesfalls aber auf die vertonten Texte und ihre Quellen. Das aufzuzeigen, darum wird es in den beiden Kapiteln zu den entsprechenden Stationen gehen,137 ebenso um die Verortung der beiden frühchristlichen Hymnen, auf die Hamburger anspielt (Vexilla regis prodeunt im Einleitungschor; Ave crux, spes unica in der letzten Station). 1.1 Entstehung Was die Entstehungsgeschichte der Via Crucis betrifft, existieren davon zwei Versionen.138 In der Erstfassung (Budapester Manuskript) steht ein interessanter Hin- 135 vgl. Kap. II.3. Hamburger 2010, S. 217. 137 vgl. unten Station VI und XII. 138 Hamburger aaO. 136 55 weis auf Wagners Parsifal: Vor der elften Station hatte Liszt ein Zitat angefügt: „Durch Mitleid wissend“.139 Dieser Hinweis fehlt in der Weimarer Reinschrift. Dass Liszt sich selber als ein zuweilen mit Christus in Compassio verbundener, mehr oder weniger still vor sich hinleidender, hadernder und an seinem eigenen Ungenügen leidender Katholik gesehen hat, belegen verschiedene Briefe. Am Weihnachtsbaum-Zyklus für Klavier und an der Via Crucis arbeitend, offenbarte Liszt seiner Tocher Cosima sowie der Baronin Olga von Meyendorff, er sei mit sich selber nie zufrieden. Ferner habe er auch schon erwogen, sich selber das Leben zu nehmen. Davon sah Liszt aber ab, aus Rücksicht auf seinen Glauben: Lassen Sie es mich wiederholt sagen: Ich bin äusserst lebensmüde; doch da ich daran glaube, dass das Fünfte Gebot Gottes ‚Du sollst nicht töten‘ auch für Selbstmord gilt, fahre ich fort, mit tiefster Reue und Busse erfüllt zu leben, habe ich doch einst prahlerisch gegen das Neunte Gebot verstossen; es geht jedoch nicht ohne Anstrengung und Demut.140 Ehrlich gesagt habe ich eine immer schlechtere Meinung über meine Sachen, und es ist nur durch eine Art Reaktion auf die Nachsicht anderer Leute, dass ich es fertigbringe, sie annehmbar zu finden. Andererseits bewundere ich viele Kompositionen meiner Kollegen und Meister. Sie bieten mir einen reichlichen Ersatz für die Langweiligkeit und die Unzulänglichkeit meiner eigenen.141 Die schwierige und offenbar von Depressionen gekennzeichnete Lebensperiode des alten Liszt geben der Frage, mit welchen Schätzen der christlichen Tradition er sich komponierenderweise auseinandersetzte, eine besondere Dringlichkeit. Als frommer Katholik, der gemäss Selbstzeugnis mehr als einmal an Prozessionen die Worte wiederholte „O! Crux ave! Spes unica!“, war er offenbar von einer „inneren Bewegung durchdrungen“,142 die er nun in Musik ausdrückte. Sein Plan dazu bestand schon seit 1874. An Neujahr jenes Jahres hatte er an Carolyne von Sayn-Wittgenstein geschrieben, dass ihn die Idee für eine Via Crucis (als Echo seiner Jugendempfindungen) bereits seit langem beschäftige und er nur sechs Wochen äusserer Ruhe bedürfte, um das Werk bis zum Jahresende zu veröf- 139 Wagners Oper Parsifal entstand zeitgleich mit der Via Crucis: Das Libretto war 1877 vollendet, die Partitur zwei Jahre später; die Uraufführung war am 16. Juli 1882 im Bayreuther Festspielhaus. Zum Motiv der Erlösung im Parsifal vgl. den ausgezeichneten Beitrag von Hans Küng: Richard Wagner - Sehnsucht nach Erlösung, in: ders. (4.A. 2010): Musik und Religion - Mozart, Wagner, Bruckner, München/Zürich: Piper, S. 89-166. 140 Brief an Baronin Olga von Meyendorff vom 28. November 1877, zit. nach Hamburger 2010, S. 183f. 141 Brief an dies. vom 4. Februar 1876, zit. nach Hamburger aaO., S. 184. 142 vgl. das Avant Propos (Vorwort) zur Via Crucis, in dieser Arbeit vollständig zitiert in Kap. II.3.10. 56 fentlichen.143 Erst im September und Oktober 1878 brachte Liszt dann in der Villa d’Este in Tivoli die erste vollständige Niederschrift zu Papier. Das Autograph der Erstfassung für Soli, Chor und Klavier sowie der Bearbeitung des Werkes für Klavier zu vier Händen entstand im Februar 1879 in Budapest. Eine sorgfältig revidierte, korrigierte und mit nachträglichen Änderungen versehene Reinschrift fasste Liszt in Weimar ab. 1.2 Aufbau Die folgende Übersicht zeigt neben den vertonten Texten auch deren Platzierung im Ablauf sowie die Besetzung. Um die Textauswahl war Liszts langjährige Gefährtin besorgt: Carolyne von Sayn-Wittgenstein.144 Thema der Station145 vertonter Text Besetzung146 Einleitung Vexilla regis prodeunt a) Chor unisono S A T B b) Solo-Ensemble147 S A T B I Jesus wird zum Tode verdammt Innocens ego sum... (Mt 27,24) Solo Bariton II Jesus trägt sein Kreuz Ave, ave Crux! Solo Bariton III Jesus fällt zum 1. Mal a) Jesus cadit b) Stabat mater dolorosa… a) Männerchor T B b) Frauenchor S1 S2 A IV Jesus begegnet seiner heiligen Mutter -- Orgel solo V Simon von Kyrene hilft Jesus das Kreuz tragen -- Orgel solo VI Sancta Veronica O Haupt voll Blut und Wunden Chor S A T B VII Jesus fällt zum 2. Mal a) Jesus cadit b) Stabat mater dolorosa… a) Männerchor T B b) Frauenchor S1 S2 A VIII Die Frauen von Jerusalem Nolite flere super me… (Lk 23,28) Solo Bariton 143 Synofzik 1999, S. 3. Groen 1986, S. 5 145 In dieser Übersicht wird die Original-Bezeichnung für die Stationen angegeben, so wie Liszt sie verwendete, und nicht die weiter oben (Kap. II.3.2) verwendeten Bezeichnungen des Katholischen Gesangbuches (vgl. KG 408; 409). 146 Die Orgel (bzw. das Klavier) begleitet die chorischen Stimmen in der Regel. Diese tritt immer mit einem Vorspiel in Erscheinung. Bei insgesamt vier Stationen wird sie rein solistisch eingesetzt (Stat. IV; V; X; XIII). 147 Bei Aufführungen ohne Solisten kann dieser Teil vom Chor oder einem Teilchor gesungen werden. Die angegebene Originalbesetzung mit einem vierstimmigen Solo-Ensemble empfiehlt sich nur für Aufführungen, in denen in einem anderen Werk ähnlich viele Solisten gefordert werden (z.B. einer der Passionen von Schütz), vgl. Kohlhase 1977, S. 3. 144 57 IX Jesus fällt zum 3. Mal a) Jesus cadit b) Stabat mater dolorosa… a) Männerchor T B b) Frauenchor S1 S2 A X Jesus wird entkleidet -- Orgel solo XI Jesus wird ans Kreuz geschlagen Crucifige… (Lk 23,21) Männerchor T B XII Jesus stirbt am Kreuz a) Eli, Eli, lama sabachtani? (Mt 27,46); In manus tuus commendo spiritum meum (Lk 23,46); Consummatum est (Joh 19,30) b) Consummatum est (ebd.) c) O Traurigkeit, o Herzeleid a) Solo Bariton b) Frauenchor S1 S2 A c) Chor S A T B XIII Jesus wird vom Kreuz genommen -- Orgel solo XIV Jesus wird ins Grab gelegt a) Ave crux, spes unica148 b) Ave crux, spes unica a) Solo A / Ensemble S T B b) Chor S A T B Übersicht 2: Textvorlagen und Besetzung der Via Crucis 1.3 Mitfühlende Kreuzwegmeditation Im Kapitel mit den Einzelkommentaren werden wir uns einer detaillierten Betrachtung der vertonten Texte und ihrer Musik widmen. Wenn wir dem Kreuzweg folgen, wage ich nicht zuletzt auch ab und zu vorsichtige Bezugnahmen auf das eigene Leben. Denn könnte es sich nicht lohnen, den eigenen Lebensweg anhand des klassischen Kreuzweges zu deuten? Vielleicht kommen einem, wie bei der ersten Station, Lebenssituationen in den Sinn, in denen man selber einmal ungerechterweise verurteilt worden ist? Haben einem vielleicht Menschen zugesetzt und verletzt? Oder scheint es, als hätte das Leben selber ein böses Urteil gesprochen, sodass man nur noch sagen kann: Das Leben trifft mich hart! Es kommt mir vor wie ein Kreuzweg!? Bei Anselm Grün habe ich im Rahmen von grossen Exerzitien im Alltag gelernt, die Passion Jesu als Spiegel der eigenen Leidens- und Kränkungsgeschichte zu lesen. In seinem Buch Durch seine Wunden sind wir geheilt legt der bekannte Benediktinerpater die vierzehn Kreuzwegstationen anhand eines Bilderzyklus von Andreas 148 Das Ave crux, spes unica der letzten Station entspricht der leicht variierten dritten von Liszt verwendeten Strophe des Hymnus Vexilla regis prodeunt im Einleitungschor, vgl. unten Kap. III.2.1. 58 Felger aus.149 Das Buch von Grün wurde mir in der dritten Phase des Prozesses (Woche bei Ignatius) als Möglichkeit nahegelegt, mich der Passion Jesu meditierend zu nähern. Tatsächlich führen die Exercitia Spiritualia des Ignatius von Loyola (1491-1556) in subjektiv empfundene Erfahrungsräume des Leidens. In den Übungen der dritten Woche meditieren die Exerzitantinnen und Exerzitanten den Leidensweg Jesu nach. Sie stellen sich seinem Ausgeliefertsein und werden dabei auch Teil jenes Dramas, selber nicht mehr Subjekt, sondern Objekt des Handelns geworden zu sein und einen Weg geführt zu werden, den andere Menschen über einen bestimmen.150 In der Mystik der offenen Augen des katholischen Theologen und Begründers der neuen politischen Theologie, Johann Baptist Metz (geb. 1928), habe ich ferner gelernt, dass die menschliche Fähigkeit der Mitleidenschaft (lat. compassio) direkt von Jesu elementarer Empfindsamkeit für fremdes Leid abgeleitet werden kann, die bei ihm zweifellos in eine neue Art zu leben mündete.151 Das Passionsereignis bedeutet demnach weit mehr, als dass es ein einmal stattgefundenes historisches Ereignis rein äusserlich darstellt. Es kann für einen anthropologisch gesehen universalen Prozess stehen, von dem man sich berühren lassen kann - oder auch nicht. Wer einen Kreuzweg meditierenderweise geht, der macht sich auf den Weg mit Jesus und lässt sich gleichzeitig von ihm an der Hand nehmen. Denn unter dem Kruzifix wird Compassio zur mystischen Erfahrung. Darum wusste auch die spanische Nonne und Ordensreformerin Teresa von Ávila (1515-1582). Sie schrieb in der Vida, dass es etwas Grosses sei, das Kreuz Christi zu umfangen.152 149 Andreas Felger hat die im Original 70 x 70 cm messenden Aquarelle für die Bonifatiuskirche in Asperg in den Jahren 1997 und 1998 geschaffen. 150 Lefrank, Alex (2009): Umwandlung in Christus: Die Dynmanik des Exerzitien-Prozesses, S. 453. Die Übungen der dritten Woche (EB 190-209) leiten dazu an, mit der ganzen Vorstellungskraft das historische Geschehen zu sehen (vgl. die zweite Hinführung, EB 192) und dann aus der Tiefe des eigenen Herzens um Schmerz (dolor), Ergriffenheit (sentimiento) und Verwirrung (confusión) zu bitten darüber, dass der Herr „wegen meiner Sünden zum Leiden geht“ (EB 193). 151 Johann Baptist Metz (2011): Mystik der offenen Augen - Wenn Spiritualität aufbricht; J.B.Metz schlägt vor, compassio als Mitleidenschaft zu übersetzen und nicht als Mitgefühl oder Mitleid, weil letztere zwei Begriffe zu gefühlsbetont und handlungsfern seien. 152 Vida 22,10 59 Wie tröstlich: Jesus geht einen Weg, der Verwandlung verheisst. Denn so viel dürfen wir Nachgeborenen aufgrund der Heilsgeschichte schon jetzt wissen: Am Schluss dieses Weges mündet das Kreuz in die Auferstehung. Und wie hilfreich: Wir können uns nun auch von einer Musik wie der Via Crucis an der Hand nehmen lassen, die den Prozess exemplarisch illustriert und dadurch manches kommentiert, was sonst vielleicht nicht Gegenstand unseres Gewahrseins würde. 2. Einzelkommentare Nach den Vorarbeiten zum Komponisten und zur Tradition der Kreuzwegandacht wende ich mich nun der exemplarischen Auslegung einzelner Stationen zu. Dass es nicht alle Stationen sein können, hat weniger mit dem Umfang dieser Arbeit zu tun als vielmehr mit dem Umstand, dass zu vier Stationen gar kein Text - ausser natürlich der Stationenbezeichnung - vorliegt.153 Dazu wäre in musikalischer Hinsicht bestimmt einiges zu sagen.154 Die Einzelkommentare zu den textbestimmten Stationen folgen drei Fäden eines Geflechts. Dieses besteht aus erstens Elementen der Passionsgeschichte (Texte), zweitens der vorliegenden Partitur (Musik) und drittens Seitenblicken auf eigene schwierige Lebenssituationen (Kreuzwege). 