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Magazin Wasser Prawda Nr. 8/2012 Woody Guthrie: Der Vater aller Songwriter? •B.B. & The Blues Shacks •Jon Lord und der Blues •Silke Peters im Interview •Vorabdruck: Ich verstehe nichts vom Monsun •Bücher von Barbara Mürdter, Ahmadou Kourouma, Annabel Pitcher •Bilder von Isabel Wienold und Zbigniew Przadka w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Die Redaktion Empfiehlt: B.B. & The Blues Shacks Come Along (CrossCut) Soulblues von einer der besten Bluesbands Europas: „Come Along“ setzt die Geschichte der Blues Shacks wesentlich blueslastiger als „London Days“ fort. Rick Estrin And The Nightcats - One Wrong Turn (Alligator/ in-akustik) Wer auf rockenden, swingenden, partytauglichen Blues steht, kommt im Sommer 2012 an dem Album nicht vorbei. Rick Estrin ist nicht nur als Bluesharpspieler grandios - er ist einfach einer der intelligentesten Songwriter im Blues zur Zeit. Tobias Kirmayer presents: The Guy Davis - The Adventures of Fishy Waters: In Bed With The Blues Die Aufforderung zum Anfang sollte man ernst nehmen: Füße hoch und zuhören. Wenn man noch dazu einen brennenden Kamin hat, dann umso besser. Und was dann kommt, kann man nur als eine der besten Lehrstunden über die Geschichte des Blues bezeichnen, die je auf Platte gepresst wurden. Benoit Viellefont Hot Club Live at the Quecumbar (JohnJohn) Ob mit seinem Orchestra oder dem akustischen Hot Club - der in London lebende Gitarrist und Sänger Benoit Viellefon gehört zu den besten Musikern im Bereich der Swingmusik in Europa. Sein zweites Album „Live at the Quecumbar“ entstand in ganz klassischer Manier: Lediglich ein Mikrofon für die sechs Musiker in einem kleinen Club.. Editorial dener Autoren und Songwriter einzubeziehen scheiterten leider. Aber natürlich gibt es neben einer ausführlichen Biografie des Songwriters Hörempfehlungen und die Rezension der gerade erschienenen Biografie von Barbara Mürdter. So ausführlich ist das Ganze geworden, dass dafür kaum noch mehr Artikel im Musikbereich Platz hatten. Von den Plattenrezensionen natürlich abgesehen. Wenn von Kassel in Sachen Kunst die Rede ist, dann wird immer nur von der documenta geschrieben in diesem Jahr. Doch auch jenseits der Weltschau sind in der Stadt interessante Künstler und ihre Arbeiten zu entdecken. Unser Autor Lüder Kriete stellt als ersten Teil einer losen Reihe in diesem Heft Arbeiten des polnischen Künstlers Zbigniew Przadka vor. Damit begeben wir uns in unserem Feuilleton auf ein neues Gebiet. Weitere Artikel zu bildenden Künstlern und ihren Arbeiten sind schon geplant. Auch Nachrichten aus Literatur und Kultur soll chon seit Anfang 2012 gab es die Über- es in der „Wasser-Prawda“ zukünftig regelmäßilegung, den 100. Geburtstag von Woody ger geben. Den Anfang macht unter anderem Guthrie ausführlich in der Wasser-Prawda ein Bericht über den diesjährigen Ingeborgzu begehen. Doch Pläne, dazu Texte verschie- Bachmann-Preis bei den Tagen deutschsprachiger Literatur in Klagenfurt von Erik Münnich. Außerdem gibt es ein Interview mit der Stralsunder Autorin und Künstlerin Silke Peters und einen Vorabdruck aus ihrer Erzählung „Ich verstehe nichts vom Monsun“, die im September im Greifswalder freiraum-verlag erscheinen wird. Und Ole Schwabe beginnt mit dem ersten Teil einer Serie über das Werk des afrikanischen Autors Ahmadou Kourouma. S Inhalt Impressum Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraum-verlag Greifswald veröffentlicht und erscheint monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de verschickt. Musik Strom & Wasser beim Bardentreffen 2012 Wasser-Prawda Nr. 8/2012 Redaktionsschluss: 1. August 2012 4 Redaktion: Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.) Leiter Feuilleton: Erik Münnich Woody Guthrie 5 Hörempfehlungen10 Rezension: Barbara Mürdter: Woody Guthrie 14 Jon Lort & der Blues Mitarbeiter dieser Ausgabe: Ole Schwabe, Kristin Gora, Lüder Kriete, aKi 15 Adresse: Redaktion Wasser-Prawda c/o wirkstatt Gützkower Str. 83 17489 Greifswald Tel.: 03834/535664 www.wasser-prawda.de mail: redaktion@wasser-prawda.de Album des Monats: B.B. & The Blues Shacks 16 Rezensionen A-Z17 Literatur Literaturmeldungen 26 Anzeigenabteilung: marketing@wasser-prawda.de Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des Erscheinungs-Monats. Im Gespräch: Silke Peters 29 Vorabdruck aus der Erzählung „Ich verstehe nichts vom Monsun“ 31 Ole Schwabe: „Von dem sprechen, was geschehen ist“ - Das Werk des Ahmadou Kourouma (Teil 1/3) 34 Kristin Gora: Annabel Pitcher - Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims36 Die nächste Ausgabe erscheint am 22. September 2012. Kunst Zbigniew Przadka - yesterday‘s heroes Isabel Wienold: Digitale Collagen 37 40 Edgar Wallace - A.S. Der Unsichtbare (2) 42 w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 3 © wasser-prawda Musik Strom und Wasser feat. The Refugees beim Bardentreffen Nürnberg 2012 „Hiergeblieben“ hätte man als Motto über diesen Abend schreiben können. Und das genau war mein Gefühl bei dem Konzert während des Nürnberger Bardentreffens. Was wir in diesem Land vielen Flüchtlingen antun, ist nämlich einfach zum Heulen. Es soll Zeiten gegeben haben, wo Rap und Hiphop politisch waren. Wo Musiker mit dieser Musik die Verhältnisse auf den Punkt brachten und den Verhältnissen kräftig ihn den Arsch tratten. Genau das passiert an diesem Abend: Hier brüllen uns die vergessenen Insassen der Asylbewerberheime ihre Verzweiflung über die real exsitierenden Verhältnisse ins Gesicht. Da steht der 19jährige Rapper auf der Bühne, der demnächst nach Dagestan abgeschoben werden soll. Als Hans Ratz das erzählt, ist tiefe Betroffenheit in vielen Gesichtern zu sehen. Es ist ein harter Abend, der die Brutalität der europäischen Asylpolitik an lebenden Menschen deutlich macht. Das Tragische ist, dass großartige Musiker hier eine politische Botschaft rüber bringen müssen. anstatt mit ihrem Publikum eine Party zu feiern. Aber wie soll man eine Party feiern, wenn alle wissen, dass alle auf der Bühne (bis auf die mit einem deutschen Pass) am nächsten Tag wieder ihrer Residenzpflicht nachkommen müssen? Und doch findet diese unmögliche Party auf der Tour von Strom und Wasser mit The Refugees immer wieder statt. Wichtig an diesem Abend war, dass 4 eine Menge Leute die Unterschriftenliste für ein Bleiberecht der Musiker unterschrieben haben. Und vielleicht hilft das, was Hans Ratz und seine Band hier möglich machen, dass die Wähler in diesem Lande endlich begreifen, dass sie die Politiker zwingen können, die Verhältnisse zu ändern. Irgendwann tauchte dann in Nürnberg noch ein Transparent gegen Deportationen nach Afghanistan auf. So richtig diese Forderung auch ist: Ich fragte mich, wieso nur Afghanistan drauf stand. aKi © wasser-prawda Musik Oklahoma-Cowboy, Kommunist, Songschreiber-Legende: Woody Guthrie (1912-1967) Wie soll man sich Woody Guthrie nähern? Mit Dylans verklärtem Blick auf den großen Helden? Mit dem kritischen Blick auf einen Musiker, der sich Zeit seines Lebens niemals von seiner Verehrung für Stalin losgesagt hat? Mit dem Blick auf die Songs, die heute noch immer von Folk bis Punk neue Interpretationen erfahren? Klar ist: Neben Dylan war Woody Guthrie (1912-1967) der einflussreichste Songschreiber der USA im 20. Jahrhundert. Und ohne ihn hätte es Dylan so nicht gegeben. Von Raimund Nitzsche 5 © wasser-prawda Musik Vorige Seite: „This Machine kills Fascists“ auf Woody Guthries Gitarre wurde zum Markenzeichen. oben: Das Haus der Guthries in Okehma im Jahre 1979. Die Reste des inzwischen abgerissenen Hauses lagern heute bei einem Trödler. Vorbemerkungen 2012 talismus von der Privatisierung der Gewinne und Kapitalismuskritik ist wieder chic im Jahre 2012. Sozialisierung der Verluste erinnert wird. Und Sie ist wieder angebracht in Zeiten, wo man bei mit Bewegungen wie occupy äußert sich die Kriden Versuchen zur Bewältigung der Bankenkrise tik am global vernetzten Kapital auch wieder auf immer wieder an Marxens Grundgesetz des Kapi- den öffentlichen Plätzen. Doch etwas ist anders als etwa in den Jahren der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts oder den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Es ist ein Protest ohne eine wirklich einende Musik. Es gibt sie nicht mehr, die Sänger, die die Probleme einleuchtend und einigend auf den Punkt bringen und Melodien zum Mitsingen finden. Klar, occupy ist vor allem in Deutschland weit davon entfernt, eine einheitliche Bewegung zu sein. Es ist eine Ansammlung der verschiedensten Gruppen von Unzufriedenen von Altlinken (mit ihren immer noch vorhandenen Träumen vom Kommunismus) über grüne Wohlstandsbürger mit einem allgemeinen Unwohlsein beim Blick auf die Welt bis hin zu den Opfern der Krise, die Jobs oder in den Vereinigten Staaten auch ihre Häuser verloren haben. Niemals wären diese Menschen etwa bei Konzerten aufeinander getroffen. Doch im Protest gegen das „eine Prozent“ der Gesellschaft waren sie zusammen aktiv. Die Heimat des Okie-Cowboys Wobei auch der Weg von Woody Guthrie zu einem linken Songschreiber nicht von vornherein vorgezeichnet war, sondern sich eher nebenbei aus der Biografie und seinem unbändigen Freiheitswillen entwickelte. Ganz patriotisch nannten die Eltern ihren am 11. Juli 1912 geborenen Sohn nach dem Präsidenten Woodrow Wilson Guthrie. Doch außer seiner Mutter nannte ihn bald jeder nur noch Woody. Sein Vater lebte als Zu den Illustrationen Die amerikanische Regierung hat die Sandstürme des Dust Bowl ebenso dokumentieren lassen wie die Folgen der Flüchtlingsbewegung in Richtung Kalifornien. Einige dieser Bilder (die mittlerweile gemeinfrei sind) haben wir als Illustration ausgewählt. 6 © wasser-prawda Musik konservativer Kleinstadtpolitiker und Landspekulant in der Kleinstadt Okehma in Oklahoma. Als Woody acht Jahre alt war, wurde Erdöl gefunden und die eigentlich ziemlich verschlafene Gegend wurde jetzt zum Zentrum für Arbeiter, Spekulanten, Gauner, Hausierer, Wanderprediger und alle möglichen anderen Bevölkerungsgruppen. Auch Bluesmusiker, Gospelsänger oder Indianermusiker fanden sich ein und erweiterten das musikalische Weltbild des Jungen, der bislang hauptsächlich die Lieder der CowboyFamilie seines Vaters und die Balladen aus den Appalachen, die seine Mutter sang, gehört hatte. Wenn jemand bei dem Ölboom reich wurde - die Guthries zählten nicht dazu. Denn immer wieder hatten sie wirtschaftliche und familiäre Schläge zu verkraften: Das neue Haus der Familie war schon 1909 bald nach der Fertigstellung in Flammen aufgegangen. Und 1919 starb Woodys Schwester Clara, als ihr Kleid bei Hausarbeiten Feuer fing. Das größte Drama war allerdings die Krankheit der Mutter, die an Huntington litt, einer fortschreitenden Degeneration der Nerven. Irgendwann war sie körperlich und geistig völlig zerrüttet und musste in eine eine Anstalt eingewiesen werden. Sein Vater hatte bei einem Brand 1927 schwere Verletzungen erlitten und war im Grunde genommen pleite. Während Woody halb auf der Straße aufwuchs, fand sein Vater in Pampa/Texas eine Arbeit als Pförtner in einem Bordell. Woody selbst schlug sich mit dem Malen von Ladenschildern und als Musikant durch. Musikalische Vorbilder waren für ihn „The Singing Breakman“ Jimmie Rogers und die Carter Family. Und nebenbei las er jedes Buch in Reichweite, ob es sich nun um Religion, Psychologie oder Romane handelte. Mit seiner ersten Frau Mary zog er gemeinsam für eine Weile mit einem Wanderzirkus umher. Denn ein sesshaftes Leben war da schon nichts mehr für ihn. 7 © wasser-prawda Musik „Dust-Bowl“ Verheerende Sandstürme brachten in den 30er Jahren das Leben der einfachen Bevölkerung in Oklahoma, Texas, Arkansas und anderen Bundesstaaten komplett aus dem Gleichgewicht: Mit einem Schlag verwandelten sich die Felder, die in den Prärien im später so genannten „Dust Bowl“ angelegt worden waren, in unfruchtbare Wüsten. Zu Tausenden zogen die Menschen mit ihren Habseligkeiten in Richtung Kalifornien. Hier beginnt die Legende der Route 66. Und hier beginnt auch die Kunst so verschiedener Menschen wie die Romane von John Steinbeck und die Musik von Woody Guthrie. Eines seiner ersten Lieder hieß: „So Long, It‘s Been Good To Know You“ und erzählt die Geschichte des Sandsturmes. 1937 trampte Guthrie ohne seine Familie nach Kalifornien und begann eine Karriere als singender Cowboy. Das war damals im Gefolge von Gene Autry der letzte Schrei in Hollywood. Gemeinsam mit seinem Cousin Jack ergatterte er einen Job bei einem regionalen Rundfunksender. Als der Cousin ausstieg - schließlich gab‘s für die Auftritte kein Geld, fand Woody mit „Lefty Lou from Old Mizoo“ eine musikalische Partnerin. Der Erfolg gerade bei den Zuwanderern aus Oklahoma und Arkansas führte dazu, dass die beiden schließlich einen bezahlten Job beim Sender bekamen und Woody endlich seine Familie nach Los Angeles holen konnte. Das Familienleben war aber nur kurz. Denn bald schon trampte Woody quer durch Kalifornien und erkundete, wo und wie die Zugewanderten in dem Bundesstaat lebten. Und das war für ihn erschreckend: Riesige Zeltlager und Barackensiedlungen ohne sanitäre Einrichtungen, ohne Schulen oder gar medizinische Versorgung. Und die Löhne auf den kalifornischen Farmen waren durch das Überangebot an Arbeitskräften auf niedrigstem Niveau. Hier begann Woody nicht nur sich politisch nach links zu orientieren, dies führte vor allem auch dazu, dass er eigene Lieder als bissige Kom- 8 mentare zur Zeit schrieb wie „Do Re Mi“ über das Geld, das den Zuwanderern fehlt und sie in Kalifornien zu einem Elendsdasein verdammt. Gemeinsam mit dem kommunistischen Journalisten Edward Robbin und dem Schauspieler Will Geer zog er bald darauf durch die „Okie-Lager“ und rezitierten und sangen vor Zuwanderern, bei Streiks und Gewerkschaftsveranstaltungen. Guthrie betrachtete sich jetzt als Kommunist und schrieb für die Parteizeitung eine regelmäßige Kolumne. So lange bis der Wandertrieb ihn mal wieder packte und er erst seine Familie zurück nach Texas verfrachtete und selbst nach New York trampte. Der Beginn des Folk-Revival in New York Als „Beginn der Volkslied-Renaissance“ oder anders ausgedrückt als Beginn des Folk-Revivals wird jenes Konzert angesehen, dass Will Greer am 3. März 1940 im Forrest Theater in New © wasser-prawda Musik York organsierte. Neben Greer und Guthrie traten hier die bekanntesten Musiker der linken oder linksliberalen Szene auf, um Geld für die von den Sandstürmen Betroffenen zu sammeln: Alan Lomax mit seiner Schwester Bess, Leadbelly, Josh Whith und das Golden Gate Quartett. Und - auch wenn sein Auftritt wegen Nervosität ziemlich in die Hosen gegangen sein soll - Pete Seeger. Lomax lud Guthrie danach nach Washington ein, um mit ihm ein Interview für die Library of Congress aufzunehmen, wie er es schon mit Leadbelly, Big Bill Broonzy und Jelly Roll Morton gemacht hatte. Woody blieb gleich in der Stadt und quartierte sich bei der Familie Lomax ein. So langsam wurde Woody mit seiner Musik auch überregional bekannt. Er trat in landesweiten Rundfunksendungen mit seinen Liedern auf und veröffentlichte bei RCA ein Album mit den „Dust Bowl Ballads“. Wobei Album hier noch ganz klassisch gemeint ist: Zwölf Platten mit je zwei Liedern, die in einem Album geliefert wurden. Bei Auflagen von rund 1000 Kopien war das natürlich kein großer Hit. Aber in der Szene war er als kritischer Songkommentator angekommen mit Songs wie „Tom Joad“ (nach der Figur aus Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“). Mit Pete Seger und Alan Lomax arbeitete er außerdem an der Herausgabe eines Buches mit Liedern von Joe Hill, Maurice Sugar und anderen Songschreibern unter dem Titel „Hard-Hitting Songs for Hard-Hit People“. Das erschien aller- „I hate a song that makes you think that you are not any good. I hate a song that makes you think that you are just born to lose. Bound to lose. No good to nobody. No good for nothing. Because you are too old or too young or too fat or too slim too ugly or too this or too that. Songs that run you down or poke fun at you on account of your bad luck or hard traveling. I am out to fight those songs to my very last breath of air and my last drop of blood. I am out to sing songs that will prove to you that this is your world and that if it has hit you pretty hard and knocked you for a dozen loops, no matter what color, what size you are, how you are built. I am out to sing the songs that make you take pride in yourself and in your work.