Vorlesung Neulernen Theorie - Volleyball
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Vorlesung Neulernen Theorie - Volleyball
Bewegung und Training: 8. Vorlesungseinheit Referent: Prof. Dr. Klaus Roth Protokollführende: Klaus Roth, Alexander Frey, Maren Hoffmann, Tatjana Zautys und Stepan Zuna Wie vermittelt man Sporttechniken? Theoretische Grundlagen 1 Einleitung Die Zielstellungen des Techniktrainings im Sport sind das Erlernen und Optimi eren motorischer Fertigkeiten. Für Sportlehrer, Trainer oder Übungsleiter, die an einer theoretischen Fundierung ihrer praktischen Maßnahmen im Techniktraining interessiert sind, stellen sich vor allem zwei zentrale Fragestellungen: • Wie funktioniert die Ausführung räumlich-zeitlich geordneter motorischer Aktionen? • Wie produziert und kontrolliert der Sportler schnelle und flexible Bewegungsantworten auf situative Fragestellungen? Nur wenn man eine Vorstellung darüber hat, wie gekonnte Bewegungen koordiniert werden, kann man sich zielgerichtet Gedanken über die Vermittlung motorischer Fertigkeiten machen. Die beiden angeführten Fragen stehen üblicherweise im Mittelpunkt von so genannten motorischen Kontroll- oder Lerntheorien. In der Bewegungswissenschaft des Sports existiert heute keine allgemein anerkannte motorische Kontroll-/Lerntheorie. Statt dessen wird eine Vielzahl unterschiedlicher Konzeptionen diskutiert, aus denen jeweils spezifische Empfehlungen für die Praxis abgeleitet werden. Im Rahmen der Vorlesung wird exemplarisch auf die in den vergangenen Jahren sehr einflussreichen Informationsverarbeitungsansätze eingegangen. Sie werden deshalb ausgewählt, weil viele ihrer theoretischen Annahmen empirisch überprüft worden sind, auch mit Bewegungsformen aus dem Bereich des Sports. Darüber hinaus lassen sich auf ihrer Grundlage einige plausible Verbindungen zwischen der Theorie und Praxis des Techniktrainings herstellen. Um die Entwicklung und Entstehung der Informationsverarbeitungsansätze besser verstehen zu können, wird zunächst kurz auf ihre historischen „Vorgängermodelle“ aus der amerikanischen Kontroll- und Lernforschung eingegangen. Gemeint sind die verschiedenen behaviouristischen S-R-Konzepte. 2 Der Behaviourismus: eine frühe Lerntheorie Viele Forscher verknüpfen mit dem Begriff des Lernens, die Idee, dass sich komplexes menschliches Verhalten auf einfache Prinzipien zurückführen lässt. Eine der frühesten systematischen Lerntheorien für den Bereich der Motorik war der Behavourismus. Der Behavourismus versteht menschliches Verhalten in der Sprache von Reiz-Reaktions-Mustern. Die Behaviouristen lehnten Spekulationen über interne Steuerungs- und Regulationsmechanismen ab. Im Mittelpunkt ihrer Forschung standen beobachtbare, experimentell kontrollierbare, äußere Verhaltensmerkmale. Im Rahmen des Behaviourismus sind drei zentrale Lernformen voneinander unterschieden worden: • Klassische Konditionierung • Instrumentelle Konditionierung • Operantes Konditionieren Klassische Konditionierung Der Begriff der klassischen Konditionierung wurde von Pawlow (1849-1936) im Rahmen seiner Studien zur Physiologie von Verdauungsprozessen eingeführt. Kernbestandteil der klassischen Konditionierung sind reflexartige S-RVerbindungen. Ein Reflex ist eine nicht gelernte Reaktion, wie Sekretion, Pupillenkontraktion, Patellarsehnenreflex oder Lidschluss. Es sind angeborene Mechanismen des Organismus, mit Hilfe derer ein Individuum automatisch, unwillkürlich und unbewusst auf bestimmte Reize ganz bestimmte Reaktionen zeigt. Pawlow verdeutlichte mit seinen Versuchen, dass man in diesen natürlichen Ablauf ei ngreifen kann, indem man einen neuen Reiz (z.B. Glocke läuten, bevor es Futter gibt) präsentiert und dadurch den Organismus dazu bringt, instinktmäßige Verhaltensweisen an neue veränderte, nicht vorprogrammierte Situationen anzupassen (z.B. Speichelfluss setzt bereits beim Klingeln der Glocke ein). Er schuf damit ein Modell, nach dem Lernen als Reizsubstitution verstanden werden kann. Abb. 1: Klassische Konditionierung: der „Pawlowsche Hund“(links) und „Little Albert“ (rechts) Instrumentelle Konditionierung Der bekannteste Forscher, der sich mit der instrumentellen Konditionierung befasst hat, ist Thorndike (1874-1949). Zentraler Gegenstand ist die Beziehung zwischen einer Reaktion und ihren Konsequenzen. Verhalten, das zu wünschenswerten oder positiv zu bewertenden Umweltveränderungen führt, wird wi ederholt und so zur erlernten Gewohnheit. Basis ist die Annahme des adaptiven Hedonismus, d.h. wir tun das, wovon wir uns Vergnügen versprechen und wodurch wir Schmerzen vermeiden. Dabei lernt der Organismus – im Gegensatz zum klassischen Konditionieren – aktiv auf die Umwelt einzuwirken. Law-of-effect: Das Gesetz des Effekts ist ein grundlegendes Lernprinzip und besagt, dass das Lernen durch seine Konsequenzen kontrolliert wird. Das Potenzial eines Reizes, eine bestimmte Reaktion hervorzurufen, wird verstärkt, wenn der Reaktion eine Belohnung folgt und geschwächt, wenn der Reaktion keine Belohnung erfolgt. Nach Thorndike geschieht das Erlernen dieser Reiz-ReaktionsVerbindungen graduell und automatisch durch blinden Versuch-und-Irrtum (trialand-error), d.h. ohne bewusstes Nachdenken. Operante Konditionierung Wichtigster Vertreter ist Skinner (1904-1990). Beim operanten Konditionieren werden die Konsequenzen eines Verhaltens manipuliert, um herauszufinden, welchen Effekt sie auf das nachfolgende Verhalten haben. Ein „Operant“ ist jegliches Verhalten, das ein Organismus zeigt, sofern es in seinem Verhältnis zu den beobachtbaren Auswirkungen auf die Umwelt charakterisiert werden kann. Wörtlich bedeutet operant „die Umwelt beeinflussend“. Ein Op erant wird nicht wie bei der klassischen Konditionierung durch bestimmte Reize ausgelöst. Die Wahrschei nlichkeiten verschiedener operanter Verhaltensweisen werden in Abhängigkeit von den Konsequenzen, die sie in der Umwelt bewirkt haben, verändert. Positiver Verstärker: hat den Anstieg einer Auftretenswahrscheinlichkeit einer bestimmten Wirkreaktion zur Folge. Negativer Verstärker: erhöht den Anstieg der Auftretenswahrscheinlichkeit, wenn er aus der Situation herausgenommen wird. Löschen: es folgt kein Verstärken mehr. Bestrafung: aversiver Reiz; Auftretenswahrscheinlichkeit einer Reaktion wird gesenkt. Motorische Kettentheorie Der Hauptkritikpunkt an den verschiedenen Konditionierungstheorien bestand darin, dass mit ihnen nicht erklärt werden kann, wie es zum Erlernen von neuen Reaktionen bzw. Bewegungen kommt. Als Antwort auf diese Kritik ist die motorische Kettentheorie entwickelt worden. Wie eine Kette zustande kommen soll, illustriert die Abbildung 2. Der Lernende erhält von jeder einzelnen Reaktion bestimmte sensorische Meldungen zurück. Er bekommt – wie häufig gesagt wird – intrinsisches Feedback (Annett & Kay, 1957; Greenwald, 1970). Er sieht z.B., dass der Ball jetzt flach in der Hand liegt (visuelle Rückmeldung), er hört ein Geräusch, wenn der Ball die Hand verlässt (akustische Rückmeldung), er spürt den Ball in seiner Hand (taktile Rückmeldung) und er erhält vor allem (meist nicht bewusst werdende) Meldungen aus seinem Bewegungsapparat (kinästhetische Rückmeldungen). Letztere vermitteln über die Propriozeptoren eine genaue Innenansicht der Bewegung, indem sie über Spannungsänderungen in allen Muskeln, Sehnen und Gelenken