2.1 O Crux, ave (Einleitungschor) In Liszts Via Crucis steht zuerst eine Einleitung mit einem in der liturgischen Tradition der katholischen Kirche gut verortbaren Kreuzhymnus: dem Vexilla regis prodeunt, einer auf Venantius Fortunatus (ca. 535-600) zurückgehenden Gelegenheitsdichtung. Auf die Entstehungsgeschichte, die im Reliquienkult der alten Kirche gründet, wurde weiter oben schon eingegangen.155 Ebenso auf die Tatsache, dass dieser 153 Reine Orgelmeditationen ohne Textvorlage sind anzutreffen bei Stationen IV-V; X; XIII. Ähnlich ist die Lage bei Stationen VIII+XI: Die beiden einfachen Rezitative auf zwei Bibelstellen geben für meine Interpretation nichts her; vgl. dazu die Übersicht 1: Textvorlagen und Besetzung, s.o. Kap. III.1.2. 154 vgl. zum Beispiel Hamburger 2010, S. 218, oder Synofzik 1999, S. 4. Mir ist allerdings keine ausführliche musikalische Analyse der Via Crucis bekannt. 155 Kap. II.3.5 60 Hymnus bei den in Italien seit 1750 von der katholischen Kirche geförderten Kreuzwegandachten überlicherweise gesungen wurde.156 Am Ursprungstext wurden im Laufe der langen Rezeptionsgeschichte allerdings zahlreiche Veränderungen vorgenommen.157 Im Original ist der Hymnus auf acht Strophen angelegt. Überraschend ist seine lange liturgische Wirkungsgeschichte. Die tridentinische Liturgie sah Venantius‘ Dichtung nämlich als Hymnus für die Karfreitagsliturgie vor, als Vesperhymnus in der Passionszeit und zum Fest Kreuzerhöhung (14. September),158 allerdings in einer um Strophe II und VII sowie Teilstrophen I 3-4 und VIII 1-2 Abb. 4: Kirchenfenster, um 1940, in Boston (USA), mit Venantius Fortunatus gekürzten, dafür um zwei jüngere Strophen erweiterten 159 Version. Der Partitur der Via Crucis wiederum entneh- men wir, dass es diese tridentinische Version war, die Liszt kannte und vertonte, wobei gleich anzufügen ist, dass der Komponist die Strophenanzahl für seine Einleitung zur Via Crucis nochmals veränderte, indem er sie auf insgesamt drei Strophen reduzierte. In einer früheren Fassung über den Kreuzhymnus allein (1864) liess Liszt auch die mittlere der drei Strophen (Impleta sunt) weg. 160 Im Notentext der Via Crucis stehen nun als Einleitung zum zwölfteiligen Kreuzwegzyklus folgende Strophen: Vexilla regis prodeunt, fulget crucis mysterium, qua vita mortem pertulit et morte vitam protulit. Des Königs Banner wehn voran, des Kreuzes Geheimnis glänzt durch das das Leben Tod ertrug und durch den Tod das Leben gab. Impleta sunt quae concinit David fideli carmine dicendo nationibus: Regnavit a ligno Deus. Erfüllt ist alles, was einst sang David in seinem frommen Lied, da er der Welt verkündet hat: Es herrscht vom Holz herab Gott. 156 Kap. II.3.10 Für detaillierte Hinweise vgl. Anne-Madeleine Plum (2006): Adoratio crucis in Ritus und Gesang. Die Verehrung des Kreuzes in liturgischer Ferier und in zehn exemplarischen Passionsliedern (= PLSt 17). 158 vgl. Adam, Adolf (1990): Das Kirchenjahr - Schlüssel zum Glauben, S. 135ff. 159 Die tridentinische Fassung besteht aus einer Kompilation der Stophen I 1-2 + VIII 3-4 sowie Strophen III bis VI, ferner der alten, aber nicht von Venantius stammenden Strophe „O Crux, ave“, sowie einer eigenen doxologischen Schlussstrophe, vgl. Stock 2012, S. 256-259. 160 Die vierte Strophe bei Venantius entfällt in den zwei früheren Fassungen dieses Hymnus von Liszt. 157 61 O crux, ave, spes unica hoc passionis tempore:161 piis adauge gratiam, reisque dele crimina. Kreuz, einzige Hoffnung, sei gegrüsst! in dieser heilgen Leidensfrist: lass wachsen den Frommen Gunst und tilge der Verbrecher Verbrechen. Was kommt in der von Liszt vorgenommenen Reduktion der Strophenanzahl zum Ausdruck? Offenbar kümmert Liszt sich so wenig um ein vollständiges Zitieren des originären Kreuzhymnus wie heutige Liturgen, die sich bei der Strophenauswahl ebenfalls frei fühlen. Er setzt eigene Akzente. Dies kommt auch in der Musik zum Ausdruck: Vergleicht man den Melodieverlauf des Vesperhymnus der Liturgia Horarum der Karwoche und des Festes Kreuzerhöhung mit der Einleitung der Via Crucis, fällt zwar zuerst deutlich auf, wie Liszt auf die liturgische Melodie anspielt, diese geradezu notentreu übernimmt: Notenbeispiel 3: Der Hymnus Vexilla regis nach dem Liber Usualis Später werden wir dem Phänomen eines Rückgriffs auf eine bestehende melodische Formel beim Zitat der Sequenz Stabat mater dolorosa wieder begegnen.162 Dies zeigt, dass Liszt durchaus daran gelegen war, dem Postulat des Cäcilianismus Folge zu leisten, sich am gregorianischen Choral zu orientieren.163 Notenbeispiel 4: Franz Liszt: Anfang des Vexilla regis im Einleitungschor 161 „in hac triumphi gloria“ notiert Stock für diese Zeile (ders. aaO., S. 259). Kap. III.2.4 163 Vgl. Kap. II.2.3 162 62 Durch den bewussten Einsatz der Orgel setzt Liszt aber an markanten Punkten durchaus eigene Akzente. So bringt die erstmals auf „fulget crucis mysterium“ einsetzende, farbige Harmonisierung, den „fulgor“ (Blitzlicht, Glanz) des Kreuzesmysteriums gleichsam hörbar zum Leuchten. Der anfänglich schlichte und in der Gangart eines Marschliedes angestimmte Hymnus erfährt ab hier eine erste hörbare, deutliche Intensivierung.164 Es ist, als könne man das von den Gläubigen verehrte Kreuz als funkelndes Reliquiar wahrnehmen. Das entspricht dem denkbaren Erstsinn dieses Hymnus. Denn der Ursprungstext weist auf die Einholung der Kreuzreliquie des Jahres 569 in Poitiers hin. Damit aber unscheinbare Reliquien wie Holzssplitter überhaupt visuell einigermassen wahrgenommen werden konnten, wurden sie in kostbare Staurotheken gefasst.165 Die selbst moderne Hörer aufhorchen lassenden Harmonisierungen unterlegt Liszt auch dem wichtigen Begriffspaar mors - vita der 1. Strophe: „qua vita mortem pertulit/ et morte vitam protulit“ (durch das das Leben Tod ertrug/ und durch den Tod das Leben gab). Dieses hiermit näherhin bezeichnete „crucis mysterium“ beruht auf dem göttlichen Paradox, wonach Gott selber vom Holz herab herrscht („regnavit a ligno deus“), wie es in der zweiten Strophe heisst.166 Der Charakter eines Marschliedes167 zur Einholung der Kreuzreliquien ändert sich in der dritten Strophe. Hat vorher der Chor unisono gesungen, unterstreicht jetzt der auf die vier Stimmen (Sopran-Alt-Tenor-Bass) verteilte Einsatz von „O Crux, ave“ den Charakter einer Salutation des Kreuzes. Die Wirkung (Mehrstimmigkeit) wird noch zusätzlich dadurch verstärkt, dass die Orgel schweigt. Der Begriff „spes“ (Hoffnung) wird sodann mit einem Septakkord der Orgel hervorgehoben (piano); ebenso „piis“ (piis adauge gratiam), wo sich Liszt einen feinen Ausflug nach Ges-Dur (enharmonisch = Fis-Dur) erlaubt, um dann die Einleitung in der angestammten Tonart (dMoll) auf „Amen“ zu beenden. 164 Ab T.11 Stock 2012, S. 261 166 „Impleta sunt quae concinit/ David fideli carmine“: „Davids Lied“ ist eine Anspielung auf Psalm 95 (96),10: „Dicite in gentibus, quia Dominus regnavit“ (Sagt unter den Völkern: Der Herr ward König). Vom „ligno“ (vom Holz herab) findet sich aber weder in der gr. noch hebr. Bibel, bei Justin und Tertullian aber wohl. Ebenso steht es im Text der Vetus Latina, vgl. Stock 2012, S. 261. 167 Die vorrückenden (prodēre) Fahnen (vexilla) des Königs (regis) können sowohl die Fahnen einer Truppe meinen und sich also auf den Banner des merowingischen Königs beziehen, die der Prozession vorausziehen. Oder es handelt sich um die ‚Standarte‘ des Königs Christus, die das Kreuz ist; vgl. Stock aaO., S. 260. 165 63 Was bedeutet dies alles? Ich meine dies: Ein Publikum, das an einem Karfreitag bereit ist, die Aufführung der Via Crucis zu erleben, wird auch heutzutage noch beeindruckt sein von der Wirkung alleine dieses gut viereinhalb Minuten dauernden Einleitungschores. Die darin verwendeten musikalischen Mittel (Gregorianischer Choral; Harmonisierungen; Akzentsetzungen; Repetitionen; versetzter Stimmeneinsatz) unterstreichen den Eindruck, wonach es zum Begreifen des „mysterium crucis“ nicht einzig auf die kirchlich korrekte Verkündigung jenes Gottes ankommt, der wie ein König (rex) und paradoxerweise vom Holz herab regiert. 168 Genauso bedeutsam scheint die von Liszt hörbar gemachte Botschaft zu sein, sich überhaupt einmal an einer subjekt zu vollziehenden Verehrung des Kreuzes zu beteiligen. Sich davon schlicht ergreifen zu lassen - ähnlich dem versetzten Stimmeneinsatz auf „O crux, ave“ - vermag möglicherweise eine Gottesbeziehung anzuregen, die aus Traditionsgut schöpft, aber auch Eigenständigkeit wagt. Genauso ist diese Vertonung des Vexilla regis angelegt: traditionell, aber auch subjektiv-eigenständig. 2.2 Innocens ego sum (Station I) Nach der schreitend (Marschlied) wie verinnerlicht wirkenden Einleitung (spes - piis) mit dem versetzten Stimmeneinsatz auf das vorangestellte Motto, die Verehrung des Kreuzes (O Crux, 3. Strophe), tritt bei der ersten Station des Kreuzwegzyklus ein abrupter Wechsel auf. Die Zuhörer können nach dem Einleitungschor nicht wissen, was nun passiert, ausser sie haben ein Textblatt zur Hand. Aber selbst wenn sie dieses konsultierten, nützte es ihnen nicht viel, denn in Station I wird zuerst einmal nichts gesungen oder verlautbart, sondern es ertönt ein ziemlich erschreckender fortissmoEinsatz der Orgel allein. Um dem Publikum einen Anhaltspunkt zu geben, wo wir uns in der zu erwartenden dramatischen Abfolge befinden, hielt ich es für die im Vorwort zu dieser Arbeit erwähnte Aufführung für angebracht, noch vor der überraschenden Orgelattacke einen jener Texte einzuschieben, um die man mich gebeten hatte.169 Ein blosses Vorlesen 168 Geradezu paradox erscheint in musikalischer Hinsicht die Tatsache, dass die erwähnten Harmonisie-rungen (Chromatik) für heutige Zuhörer zwar modern wirken; dabei kommen sie musikgeschichtlich schon in der zweiten Hälfte des 16. Jh. vor (Lasso; Spätrenaissance). Liszt gelingt es immer wieder, unser Gefühl für funktionale Tonalität zu stören (mündliche Hinweise von Thomas Mattenberger). 169 Für die Aufführung in Ennenda vom Karfreitag 2012 habe ich die Texte mit Hilfe meiner Frau, Pfarrerin Iris Lustenberger, überarbeitet. Im Rahmen dieser Arbeit werden sie nach dieser modifizierten Fassung zitiert. 64 der Stationenüberschrift („Jesus wird zum Tode verdammt“) schien mir an dieser Stelle aber als zu einfach und zu wenig.170 Hier, an dieser sensiblen Stelle am Auftakt zum Kreuzweg musste es nach meiner Beurteilung mehr Text sein. Und trotzdem so wenig wie möglich. Wenig, damit immerhin Orientierung auf dem Stationenweg möglich wird, mehr, damit bereits zu Anfang eine möglichst breite Identifikationsmöglichkeit mit dem Motiv des gerechten Menschen geschaffen wird, um das es beim Kreuzweg im Kern geht. So scheint es angemessen, noch vor die erste Station einen eigenen Text zu setzen. Er ist für zwei Sprecher (S1; S2) angelegt und wird hier vollständig wiedergegeben: S1 Seht den Menschen! (Joh 19,5) S2 Das darf doch nicht wahr sein! S1 Seht, was habt ihr mit diesem Menschen auch getan? S2 Oh Gott, er stirbt! S1 Seht, wie er umkommt... S2 Er wird in seiner Menschenwürde verletzt. S1 Seht den Menschen... (Pause) S2 Er wird gefoltert... S1 gequält... S2 und ausgelacht! S1 – Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazareth? (Lk 4,34) S2 Keiner ist da, der sich schützend vor den Wehrlosen stellt! S1 Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazareth? S2 Du hast keine andere Leidenschaft gekannt, als die Liebe zu Gott und den Menschen. S1 Jesus von Nazareth, hast nicht Du in deinem Leben versucht zu sehen, was Menschen wirklich brauchen? Keiner da, der jetzt einsteht für sein untrügliches Gefühl, dass mit diesem Jesus von Nazareth etwas vom Heiligsten und Göttlichsten verurteilt wird, was Menschen je begegnet ist. Keiner da, der auf dem letzten Weg laut aufschreit gegen diese kalte Grausamkeit. S2 Sieh da, die Frauen. Unter ihnen Maria aus Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus und des Joses, sowie Salome und viele andere. (Mk 15,40) 170 Für Stat. IV; X; XI wählte ich diesen einfachen Weg des Lesens einer Stationenüberschrift. 