“ 9 © wasser-prawda Musik Vorige Seite oben: Notizen von Woodie Guthrie. Vorige Seite unten: Der Sänger Burl Ivers zählt ebenso wie Pete Seeger (oben) zu den Mitstreitern von Guthrie und den Vorläufern des Folkrevivals. Hörempfehlungen „Pretty Boy Floyd“) hören, als auch auf den anderen drei Scheiben thematische Sammlungen. CD 2 etwa ist zu Recht mit „Woodys Roots“ betitelt, enthält es doch Songs die zu den Klassikern der Folkmusik auch dadurch wurden, dass Guthrie und andere seiner Zeitgenossen sie interpretierten. Die dritte CD („The Agitator“) bringt nicht nur einige der Gewerkschaftslieder, die er auch mit den Almanac Singers aufgeführt hat sondern auch einige seiner antifaschistischen Kriegslieder. Für BluesMy Dusty Roads fans ist dann besonders Teil 4 interessant. Denn hier spielt Guthrie zuZahllos sind mittlerweile die Zu- sammen mit Sonny Terry und dem sammenstellungen von Guthrie- Folksänger Cisco Houston. Etliche Songs. Wenn man eine umfassende der Titel sind spontane Bluessjams und für ihr Alter unwahrscheinlich und lassen einen Guthrie erkennen, gut klingende Sammlung sucht, der wohl nie wieder so meisterhaft dann sollte man zu der 2009 veröf- als Gitarrist zu hören war. (Rounfentlichten Box „My Dusty Road“ der) greifen. Grundlage dieser Sammlung bilden - und daher klingen sie Woody at 100: The Woody derartig frisch und klar - Metallma- Guthrie Centennial Collecster von Aufnahmen, die Guthrie ab 1944 für Herbert Harris und Moses tion‘ Asch gemacht hat und die 60 Jahre ungestört in einem Keller von Broo- Pünktlich zum 100. Geburtstag erklyn überlebt haben. Gegliedert in schien im Sommer 2012 eine weivier Kapitel kann man so einerseits tere Box mit drei CDs. Smithonian/ die „Greatest Hits“ von Guthrie Folkways hat - mit einem umfas(zwischen „This Land“, „The Sin- senden und großzügig illustrierten king of the Reuben James“ und Buch versehen - ein luxuriöses Paket 10 zusammengestellt, dessen besonderer Kaufanreiz in 21 bislang unveröffentlichten Aufnahmen besteht. Dabei sind vier erst kürzlich entdeckte Nummern aus dem Jahr 1939, die aufgenommen wurden in der Zeit, als er für den Sender KFVD in Los Angeles arbeitete. Die Texte im Begleitbuch stammen unter anderem von Robert Santelli, Direktor des Grammy Museums (und Autor des noch immer unversichtbaren „Big Book of The Blues“. (Smithonian/ Folkways) Woodies Erben oder: Neue Songs aus alten Texten Dass seine Texte heute noch im- mer bewegen können, wurde Ende des Jahrhunderts deutlich, als Billy Bragg gemeinsam mit Wilco „Mermaid Avenue“ veröffentlichte: Hier treffen gleich zwei Traditionslinien aufeinander, die von Guthrie in die Gegenwart reichen. Auf der einen Seite der vom Punk herkommende britische Songwriter - groß geworden in der britischen Gewerkschaftsbewegung der 80er Jahre. Und dann eine Band, die versucht, den Country von sämtlichen historischen Staubschichten zu befreien und als Musik des späten 20. Jahrhunderts auch für das Rockpublikum zu spielen. Inzwischen ist „Mermaid Avenue“ auf drei CDs angewachsen. Und 2012 erschien zum Record Store Day dann die wahrscheinlich definitive Variante der Sessions. Zu den CDs enthält die Box noch einen Dokumentarfilm, in dem Norah Guthrie und Billy Bragg auf den Spuren von Woody durch die Gegend fahren und mit Leuten in der Region ins Gespräch kommen. Mindestens ebenso anregend wenn auch musikalisch ganz anders gelagert - fiel das zweite Albumprojekt mit unveröffentlichten Guthrie-Songs aus: Hans-Eckardt Wenzel hat für Ticky Tock nicht nur politische Texte, sondern auch © wasser-prawda Musik Oben: Grand Coulee Damm. Rechts: Bob Dylan 1962. Kinderlieder ausgewählt und daraus eine eigentlich typisch deutsche Liedermacherscheibe gemacht. (Allerdings gibt‘s das Album auch in englischer Fassung unter gleichem Titel...) Als bislang letztes der Archiv-Projekte erschien 2012 das Album „New Multitudes“ mit dem Amrericana-Stars Jay Farrar, Will Johnson, Anders Parker und Yim Yames. Ausgewählt haben sie vor allem Liebeslieder und andere Texte, die Guthrie in den 30er Jahren in Kalifornien schrieb. Da finden sich der „Talkin Empty Bed Blues“ oder „Careless Reckless Love“ mit ihrer Sehnsucht nach einer passenden Begleiterin. Und die soll dann - schließlich ist auch das Private politisch des Sängers revolutionären Sinn erleichtern. Außerdem finden sich unter den zwölf Stücken (je drei von jedem als Leadsänger vorgetragen) Lieder, mit denen Guthrie die Menschen damals ermutigen wollte und die auch heute noch ihre Kraft behalten haben - auch wenn man Metaphern wie die einer „Hoping Machine“ gnadenlos kitschig finden mag. Doch ohne Hoffnung ist es ja nicht möglich, an den Verhältnissen etwas zu ändern. Und das war damals schon eines der wichtigsten Ziele des Dichters. Und damit ist er erschreckenderweise heute immer noch so aktuell wie damals. Raimund Nitzsche 11 © wasser-prawda Musik Oben: Die Almanac Singers. dings erst knapp 30 Jahre spätern, nachdem das Manuskript zunächst verloren schien. Zurück in New York sang er bald für verschiedene regionale Radiosender - oft auch gemeinsam mit Leadbelly oder dem Golden Gate Quartett und begann, eine halbstündige Sendereihe für die CBS zu produzieren, auch wenn der Sender bislang dafür noch keine gesicherte Finanzierung vorweisen konnte. Insgesamt ging es ihm wirtschaftlich langsam besser. Rr konnte seine Familie nach New York holen und endlich mit den Kindern gemeinsam leben. Daneben verschärften sich die sozialen Themen seiner Lieder, je abgesicherter er selbst leben konnte. Aus Protest gegen das damals ständig im Radio gespielte „God Bless America“ von Irving Berlin schrieb er das Lied, das manche als inoffizielle Hymne der Vereinigten Staaten ansehen: „This Land Is Your Land“ gehört heute in die Schulbücher nicht nur in den USA. Selbst in der DDR wurde das Lied als Beispiel für progressive Kunst im Kapitalismus behandelt. Dabei werden doch zumeist die Verse fortgelassen, in denen Guthrie am deutlichsten die sozialen Zustände im Land anprangert: As I went walking, I saw a sign there, And on the sign there, It said „no trespassing.“ But on the other side, it didn‘t say nothing! That side was made for you and me. In the squares of the city, In the shadow of a steeple; By the relief office, I‘d seen my people. As they stood there hungry, I stood there asking, Is this land made for you and me? sendungen hin und machte sich mal wieder auf Tramp- oder in dem Fall besser: auf Kneipentour. Und dann ging es gleich ganz zurück nach Kalifornien. Doch auch dort wollte man mit dem Doch dann bot ihm eine Tabakfirma eine eigene Kommunisten erst mal nichts zu tun haben. wöchentliche Sendung an, für die er 200 Dollar Schließlich waren die Kommunisten damals erhalten sollte. Plötzlich veränderte er einige sei- strikt gegen einen Kriegseintritt der USA auf der ner Lieder und machte aus ihnen Werbesongs. Seite Großbritanniens und verteidigten sogar den Aber der große Durchbruch sollte ihm auch so Hitler-Stalin-Pakt und den sowjetischen Überfall nicht gelingen. Denn jetzt wurde er öffentlich als auf Finnland. Kommunist denunziert. Und das kam im OkAm Grand Coulee Damm tober 1940 einem beruflichen Knockout gleich. Woody machte sich daher auf nach Portland, wo Zumindest brachte es Woody mal wieder aus am Columbia-River zwei große Staudämme erdem Gleichgewicht. Er schmiss seine Rundfunkrichtet werden sollten und über das Regierungspler wie die 2011 von Chrom Dreams veröffentlichte „Bob Dylan‘s Woody Guthrie Selection“ eigentlich auf der Hand. Akribisch listet das Booklet auf, wann Dylan die Songs gespielt oder gar aufgenommen hat.Doch ist die Doppel-CD wesentlich mehr, nämlich eine Zusammenstellung von vielen der besten Songs, die Guthrie je aufgenommen hat. Natürlich fehlen da weder „This Land Is Your Land“ noch „I Ain‘t Got No Home“. Aber auch Traditionals wie „The House of The Rising Sun“ oder „Froggie Went A-Courtin“ oder Songs wie Jimmy Guthrie für Dylanologen Rodgers „Blue Yodel Nr. 8 (Muleskinner Blues“ Die Dylanologen durchforsten das Wirken von finden sich unter den 41 Aufnahmen. So ergibt Bob Dylan bis in jede Einzelheit. Etwa wann er sich ein Überblick über einen großen Teil der bei welchem Konzert welches seiner Lieder in Lieder, die beim Folkrevival in den 50er Jahren welchem Tempo gespielt hat. Da lag ein Samzu Standards für die jungen Barden wurden. 12 © wasser-prawda Musik projekt auch ein Dokumentarfilm geplant war. Allerdings bekam er nicht den erhofften Job als Folksänger in dem Film, wurde aber für eine Weile als Landvermesser bei dem Projekt eingesetzt. Trotzdem schrieb er in der Zeit eine ganze Serie von Liedern über das Projekt, den Fluss und die Region. Großspurig seine Verse, die die damals größte Talsperre der Welt als größtes aller Weltwunder preisen: „Now the world holds seven wonders that the travelers always tell, Some gardens and some towers, I guess you know them well. But now the greatest wonder is in Uncle Sam‘s fair land, It‘s the big Columbia River and the big Grand Coulee Dam. (...)“ Nach einem Monat allerdings war der Traum aus, Der Film wurde niemals fertiggestellt. Woody pleite, seine Frau wollte die Scheidung, das Auto war beschlagnahmt. Und für den Rückweg nach New York fand sich nur ein Viehwaggon. In der Almanac-Kommune Pete Seeger hatte in New York inzwischen eine Gruppe musizierender Freunde gefunden, mit denen er eine lose Band gründete, die vor allem bei politischen Veranstaltungen auftrat. Doch die „Almanac Singers“ schafften mit ihren alten und neuen Folksongs den Schritt heraus aus der reinen Gewerkschaftsszene. Oder zumindest hätten sie ihn ein paar Mal fast geschafft, wenn sie mit ihrer politischen Ausrichtung nicht immer wieder angeeckt wären. So sangen sie zunächst gegen die Politik von Präsident Roosevelt und gegen eine Kriegsbeteiligung der USA. Dann allerdings griff Deutschland die Sowjetunion an und die Stimmung im Land kippte. Guthrie - inzwischen Teil der Band - nahm mit ihnen gemeinsam schnell ein paar Shanties und Siedlerlieder auf Platte auf. Und dann gingen sie auf Tour mit dem von den Einnahmen gekauften Buick. Überall wo Streiks waren, traten die Sänger auf in ihren Arbeitsklamotten - damals noch ein Affront gegen das System. Schließlich kaufte man gar ein gemeinsames Haus und gründete eine Kooperative. Später nannte man sowas wohl Kommune oder zumindest WG. Und vom Chaos her muss es wohl vergleichbar gewesen sein, wenn man den Ausführungen von Victor Grossman in seinem Buch „If I Had A Song“ glauben kann. Zu dem losen Haufen kamen im Laufe der Zeit noch eine Menge Musiker hinzu. Auch die Bluesmen Sonny Terry und Brownie McGhee, die von Lomax in die New Yorker Szene geholt worden waren, gehörten irgendwann dazu. Schließlich waren soviele Leute Teil der Almanac Singers, dass man gleichzeitig an verschiedenen Orten Konzerte geben konnte. Doch durch den Gang der Geschichte war immer wieder mal ein kompletter Wechsel des Programmes fällig: Als Japan die USA angriff, hörten die Gewerkschaften sofort mit ihren Streiks auf und unterstützten die Kriegswirtschaft. Und damit waren die Auftrittsmöglichkeiten der Streikbarden dahin. Aber schnell hatten sie Anti-Hitler-Lieder geschrieben, die von Decca sogar als Album veröffentlicht werden sollten. Im New Yorker Nachtclub „Rainbow Room“ bekamen sie ein langfristiges Engagement mit ihren Folksongs. Und schließlich waren sie sogar in landesweiten Radiosendungen zu hören. Nur dass dann plötzlich New Yorker Zeitungen Schlagzeilen wie „Friedenschor wechselt Melodie“ oder „Sänger in KriegsmoralSendung zwitscherten auch für Kommunisten“ veröffentlichten, brachte die Karriere der Almanac Singers zu einem plötzlichen Ende. Ein Teil der Gruppe zog nach Detroit, um dort vor den Arbeitern in der Autoindustrie zu singen. Pete Seeger wurde im Juli 1942 zur Armee eingezogen. Und Woody Guthrie trat in die Handelsmarine ein, wo er in Geleitzügen über den Atlantik Dienst als Schiffskoch tat und gleich zwei Mal versenkt wurde. nismus der McCarthy-Ärä so gut wie unmöglich, damit öffentlich wirken zu können. Josh White, Pete Seeger, Paul Robeson und andere wurden vor den Ausschuss zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit geladen und gaben dort ganz unterschiedliche Bilder ab. Während White versuchte, durch eine Aussage seine Karriere zu retten, auch wenn er damit Robeson ans Messer lieferte, versuchte Seeger ohne Verleumdungen und ohne Zugeständnisse durchzukommen. Guthrie lebten inzwischen mit seiner neuen Frau Marjorie zusammen und versuchte nach seiner fiktiven Autobiografie „Bound For Glory“ ein zweites Buch zu schreiben. Daneben schrieb er seiner Tochter Cathy eine Menge Kinderlieder. Als sie mit vier Jahren durch ein Feuer starb, fiel Guthrie in eine tiefe Depression. Und schließlich brach bei ihm die gleiche Krankheit aus, die auch seiner Mutter zum Verhängnis wurde. Nachdem er im Zustand der geistigen Umnachtung seine Frau und die Kinder mehrfach angegriffen hatte, ließ er sich in ein Krankenhaus einliefern, wo er die letzten Jahre seines Lebens blieb. Eigentlich war er von der Welt schon fast vergessen. Doch dann kam Bob Dylan als Pilger daher, sang für ihn und sang öffentlich seine Lieder. Und damit war spätestens die Legende geboren. Ganz unabhängig von Fragen des Antikommunismus oder was auch immer. Nur noch von alt gewordenen Antikommunisten wird er heute noch wegen seiner politischen Gesinnung abgelehnt. Und auch wenn in seiner Geburtsstadt noch immer kein Museum an ihn erinnert, steht doch zumindest auf einem Wasserbehälter am Stadtrand groß „Home of Woody Guthrie“. Auch wenn das so ziemlich das einzige Zeichen dafür ist, dass man sich in Okehma an den wohl berühmtesten Sohn der Stadt überhaupt erinnert. Selbst die Stelle, wo bis Ende der 70er Jahre das Haus der Guthries stammt, ist heute komplett zugewachsen. Vom Haus selbst sieht man noch die Fundamente. Und als Billy Der Vater des Folkrevival Bragg Anfang des Jahrhunderts dort war, bot ein Auch wenn die Musiker um Pete Seeger auch Trödler Holz an, was von dem Haus der Guthries nach dem Krieg ihr politisches Engagement fort- stammen soll. Einen Beleg allerdings gab es nicht setzten, wurde es doch durch den Antikommu- dafür. 13 © wasser-prawda Musik Wenn man sich mit Woody Guthrie beschäftigen will, ist die Auswahl an deutschsprachigen Büchern nicht sehr groß. Pünktlich zum 100. Geburtstag des Songwriters erschien im Verlag Neues Leben eine faktenreiche Biografie der Journalistin Barbara Mürdter. Wenn man heute Woody Guthrie als Vater der amerikanischen Folkmusik betrachtet, gar als ersten Punker, dann haben Musiker daran Anteil, die sich noch heute auf ihn berufen. Dylan, Joe Strummer, Billy Bragg,... Die Generation der Nachfahren des Songwriters zieht sich quer durch alle Musikstile. Und mittlerweile sind es nicht nur seine politischen Songs, für die man ihn verehrt. Gerade durch Projekte wie die „Mermaid Avenue“-Alben von Billy Bragg und Wilco oder „Tic Toc“ von Wenzel ist klar geworden, wie vielseitig Guthrie als Lyriker war. Von gesellschaftskritischen Songs bis hin zu schwelgerischer Liebeslyrik, von Kinderliedern bis hin zu jüdischen Liedern reicht das Spektrum. Woody Guthries Werk ist mindestens ebenso komplex wie sein Leben. Das Wichtigste an Barbara Mürdters Biografie, ist die Tatsache, dass sie (trotz des plakativen Untertitels) vor den Widersprüchen und Brüchen in Guthries Biografie nicht zurückschreckt. Aus den verschiedensten Quellen (leider meist aus schon veröffentlichten Büchern) hat sie Guthries Leben rekonstruiert und dabei besonderen Wert auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA seinerzeit gelegt. Denn ohne diese wäre kaum zu verstehen, wie Guthrie zu einem Liedermacher wurde, der sich ganz bewusst politisch engagierte. Doch Mürdter geht eben auch auf das turbulente Privatleben Guthries ein und schildert das musikalische Umfeld um Pete Seeger, die Almanac Singers oder die Arbeit der Lomax-Familie. Von Oklahoma über Kalifornien nach New York, von der Weltwirtschaftskrise über die Zeit des New Deal bis nach dem Zweiten Weltkrieg entsteht so nicht nur das Bild eines unangepassten Lebens sondern auch das einer sich verändernden Gesellschaft in den Vereinigten Staaten. Und damit ist Mürdters Biografie zur Zeit wahrscheinlich das Beste, was man in deutscher Sprache zu Guthrie finden kann. Wenn ich von einer Biografie etwas erwarte, dann sind es aber nicht allein die Fakten eines Lebens. Viel mehr will ich auch verstehen, wie ein Mensch gedacht hat, wie er zu seinen Werken wirklich gekommen ist. Und hier versagt leider die Herangehensweise der Autorin. Es fehlt eine wirklich engagierte und persönliche Auseinandersetzung mit seinen Songs, mit seiner Musik. Es fehlt der Mut, persönliche Motive in die Darstellung mit einzubringen. Immer wenn es um Kunst, um Musik oder Literatur geht, ist die klassische Herangehensweise der nüchternen Betrachtung für mich letztlich unbefriedigend. Bei allen Fakten bleibt Guthrie so seltsam unnahbar und hölzern. Das ist wirklich schade. Auch macht das Fehlen von Fußnoten die Arbeit für wissenschaftliche Weiterarbeit leider untauglich. (Besonders störend ist das für mich bei den zahlreichen Zitaten aus Songs oder Aufsätzen, die als „Randbemerkung“ das Buch auflockern. Nicht 14 immer wird aus dem laufenden Text deutlich, aus welchem Text die Zitate gerade stammen.) Für eine weitergehende Auseinandersetzung kann man Bücher wie „Prophet Singer. The Voice and Vision of Woody Guthrie“ von Mark Allan Jackson heranziehen. Wo Mürdter die vollständigen Fakten eines Lebens zusammenträgt, widmet sich dieser ganz gezielt seiner Art des Songwritings und wie genau seine Lieder von der Politik beeinflusst wurden und selbst politische Änderungen anregten. Leider gibt es dieses Buch noch nicht in deutscher Übersetzung. Was allerdings anlässlich des 100. Geburtstages von Guthrie in einer Neuauflage herausgekommen ist, ist Guthries autobiografischer Roman „Bound For Glory“ - in Deutschland verkauft als „Dies Land ist mein Land“. Und auch wenn man Guthrie nicht wie manche Kritiker mit James Joyce vergleichen kann: Das ist sicherlich eine anregende Lektüre und eine Einführung in das wilde Denken des Songwriters. Raimund Nitzsche Barbara Mürdter: Woody Guthrie Die Stimme des anderen Amerika Verlag: Neues Leben; Auflage: 1 (15. Juni 2012) 240 Seiten € 17,95 ISBN-13: 978-3355018012 © wasser-prawda Musik Jon Lord und der Blues Es ist schon eine Schande, dass man oft erst durch Todesnachrichten dazu angeregt wird, sich wieder mit der Musik seiner Jugendhelden zu beschäftigen. Deep Purple war irgendwann erledigt für mich. Die Reunion der 80er Jahre überzeugte mich nicht. Ich wollte mir die Erinnerung an die großen Zeiten der klassischen Besetzung mit Jon Lord, Ian Gillan und Blackmores Gitarre nicht verderben. Und so entging mir die Entwicklung des Hammond-Spielers Jon Lord seither komplett. Tina Turner noch nicht zu einer Karrikatur ihrer selbst verkommen war. Und der „Walkin Blues“ mit den lang nicht mehr gehörten Basslinien von Hodgkinson ist mehr eine Hommage an die späteren Zeiten von Alexis Korner als ein Ausflug ins Delta a la Robert Johnson. Beim Schlusstitel „I‘m a Man“ kommen natürlich sofort die Erinnerungen an die Spencer Davis Group. Mag sein, dass hier der Blues nicht neu erfunUmso überraschter war ich jetzt, als ich bei der den wurde. Aber dieses Album ist nicht nur eine Recherve auf ausgerechnet Blues-Alben von ihm wirklich gute Bluesscheibe sondern auch eine stieß. Einerseits die Scheiben mit den Hoochie würdige Erinnerung an Jon Lord. Coochie Men. Aber vor allem das Live-Album Ein ganzes Stück mehr in Richtung Bluesrock mit seinem Jon Lord Blues Project. Das vor rund 800 Jazzfans in Rottweil mitge- und (leider auch) Langeweile geht das 2007 erschnittene Konzert ist so etwas wie eine Zeitreise schienene Album „Danger White Man Dancing“. zurück in den britischen Rhythm & Blues vor der The Hoochie Coochie Men (Bob Daisley, Tim Erfindung des Hardrock. Neben Jon Lord gehö- Gaze, Rob Grosser und Jon Lord) haben sich auf ren zu dieser All-Star-Band Bassist Colin Hodg- der Scheibe Gäste wie Jeff Duff, Jimmy Barnes kinson, Maggie Bell (Gesang), Miller Anderson und vor allem Ian Gillian eingeladen. Und damit (Gitarre und Gesang), Zoot Money (Keyboard sollte man die Scheibe trotz einiger Schwächen doch mal wieder einem Hörtest unterziehen. und Gesang) und Pete York am Schlagzeug. Das Programm: Klassiker bis zum Abwinken wie Leute, die es beim Blues rockiger als ich mögen, der scheinbar unverzichtbare „Hoochie Coochie werden mehr Spaß haben als Puristen. Man“ oder der „Walkin Blues“. Aber auch Tom Waits‘ „Way Down In The Hole“ oder Deep Und jetzt hör ich doch wieder mal „Made In Purples „Lazy“ und „When A Blind Man Cries“ Japan“ und lasse die Boxen dröhnen! Und um das Vergnügen komplett zu machen, nehme ich passen sich hier ein. Dass sich die Bandmitglieder das Gesangsmikro die Komplettedition der Konzerte, aus denen teilen, macht das an sich schon inspirirerte und dieser Meilenstein der Rockgeschichte zusamfaszinierende Konzert noch abwechslungsreicher. mengestellt wurde. Mehr „Smoke on the Water“ Wenn etwa Maggie Bell „Wishing Well“ röhrt, braucht kein Mensch. Aber auch nicht weniger. dann kommen Erinnerungen an eine Zeit auf, als Raimund Nitzsche 15 © wasser-prawda Platte Des Monats B.B. & The Blues Shacks Come Along Soulblues vom Feinsten: B.B. & The Blues Shacks sind dafür in Europa eine der ersten Adressen. Wesentlich bluesiger als der Vorgänger „London Days“ ist jetzt das zwölfte Album der Hildesheimer Band mit dem Titel „Come Along“. Manchen langjährigen Fans waren „London Days“ zu viel Soul und zu wenig Blues. Ich kann das nicht wirklich verstehen. Aber ich verfolge die Geschichte der Band um Michael und Andreas Arlt ja auch noch nicht seit 20 Jahren. Erst ein Sampler in einer von mir regelmäßig gelesenen Musikzeitschrift führte zur ersten Begegnung mit ihnen - und da wurden sie gar unter dem Label „Swing“ mit einbezogen. Was natürlich nur im Zusammenhang mit dem swingendem Jumpblues der 