informieren. Dem intrinsischen Feedback, d.h. dem Gesehenen, dem Gehörten, dem Gefühlten und den Bewegungsempfindungen, folgt unmittelbar ein äußerer Hinweisreiz, der das nächste Bewegungsteil auslösen soll. Die Rückmeldungen (z.B. Sr 2) und die verbalen Instruktionen (z.B. S3) erfüllen damit die Bedingung der Kontiguität. Nach einigen Versuchen bzw. Wiederholungen kommt es zur Reizsubstitution. Jede Reaktion wird dann von den intrinsischen Rückmeldungen der vorhergehenden Reaktion ausgelöst, d.h., jeder Fertigkeitsbestandteil ist auf das FeedbackMuster des vor ihm stehenden Elements konditioniert (vgl. Abbildung 2). Einmal gestartet, läuft die Kette jetzt wie von selbst ab. Abb. 2: Der Prozess der motorischen Kettenbildung Gegen diese Annahme der motorischen Kettentheorie sprechen allerdings eine Reihe von theoretischen Argumenten und empirischen Befunden. Auf sie wird in 3 eingegangen werden. Im Ergebnis führten die Diskussionen zu der „kognitiven Wende“ und zu einem Aufheben der „black box“ des Behaviourismus. An die Stelle behaviouristischer Modellvorstellungen traten die Informationsverarbeitungstheorien. 3 Informationsverarbeitungstheorien (Motor Approaches) Innerhalb dieser Theoriegruppe wird der Sportler als ein „ausgiebiger“ Informationsverarbeiter angesehen. Er nimmt kontinuierlich Signale aus der Umwelt und von seinem sich bewegenden Körper auf, führt komplizierte Zusammenfassungen und Verrechnungen durch und wählt als Ergebnis der Integrationsprozesse eine situationsangemessene motorische Antwort. Der Sportler greift dabei auf weitgehend vorformulierte, festgeschriebene Bewegungsentwürfe im Gehirn – so genannte Repräsentationen – zurück. Schmidt (1988, S. 209) vergleicht dies mit dem Abrufen einer Musikschallplatte. Im ZNS sind – wie in einer Musikbox oder in einem Warenhausregal – so etwas wie Bewegungsschallplatten gespeichert. Sie können bei Bedarf jederzeit aufgelegt und abgespielt werden. Ergebnis dieses Abspielens sind absteigende, zentrifugale Informationen oder motorische Kommandos. Über sie steuert die „Schallplatte“ die Skelettmuskulatur, so dass eine in Raum und Zeit geordnete Bewegung entsteht. Den Muskeln und Gliedmaßen kommt in diesem Bild lediglich die Rolle der ausführenden Organe – der Lautspr echerboxen – zu, die die auf der Schallplatte eingeprägten Bewegungsinformati onen umzusetzen haben. Abb 3: Der Sportler als Rechner, Auswerter und Disc-Jockey Mit dieser groben (Kurz-)Charakteristik sind die wesentlichen gemeinsamen Grundannahmen der Informationsverarbeitungs-Theorien benannt. Sie werden im Folgenden ausführlich erläutert. Konkret wird auf vier Problemkreise eingegangen. • Afferenzen – Reafferenzen Der Weg der Informationen über den jeweiligen Sensoren zur Zentrale! • Motorische Programme Welche Informationen beinhalten die Bewegungsschallplatten? • Efferenzen Der Weg der Informationen von der Zentrale zur Peripherie! • Ablaufkontrollen bzw. -überwachungen Das Zusammenspiel von (re-)afferenten und efferenten Informationen! Afferenzen – Reafferenzen Die Informationen oder sensorische Signale, die ein Sportler über seine Umwelt und sich selbst erhält, sind von wesentlicher Bedeutung für die motorische Kontrolle. Sie werden in der Bewegungswissenschaft als Afferenzen bezeichnet. Ihre Leitungsrichtung ist aufsteigend oder zentripetal, verläuft also von den Orten der Reizaufnahme an den jeweiligen Sensoren zu den Verarbeitungszentren im Zentralnervensystem. Ergänzt werden diese afferenten Signale durch Reafferenzen oder Feedback. Hierunter versteht man rückgemeldete afferente Informationen über den Verlauf oder das Ergebnis einer motorischen Handlung. Aufnahme, Verarbeitung und Synthese Der Weg der afferenten bzw. reafferenten Information beginnt mit der Reizaufnahme an den beteiligten Sinnesorganen. Diese sind jeweils darauf spezialisiert, nur auf einen bestimmten Bereich von Umwelt- oder Körpersignalen zu reagieren und die entsprechenden Meldungen an das Zentralnervensystem weiterzugeben. Daugs und Blischke (1984, S. 392) bezeichnen diesen Sachverhalt als (Reiz-) Spezifität der Informationsaufnahme. Es ist heute bekannt, dass neben den klassischen „fünf Sinnen“ eine ganze Reihe weiterer Sinnesmodalitäten existieren. Sie können drei großen Gruppen zugeor dnet werden: • Exterozeptoren sind Sensoren, die für die Reizaufnahme aus der Umwelt verantwortlich sind • Propriozeptoren sind Sensoren, die die haltungs- oder bewegungsbezogenen, körperinternen Signalen registrieren • Enterozeptoren sind Sensoren, mit denen vorwiegend die chemischen Pr ozesse der Eingeweide erfasst werden (vgl. Birbaumer & Schmidt 1991, S. 310) An der motorischen Kontrolle sind vor allem (re-)afferente Informationen aus den beiden zuerst genannten Gruppen beteiligt. Zum äußeren Regelkreis (den Exter ozeptoren) zählen der optische, der akustische und der taktile Sinn, zur Kategorie der Propriozeptoren gehören der Gleichgewichtssinn sowie zahlreiche Sensoren, die in den Gelenken, Muskelspindeln und Sehnenorganen platziert sind. Diese werden in der bewegungswissenschaftlichen Literatur häufig unter den Begriff der kinästhetischen Sensibilität gefasst. Zusammengenommen erhält der Sportler durch seine Sinnesrezeptoren eine Vielzahl von Informationen über die Umwelt und den eigenen Körper. Es stellt sich die Frage, wie er aus diesen Rohbausteinen, die von ihm erlebte Welt, d.h. seine sub- jektiven Wahrnehmungen, zusammenfügt. Dieser komplexe, mehrstufige Prozess, an dem unterschiedliche Mechanismen beteiligt sind, kann wie folgt gekennzeichnet werden (vgl. u.a. Birbaumer & Schmidt 1991, S. 310-328): 1. Modalitätsspezifische Integration Bei der Reizaufnahme werden durch Depolarisation reizabbildende Sensorpotenziale erzeugt. Diese werden anschließend in Aktionspotenziale bestimmter Frequenz transformiert und als Erregungen über afferente Nervenbahnen zum ZNS weitergeleitet. Dort erfolgt bei überschwelliger Erregung eine modalitätsspezifische Integration. Die Reize bleiben also zunächst noch an die betreffende Sinnesmodalität gebunden. Sie werden über einfache informationsverarbeitende Prozesse in die Sprache der Empfindungen übersetzt. Anochin (1967; vgl. auch Schnabel, 1987, S. 62 und 64) hat diesen Vorgang als Afferenzsynthese bezeichnet. Es entstehen sensorische Muster, so genannte Icons (Meisser, 1967), die für ca. 250 msek im Ultrakurzzeitgedächtnis bzw. sensorischen Gedächtnis (Wang & Norman, 1965; Daugs & Blischke, 1984; Rockmann-Rüger, 1991, S. 69-72) oder Reizspeicher (Murch & Woodworth, 1978, S. 27-30) festgehalten werden. 2. Modalitätsübergreifende Integration Vom Ultr akurzzeitgedächtnis werden einige wenige Informationen in das primäre Gedächtnis übertragen, das auch als Kurzzeitgedächtnis (KZG) oder als Arbeitsspeicher bezeichnet wird. Die Signale aus den verschi edenen Sinnesbereichen werden hier vereinigt und einheitlich verbal kodiert. Sie werden mit Informationen verknüpft, die im Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis vorhanden sind, und dabei subjektiv gedeutet, bewertet und eingeordnet. Das resultierende Wahrnehmungserlebnis, das Perzept, bildet sich also aus Informati onen, die von außen kommen und aus solchen, die im System gespeichert sind. Die Kapazität des KZG wurde früher auf sieben Einheiten geschätzt (Miller, 1956: „magische Zahl sieben“). Heute wird davon ausgegangen, dass wahrscheinlich nur fünf Informationen gleichzeitig festgehalten werden können. Die normale Verweildauer beträgt dabei ca. 10-20 sek, danach wird das Perzept vom System „verstoßen“ oder in den Langzeitspeicher (LZG: sekundäres, tertiäres Gedächtnis) übermittelt. Dessen Kapazität ist sehr groß, die Speicherdauer beträgt u.U. mehrere Jahre (vgl. Rockmann-Rüger, 1991, S. 80-82). 