65 Sie sind ganz mit ihm. Schmerzverzerrt und entsetzt auch ihr Gesicht. Sie begleiten und unterstützen ihn mit ihren Herzen. S1 Noch sind die Worte aus den Synagogen Galiläas nicht verklungen, in denen Jesus unser Leben unmittelbar vor Gott hingestellt hat. Wenn er von Gott sprach, dann in geduldiger Beruhigung einer jeden verwirrten und verängstigten Menschenseele; denn jeder Mensch soll sich in Gott geborgen wissen. S2 Seht, die Frauen. Sie vermögen die langen Schatten des Todes über Golgotha nicht aufzuhalten, doch sie halten mit ihm aus und verlassen ihn nicht. Jetzt kann die Orgel einsetzen. Gemäss der Partitur soll es fortissimo (ff) geschehen. Schnell ist man mitten in der Szene. Und es gibt nichts zu deuteln: Das musikalische Echo auf den nicht explizit genannten, aber bekanntermassen vernichtenden Urteilsspruch des Pilatus: „Jesus ist schuldig. Er muss sterben“ (Mk 14,64), dieses Echo erfolgt mit Wucht und ertönt mit Endgültigkeit. Der abrupte Wechsel wirkt selbst nach der eingeschobenen Lesung überraschend, vielleicht sogar noch überraschender als ohne Lesung. Schon der blosse Registerwechsel erschreckt: Nach dem ins Pianissimo diminuierenden Amen des Chores setzt die Orgel zuerst alleine ein. Sie spielt laute (fortissimo) und vor allem dissonante Akkorde; bald findet sie in eine abgehackte staccato-Melodie, die ihrerseits in eine Reihe von Oktavparallelen mündet. Die wenigen Takte wirken hastig, schrill, zwiespältig: Nachdem für die Verurteilenden (Hoher Rat; Pilatus) der Fall mit dem Verhängen des Urteils bereits ad acta gelegt wird, kommt nun die Maschinerie der Vernichtung für den Verurteilten erst in Gang. Die Orgelattacke ist nach 24 Takten bereits vorbei. Das entspricht ungefähr 45 Sekunden Aufführungszeit. Steht dieses Tempo für die Geschwindigkeit und Heftigkeit, mit dem einem zuweilen selber ein unbedachtes, ungeschicktes, verletztendes oder gar vernichtendes Wort (Pilatus!) über die Lippen kommt? Die von einer Baritonstimme vorgetragene Unschuldsbeteuerung des Pilatus auf eine abwärts gerichtete, unbegleitete Kantilene, bildet einen trockenen Kommentar. Er beschliesst die erste Station: „Innocens ego sum a sanguine justi huius“ (Mt 27,24). 2.3 Ave Crux (Station II) Während die Orgel am Anfang der zweiten Station ein paar Takte alleine spielt (lento, sotto voce), ist man gedanklich womöglich noch sehr mit dem „innocens“ (unschuldig) beschäftigt. Dieser Begriff bleibt im Raum stehen und klingt noch innerlich im 66 Zuhörer nach. Unschwer fallen einem dazu vielleicht - und parallel zu Jesu Geschichte - eigene Lebenssituationen ein, in denen man sich vergeblich um Gerechtigkeit bemühte: Wurde ich schon einmal selber vernichtend und zu Unrecht verurteilt/beurteilt? Kommt mir eine bestimmte Lebenssituation wie ein vernichtendes Urteil vor? Hat etwas meine Pläne durchkreuzt, was nicht mehr zu ändern ist, sondern was es nur noch - ich weiss nicht wie - durchzustehen gilt? Und wie steht es mit meiner Tendenz zu Selbstverleugnung? Kenne ich das? Die Musik gibt Gelegenheit, den eigenen Kreuzweg zusammen mit Jesus ein Stück weit anzuschauen: Will ich Kränkungen (Verletzungen) ernst nehmen, die ich mir selber zufüge? Bin ich bereit, meinen eigenen Kreuzweg aufzuarbeiten, zusammen mit Jesus? Vermag mich Christus an einen Ort zu erinnern, einen heiligen, unzerstörbaren Kern von Liebe, in den „das Feuer menschlicher Bosheit nicht eindringen kann“? 171 Die Orgelmusik ertönt langsam (lento) und, konträr zur ersten Station, leise (piano/ sotto voce). Achtelfiguren im Bass schleppen sich in einem ersten Teil (A) mühsam voran.172 Das tonale Zentrum verändert sich nur unwesentlich. Es bewegt sich im Raum um h - c - ais (b) - a und wirkt eng. Wird hierin ein schreitendes Suchen von Gleichgewicht hörbar, um das man (oder Jesus!) mit dem auferlegten Kreuz ringt? Die wahrnehmbare Bewegung jedenfalls ist minim; sie hat geradezu eine Tendenz zur Starre, schreitet aber dennoch stetig und konsequent vorwärts. Das Kreuz beugt. Das kann als Bild für die Last unseres Lebens angesehen werden und für alles stehen, was das eigene Lebenskonzept und die eigenen Pläne durchkreuzt. Es kann in einer Krankheit begegnen genauso wie in Menschen, die einem das Leben unvermittelt schwer machen. Es begegnet sowohl aussen: in zugefügten Grenzerfahrungen (Verluste, Arbeitslosigkeit, Traumata), als auch innen: als psychische Schwierigkeiten (Trostlosigkeit, „nicht mehr weiter sehen“). In der zweiten Station wird diese Last ausgedrückt, die auf dem Kreuz liegt. Musikalisch ereignet sich dabei folgendes: Das Kreuz wird in einem zweiten Teil (B) 173 be171 Die Fragen sind in Anlehnung an Anselm Grün formuliert; vgl. ders. 2002 (ohne Seitenzahlen), s.o. III.1.3. Teil A (Orgelsolo): T.1-13, Aufführungsdauer: ca. 60 Sekunden. 173 Teil B (Bariton): T.14-19, Aufführungsdauer: ca. 20 Sekunden. 172 67 grüsst. Der Bariton, der nun notabene nicht mehr wie in der ersten Station in der Rolle des Pilatus, sondern in jener von Jesus wirkt, singt ein zweimaliges „ave“, das auf einem lange ausgehaltenen cru-u-x auf einem Ton endet (h).174 Durch das Ave geschieht eine Art Wandlung. Das Kreuz ist nicht mehr irgendein beliebiges, schweres Kreuz. Es wird zu Jesu eigenem, seinem ganz persönlichen Kreuz. Eigentlich könnte man meinen, dass in jenem Moment, in dem Jesus ein Kreuz auf die Schultern gelegt wird, dieser zum Opfer wird. Aber durch das Annehmen (symbolisch: Ave-Begrüssung) kommt es zu einem Ja zu diesem Kreuz. Nach Teil B erweist sich ein eigener Texteinschub zur Illustration des äusseren und inneren Geschehens als hilfreich. Dabei wird die Salutation des Kreuzes aus dem Libretto aufgenommen („Oh Kreuz“) und auf Jesu ermutigende Souveränität mit Hilfe der Begriffe „Freiheit - Treue“ hingewiesen: S1 Ein schweres Kreuz haben sie Jesus auf die Schultern gelegt. S2 Er nimmt das Kreuz, umfängt es mit seinen Armen und trägt es, nicht wie ein Verurteilter, sondern wie ein freier Mensch. S1 Oh Kreuz – Instrument eines zur Waffe gewordenen, furchtbaren Hasses! S2 Oh Jesus – du lässt dich nicht von der Angst regieren und bleibst dir treu. Zur Interpretation: Die Treue Jesu besteht darin, dass er um der Unbedingtheit der Liebe willen nicht ausbricht aus dem „experimentum crucis“.175 Jesus flüchtet nicht, bricht nicht ab, steigt nicht aus: „Steig doch herab…!“ (Mk 15,30). Er schickt sich in die Nagelprobe der Liebe und umfängt das Todesgebälk.176 Die Musik scheint dies zu bestätigen, denn sie bricht nicht ab, indem sie zum Beispiel bereits zur nächsten Station fortschreitet, sondern sie erfährt aus sich selber und in der für Lizst typischen monothematischen Arbeitsweise eine Fortsetzung. Die aus Teil A bekannte und in engem Tonumfang177 das Gleichgewicht der Kräfte suchende Bewegung wird in einem dritten Teil aufgenommen.178 Das bedeutet: Die Last des Kreuzes bleibt, erscheint aber durch die höhere Lage des tonalen Zentrums bei dis174 T.18f. Lambert, Willi (2000): Aus Liebe zur Wirklichkeit - Grundworte ignatianischer Spiritualität, S. 128f. 176 Ebd. 177 h - c - ais (b) - a 178 Teil A‘ (Orgelsolo): T.20-36, Aufführungsdauer: ca. 60 Sekunden (wie Teil A, aber meno lento) 175 68 e-cis-d etwas leichter. Dazu kommen auffällige Harmonisierungen:179 Sie ziehen hörpsychologisch gesehen nach oben und verleihen ebenfalls das Gefühl von Leichtigkeit. Im Bass schreitet derweilen immer noch und konsequent die Bewegung des Kreuztragens wie in symbolischer Geste weiter. Kommen wir zum Schluss der zweiten Station, wo man den Eindruck bekommt, als sei der Blick nochmals von unten nach oben gerichtet - hin zu den Kreuzesbalken? Wird demnach, so frage ich weiter, durch dieses „Ave Crux“ der Blick gleichsam neu offen für die geistige Welt - fern aller weltlichen Machenschaften? Tönt so Einwilligung in einen einmal gewählten Lebensweg? Kommt darin zum Ausdruck, dass Jesus aus seiner tiefsten Seele heraus in sein Schicksal einwilligt? Dies wäre nicht zu verwechseln mit einem sich selbst auferlegten inneren Druck im Sinne von: „ich soll oder muss“ das Kreuz auf mich nehmen. Es wäre die Übereinstimmung des eigenen Willens mit Gottes Willen, die der tiefsten Seele entspringt, keinesfalls aber ein von aussen auferlegtes Gebot. Das Ave wäre eine in innerer Freiheit formulierte Zustimmung gegenüber dem Ruf der Liebe. Durch die dreiteilige Form (Teile A-B-A‘) wird für mich mit musikalischen Mitteln zum Ausdruck gebracht, dass Jesus mit seinem Kreuz nicht stecken bleibt, sondern sich vorwärts bewegt. Oder: Der Prozess kommt in eine Bewegung. Und das wird neben dem schon Beschriebenen deshalb möglich, weil zwischen Teil A und Teil A‘ Jesus in Teil B das Kreuz begrüsst. Etwas muss in Erinnerung gerufen werden: Dass mit der Annahme (Begrüssung) seines Kreuzes nicht nur Jesus, sondern auch wir in unseren Wandlungsprozessen angesprochen sind. Aus der Sicht der geistlichen Begleitung ist es allerdings oft ein längerer Reifeprozess, der zu einer inneren Einstimmung in eine schwierige Lebensphase führt, bis es dann sogar zu einer Übereinstimmung kommt. Ferner ist es für den modernen Menschen wichtig zu wissen, dass er nicht jedes Kreuz bejahen muss, sondern nur jenes, das er vom Herzen her annehmen kann, weil es zu seiner Lebensaufgabe gehört. Insofern ist es konsequent, wenn, um noch einmal den ignatianischen Faden aufzunehmen,180 der „Leidensphase“ (dritte Woche) der Ruf in die Nachfolge (zweite Woche) vorausgeht. Denn vom geistlichen Weg her gesehen 179 180 übermässige Quart- und grosse Sextakkorde: T.23f.29f.32-35. s.o. Kap. III.1.3 69 muss streng genommen zuerst geklärt sein, wohin der Ruf der Liebe zu Gott drängt und zieht, bevor festgestellt werden kann, wie dieser Ruf sich dann im Leben und unter Menschen bewähren kann. Durch die Auseinandersetzung mit der Musik, durch die extreme Verlangsamung des Prozesses, die ich für diese Betrachung und in Nachahmung der Partitur gewählt habe, wird hoffentlich deutlich: Das Annehmen des Kreuzes, das Ave Crux, stellt bezüglich des eigenen geistlichen Weges im Umgang mit Leid und Leiden eine Schlüsselstelle dar. Aber sie dauert (lento)! So halte ich die Vertonung der zweiten Station zusammen mit dem Vexilla regis für zwei wesentliche Beiträge von Liszt zu jener Tradtion von geistlichen Liedern, in denen Jesus gepriesen wird, wie er das Kreuz umarmt. Der dem Hörer durch die breite Orgelmeditation (ohne Singstimme) eingeräumte Platz schaft Freiraum für eigene Gedanken, was den Erkenntnisprozess unterstützen hilft, wonach Jesus ein wegweisendes Modell darstellt für die Verbindung verschiedener isolierter Leidensgeschichten. 