SZ vom 29.Juli 2010 Seite 36 Deutschland (GSID=1279152)

REISE
DEFGH Donnerstag, 29. Juli 2010 • Nr. 172 • Seite 36
Gratis ins
Gelobte Land
Neulich in der Provence
Die spinnen, die Deutschen
Auf „Birthright-Reisen“ können jüdische
Jugendliche aus aller Welt Israel kennenlernen
E
s gibt Momente, die verändern
ein ganzes Leben: die Geburt
eines Kindes etwa, ein Lottogewinn oder ein Todesfall. Wenn
amerikanische Jugendliche auf der Webseite von Taglit von einer „lifechanging
experience“ schreiben, meinen sie jedoch
nichts dergleichen. Sie schwärmen von einer Reise: zehn Tage durch Israel, Baden
im Toten Meer, Beten in einer Synagoge
Jerusalems, Biertrinken in den Nachtclubs von Tel Aviv. Das alles kostet sie
keinen Cent, vorausgesetzt sie sind jüdisch und bekommen einen der begehrten Plätze für die „Birthright Tour“.
Veranstaltet werden diese Reisen von
Taglit Israel, einer Organisation, die
von privaten Spendern, der israelischen
Regierung und der Jewish Agency in
den USA finanziert wird. Mit dem Ziel,
„das Auseinanderdriften von Israel und
der jüdischen Diaspora aufzuhalten“,
haben jüdische Amerikaner die Agentur
vor zehn Jahren gegründet. Seitdem haben 250 000 Jugendliche aus 52 Ländern
an dem Programm teilgenommen. Die
Touren sind eine Mischung aus Bildungsreise, Identitätssuche und Klassenfahrt.
In klimatisierten Bussen reisen die
Jugendlichen durch Israel und lassen dabei fast keine Sehenswürdigkeit aus. Sie
feiern Sabbat, besuchen die Klagemauer, reden über Bräuche. Ein paar Tage
verbringen sie mit israelischen Soldaten
im selben Alter, gehen zusammen feiern
oder an den Strand.
„Birthright“ heißt Geburtsrecht und
bezieht sich auf das älteste Gesetz des
jüdischen Staates, das sogenannte Rückkehrrecht, das allen Juden erlaubt, israelische Staatsbürger zu werden. Circa
17 000 ehemalige Teilnehmer sind nach
Angaben der Organisation inzwischen
nach Israel eingewandert. Diese Möglichkeit anzupreisen, sei aber nicht das Ziel
der Reisen, sagt Maxim Schkolnik von
der Jewish Agency Deutschland. „Wir
wollen ihnen einfach das Land ihrer Vorfahren zeigen.“ Die Jewish Agency ist die
offizielle Einwanderungsorganisation
Israels, ihr deutscher Ableger bietet die
Birthright-Touren hierzulande an.
Es ist ein schönes Land, das die Jugendlichen zu Gesicht bekommen. Siedlungs-
bau, Flüchtlingslager und Palästinenser
tauchen im Programm nicht auf. „Natürlich ist es unmöglich, ein ganzes Land in
zehn Tagen zu sehen – selbst wenn es so
klein ist wie Israel“, sagt Schkolnik. Man
zeige aber durchaus auch nichtjüdische
Lebensgeschichten. Die Jugendlichen besuchen ein drusisches Dorf, um das Leben einer Minderheit kennenzulernen,
sie verbringen einen Abend bei Beduinen
in der Wüste, um einen Eindruck vom Alltag der arabischen Minderheit zu gewinnen. Ähnliche Treffen mit Palästinensern gibt es nicht. Besetzte Gebiete werden bei Birthright-Touren aus Sicherheitsgründen nicht befahren, heißt es.
Minderheiten wie Beduinen
werden besucht,
Palästinenser aber nicht
„Wir sind eine unpolitische Organisation und bieten rein historische Reisen
an“, sagt Taglit-Birthright-Sprecherin
Deborah Camiel. Die Jugendlichen besichtigen das Holocaustmuseum Jad Vaschem, wo in neun unterirdisch angelegten Galerien die Geschichte der Judenverfolgung dokumentiert wird. Sie nehmen an einer Führung durch das Unabhängigkeitsmuseum in Jerusalem teil.
Dort, wo 1948 die israelische Staatsgründung stattfand, die kurz darauf einen
Krieg auslöste. Sie besteigen den Berg
Belan in den Golanhöhen. Dort, wo sich
Israel und Syrien während des JomKippur-Krieges
gegenüberstanden.
Holocaust, Krieg, Belagerung: Schwierige Themen werden durchaus angesprochen, allerdings nur, solange sie in der
Vergangenheit liegen.
Der aktuelle Nahostkonflikt wird
mit keinem einzigen Wort erwähnt.
Auch 2008, als in Gaza Krieg herrschte,
war das nicht anders. „Die Reisen wurden fortgesetzt“, so Camiel. Das sei ein
ziemlich heikles Thema, sagt Schkolnik. „Wir reden auf den Reisen nicht
über den Nahostkonflikt, weil wir nicht
Das Strand- und Nachtleben in Tel Aviv nehmen die jungen Teilnehmer der „Geburtsrecht-Touren“ auf ihrer Reise natürlich gerne mit. Auf dem zehntägigen Programm stehen unter anderem die Holocaust-Gedenkstätte und die Golanhöhen.