3. Aktive Steuerung – Flexible, selektive Kontrolle Die Vorgänge der Informationsaufnahme sowie der Herausbildung subjektiver Empfindungen (modalitätsspezifische Integration) und Wahrnehmungen (modalitätsübergreifende Integration) sind jeweils durch aktive Organisationstendenzen der Sensorik gekennzeichnet. Beispiele hierfür sind u.a. (vgl. Daugs & Blischke, 1984, S. 390; Birbaumer & Schmidt, 1991, S. 311-321): • Reizaufnahme: Die beschriebene Übertragung der Signale (1.) in afferente Erregungen ist keineswegs immer linear und reizgetreu. Ein bekanntes Phänomen ist, dass die Sensorpotenziale bei konstanten, langandauernden Reizen (z.B. beim Druckreiz durch eine Brille) allmählich abnehmen. Es gibt dabei Rezeptoren, die sich sehr rasch anpassen (taktiler Sinn) und solche, die dies nur sehr langsam oder gar nicht tun (Schmerzsinn). Auch kurzfristige, variable Adaptationen, z.B. der Muskel- und Gelenkrezeptoren an die augenblicklichen oder zentral-antizipatorisch erwarteten Belastungszustände sind möglich. • Empfindung: Hier sind (aktiv) kortikal gesteuerte Platzierungs- und Nachgreifreaktionen zu nennen (vgl. Henatsch, 1976, S. 277). Die Extremitäten folgen den auslösenden, z.B. taktilen Reizen und „versorgen“ das Zentralnervensystem mit einer hinreichenden Summe von Sinneseindrücken, sodass konkrete Empfindungen (z.B. Druck-, Wärme-, Schmerzempfindungen) überhaupt entstehen können (Daugs & Blischke, 1984, S. 390). • Wahrnehmung: Bei der Wahrnehmung (Perzeptbildung) werden durch die komplexe Einflussnahme von Motivationszuständen, Kenntnissen, Hypothesen und Erwartungen nicht bewusste Erregungsmuster bewusstseinsfähig. Hierdurch wird es möglich, über gezielte Aufmerksamkeitslenkungen bestimmte Informationen auszublocken oder zu verstärken. Dieser (Filter-)Mechanismus ist notwendig, da bei der limitierten Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses nicht alle eintreffenden Informationen gleichrangig verarbeitet werden können (vgl. Birbaumer & Schmidt, 1991, S. 418-487). Ein klassischer Versuch, der das Vermögen zur „Abschirmung“ gegenüber Informationen aufzeigt, ist mit einer Katze durchgeführt worden (Hernandez-Peon, Scherrer & Jouvet, 1956). „Man hat die elektrischen Potenziale aus dem Nucleus der Cochlea im Gehirn gemessen, während ein akustisches Klicken dargeboten wurde. War ein visueller Reiz von größerer Bedeutung vorhanden, etwa eine Maus, so traten keine weiteren Potenziale auf, obwohl das Klicken nicht unterbrochen wurde“ (Murch & Woodworth, 1978, S. 24). Als Beispiel für die Fähigkeit zur Intensivierung und zur zielgerichteten Informationsselektion wird vielfach das Cocktail-Party-Phänomen herangezogen. Eine Cocktail-Party ist nach Lefrancois (1972, S. 27) „eine soziale Einrichtung, bei der die Menschen in lärmerfüllten Zimmern herumstehen, mit toxischer Flüssigkeit gefüllten Gläsern in der Hand, aus denen sie ständig trinken, egal ob sie Durst haben oder nicht“. Befindet man sich auf einer solchen Party in einer Unterhaltung, achtet man gewöhnlich nicht auf die anderen Gespräche, die um einen herum geführt werden. Dies ändert sich, wenn unerwartet der eigene Namen genannt wird. In diesem Fall kann man die Aufmerksamkeit der ent- sprechenden Gruppe zuwenden und das Gesprochene aus dem Sprachgewirr der anderen Party-Gäste herausfiltern (Broadbent, 1952). Die Abbildung 4 veranschaulicht – in vereinfachter Form – die Prozesse von der Signalaufnahme bis zum Wahrnehmungserlebnis. Es muss betont werden, dass es sich hierbei um ein psychologisches Modell handelt, für das es keineswegs in allen Einzelheiten neurophysiologische Entsprechungen gibt, und dass auch innerhalb der Informationsverarbeitungstheorien im Detail einige Meinungsunterschiede bestehen. Z.B. wird von vielen Autoren die Abgrenzung zwischen Empfindung und Wahrnehmung als überflüssig und wenig hilfreich eingestuft: Empfindungen, wenn solche existieren sollten, werden von ihnen als Nebenprodukte des einheitlichen Wahrnehmungsprozesses angesehen (vgl. u.a. Klix, 1971; Anderson, 1975). Phänomene der Umwelt und Signale aus dem eigenen Körper Modalitätsspezifische Integration im Zentralnervensystem Intervention mit Sinnesorganen: optisch, akustisch, kinästhetisch Sinnesreize Depolarisation - Sensorpotenziale - Aktiospotenziale Erregungen von den sensorischen (afferenten) Nervenbahnen Überschwellige Erregungen Einfache informationsverarbeitende Prozesse (Afferenzsynthese) Empfindungen Sinneseindrücke Komplexe informationsverarbeitende Prozesse (variable Kodierung, Gedächtnisinhalte, Motivation, Erwartungen, Hypothesen) Modalitätsübergreifende Integration im Zentralnervensystem: Wahrnehmung / Perzeptbildung Abb. 4: Modell der Aufnahme und Synthese von Afferenzen/Reafferenzen (nach Birbaumer & Schmidt, 1991, S. 308) Bedeutung und Funktion Der Stellenwert der Aufnahme, Verarbeitung und Zusammenfassung (re-)afferenter Informationen vor und nach einer motorischen Aktion war und ist innerhalb der Motor Approaches weitgehend unstrittig. Dem Beginn einer Bewegung gehen Situations- und Anlassafferenzen voraus (Anochin, 1967, 1968; Schnabel, 1987, S. 62-65). Die Situationsafferenzen vermitteln dabei ein Bild der aktuellen Ausführungssituation, d.h. über den augenblicklichen Zustand der Bewegungsorgane und der Umwelt. Sie sind eine wesentliche Grundlage für die zielgerichtete Planung der eigenen motorischen Tätigkeiten: Der Fußballspieler z.B. benötigt für die Vorbereitung seiner Aktionen Informationen über die Position und die Geschwindi gkeit des heranfliegenden Balles, über das Mitspieler- und Gegnerverhalten usw. Ein bestimmtes Verhältnis der Situationsafferenzen kann dann zum auslösenden Reiz werden. Situations- und Anlassafferenzen stehen also in enger, kaum trennbarer Wechselwirkung. Nach einer Bewegungstätigkeit erhält der Lernende Reafferenzen (Rückinformationen, Feedback) über das Resultat und den Verlauf seiner motorischen Handlung. Dies ist für die Gestaltung motorischer Lernprozesse von wesentlicher Bedeutung. Ohne eine Verarbeitung der eigenen Erfahrungen und ohne ergänzende Rüc kmeldungen durch den Trainer oder Lehrer ist es im Allgemeinen nicht möglich, auftretende Fehler systematisch abzubauen. Welche Rolle spielen nun aber die (Re-)Afferenzen während der eigentlichen Bewegungstätigkeit? Die Beantwortung dieser Frage stand im Zentrum einer jahrzehntelangen, vehementen Kontroverse zwischen den so genannten Zentralisten oder Open-Loop-Theoretikern und den Peripheralisten oder Closed-LoopTheoretikern. Beide Forschergruppen hatten grundsätzlich andere Vorstellungen darüber, wie motorische Aktionen ablaufbegleitend kontrolliert werden. Zentralisten: Gestartete Bewegungen werden ausschließlich von Programmen gesteuert. Afferenzen und Reafferenzen spielen keine Rolle mehr. Peripheralisten: Bewegungen werden sofort nach ihrem Start (durch ein minimales Programm) ausschließlich von (Re-)Afferenzen gesteuert. Der Streit ist längst ohne Sieger und Besiegte beendet. Es