40er/50er Jahre zu verstehen ist. Ansonsten geht man völlig fehl, wenn man diese Band zum Swingrevival der 90er Jahre dazurechnet. Nein - hier ist wirklich in Deutschland eine Band gewachsen, die inzwischen einen ganz eigenen Sound gefunden hat irgendwo zwischen Soul und Blues und meilenweit entfernt von jeglicher Form des Bluesrock. Und da bildete das zu Recht hochgelobte Album „London Days“ einen Höhepunkt der Entwicklung mit dem Schwerpunkt Soul. Mit „Come Along“ geht es jetzt wieder etwas bluesiger zur Sache. Die Songs - sämtlich von den Gebrüdern Arlt geschrieben - spielen sich alle mehr oder weniger im Beziehungschaos und dem Hin- und Her der Liebe ab. Ob nun beim Opener „True Love In Vain“ mit dem schon fast zum Klischee geronne- nen Bild der Geliebten, die mit dem Morgenzug davonfährt, gespielt wird; ob gleich danach die Frau ihren Partner als „Money Tree“ ansieht und das „Home Sweet Home“ verkommen lässt - das geht immer mit einer Menge Humor zur Sache. Aber eben auch mit jeder Menge Gefühl, das für Blues und/oder Soul ja nun mal unabdingbar ist. Und damit kann sich dann jeder erwachsene Mensch irgendwie in die Stücke hineindenken und -fühlen. Denn letztlich ist doch die Liebe oder das Fehlen derselben eines der universellen Themen jeglicher Kunst und nicht nur des Blues. Wenn die Blues Shacks etwas auszeichnet, dann ist das das völlige Fehlen von Eitelkeit als Band. Andreas Arlt ist sicherlich einer der besten Bluesgitarristen des europäischen Kontinents und sein Bruder Michael zählt als Sänger ebenso zur absoluten Spitzenklasse. Ähnliches kann man auch von der Rhythmusgruppe (Henning Hauerken - b, Bernhard Egger - dr) und von Pianist und Organist Dennis Kockstadt sagen. Diese Meisterschaft wird aber fast nie in irgendwelchen effekthascherischen Soloeskapaden vorgetragen sondern immer ganz im Sinne der Songs eingesetzt. Ein längeres Solo wie in „Doesn‘t Matter Anymore“ ist da schon eine Ausnahme, über die man sich dann besonders freut. Für den vollen 16 Sound haben sich die Blues Shacks wieder mit einer Bläsertruppe (The No Blow No Show Horns) und The Shackettes als Background-Chor verstärkt. Insgesamt würde es mich nicht wundern, wenn „Come Along“ bei den Abstimmungen zum Album des Jahres ganz oben landen würde. Es ist ein rundes und zu keiner Sekunde langweiliges Album, bei dem man noch im vierten oder fünften Hördurchgang neue Nuancen entdeckt. (CrossCut/in-akustik) Raimund Nitzsche © wasser-prawda Platten klassischem Folkblues („I Believe“) über Rockabilly bis hin zu jazzigen Bluesetüden wechseln, ohne dass es dabei zur heillosen Zerfaserung seines Albums kommt. Denn es sind eigentlich immer die Songs, die die entsprechende musikalische Behandlung verlangen. Und so ist „Right On Cue“ eine jener Entdeckungen auf dem Bluesmarkt, die man guten Freunden hinter vorgehaltener Hand empfiehlt und von Al Wood & The Woodsmen - denen man hofft, dass sie so eine Right On Cue breite Aufmerksamkeit finden möBlues aus Kanada. Dieses Mal mit gen. Blues für Genießer sozusagen. der faszinierenden Bluesharp und Nathan Nörgel den Songs von Al Woods. Gemeinsam mit seinen Woodsmen musiziert der Songwriter auf seinem aktuellen Album „Right On Cue“ zwischen traditionellem Blues, Roots und Soulblues. Das kann schon manchmal ein wahrer Teufelskreis sein mit dem Blues. Noch immer trinkt sie schon früh am Morgen Whiskey, um klar zu kommen. Doch natürlich wird das so nichts. Und so fort. „Vicious Circle Blues“ ist eine dieser Arthur Alligood - One Silver hörenswerten Bluesgeschichten, die Needle Al Woods mit einer wundervollen Singer/Songwriter Arthur Allision Soulstimme und einer Bluesharp kommt aus der Gegend von Memirgendwo im Spannungsfeld zwi- phis. Sein aktuelles Album „One Silschen Little Walter und Sugar Blue ver Needle“ hat allerdings nur wenig auf seinem neuen Album vorträgt. mit Country zu tun sondern ist eine Andere dieser Geschichten erzählen Sammlung von zehn meist lyrischen - es ist ein Bluesalbum! - von Zügen, Folksongs mit Bandbegleitung. vom Alkohol, dunklen Wolken am Es sind Bilder von zerbrochenen Horizont oder bitteren Pillen, die Dingen und Gefühlen, die immer man zu schlucken gezwungen ist. wieder in den Songs auftauchen, sei Thematisch ist das natürlich keine es die Suche nach einem Fernglas, Revolution. Aber musikalisch ist das das nicht schon spinnennetzförmispannend und äußerst vielseitig. ge Risse auf den Linsen hat oder die Dass Al Woods seine ersten Sporen silberne Nadel, die man braucht, als Bluesmusiker in einem Um- um Dinge wieder zu nähen. Und es feld verdiente, dass mehr auf Punk sind auf diese Lyrik und Stimmung und Alternative stand, dass merkt abgestellte Arrangements, die „One man heute eher weniger. Viel mehr Silver Needle“ zu einem Highlight hört man, dass er im Laufe der der aktuellen Singer/SongwirterJahre die Bluesgeschichte von der Szene machen. Hier sitzt nicht der Vorkriegszeit bis in die Gegenwart einsame Barde mit seiner Gitarre. studiert und verinnerlicht hat. So Hier spielt einer, der seinen Songs kann er auf dem Album zwischen notfalls auch den nötigen Druck Big Walker - Root Walking „Americana Blues & Roots“ lautet der Untertitel des Albums, das der Bluesharpspieler und Saxophonist Big Walker jetzt veröffentlicht hat. Grundlage der Songs sind Afroame- rikanische Gedichte aus Vergangenheit und Gegenwart. Big Walker - ich geb es freimütig zu - war mir bislang unbekannt. Umso überraschter war ich. als ich unter seinen Lehrmeistern so unterschiedliche Künstler wie Paul Butterfield und Jimmy Witherspoon fand. Und über die letzten Jahrzehnte hat der Harp- und Saxophonspieler unter anderem mit Mike Bloomfield, Big Mama Thornton und Luther Tucker gespielt. Mit The Soul Rebels war er in den 80ern in Europa unterwegs und blieb für einige Jahre diesseits des Atlantic. Vor allem in Skandinavien hat er seine Fanbasis. So dürfte es auch zu verstehen sein, dass er „Roots Walking“, sein zwei- gibt, um seine Botschaft zu singen. Anklänge aus Folk, Americana und ein wenig Rootsrock sind dafür die Mittel der Wahl. Lohnt sich für Freunde dieser Musik. (NewSong Recordings) Nathan Nörgel Benoit Viellefont Hot Club Live at the Quecumbar Ob mit seinem Orchestra oder dem akustischen Hot Club - der in London lebende Gitarrist und Sänger Benoit Viellefon gehört zu den besten Musikern im Bereich der Swingmusik in Europa. Sein zweites Album „Live at the Quecumbar“ entstand in ganz klassischer Manier: Lediglich ein Mikrofon für die sechs Musiker in einem kleinen Club. Intimer und lebendiger kann man Gypsy Swing kaum präsentieren. Manchmal passieren Geschichten, für die man die Realität eigentlich wegen der Verwendung von Klischees verklagen sollte. Gerade hatte ich „Live at the Quecumbar“ im Büro erstmals aufgelegt, als ein Franzose den Laden betrat und fragte, ob wir nicht Werkzeuge zum Schleifen hätten. Haben wir natürlich nicht. Schreibfedern nutzen wir eher selten - und die entsprachen auch nicht dem Firmenprofil des fahrenden Handwerkers. Aber als er genauer auf die Musik hörte, begannen seine Augen zu strahlen. Und schon waren wir in einem Gespräch über Django Reinhardt und andere Swingmusiker der Roma. Am liebsten hätte er sich das Album sofort auf CD kopieren lassen. Und das dürfte das beste Kompliment sein, tes Soloalbum, im schwedischen Stockholm eingespielt hat. Aber der Ort ist eigentlich egal: Big Walker spielt ganz traditionellen Blues im Stil des MississippiDelta. manchmal gibt es Ausflüge nach New Orleans, und auch Chicago taucht auf der musikalischen Landkarte auf. Auch sollte man niemals vergessen, dass die Kirchen ebenso wie die Baumwollfelder zu den Quellen des Blues gehören. Und selbst Soulbluesklänge gibt es in Songs wie „Slave“. Doch die Musik - durchweg auf höchstem Niveau gespielt und ansteckend vor Begeisterung - ist nur die eine Seite dieses bemerkenswerten Albums. Spannend ist ebenso, wie Walker alte Gedichte - vom 17 was jemand einem Album beim ersten Hören machen kann. Die Musik von Reinhardt und seiner Nachfolger bildet einen Schwerpunkt von Viellefons Musik. Hinzu kommt allerdings noch „normale“ Tanzmusik der 40er Jahre und die klassische Musette, was insgesamt eine wunderbar altmodische und mitreißende Mixtur ergibt, die französischer nicht sein kann. Sein Hot Club spielt in der Besetzung von zwei Gitarren, Klarinette, Trompete, Akkordeon und Bass. Ob die Band nun Klassiker interpretiert wie etwa den unkaputtbaren „Caravan“ von Ellington oder eigene Songs von Viellefon (wundervoll besonders: My Dog Is A Gypsy“) macht bei dem Album keinen Unterschied. Denn hier werden Songs interpretiert und nicht nachgespielt. Und das macht die Band in der Retro-Swing-Szene zu einer der wichtigsten, weil bei ihr eben die Swingmusik nicht museal ausgestellt wird und tot ist. Nein, Benoit Viellefon Hot Club lässt den Swing lebendig bleiben. Und dass sie damit großen Erfolg haben und daher ihre Plattenpräsentation gar in der Royal Albert Hall feiern werden, ist wohl verdient. (JohnJohn) Nathan Nörgel Debbie Davies - After The Fall Debbie Davies ist als E-Gitarristin eine Legende im Blues. Nach Bands wie Maggie Mayall and the Cadillacs wurde sie vor allem bekannt durch ihr Engagement in der Band Kinderreim bis hin zu Balladen und eigene Texte mit der Musik zu einem Blues verbindet, der ganz tief die afroamerikanischen Traditionen atmet andererseits aber auch lebendiger ist als die Musik von Neo-Traditionalisten, wie etwa Eric Bibb (mit dem er befreundet ist) oder Keb‘ Mo‘. Vergleichen würde ich „Roots Walkin“ vom Ansatz her eher mit Alben wie den letzten Werken von Otis Taylor oder auch dem Heritage Blues Orchestra: Nur wenn der Blues die Geschichte in Erinnerung behält, bleibt er als Musik lebendig. Aber nur, wenn diese Musik auch in Gegenwart und Zukunft schaut, bleibt sie relevant. Äußerst empfehlenswert! Raimund Nitzsche © wasser-prawda Platten fasst; heute mag mancher darüber anders denken. - Die zwei Begleiter von Willy, Seth und David sind aber so gut, dass sie nicht nur mühelos, sondern mit bewunderswerter Hingabe eine Barkasse zum 4-Master gestalten. Und Mister DeVille tut das, wass er einfach intuitiv gut kann: Willy zeigt sich als souveräner Kapitän, der sein Schiff mit Bravour in den sicheren Hafen steuert. So sind auf dieser 1. DVD 17 Songs zu hören, die einen eher essentiellen Charakter haben, denn vor Improvisation und Spontanität sprühen. Die Musiker auf dieser DVD sind neben Willy DeVille - Gesang, Gitarren; Seth Farber - Piano und Backing Vocals und David Keyes - Bass und Backing Vocals. Gesamtlaufzeit 82 min. DVD 2 Willy DeVille Live At Metropol Willie DeVille - Still Alive Anlässlich seines dritten Todestages am 06. August bringt Meyer Records mit Willy DeVille Still Alive eine aufwendig ausgestattete 3er DVD-Box auf den Markt. Es gibt zwei Konzerte von Willy aus Berlin aus dem Jahre 2002, Trio und full Band. Dazu aber noch eine sehr bemerkenswerte Doku-DVD, die alleine schon lohnenswert ist. Es scheint glaubhaft, dass mit dieser Box die Fangemeinde des oft als exzentrisch eingestuften Musikers aus New York deutlich anwachsen wird. Dass Willy DeVille Zeit seines Lebens nicht zu den Gesundheitsaposteln der Szene gehört hat sollte bekannt sein. Die Zeit, in der das Ungesunde die Kreativität so unvergleichlich intensiv beflügelte, sind für den Grand Capitano des Piraten-Rock zur Zeit der Mitschnitte schon passé. So wird dem Betrachter gestattet, ein sehr intimer Voyeur voller Verantwortung und Respekt zu werden, dem neben der Musik auch ein tiefer Blick in den Privatmann Willy DeVille gewährt wird. Durch die exzellente Arbeit von Diethard Küster als Direktor des Ganzen ist ein einmaliges Dokument mit Lebensausschnitten des Künstlers und Menschen Willy DeVille entstanden. Voller Sympathie und genug Raum für die persönliche Begegnung, ist diese 3er DVD-Box für alle interessant, deren Leben mit Musik mehr ist als nur der Besuch eines Konzerts oder das Hören von audiphonen Konserven. DVD 1 Willy DeVille Unplugged in Berlin Beide Konzert-DVDs sind Neuauflagen der zum 25- jährigen Bühnenjubiläum 2002 veröffentlichten und längst vergriffenen „The Legendary Berlin Concerts“. Die beiden Konzerte wurden komplett neu vom 4:3 ins 16:9 Format umformatiert. Auf DVD 1 ist das Konzert aus der Columbia-Halle in Berlin-Kreuzberg. Dieses Trio-Konzert beeindruckt durch seine Synchronität zwischen Leben und Arbeit. Alle, wirklich alle, Musiker, Kameraleute, Publikum zeigen ein Bild von sich, das alles andere als künstlich ist, aber gerade dadurch große Kunst wird. Willy lässt sich von der Kamera über‘s Gesicht, welches wirklich nicht mehr frisch und sexy ist, streicheln. Das Publikum scheint beseelt von dem Wissen und Mitleid darüber, dass Willy auf Grund eines kurz zuvor erlittenen Autounfalls und der davon resultierenden Hüftverletzung nicht, wie gewohnt, singen, springen und tanzen kann. An den Problemen im Umgang mit seiner Sucht aus vergangenen Tagen lässt er die Fans teilhaben, indem er einfach nicht ohne Zigarette auf der Bühne auskommt. Dem Gesang hilf das wahrlich nicht. ‚Hound Dog‘ wurde damals vom Publikum als originelle Version des Elvis-Klassikers aufgeIcebreakers von Alber Collins. Sein Gitarrenstil ist in ihrem Spiel noch immer zu hören. „After The Fall“ ist ihr elftes Studioalbum. Lassen wir mal die ganzen historischen Fakten über die Geschichte einer musikalischen Legende. „After The Fall“ benötigt diese Fakten nicht. Denn es ist einfach ein rundes Album, das die verschiedensten Stile des zeitgenössischen Blues bedient und dabei eine Menge Geschichten erzählt. Geschichten, die Debbie Davies zumeist allein oder mit ihrem Schlagzeugkollegen Don Castagno geschrieben hat. Die Geschichte zur Krise etwa „Done Sold Everything“ über die verzweifelte Suche nach Geld, nachdem man schon sämtliche Reserven zusammengekratzt und den überflüssigen Ballast versetzt hat. Oder die wü- Die Aufnahmen dieser DVD enstanden im Herbst 2002 im Berliner Metropol. Im Vorfeld hatte es manche Unvorhersehbarkeiten gegeben und so konnte die geplante Generalprobe am Tag zuvor nicht stattfinden. Die Professionalität aller Mitwirkenden machte aber trotzdem einen einmaligen Konzert-Mitschnitt möglich, der auf dieser DVD für alle Zeiten festgehalten ist. Willys hervorragende Band erschafft mit „Loup Garou“vom Start weg diese wunderbar schwüle Spannung, die DeVilles Musik immer innewohnt. Der Meister selbst war topp in Berlin, seine Stimme einfach nur cool und sein Slide-Gitarre-Spiel virtuos, Gänsehaut inklusive! So wurde eine Mischung aus Blues, Soul, TexMex, Countryfolk und Doo-Wap geboten, die keine Wünsche offen ließ. Mit dem 20. Titel „Hey Joe“ geht ein Konzert über die Bühne, das mit eigenen Highlights, aber auch mit gelungenen Covers besetzt ist. Das begeisterte Publikum im ausverkauften Metropol feierte seinen Star und dessen Band frenetisch. - Ein dickes Lob an Kameraführung und Regie, denen es gelungen ist, diese Atmosphäre einzufangen! Die Musiker auf diese DVD sind: Willy DeVille - Gesang, Gitarren; Freddy Koella - Gitarren, Violine, Mandoline; David J. Keyes - Bass, Backing Vocals; Boris Kinberg - Percussons; Dorene Wise & Yadona Wise - Backing Gesang. Gesamtlaufzeit 92 mim. DVD 3 Willy DeVille Specials Bei dem Material der dritten DVD, „The Willy DeVille Specials“, handelt es sich um absolute Erstveröffentlichungen auf DVD. Dieses Filmmaterial enthält manche Rarität. Willy erlaubt dem Betrachter eine sehr persönliche Nähe. Besonders der 32 Minuten lange 1. Teil des hochgelobten Films „Beautiful Losers“ von Diethard Küster gilt als ein außergewöhnlich persönliches Dokument. Willy DeVille erzählt mit beeindruckender Offenheit über seine Hoffnungen und Träume, über seine Niederlagen und Triumphe. Dazu gibt es unveröffentlichte Songs, einen längeren Ausschnitt aus dem Film „Va Banque“, in dem Willy unter anderem mit unserem ehemaligen Außenminister Joschka Fischer zu sehen ist, der einen Taxifahrer spielt. Die DVD enthält darüber hinaus sehr persönliche, nie zur Veröffentlichung vorgesehenes Material eines Soundchecks, bei dem einige Songs völlig neu erarbeitet werden, zudem ein Gespräch mit der Rock‘n‘Roll-Legende Jack Nitzsche, der sehr eindrucksvoll über Willy DeVille und das Musik-Business erzählt. Da Jack Nitzsche als ausgesprochen eigenwillig und pressescheu galt, überrascht auch dieser Teil durch seine unzensierte, fast intime Offenheit. Gesamtlaufzeit 81 min. Die Box-Booklets Das ganze Paket wird durch ein sehr liebevoll und aufwändig produziertes Booklet von 32 Seiten abgerundet. Auch einige von Willy DeVilles Musikern kommen hier zu Wort. Dazu gibt es ein zweites, 24-seitiges Booklet mit einem Interview, das quasi als künstlerisches Vermächtnis des Meisters angesehen werden kann. Ein ästhetisch hochwertiges Musikpaket eines außergewöhnlichen Künstlers! Lüder Kriete tend-zynische Auseinandersetzung mit dem Verflossenen „Don‘t Put The Blame“. Das ist einfach großartiges Songwriting von einer wundervollen Sängerin und Gitarristin über das Leben, die Liebe und den Blues (um mal einen Albumtitel von Etta James zu zitieren - man könnte auch sagen: Über das Leben, das Universum und den ganzen Rest). Anhören und weiterempfehlen! 18 Do I Smell Cupcakes? Springs Aus Cottbus in die Haupstadt, immer der Nase nach: Do I Smell Cupcakes? mit Springs machen dabei keine schlechte Figur. Diese fünf Jungs machen einen sehr frischen Indie Pop-Rock. Der ist eingängig, leicht und doch sehr gehaltvoll und ganz einfach gut. Ihr Debut-Album überzeugt durch die sehr ausgewo- © wasser-prawda Platten gene Aufnahmequalität. So wird ein harmonischer Ensemble-Eindruck geschaffen, der eine Menge individueller Klasse einbaut, ohne eine Person oder ein Instrument besonders in den Vordergrund zu rücken. Teamplay, fair and beautiful. Das in dieser Truppe ein ganz enormes Potential steckt beweisen sie schon recht frühzeitig auf ihrem Album mit Autumn in Minor/ Autumn in Major; Titel 2 & 3. Da nehmen sie zwar die Hilfe von Freunden dazu und lassen sich mal ganz kräftig einen blasen, aber – jaja, Jungs, das geht ab! Die Riffs von Trompete und Posaune und darüber das ungezügelte Sax, das hat was, ganz ehrlich, davon darf‘s gerne mehr werden. Ebenso positiv ist zu bewerten, dass sich die Bande nicht scheut neben satten Bläser-Arrangements auch schnulzig-schöne Streicher-Sätze zu präsentieren. Es zeigt, mal ganz abgesehen vom Wohlklang, dass sie sich sicher sind mit dem was sie tun. Ebenso haben sie keine Probleme damit manchem Song ein elektronisches Outfit zu verpassen, Snake Devotion, oder akustisch gewandet daher zu kommen, The Quantity Of Things. 