2.4 Stabat mater dolorosa (Stationen III, VII, IX) Im Mittelalter kannte man ein siebenfaches Fallen Jesu.181 Auch darin kann man, wie schon in den beiden Stationen zuvor, ein Bild für das Leben sehen. So fällt manch einer unter der Last des Lebens nicht nur einmal um, sondern wiederholt. Das Fallen Jesu steht gemäss Anselm Grün für eine Schwäche, für ein Überfordertsein durch die Last des Kreuzes.182 Und es steht auch für eigenes Fallen. Wir sprechen davon, dass wir in Versuchung fallen, dass wir uns nicht wehren können gegen eine Anfechtung, dass wir schwach werden. Auch einer Leidenschaft kann man verfallen sein. Die Theologie spricht dann vom Sündenfall. Und Paulus mahnt: „Wer aber zu stehen meint, der gebe Acht, dass er nicht fällt“ (1 Kor 10,12). Wer das selber kennt und schon gefallen, umgefallen ist, für den ist Passionszeit, Zeit für Busse und Umkehr (gr. metanoia).183 Die dritte Station kann von ihrer Form her als aus zwei Teilen bestehend beschrieben werden: Teil A verlangt ein langsames (lento) und lautes (forte) Vortragen der Worte 181 Herzog 1992, S. 128. Grün 2011, zur dritten Station (ohne Seitenangabe). 183 Ebd. 182 70 Jesus cadit (Jesus fällt) durch die beiden Männerstimmen (Tenor-Bass).184 Teil B bringt sodann, nach einer kurzen Überleitung, eine Miniaturversion des Hymnus Stabat Mater dolorosa.185 Nach den nüchternen Männerstimmen auf „Jesus cadit“ wirken diese wenigen Takte herzzerreissend. Sie sollen von drei Frauenstimmen (Sopran 1+2; Alt) leise (piano) vorgetragen werden. Der Orgel kommt nur Begleitfunktion zu (pianissimo dolente). Die Halbstrophe des Stabat mater, die in der Partitur zitiert wird, lautet: Stabat mater dolorosa iuxta crucem lacrimosa, dum pendebat filius. Christi Mutter stand mit Schmerzen bei dem Kreuz und weint von Herzen, als ihr lieber Sohn da hing.186 Warum verwendet Liszt ein so kurzes Zitat aus Stabat mater für die musikalische Illustration der dritten Station und der beiden Folgestationen mit dem wiederholten Umfallen Jesu?187 Es gibt dafür meines Erachtens drei Gründe. Erstens war es in den italienischen Kreuzwegandachten üblich, nicht nur das Vexilla regis, sondern eben auch das Stabat mater zu singen.188 Und wie das Begehen von Kreuzwegen spritualitätsgeschichtlich gesehen auf die Initiative des Franziskanerordens zurückzuführen ist, 189 so haben gemäss Marianne Schlosser einige Forscher auch die Dichtung des Stabat mater - und mit guten Gründen - der Feder des grossen franziskanischen Mystikers des Mittelalters und Verfassers der Franziskusbiographie, Bonaventura (um 1217 1274), zugeschrieben.190 In Bonaventuras Werk Baum des Lebens (Lignum Vitae), das dieser um das Jahr 1260 geschrieben hat, erinnert zum Beispiel der Mittelteil mit den 16 Betrachtungen zum „Geheimnis des Leidens“ stark an die Stationen des Kreuzweges.191 Auch wenn sich die Verfasserschaft des Stabat mater letztlich nicht 184 T.1-12, Aufführungsdauer: ca. 30 Sekunden T.12-34, Aufführungsdauer: ca. 50 Sekunden (T.12-14 ist Überleitung zu T.15ff. mit dem Stabat mater). 186 für die Übersetzung vgl. Stock 2012, S. 266. 187 Die Station III+II+IX sind nahezu identisch. Es gibt kaum hörbare Unterschiede. Die verschiedenen Tonarten sind für den Zuhörer nicht erurierbar. 188 s.o. Kap. II.3.10. 189 Kap. II.3.7. 190 vgl. Schlosser, Marianne (2000): Bonaventura begegnen, Augsburg: Sankt Ulrich Verlag, S. 137f: Der Gedanke, wonach der Beter mit den Augen und dem Herzen der Gottesmutter auf den Gekreuzigten schauen soll und so innerlich zur compassio bewegt wird, führt Bonaventura offenbar auch in seinen Predigten aus. 191 Bonaventura: Baum des Lebens (Lignum Vitae), hrsg. von: Schlosser, Marianne (2010): Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen, Augsburg: Sankt Ulrich Verlag, S. 8; vgl. besonders Betrachtung 24 (Jesus, zum Tod 185 71 schlüssig klären lässt,192 bietet sich der franziskanische Traditionsstrang geradezu an. Das aber passt wie ein Puzzleteil zum anderen auch zu Franz Liszt, der dem Franzsikanerorden zeitlebens nahe stand.193 Damit komme ich zu einer zweiten Erklärung für die Wahl des Stabat mater: Liszt hatte eine grosse Erfahrung mit diesem Motiv. Wer sich mit dem Gesamtwerk von Liszt auskennt, dem kommt unweigerlich in den Sinn, dass Liszt das Stabat Mater schon einmal vertont hat, nämlich in seinem Oratorium Christus.194 Dieses hatte er zwölf Jahre vor der Via Curcis vollendet. Im Christus integrierte Liszt die berühmte Mariensequenz als Hauptstück in den Passions- und Auferstehungsteil. Sie bildet mit 974 Takten den längsten Teil des Oratoriums und dauert bei einer Aufführung für sich allein schon etwa eine halbe Stunde.195 Was für ein Vergleich zu den zwanzig Takten in der Via Crucis! Drittens möchte ich noch einen letzten Grund anführen, der allerdings etwas spekulativ ist. Liszt könnte durch die Zuwendung zu dieser Dichtung sein eigenes „Umfallen“ aufgearbeitet haben. Zur Erinnerung: Die Mutter von Franz Liszt, Anna Liszt, reiste im Jahr 1827 eilends zu ihrem damals knapp sechzehnjährigen Sohn nach Paris, um ihm nach dem überraschenden Tod des Vaters so gut es ihr möglich war zu unterstützen. Darin sehe ich das Motiv einer sich ihres Sohnes erbarmenden Mutter, die zudem selber in Trauer ist. Der Vaterverlust war für den jungen Liszt immerhin die erste bewusst erlebte „Passion“. Er war in der Folge für längere Zeit hinund hergerissen zwischen Wunsch und Realität bezüglich seiner eigenen Zukunft. 196 Anders gesagt fühlte er sich wie ein Mensch, dem jeglicher Boden entzogen wurde, weil er vom hohen Konzertpodest heruntergefallen war. Die Mutter konnte den Vater bei der Konzertorganisation nicht wirklich ersetzen. Aber sie war bei ihm. Diesen biographischen Grund möchte ich deshalb als mögliche Erklärung für die bevorzugte Behandlung der Mariensequenz auch in der Via Crucis anführen, weil auch verurteilt), ferner Betrachtung 32 (Jesus, ins Grab gelegt). Zur Zeit Bonaventuras waren die Kreuzwege allerdings noch nicht auf die heute üblichen 14 Stationen angelegt, vgl. Kap. II.3.1. 192 Es gibt auch Zuschreibungen an Jacopone da Todi (gest. 1306), doch auch das bleibt Vermutung; vgl. Stock 2012, S. 268. 193 s.o. Kap. II.3.10. 194 s.o. Kap. II.2.5. 195 vgl. Steinbach-Ditsch 2009, S. 97. 196 s.o. Kap. II.1.4 + II.1.5. 72 das zeitnah zu Liszts Via Crucis entstandene Stabat mater (op. 58) von Antonín Dvořák (1841-1904) stark biografisch veranlasst war, nämlich als Reaktion auf den Tod von dessen drei Kindern und zwar in kurzer Zeit. 197 Ähnliches Leid hatte früher auch Liszt eingeholt: Sein Sohn Daniel starb 1859, seine Tochter Blandine 1862. Mehr als diese zwei ebenfalls sehr tragischen Verluste möchte ich aber das vorhin eingebrachte Argument gewichten, das mich seit dem wiederholten Hören der drei so ähnlich tönenden Kreuzwegstationen, in denen das Stabat mater vorkommt,198 nicht mehr los lässt. Es lautet: Liszt hat, wohl unbewusst, Jesu Mutter aus gleichwohl biografischer Erfahrung schon bei der dritten Station deshalb ins Spiel gebracht, weil er nach dem überraschend frühen Tod des Vaters seine eigene Mutter als diejenige erlebte, die er als schmerzensreich wie einfühlsam-mitleidend erlebte. Mit diesem Argument wird mindestens klar, weshalb Liszt das Stabat mater nicht erst bei der vierten Station verwendet hat. Dort würde es sich eigentlich von der Thematik her durchaus auch anbieten. Doch die vierte Station (Jesus begegnet seiner schmerzerfüllten Mutter) bleibt in der Via Crucis ohne Text. Wie dem auch sei: Durch die Zuordnung zur dritten Station und der Repetition des Materials bei den anderen beiden Stationen, hat die Musikwelt drei weitere und sehr prägnante Miniversionen des Stabat mater erhalten. Anzufügen ist noch fast selbstredend, dass die emotional aufgeladene Dramaturgie dieses Mariengesangs für sehr viele Komponisten inspirierend wirkte.199 Zum Abschluss des Kommentars zu dieser Station möchte ich noch einmal einen Vergleich der beiden Stabat Mater-Versionen im Oratorium Christus und in der Via Crucis anstellen. Während es Liszt im Christus noch wichtig war, zeitgemässe religiöse Musik ausserhalb der Liturgie zu verwirklichen und diese entsprechend grandios (symphonisch) auszugestalten, arbeitete er in der Via Crucis mit viel bescheideneren Mitteln. 197 Dvořáks Kinder starben zwischen September 1875 und November 1877. Stat. III; VII; IX. 199 Neben dem sehr bekannten Stabat Mater von Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736) ist hinzuweisen auf zahlreiche Vertonungen wie jene von Josquin de Prez, Orlando di Lasso, Marc Antonine Charpentier, Alessandro Scarlatti, Antonio Caldara, Antonio Vivaldi, Domenico Scarlatti, Joseph Haydn, Luigi Boccherini, Gioacchino Rossini, Franz Schubert, Giuseppe Verdi, Karol Szymanowski, Zoltán Kodály, Francis Poulenc, Krzysztof Penderecki; vgl. Kaspar 2002, S. 228ff. 198 73 Von der verwendeten Satztechnik her betrachtet zeigt ein Vergleich der beiden Werke, dass Liszt schon im Stabat Mater des Christus als wichtigstes thematisches Material auf jene gregorianische Singweise im 6. Ton (hypolydisch) zurückgreift, die zu seiner Zeit zum Fest der Sieben Schmerzen Mariens (15. September) als Vesperhymnus verwendet wurde: Notenbeispiel 5: Fanz Liszt, Takte 28-41 aus dem Stabat Mater Teil III im Christus und die gregorianische Singweise im Vergleich (unten) Hat Liszt bei der Verwendung des Stabat mater in der Via Crucis einfach nicht viel Aufwand betreiben wollen? Was steckt hinter dem Minimalismus, der ja auch an der Reduktion auf eine einzige Halbstrophe des Ursprungstextes sowie am fast wörtlichen Zitat in zwei weiteren Stationen ablesbar ist? Aus meiner Sicht ist es Liszt hoch anzurechnen, dass er aus dem Stabat Mater hier in der Via Crucis keine grosse Sache macht, sondern einzig auf die Wirkung dieser wenigen Takte und ihre Repetion vertraut. Die Kürze entspricht zudem auch mehr einem liturgischen Kontext als dem Ambiente eines Konzertsaales, wofür es selbstredend grössere Formen braucht. 74 Notenbeispiel 6: Franz Liszt, Via Crucis, Station III mit Stabat Mater (ab Takt 15) In den drei Stabat Mater der Via Crucis wird - fast möchte ich sagen in franziskanischer Manier: nämlich bescheiden und einfach - das Motiv der schmerzensreichen Mutter am Fusse des Kreuzes (vgl. Joh 19,25) mit dem „durchbohrten Herzen“ (Lk 2,35) in einer Prägnanz in Erinnerung gerufen, die nichts Aufdringliches hat. Dadurch wird auch für einen ökumenisch orientierten Protestanten wie mich, der sicher nicht a priori in marianischen Kategorien denkt, kraft der Musik über die Gottesmutter Maria ein Zugang geschaffen, mich mit dem schweren Schicksal anderer auseinanderzusetzen, mich davon berühen und betreffen zu lassen und mich nicht davor zu verschliessen. Das aber ist eine wichtige Voraussetzung für ‚compassio‘ im Sinne der menschlichen Fähigkeit zu Mitleidenschaft.200 200 vgl. das zu Compassio in Kap. III.1.3. Ausgeführte. Breite Identifikationsmöglichkeit bieten heutzutage vor allem moderne Texte, die auf den ersten Blick leichter zugänglich sind. Ich denke hierbei an die Popballade 75 2.5 O Haupt voll Blut und Wunden (Station VI) Vor dem Einsetzen der Musik zu lesen: S1 Veronika drängt sich durch die Menge und trocknet das Gesicht Jesu, das mit Speichel, Schweiss und Blut bedeckt ist. Ihrem Tuch bleibt das schmerzverzerrte Gesicht Jesu eingeprägt. S2 Veronika lässt sich nicht abschrecken. Sie ist zur Liebe fähig. S1 Ich will mich aufmachen, spricht sie, ich will die Stadt durchstreifen. In den Gassen und auf den Plätzen will ich ihn suchen, den meine Seele liebt. (Hld3,3) S2 Ich suchte ihn, aber fand ihn nicht. Da begegneten mir die Wächter, die in der Stadt umgehen. Habt ihr ihn nicht gesehen, den meine Seele liebt? (Hld 3,3) So wurde ich zum Spottlied und diene ihnen nun zum Gerede. S1 Herr, dein Angesicht....! S2 Gott, es gibt viele Gesichter, durch die du uns anschaust, durch die du uns anrufst und zu uns sprichst. Lass uns dein Angesicht auch in den Zerschundenen sehen. Führte Liszt das Publikum in der vorangehenden vierten und fünften Station nur mit Musik ohne jeden Text in Gefilde jenseits traditioneller Tonalität, so atmet man als Zuhörer bei der sechsten Station richtiggehend auf. Denn hier ertönt der berühmte Choral O Haupt voll Blut und Wunden. Und die verwendete Sprache ist auch vertraut: erstmals wird deutsch gesungen. Die Harmonisierungen, die Liszt verwendet, erinnern zudem stark an Bach. Und dies sind dann wohl zusammen gesehen auch die Gründe, weshalb man sich hier wie zu Hause fühlt. Die sechste Station beginnt mit einer kurzen Einleitung, in der die Töne von Johann Sebastian Bachs Namen (b-a-c-h) vorkommen. Das ist für den Hörer kaum bemerkbar, ausser er hätte Noten zur Hand und vor allem eine schnelle analytische Auffassungsgabe: Notenbeispiel 7: Franz Liszt: Via Crucis, Station VI mit b-a-c-h der Orgel (Takte 5-6) Tears in Heaven von Eric Clapton und Will Jennings. Clapton hatte sie im Jahr 1991 unter dem Eindruck des tragischen Unfalltodes seines vierjährigen Sohnes aus dem 53. Stock eines Wohnhauses geschrieben. 