hat sich heute die Auffassung durchgesetzt, dass motorische Programme und (Re-)Afferenzen „zusammenspielen“ und sich einander sinnvoll ergänzen. Bevor diese Kopr oduktion genauer beleuchtet werden kann, ist auf die efferente Seite der Bewegungskontrolle einzugehen. Motorische Programme Empirische Unterstützungen und Plausibilitätsüberlegungen Seit Mitte der siebziger Jahre kann die Gattung der reinen, klassischen ClosedLoop-Modelle (vgl. Greenwald, 1970; Adams, 1971; 1976) als ausgestorben gelten. Die Idee zentral gespeicherter motorischer Programme (Bewegungsentwürfe) ist zu einem Kernbestandteil der Informationsverarbeitungstheorien geworden. Hierfür dürften vor allem zwei Argumentationslinien gesorgt haben: 1. Bewegungen sind auch ohne Reafferenzen mögl ich! Um diese Aussagen zu belegen, sind in einer Reihe von Tierstudien die Reafferenzen künstlich ausgeschaltet worden. Dies geschah über chirurgische Eingriffe, lokale Betäubungstechniken oder mit Hilfe von fest angebrachten Blutdruckmanschetten. Das wesentliche, gleichlautende Ergebnis der Untersuchungen besagt, dass Bewegungsausführungen durch derartige Manipulationen nicht gravierend gestört werden. Primaten z.B. können in prinzipiell unveränderter Form Lauf-, Kletter- und Greifbewegungen koordinieren (Taub & Berman, 1968), bei Heuschrecken werden rhythmische Flügelbewegungen (Wilson, 1961) und bei Mäusen zielgerichtete Säuberungsmuster (Fentress, 1973) in ihrer Kontrolle kaum beeinträchtigt. Vergleichbare Beobachtungen konnten bei menschlichen Patienten mit Schussverletzungen (Lashley, 1917) und mit künstlichen Fingergelenken (Kelso, Holt & Flatt, 1980) gemacht werden. Bei ihnen sowie bei lokal betäubten Versuchspersonen in Studien von Provins (1958), Smith (1969) und Smith, Roberts und Atkins (1972) zeigte sich, dass auch komplexe, genetisch nicht festgelegte motorische Aktionen, wie Dar twerfen, ohne Feedback ausführbar sind. Die Resultate der Experimente unter Deafferentierungsbedingungen werden ergänzt durch Betrachtungen sehr rascher, kurzdauernder Aktionen (< 200 msek). Hierzu gehören zahlreiche Handlungsmuster aus dem Bereich des Sports, z.B. Golfschläge, Torwartaktionen im Handball oder Fußball, Schlagtechniken im Tennis, Badminton und Squash. Im Verlauf ihrer Realisierung befindet sich der Sportler – so wird angenommen – in einem „quasideafferentierten“ Zustand. Begründet wird diese Auffassung damit, dass auf Grund des Zeitbedarfs der afferenten Informationsverarbeitungsprozesse die Rückmeldungen erst nach dem Ende der Bewegungstätigkeit zur Verfügung stehen. Gestützt wird sie durch einige alltägliche und quasi-experimentelle Beobachtungen. Schmidt (1988, S. 196) führt z.B. an, dass die feinen Detailbewegungen, die in das Zuknöpfen eines Hemdes involviert sind, im Allgemeinen auch dann bis zum Ende ausgeführt werden, wenn der Knopf gar nicht vorhanden ist. Die „normalen“ Reafferenzen der Finger (die Knopfberührungen) scheinen somit an der direkten Steuerung dieser Handlung ebenso wenig beteiligt zu sein wie bei den schnellen sequentiellen Bewegungen von Lashleys (1951) Klavierspieler, deren Ablauf durch eine defekte Taste, die sich nicht niederdrücken ließ, unbeeinträchtigt blieb. In engem Zusammenhang mit diesen eher anekdotischen Befunden stehen die Untersuchungsergebnisse von Slater-Hammel (1960) und Henry-Harrison (1961). Sie verdeutlichen, dass es ca. 200 msek dauert, bis Versuchspersonen auf Veränderungen in den Ausführungssituationen (motorisch) reagieren können. 2. Bewegungen sind „vor-programmierbar“! Eine auf den ersten Blick überraschende Bestätigung für motorische Programmtheorien kann aus den Ergebnissen von verschiedenen Reaktionszeitstudien abgeleitet werden. Das klassische Experiment in diesem Bereich geht auf Henry und Rogers (1960) zurück. In ihm wurden einfache Reaktionszeiten gemessen: Einfache Reaktionszeit (RT) = Zeit von der Vorgabe eines (optischen, akustischen, taktilen) Signals bis zum Bewegungsbeginn, wenn in der Untersuchung nur ein Reiz vorgegeben wird und nur eine bestimmte Bewegungsantwort gefordert ist. Henry und Rogers fanden, dass sich die RT-Werte mit ansteigender Komplexität der geforderten Reaktionen von 172 msek (Fingerheben) auf 216 msek (Fingerheben, Tennisball greifen) bzw. 230 msek (Fingerheben, Ten- nisball schlagen, Taste drücken, zweiten Tennisball greifen) er höhen. Ihre Ergebnisse konnten allerdings in Nachfolgeunter suchungen nicht bestätigt werden. Aus heutiger Sicht ist vielmehr festzustellen, dass offenkundig keine systematischen Beziehungen zwischen der Bewegungskomplexität einerseits und einfachen Reaktionszeitwerten andererseits zu beobachten sind. Ein gegensätzliches (stabiles) Resultatsbild ergibt sich in jenen Studien, in denen Wahlreaktionszeiten gemessen werden: Wahlreaktionszeiten (CRT) = Zeit von der Vorgabe eines (optischen, akustischen, taktilen) Signals bis zum Bewegungsbeginn, wenn in der Untersuchung mehrere Reize und Antwortmöglichkeiten einbezogen werden. Durch die Art des jeweils präsentierten Reizes (z.B.: linke oder rechte Lampe) wird der Versuchsperson angezeigt, welche Bewegung sie auszuführen hat. Hier ist in einer Vielzahl von Untersuchungen (vgl. z.B. Erikson, Pollack & Montague, 1970, Klapp, 1971, 1974, 1977a, b; Klapp, Wyatt & Lingo, 1974) ein signifikanter Zusammenhang ermittelt worden: Je höher die Komplexität der Reaktionen, desto länger sind die Wahlreaktionszeiten. Wie sind diese scheinbar widersprüchlichen Ergebnismuster zu erklären? Dies gelingt relativ „einfach und problemlos“, wenn man den Grundannahmen und Analogien der motorischen Programmtheoretiker folgt. In einer einfachen Reaktionszeitsituation wissen die Versuchspersonen schon vor dem Signal, welche Bewegung von ihnen gefordert werden wird. Sie können das zugehörige Programm vorab bereitstellen, seine „Ladungszeit“, von der angenommen werden kann, dass sie mit zunehmender Komplexität ansteigt, fällt also nicht in das Reaktionszei tintervall und wird nicht mitgemessen. Anders ist dies bei Wahlreaktionen. Die Probanden wissen erst nach der Signalvorgabe, welche Bewegungen sie ausführen sollen; die Ladungszeit des Programms fällt dementsprechend in das CRT-Intervall und wird miterfasst. Die Vorhersagen der Programmtheoretiker decken sich somit sehr gut mit der empirischen Befundlage. Die vermeintlichen Ergebniswidersprüche lösen sich mit der Annahme der (Vor-)Programmierung menschlicher Bewegungen auf. Unterstützung für die Idee der Vorabstrukturierung motorischer Pr ogramme liefern auch die Resultate moderner Varianten der Wahlreaktionsmethode, die als Precuing- oder Reprogrammierungstechniken bekannt geworden sind (vgl. Rosenbaum, 1980, 1983; Larish & Frekany, 1985; Roth, 1989). Mit den Precuingverfahren konnte nachgewiesen werden, dass Vorinformationen über einzelne Aspekte der geforderten Reaktion – z.B. über die Bewegungsrichtung, den Bewegungsumfang usw. – zur Verkürzung der CRTWerte führen. Es ist plausibel anzunehmen, dass die Versuchspersonen die bekannten Bewegungselemente vorab programmieren können. Sie bauen ein motorisches Tei lprogramm auf, das nach der Signalvorgabe nur noch ergänzt bzw. komplettiert werden muss. Ähnliches gilt bei der Anwendung von Reprogrammierungsmethoden. Hier wird den Probanden zunächst mitgeteilt, welche Reaktionen sie nachfolgend mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuführen haben. Sie können und sollen diese Bewegung vollständig vorprogrammieren. Von Zeit zu Zeit erweist sich diese Vorinformation jedoch als falsch. In diesen Fällen ist es dann – so zeigen die vorliegenden Studien – möglich, Identitäten zwischen der bereitgestellten und der tatsächlichen auszuführenden Bewegung zu nutzen. Die Vorprogrammierungs-Hypothese erklärt auch hier, warum sich das Ausmaß der geforderten (Re-)Programmierungen in den gemessenen CRT-Werten widerspiegelt. Vereinfacht zusammengefasst lässt sich aus der Vielfalt der Reaktionszeitstudien ableiten, dass irgendetwas, was mit der Bewegungskoordination zu tun hat, bereits vor dem Tätigkeitsbeginn (d.h. im Reaktionszeitintervall) stattfindet. Dieses irgendetwas lässt sich – zumindest aus der Sicht der Programmtheoretiker – am Einfachsten über die Annahme der Auswahl und Bereitstellung zentraler Bewegungsprogramme erklären. Aufbau und Inhalte Die Frage, wie motorische Programme „funktionieren“, welche Informationen in ihnen enthalten sind, was sie also der Skelettmuskulatur „erzählen“, damit eine in Raum und Zeit geordnete Bewegung zustande kommt, wird innerhalb der Informationsverarbeitungstheorien sehr kontrovers diskutiert. Allerdings hat sich zunehmend eine bestimmte Modellkategorie durchgesetzt: Gemeint sind jene Konzepte, in denen von einer ProgrammParameter-Trennung ausgegangen wird. Hiernach sind die motorischen Programme abstrakte, hierarchisch aufgebaute Gedächtnisinstanzen, die nur einige wenige Grundelemente enthalten. Diese defini eren das stabile Skelett, die invariante Struktur einer sportlichen Technik, also die charakteristischen, unveränderbaren räumlichen, zeitlichen und dynamischen Kennwerte z.B. eines Schlagwurfs, eines Spannstoßes, eines Angriffsschlags, einer Kippbewegung oder eines Fosbury-Flops. Nicht in den Programmen selbst eingeprägt sind dagegen eine Reihe von variablen, leicht veränderbaren Bewegungsmerkmalen, die nicht die „Technik an sich“ betreffen. Eine Kippe mag mehr oder weniger dynamisch sein, trotzdem bleibt es eine Kippe; ein Angriffsschlag im Volleyball kann long-line oder diagonal gespielt werden; eine Wurfbewegung ist mit großem oder geringem Bewegungsumfang realisierbar usw. Diese austauschbaren Kennwerte werden als Parameter bezeichnet und können in die erlernten, gespeicherten motorischen Programme „eingelesen“ werden. Die Analogie der angenommenen Arbeitsweise zentraler Bewegungsrepräsentationen mit der von Computerprogrammen ist offenkundig (vgl. Heuer, 1982; Heuer & Prinz, 1987; Schmidt, 1988). Ein Programm zur Lösung einer bestimmten Fragestellung, z.B. zur Kalkulation arithmetischer Mittelwerte und Standardabweichungen, umfasst im Allgemeinen eine Reihe fester Grundgleichungen und -relationen. Es erbringt dabei nicht nur eine einzige Leistung, sondern ermöglicht über die zusätzliche Eingabe von Parametern wie „Stichprobenumfang“ die Behandlung einer ganzen Gruppe von Problemen. Genauso ist das Funktionieren motorischer Programme zu verstehen: Sie sind in der Lage, eine jeweils breite Klasse „von Bewegungen zu steuern; welche spezielle Bewegung aus dieser Klasse ausgeführt wird, hängt von der Festlegung der relevanten Parameter ab“ (Heuer & Prinz, 1987, S. 294). Aus der Gruppe der Theorien mit Programm-Parameter-Trennung wird im Folgenden ein geradezu klassischer, typischer Vertreter herausgegriffen: die Theorie generalisierter motorischer Programme (GMP-Theorie) von Schmidt (1975-1988). Sie stellt das bekannteste und am weitesten verbreitete Konzept dar. Vor ihrer Überbewertung oder gar Absolutsetzung ist allerdings zu warnen. Erstens gibt es innerhalb der Informationsverarbeitungsansätze durchaus andere Vorschläge zur Abgrenzung von Programminhalten und Programmparametern und zweitens muss darauf hingewiesen werden, dass die vorliegende empirische Befundlage als keineswegs eindeutig oder gar beweiskräftig interpretiert werden kann. Theorie generalisierter motorischer Programme (GMP-Theorie) Das Konzept generalisierter motorischer Programme von Schmidt baut drei eng miteinander verbundenen Teiltheorien auf: • der Impuls-Timing-Theorie • der Gestaltkonstanz-Hypothese • der Schematheorie Grob betrachtet, konkretisiert die Impuls-Timing-Theorie die Inhalte der motorischen Grundprogramme; mit der Gestaltkonstanz-Hypothese wer den die wichtigsten, austauschbaren Bewegungsparameter benannt und die Schematheorie liefert eine Erklärung, wie diese Parameter zielgerichtet in die ausgewählten, bereitgestellten Rahmenprogramme eingelesen werden können. Impuls-Timing-Theorie Die Impuls-Timing-Theorie besagt, dass die motorischen Programme das Bewegungsverhalten über Zeit- und Kraftinformationen kontrollieren. Im Einzelnen beinhalten die zentralen Repräsentationen drei zeitlichdynamische Kennwerte/Verhältnisse: 1. Die relativen Impulsabstände (das Sequencing) Das erste Merkmal betrifft die Startzeitpunkte der Einzelimpulse, die am Zustandekommen von (komplexen) menschlichen Bewegungstätigkeiten beteiligt sind. Die zeitlichen Verhältnisse ihrer Abstände – und damit auch ihre Reihung – werden in den motorischen Programmen festgeschrieben. Derartige Ordnungsinformationen sind bedeutsam. Im Beispiel der Abbi ldung 5 beginnt die Aktivität mit dem Impuls A, dann folgt C, dann B, dann D. Die programmierten Abstandsproportionen lauten: Beginn A bis Beginn C – in Relation zu – Beginn A bis Beginn B ≈ 1:2.5; Beginn A bis Beginn C – in Relation zu – Beginn A bis Beginn D ≈ 1:3. Sequencing = Abfolge und Abstandsrelationen der Auslösungen der Einzelimpulse. 2. Die relativen Impulsdauern (das relative Timing) Das zweite Merkmal ist auf die zeitlichen Ausdehnungen der bewegungssteuernden Impulse gerichtet. Pr ogrammiert sind die Verhältnisse der Einschaltdauern; für das Impulsmuster in Abbildung 5 gilt: Dauer A : Dauer B : Dauer C : Dauer D = 1 : 0.75 : 1.5 : 0.5. Relatives Timing = Relationen der Zeitdauern der Einzelimpulse 3. Die relativen Impulshöhen (die relativen Krafteinsätze) Das dritte Merkmal bezieht sich auf die Impulshöhen. Analog zum relativen Timing enthalten die motorischen Programme die Verhältnisse dieser dynamischen Kennwerte, die von Schmidt (1984, 1988) als „relative Forces“ bezeichnet werden. Das Impuls-Timing-Programm in Abbildung 5 ist durch die folgenden Quotienten charakterisiert: Höhe A : Höhe B : Höhe C : Höhe D = 1 : 2 : 1.5 : 2. Relative Forces = Relationen der Höhen der Einzelimpulse Abb. 5: Beispiel eines einfachen Impuls-Timing-Pogramms (vier Einzelimpulse A, B, C, D) Die Art und Weise, wie ein derartiges, verhältnismäßig einfaches Kontrollsy stem für Zeiten und Kräfte komplexe Bewegungsabläufe zu steuern vermag, illustriert Schmidt (1988, S. 261) am Beispiel einer von KELSO übernommenen Analogie (vgl. Abbildung 6). In ihr wird ein Vater betrachtet, der seine Tochter beim Schaukeln auf einem Spielplatz anstößt. Der Vater repräsentiert in diesem Bild das motorische Kontrollprogramm, die Schaukel und das Kind sind das ausführende menschliche Körpersystem (die Körperglieder, Muskeln ...). Gemäß der ImpulsTiming-Theorie besteht der Input des Programms (des Vaters) ausschließlich in zeitlich abgestimmten Kraftstößen, die aber ausreichen, um eine keineswegs unkomplizierte Bewegung auszulösen und in Gang zu halten: Im Bahnverlauf des Schaukelns tritt zunächst (bis zum