13 Tracks sind im Angebot; fast 51 Minuten braucht es für einen Durchlauf. Musik, die alleine ebenso viel Spaß macht wie mit anderen, die die Hausarbeit genauso verschönt wie die Pause im Stau. Und ganz sicherlich auch live unglaublich viel Spaß macht. Zu den englischen Lyrics sollte man sich seine eigene Meinung bilden. Aber da nehmen wir mal ihre Jugend als Erklärung für manch ein „schummriges“ Bild (inside out). Dieses Erstlingswerk ist ein durchaus ernst zu nehmendes Angebot. Mal abgesehen von diesem unmöglichen Band-Namen. Wenn Euch die Fans schon ‚Napfkuchen‘ rufen, dann solltet ihr dem unbedingt folgen und wenn‘s doch Englisch sein muss, dann eben cupcakes – aber den Rest solltet ihr schnellstens entsorgen. Wenn dann beim nächsten Album Band-Name, Bild-Botschaft und Albumtitel stimmen, dann sehen wir etwas wirklich Großes auf uns zukommen. (JMG Records/ da-music) Lüder Kriete Momente, wo man eigentlich zu schwach ist für die Einsamkeit, da ist Ed Laurie mit seinem Album der rechte Begleiter. Dieses Album hat die Kraft, einen aufzufangen und am Ende getröstet zu entlassen. Nathan Nörgel Ed Laurie - Cathedral „Still No Sign of Al“ - dieser Satz, den der britische Songwriter Ed Laurie an einer Kathedrale fand, bildet den Ursprung für „Cathedral“. Das dritte Album Lauries ist eine melancholisch-träumerische Reise auf der Suche nach dem mysteriösen Al und dem Leben, dem Universum und so weiter. Als Musikfan und auch als Rezensent hat man für jede musikalische Richtung so seine Referenzalben, Platten, die in ihrer Art einzigartig sind und noch nach Jahren sich immer wieder in Erinnerung rufen. Ich kann noch heute mir den Tag in Erinnerung rufen, wo ich erstmals „Grace“ von Jeff Buckley hörte. Diese Melancholie, diese Leidenschaft, die Trauer und vor allem: diese traumhafte Stimme... Als „Cathedral“ erstmals im Playler lief, da tauchte dieser Tag vor dem inneren Auge auf. Und auch beim dritten oder vierten Hördurchgang komme ich nicht von der Assoziation los. Gegenüber Ed Laurie mag das unfair sein. Denn eigentlich kann sich mit „Grace“ für mich so schnell kein Songwriter-Album messen lassen. Doch wenn ich ehrlich bin: Ed Laurie kommt hier manchmal verdammt dicht ran. Diese Lieder, die weit entfernt sind vom drögen Liedermachergeklimper entfalten einen Sog durch die Texte ebenso wie durch die Orchestrierung. Da werden keine verzerrten Rockgitarren eingesetzt sondern es bauen sich Streicherteppiche auf. Saxophonsoli überraschen. Und selbst die Sitar wirkt nicht aufgesetzt. Und Lauries Stimme hat für mich manchmal fast die beschwörende Kraft von Buckley. Auch die Geschichten, von denen er singt, sind eher bei Buckley als etwa bei Billy Bragg anzusiedeln: Lyrische Meditationen über die immer wieder zerbrechliche Liebe, über die Suche nach dem Halt in der Gegenwart oder dem Geist, der all das zusammenhält. Ein Kollege meinte, „Cathedral“ wäre das richtige Album für Sonntagnachmittage. Ich denke: Für die Stunden danach, für die einsamen 19 Und wenn wir schon bei der Familie sind: auch sein Sohn David Campbell spielt bei zwei Liedern mit und sorgt mit seiner Geige für eine gehörige Abwechslung im klassischen Bluessound. Sein Patensohn Lurrie Bell ist mit Gitarre und Bluesharp bei drei Stücken zu hören und jammt mit dem Patenonkel im letzten Track „Playing Around These Blues“. Damit ist das musikalische Familientreffen komplett. Und hier ist man dann doch musikalisch im Mississippi-Delta angekommen. Und man wünscht sich, das Album würde noch länger dauern in seiner Schönheit. Aber es gibt ja die Repeat-Taste. (Delmark) Raimund Nitzsche Eddie C. Campbell - Spider Eating Preacher Relaxt, groovy, voller Humor und mit einer unvergleichlichen Gitarre präsentiert sich Eddie C. Campbell auf seinem 2012er Album „Spider Eating Preacher“. Und er scheint mit 72 Jahren dennoch jünger zu sein als ein großer Teil der Blueszene von Chicago. Nein, ich habe keine Lust, die ellenlange Liste der Musiker aufzuzählen, für die Eddie C Campbell seinerzeit in der West Side von Chicago die Gitarre gespielt hat. Namedropping hat der 1939 geborene Sänger und Gitarrist nicht nötig. Hier ist ein Musiker, der in seinem Spiel heute noch den Sound hat, der damals in den Clubs angesagt war. (Und manche vermuten, seine JazzmasterGitarre wäre noch die gleiche wie damals. Aber das ist nicht wirklich relevant.) West Side Funk nennt er seinen Stil. Und das umschreibts genau: Hier sind statt rollender Rockrhythmen eher Funkfundamente zu hören. Und die Gitarre spielt dazu (mit jeder Menge reverb) perlende bis schneidende Linien aus dem Grenzbereich zwischen B.B.King und Jazz. Das ist Urban Blues, das ist Musik weit fort vom Mississippi aber doch noch mit beiden Beinen im Blues. Campbell singt (die meisten der Songs stammen aus seiner Feder) Geschichten, denen man gerne genauer nachforschen würde: Was hat es mit dem spinnenfressenden Pfarrer des Titelsongs wirklich auf sich? Dann gibt es wieder Momente, wo dieser Humor von persönlicher Nähe abgelöst wird, wenn er etwa in All My Life über das lange Leben mit seiner Frau erzählt, die im Übrigen in seiner Band den Bass spielt. (Ok, gerade dieses Lied stammt nun nicht von Campbell sondern von Jimmy Lee Robinson. Aber gesungen und gespielt wird er derartig intensiv, dass es einer Annektion des Liedes gleichkommt.) Eleni Mandell - I Can See The Future Kammerpop mit jazzigen Anklängen für Spätsommerabende singt Eleni Mandell auf ihrem aktuellen Album „I Can See The Future“. Wer von ihr rockige Ausflüge wie auf dem Vorgänger „Artificial Fire“ erwartet, dürfte enttäuscht sein. Aber die Songwriterin hat sich ja bislang jedes Mal neu erfunden. Oh ja, es ist Sommer, manchmal sogar „Magic Summertime“, wie die Sängerin verführerisch intoniert. „I Can See The Future“ hat musikalisch überhaupt nichts mit der Zukunft zu tun, sondern mit den magischen Popmelodien der 60er Jahre, mit dem Soulpop einer Dusty Springfield vor dem Ausflug nach Memphis, mit den zauberhaften Songs von Nancy Sinatra mit Lee Hazelwood und anderen Kostbarkeiten der Vergangenheit. Wenn es die Lieder brauchen, gibt es den Himmel voller Geigen. Nur manchmal ist ein Saxophon zu hören. Harmonium und diverse andere Instrumente untermalen die meist träumerische bis melancholische Stimmung der Lieder. Und die sind schon eher mit dem Thema Zukunft zu fassen. Nicht mit der Zukunft der Welt. Sondern eher mit der Zukunft der Sängerin, die noch immer auf der Suche nach der ganz großen Liebe ist, mit der Zukunft des ehemaligen Partners, mit der Zukunft der kleinen Kinder. Das ist Musik für späte Abende, nichts für den Morgencafe, auch nichts für die After Work Party. „I © wasser-prawda Platten Can See The Future“ kann der DJ einbauen nachts zwischen Roy Orbison und Lee Hazelwood. Oder vielleicht auch als Entspannung nach dem Seelenstriptease-Pop der frühen Tindersticks. Damit wird man als Hörer sanft aufgefangen und sieht statt in die dunklen Abgründe dann eben doch in eine wenn auch noch verschleierte doch lebenswerte Zukunft. Raimund Nitzsche nen. Dann kann er vielleicht auch Blues spielen, den ich ernst nehmen kann. „It‘s A Blues Thing“? - definitiv nicht. Das ist gequirlte und polierte Langeweile. Nathan Nörgel Gabriele Poso - Roots of Soul Fabian Anderhub - It‘s A Blues Thing Geboren in der Schweiz, aufgewachsen in Kanada und jetzt wohl doch wieder in Europa gelandet: Fabian Anderhub zählt zur jüngeren Generation der Bluesrockgitarristen. „It‘s A Blues Thing“ nennt er stolz sein aktuelles Album. Achtung - ich muss mal wieder ernsthaft nörgeln! Es reicht mir bei einem Album nicht, dass da irgendwo der Begriff „Blues“ auftaucht. Es reicht mir auch nicht, wenn darauf Songs im klassischen 12-TakteSchema dargeboten werden. Blues ist nicht einfach eine Frage von Namen, Technik und Komposition. Wer nicht bereit ist, sich mit all seiner Persönlichkeit in den Blues hinein zu knieen, sollte auf Plattenproduktionen verzichten. Wenn Anderhub den Blues spielt, dann ist das Kunsthandwerk auf hohem technischen Niveau in einer blitzsauberen Produktion. Er spielt sich durch die Klassikerwelt von John Lee Hooker und Howlin Wolf bis hin in die kanadische Gegenwart. Und man fragt sich die ganze Zeit: Wo ist hier die eigenen Note? Wo hat der Typ den Blues? Nach meinem Höreindruck nirgends. Das ist aufgesetzte Mache, gekünstelte Traurigkeit, vorgetäuschte Härte. Den Blues hat auf dieser Scheibe der famose Bluesharpspieler und auch die als Gast eingeladene Layla Zoe. Aber Anderhub? Er kann blitzsaubere Solos aus dem Handgelenk schütteln. Er klingt als Sänger wie Schwiegermutters Liebling. Und er langweilt ansonsten. Fazit: Anderhub sollte wirklich noch paar Jahre Lebenserfahrung sammeln und die Härten und Schönheiten des Lebens kennenler- Grooves zwischen Kuba und Afrika, eine Mixtur zwischen Jazzpop und Latin - insgesamt ist „Roots of Soul“ Kandidat für das Sommeralbum 2012. Der Italienische Multiinstrumentalist Gabriele Poso hat es beim deutschen Label INFRACom! veröffentlicht. Hier tappt man ganz schnell in die Klischeefalle: So leicht, dass es sogar in Milch schwimmt, lautete vor Jahren der Werbeslogan für einen Schokoriegel. Und bei „Roots of Soul“ ist man versucht, mit ähnlichen schrägen Bildern zu argumentieren. Denn an diesem Album ist scheinbar alles federleicht und luftig geraten, dass mancher gar versucht sein könnte, hier von Easy Listening zu sprechen. Doch wenn man sich das Album genauer anhört, wenn man der Versuchung, die Klänge einfach an sich vorbei plätschern und rieseln zu lassen, widersteht, dann entdeckt man ein Jazzalbum, wie es für den Sommer genau richtig ist. Klar - „Roots of Soul“ ist alles andere als aventgardistisch. Es ist ganz klar geschichtlichen Kategorien wie dem Latin-Jazz verpflichtet und verlässt die dort vorgegebenen Konventionen nicht. Doch zeigt sich die Meisterschaft eines Künstlers eben nicht auch gerade darin, dass er innerhalb eines vorgegebenen Rahmens etwas schafft, was die Blickweise verändert? Es sind Lieder wie der Opener „Sunshine“ mit der faszinierenden Tanya Michelle, die einen auf das sommerlich leichte Musikvergnügen einstimmen. Doch das Album ist eben nicht nur die tausendste Wiederholung der Latin-JazzKlischees der frühen 70er sondern zeigt auf, wie der ganze melodische und rhythmische Kosmos ohne die Verwurzelung in Afrika undenkbar wäre. Und auch, wie stark diese Musik heute ein Genre wie den NeoSoul noch immer beeinflusst. Wer sich auf solche Gedankenreisen nicht begeben will, hat mit „Roots of Soul“ natürlich auch eine prima Musik für seine Sommerparty an schwülen Abenden dabei. Raimund Nitzsche ersten Hinhören zuckersüss ist, deren Abgründe aber schon hinter der nächsten Ecke lauern können. Selbst wenn sie singt „Here Comes The Light“, dann ist das nicht die helle strahlende Sonne eines Urlaubskatalogs, sondern eher das verräucherte Licht an der Kneipendecke in einem Film Noir. Keiner traut sich heute mehr, Gemma Ray mit Amy Winehouse oder gar Norah Jones zu vergleichen. Das ist schon mal der erste Schritt. Der nächste muss aber sein, dass aus ihr endlich ein Star wird. Denn als ewiger Geheimtipp ist diese Frau viel zu gut. Das musste ich jetzt mal loswerden. Und nun: Ab und Album hören, eigene Meinung bilden Gemma Ray - Island Fire und danach die Scheibe neben die Düsterer Pop mit hohem SuchtpoLieblingsplatte von Nancy Sinatra tential, schwärmerische Dramen einsortieren. und eine der wenigen echten PopNathan Nörgel Diven der Gegenwart: Zum Glück ist Gemma Ray ihrem Stil auch mit dem aktuellen Album „Island Fire“ treu geblieben. Nur noch besser ist sie geworden. Als Gemma Ray kürzlich im Vorprogramm von Marianne Faithful in Deutschland unterwegs war, da soll sie die altgewordene Sängerin glatt an die Wand gespielt haben. Meint jedenfalls der Kritiker des „Spiegel“. Das verwundert nicht, wenn man ihr im Frühjahr 2012 erschienenes Album „Island Fire“ hört: Während Guy Davis - The Adventures die großen Zeiten der Faithful als of Fishy Waters: In Bed With Popsängerin irgendwann im Dro- The Blues genrausch kaputtgingen (und ihre Guy Davis ist beides, Bluesman und Fortsetzung nur in zerbrochenen Schauspieler. Als Doppel-CD hat er wenn auch teilweise großartigen jetzt sein Ein-Personen-Stück über Rockscheiben fanden), ist Gemma den wandernden Bluesmusiker FisRay irgendwie eine Reinkarnati- hy Waters veröffentlicht, mit dem er on der Popsängerinnen der frühen seit den 90er Jahren immer wieder 60er Jahre: Scheinbar unschuldig auf der Bühne stand. (wie die Stimme suggeriert und die Die Aufforderung zum Anfang sollStreicher süß behaupten) und doch te man ernst nehmen: Füße hoch gleichzeitig verrucht und verführe- und zuhören. Wenn man noch risch kann diese Frau einen von der dazu einen brennenden Kamin hat, ersten Note an völlig gefangenneh- dann umso besser. Und was dann men. Die Songs kommen daher wie kommt, kann man nur als eine der die Dramen der Girlgroups, die Me- besten Lehrstunden über die Gelodien sind eingängig und entfalten schichte des Blues bezeichnen, die Bilder in Cinemascope im Kopf. je auf Platte gepresst wurden. Denn Ja, ich kann verstehen, wenn einer mit der Geschichte des Hobos Fishy der Rezensenten meint, manchmal Waters erzählt Sänger, Songschreiklänge sie wie die jüngere Schwester ber, Gitarrist und Schauspieler nicht von Calexico. Schuld daran sind die nur einfach eine Geschichte. Im zuweilen einfallenden Mariachiblä- Leben des Hobos entfaltet sich die ser und die Gitarren, die wie eine ganze Welt des Blues am Anfang des Kreuzung aus „Desperado“ und 20. Jahrhunderts ebenso wie die GeDick Dale klingen. Aber mit glei- schichte des Rassismus in den Südchem Recht könnte man sie als eine staaten. Ob Fishy Waters nun aus Musikerin bezeichnen, die Taranti- seinem Leben und über seine Fano und Rodriguez in Klangwelten milie erzählt oder die skurilen Gestalten zum Leben erweckt, denen packt. Gemma hat mittlerweile ihre ganz er auf seiner Reise durch den Süden eigene Popwelt erschaffen, eine begegnet: Das ist beste UnterhalWelt, in die man sich flüchten kann, tung kombiniert mit feiner Blueswenn der Alltag mal wieder zu stres- musik voller Humor (wie in der sig ist. Eine Welt aber, die nur beim Geschichte über den einbeinigen 20 © wasser-prawda Platten Grabräuber) oder düster (wie in der Schilderung eines Lynchmordes). Was Fishy Waters erlebt und erzählt, das erweckt Davis erzählend und singend so zum Leben, dass man die Bilder förmlich vor Augen sieht. Und ob er nun eigene Lieder singt oder Klassiker von Robert Johnson, Blind Blake oder anderen - sie erklingen in einer Eindringlichkeit und Eleganz, die weniger nach Lagerfeuer oder Juke Joint sondern eher nach Theater oder Nachtclub klingen. Aber das geht völlig in Ordnung. Denn so werden diese Lieder Teil der erzählten Geschichte und stehen nicht als Fremdkörper daneben. Auch wenn man des Englischen nicht vollkommen mächtig ist, kann man dem Doppelalbum doch gut lauschen und sich fesseln lassen. Spätestens beim dritten Hören hat man dann auch die Feinheiten der Sprache des Stücks kapiert. Schade nur, dass „The Adventures of Fishy Waters“ in Deutschland nur als sehr teurer Direktimport erhältlich ist. Selbst der Download bei amazon ist mit knapp 20 Euro nicht gerade preiswert. Raimund Nitzsche wo zwischen Jazz und Soul a la Amy Winehouse, kann aber durchaus auch rockig zur Sache gehen. Die sieben Songs der EP sind in Toronto (die ersten vier) und New Orleans eingespielt worden. In Toronto wurden die Sugar Devils (Drew Austin - Drums, Josh Piche - Gitarre) verstärkt von dem JazzTrompeter Brownman Ali, Bassist Jesse Deitschi und Rob Christian an Keyboards und Saxophon. Die Mixtur der vier Tracks ist entsprechend fett: Da ist der Pop-Reggae „Without You“, „Criminal“ könnte man eher als Jazz mit einer gehörigen Dosis Soul klassifizieren. Und „Before You Go“ (eindeutig der Hit der ganzen EP!) hat einen Groove irgendwo zwischen New Orleans und Latinjazz. Während hier Torres wie eine verwundete Souldiva schmachtet, hebt die Jazztrompete von Bowmann die Nummer gleichzeitig aus dem Popkontext heraus in künstlerische Höhen. Und „King of the Block“ ist einfach ein R&BSong im Stile der 60er Jahre. Teil 2 der EP geht den eingeschlagenen musikalischen Richtungen mit anderer Besetzung weiter nach. „Sticky Fingers“ (der zweite Höhepunkt der CD) ist wundervoll dreckiger Blues mit Hammond und röhrendem Saxophon. „Sugar Devil“ (die Erkennungsmelodie der Band) ist ebenso bluesig, sie rockt und hat gehörigen Dreck zwischen den Noten. Doch zum Mix kommt dann noch etwas von den Sounds eines Stevie Wonder in den frühen 70ern hinzu. „I‘ll Be Good To You“ mag zwar wie normaler Rhythm & Blues klingen, ist aber eigentlich Irene Torres and The Sugar eine Neuinterpretation von Charlie Devils - s.t. Eigentlich sind Irene Torres und Parkers „Confirmation“. Zuviel der ihre Sugar Devils ein Trio., wenn Anspielungen? Zuviel Bezugspunkman den Fotos glauben will. Doch te? In diesen Falle nicht. Denn das auf ihrer aktuellen (zweiten) EP macht die Faszination der Scheibe werden sie von einer Menge Gäste aus: Vielseitig, sexy, intelligent und unterstützt und servieren einen Mix mitreißend. Und niemals langweieigener Songs zwischen Jazz, Swing, lig. Eine gute Visitenkarte! Und wo bleibt das Album? Funk, Rootsrock und Reggae. Nathan Nörgel Mancherorts sind Visitenkarten so etwas wie eine Kunstform: Wie stellt man sich am Besten seinem Gegenüber vor? Wie kann man ihn auf knappem Raum klar machen, dass der Kontakt mit einem wichtig und lohnend ist? Wenn man die EP als musikalische Visitenkarte begreifen will, dann haben Irene Torres And The Sugar Devils alles richtig gemacht. Mit nur sieben Liedern machen die aus Peru stammende Sängerin und ihre Begleiter klar, dass hier eine Band entstanden ist, wie Jerry Douglas - Traveler man sie zur Zeit nur selten zu hören Eine musikalische Wundertüte bekommt. Verantwortlich ist dafür ist das neue Album „Traveler“ des natürlich zuerst die Sängerin: Torres Dobro-Spielers Jerry Douglas. Muüberzeugt mit einer Stimme irgend- sikalisch geht es vom Bluegrass über Folk bis hin zum Blues und zu rockigen Klängen. Und zu den Musikern und Sängern gehören so verschiedene Künstler wie Eric Clapton, Paul Simon, Doctor John, Alison Kraus und Mumford & Sons. Nein, es ist zum Glück nicht Montag. Aber Lead Bellys „On A Monday“ ist nichtsdestotrotz ein großartiger Beginn für ein Album. Und es ist ein passender Start für eine musikalische Rundreise, die Jerry Douglas und eine große Zahl von Gästen in Studios in New Orleans, Nasville, New York, Montreal und dem britsche Banbury führte. Wenn diese Reise - eine höchst unterhaltsame Reise auch durch die verschiedensten Musikstile zwischen Folk, Bluegrass, Blues und Rock - ein Thema hat, dann könnte man es damit umschreiben, die Möglichkeiten von Dobro, Lap Steel und Slide-Gitarren bis an die Grenzen auszuloten. Denn nicht umsonst wird Douglas vor allem von Musikerkollegen als einer der weltbesten Dobro-Spieler bezeichnet und kann mit seinen vielen Grammies und ähnlichen Preisen wahrscheinlich mittlerweile ein ganzes Haus füllen. Dass dies niemals langweilig wird, liegt nicht allein an den Gästen der Tour, auf deren Alben er in den letzten Jahren auch schon als Gast auftrat. So singt Eric Clapton (nein, seine Gitarre hat er nicht dabei!) eine wunderschön entspannte Fassung von „Something You Got“ und die Bläser schaffen ein ähnlich entspanntes Bluesfeeling wie auf seiner letzten Studioplatte. Und Douglas lässt ein beseeltes Solo auf der Lap Steel vom Stapel, das aus dem Ganzen eine äußerst beeindruckende Interpretation macht. Wenn ausgerechnet Paul Simon dann „The Boxer“ singt, gerät das auch deshalb nicht zum Selbstzitat, weil eben neben ihm auch noch Mumford & Sons beteiligt sind. Auch Dr. John, Keb‘ Mo‘ oder Alison Krauss und seine Bandkollegen von Union Station tun das, wofür sie bekannt sind. Und das ist auch gut so. Überraschend und prägend für das ganze Album sind dann nämlich doch immer wieder die klanglichen und virtuosen Akzente, die Douglas selbst in die Songs einbringt und die seine Eigenkompositionen zu Hightligts der aktuellen Folk- und Bluegrassmusik machen. (Neo Membran/ Sony) Raimund Nitzsche damit auch eine musikalische Autobiografie mit der Intimität einer spontanen Wohnzimmersession. Klar, John Primer wird man immer zuerst mit Willie Dixon und Muddy Waters in Verbindung bringen. Erst bei Dixons All-Stars und später in der letzten Band von Waters war er der solide Gitarrist im Hintergrund. Doch heute dürfte er einer der wesentlichsten Bewahrer des klassischen Chicago-Blues der 50er und des Mississippi-Blues der 40er sein. „I really don‘t try to change the blues I just try to keep it original“, schreibt er in den Liner Notes zu „Blues on Solid Ground“. Und original meint: Hier ist ein musikalischer Rahmen, ein Klangideal, das seit Jahrzehnten eine vertraute und geliebte Heimat ist. Und in dieser Heimat erzählt Primer dann seine Geschichten. Er erzählt von der Jugend damals in der Hütte, wo kaum jemand genug Platz hatte, von der Armut und der Sehnsucht danach, rauszukommen. Und natürlich erzählt er von der Liebe ebenso wie vom Umherziehen, wie es die Bluessänger schon immer getan haben. Aber das sind Primers heutige Geschichten, das ist ein wenig so wie die abendlichen Erzählungen am Kamin aus der Jugend. Und genau so klingt es auch: Hier ist der Blues spontan und nicht auf Elektrizität oder gar technische Rafinessen abgestellt. Gitarre, Klavier und Mundharmonika - viel mehr brauchen die Lieder nicht. Mich persönlich erinnert das immer wieder an die ersten Aufnahmen, die Muddy Waters in Chicago gemacht hat, bevor ihn Chess wirklich mit kompletter Band im Studio losrocken ließ. Und genauso spannend und faszinierend sind auch Primers Songs heute. Veröffentlicht hat er „Blues on Solid Ground“ auf dem eigenen Label „Blues House Productions“. Das gab ihm die Möglichkeit, das Album eben so intim zu gestalten wie er es haben wollte, so ganz ohne John Primer - Blues on Solid Glanz und Brimborium. Es sollte so klingen, als wäre er in unserer KüGround Eine musikalische Rückbesinnung che zum Singen. Und das ist eine auf seine Kindheit in Mississippi ist Besonderheit, die man nicht genug John Primers neues Album „Blues loben kann: Primers Geschichten on Solid Ground“ geworden. Und kann man endlos lauschen. 