76 Klára Hamburger bezeichnet diese Station wegen des musikalischen Zitates zu Recht als „Hommage à Johann Sebastian Bach“.201 Was als kompositorischer Zufall aussehen mag - eine harmlose Folge von vier Tönen - erweist sich als klares wie schlichtes und ehrliches Konzept.202 Der Choral selber hat eine lange Traditionsgeschichte. Dies macht ihn spiritualitätsgeschichtlich gesehen interessant. Wer allerdings nur oberflächlich informiert ist, denkt nicht hinter Bach zurück. Dabei ist O Haupt voll Blut und Wunden das letzte von sieben Passionsliedern, die Paul Gerhardt (1607-1676) verfasst hat. J.S.Bach (1685-1750) hat dann lediglich auf eine bestehende Tradition zurückgegriffen und zur immerselben Melodie diverse Harmonisierungen geschaffen.203 Zuerst nun ein Wort zu Paul Gerhardt - jenem Mann, der O Haupt voll Blut und Wunden gedichtet hat. Gerhardts Spiritualität ist am besten in seinen über 120 Liedern greifbar. Es bedarf eigentlich bloss einer genauen Lektüre dieser Lieder, und man wird ohne Kenntnis von Zeit- und Lebensumständen204 hinter dem Dichter eines Menschen gewahr, dessen Zuversicht auf dem Hintergrund von Gewissens-, Kriegswie Hungersnot und nicht zuletzt einer tiefen Schwermut, ja existentieller Traurigkeit errungen worden ist.205 Dichtungen wie Befiehl du deine Wege, Ich bin ein Gast auf Erden und Warum sollt ich mich denn grämen wollen nicht nur Lichtstrahlen ins Dunkel bringen, sondern sie wollen auch Quelle von neuer Kraft und neuem Trost sein. Hierin war Gerhardt unvergleichlich: Als Seelsorger vermag seine Sprache auch heute Angefochtene und Geschlagene anzusprechen.206 Ähnlich verhält es sich bei O Haupt voll Blut und Wunden. Ich glaube kaum, dass Gerhardt damit einfach den deutschen Liedschatz ergänzen wollte, dem Passionslieder bis anhin fehlten, wie 201 Hamburger 2010, S. 217. Die Tonfolge b-a-c-h findet sich auch bei Station IV Takt 4, dort in sogn. Krebsform (rückläufig). 203 Vgl. z.B. Choral in Kantate Nr. 135: Ach Herr, mich armen Sünder“; ferner O Haupt voll Blut und Wunden, Befiehl du deine Wege und Herzlich tut mich verlangen in der Matthäuspassion; letzterer Text auf dieselbe Melodie auch im Weihnachtsoratorium, dort ebenso Wie soll ich dich empfangen. 204 Ins ordentliche Pfarramt trat der 1609 geborene Gerhardt erst 1651. Was er während der 23 Jahre von der Immatrikulation bis zur Ordination getan hat, wissen wir kaum. Ansonsten hat der beliebte Dichter einen für damalige Verhältnisse „fast unauffälligen, durchschnittlichen Lebenslauf“ (Martin Rössler), in: ders. 2001: Liedermacher im Gesangbuch - Liedgeschichte in Lebensbildern, S. 423-469. 205 Killy, Walter (1976): Paul Gerhardt – Glaube, Schwermut, Dichtung, in: Jenny, Markus / Nievergelt, Edwin (Hrsg.; 1976), Paul Gerhardt - Weg und Wirkung, S. 8-16. 206 Martin Rössler aaO. 202 77 Louise Gnädinger vermutet,207 sondern dass Gerhardt darin ein grosses seelsorgliches Potential sah. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass - im Gegensatz zu Luther, der zwar Osterlieder, aber keine Passionslieder dichtete Gerhardt insgesamt vierzehn Passionslieder schrieb. Offensichtlich gehört es zum Christusbekenntnis und zu Gerhardts Denken, in und mit dem ganzen Kirchenjahr zu gehen und demzufolge neben die Inkarnation208 auch die Passion Christi zu stellen. Wenn aber deutsche Textvorbilder von Passionsliedern fehlten, warum nicht in der Tradition fündig werden? Gerhardts Hausbibliothek hat mit ihren 1‘150 Bänden reichliches Quellenmaterial dafür geboten. Und tatsächlich fand der Barockdichter in der mittelalterlichen Christusmystik ein eindrückliches Zeugnis für Compassio-Frömmigkeit. Es hatte sich in Form eines keinen Körperteil auslassenden lateinischen Reimgebets Salve caput cruentatum abgebildet. Indem Gerhardt sich diesem bis ahnin in deutschsprachigen Landen ungeborgenen Schatz annahm, beschritt er einen noch nicht begangenen Weg. Denn dem Gerhardtschen O Haupt voll Blut und Wunden liegt das aus dem 13. Jh. stammende Salve, caput cruentatum des Zisterziensermönchs Arnulf von Löwen (1200-1250) zugrunde. Dieses wiederum gründet tief in der bernhardschen Hohelied-Mystik.209 Die im Original lateinische Vorlage besteht aus einem siebenteiligen Zyklus über die Gliedmassen des leidenden Jesus.210 Zur Zeit Paul Gerhardts galt noch Bernhard von Clairvaux (1090-1153) selber als Verfasser dieser Betrachtungen und nicht der ein halbes Jahrhundert nach Bernhards Tod geborene Arnulf von Löwen. Nach ihrem jeweiligen Anfangswort „Salve“ (sei gegrüsst) wird die Dichtung ihrer Gattung nach als Passions-Salve bezeichnet. Die Begrüssung richtet sich an Füsse, Knie, Hände, Seite, Brust, Herz und Angesicht Jesu. Damit kommt es zu einer verlangsamten Mitempfindung einer keinen Körperteil auslassenden Leidenstotalität.211 Diese textgeschichtlichen Zusammenhänge waren mir bei der ersten Bekanntschaft mit der Lisztschen Via Crucis nicht bewusst. Erst beim Lesen eines Teils von 207 dies.: in: Jenny/Nievergelt 1976, S. 18. Gerhardt hat sieben Weihnachtslieder verfasst. 209 vgl. McGinn, Bernard (1996): Liebe als die Mitte von Bernhards Mystik, in: ders. (1994 - im Erscheinen): Die Mystik im Abendland. Freiburg i. Br.: Herder, Bd. 2, S. 295-339; s.o. Kap. II.3.6. 210 Eine hilfreiche Synopse des lateinischen Textes, seiner deutschen Übersetzung und der Gerhardtschen Nachdichtung findet sich in: GWH, S. 280f. 211 Formulierung von Alex Stock, in: ders. 2012, S. 129-145 (Salve caput cruentatum). 208 78 Bernhards Predigten über das Hohelied des Alten Testaments (Hld 1 bis 3,1), vor allem seiner dritten Predigt, fiel mir die Bewegung von Bernhards Blick auf, der von unten (Füsse Jesu) über die Mitte (Hände) nach oben zum Haupt Jesu geht (Angesicht). Und auf einmal kam mir dieses wirklich sehr bekannte „protestantische“ Passionslied O Haupt voll Blut und Wunden in seiner geistlichen Bedeutung eigentlich erst richtig näher, nämlich genau von dieser verlangsamten Bewegung her als einer von unten nach oben. Das Bild von Jesus am Kreuz ist zugegebenermassen ein qualvolles Bild. Nicht nur Zeitgenossen ist es unbegreiflich, wenn nicht unerträglich, sondern auch Buddhisten. Selbst der vietnamesische Denker Thich Nhat Hanh, der sich um den buddhistischchristlichen Dialog verdient gemacht hat,212 wünschte sich, „seine christlichen Freunde würden Jesus auch anders darstellen, vielleicht, wie er in der Lotusposition sitzend meditiert oder Gehmeditation praktiziert. Dann würden Frieden und Freude in unsere Herzen einkehren, wenn wir uns Jesus kontemplierend zuwenden“. 213 Wenn wir aber bei diesem traurigen Bild stehen bleiben, bleiben den Sängerinnen und Sängern im wahrsten Sinne die Worte im Hals stecken. Das aber muss nicht nur aus aufführungspraktischen Gründen vermieden werden. Eine solch pessimistische Deutung ist der Spiritualität einer Passions-Salve meines Erachtens abträglich. Es wäre sicher viel gewonnen, die Sängerinnen und Sänger dafür zu gewinnen, aus einer Haltung der Freude (!) und Liebe zu Jesus als Erlöser ins O Haupt voll Blut und Wunden einzustimmen. Damit ein Chor aber dieses Einsehen hat, muss zuerst geklärt werden, dass nicht einzig die sogennante Satisfaktionslehre der Schlüssel zum Verständnis dieses Textes ist. Die meisten traditionellen Passionslieder interpretieren den Kreuzestod Jesu nämlich tatsächlich im Horizont der Satisfaktionslehre.214 Dass dies nicht zwingend auch für den vorliegenden Text richtig ist, kann mit Hilfe der spiritualitätsgeschichtlichen Verortung des Ursprungstextes in der bernhardschen Brautmystik gut aufgezeigt wer212 Vgl. ders.: Buddha und Christus heute (1996); Going Home. Jesus and Buddha as Brothers (1999), dt.: Jesus und Buddha - ein Dialog der Liebe. 213 Zit. nach: Kuschel, Karl-Josef / Klosinski, Gunther (Hrsg.; 2009): Buddha und Christus - Bilder und Meditationen, S. 57. 214 Vgl. Andreas Martis Analyse, in: ders. (1998): Das neue Gesangbuch Kapitel 3: Gottesdienst im Jahreskreis, Musik und Gottesdienst Nr. 5/1998, S. 182-195 (bes. S. 188f). 79 den. Die Satisfaktionslehre besagt, dass um Gottes Heiligkeit willen die Sünde durch Sühne ausgeglichen werden muss, dass für sie demnach Genugtuung (wörtlich „satisfactio“) zu leisten ist. Das ist z.B. die Bedeutung dieses Ausdrucks in Paul Speratus‘ Lied Es ist das Heil uns kommen her (RG 274): „Der hat für uns genug getan“.215 Diese Genugtuung können wir Menschen selbst nicht leisten, da wir in die Sünde, in die Macht des Bösen verstrickt bleiben. Und darum tritt Gott selbst in seinem Sohn Jesus Christus für uns ein. Im Gerhardtschen Text finden wir für dieses Verständnis durchaus auch einen Ansatz: Dem Armen (Mensch) steht der Erbarmer (Gott) gegenüber, von dem Zorn erwartet wird. In der dritten Strophe heisst es: Was du, Herr, hast erduldet,/ ist alles meine Last./ Ich, ich hab es verschuldet,/ was du getragen hast./ Schau her, hier steh ich Armer,/ der Zorn verdienet hat./ Gib mir, o mein Erbarmer,/ den Anblick deiner Gnad. Diese demutsvolle Haltung ist aber einseitig und nicht der Weisheit letzter Schluss. Ausser Acht bleibt der huldreiche Anblick von Gottes Gnade durch die Augen Jesu vom Kreuz. Von diesen muss man sich aber zuerst einmal treffen und berühren lassen! Soviel wäre den Choristen zuzumuten, unter den wohlwollenden Augen Jesu zu singen. Nicht als Sünder und Sünderinnen zu singen, sondern als befreite, erlöste Menschen. Die Augen Jesu werden freilich nicht explizit genannt. In der vierten Strophe des lat. Originals wird klarer als in der dt. Übertragung, dass der sich Gottes Hoheit gegenüber unwürdig (indignus) beschreibende Mensch (peccator) vom Wink eines liebenden Blickes (intersignum amoris) getroffen wird (appare carus hodie). Im Original bei Arnulf von Löwen heisst es: Sic affectus, sic despectus, propter me sic interfectus, peccatori tam indigno cum amoris intersigno appare carus hodie. So geschlagen, geringgeschätzt, mir zuliebe so umgebracht, dem Sünder, so unwürdig hier, im Wink eines liebenden Blicks freundlich ihm heute erschein‘. 