Zentrum) eine Periode der Akzeleration auf, es folgt ein Zeitraum der negativen Beschleunigung bis zu einem Umkehrpunkt, eine gleiche oder ähnlich strukturierte Rückwärtsbewegung usw. Diese und viele andere (biomechanische) Details koordiniert der Vater (das Programm) offensichtlich nicht direkt, sondern nur mi ttelbar; sie ergeben sich aus den Wechselwirkungen zwischen den Kraft-/Zeiteingaben (Programminput) und den physikalischen Gegebenheiten des Exekutionssystems (Trägheitskräfte, Drehmomente, Gravitationseffekte ...). Abb. 6: Der Vater als Impuls-Timing-Programm Zusammenfassend und verallgemeinert kann damit die zentrale Aussage der Impuls-Timing-Theorie wie folgt formuliert werden: Die gespeicherten motorischen Programme definieren drei Arten von zeitlich-dynamischen Verhältnissen: die relativen Impulsabstände, die relativen Impulsdauern und die relativen Impulshöhen. Mit dieser geringen Zahl von Programminhalten soll es möglich sein, die jeweils charakteristischen äußeren Strukturelemente der verschiedenen Sporttechniken zu produzieren. Gestaltkonstanz-Hypothese Die Impuls-Timing-Theorie wird durch eine zweite, eng mit ihr verbundene Annahme ergänzt: die so genannte Gestaltkonstanz-Hypothese. Mit ihr wird postuliert, dass es eine Reihe von variablen, leicht zu modifizierenden Parametern gibt, die in die Grundprogramme eingelesen werden können, ohne dass sich damit die drei beschriebenen invarianten Relationen verändern. Die Abbildung 7 zeigt die beiden wichtigsten dieser „filling in“ Parameter: die Bewegungsdauer (MT = Movement Time) und den Gesamtkrafteinsatz (F = Force), also die absoluten Zeitund Kraftwerte. Bei ihrer Variation werden die Impulsmuster – wie bei einem Expander oder einem Deuserband – proportional gedehnt oder gestaucht, d.h. ihre grundsätzliche Gestalt, ihre geometrische Figur bleibt erhalten. Abb. 7: Beispiel einer proportionalen MT -Streckung (oben) und F-Stauchung (unten): Nehmen Sie ein Lineal zur Hilfe, und Sie werden feststellen, dass sich die relativen Impulsabstände, die relativen Impulsdauern und die relativen Impulshöhen nicht verändern Neben den beiden Hauptparametern sprechen Shapiro und Schmidt (1982, S. 134) und Schmidt (1988, S. 254-255) zwei weitere mögliche Kennwerte an, bei deren Veränderung die drei invarianten Programmrelationen konstant bleiben sollen: die Muskelauswahl (mit welchen Muskelgruppen, Gelenksystemen wird das Programm ausgeführt?) und einen räumlichen Parameter, mit dem sich Höhenmerkmale, Gelenkwinkel, Bewegungsrichtungen usw. einstellen lassen. In diesem Sinne ist es z.B. möglich, den Sprungwurf im Handball – unter Beibehaltung des Bewegungsgrundmusters – mit geringer oder hoher Bewegungsgeschwindigkeit, mit kräftigem oder weniger kräftigem Absprung, mit rechts oder mit links und aus verschiedenen Distanzen bzw. Anlaufrichtungen durchzuführen. Abb.8: Beispiel unterschiedlicher Parameterisierungen des Sprungwurf-Programms Zur Verdeutlichung der beiden ersten Grundpfeiler des GMP-Modells der ImpulsTiming-Theorie und der Gestaltkonstanz-Hypothese – kann das Bild des Abspi elens einer Musikschallplatte wieder aufgegriffen werden. Ein generalisiertes motorisches Programm ist auch im Detail in vielerlei Hinsicht mit einer solchen Schallplatte vergleichbar (Schmidt, 1988, S. 246, 255: Phonograph Record Analogy). Dem Sequencing entspricht der relative Abstand des Einsatzes der einzelnen Instrumente; das relative Timing ist mit den Quotienten ihrer Einsatzdauern gleichzusetzen und die relativen Krafteinsätze stehen in Analogie zur relativen Lautstärke, mit der die Instrumente gespielt werden. Diese Verhältnisse bleiben – wie bei den motorischen Pr ogrammen – auch dann invariant, wenn die Schallplatten mit unterschiedlichen Parametern abgespielt werden. Weder die Reihenfolge noch die relative Dauer und relative Lautstärke der Instrumenteneinsätze werden bei Variation der Parameter Umdrehungsgeschwindigkeit (= MT), Gesamtlautstärke (= F) und Abspielgerät (= Muskelauswahl) verändert. Schematheorie Der bekannteste und populärste Bestandteil des GMP-Modells ist die Schematheorie des motorischen Verhaltens (Schmidt, 1975, 1976; in deutsc her Sprache: Kaul & Zimmermann, 1990). Nach ihr werden für jedes beherrschte ImpulsTiming-Grundmuster zwei zusätzliche Gedächtnisinstanzen entwickelt: ein Wiedergabe- und ein Wiedererkennungsschema (Recall- und Recognitionsschema). Dabei fällt dem zuerst genannten die wichtige Aufgabe des Einlesens der Bewegungsparameter, d.h. der Parameterisierung des jeweils zugehörigen motorischen Rahmenprogramms zu. Das Wiedergabeschema besteht aus einem Satz von Regeln. Jede dieser Regeln gilt für eine Klasse von Situations- oder Ausgangsbedingungen S i, die von Schmidt (1975) als „Initial Conditions“ bezeichnet werden. Nehmen wir als Beispiel einen Torschuss im Fußball: Die relevanten situativen Ausgangsdaten sind hier die Torentfernung und der Schusswinkel. Man könnte sich vorstellen, dass der Spieler vier verschiedene Regeln für Schüsse von links aus der Nahdistanz (S1), Schüsse von rechts aus der Nahdistanz (S2), Weitschüsse von links (S3) und Weitschüsse von rechts (S4) benötigt. Das Wiedergabeschema für den Torschuss würde in diesem Fall aus vier Einzelregeln für S1, S2, S3 und S4 bestehen. Die Regeln selbst sind so etwas wie Vorhersagegeraden. Ihre „Arbeit“ beginnt, wenn der Sportler sich für ein bestimmtes Bewegungsergebnis E entschieden hat; also wenn der Fußballer z.B. von links aus der Nahdistanz (S1) mit möglichst gr oßer Schusshärte in die rechte untere Torecke treffen will. In diesem Fall spezifiziert die Schemaregel für S1 Schätzungen derjenigen Parameterwerte P (MT, F, Gelenkwinkel usw.), die in das Grundprogramm eingelesen werden müssen, damit das angestrebte Resultat erreicht wird. Noch einmal zur Wiederholung, weil es häufig falsch oder missverständlich dargestellt wird: Das Schema ist dafür zuständig, dass der Ball auch wirklich rechts-unten landet; ob diese Auswahl taktisch geschickt ist oder nicht, liegt außerhalb der „Verantwortung“ der Regel S1. Die Abbildung 9 illustriert das Entstehen und die Funktionsweise der Schemar egeln. Es erscheint logisch und konsequent, dass ihr Aufbau damit zusammenhängt, dass der Sportler das motorische Grundprogramm in den verschiedenen Situationsklassen Si (im Beispiel S1-S4) anwendet, und dass er dort Erfahrungen darüber sammelt, welche Ergebnisse E beim Einsatz welcher Parameterwerte P zustande kommen. Dementsprechend werden nach Schmidt (1975, 1988) im Anschluss an jede einzelne Realisierung eines Impuls-Timing-Musters die jeweiligen Daten S, E, P im ZNS gespeichert. • S: Wie waren die situativen Ausgangsbedingungen? • E: Welches Ergebnis wurde erreicht? • P: Welche Parameterwerte (MT, F, Muskelaufwand) wurden in das Pr ogramm eingelesen? In Abhängigkeit von der Bewegungserfahrung formieren sich hieraus im Gedächtnis mehr oder weniger dichte Punktwolken, die allmählich geordnet und zu Regelgeraden abstrahiert werden. Diese funktionieren – wenn sie erlernt und stabilisiert worden sind – wie folgt: Je nach Ausgangssituation des Sportlers wird eine der Regeln S1-S4 ausgewählt. Daran anschließend wird das gewünschte Ergebnis E auf der X-Achse markiert. Anhand der Vorhersagegeraden werden dann die optimalen Parametereingaben P geschätzt (Abbildung 9). Da diese Vorhersagen Kombinationen von