21 © wasser-prawda Platten Raimund Nitzsche Einfluss ein guter Produzent auf die künstlerische Arbeit haben kann. Denn hatte Stone in letzter Zeit ihre Freiheit verteidigt und selbst versucht, die Verantwortung zu tragen, so ist jetzt wieder Steve Greenberg an Bord, der schon das Debüt produziert hatte. Ach so: Um die Parallelen zum Debüt zu vervollständigen: Hatte sie als Sechzehnjährige „Fell In Love With A Girl“ von den White Stripes“ interpretiert, so findet sich auch diesmal wieder ein Lied aus Joss Stone - Soul Sessions der aktuelleren Rockmusik, das zum Vol. 2 Mit ihren letzten Alben hatte die Soul umfunktioniert wird. Diesmal britische Soulsängerin Joss Stone erwischte es „The High Road“ von ebensowenig überzeugen können Broken Bells. Erwischt ist bissel gewie mit ihren Beiträgen für die mein - nein: die Fassung ist zwar Band SuperHeavy mit Mick Jagger ganz schön pathetisch, geht aber und Co. Soul Sessions Vol. 2 knüpft schon in Ordnung. Raimund Nitzsche daher konsequent an ihr Debüt als Teenager an: Stone interpretiert zumeist Soulsongs der 60er bis 80er. Das letzte Lebenszeichen von Joss Stone, dass mich in den letzten Monaten wirklich überzeugt hatte, war die EP der Band Yes Sir Boss, die sich auf ihrem eigenen Label unter Vertrag genommen hatte. Dass ich jetzt tatsächlich mal wieder mit einem zufriedenen Lächeln dasitze, und Joss Stone selber lausche, damit hatte ich schon nicht mehr gerechnet. Aber die zweite Version Julian Sas - Bound To Roll der „Soul Sessions“ ist wirklich ein Der niederländische Bluesrockgitarernsthafter Comeback-Versuch, ein rist Julian Sas legt über zwei Jahre Versuch, an die eigene Geschichte nach seinem letzten Lebenszeichen und Glaubwürdigkeit anzuknüpfen. mit „Bound To Roll“ sein neues StuNach den ersten beiden Liedern „I dioalbum vor. Musikalisch ist das Got The ...“ und „Give More Poeine Hommage an alles was rockig wer To The People“ war ich sogar ist im Blues zwischen Buddy Guy, bereit, in völlige Begeisterung zu Stevie Ray Vaughan, Rory Gallagverfallen: Klassischer sixties Soul her, den Allman Brothers und AC/ mit einer Powerstimme und ohne DC. Streicherglasur. Klar kommen genau diese Zutaten Wie viele Platten kann man noch später auf dem Album zum Zuge. im klassischen Trio-Format einer Aber dies dürfte Fans der 70er Jahre Bluesrockkapelle aufnehmen, ehe es nicht stören. Denn einige der Songs ausgereizt ist? Julian Sas klammert stammen eben genau aus dieser sich auf „Bound To Roll“ glückZeit. Und trotz der Streicher steht licherweise nicht sklavisch an die eben immer die wunderbare Stim- spartanische Form sondern lässt sich me von Stone im Zentrum. Selbst ab und zu von einem Hammond„Teardrops“ von Womack & Wo- Organisten unterstützen. Und das mack klingt hier eigen und frisch. tut Songs wie „The Blues Won‘t Ein Kollege meinte: Die zweiten Stay“ hörbar gut. Ansonsten tut Soul Sessions seien das erste Album sich wenig an der Bluesrockfront: seit ihrem Debüt, wo Joss Stone Die Riffs rocken mit Anklängen an wirklich die ganze Zeit ganz auf sich AC/DC oder Status Quo. Die Balfokussiert ist. Und das kann man lade „Burning Bridges“ erinnert ein ohne Einschränkungen unterschrei- wenig an Gary Moore zu seinen besben. Auch wenn sie ihre größten seren Zeiten. Und Höhepunkte der Erfolge in den Hitparaden mit ih- Scheibe sind die Cover von Dylans ren eigenen Songs etwa von „Mind „Highway 61“ und Rory Gallaghers Body & Soul“ hatte - als Sängerin „Shadow Play“. Erwähnenswert ist sie bei diesen Liedern hier end- auch noch „How Could I‘ve Been lich wieder bei der Sache und nicht So Blind“, was untypisch für Sas in irgendwelchen seltsamen Hip- ganz starker Southern Rock ist ohne pieträumen gefangen. Das ist mal Angst vor Pathos. wieder ein Beweis dafür, welchen Nathan Nörgel Larkin Poe - Thick As Thieves Perfekter und zuckersüßer Country-Pop von zweien der drei Lovell Schwestern findet sich auf ihrer aktuellen EP „Thick As Thieves“. Dazu gibt es dann noch eine DVD, die Larkin Poe vor vierzig Leuten in einer schwedischen Kneipe eingespielt haben. Als 2011 bei uns in der Redaktion die EP „Spring“ von Larkin Poe ankam, da freuten wir uns über die träumerischen Songs mit ein wenig Rock-Appeal. Mit ihrem neuen Werk machen die Schwestern genau da weiter: Leichfüßige Songs zwischen Folk und Country singen sie. Und nur manchmal rockt die Gitarre los. Doch bei all der Süße fehlt der Scheibe etwas: Nämlich Songs, die sich im Ohr festsetzen. Das plätschert so vor sich hin und ist wieder verschwunden im Vergessen. Eigentlich ist von „Thick As Thieves“ das jazzige „On The Fritz“ (aber wenn es um solche Stilmixturen geht, dann sage ich nur: Katzenjammer!) und „Russian Roulette“ wirklich erwähnenswert. Etwas wenig. Das ist schade. Denn eigentlich hatte ich von Larkin Poe etwas mehr erwartet. Nathan Nörgel Lil‘ Ed & The Blues Imperials - Jump Start Wenn bei Alligator eine Band heute für das Labelmotto „Genuine Houserockin Music“ steht, dann sind das sicherlich Lil‘ Ed & The Blues Imperials. Das neue Album „Jump Start bringt den gewohnten rockigen Slide-Gitarren-Blues der Truppe mit gehöriger Energie über die Boxen. Manchmal muss es einfach die rohe Energie sein, die die Menschen auf die Tanzfläche holt. Lil‘ Ed zollt mit seinem Spiel ebenso Elmore James, Hound Dog Taylor wie sei- 22 nem Lehrer J.B. Hutto Tribut. Und das heißt: „Jump Start“ ist eines der Alben, die man sich auch neben die von George Thorogood und anderen Bluesrockern stellen könnte. Der Blues hier ist heiß, hart, sexy und extrem tanzbar. Auch wenn der Gitarrist nicht unbedingt der größte Songwriter sein mag - bei Songs wie dem witzigen „Jump Right In“ vergisst man das schnell wieder. Lil’ Ed Williams und sein Halbbruder James “Pookie” Young spielen schon seit ihren Teenagerjahren in den 70ern zusammen. Und daher sind die Blues Imperials inzwischen nicht nur eine der langlebigsten sondern vor allem eine der am besten eingespieltesten Bluesbands in Chicago. Und das ist auf „Jump Start“ in wundervoller Weise zu hören. (Alligator/in-akustik) Raimund Nitzsche Little Feat - Rooster Rag Zehn Jahre ist es her, dass von Little Feat ein Studioalbum erschien. Und noch länger liegt die Zeit zurück, als die Band mit ihrem ersten Sänger Lowell George die bis heute gültigen Maßstäbe für einen funkigen Southern Rock aufstellte. Mit „Rooster Rag“, einem neuen Sänger und einem neuen Schlagzeuger versuchen sie jetzt, daran anzuknüpfen. Operation gelungen. Wenn man Listen der besten LiveAlben der Rockgeschichte liest, dann stößt man dort unvermeidlich auf „Waiting For Columbus“. Und in Rockradios mit Sinn für die Geschichte entgeht man Songs wie „Willin‘“ oder „Dixie Chicken“ nicht. Das waren noch Zeiten in den 70er Jahren! Songs zum Zuhören und Tanzen, Rockgrooves mit Bluesfeeling und ohne Machogehabe. Und alles in einer noch heute stimmigen Mixtur. Little Feat müssten eigentlich zum Lehrplan für alle Studenten von Bluesrock und Americana gehören. Und die Sammlung von Alben mit Lowell George gehören in jede gut sortierte Plattensammlung. Was danach passierte, ist eigentlich weniger wichtig. Meiner Meinung nach sind die danach erschienenen Alben niemals wirklich vergleichbar gewesen. Live hatte Little Feat © wasser-prawda Platten allerdings noch immer einen hervorragenden Ruf. Doch inzwischen ist von der ursprünglichen Band nur noch Keyboarder Billy Payne dabei. Doch als angenehme Überraschung kann man bei „Rooster Rag“ konstatieren: Der Geist dieser Musik ist noch lebendig. Was Little Feat 2012 machen, ist Americana im besten Sinne: Rockmusik mit Einflüssen aus Blues, Soul, Country. Sie spielen Songs wie den „Candy Man“ von Mississippi John Hurt ebenso wie Willie Dixons „Mellow Down Easy“. Und für die eigenen Songs holte sich Payne als SongwritingPartner Robert Hunter (ehemals Texter etwa für Greatful Dead“ hinzu, was eine sehr überzeugende Idee war. Der Titelsong strahlt dank der Fiddle von Larry Campbell jede Menge Country Feeling aus. Und das gospelartige „Church Falling Down“ ist so nahe an einem perfekten Song wie nur denkbar. Klar ist nicht alles überzeugend. Aber „Rooster Rag“ ist insgesamt ein wundervoll groovendes Rockalbum. Und wahrscheinlich ist seit dem Tode von Levon Helm kaum noch jemand in der Lage, eine solch überzeugende und uramerikansiche Rockmusik zu machen. Nathan Nörgel Songs überrascht. Von seiner Aktualität her passt die Scheibe gut zu Alben wie „Blues For The Modern Daze“ von Walter Trout. Die Hilflosigkeit, die man angesichts all der Krisenmeldungen verspüren kann, hat Laddie in Songs gepackt: Nein, die Freiheit, an die wir alle glauben, wird für die meisten Menschen nicht kommen. Es ist nicht die Freiheit, es sind nicht Ideale wie „Love & Peace“, die die Welt am Laufen halten. Es ist das Geld. Alles andere ist Illusion, klagt er in „Paper In Your Pocket“. Und letztlich fühlt man sich so hilflos, dass man sich danach sehnt, dass Mutter einen in den Arm nimmt und alles in Ordnung bringt. („Time Is Running Away“) Die Träume fliegen draußen vor dem Fenster vorbei, doch resigniert weiß man, dass man niemals den Mut hat, rauszugehen. Und schon gar nicht, den Träumen nachzufliegen. Alleine schon gar nicht. Aber ist da jemand bereit, einen zu begleiten? („Would You?“) Das sind so gar nicht die Themen, die ich von einem jugendlichen Bluesrocker heutzutage erwarten würde. Das sind Songs, die in ihrer Direktheit und Offenheit einen daran erinnern, was man früher an Rockmusik so mochte: Dass sie ein Protest ist gegen alle Enge, gegen alle Hohlheit und Verlogenheit. Und da passt dann auch, dass Laddie als einzigen Coversong für sein Album den „Inner City Blues“ von Marvin Gaye ausgewählt hat, das Lied eines ebenso fragenden und desillusionierten Kollegen. Ach so: Ansonsten ist „Burning Bridges“ musikalische Standardware: Ein knochentrockenes Rocktrio mit heftigem Bums von der Rhythmusgruppe (Lee Clifford Mitch Laddie - Burning dr, Rhian Wilkinson - bg) und ein Bridges Manche Fans meinen im Internet, technisch über jeden Zweifel erhagegen Mitch Laddie würde Joe Bo- bener Gitarrist, der zwischen Hennamassa alt aussehen. Sein zweites drix, Stevie Ray Vaughan und Rory Album „Burning Bridges“ hat der Gallagher seine Bluesrockahnen 21jährige Gitarrist und Songwriter studiert hat. Leider folgt er der Tengleich selbst produziert. Die Fans denz, den Blues immer mehr nur harter Rockgitarren mit bluesigen noch als Alibi zu führen. Das hier Anklängen werden das Album lie- ist kein Bluesrock mehr, sondern ben. Und wer sich ausführlich mit Hardrock. Nathan Nörgel Laddies Songs beschäftigt, kann einen durchaus intelligenten und enRalf Illenberger - Red Rock gagierten Songwriter entdecken. Nein, ich werde nicht schon wie- Journeys der meine Litanei anstimmen über Einer der „alten Herren“ der deutall die jungen oder junggebliebe- schen Akustik-Szene; Ralf Illenbernen Gitarrenhelden, die technische ger lässt uns teilnehmen an seinen Fertigkeiten präsentieren aber den Red Rock Journeys. Inspiriert wurBlues nicht mal erkennen würden, de dies Album von der Landschaft wenn er sie in den Hintern treten in seiner Wahlheimat Sedona/AZ, würde. Denn auch wenn „Burning USA, aufgenommen im niederBridges“ vom Stil her genau in diese sächsischen Stockfisch Studio in Kategorie gehören könnte, war ich Northeim. 51 Minuten lang kann doch beim zweiten Hören von den man hier teilnehmen an einer Reise durch die virtuose Spielwelt dieses Ausnahmegitarristen. tauchte Estrin auch im Bandnamen auf. „One Wrong Turn“ ist das zweite Album unter dem neuen Namen. Und wer auf rockenden partytauglichen und gleichzeitig intelligenten Blues steht, kommt im Sommer 2012 an dem Album nicht vorbei. Also eins kann der Ralf Illenberger ganz sicher und das außergewöhnlich gut: Gitarre spielen! Einzigartig, mit welcher Klarheit dieser Mann selbst Flageoletts erklingen lässt. Kaum glaublich sein Fingerspiel - kein Rutschen, kein Reiben, alles rein. Aber genau darin liegt auch das Risiko. Mitunter wäre ein „schmutziges“ Spiel weg vom perfekten technischen know-how, deutlich emotionaler, verbindender. So bleibt bisweilen eine gewisse Distanz zum Mann „auf der Bühne“ und seinem Publikum. Und immer wieder die Wurzeln aus dem anglo-amerikanischen Folk; dieses klassische Finger-Picking a la Rag oder Shuffle wie bei Walk In The Park oder die Anleihen aus der europäischen Gitarren-Geschichte wie bei The Veil. Der Ton des Ralf Illenberger schwebt absolut gekonnt aus den Boxen. Kaum zu glauben, dass die Aufnahmetechnik das derartig gut eingefangen und ebenfalls reproduzierbar gemacht hat – allerhöchstes summa cum laude! Bei einigen Stücken lässt sich der Meister von Sandro Gulino am EBass begleiten; ganz zart und sanft, gerade so, dass das Volumen nicht überfrachtet wird. In drei Titeln; Light Wave, Joy und The Kiss, wurde ein Echo als musikalischer Spiegel eingesetzt. Das macht die Stücke faszinierend wie einen mit Sternen übersäten Nachthimmel. Die Musik, die Ralf Illenberger dem Fan mit seinen 11 Titeln zu Gehör bringt, ist kein Blues oder Rock, kein Jazz oder Folk. Illenberger hat eine ganz persönliche Musik geschaffen, die zu vorderst aus seiner eindrucksvollen Virtuosität schöpft. Seine Musik ist einfach zeitlos, getragen von seiner ganz besonderen Persönlichkeit. (Stockfisch/ in-akustik) Lüder Kriete Sozialsatire als Blues? So etwas ist relativ selten. Und man muss schon ein verdammt guter Songwriter sein, damit das wirklich funktioniert. Aber Rick Estrin wird nicht umsonst als einer der besten Songschreiber im zeitgenössischen Blues gefeiert. Wie er in dem wundervoll rockenden „Lucky You“ ausgehend vom täglichen Existenzkampf des Underdog das ganze gesellschaftliche System der Gegenwart kritisiert, das ist schon großartig. Man wünscht sich ja immer wieder, dass endlich mal das Geld nicht schon vor dem Monat zu Ende geht. Und gleichzeitig gibt es da Leute, die Urlaub machen an Orten, die man noch nicht mal aussprechen kann. Da kann ein Mann doch einfach nur den Blues bekommen! Von der Güte gibt es auf „One Wrong Turn“ noch einige Songs mehr. Und man braucht als Deutscher schon ein paar mehr Hördurchgänge, um die Songs wirklich in ihrer Vielschichtigkeit zu genießen. Ok, manche Geschichten gehen auch sofort ins Herz, die Beine und das Hirn wie etwa die witzige Geschichte „I Met Her At The Blues Cruise“, wo mir das erste Mal im Blues selbst ausgepiepte Kraftausdrücke begegeneten. (Dass der Titelsong eigentlich nicht wirklich von Estrin stammt, sondern schon seit Jahrzehnten als Three Cool Cats bekannt ist im Rhythm & Blues, das kann man übergehen. Der Text ist auf jeden Fall neu und großartig.) Wobei The Nightcats in ihrer aktuellen Besetzung schon ohne Sprachkenntnisse jede Menge Spaß machen. Das ist einfach eine derartig gut eingespielte Band (naja, sie gibt es ja letztlich schon seit den 70er Rick Estrin And The Nightcats Jahren!), die typisch kalifornischen Blues mit jeder Menge Swing im - One Wrong Turn Als Sänger und Harpspieler der Rhythmus servieren. Estrin als SänNightcats ist Rick Estrin schon Jahr- ger und Harpspieler hat mit dem zehnte aktiv. Doch erst als Band- aus Norwegen stammenden Kid gründer Little Charlie 2008 ausstieg, Andersen einen außergewöhnlichen 23 © wasser-prawda Platten Gitarristen hinter sich, mit dem er sich bei den Solopartieen die Ideen mit Leichtigkeit zuspielen kann. Ein Beispiel kommt ganz zum Schluss in dem knapp siebenminütigen Instrumental „The Legend of Taco Cobbler“: Eine Surfgitarre mit viel Liebe zu Dick Dale, später wandelt sich die Szenerie zu einem Mexicano-Western, um dann irgendwann in einem verrauchten Kellerklub anzukommen. Klar: Das ist kein Blues. Aber das ist schon kinoreif und schreit nach einem Einsatz bei Tarantinos nächstem Film. Und natürlich im Programm des DJs des Vertrauens. „One Wrong Turn“ ist musikalisch vielseitig, witzig, intelligent und verdammt gut gespielt. Wer das Teil nicht kauft, ist kein Bluesfan! Nathan Nörgel Royal Southern Brotherhood - Royal Southern Brotherhood Der Bandname hat schon seine Berechtigung: Royal Southern Brotherhood stellen so ziemlich den Hochadel von Blues und Bluesrock zur Zeit dar. Mit Cyril Neville und Devon Allman sind Vertreter der zwei wohl einflussreichsten Musikerfamilien der Südstaaten dabei. Mit dem Gitarristen/Songwriter Mike Zito ist auch einer der wichtigen jüngeren Songschreiber dabei. Und die Rhythmusgruppe mit Charlie Wooton am Bass und Schlagzeuger Yonrico Scott (Derek Trucks Band) macht die Truppe schon auf dem Papier zu einem absoluten Muss. Wer sich auf das Hypen von Supergruppen nicht einlassen mag, der hat meine volle Sympathie. Zu leicht wurde in den letzten Jahren jeder Kollaboration dieses Etikett verpasst. Die entstandenen Platten waren aber oft dann doch nicht so, dass sie es verdient hätten. Das von Thomas Ruf selbst produzierte Debüt der Royal Southern Brotherhood allerdings macht hier eine Ausnahme. Denn statt