215 Andreas Marti weist auf neuere Passionslieder mit neuen Deutungen hin, vgl. ders. aaO., S. 189. Beispielhaft seien genannt Kommt ihr Menschen, nehmt zu Herzen (RG 443), Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt (RG 456), Seht hin, er ist allein im Garten (RG 452), Hört das Lied der finstern Nacht (RG 455), u.a.m. 80 Dem Blitzstrahl der Liebe Jesu gegenüber dem Betrachter von heute (demnach eines geistig verstandenen Jesus) entspricht nun in kongenialer Weise auch die Melodie, von der wir hier noch sprechen müssen. Denn O Haupt voll Blut und Wunden voll Schmerz und voller Hohn wird nicht nach der einem Grabgesang eigenen Stimmung intoniert,216 sondern er wird auf die Melodie eines ursprünglich weltlichen Liebesliedes gesungen. Sie geht auf den Musiker Hans Leo Hassler (1562-1612) zurück, der sie anno 1601 auf den sehr weltlichen Text Mein Gmüth ist mir verwirret von einer Jungfrau zart zum Leben erweckte. Und das war immerhin 84 Jahre vor Bachs Geburt! Diese Melodie wird dann aber nicht nur sehr bald (1613) von Christoph Gnoll ein erstes Mal auf einen geistlichen Text gesungen: Herzlich tut mich verlangen nach einem selgen End, sondern so von Bach übernommen (Matthäuspassion) und eben auch von Franz Liszt. Und genauso steht sie auch heute in unseren Gesangbüchern.217 Verspekuliere ich mich, wenn ich behaupte, den Choristen müsste die brautmystische Interpretation eines Bernhard von Clairvaux als „Kuss zwischen dem verklärten Bräutigam und der Seele des erretteten Sünders“ (A. Franz) als angemessene Interpretation schmackhaft gemacht werden?218 Ich denke nicht, denn hinzuweisen ist schliesslich nicht nur auf die Blicke zwischen sich Liebenden und einem aus innerstem Herzen zu singenden Liebeslied, sondern auch auf den einzigartigen Mund des „guten Hirten“ (vgl. Joh 10,24). Als solcher wird Jesus in der fünften Strophe des lat. Originals219 angesprochen. Aus diesem Mund fliessen Milchtrank und Honig (mel, haustum lactis). Solcher Liebesnektar darf gekostet werden. Solche Liebesblicke und Küsse gelten den Choristen, noch bevor sie Jesu bzw. Gottes Urteil standhalten müssen unter Anerkenntnis eigener Fehlbarkeit, Verirrung und Sünde. Im Neuen Testament wird an einigen Stellen der christliche Elementarunterricht als „Stillen mit Milch“ beschrieben (1 Kor 3,2; 1 Petr 2,2; Hebr 5,12f.). Dies wird im Salve caput cruentatum noch einmal überboten mit Milch und Honig „über allen Genuss 216 Vgl. dagegen O Traurigkeit, o Herzeleid (Station XII). RG 445; KG 389; CG 630. Andere Texte auf dieselbe Melodie von H.L. Hassler finden sich in: Befiehl du deine Wege (1653); Ich bin ein Gast auf Erden (1666); Wie soll ich dich empfangen (1653) - alle stammen sie von Paul Gerhardt. 218 Zit. nach Stock 2012, S. 140f. 219 Str. 4 bei Paul Gerhardt. 217 81 hinaus“ (prae comnibus deliciis; vgl. Sir 24,7 Vulgata).220 In dieser Honig-Metaphorik wird auch Bernhard von Clairvaux seit dem 15. Jahrhundert als „Doctor mellifluus“ bezeichnet, als „Honigfliessender Lehrer“. Im Alten Testament ist von „Milch und Honig“ als Lusttopos der isarelitischen Landtheologie die Rede (Ex 3,8). Nun aber, vor dem Kreuz, zieht sich der überströmende Reichtum von Jesu Rede nach weltlichen Massstäben beurteilt zwar historisch gesehen zurück. Jesus stirbt seinem leiblichen Wesen nach. Was aber durch den aktuellen Gesang real intendiert wird, ist ein imaginierter Blick, allenfalls eine Umarmung221 durch den Geliebten selbst. Dies darf „süss“ im Sinne von „kostbar“ vorgestellt werden222 oder auch vollkommen „gut“ meinen, nämlich: in Frieden und Harmonie.223 Das Ziel einer musikalischen Interpretation müsste es sein, dieses besondere Beziehungsgeschehen hörbar zu machen. So verwandelte sich der zuvor unter Umständen von eigenen Schutzmechanismen gegenüber einer solch grossen Liebe getrübte Blick des Sängers zu einem Blick ehrlicher Erkenntnis, Anerkenntnis und schliesslich Selbsterkenntnis (gnóti seauton; agnosce me!). Vorbild hierfür ist Veronika. So suggeriert es die sechste Station. Ich zitiere noch einmal einen Ausschnitt aus dem bereits weiter oben aufgeführten Text, mit dem diese Station eingeleitet werden kann. Er spielt auf die Metaphorik des Hoheliedes an: S2 Veronika lässt sich nicht abschrecken. Sie ist zur Liebe fähig. S1 Ich will mich aufmachen, spricht sie, ich will die Stadt durchstreifen. In den Gassen und auf den Plätzen will ich ihn suchen, den meine Seele liebt. (Hld3,3) 220 Die Gerhardtsche Version ist hier mehr spiritualistisch, wenn sie für den honiggesüssten Milchtrank „Himmelslust“ setzt: „Dein Mund hat mich gelabet,/ dein Wort hat mich gespeist,/ und reich hat mich begabet/ mit Himmelslust dein Geist“ (Str. 4). 221 Str. 6 erinnert an den Amplexus, vgl. Predigt 69 von Bernhard (Predigten über das Hohelied): „tuum caput huc inclina,/ in meis pausa brachis“ („neige dein Haupt her zu mir,/ in meinen Armen ruh aus“). 222 „Der Aufstieg auf dem gewundenen Pfad, den die göttliche Liebe bahnt, beginnt damit, dass Menschen etwas ‚Kostbares‘ finden und daran Geschmack finden. Für den Aufstiegsweg braucht es den Geschmack am Leben. Es braucht spirituellen ‚Appetit‘: die Lust, ein geistliches Leben zu beginnen und konsequent zu vertiefen. So brachte auch Franziskus […] ein neuer Geschmack auf den Weg. Den Aussätzigen umarmend entdeckt er eine unvertraute Süsse. Die göttliche Liebe bricht in sein Leben ein und macht süss, was ihm zuvor bitter schmeckte“ – am Beispiel von Franziskus zeigt Simon Peng-Keller auf, dass „süss“ in der mystischen Literatur des Mittelalters eine „Kontrasterfahrung“ bezeichnet und in die Moderne am besten mit „kostbar und rar“ zu übersetzen ist, vgl. ders. (2013): Scala divini amoris - Stufen zur Gottesliebe: Ein mystischer Weisheitstext aus der Provence, S. 75f.; vgl. zudem oben Kap. II.3.6. 223 Vgl. Bonaventura: Lignum vitae (Prolog 4,4): „[…] die Christus liebende Seele soll den Geschmack der Süssigkeit aufnehmen, indem sie sich den herrlichen Ursprung und die süsse Geburt ihres Erlösers ins Gedächtnis ruft“, vgl. dort Fn. 12 bei Marianne Schlosser zum Wortfeld suavis - dulcis, in: dies. 2010, Baum des Lebens Geistliche Betrachtungen, S. 20f. 82 S2 […] Habt ihr [Wächter] ihn nicht gesehen, den meine Seele liebt? [...] Bei Aufführungen der 1. Strophe des Gerhardt-Chorals sollte nach allem Ausgeführten darauf geachtet werden, dass der Ausdruck der Choristen beim Publikum den Eindruck erweckt, als sänge Veronika mit gleichsam verstärkter Stimme. Die plastische Vorstellung von Veronika wird den Sängerinnen und Sängern nach meiner Erfahrung dabei unterstützen, in eine innere Bewegung und gute Ausrichtung auf Jesus hin zu kommen. Eine solche Haltung, wie sie aus bernhardscher Spiritualität abgeleitet werden kann, entspricht dieser Station und diesem Choral mehr denn eine niedergedrückte Haltung. Das personifizierte Bild der Veronika aber kann hier wirklich weiterhelfen und sogar einen neuen Zugang zu Jesus bahnen. Deren Name setzt sich gemäss Anselm Grün zusammen aus vera icon (wahres Bild). 224 Dies aber könnte nicht weniger bedeuten, als dass man sich beim Singen des Chorals tatsächlich mit der Qualität von Veronikas uneigennütziger, inniger Liebe verbindet.225 2.6 O Traurigkeit, o Herzeleid (Station XII) Die Vertonung der zwölften Station (Jesus stirbt am Kreuz) nimmt im Kreuzwegzyklus am meisten Platz ein. Sie dauert in einer Aufführung etwas über acht Minuten. Das entspricht einem Fünftel der Gesamtaufführungsdauer. Die insgesamt 147 Takte lassen sich in zwei Teile gliedern: einen Teil A mit drei lateinischen Zitaten des sterbenden Jesus, solo gesungen vom Bariton (Bariton I-III), worauf die Orgel jeweils mit teils kürzeren, teils längeren musikalischen Meditationen antwortet (Orgel I-III); und einen Teil B mit der Vertonung von O Traurigkeit, o Herzeleid des Jesuitenpaters Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635), dem Autor zahlreicher geistlicher Lieder226 sowie Verfasser der Cautio criminalis. Die Gliederung der zwölften Station sieht wie folgt aus: [Teil A] T.1-9 Bariton (I): Eli, eli, lamma sabacthani? (Mt 27,46) 224 Grün 2002, zu Station VI (ohne Seitenzahl). Eine persönliche Frage, angesichts des zerschundenen Leibes Jesu nicht wegzublicken (vgl. Jes 53,3), könnte über die Kategorie der Hoffnung helfen, einen Zugang zu dieser besonderen Liebesqualität zu finden: „Habe ich eine Erinnerung in mir gespeichert, die ich abrufen kann, Hoffnung zu bewahren - selbst in tiefem Leid?“ 226 Bekannt ist vor allem Spee von Langenfelds Adventslied O Heiland, reiss die Himmel auf. 225 83 T.10-19 Orgel (I) T.20-27 Bariton (II): In manus tuus commendo spiritum meum (Lk 23,46) Andante non troppo lento T.28-52 Orgel (II): dolcissimo T.53-62 Bariton (III): Consummatum est (Joh 19,30) T.62 Fermata T.63-73 Orgel (III) T.74-82 Frauenchor: Consummatum est (Joh 19,30) T.83 Fermata („sehr lange Pause“) [Teil B] Andante T.84-147 Chor/Orgel: O Traurigkeit, o Herzeleid (Friedrich Spee von Langenfeld SJ) Aufführungstechnisch gesehen dauern die beiden Teile A und B gleich lang. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Teil A den Sterbeprozess Jesu musikalisch illustriert, wohingegen Teil B die Reaktion des Volkes in Form eines geistlichen Liedes aufnimmt. Auch J. S. Bach hatte in seiner Matthäuspassion für die Vertonung der Szene mit dem Sterben Jesu eine ähnliche Anlage gewählt, diese aber nach dem Modell der oratorischen Passion ausformuliert. Dieses Konzept folgt durchgehend dem biblischen Urtext und zitiert nicht, wie Liszt das tut, einzelne Kurzvoten aus zudem noch verschiedenen Evangelien. So findet sich in der Bachschen Matthäuspassion nach der Vertonung der hebr. Stelle bei Matthäus 27,46 (Eli, eli), die wir auch bei Liszt finden, ganz getreu der Bibel nun zuerst die vertonte Übersetzung der hebr. Stelle (Mein Gott, mein Gott), sodann V.47 (Der rufet dem Elias) - dem Chor in den Mund gelegt - worauf der Erzählertenor V.48 aufnimmt (Und bald lief einer unter ihnen). Hierauf erfolgt Widerspruch, eingebracht vom Chor V.49 (Halt! halt! Lass sehen). Und endlich: Nach dem kurzen Erzählervotum V.50 (Aber Jesus schrie abermal laut) stirbt Jesus. Bevor dann, genau wie bei Matthäus, die Handlung mit dem Zerreissen des Vorhangs im Tempel seine Fortsetzung nimmt (V.51), kommt der Kommentar, 84 quasi aus dem Off: Gleich wie bei Liszt reagiert bei Bach die Gemeinde auf den Tod Jesu mit einem geistlichen Lied in der Form eines Chorals (Teil B). Für die Matthäuspassion wählte Bach dafür die siebte Strophe von O Haupt voll Blut und Wunden („Wenn ich einmal soll scheiden“; Paul Gerhardt). Liszt dagegen bietet, wie bereits erwähnt, die erste Strophe von O Traurigkeit, o Herzeleid. Bevor ich auf diese zitierte Einzelstrophe eingehe, sei noch am Beispiel von „Eli, eli, lama sabacthani“ gezeigt, wie Liszt gegenüber Bach den Notentext einerseits verschlankt, durch den formalen Aufbau aber den Sterbeprozess andererseits auch verlängert, ihn gleichsam im Zeitlupentempo reflektiert. Die Verschlankung fällt auf, wenn man die beiden Melodieführungen bei Bach und Liszt einander gegenüberstellt. Bei Bach singt der Solo-Bass in der Matthäuspassion: Notenbeispiel 8.: J.S.Bach, Matthäuspassion, Jesu „Eli, eli…“ (Satz 61a, T.7ff) Bei Liszt ist es der Solo-Bariton, der zu Beginn der zwölften Station unbegleitet folgendes singt: Notenbeispiel 9.: Franz Liszt, Via Crucis, Jesu „Eli, eli…“ (Station VII, T.1-9) Das Tonmaterial für die „Eli“-Stelle ergibt sich für Liszt von der vorherigen Station (Jesus wird ans Kreuz geschlagen). Nach dem sechsmaligen, insistierend, dissonant sowie fortissimo vorgetragenen „crucifige“ der elften Station bringt ein schlichtes Orgelsolo eine aufsteigende Tonfolge ins Spiel (Orgel solo). 