horizontalen, vertikalen Streckungen/Stauchungen. Muskelauswahlen usw. erbringen können, die niemals zuvor in dieser Form realisiert worden si nd, ermöglicht das Wiedergabeschema offensichtlich auch den Vollzug bislang noch nicht explizit praktizierter Technikvariationen. Abb.9: Beispiel für ein motorisches Wiedergabeschema mit vier Einzelregeln S1-S4 Noch eine kurze Bemerkung zum zweiten Schema, dem Wiedererkennungsschema. Es soll eine wichtige Rolle bei den Korrekturen von Fehlern in der zentralen Bewegungsprogrammierung (K2) spielen. Seine Schemaregeln schätzen nämlich vor Bewegungsbeginn die bei korrekter Zielansteuerung erwarteten sensorischen Konsequenzen und bilden die Grundlage für den Soll-Istwertvergleich und davon ausgehende, eventuelle Programmierungsanpassungen. Wer sich ausführlich und vollständig über die Schematheorie informieren möchte, dem kann die deutschsprachige Veröffentlichung des Originaltextes von Schmidt empfohlen werden (übersetzt von Kaul & Zimmermann, 1990). Kurzresümee Das GMP-Modell ist eine klassische motorische Kontrolltheorie. Sein Erklärungswert konzentriert sich auf die Regulation gekonnter motorischer Handlungen. Damit bleiben naturgemäß viele, für die Sportpraxis relevante Fragestellungen offen, z.B. • „Wie werden die motorischen Grundprogramme erlernt?“ • „Wie werden motorische Programme in konkreten Wettkampfsituationen ausgewählt?“ • „Wie wird in Wettkampfsituationen über Programmparameterisierungen entschieden?“ Diese Selbstbeschränkungen und Theoriegrenzen sind dem GMP-Modell nicht selten zum Vorwurf gemacht worden (vgl. z.B. Scherer, 1991). Die Kritik ist sicherlich einerseits berechtigt und besonders aus der Sicht anwendungsinteressierter Sportpraktiker nur allzu verständlich, andererseits ist es wissenschaftsimmanent wohl kaum zulässig und sinnvoll, die Qualität von Theorien an der Breite ihres Gültigkeitsbereichs zu messen. Efferenzen Mit dem Auflegen einer Bewegungsschallplatte und deren Parameterisierung sind die Vorgänge der motorischen Programmierung im engeren Sinne abgeschlossen. Das Resultat dieser Prozesse muss nun in Form von zentralen Kommandos, die man auch als Efferenzen oder efferente Informationen bezeichnet, der bewegungssteuernden Muskulatur übermittelt werden. Die Programme (Programmvariationen) sind in beobachtbare Bewegungen zu transformieren. Über die Art und Weise, wie dies geschieht, gibt es in der Neurophysiologie verschiedene Modellvorstellungen. Von ihnen dürfte die so genannte α-γ-Koaktivierungstheorie die größte Evidenz und Plausibilität besitzen. Abb. 10: Die α-γ-Koaktivierung. Vereinfacht dargestellt nach Schmidt (1988, S. 168) Die Abbildung 10 verdeutlicht den Weg der Efferenzen von der Zentrale zur Peripherie. Es ist zwischen zwei verschiedenen Übertragungssystemen zu unterscheiden, die von den motorischen Programmen zeitlich parallel genutzt werden können. Die erste Informationsstraße sind die α-Neutronen. Diese Nervenbahnen führen direkt zu den quergestreiften Muskeln, die alle Bewegungen des menschlichen Körpers vom einfachen Beugen und Strecken einer Extr emität bis hin zu komplexen spor tlichen Tätigkeiten bewirken. Jedes α-Motoneuron versorgt ein ganzes Kollektiv von Muskelfasern und bildet mit diesen zusammen eine motorische Einheit. Weitaus komplizierter ist die Erklärung des (zweiten) Kommandoweges über die γMotoneuronen. Die Efferenzen, die über diese Straße gesendet werden, gehen nicht direkt zu der Skelettmuskulatur, sondern zunächst zu den Muskelspindeln. Dies sind kleine zigarrenförmige Gebilde, die in alle Hauptmuskeln eingebettet sind und parallel zu den einzelnen Fasern liegen. Jede Spindel besteht aus zwei Teilen: den sehr kleinen Muskelfasern an den beiden Enden (intrafusale Muskulatur) und den Mittelstücken, die selbst nicht kontraktil sind (vgl. de Marées, 1981, S. 71). Zurück zu den γ-Informationen: Sie wandern von den motorischen Programmen – jetzt genauer betrachtet – zu den intrafusalen Muskelfasern. Diese kontrahieren, dehnen dadurch die Spindelmittelstücke und führen dort zu Aktionspotenzialen, die über rasch leitende Nervenbahnen (Ia) zum Rückenmark gemeldet werden. Hier werden die eintreffenden Spindelerregungen direkt einem α-Motoneuron zugeführt, das ab einem bestimmten Grenzwert, die mit ihm verbundenen Fasern der Skelettmuskulatur kontrahiert (de Marées, 1981, S. 71). Diese Funktion des γSystems – der γ-Schleifen – besteht in der bewegungsvorbereitenden und begleitenden Kontrolle der Muskellängen, Muskelspannungen bzw. Spannungsänderungen, also in der Sicherung der Körperhaltung und der gewünschten (momentanen) Stellungen der Gliedmaßen. Erst das koordinierte Zusammenspiel der beiden efferenten Systeme (α, γ) produziert den gewünschten Programmoutput. Ablaufkontrollen bzw. -überwachungen Die dargestellten Unterstützungen für die Annahme zentral gespeicherter Bewegungsrepräsentationen weisen lediglich darauf hin, dass motorische Tätigkeiten auch ohne (Re-)Afferenzen möglich sind. Sie „beweisen“ aber keineswegs, dass sensorische Informationen für die Ablaufkontrolle insgesamt bedeutungslos wären: „The point is that feedback is used not to drive the motor pattern, but to correct it when the program falls in error. Feedback is the monitor of success or failure” (Keele, 1982, S. 169). In diesem Zitat von Keele wird die derzeit gängige Auffassung über die bewegungsbegleitende Funktion von (Re-)Afferenzen deutlich. Sie wird mit dem Begriff der „Monitoring-Hypothese“ gekennzeichnet. Nach ihr werden alle Aktivitäten zunächst durch motorische Programme gestartet und gesteuert, in ihrem weiteren Verlauf aber mit Hilfe der sensorischen Rückinformationen überwacht. Hierzu werden wie bei einem Prozessrechner (vgl. Heuer & Prinz, 1987) ständig (Re-)Afferenzen in das ZNS eingelesen und analysiert; das System hält nach Fehlern Ausschau und initiiert – wenn notwendig und sofern die zeitlichen Gegebenheiten dies zulassen – der Ausführungssituation entspr echende Korrekturmaßnamen. Prinzipiell sind zwei Arten der Kontrolle ablaufender motorischer Programme voneinander abzugrenzen: 1. Überwachung der richtigen, fehlerfreien Realisierung des gewählten Programms (K1, K2) 2. Überwachung der Programmauswahl (K3, K4) Schmidt (1988, S. 233-235) spricht in diesem Zusammenhang von Errors in Response Execution (1.) und Errors in Response Selection (2.). Bei den erstgenannten wird das ausgewählte motorische Programm beibehalten, d.h. das festgelegte, angestrebte Bewegungsziel wird nicht verändert. Es kann dabei noch einmal zwischen zwei Unterformen der Ausführungskorrektur differenziert werden: K1: Überwachung von Störungen oder Fehlern in den efferenten Programmumsetzungen K2: Überwachung von Ungenauigkeiten in den zentralen Programmierungspr ozessen Die Korrekturen K1 werden z.B. dann notwendig, wenn beim Laufen auf einem Rasenplatz oder im Gelände kleine Unebenheiten auftreten (Störungen) oder wenn auf Grund von Inkonsistenzen in den Übertragungssystemen die motorischen Kommandos nicht „geräuschfrei“ zur Peripherie übermittelt werden (Fehler). Sie basieren auf der bereits beschriebenen Koaktivierung der α, γ-Motoneuronen und sollen wie folgt ablaufen: Befindet sich ein Körperteil (störungs- oder fehlerbedingt) in einer falschen Position oder hat eine falsche momentane Aktionsgeschwindigkeit, dann ist der Muskel stärker oder