einer Ansammlung von Egozentrikern ist hier wirklich eine Band enstanden, bei der es auf das musikalische Miteinander ankommt. Das geht schon beim Opener „New Horizons“ los: Sofort fühlt man sich in die feuchte Schwüle der Sümpfe Louisianas versetzt. Und diese Gegend verlässt man während der gesamten Laufzeit des Albums nicht mehr - wenn auch ab und zu kleine Ausflüge etwa in den Latinrock gemacht werden („Fired Up“ sollte sich Santana mal ausführlich anhören, bevor er wieder mit einer uninspirierten Veröffentlichung die Menschheit langweilt!). Alles ist ganz nah am Blues, alles hat diesen relaxten Groove. Und niemals versucht sich einer durch ellenlage Solos in den Vordergrund zu spielen. Statt dessen gibt es immer wieder Attacken, die einen dran erinnern, wie Southern Rock etwa zur Frühzeit der Allman Brothers mal war. Manchen Rezensenten trieb es schon die Freudentränen in die Augen. Bei mir - weniger nah am Wasser gebaut - ist es die pure Freude darüber, dass es heutzutage endlich mal wieder solch großartigen Blues- und Southernrock jenseits der eingespielten Klischees gibt. Ruf hat sich hier eine wirklich große Band gesichert. Hoffentlich gibt es da in den nächsten Jahren noch mehr Alben der Brotherhood. (Ruf/ in-akustik) Raimund Nitzsche Rezensenten fast vorprogrammiert. Aber eigentlich ist sie unnötig, auch wenn sich das Souljazz Orchestra durchaus politisch engagiert und die Stücke nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen oder traditionelle Volksgeschichten sondern auch soziale und politische Themen beinhalten. Die Verständlichkeit derselben wird allerdings durch die fast babylonische Sprachenvielfalt erschwert: Englisch, Spanisch, Portugiesisch und das aus dem Senegal stammende Wolof werden durch Einschübe in Französisch und Arabisch ergänzt. Wer da mithalten kann, ist zu beglückwünschen. „Solidarity“ kann man trotz allem gut auch als eines der groovendsten Alben des Jahres hören und tanzend würdigen. Die Mischung aus Soul, Jazz, Afrobeats und ähnlicher Zutaten, mit denen das Orchester weltweit bekannt wurde, wird jetzt noch erweitert um Reggae und brasilianische Rhythmen. Verantwortlich dafür sind Gäste wie der usrprünglich aus Sao Luis im Nordosten Brasiliens stammende Gitarrist Tommel Teixeira Ribeiro oder der Singer/ Songwriter Slim Moore, der familiäre Wurzeln auch in Jamaica hat. Höhepunkte sind das vorab als Single erhältliche „Ya Basta“, der wundervolle Reggae „Kingpin“ und „Tanbou Lou“. Hier ist ein vom Ansatz und den Instrumenten her „retro“ zu nennender Groove entstanden, der gleichzeitig in jeder Sekunde heutig ist. Ob man diese Musik Afro-Jazz oder anders nennen will - „Solidarity“ ist ein großartiges Album. Schade nur, dass es erst im Herbst erscheint. Denn eigentlich wäre das die ideale Sommerplatte 2012. Raimund Nitzsche einer Strandparty verglichen haben. Weniger irreführend sind Label wie Funkrock oder auch Jamrock für das klassische Trio. Es sind Lieder wie „Sex in the Morning“, die mich schon vor mehr als zwei Jahren packten und die noch heute das Besondere ausmachen: Soul of the River sind eben keine normale Rockband sondern sind ein Trio von Musikern, die sich bei Songwriter-Sessions am Strand gefunden haben und daraus ihre Ideen ziehen. Da wechseln sich punkige Reggaeklänge mit funkigen Bluesrock-Ausflügen und akustischen Balladen irgendwo zwischen Jack Johnson und G Love ab. Doch wo Johnson für mich immer klingt, als sei er kurz davor nach zuviel Hasch ins Koma zu fallen und seine Songs manchmal so einschläfernd sind wie die Kompositionen von Enya, da ist hier immer noch die Energie von jungen Rockern zu spüren, die sich nicht mit den Schwierigkeiten des Daseins abfinden wollen. Persönliche Höhepunkte neben „Sex In The Morning“ und dem Opener „Right Right“ sind für mich daher auch das treibende „Rider“ und das mit seinem peitschenden Drumgroove dahinjagende „The Well“. Wer hier statt Jack Johnson eher an The Clash oder meinethalben auch an The Police denkt, hat eher ka- Soul Jazz Orchestra - Solidarity Seit mittlerweile zehn Jahren gehört das kanadische Souljazz Orchestra weltweit zu den bekanntesten Vertretern des Afro Jazz. Ihr mit zahlreichen Gästen eingespieltes Album „Solidarity“, das im September bei Strut Records erscheint, erweitert das Spektrum um Sounds und Rhythmen aus Brasilien und der Karibik. „Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied!“ protestieren Zuhörer in Auerbachs Keller in Goethes Faust. Und immer wieder gab es seither die Auseinandersetzungen darum, ob und wie Kunst sich politisch engagieren sollte. Wenn ein Album sich nicht nur plakativ „Solidarity“ nennt sondern auch mit der Covergestaltung an die Plakatkunst sozialistischer Länder anknüpft, dann ist eine derartige Frage durch den Blues und Soul im Crossroad Cafe auf radio 98eins Soul of the River - Soul of the River Soul of the River haben mehr als fünf Jahre gebraucht, ehe ihr Debüt fertig wurde. Wenn man die Zeit seit der Bandgründung nimmt, dann hat es bis zum ersten regulären Album sogar zehn Jahre gedauert. Denn schon 2002 bildete sich im kalifornischen Riverside die Band, deren Klang einige mit einem zum Surfer mutierten Eddie Vedder bei 24 Alle vierzehn Tage dienstags gibt es von 20 bis 22 Uhr Blues, Soul und ähnliche Musik im „Crossroad Cafe“ auf radio 98eins. Hörer in Greifswald und Umgebung können die Sendung auf UKW 98,1 MHz empfangen. Für alle anderen gibt es den Livestream auf www.98eins.de. Hier sind die Sendungstermine: 14. August 28. August 11. September 25. September 9. Oktober © wasser-prawda nächsten Platten piert, warum Soul of the River eine überlangen anderen Lieder rausgekürzt hätte.... bemerkenswerte Rockband sind. Raimund Nitzsche PS.: Dass das Debüt so lange hat auf sich warten lassen, liegt nicht nur daran, dass die Musiker zwischenzeitlich komplett pleite (und einer von ihnen daher auch obdachlos) waren. Bassist Steve Hanson hatte zwischenzeitlich auch wegen Fahrens unter Drogen oder Alkohol eine mehrmonatige Haftstrafe abzusitzen. Gut, dass man jetzt über solchen Blödsinn hinaus ist und statt dessen sich wieder mehr um die Musik kümmert. Raimund Nitzsche Suzie Vinnick - Live At Blues- ne erste Band. Und in den letzten Jahren hat er mit einer Menge großartiger Musiker zusammengespielt, darunter mit Levon Helm, Garth Hudson und Lucky Peterson. „Late In The Lonely Night“ ist ein stilvolles und unterhaltsames Album voller Gitarrenblues. Maahn bringt mit Lieder vom Rand der Galaxis_solo Live ein Album mit deutschem Liedgut raus, bei dem nichts dafür spricht es nicht zu haben. Seinen treuen Fans braucht wohl niemand mehr zu sagen, wie gut er ist. Allen anderen sagen wir es hier: dieser Wolf Maahn ist gut, Leute. ville Studebaker John - Old School Rockin Der Name ist Programm: Studebaker John spielt auf seinem neuen Album Bluesrock und Rock ganz im Stile der späten 60er Jahre. Ach wenn doch das ganze Album so wäre wie der Opener „Rockin‘ The Boogie“: Studebaker John rotzt den Boogie so mitreißend runter, dass Leute wie George Thorogood und ähnliche Jünger von Hound Dog Taylor und J.B. Hutto neidisch werden könnten. Doch „Old School Rockin“ hat ein Problem: Es ist zu lang und hat zu wenig Abwechslung. Die fast unter Live-Bedingungen eingespielte Scheibe füllt die vorhandene CD-Länge komplett aus. Doch sind die meisten Lieder nicht wirklich originell. Und man erwischt sich immer mal wieder beim Gedanken, ob das Solo nicht vor zehn Minuten schon mal gehört wurde. Am besten gefallen mir die Songs wie „Dark Night“, wo die elektrisch verstärkte Bluesharp zum Einsatz kommt. Viel zu selten weicht Studebaker John auf der Gitarre von dem Einheitsbrei der Riffs ab und zeigt, dass er durchaus auch mal den Hendrix raushängen lassen könnte. Das passiert eigentlich nur in „I Stand Alone“. Und auch der zaghafte Ausflug in Latinblues a la Fleetwood Mac in Santanas Lesart in „Mesmerized“ ist eine angenehme Ausnahme. Ansonsten: Zu wenig Abwechslung, zu wenig Feinfühligkeit - und leider fast gar kein Blues mehr. Was hätte das für ein Album werden können, wenn man all diese Mit ihrem 2011 erschienenen Album „Me ‚n‘ Mabel“ wurde die kanadische Sängerin/Gitarristin Suzie Vinnick über ihre Heimat hinaus bekannt als eine hervorragende akustische Blueskünstlerin. Eingeladen wurde sie daraufhin vom Satelittenradio Sirius XM, eine Session für die Sendung B.B. King‘s Bluesville einzuspielen. Diese erscheint jetzt als Nachfolgealbum „Live At Bluesville“. Eine Frau, eine Gitarre. Mehr braucht es nicht, wenn eine Muskerin wie Suzie Vinnick am Mikrophon sitzt. Eine zarte und nur manchmal kratzbürstige Stimme thront über einer kräftig und fast rockend gespielten Gitarre. Die Songs meist Versionen von anderen, von Willie Dixon, Steve Winwood oder aus dem Gospel-Katalog. Aber auch die eigenen Stücke wie „Looking for a Kiss“ oder das mit Rick Fines geschriebene „How‘d You Know I Missed You“ passen da herein: Das ist Folkblues heute. Schade nur, dass die Session für Bluesville nur acht Songs und damit eine halbe Stunde umfasste. Erste Assoziationen des Rezensenten: Das Live-Album von Rory Block, was vor Jahren mal beim Women in (E)Motion-Festival in Bremen mitgeschnitten wurde. Und da war ich wohl nicht der erste, der hier eine verwandte Seele hörte. Suzie Vinnick wurde gemeinsam mit ihrer Gitarre Mabel schon nach Bremen zum gleichen Festival eingeladen. Jetzt muss ich mir doch noch mal „Me ‚n‘ Mabel“ zulegen. Und die Liste kanadischer Bluesmusiker, die es zu beobachten gilt, ist um eine wirklich bemerkenswerte Frau länger geworden. Raimund Nitzsche Manchmal hat man gleich zum Anfang das Lied gefunden, dass einem klar macht: diese Platte lohnt das Hören auf jeden Fall. Wenn „I Never Shoulda Listened“ mit seinem Kneipenklavier und der sexy Stimme von Karyn Denham losgeht, dann hat die Party begonnen und verspricht gut zu werden. Und auch der Rest des Albums von Tommy McCoy ist alles andere als langweilig. Als Gitarrist ist McCoy zum Glück nicht nur auf funkigen Bluesrock festgelegt, sondern hat auch für Soulblues (etwa in der Art von Robert Cray) ein Faible. Und er ist ein Songwriter, dem man gerne zuhört. Ok, es sind nicht alle Lieder so großartig wie das erwähnte oder der zweite Kracher „Dance Your Pants Off“ oder das schon fast programmatische „Cars Bars and Guitars“ (zuletzt leuchtete mir so eine Dreierreihe bei „Steaks und Bier und Zigaretten“ von Achim Reichel so direkt ein. Ok, „One Bourbon One Scotch One Beer“ sollte man natürlich auch nicht vergessen.) Anders als bei seiner normalen Triobesetzung in der Band wird auf dem Album wenn nötig der Sound durch Piano, Saxophon oder auch Frauenstimmen im Background angereichert. Und das tut der Scheibe auf jeden Fall gut. Wie gut McCoy auch bei langsamen Bluesnummern auf der Gitarre ist, das zeigt er ganz zum Schluss bei „My Guitar Won‘t Play Nothing But The Blues“. Raimund Nitzsche Hier gibt‘s den Beweis: 15 Tracks aufgenommen während der unvergessenen „Fieber Hautnah Solotour 2011“ zeigen den Meister und sein Publikum wie es besser kaum sein kann. Die atmosphärische Dichte an den Spielorten, sein stampfender Beat und die ständig spürbare Sympathie haben ein Tondokument geschaffen, das Impulse setzt. Dieses Album ist Genuss pur. Was macht diesen Ma(ah)n eigentlich so einzigartig? Sein Singen ist nicht unbedingt verfüherisch, sein Gitarrespiel nicht wirklich virtuos, seine Reime bisweilen simpel und dennoch dieser gesamte Mensch Maahn ist deutlich mehr als die Summe seiner Einzelteile; dieser Maahn törnt an, dieser Maahn vibiriert, dieser Maahn blutet für mich. Diesem Maahn würde ich gerne mal die Halsketten zusammenziehen und sagen ‚schau mir in die Augen Kleiner‘, gerne mal die Hände über die Brust streicheln und sagen ‚Zeig mir die Rosen im Asphalt‘, und wenn Du dann anfängst zu singen, Gevatter, dann würde ich der tobebenden Menge zurufen: „DIESER CLOWN HAT DEN BLUES!“ Ähnlich mögen die Massen, die die Klubs auf besagter Tour ausverkauft machten, empfunden haben. Eingefangen hat die Technik davon knapp 71 Minuten, die einem vorkommen wie eine komplette Tour. Dieser Maahn ist so deutsch, wie die Brüder Grimm und so wenig ‚kölsch‘ wie Hermann Hesse. Auch wenn es ‚Nothing But A Heartache‘ Wolf Maahn - Lieder vom zu hören gibt. Hier gibt es ein KulRand der Galaxis_solo Live Jau Gevatter, darauf hab‘ ich gewar- turgut, das in keinem Lehrplan fehTommy McCoy - Late In The tet: La-Ola auf den Wolken, Begeis- len sollte. - Mehr wollen wir hier terung in den Auditorien - der Sieg auch gar nicht versuchen in Worte Lonely Night Wenn man den Pressematerialien ist Dein! Dazu braucht‘s kein Tele- zu pressen; hier geht‘s um Musik glauben will, muss Tommy McCoy fon-Voting oder Internet-Polls. Du und zwar um einzigartig gute, so schon mit einer Gitarre in der Hand machst einfach nur unglaublich viel wie man Liebe macht, einfach nur geboren worden sein. Jedenfalls hat- Spaß und bist immer noch authen- gut.gut.gut! (Libero/Rough Trade) Lüder Kriete te er schon in der Grundschule sei- tisch, nah und ehrlich: dieser Wolf 25 © wasser-prawda Feuilleton Liter aturmeldungen Christoph Hein erhält Uwe-Johnson-Preis 2012 Der Schriftsteller Christoph Hein wird, wie die Mecklenburgische Literaturgesellschaft mitteilte, für seinen Ende letzten Jahres erschienen Roman Weiskerns Nachlass mit dem Uwe-Johnson-Preis 2012 ausgezeichnet. Der Autor werde damit auch für sein Lebenswerk gewürdigt. „Hein und Johnson liegen mit ihrem Beobachten und Erzählen dicht nebeneinander“, sagte der Vorsitzende der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft, welche den Preis zusammen mit der Tageszeitung Nordkurier alle zwei Jahre vergibt. Hein, der mit seiner Novelle Der fremde Freund bekannt geworden ist, verfasste zahlreiche prosaische Texte sowie Bühnenstücke. Die wahre Geschichte des Ah Q. Nach Lu Xun gilt als sein erfolgreichstes. Andreas Dresen verfilmte 2005 seinen Roman Willenbrock, einige seiner lyrischen Arbeiten wurden von Hans-Eckardt Wenzel vertont. Der Autor ist außerdem als Übersetzer (u.a. der Werke von Molière) tätig und war zwischen 1998 und 2000 erster Präsident des gesamtdeutschen PEN-Clubs. Sein Roman Weiskerns Nachlass erzählt die Geschichte des 59jährigen Dozenten Rüdiger Stolzenburgs. Dieser ist „ein prototypisches Mitglied des akademischen Prekariats“: Er besitzt keinerlei Aufstiegschancen, seine Forschungen verlaufen mehr oder minder im Sand und mit seinem Gehalt kann er gerade so seinen Lebensunterhalt bestreiten. Sein Arbeitsschwerpunkt, der Schauspieler und Kartograf Friedrich Wilhelm Weiskern, führt weder zu wichtigen Forschungsgeldern noch zu Publikationen. Zu allem Überfluss ist die vermeintlich sensationelle Entdeckung von neuem Material aus Weiskerns Nachlass auch noch eine Fälschung. Zusammen mit der ruinösen Steuernachzahlung scheint er daran zu zerbrechen. oben: Christoph Hein. Unten: Detail des Uwe Johnson-Denkmals in Güstrow von Wieland Förster. ganz unten: Olga Martinowa. Korrespondenzen und verschiedenen Materialien. Hinzu kommen das Archiv mit einer ungefähr 8000 Bände umfassenden Arbeitsbibliothek, mit Einrichtungsgegenständen, Möbelstücken sowie Erinnerungsgegenständen. Im Rahmen dieses Umzugs unterzeichneten am 17. Juli die Universität Rostock, die UweJohnson-Gesellschaft, die Johannes-und-Annitta-Fries-Stiftung, der Suhrkamp-Verlag und die Peter-Suhrkamp-Stiftung eine Erklärung, mit der das Fundament für eine 30-bändige Werkausgabe des Schriftstellers gelegt ist. Mit der Herausgabe des Gesamtwerkes soll aber frühestens 2014 begonnen werden. Uwe-Johnson-Nachlass nach Ros- 36. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt tock Nachlass und Archiv des 1934 in Cammin (Pommern) geborenen Schriftstellers Uwe Johnson werden ab kommendem Jahr in Rostock beheimatet sein. Bisher waren Nachlass (im Auftrag der Erben) und Archiv vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach verwaltet worden. Dieses konnte die letzte Rate für den Ankauf des Suhrkamp-Archivs, in dem sich Letzteres befindet, aber nicht aufbringen. DLA-Direktor Raulff hätte das Archiv des „Jahrhundertautors […] liebend gerne behalten“, dieses sei aber „nicht integraler Teil der Archive von Suhrkamp und Insel, um die es uns in erster Linie ging“. Das Deutsche Literaturarchiv hatte das Archiv im Jahr 2009 zusammen mit den Archiven von Suhrkamp, Insel sowie dem von Siegfried Unseld übernommen. Die drei Letzteren seien inzwischen bezahlt. Der Umzug nach Rostock sei nicht willkürlich. Neben dem Umstand, dass Johnson dort Germanistik studiert hat, ist auch die Tatsache, dass die Universität Rostock die einzige Johnson-Stiftungsprofessur beherbergt, sicher ausschlaggebend gewesen. Der Nachlass Uwe Johnsons besteht aus schätzungsweise 111 Archivkästen mit Manuskripten, Vom 5. bis 8. Juli 2012 haben vierzehn Autoren und Autorinnen ihre unveröffentlichten Texte bei den 36. Tagen der deutschsprachigen Literatur im österreichischen Klagenfurt vorgestellt. Nach mehreren Abstimmungsrunden vergab die Jury den mit 25.000 Euro dotierten IngeborgBachmann-Preis an die in Russland geborene Schriftstellerin Olga Martynova. Die vierzehn Autoren – Leopold Federmair, Isabella Feimer, Simon Froehling, Sabine Hassinger, Lisa Kränzler, Inger-Maria Mahlke, Olga Martynova, Stefan Moster, Matthias Nawrat, Hugo Ramnek, Mirjam Richner, Matthias Senkel, Andreas Stichmann sowie Cornelia Travnicek – stellten in einer Art von „Wettlesen“ ihre Texte einer Jury vor. Im Anschluss an jede einzelne Lesung lobten, kritisierten, sinnierten und stritten deren Mitglieder – u.a. Burkhard Spinnen, Meike Feßmann, Paul Jandl, Daniela Strigl und Hubert Winkels – über eben gehörte Arbeit, während die Literaten einem unausgesprochenem Redeverbot unterlagen. Dies ist zugleich das Aufregende an diesem Wettbewerb: neben Texten aus erster Hand, die von ihren jeweiligen Verfassern gelesen werden, wird hier die Möglichkeit geboten, der Arbeit von Literaturkritikern beizuwohnen 26 © wasser-prawda Feuilleton Kurzmeldungen Die schwedischen Zündhölzer, der in zahlreiche Sprachen übersetzt worden ist. Nach dem zweiten Weltkrieg, während dem er aktiv am Widerstand gegen die Deutschen beteiligt war, gründete er die Zeitschrift La Cassette, die zahlreiche französische Dichter veröffentlichte. 1969 wurde er für sein Gesamtwerk mit dem Großen Preis der Académie française ausgezeichnet, im selben Jahr stand er auf der Favoritenliste für den Literaturpreis Prix Goncourt, erhielt diesen aber nicht. Zwei Jahre später wurde er in die Verleihungsjury des bedeutendsten französischen Literaturpreises berufen. Sabatiers Lyrik war stark von den Surrealisten beeinflusst, seine Prosa beschäftigte sich mit Einzelgängern. Darüber hinaus verfasste er eine mehrbändige Geschichte der französischen Poesie. Am 5. Juli verstarb der niederländische Schriftsteller und Übersetzer Gerrit Komrij (Foto unten rechts) im Alter von 68 Jahren nach langer Krankheit. Er gilt einer der bedeutendsten Gegenwartsdichter der Niederlande. Komrij wurde mehrfach für seine Arbeiten ausgezeichnet – u.a. mit dem P.C. Hooft-prijs. 