227 Sie führt überraschend schnell eine neue Stimmung herbei. Wo eben nackte Brutalität herrschte und der weitere Verlauf des Schicksals Jesu vorhersehbar mit dem Tod enden würde, kommt 227 um die Töne d-f-a (Station XI, T.11-14) 85 etwas in Fluss. Es wirkt, als würde sich Jesu Liebe während des Sterbeprozesses neu formulieren. Das in den leeren Raum hinein gesungene, unbegleitete Baritonsolo (Eli, eli: Notenbeispiel 9) knüpft hier an, ebenso die daran anschliessende Orgelmeditation.228 So aber ändert sich die Richtung des Melodieverlaufs: Was vorher (Station XI) unter dem martialischen Anschlagen ans Kreuz aufwärts ging, geht nun unter dem Eindruck des Auflösens jeglicher Lebgenskräfte im „Eli“-Motiv abwärts. Wegen kühner Harmonisierungen kann der Hörer zudem kein tonales Zentrum ausfindig machen. Er bekommt dadurch das Gefühl, als werde ihm der Boden unter den Füssen weggezogen. Erst nach dem zweiten Solo-Bartioneinsatz „In manus tuus commendo spiritum meum“ betritt man wieder festeren Untergrund und kommt in lichteren Gefilden an.229 Für einen Moment230 ist alles, was vorher in seiner Tonalität her unbestimmbar war, harmonisch, und bald sogar wieder von neuer Bewegung erfüllt.231 Neben der Verschlankung der Melodieführung gibt es bei Liszt auch eine Verlangsamung. Dies kommt in den gegenüber Bach viel spärlicher eingesetzten biblischen Zitaten zum Ausdruck, sodann in repetitiv verwendeten Motiven. Dies für den ganzen Teil A aufzuzeigen würde den Rahmen dieser hauptsächlich auf die spiritualitätsgeschichtlichen Aspekte fokussierten Arbeit sprengen. Allein die Tatsache, dass den Jesuszitaten (Bariton I-III) immer auch musikalische Orgelmeditationen folgen (Orgel I-III), vermag diese These zu stützen, auch wenn hier nur grobformal begündet werden kann. Analysiert man endlich den Mikrokosmos von Teil B (O Traurigkeit, o Herzeleid) vermag aufzufallen, dass auch dieser stark vom repetitiven Moment geprägt ist. So folgt der Exposition der ersten Strophe auf den Text O Traurigkeit, o Herzeleid, ist das nicht zu beklagen? Gott des Vaters einigs Kind 232 wird ins Grab getragen 228 Station XII: T.10-19. Cis-Dur (Station XII, ab T.28) 230 T.28-31 231 ab T.44 bis „Consummatum est“ in T.53. 232 Choral in T.92-110 229 86 die zuerst fortissimo, sodann viermal pianissimo erklingende Wiederholung des ersten Versteils: O Traurigkeit, o Herzeleid233 Durch die Repetition wird eine Wirkung erzielt, wie sie auch jenem evangelischen Christen widerfahren sein mag, der diesen Beginn des Grabliedes Jesu nach seiner Entstehung in eigener Weise fortsetzte.234 Denn es war der lutherische Theologe Johann Rist (1607-1667), Zeitgenosse von Paul Gerhardt, welcher diese erste Strophe nach eigenen Angaben irgendwo gehört hatte, wie er in einer Erinnerung selber erzählt, und dem die „andächtige Melodie… wohl gefallen“ hatte, sodass er hierzu anno 1641 sieben eigene Strophen setzte: Christlicher Leser, es ist mir der erste Vers dieses Grabliedes benebenst seiner andächtigen Melodei ohngefähr zu Handen kommen. Wann mir denn selbige insonderheit wohl gefallen, als habe ich, dieweil ich der anderen Vers‘ gar nicht teilhaft werden können, die übrige sieben, wie sie allhie stehen, hinzu gesetzt…235 Das Lied O Traurigkeit, o Herzeleid zählt bestimmt zu den bekanntesten Passionsgesängen der deutschsprachigen Christenheit. Bereits seit dem 17. Jahrhundert gibt es allerdings eine katholische und eine evangelische Lesart, die beide prominente Verfasser haben: Friedrich Spee sowie Johann Rist. Insofern ist es richtig zu sagen, dieses Lied gehöre zu den ökumenischen Spezialitäten der deutschen Gesangbuchtradition.236 Heutzutage wird dieses Lied in der Passionszeit gesungen. Der spezielle Bezug zur Grablegung Christi ist dadurch weitgehend verlorengegangen.237 Ausgangspunkt des Ursprungstextes von Spee von Langenfeld ist aber die Grablegung Christi. Vermutlich war dieser Gesang sogar mit der liturgischen Begehung der Grablegung verbunden, bei der am Ende des Karfreitagsgottesdienstes die Eucharistie bis zur Oster233 Die Wiederholung erfolgt fortissimo T.111-116; darauf pianissimo viermal: T.117-119; 120-125; 126-128; 129-139; Abgesang der Orgel: T.140-147. 234 Der älteste Druck der Originalstophen von Friedrich Spee findet sich im Gesangbuch „Himmlische Harmony“, das 1628 in Mainz erschienen ist. Die meisten seiner geistlichen Lieder sind erst posthum herausgekommen. 235 Zit. nach Rössler 2001, S. 502; von den „übrigen sieben Strophen“ von Johann Rist stehen deren vier in RG 442; zur dieser Fassung nach Johann Rist von 1641 siehe auch: Fischer, Michael (2006), in: Freiburger Anthologie (Lied und Lyrik); ferner GWH, S. 193-199. 236 Alex Stock, in: GWH S. 194. 237 Fischer 2006, aaO. 87 nachtsfeier in einem „Heiligen Grab“ deponiert wurde. 238 Dieser Bezug des Liedes zum Karfreitag wird gerade in der Via Crucis nochmals anschaulich in Erinnerung gerufen, insofern der Choral im Kreuzwegzyklus nach dem Sterben Jesu und damit im Zusammenhang mit der Grablegung zu stehen kommt. Da die dreizehnte Station (Jesus wird ins Grab gelegt) eine reine Orgelmeditation von rund dreieinhalb Minuten Aufführungsdauer ist, wird sie hier nicht kommentiert, sondern gleich zur letzten Station übergegangen.239 2.7 Ave Crux, spes unica (Station XIV) Um den versöhnlichen Ton aufzunehmen, den die vierzehnte und letzte Station (Jesus wird ins Grab gelegt) beim Hörer hinterlassen wird, hat es sich als sowohl praktikabel wie wirksam erwiesen, das Publikum mit einem gottesdienstlich anmutenden Sendungs- und Segenswort in die Musik zu entlassen und das noch bevor die Musik ertönt: S2 Geht nun – hinaus, zurück in eure Häuser und Wohnungen, fort von Golgotha, dem Morgen des Lebens entgegen. Entzündet zu Hause eine Kerze, als Licht für den Frieden Jesu, das Zeichen immer neuer, nie versiegender Liebe! Es folgen sechs Takte Orgel,240 dann wird die Musik für ein trinitarisches Segenswort unterbrochen: S1 Es segne euch und behüte euch der allmächtige und barmherzige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. – geht hin in Frieden. Vom vertonten Text her beurteilt bringt die letzte Station eine leicht variierte Version der 9. Strophe des Hymnus Vexilla regis, wie wir ihn schon vom Einleitungschor her kennen. So wird der Kreuzwegzyklus vom Ave-Gestus eingerahmt und auch zum Abschluss gebracht: Ave crux, spes unica mundi salus et gloria auge piis justitiam reisque dona veniam. Gegrüsst seist du, Kreuz, einzige Hoffnung der Welt Heil und Herrlichkeit, lass wachsen der Frommen Gerechtigkeit und gewähre Verbrechern Gnade. Musikalisch auffällig ist die Intimität (piano), in welcher das Kreuz nun nach dem Tod Jesu von einer einzigen Frauenstimme nochmals begrüsst wird (Ave). Im Einlei238 ebd. Angesichts der beachtlichen Länge habe ich für Stat. XIII zwei eigene Texte verfasst. Ich verzichte hier auf ein Zitat. Ihre Funktion ist wiederum die, dem Hörer Orientierung sowie geistliche Nahrung zu bieten. 240 Bis und mit dem letzten Ton f am Anfang von T.7 239 88 tungschor war es der ganze Chor unisono, der mit starker Stimme (forte) den Zyklus eröffnete, was bei uns den Eindruck eines Marschliedes hinterliess. Nun transportiert der responsorische Wechsel zwischen der Frauenstimme und dem mehrstimmig geführten Chor eine sowohl subtile wie feierliche, innere Bewegung. Zentraler Aspekt des Ave ist nicht mehr der Gruss wie im Einleitungschor oder bei der zweiten Station, sondern in diesem Ave kommt es zu einem Bekenntnisakt. Anders gesagt erlebt man als Sänger und als Sängerin das imaginär vorgestellte Kreuz nicht mehr als Marterwerkzeug, wenn man diese Station singt, sondern es dämmert einem dabei, dass Jesus wirklich einen neuen Weg zu leben zeigt. Das Alte ist zwar durch seinen Tod und objektiv gesehen gerade nicht vergangen - die Welt ist immer noch ohne erkennbaren Unterschied die gleiche wie vor dem Tod Jesu - doch sie wird gleichzeitig und paraodxerweise neu durch das Wissen, das sich nun im allein für sich stehenden Kreuz zeigt. Betroffen steht man nun vor diesem Kreuz (Ave Crux) und vermag als Ahnung wahrzunehmen: Jetzt muss und darf es auf mich ankommen, wie der Lauf der Welt weitergeht (spes unica). Und es kann einem dabei weiter in den Sinn kommen, in welch tiefgründiger Weise dieser Kreuzweg ein Symbol für das eigene MitVerhangensein mit dem Leiden Jesu und mit den Leiden der eigenen Zeit darstellt, der Mitschuld wie der eigenen Solidarität mit den Leidenden, zum Beispiel „Habe ich nicht eben alle meine Vorurteile und Gedankenlosigkeiten, mit denen ich Menschen selber schon entblösst habe, habe ich diese nun nicht eben Station für Station zusammen mit dir Jesus ans Kreuz geheftet, an welchem du zu Ende kamst? - An dieses Kreuz genagelt habe ich doch auch meine Härte und meine eigene Erbarmungslosigkeit! Erbarme dich meiner, o Herr - Jesus - Christus! Vor dir bekenne ich noch einmal und jetzt erst recht: meine eigene Engherzigkeit, meine Angst. Vor dir bekenne ich, dass ich Menschen ihrem Schicksal überlassen habe, die am Rande unserer Gesellschaft stehen. Vor dir bekenne ich, dass ich dich mich für dich geschämt und dich verleugnet habe; - dich kreuzigte! Vergib mir meine Schuld. Kyrie eleison. Und schenk mir und der ganzen Welt deinen göttlichen Frieden, dein Heil [salus] - deine Herrlichkeit [gloria].“241 241 Die Formulierungen sind teilweise inspiriert von Teilen der Karfreitagsliturgie des pensionierten Ref. Pfarrers von Zürich-Witikon, Gerhard Traxel, vgl.: ders. (1999): Altkirchliche Karfreitagsliturgie zur Todesstunde Jesu um 15 Uhr, in: Fellechner, Ernst L. / Feinbier, Christine (Hrsg.: 1999): Passion / Ostern - Materialien und musikalische Impulse, Zürich: Theologischer Verlag, S. 57-64. 89 Solcherweise oder ähnlich mögen sich die Gedanken bei Sängern nach dem absolvierten Gesamtzyklus anhören, wenn zum Schluss wieder das Ave crux, spes unica in modulierter Weise anzustimmen ist, die sich aus der von Liszt gewählten Satztechnik ergibt. Man singt aus einer inneren Bewegtheit, die man gerne mit „amen“ beschliessen würde, wie um vokativisch zu formulieren: Mögest nun DU, o Gott Vater Jesu Christi - ab jetzt beistehen und das Deine beitragen („auge - dona“)! Doch die Musik ist hier nicht zu Ende!242 Nach dem auskomponierten Amen werden Zuhörer und Sänger zusammen mit der Orgel nochmals einen Weg geführt, an dessen Ende sich das Ave Crux über Takte hinzieht - und dies in einer Form, die sich schriftlich fast nicht darstellen und kaum beschreiben lässt: ave / crux -- ave / crux -ave, ave -- ave -- crux; -- ave -- crux! Durch die unvorhersehbare Wiederkehr des Motivs scheint die Musik zu „stehen“. Dazu kommt ein schwebendes Klangbild ohne Programm und deren Erfüllung, ja selbst ohne Tonart.243 Es ist Musik aus der Stille, wie sie für den späten Liszt typisch ist und wie sie ihn als musikalischen Propheten ausweist, der bereits den Weg Richtung Schönberg und Webern weist.244 Solche Musik, geboren aus Lebenserfahrung und durchgetragen von einem ehrlichen Gefühl für den „Mönch im Innern“,245 solche Musik, die auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen ist und die sich gleichzeitig solide an der überlieferten Tradition orientiert, sie bringt eine Wertschätzung gegenüber dem „Wort vom Kreuz“ als Gottes Kraft (1 Kor 1,18) zum Ausdruck, die aufhorchen lässt, nachdenklich stimmt und einen persönlich bereichern kann. 242 T.52-59 Vgl. die Charakterisierung des ebenfalls späten Klavierstücks Nuages gris (Trübe Wolken) durch den Pianisten und Schriftsteller Jan Jiracek von Arnim, in: ders. 2011, S. 194; in der Partitur der Via Crucis steht auf das letzte „Crux“ ein d (T.91), wo man eigentlich fis erwartet (wegen fis-Moll, vgl. T. 80ff.88ff!); solche Terzverwandtschaften verwendet Liszt zuhauf (mündliche Mitteilung von Thomas Mattenberger). Sie muten auch heute noch erstaunlich modern an. 244 ebd.; vgl. auch das Liszts Diktum: „Meine einzige Ambition als Musiker war und wird es sein, meinen Speer in den unendlichen Raum der Zukunft zu schleudern (…)“ am Ende des biografischen Kapitels dieser Studie (II.1.9). 