Foto: Vogel/laif
Der aktuelle Nahostkonflikt wird eher ausgeblendet.
irgendeine Meinung vorgeben wollen.“
Das könne ja auch schnell als Gehirnwäsche verstanden werden.
Kritiker werfen Taglit genau das vor.
Dunya Alwan zum Beispiel. Die Amerikanerin engagiert sich für Menschenrechte und verbringt dafür etwa ein Drittel des Jahres in Palästina. Aus Protest
gegen Taglit und die Reisen, bei denen
der Nahostkonflikt nicht auftaucht, hat
sie 2005 Birthright Unplugged gegründet. Die Organisation bietet siebentägige Reisen nach Israel an, buchbar für jeden, unabhängig von Alter und Religionszugehörigkeit. Bisher haben rund
350 Touristen teilgenommen. Sie fuhren
in palästinensisch besetzte Gebiete,
übernachteten bei Familien in Flücht-
lingslagern und verbrachten viele Stunden bei sengender Hitze am Checkpoint.
„Das war manchmal nur sehr schwer
auszuhalten“, sagt Amber Michel, eine
ehemalige Teilnehmerin. „Völlig hilflos
standen wir da und konnten nichts für
die Palästinenser tun.“ Die 30-jährige
Amerikanerin erzählt von kaputten Häusern, zerrissenen Familien und zerstörten Hoffnungen. Das Bild, das Birthright-Unplugged-Reisende sehen, ist selten schön. Es erinnert wenig an Urlaub
und bringt die Teilnehmer manchmal
zum Weinen. Einseitig ist aber auch dieses Bild. Zwar treffen die Reisenden
Juden, allerdings nur solche, die propalästinensisch eingestellt sind und sich
auch entsprechend engagieren. „Wir wol-
len denjenigen eine Stimme geben, die
sonst wenig Aufmerksamkeit bekommen“, sagt Alwan. Mit anderen Israelis
wolle man keinen Kontakt.
Die Reisenden sind, egal bei welchem
Anbieter, begeistert von dem, was sie erleben. „Palästina ist für mich zu einer
zweiten Heimat geworden, und ich werde dorthin zurückkehren, sobald ich
kann“, schwärmt Unplugged-Teilnehmerin Amber Michel. Und Lauren Conover,
eine ehemalige Birthright-Touristin,
schreibt im Internet: „Birthright hat mir
etwas geschenkt, das mir niemand mehr
wegnehmen kann. Birthright Israel hat
mir geholfen, meine Identität zu finden.
Ich bin jüdisch. Ich bin Birthright
Israel.“ RONJA VON WURMB-SEIBEL
Südtirol/Dolomiten
Monsieur Benoît
mag sie nicht, seine
eigenen Äpfel. Sie
sind ihm zu sauer.
Er könnte sie zwar
länger reifen lassen, dann würden
sie süßer. Aber er
verkauft seine Äpfel nach Deutschland, und Deutsche
mögen Äpfel offenbar lieber, wenn sie
säuerlich sind. Er lacht, als er das erzählt,
sieht die Mieter seines Ferienhauses in
Cavaillon jedoch zögerlich an – es sind
Deutsche. Monsieur Benoît möchte nicht
unhöflich sein. Aber man müsse zugeben,
eine seltsame Vorliebe sei das schon.
Und hier im Vaucluse, östlich der
Rhône, verstehen sie schließlich etwas
vom Obst. 800 000 Tonnen Obst und
Gemüse aus Cavaillon werden jährlich
über den Großmarkt des Städtchens
nach halb Europa verkauft. Hauptstadt
der Melonen wird Cavaillon auch genannt. Von Madame Benoît kann man
sich vorstellen, dass sie einmal den Titel
der Melonenkönigin errungen hat.
Freilich wird Monsieur Benoît den Teufel tun und sich über seine Mieter und deren Landsleute allzu sehr mokieren. Zu
gut lebt er von ihnen. Sollen sie halt saure
Äpfel essen. Und sollen sie in Theateraufführungen rennen, bei mehr als 35 Grad.
Das hat er sich gemerkt aus dem vergangenen Jahr, dass diese Deutschen „pour
le festival“ anreisen, wegen des Theaterfestivals im 20 Kilometer von Cavaillon
entfernten Avignon. Aber auch in diesem
Punkt kann er mit seiner Verwunderung
nicht komplett hinter dem Berg halten.
Es scheint, als hätten es Monsieur und Madame Benoît mit dem Theater so wenig
wie mit vor der Zeit geernteten Äpfeln.
Auch der Winzer Thierry Usseglio, bei
dem die Festivalreisenden Stammkunden sind, hat sie entsprechend im Personengedächtnis abgelegt: „Ah, es ist wieder Festival!“, grüßt er. Er selbst interessiert sich ebenfalls nicht sonderlich für
Schauspiele und wundert sich entsprechend über diese Deutschen, die sich der
Hitze aussetzen und der Kultur. Aber
auch er ist natürlich zuvorkommend
seiner Kundschaft gegenüber.
Der Hund, der nächtens aus dem Apfelhain hinter dem Ferienhaus gerannt
kommt, muss derlei Rücksichten nicht
nehmen. Er stoppt vor der Terrasse,
kackt vor aller Augen auf die Wiese und
entschwindet so schnell, wie er aufgetaucht ist, wieder in der Nacht. Auch eine
Art Schauspiel.
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