2000 kürten ihn Zeitungsleser zum Dichter des Vaterlands. Der Autor veröffentlichte mehr als 40 Bücher – seine 1979 veröffentlichte Lyrikanthologie De Nederlandse poëzie van de 19de en 20ste eeuw in 1000 en enige gedichten gilt gar als „Bibel der niederländischen Dichtkunst“ – und zählt damit nebenbei noch zu den produktivsten Dichtern seiner Zeit. Am 6. Juli verstarb die österreichische Lyrikerin und Exilforscherin Siglinde Bolbecher im Alter von 60 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit. Die Gründerin der Theodor Kramer Gesellschaft und des Vereins zur Förderung und Erforschung der Antifaschistischen Literatur war u.a. Herausgeberin des Lexikons der österreichischen Exilliteratur sowie der Buchreihe antifaschistische Literatur und Exilliteratur. Studien und Texte. Außerdem hat sie sich mit dem Frauen- und Männerbild im Nationalsozialismus sowie mit literarischen Arbeiten von Frauen im Exil beschäftigt. Im März dieses Jahres wurde Bolbecher für ihre Verdienst für „Erforschung und Verbreitung österreichischer Exilliteratur“ mit dem Goldenen Ehrenzeichen für besondere Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet. und so einen Eindruck von diesem selten auf Kompromisse ausgerichteten Geschäft zu erhalten. So lässt sich nebenbei ein Ranking möglicher FavoritInnen auf den Preis erahnen – was ja gern gesehen ist, wenn man an die unzähligen Castingshows denkt, und wird auch auf der offiziellen Seite des Wettbewerbs dokumentiert („Erster Tag ohne klare Favoriten“; „Lob und Verriss am zweiten Tag“; „Dritter Tag: Anerkennung und viel Kritik“). Auch in diesem Jahr ging es hoch her: neben Uneinigkeiten (u.a. „ungeheure Verlockung des Familiären“ vs. „schöner Schein“) und die Bedeutung metaphorischer oder allegorischer Bilder (u.a. ist ein Hund wirklich ein Hund oder sind Tiere wirklich Tiere?), über literaturtheoretische Grundfragen (u.a. nach dem Verhältnis von Literatur und Experiment), hin zu formalen Aspekten (u.a. Auffälligkeiten hinsichtlich der gewählten Erzählperspektive). Doch auch der handfeste Disput, der manchmal schon fast in verbalen Entgleisungen gipfelt, kam nicht zu kurz: auf einen Einwand von Paul Jandl entgegnete der Juryvorsitzende Burkhard Spinnen: „Jetzt gehen Sie aber an den Text heran wie ein stalinistischer Zollbeamter.“ Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu (Foto: rechts oben) wurde mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2012 ausgezeichnet. Der Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, begründete die Wahl dadurch, dass „Liao Yiwu […] in seinen Büchern und Gedichten den Menschen am Rande der chinesischen Gesellschaft ein aufrüttelndes literarisches Denkmal [setzt].“ Laois Werke, die sich durch eine starke, illusionslose und bildreiche Sprache auszeichnen, sind auf Grund seiner kritischen Haltung zur chinesischen Regierung verboten. Der Autor setzt sich mit der Brutalität und Absurdität willkürlicher staatlicher Repression auseinander. Die Schriftstellerin Anna Katharina Hahn (Foto: Mitte rechts) wurde am 23. Juni mit dem Wolfgang Koeppen-Literaturpreis der Hansestadt Greifswald ausgezeichnet. Der mit 5000 Euro dotierte Preis wird alle zwei Jahre verliehen. Ausgewählt wurde die Autorin vom letzten Preisträger Joachim Lottmann. Dieser begründete seine Wahl damit, dass Hahn präzise, ohne Ideologie und gegenwärtig schreibe. „Stuttgart 21 kommt vor, schwache Vatermänner, die aber liebevoll zu ihren Kindern sind.“, heißt es weiter. Und: „Jeder führt ein Leben, für das der Leser Verständnis hat. Man sieht alle Beschädigungen und kann sich nicht auf eine Seite schlagen.“ Wundervoll sei das, „eben echte Literatur.“ Die Suche nach seiner Nachfolgerin bzw. seinem Nachfolger – der Umstand, dass ein ausgezeichneter Autor den nächsten auszeichnet, stellt im Übrigen eine Besonderheit im Literaturbetrieb dar – gestaltete sich schwierig, wollte er mit seiner Wahl doch dem Geschmack des Namensgebers gerecht werden. Der Schriftsteller Richard Anders verstarb in der Nacht vom 23. auf den 24.6. an Herzversagen in Berlin. Der Wolfgang-KoeppenPreisträger von 1998 veröffentlichte zahlreiche vom Surrealismus beeinflusste Lyrik- und Prosabände. Neben dem automatischen Schreiben experimentierte er mit anderen surrealistischen Techniken, die Halluzinationen ausdrücken sollten. Dabei geholfen hat ihm auch der Konsum von Marihuana. Richard Anders wurde 84 Jahre alt. Am 28.06. verstarb der französische Schriftsteller Robert Sabatier im Altern von 88 Jahren. Berühmt geworden ist er mit seinem Roman Nach der Pflicht folgte – im wahrsten Sinne des Wortes – die Kür. Die achtköpfige Jury entschied sich nach langer Diskussion und einer zwei Runden dauernden Stichwahl für die von Jurymitglied Paul Jandl vorgeschlagenen Olga Martynova und ihren Text „Ich werde sagen Hi“ als Hauptpreis. Jandl sprach in seiner Laudatio von einem Buch, in dem es um „eine Kindheit [geht], die endet, als eine kreative Rationalität beginnt: als zur Sinnlichkeit schön gefüllter Damenstrümpfe und provinzstädtischer Eisdielen der Sinn tritt.“ Der Text sei „eine hochreflektierte Poetologie, in der es tatsächlich um Adam 27 und Eva geht, um die ägyptische Mythologie, um E.T.A. Hoffman, Daniel Charms, um eine Pharaonentochter, um Geschichte und Geschichten. Die Provinz, von der hier erzählt wird, ist die größte, es ist die des literarischen Einfalls.“ Der hier vermittelte Eindruck spiegelt sich auch in der Jurydiskussion wieder. Hubert Winkels sprach von einer schönen Arbeit und „ein[em] wunderbare[n] Kunstgriff“, während Daniela Strigl vor allem der „hintersinnig-lakonisch-archaische Witz“, der „sprachliche Rhythmus“ und der „Wechsel vom Dialog zur Geschichte“ gefal- © wasser-prawda Feuilleton len haben. Auch Meike Feßmann stimmte ein: „ein souverän und luftig erzählter Text“. Die 1962 in Dudinka geborene, in Leningrad aufgewachsene und in Frankfurt/Main lebende Olga Martynova verfasste zahlreiche Gedichte und Essays, von denen eine Vielzahl in verschiedene Sprachen übersetzt worden sind. 2010 wurde ihr erster Roman „Sogar Papageien überleben uns“ veröffentlicht, in dem kurze Episoden einer St. Petersburger Autorin geschildert werden. Dieses Werk landete u.a. auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sie ist als Essayistin und Rezensentin für die Neue Zürcher Zeitung, Die Zeit und die Frankfurter Rundschau tätig. Neben dem Hauptpreis wurden aber noch weitere Preise verliehen: Der von der Kärntner-Elektrizitäts-Aktiengesellschaft gestiftete und mit 10.000 Euro dotierte kelag-Preis ging an den von Hildegard Elisabeth Keller vorgeschlagenen Matthias Nawrat (Foto Mitte oben). Daniela Strigl hatte die „Parodie eines Familienidylle […] sehr gut gefallen“, Paul Jandl sah den Text gar als „postapokalyptisch und re-utopisch“ an und konnte nicht nachvollziehen, wie mit diesen mit den Schlagworten „Parodie“ und „Idylle“ in Verbindung bringen könne. Der Juryvorsitzende Burkhard Spinnen war hingegen enttäuscht: „Ein wunderbarer Text, aber nur als 1. Kapitel […]“ Hildegard Elisabeth Keller sprang ihrem Kandidaten zur Seite: „Diese Geschichte ist für mich exemplarisch dafür, wie ein Autor Figuren erschaffen kann, eine ganze Familie, die lebt, atmet und sich weiterentwickelt.“ In ihrer Laudatio wurde sie konkreter, indem sie auf Peter Bichsel und dessen Poetik-Vorlesung verwies: „Geschichten sind nur deshalb Literatur, weil sie uns an Geschichten erinnern.“ Der 1979 in Opole geborene Autor studierte Biologie in Heidelberg und Freiburg und am Schweizerischen Literaturinstitut. Zurzeit arbeitet er als freier Wissenschaftskolumnist und Kulturkritiker. Maria Mahlke (Foto rechts oben) und Stefan Moster zu entscheiden; er bat Stefan Moster um Entschuldigung und um Verständnis dafür, hielt aber an Mahlke fest. Hildegard Elisabeth Keller sprach von einem Text, der „auf den Oberflächen bleibe“ und fragte: „Warum erschöpft sich das Du an den Materialien dieser Welten, ohne eine Schicht tiefer einzudringen, wo vielleicht das Herz dieser Geschichte schlagen könnte?“ Hubert Winkels monierte zwar „das Zuviel an Geschichte in der Geschichte“, sprach aber von einer „konsequente[n] Nahaufnahme, egal ob man sich im Backshop, im Sado-Maso-Schuppen oder bei der Kinder-Erziehung befindet“. Für Corinna Caduff war das „ein ganz toller, eindringlicher Text über Ausweglosigkeit, der sein Konzept sofort klar macht.“ Auf den Einwand, „ das Du ist doch eine sozialtherapeutische Ansprache, das gefällt mir nicht“ von Meike Feßmann, reagierte Burkhard Spinnen mit: „Diese Frau tut Unsägliches und Unsagbares und ringt darum, sich das selbst vorzusagen, es zumindest in Sprache zu überführen“. Sichtbar werde hier die „Entfremdung des Menschen im Kapitalismus, […] ohne das [sic!] gleich von Harz IV die Rede ist.“ Die 1977 in Hamburg geborene Autorin studierte Rechtswissenschaften. Sie wurde für ihren Debütroman „Silberfischchen“ mit dem KlausMichael-Kühne-Preis ausgezeichnet. Der letzte Preis in dieser Reihe ist der von der BKS Bank gestiftete BKS Bank Publikumspreis, der mit 7.000 Euro dotiert ist. Dieser ging an Cornelia Travnicek (Jahrgang 1987, Foto unten rechts). Hubert Winkels lud sie nach Klagenfurt ein, was Jury als „eine gute Entscheidung“ bezeichnete, „wenn sie sich auch nicht darüber einig werden konnte, ob Literatur genuin verstören müsse oder eben auch nur unterhalten darf.“ Cornelia Travnicek ist seit ihrer Schulzeit in zahlreichen Literaturzeitschriften und Anthologien vertreten. Ihr Debüt feierte sie mit „Aurora Borealis“, wenig später folgte „Die Asche meiner Schwester“. Für die Arbeit an ihrem dritten Buch wurde sie bereits mit dem Theodor-Körner-Förderpreis ausgezeichnet. Erik Münnich Der mit 7.500 Euro dotierte 3sat Preis ging an die von Hubert Winkels vorgeschlagene Lisa Kränzler (Foto Mitte unten). „Willste abhauen“ sei eine Geschichte „der erwachenden Sexualität, die bekanntlich noch früher beginnt nach Freud als in diesem Text. Hier beginnt er im Kindergarten. Und in fünf Episoden wird im Grunde die leidenschaftliche Beziehung zweier Mädchen zueinander geschildert […]“, führte Winkels in seiner Laudatio aus. Diese „fünf Episoden, in denen sehr stark über Körper, über Nähe, Gerüche, über Häute, aber auch über Zorn, Gewalt, das Aufreißen von Oberflächen, diese sexuelle und erotische und Liebesbeziehung geschildert“ werden, haben ihn sehr beeindruckt. Lisa Kränzler, Jahrgang 1983, lebt in Freiburg. Sie studierte Malerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste. Mit „Export A“ legte sie ihren ersten Roman vor,. Protagonistin ist die 16järigige Austauschschülerin Lisa, die sich hin- und hergerissen zwischen Gehorsam und Ausbruch fühlt. Der mit 5.000 Euro dotierte und von verschiedenen Verlagen gestiftete Ernst-Willner-Preis ging an die Kandidatin des Juryvorsitzenden Burkhard Spinnen – interessant daran: „Juryvorsitzender Burkhard Spinnen hatte die schwere Aufgabe, sich zwischen seinen beiden Kandidaten, Inger- 28 © wasser-prawda Interview „Mich interessieren die Zufälligkeiten, das Kontingente im Täglichen.“ Silke Peters, 1967 in Rostock geboren, ist Schriftstellerin, bildende Künstlerin und darüber hinaus in vielen weiteren Projekten aktiv. Erik Münnich sprach mit ihr über Literatur, die Kunst von der Kunst zu leben und verschiedene Arbeits- wie Suchprozesse. stücken von der Müllkippe. Dort fand ich auch das erste Bild von Stalin. Ende der Neunziger habe ich angefangen, regelmäßig zu schreiben. Es schien als dass meine gestaute Kreativität ein Ventil brauchte. Außerdem hatte ich das Gefühl, ich kann nicht weiter autodidaktisch lesen und habe mich in ein paar Seminare gesetzt, um lesen zu lernen. Plötzlich gab es ja dieses Wort Geisteswissenschaft wieder. Und alle Bücher auch. Erik Münnich: Eine nicht ganz unbeträchtliche Außerdem hat mich die intellektuelle HausbaAnzahl von Menschen verlässt jedes Jahr mangels ckenheit der Naturwissenschaftler nicht mehr Zukunftsperspektiven Mecklenburg-Vorpom- sehr inspiriert. Durch die Seminare in Greifswald mern. Du bist hier geboren und immer noch da. – das von Michael Gratz – gab es die ersten literarischen Kontakte. Daneben den Wiecker Boten, Silke Peters: Zufall, denke ich. Ich habe eine Autorenbetreuung für Literaturveranstaltungen, Tochter und das macht mich etwas statischer als erste Wettbewerbserfahrungen und so was. das Mobilisierungsideal. Erik Münnich: Für junge Schreibende ist es nicht Erik Münnich: Du bist Lehrerin, arbeitest aber unbedingt ratsam, sich immer nur mit den eigenicht mehr in diesem Beruf. Wie kam es zu der nen Texten zu beschäftigen. Welche MöglichkeiEntscheidung, einen anderen Weg einzuschlagen? ten hast Du genutzt, um Dich auf einem anderen Weg mit Literatur im Allgemeinen und Deinen Silke Peters: Ich wusste nie, was ich werden will, Arbeiten im Besonderen auseinanderzusetzen? habe das Studium 1985 begonnen, um für mich Zeit zu schinden und lesen zu können. Die Geographie als Wissenschaft hat mich sehr geprägt Meine Deutschlehrerin hat mir ins Abund auch gehalten. Die langen Zeiträume, in iturzeugnis geschrieben: „Silke ist sehr denen man denken lernt, haben mich beruhigt. belesen.“ Das fand ich eine Frechheit. Die Botanik ist meine zweite Liebe. Als Lehrerin Mir war immer klar, was ich alles noch nicht gelesen hatte. zu arbeiten, war nie mein Ziel. Ich hatte, glaube ich, ein Forschungsstudium in der Geographie angestrebt. Heute arbeite ich ab und an gern mit Silke Peters: Lesen - sonst geht nichts. Meine Deutschlehrerin hat mir ins Abiturzeugnis geKindern im Bereich der Kreativitätsförderung. schrieben: „Silke ist sehr belesen.“ Das fand ich eine Frechheit. Mir war immer klar, was ich alles Ich habe viel gelesen, um mich von meinem Dorf und auch von den Zumu- noch nicht gelesen hatte. tungen der DDR zu entfernen. Silke Peters: Es gibt gerade viele frei flottierende Ängste, eine klimatische Änderung, die sich in Debatten entlädt. Aber man muss sich klar machen, dass es ein extrem unwahrscheinliches Ereignis ist, auf das man wettet, wenn man – dem Mittelstand vergleichbar – von der Kunst leben will. Erik Münnich: Zwischen Deinen – vorrangig – lyrischen Texten und Deinen künstlerischen Arbeiten bestehen Zusammenhänge. Silke Peters: Zusammenhänge entstehen ja immer, wenn man darauf aus ist, sie zu sehen. Ich habe in den letzten Jahren viel Kunstgeschichte gelesen und ein Weg, das zu begreifen, war für mich, selbst das Material in die Hand zu nehSilke Peters: Ich gut, meine Familie weniger. men. Es sind nur Notizen im nichtsprachlichen Mal eine Einladung, mal ein Stipendium, ein Raum für mich. Preislein oder ein Heftchen. Ich arbeite nicht marktförmig. Erik Münnich: Im September dieses Jahres erscheint im Greifswalder freiraum-verlag ein neuErik Münnich: Dazu passt das Schlagwort: „Die es Buch von dir: „Ich verstehe nichts vom MonKunst von der Kunst zu leben“… sun“. Auf den ersten Blick ein langes Gedicht, Erik Münnich: Die Frage nach dem AuskomErik Münnich: Wann hast Du angefangen, zu men ist verpönt, ich stelle sie trotzdem: kannst Du davon leben? schreiben? Gab es dafür spezielle Anlässe? Silke Peters: Es gab ein paar verstreute Texte seit dem Abitur. Ich habe viel gelesen, um mich von meinem Dorf und auch von den Zumutungen der DDR zu entfernen. In den Achtzigern war es die Begegnung mit dem Werk von Kurt Schwitters, die wie eine Erlösung für mich war. Wir haben Merzbilder collagiert – mit Beute- 29 © wasser-prawda Interview trotzdem hast Du es mit „Erzählung“ betitelt. Erik Münnich: Mal abgesehen vom Monsun Warum nicht mit „Lyrik“? – gibt es einen roten Faden zwischen Deinen Arbeiten? Silke Peters: Ich weiß im Moment leider nicht, was ein Gedicht ist. Als ich mein erstes Langge- Silke Peters: Es scheint diese Wälder zu geben, in dicht schrieb, merkte ich bei den Lesern, dass sie die man immer wieder geht. Die immer wieder eine Geschichte beim Lesen konstruieren. Eine einen Lese- und Forschungsansatz generieren. Erzählung macht ja glücklich, auch wenn sie eine Welches die Themen sind, mag jemand anderes Lüge ist. Es bleibt also beim Leser, diese Arbeit, besser überschauen als ich. Ich gehe immer noch diese Erzählung, für sich entstehen zu lassen, gern ins Gelände, also auf Exkursion, und erbeuwenn sie die Gattungsbezeichnung so ernst neh- te vielleicht einen neuen Ansatz. Mancher Ort men, wie sie sich gedruckt benimmt und er sich sperrt sich auch jahrelang. Entweder komme ich mit seiner eigenen Illusionsfähigkeit plagt. nicht hin. Oder die Texte geben nichts her, die ich von dort mitbringe. Und die Stadt ist, denke Erik Münnich: Der Text (siehe Vorveröffentli- ich, wichtig für mich. chung in diesem Heft) erscheint als eine Suche, der Versuch einer Orientierung. Was hat Dich Erik Münnich: Diesmal plakativer: nicht weniangetrieben bei dieser Arbeit? ge behaupten, Literatur wäre ohne Leiden nicht denkbar. Würdest Du dem zustimmen? Silke Peters: Die Sprache. Du sitzt am Schreibtisch und verwurstest das Material, das dir zu- Silke Peters: Oh Leiden – soll ja die einzige zufliegt und der Text hat nichts mehr mit dem Le- verlässige Transformationsmaschine sein, die wir ben zu tun. Ein völlig neuer Ort entsteht. Ein besitzen. Ist das für Literatur wichtig? Ich weiß es Unort. Das war sehr aufregend. Und mich in- nicht. Wichtig ist, dass ich von dem Punkt aus teressierten die Zufälligkeiten, das Kontingente schreibe, den ich im Moment übersehen kann im Täglichen. Ich habe versucht mich auf dieser mit aller Subjektivität. Ebene für diese Zeit offenzuhalten. Diese Dinge bilden den Rohstoff. Erik Münnich: Weg von der Literatur, wenden wir uns noch kurz anderen Deiner ProjekErik Münnich: Gab es einen speziellen te zu. Du hast u.a. das Frauennetzwerk M-V Arbeitsprozess? mitbegründet. jekterfahrung eingebracht, ohne die mein Leben hier im Land ärmer wäre. Silke Peters: Ich habe versucht, täglich an diesem Text zu arbeiten, immer mit einer kurzen Rückerinnerung an das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Tressentin an der Recknitz. Silke Peters: Es scheint mir gerade um den Luftraum zu gehen. Der Pneuma scheint mich affiziert zu haben, seitdem ich in der Heilgeiststraße arbeite und auf alle Kirchen Stralsunds sehen kann. Ich bestimme wieder Wolken und habe meine Meteorologiebücher hervorgeholt. Silke Peters: Das habe ich nicht gegründet. Ich habe die Frauen dort nur gefunden. In dem Projekt „Die Kunst von der Kunst zu leben“ hatte ich die Möglichkeit, mit vielen bildenden Künstlern und Künstlerinnen zusammenzuarbeiten. Das hat mir einige Freundschaften und viel Pro- 30 Erik Münnich: Frauen sind in vielen Bereichen der Gesellschaft unterrepräsentiert, auch in der Literatur. Sie haben es vermeintlich schwerer als Männer. Würdest Du das unterschreiben? Silke Peters: Es scheint so zu sein, dass Frauen von einem männlichen Standort aus schreiben müssen. Ich fand das mal bei Julia Kristeva. Familiensystemisch von der Position des Großvaters mütterlicherseits aus. Das scheint einiges etwas komplizierter zu machen, wenn man die eigene Identität zu sehr mit dem Schreiben in Zusammenhang bringt. Erik Münnich: Welche Möglichkeiten siehst Du, diesen Umstand zu verändern? Silke Peters: Ich weiß nicht, nachdenken und einander helfen, wenn es gerade möglich ist und leicht geht im konkreten Fall. Solidarität entsteht aus einer Verletzung, die man auch erlebt hat, sagt Richard Rorty. Erik Münnich: Zum Abschluss noch einen Ausblick auf die nächste Zeit: was hast Du Dir vorgenommen, was willst Du unbedingt angehen? © wasser-prawda