weniger stark gedehnt als dies für den betrachteten Zei tpunkt nach dem abgerufenen motorischen Programm der Fall sein dürfte. Da die dehnungsempfindlichen Rezeptoren in den Spindelmittelstücken parallel zur quergestreiften Muskulatur liegen, schlägt sich dies direkt in – gegenüber den Planungen – erhöhten oder verringerten Ia-Aktivitäten nieder. Diese bewirken Veränderungen im Erregungsniveau der α-Motoneuronen, Modifikationen in den Muskelanspannungen und schließlich die erforderlichen, leichten Bewegungskorrekturen. Die Schleifen von den Spindeln über das Rückenmark zur Skelettmuskulatur benötigen etwa 30 msek und werden auch als Dehnungsreflexe bezeichnet. Simultan findet darüber hinaus eine Rückmeldung der Ia-Afferenzen zum Kleinhirn und zum sensorischen Kortex statt. Die Signale werden zentral verarbeitet, wieder zur Peripherie übermi ttelt und ermöglichen substantiellere Anpassungen der Kontraktionen. Als Zeiten für di ese langen, transkortikalen Schleifen (long-loop) sind 50-80 msek anzunehmen. Etwas länger ist der Mindestzeitbedarf für die Korrektur von Fehlern in der zentr alen Bewegungsprogrammierung (K2). Er liegt in der Größenordnung einer einf achen (visuellen) Reaktionszeit (RT), also bei etwa 200 msek. Als Grundlage dieser Modifikationen wird von detaillierten Sollwert-Speicherungen der erwarteten Reafferenzen ausgegangen (Wiedererkennungsschema), die man bei fehlerfreier Ansteuerung des gewünschten Bewegungsziels erhalten würde. Sie werden fortlaufend mit den rückgemeldeten Istwerten verglichen; eventuell auftretende SollIstwert-Differenzen führen zu sofortigen Programmierungsanpassungen. Auf diese Weise gelingt es etwa einer Turnerin, ihre Übungen auf dem Schwebebalken bei momentanen Gleichgewichtsstörungen (Istwert) zu verändern. Sie korrigiert Gelenkwinkel, Bewegungsrichtungen oder Geschwindigkeits- und Kraftdosierungen, um den Balken nicht verlassen zu müssen (Sollwert). Die Fehler in der Bewegungsauswahl (2.: K3, K4) betreffen, anders als die Errors in Response Execution (1.: K1, K2) die taktischen Planungs- und Entscheidungsprozesse eines Sportlers. Es geht also um echte Sollwertvorstellungen. Im ersten Fall, der K3-Korrektur, werden die vom Wiedergabeschema vorgenommenen Pr ogrammparameterisierungen verändert. Der Sportler stellt z.B. fest, dass er situative Details, etwa die Positionen oder das Timing der Gegenspieler (des Torhüters) falsch vorhergesagt hat, und dass es nach seinem jetzigen, aktuellen Informationsstand (Situationsafferenzen) günstiger wäre, andere Wurf-/Schlagrichtungen, Wurf-/Schlaghärten usw. zu wählen. Umentscheidungen dieser Art sind allerdings durch einen verhältnismäßig hohen Zeitbedarf gekennzeichnet. Die Tabelle 1, deren Daten von Roth (1988) experimentell ermittelt wurden, illustriert, dass bewusste Korrekturen von rechts nach links, von tief nach hoch oder von kurz nach lang nur dann realisiert werden können, wenn der Athlet ihre Notwendigkeiten ca. 400500 msek vor dem Ende seiner motorischen Aktionen erkennt. Berücksichtigt man, dass die durchschnittlichen Zeiten für die Vorwärtsbewegungen des Wurfund des Schlagarms in allen betrachteten Sporttechniken kleiner als 400 msek sind, dann bedeutet das, dass es Handball-, Tischtennis-, Tennis- und Volleyballspielern während dieser Phasen offensichtlich nicht mehr möglich ist, ihre ursprünglich getroffenen Parameterfestlegungen zu revidieren. Die letzte Hauptspalte von Tabelle 1 verdeutlicht schließlich, dass komplette Neuprogrammierungen (K4-Korrektur) mit dem weitaus höchsten Zeitaufwand verbunden sind. Für Wechsel von einem Slice zu einem Topspin oder von einem Schmetterschlag zu einem Lob müssen ca. 550-750 msek einkalkuliert werden. In vielen Disziplinen ist es deshalb die Regel, und nicht die Ausnahme, dass die Erfolgswahrscheinlichkeiten für K4-Korrekturen bereits unmittelbar nach dem Beginn der motorischen Tätigkeiten sehr gering (oder gleich Null) werden. Tab. 1: Der Zeitbedarf für K3- und K4-Änderungen (vgl. Roth, 1988, S. 83) Sportart Handball; Sprungwurf Tischtennis; Vh-Slice Tennis; Vh-Schlag Volleyball; Schmetterschlag K3 (msek) rechts, links, tief, hoch rechts, links, kurz, lang rechts, links, kurz, lang diagonal, longline kurz, lang K4 (msek) 383 msek 399 msek 420 msek 491 msek Slice, Topspin 557 msek Vh-Schlag, Vh-Lob 610 msek Schmetterschlag, Lob 745 msek Zusammengenommen ergibt sich das in Tabelle 2 dargestellte Bild der Eingriffsmöglichkeiten in gestartete bzw. ablaufende motorische Programme. Es ist allerdings anzumerken, dass das Ausmaß der Feedbacküberwachung nicht zwingend im motorischen System festgeschrieben zu sein scheint. Der Spor tler kann sich durchaus auch für eine mehr oder weniger komplette Programmsteuerung entscheiden (Open-Loop-Kontrolle). Dies ist besonders dann sinnvoll, wenn eine Tätigkeit hochgeübt ist und wenn die Situationsanforderungen geschlossenvorhersagbar sind. In diesen Fällen führt eine bewusste Einbeziehung und Verarbeitung von (Re-)Afferenzen nicht selten zu Störungen im flüssigen präzisen Ablauf (Bliss-Boder-Hypothese). Professionelle Klavierspieler z.B., die ihre Handbewegungen genau beobachten, oder Ruderer, die sich auf den Eintauchwinkel ihrer Blätter konzentrieren, zeigen zumeist deutlich erkennbare Koordinationsbeeinträchtungen. Schmidt (1988, S. 223) rät, „ ... that if your golf partner is beating your regularly, buy him a golf book so that he can analyse his swing ...; that should degrade him to your level very quickly.” Tab. 2: Gegenüberstellung der Korrekturen K1-K4 Art des Feedback Korrektursystem Zeitbedarf Korrekturwirkung 30-80 msek (nach Bewegungsbeginn) Anpassung der efferenten Übertragungen (Anpassung der α-γEfferenzen) 200 msek (nach Bewegungsbeginn) Anpassung der Programmparameter 400-500 msek (vor Bewegungsende) Neue Parameter-/ Ergebniswahl 550-750 msek (vor Bewegungsende) Neue Programm-/ Technikwahl K1 la-Afferenzen γ-Muskelspindelschleifen K2 Reafferenzen (Istwert) Wiedererkennungsschemata K3 Situationsafferenzen Bewusste taktische „Umentscheidungen“ K4 Situationsafferenzen Statt einer Zusammenfassung Abbildung 11 illustriert die gemeinsamen Grundannahmen der Informationsverarbeitungs-Modelle. Die wesentlichen Teilprozesse der Bewegungskontrolle wurden beschrieben: Informationsaufnahme, Informationsverarbeitung (Synthese, Perzeptbildung), Programmauswahl, Programmparameterisierung, α-γ-Koaktivierung sowie Ablaufüberwachung bzw. -kontrolle. Als Kernstück der Theorien sind dabei die festgeschriebenen, vorgefertigten zentralen Repräsentationen herausgestellt worden. Ihre Inhalte und Funktionsweisen wurden am Beispiel des Modells generalisierter motorischer Programme von Schmidt konkretisiert. Abb. 11: Prozessmodell der Bewegungskoordination 4 Literatur Im Literaturverzeichnis dieses Buches finden sich viele der im Text zur 8. Vorlesungseinheit zitierten Quellen: Roth, K. & Hossner, E.J. (1999). Die funktionalen Betrachtungsweisen. In K. Roth & K. Willimczik, Bewegungswissenschaft (S. 127-226). Hamburg: Rowohlt Als weiterführende Literatur wird empfohlen: Fodor. J.A. (1983). The Modularity of Mind. Cambridge (MA): MIT Press Hossner, E.J. (1995). Module der Motorik. Schorndorf: Hofmann Kolb, B. & Wishaw, I.Q. (1996). Neuropsychologie. Heidelberg: Spektrum Milner, A.D. & Goodale, M.A. (1995). The Visual Brain in Action. Oxford: University Press