245 Kap. II.1.9. 243 90 Es steht zu vermuten, dass Liszt mit dem Abschluss des Kreuzwegzyklus die Realisierung der Utopie von 1834 gelungen ist - eine „zukünftige Kirchenmusik“ zu schaffen, die „humanitaire“ ist, […] zutiefst religiöse, starke und wirksame Musik, […] [sie vereinigt] THEATER und KIRCHE in gewaltigen Ausmassen […]. Sie wird zugleich dramatisch und weihevoll sein, prachtvoll und einfach, pathetisch und ernst, feurig und wild, stürmisch und ruhig, heiter und zart.246 246 Liszt, Franz: Sämtliche Schriften aaO., S. 59; vgl. Dömling 1985, S. 84; s.o. II.2.4. und II.2.6. 91 IV. Schluss 1. Rezeptionsgeschichte Zeitgenössichen Reaktionen zufolge blieb die späte Musiksprache Liszts schwer zugänglich. Was er in der Via Crucis komponierte, war nicht publikumswirksam angelegt. Selbst heutige Hörer rührt die Via Crucis erstaunlich modern an.247 Als geradezu klassisches Beispiel einer vernichtend kritischen Stimme gilt die Meinung Richard Wagners. Während gegenüber den früheren geistlichen Kompositionen Liszts der Vorwurf erhoben wurde, diese klängen zu weltlich: der Opernstil Wagners werde in die Kirche getragen,248 hatte gerade Wagner nicht viel für Liszts Musik übrig. Vor allem von dessen Spätwerk wandte er sich regelrecht angewidert ab. 249 Gegenüber Cosima, der Tochter von Liszt, welche Wagner 1870 geehelicht hatte,250 hielt dieser keineswegs mit scharfen Bemerkungen über die Werke seines Schwiegervaters zurück. Sie betrafen den Klavierzyklus Weihnachtsbaum ebenso wie die Via Crucis. Beides hielt Wagner für Symptome von Liszts Altersschwäche, ja Senilität. Doch die Ablehnung kam noch von ganz anderer Seite, nämlich vom bekannten Kirchenmusikverlag Pustet in Regensburg, der unter dem Einfluss des deutschen Cäcilienvereins stand.251 Dorthin hatte Liszt sich Ende 1884 mit der Bitte um Herausgabe der Via Crucis sowie zwei weiteren Werken gewandt. Im Begleitbrief an den Verleger schrieb Liszt: Hochgeehrter Herr und Freund, Seit mehreren Jahren liegen unter meinen Manuskripten drei geistliche Musikwerke für Chor mit einfacher Orgel- oder Harmonium-Begleitung. 1. Via Crucis. 2. Die sieben Sacramente. 247 Hamburger 2010, S. 9. Meyer 2010, S. 191. 249 Hamburger aaO., S. 212. 250 s.o. Fn. 36. 251 Namentlich der auch als Kirchenkomponist in Erscheinung tretende P. Franz Xaver Witt (1834-1888) übte grossen Einfluss aus in dem um seine eigenen reformerischen Ideen herum gegründeten Verein für katholische Kirchenmusik (Cäcilienverein). Witt war nach der Priesterweihe (1856) Lehrer für Choralgesang, Homiletik und Katechetik am Klerikalseminar in Regensburg. Der Cäcilienverein wurde am 1. September 1868 in Bamberg gegründet, vgl. oben Kap. II.2.4. (dort Fn. 69). 248 92 3. Rosenkranz - nebst einem kurzen Motett: Sicut cedrus exaltata sum in Libano etc. Morgen sende ich Ihnen die drei Werke in sauberer Abschrift. Die Honorar-Frage ist ganz nebensächlich. Solche Compositionen schreibe ich nicht für Geldgewinn, sondern aus innigem katholischem Herzensbedürfniss. Sind sie geneigt, hochgeehrter Herr, die Herausgabe zu übernehmen? Dann bitte ich um ernste, den hohen Texten sich anpassende bildliche Titel-Illustrationen. Vielleicht zur Via Crucis die Holzschnitte der Kreuzstationen Albrecht Dürer’s, desgleichen zu den Sacramenten und dem Rosario nach Ihrer Wahl - nur keinen frömmelnden Firlefanz. Hochachtungsvoll ergebenst 252 F. Liszt. Liszt war von der Ablehnung seiner Manuskripte sehr betroffen. Er hatte gar kein Honorar verlangt, sondern nur 100 Freiexemplare und eine entsprechende Ausstattung („Titel-Illustration“). Er vermutete einen „anderen, tieferen Beweggrund“ für die Ablehnung: „die können meine Kompositionen nicht verkaufen“ („on ne vend pas mes composition de ce côté-là“).253 Auch dem Vatikan missfiel Liszts Kirchenmusik als zu Deutsch und zu wenig italienisch.254 Vom Abschluss der Arbeiten der Via Crucis an gerechnet verging nicht weniger als ein halbes Jahrhundert bis zur Welturauffürung. Diese fand am Karfreitag 1929 in Budapest statt. Bis das Werk endlich bei Breitkopf & Härtel in Leipzig im Druck erscheinen konnte (1936), zogen nochmals Jahre ins Land. 2. Zusammenfassung In meiner spiritualitätsgeschichtlichen Studie versuchte ich zu zeigen, dass die Via Crucis von Franz Liszt konfessionelle Barrieren überschreitet. Im ersten Kapitel wurde deutlich, dass Musik als Medium der Verkündigung und des Gebets verstanden werden kann. Im biographischen Kapitel wird beschrieben, welche Richtung das Leben von Franz Liszt aufgrund seiner hohen Musikalität genommen hat und welch ungestillte religi252 zit. nach dem Vorwort der Erstausgabe von Philipp Wolfrum (1854-1919): Franz Liszt: Musikalische Werke. Serie V; Band 7. 253 Brief an Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein vom 30. Juli 1885, zit. nach Hamburger 2010, S. 196; vgl. auch das Vorwort der Erstausgabe, aaO. 254 Hamburger aaO. 93 öse Prägung ihm schon als Jugendlichem keine Ruhe liess. Dass sie zu einem Antrieb wurde, eine eigene Kirchenmusik zu schaffen, wird anhand einiger Beispiele seines Schaffens dargestellt (u.a. Heilige Elisabeth; Christus). Von der reichen Wirkungsgeschichte der biblischen Passionserzählungen ausgehend wird im Hauptteil beschrieben, wie sich die in der Via Crucis vertonten Texte als kleines Repetitorium in Spiritualitätsgeschichte lesen lassen: Findet man sich beim Einleitungshymnus in der Passionsfrömmigkeit der Alten Kirche und dem Reliquienkult wieder (Vexilla regis prodeunt), so macht man bei anderen Stationen Halt bei der hochmittelalterlichen Passions- und Liebesmystik (Salve caput Cruentatum; Stabat mater dolorosa). Mit O Haupt voll Blut und Wunden, O Traurigkeit, O Herzeleid und den verschiedenen musikalischen Anleihen bei J. S. Bach erweist Franz Liszt auch dem Barockzeitalter seine Referenz. Im Protestantismus hat der Kreuzweg keine Tradition. Und grosse geistliche Musik ist im 19. Jh. grösstenteils in die Konzertsäle ausgewandert (Mendelssohn). Die katholische Restaurationsbewegung (Cäcilianismus) wandte sich gegen eine Verweltlichung von Kirchenmusik. Franz Liszt orientierte sich zum Teil an diesen Vorgaben: Er wählte in seiner Kreuzwegvertonung eine aufgrund franziskanischer Initiative geförderte Frömmigkeitsübung als musikalische Vorlage, wünschte sich die Aufführung allerdings ausserhalb der Kirche. Das bedeutet, dass sich Liszt zwar zum grossen Teil den Bestrebungen massgeblicher Kreise innerhalb der Kirche anschloss, er sich aber gleichzeitig als Kind seiner Zeit (Romantik) sah und aufgrund seiner Affinität für das christlich Religiöse eine missionarische Art von Musikpriestertum entwickelte. Dass er dabei in Konkurrenz zu den Cäcilianern trat, liegt auf der Hand. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, inwieweit Tradition (Herkunft) und Innovation (Zukunft) sich bedingen oder widersprechen. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die Via Crucis von Franz Liszt erst ab dem 20. Jh. auf Resonanz gestossen ist. Denn gregorianische Choral-Melodien erleben gerade in neuster Zeit eine Renaissance. Auch die im Werk angelegte Polystilistik kommt dem herrschenden Zeitgeist entgegen. Es hat „von allem etwas“ in der Via Crucis: Musikalisch gesehen werden Elemente des Gregorianischen Chorals mit differenzierten musikalischen Ausdrucksmitteln der Romantik kombiniert; satte Bach94 Choräle stehen gleichberechtigt neben einer radikal anmutenden Tonsprache, die an die Minimal-Music der Postmoderne erinnert (Chromatik; erweiterte Tonalität). Textlich gesehen werden antike Hymnen ebenso entfaltet, wie das Gedicht eines berühmten Jesuiten oder das im Protestantismus verbreitete O Haupt voll Blut und Wunden ein Heimatgefühl vermitteln. Diese Vielseitigkeit entspricht auch dem heutigen Bedürfnis, sich einerseits durchaus mit dem Christentum auseinanderzusetzen, aber andererseits doch „ja nicht zu verbindlich“, sondern lieber häppchenweise und mit vielen Freiräumen. Darin kann man ein Problem erblicken. Ich sehe aber auch eine Chance. Denn Liszts Musik macht nicht allzu viele Zugeständnisse an die Zuhörenden. Dies entspricht ihrem hohen Gegenstand und macht die Komposition bedeutungsvoll. Allerdings erfordert die Lateinlastigkeit der Via Crucis einen kreativen Umgang, denn lateinische Hymnen befinden sich im 21. Jh. in einer vollkommen anderen Lage als nur schon ein Jahrhundert zuvor. Schliesslich habe ich gezeigt, welche Möglichkeiten sich bei der Via Crucis auftun, verschiedene isolierte Leidensgeschichten miteinander ins Gespräch zu bringen (Jesu Passion, eigene und fremde Passionen in der Welt). 95 3. Abkürzungen, Literatur, Abbildungsnachweis Abkürzungen CG EB EKK GuL GWH KG KKK MGG ÖLK RG SATB S1 S2 WUB Christkatholisches Gesangbuch (2004) Exercitia Spiritualia (Geistliche Übungen des Ignatius von Loyola) Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Geist und Leben (Zeitschrift), bis 1947 Zeitschrift für Aszese und Mystik Geistliches Wunderhorn Katholisches Gesangbuch (1998) Katechismus der Katholischen Kirche (1993) Die Musik in Geschichte und Gegenwart (2.A. 1994ff) Ökumenischer Liederkommentar (2001ff) Reformiertes Gesangbuch (1998) Sopran, Alt, Tenor, Bass Sopran 1, Sopran 2 Welt und Umwelt der Bibel Literatur Adam, Adolf (1990): Das Kirchenjahr - Schlüssel zum Glauben, Freiburg i.Br.: Herder. Altenburg, Detlef (2004): Artikel „Franz Liszt“, in: MGG (2.A. 1994ff), Bd. 11, Kassel/Stuttgart: Bärenreiter/ Metzler, Sp. 203-311. 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(S. 53): Franz Liszt in der Kapuze der Franziskanermönche. Anonyme, undatierte Bronzeplakette, Burger 2010, S. 125 (dort Abb. 209). Abb. 4 (S. 61): Venantius Fortunatus auf einem Kirchenfenster in Boston (USA), um 1940; Quelle: www.heiligenlexikon.de Notenbeispiel 1 (S. 36): Franz Liszt, Gloria-Motiv, aus: Oehlmann 1987, S. 442. Notenbeispiel 2 (S. 36): Die Legende von der heiligen Elisabeth, Kreuzritterchor, aus: Oehlmann 1987, S. 442f. Notenbeispiel 3 (S. 62): Der Hymnus Vexilla regis nach dem Liber Usualis. Notenbeispiel 4 (S. 62): Franz Liszt, Anfang des Vexilla regis im Einleitungschor der Via Crucis. Notenbeispiel 5 (S. 74): Fanz Liszt, Takte 28-41 aus dem Stabat Mater Teil III im Christus und die gregorianische Singweise im Vergleich. Notenbeispiel 6 (S. 75): Franz Liszt, Via Crucis, Station III mit Stabat Mater. Notenbeispiel 7 (S. 76): Franz Liszt, Via Crucis, Station VI mit b-a-c-h der Orgel. Notenbeispiel 8 (S. 85): J. S. Bach, Matthäuspassion, Jesus: „Eli, eli…“. Notenbeispiel 9 (S. 85): Franz Liszt, Via Crucis, Jesus: „Eli, eli…“. Ehrenwörtliche Erklärung Hiermit bestätige ich mit meiner Unterschrift, dass ich die hier vorgelegte Arbeit persönlich verfasst und dabei nur die angeführten Quellen und Hilfsmittel benutzt habe; wörtliche Zitate und Paraphrasen sind als solche gekennzeichnet. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass wissenschaftliches Fehlverhalten nach den Richtlinien der Universität Freiburg geahndet wird.255 Ort und Datum: Ennenda GL, 10. April 2014 Unterschrift: 255 Richtlinien vom 13. Mai 2008 über das Verfahren für die Verhängung von Disziplinarstrafen nach Art. 101 der Statuten der Universität Freiburg vom 31. März 2000 im Falle des Verstosses gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis beim Verfassen schriftlicher Arbeiten während der Ausbildung: http://www.unifr.ch/rectorat/reglements/pdf/1_1_15.pdf. 100