Bücher Silke Peters Ich verstehe nichts vom Monsun (Auszüge) Die Nacht und der Schnee. Die Postkarte kommt immer noch an. Dieses Dorf ist getarnt eine beleuchtete Sache. Die Scheibe der Mondfinsternis schiebt sich vor. In den Ereignisraum. Mit Scilla wahrscheinlich. Skylla. An der Straße. Als wir uns unverhofft trafen. Ich strich diese Zeile aus. Denn wir hatten uns verabredet. Du kannst es nachrechnen. Die ganze Nacht. Die einsamen Schritte. Die linearen Prozesse. Das zerknitterte Papier. Die Lade jault auf. Dies ist eine Zuflucht. Ein Versuch. Mit den Verspannungen in den Gliedmaßen. Germaine Richiers Wesen. Das Äußerste tun in den Anweisungen des Gefundenen. Blaue Kröten fallen vom Himmel. Wir verkaufen nichts. Ihm oder vielmehr ihr zu nahe zu treten. Sie sehen nicht mehr so scharf hin. Die Weiden am Bach. Ach. Mein zurückhaltender Strich. Die Gespräche drehten sich um Existenz. Poetic justice. Bilder die sich aus dem Fixierbad unseres Gesprächs entwickelten. Sie stapeln sich zu unleserlichen Haufen. Dem die Doppelbilder entfernt wurden. Wenn es denn sein muss. Wenn Du es hören willst. Wenn. In der dritten Generation. Die windschiefe Scheune fällt. Geballte Zonen der Dunkelheit wenn sich die Farben zu gut mischten. Ich schreibe das jetzt auf. Märzgrau. Ein methodisches Stochern im Tag. Ich müsste dir antworten. Sie werfen Fluggegenstände vom Dach. Die Kinder. Spuren im stillen Gebiet. Ein Gebet. Wie kommen die Schlingen in den Bach. Tasten meine Hände. Das Ende absehen. Den fremden Gedanken verwenden. Was wird dann aus ihm. In mir. Er wird abgebaut. Verstoffwechselt. Meine eigene Zeile. Gelöscht. Morgens beim Aufwachen gegen die Schatten. Kälte und Glück. Das gezogene Los. Eines muss es ja besiegeln. Die Komposition dauert an. Im Gebirge ginge ich verloren. Auf welche Annahmen stützen wir uns. Beim Gehen. Ich schaue nicht mehr zurück. Ich überlasse es. Dem Gespräch der Amseln. Der zähen Feuchtigkeit unter den Fittichen. Wer ist der der das Schreiben macht. Die übersprungene Generation. Einflüsterungen. Alles wird weich. Tauwetter. Der Sinn. So sagte man dort vielleicht. So eine schöne Reise. Über das Schwarze Meer. Dorant und Dosten. Seine Blumen bleiben. Zu sublimen Zwecken. Iasis. Die Substanz ist unentdeckt. In den Abgründen der Sprüche. Die vergessenen Begriffe. Die unübersichtliche Barriere. Schweigen. Schwingt. Ich würde so gern sein Wort benutzen. Es bildet eine dicke Staubschicht. Hier gehen Hirsche auf der Straße entlang. Die Kästen füllen sich langsam. Mit Abraum. Die Halden dienen jetzt als Wegmarke. Dort entlang. Ich fahre ans Meer. Auf den zerbrochenen Stallfenstern. Ich mache mich klein im Wind. Hinter den Scheiben das Meer. Graue Struktur. Total chaotische Turbation. Ein grammatischer Rest. Eine Neige. Ich bin dazu abgestellt von den anderen. Manches ließe sich nicht abbilden. Manches schon. Die Möbel sind mein Ideenvorrat für die nächste Zeit. Daran muss ich denken. Wir reden über das Tote Meer. Seine Salzkonzentration in Promille. Wir setzen den Tiefpunkt hier. Den Kara Bogas Gol. Wir schütten Glaubersalz in den Tee. Es ist schon alles da. Einiges wird ausgelagert auf die andere Flussseite. Ich werde die Fähre nehmen. Der Wind blättert die Seiten um. Und. Das gibt ein kaltes Fließen. Diese Stelle ist verdorben. Wir schreiben morgens an einem langen Text. Die Beine erreichen den Boden nicht mehr. Ich fühlte mich dort sehr zu Hause. Die Interpunktion hatte mich über den Text gerettet. Ich gehe von Turm zu Turm durch die vergessene Bürgerlichkeit der Stadt. Ich winke jemandem Fremden zu. Verantwortlich. Der Tisch leerte sich. Das Bistro schließt. Ein ausgetrockneter Salzsee ist meine Landebahn. Die Schollen wölben sich an den Rändern. Rosa. Queller. Ich schäme mich ein paar Minuten lang. Irgendwie hatte ich vergessen mich aufzuladen. Ich sitze am Tisch. Jemand geht durch ein Weizenfeld. Die Handlungen werden diktiert. Und die Bilder sind überbelichtet. Im Bergwerk. Die Steigleitern. Das ist die letzte Tageszeile. Fleckig verweht die Spur Schnee. Die Raben gehen über den Teich. Es hatte sehr lang gedauert bis ich dort stand. Ich hatte dieses Viertel noch nicht erreicht. Der saure Geruch des Milchladens wehte über die Bücher. Jede Figur muss etwas wollen. Aus jedem Bild wächst ein anderes. Wir bleiben bei den Fakten. Bei den Übersetzungsprogrammen. Dem Vorhof der Wörter. Ich vermeide zu viele Eindrücke. Aber wie mache ich das. Vermeiden. Kosmologisch gesehen. Die Uhr geht nach. Eine Seite lang geht sie nach. 31 © wasser-prawda Bücher Die fünf Mykologen auf der Welt die sich noch über auf Pilzen schmarotzende Pilze unterhalten konnten. Flüssig. Und Ohren auf. Sonst Kristallbildungen an den Gradierwänden. Über Schwarzdorn. Über Wolkenbildern die haben ja Konjunktur. Ein gesprühter Verlauf auf dem Buchschnitt. Ein Rest Farbe an der Fingerkuppe. Das auch. Das wirklich gute ist ich verstehe nie etwas. Warum auch. Die Linien sind ja schon gezogen. Nach denen du peilst. Was danebenfällt. Ist geschenkt. Kompost oder einer sammelt es auf. Für das Präparat im Kästchen. Ein Sammelkästchen. Eine einzelne Seegurke angeklebter Tang. Bebt. Sinnfällig. Vor und zurück. Schwer im Geschirr. Kommt. Der Fund in die Trommel. Das Glas mit Oktopus. Hummer. Hunger. Windbeutelblase. Physa. Das ist jetzt ausgestellt. Wir hatten da ein Vokabellager auf der Hafeninsel. Verkauf nach Gewicht. Reines Maßstück Metall. Maßstück Buche verschollen bis auf weiteres. Aber das kann aber das kann rekonstruiert werden. Ja kann es. Noch. Geschehen denn Vereinsaustritte. Abtritt. Hahnenirgendwasmuster. Er machte dich ganz weich. Mich ohnmächtig. Die verlorene Unterschrift auf dem Gedicht begann zu schmerzen. Vergessene Narben schwollen an. Blau. Rot. Ich kann dich halten. Nächtelang deinen Atem auslesen. Alle Versprechen sind nichtig reagieren nicht auf den Tag. Jemand entzündete dein Licht im Park damit ich von dir wissen konnte. Wir ziehen in den Sommer ein. Bald. Mich überkommt ein Versprechen das ich mir gab. Aufzugeben. Im Moment der größten Ruhe. Im Januar. Mit Winterlingen in der Post. Silhouetten tanzen gegen das farbige Licht. Ich muss blinzeln. Immer noch. Dass es dich gibt tastet mein Arm. Gewissheit. Viel mehr nicht. Grenzverschiebung. Seitendrift. Die neusteten Theoreme des Zusammenlebens in den Nachrichten von dir. So einfach als hätte ich schon immer gewusst. Achtung dies ist uns wichtig. Wir werden es vergessen. Silke Peters, Ich verstehe nichts vom Monsun Erzählung Nachts. Die Möwen können schon auf dem Eis stehen. Wir werden uns verraten wenn ich nach den Möglichkeiten Ausschau halte. Und. freiraum-verlag Greifswald 2012 ISBN 978-3-943672-06-0 110 Seiten 11,95 Euro Erscheint am 1. September 2012. Es ist als hätten sie sich verschworen die Dichterinnen. Den Basalt zu sprengen. Wenn es ihre Biographie ist zu warten. Der Text weiß nichts. Von mir. Er lebt. Wie deine Textur. 32 © wasser-prawda Bücher „Von dem sprechen, was geschehen ist“- Das Werk des Ahmadou Kourouma in drei Teilen Keinen runden Geburtstag gibt es zu feiern, keinen sich jährendenTodestag zu beklagen, keine Neuauflage seiner Romane zu begrüßen. Die Beschäftigung mit seinen Werken benötigt keine kalendarische Rechtfertigung, wohl aber einen wachen Geist und ein offenes Herz. Vier Romane verfasste er in 76 bewegten Lebensjahren zwischen Westafrika, Asien und Europa. Er, der Nachkomme einer traditionsreichen Jägerdynastie aus dem Volk der Malinké, der zwangsrekrutierte Soldat der französischen Armee im Indochina-Krieg,der studierter Versicherungsmathematiker. Mehr als 25 Jahre seines Lebens verbrachte der ivorische Schriftsteller Ahmadou Kourouma im Exil in Algerien, Kamerun, Togo und Frankreich. Seine drei ins Deutsche übersetzten Bücher erzählen von afrikanischen Realitäten, traditioneller Magie und der blutverschmierten Fresse von Macht und Gier auf lokalen und globalen Bühnen. „Ich schreibe mit den Afrikanern für die Europäer. Ich schreibe wie sie, ich nehme ihre Probleme und breite sie vor den Europäern aus.“, hat er kurz vor seinem Tod im Jahre 2003 gesagt. Wenden wir unseren Blick also ab von statistischen Analysen sesselfurzender Experten, großzügigen Geberkonferenzen oder treu-doofen ZDF-Fernsehfilmen und lauschen stattdessen einer der kritischsten Stimmen afrikanischer Literatur. Von Ole Schwabe. I. Sonnen und Finsternis Der schwarze Fürst (Erstausgabe Wuppertal 1970; Neuauflage als „Der letzte Fürst“ 2004) „Freunde, Verwandte und selbst nur vorbeikommende legten Geschenke und Opfergaben nieder, die dann unter den Teilnehmern und den großen Malinké-Familien in der Hauptstadt verteilt wurden.“ Zu genau so einer große Malinké-Familie gehört auch Fama. Genauer gesagt zu einem der, und hier sind wir bereits am Knackpunkt angelangt, ehemals mächtigsten Clans. Ist doch Fama Doumbuya der „letzte legitime Sproß der Doumbouya-Fürsten von Horodougou, deren Totem der Panther ist.“ Der Abstieg von einem einst geachteten, wohlhabenden Händler mit Panther-Totem zu einer verachteten „Hyäne“, welche von den auf Beerdigungen erschlichenen Opfergaben lebt, kam selbstverständlich weder grundlos noch über Nacht, sondern nach und nach , unter den flirrenden Strahlen der „Sonne der Unanhängigkeiten.“ Diese verbrannte alles, was einem Mande-Malinké Fürsten wie Fama Lebensinhalt und Identität gewesen war: Krieg und freier Handel. Ersteres war durch die Kolonialzeit ausgemerzt worden, der freie Handel hingegen war auch den französi„In der Früh und am Abend ziehen sie von einem schen Kolonialherren ein Herzenswunsch. Nach Viertel zum anderen, um bei den Feierlichkeiten der Unabhängigkeit im Jahre 1960 war es, begünstigt durch Korruption, Chaos und der Podabeizusein.“ litisierung des Alltags- und Geschäftslebens, mit Und das lohnt sich, zumindest wenn das früher dem freien Handeln schnell vorbei. so florierenden, eigene Unternehmen von Umbrüchen und Pechsträhnen hernieder gerafft Fama kochte vor lauter Jammer, daß er so sehr die wurde. Nicht nur die tropische Sonne brennt im Jahre 1965 erbarmungslos auf die „Ebenholzküste“ herab, nein auch die „Sonne der Unabhängigkeiten nahm die eine Hälfte des Himmels ein, röstete das Universum und dörrte es aus, als wollte sie die kranheitserregenden Nachmittagsgewitter rechtfertigen.“ Fama Doumbouya ist spät dran an diesem Tag, dementsprechend hastet er durch das garstige Geknatter der Hauptstadt, inmitten der Flut derer, die keinen der von den neuen, schwarzen Machthabern versprochenen Arbeitsplätze ergattern können. Sein Ziel ist eine traditionelle Beerdigungszeremonie der Mande-Malinké, jenem stolzen Volk, dessen Angehörige in weiten Teilen Westafrikas zu Hause sind. Doch gehört Fama keineswegs zum wehklagenden Heer der Angehörigen, vielmehr zum abwartenden Haufen der „Hyänenbande“. 33 Franzosen bekämpft und verabscheut hatte, etwa so wie das Gräslein, welches murrte, weil ihm der Käsebaum alle Sonne nahm; als der Käsebaum umgeschlagen war, bekam es alle Sonne, doch auch den starken Wind, der es knickte. Und so lebt Fama alleine mit seiner Frau Salimata und zu allem Überfluss mit Unfruchtbarkeit geschlagen, verarmt und verbittert in der Hauptstadt. © wasser-prawda Bücher Doch was brachten die Unabhängigkeiten für Fama? Nur den nationalen Personalausweis und das Mitgliedsbuch der Einpartei. [...] Aufs Land kann er auch nicht zurück, weil er zu alt ist (der Boden von Horodougou ist hart und lässt sich nur umbrechen, wenn man starke Arme und kräftige Lenden hat). Selbstverständlich haben die hier leicht chiffrierten Pseudonyme „Einpartei“ ebenso wie „Sonne der Unabhängigkeit“ oder „Ebenholzrepublik“ realweltliche Vorbilder. Erstere ist die Rassemblement Démocratique Africain (RDA), eine 1946 gegründete, politische Sammelbewegung der afrikanischen Territorien Frankreichs. Diese ging mit der Unabhängigkeit im Jahre 1960, in der Ebenholzrepublik, der Republik Elfenbeinküste, de facto in die „Parti Democratique de Côte d’Ivoire“ (PDCI) über. Mitbegründet und dominiert wurden beide Bewegungen von Félix Houphouët-Boigny, einer der Bedeutungen der viel zitierten „Sonne der Unabhängigkeit“. Dieser hatte im Jahre 1965 fünf Amtsjahre als Präsident und Regierungschef auf dem Kerbholz, 27 weitere voll Peitsche und Zuckerbrot sollten folgen. Satt fressen durften sich an letzterem bevorzugte Geschäftsleute und Politiker des globalen Nordens, die Tubabas, welche Hand in Hand mit ivorischen Parteifunktionären und Unternehmern der hemmungslosen Ausplünderung von Land und Leuten frönten und bis heute frönen. „Schwarzer, das heißt Verdammnis. Wohnhäuser, Brükken, Straßen dort unten, alles von Afrikanerhänden erbaut, gehörten den Tubabas, dort wohnten sie. Daran änderten auch die Unabhängigkeiten nichts. Die Schwarzen stehen überall, unter allen Sonnen und auf jedwedem Grund barfüßig da, während sich die Weißen die größte Scheibe abschneiden und Fleisch und Fett nur so schlukken.“ Ein anderer Wind freilich wehte Intellektuellen entgegen, falls sie die Frechheit besaßen, den vom ehemaligen „Mutterland“ Frankreich und Houphouët-Boigny verordneten, marktliberalen und kulturell wie geopolitisch stramm westlichen Kurs zu kritisieren. Ahmadou Kourouma selbst musste nach einem 1963 veröffentlichten Theaterstück und der postwendenden Inhaftierung inklusive, wie er es selbst ausdrückte, „ein wenig Folter“ ins eingangs erwähnte, mehr als 25 Jahre währende Exil gehen. Im Jahre 1968 erschien sein Debüt unter dem Originaltitel „Le Soleil des Indépendances“ in einem kleinen kanadischen Verlag, zwei Jahre später dann beim renommierten Verlag Editions du Seuil in Paris. „Sonnen der Unabhängigkeiten, die ihre Schatten auf den Neger werfen“- vielen französischen Lektoren dieser Zeit erschienen feinsinnige Grobheiten dieser Art als abzulehnende Respektlosigkeit gegenüber der französischen Sprache. Inzwischen unter anderem mit dem Literaturpreis der Academie Francaise ausgezeichnet, wurde das Werk 1978 vom Ost-Berliner Verlag Rütten & Loening als „ Der Fürst von Horodougou“ erstmals auf Deutsch publiziert. Zwei Jahre später folgte dann die Veröffentlichung des Peter Hammer Verlags Wuppertal für Westdeutschland, der Titel diesmal: „Der schwarze Fürst“. Die hüben wie drüben fade Übersetzungen des im Französischen so klangvollen Titels (Le Sol- eil des Indépendances; wörtlich: Die Sonne der Unabhängigkeit), sollten nicht von der Lektüre abhalten. Denn Kourouma erzählt, neben den Grundzügen der Biographie seines eigenen Großvaters, vom harten, absurden Alltag unter alten und neuen Sonnen. Als einer der ersten afrikanischen Schriftsteller seiner Generation verließ er mit „Der schwarze Fürst“ die von afrikanischen Intellektuellen wie Aimé Cesaire (Antillen) und Léopold Sédar Senghor (Senegal) erarbeitete Grundrichtung der „Negritude“. So dominieren im Text weniger die in den Hauptwerken der Negritude häufig vertretenen, idealisierten Hervorhebungen afrikanischer Kulturpraktiken und Traditionen. Vielmehr beabsichtigt der Autor die Reflexion traditioneller wie neuartiger Probleme im Fluss des Lebens zwischen Vergangenheit und Zukunft, nennt die Taten weißer wie schwarzer Machthaber, zeichnet die Behäbigkeit einer patriarchalischen Gesellschaft ohne Existenzgrundlage samt dahin schmelzender Legitimation mit kräftigen Strichen. Auch grausame Riten und Traditionen stehen bei Ahmadou Kourouma auf dem Prüfstand. Beklemmend erzählt Kourouma von der rituellen Bescheidung Salimatas als junges Mädchen auf dem Dorf. Die Sonne erhob sich rotglühend hinter den Baumkronen. Die Geier, vom Blutdunst angelockt, stiegen auf, hoch über die Wipfel und die Nebelschleier. Hoch über den Köpfen zogen sie Kreise, stießen wil- 34 des Geschrei und Gekrächz aus. Die Beschneiderin kam nun auf Salimata zu, setzte sich, ihre Augen waren rot unterlaufen, Hände und Arme blutbesudelt, ihr Atem ging heftig und stoßweise. Der so ausgelösten Schockstarre rückt der Fetischpriester in der darauffolgenden Nacht mit einer brutalen Vergewaltigung zu Leibe. © wasser-prawda Bücher Das Parlamentsgebäude der Republik Elfenbeinküste in Yamoussoukro. Der kleine Ausgang von einer Matte verdeckt, führte in die Nacht hinaus, in den Busch, in die Mysterien. In dem Augenblick, da die Sonne allmählich schwere Lieder bekam, wurde die Matte beiseite geschoben, etwas griff nach ihren Hüften und ließ nicht los,etwas stieß in ihre Wunde; hängigkeit hatte er mit der „Politik“ auf das falsche Pferd gesetzt. Und dann wurde Politik ganz groß geschrieben. Fama ließ alles stehen und liegen und stieg mit angeborener Redefertigkeit und mit Zuversicht ein. Ein legitimer Sohn eines Häuptlings mußte mit Eindringlich lässt Kourouma seine heimliche Leib und Seele bei der Vertreibung der Franzosen Heldin sich an ihre, nach jahrelanger sexueller dabeisein. Politik hieß Männlichkeit, Rache; es galt, Verweigerung erfolgte Verstoßung aus der Dorf- fünfzig Jahre Besetzung durch die Ungläubigen zu gemeinschaft erinnern, ihre Flucht aus dem Haus schmähen, zum Kampf zu fordern, der Vernichtung ihres brutalen Schwagers bis hin zur Begegnung preiszugeben. mit Fama, ihrer einstigen großen Liebe. Doch während Fama verbittert und antriebslos Auch dieses Mal ergattert er, der Analphabet und durch die Straßen der Hauptstadt schleicht, un- Trampel, keinen der im postkolonialen Westafrifähig die Zeichen der Zeit beziehungsweise die ka so heiß begehrten Posten als „Generalsekretär eigenen Unzulänglichkeiten zu erkennen, schuf- einer Untersektion der Partei oder Direktor einer tet Salimanta tagtäglich hart, kocht und verkauft Kooperative.“ Reis auf Märkten und den großen Baustellen am Eines Komplotts beschuldigt wird er inhaftiert, Ufer der Lagune. gefoltert, verurteilt und nach wer weiß wie vieIhr sehnlichster Wunsch nach einem Kind je- len Jahren im Rahmen einer grell inszenierten doch bleibt, trotz unzähliger Fetische, Tinkturen Massenbegnadigung zur Nationalen Aussöhnung und Opfertiere, unerfüllt. Schließlich, als Fama frei gelassen. Gezeichnet von Haft und Versagen in den Foltergefängnissen der „Sonne der Unan- kennt er danach nur noch eine Richtung. hängigkeit“ verschwindet, lässt sie sich von einem befreundeten muslimischen Marabout das Fuhr Fama nach Togobala, um ein neues Leben lang ersehnte Kind machen. zu beginnen? Nein und nochmals nein! So widerEinige Monate davor reist Fama zu Feierlichkei- sprüchlich es auch schien, Fama fuhr nach Horoten zurück in sein Dorf, welches sich nach den dougou, um so bald wie möglich zu sterben. Umwälzungen der Unabhängigkeiten auf dem Staatsgebiet der „sozialistischen Republik Niki- Genau dieser Fall tritt schneller ein als befürchtet nai“ befindet, der sprachlichen Verballhornung und im tragisch-komischen Ableben Famas zwifür Guinea unter seinem sozialistischen Unter- schen künstlichen Grenzen spiegelt sich Kouroudrücker Sékou Touré. Schnell steht Fama ohne mas scharfsinnig Analyse der wirren Epoche. ausreichend Geld da, um die von ihm als „Fürst“ erwarteten Wohltätigkeiten und Opfertiere be- „Die heiligen Kaimana Horodougous würden den zahlen zu können. letzten Sproß der Doumbouya nicht anzugreifen Warum Fama schon bald nach seiner Rückkehr wagen.“ verschwindet? Wie bereits zu Zeiten der Unab- „Der schwarze Fürst“ gehört, über 40 Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen, zu jeder halb- 35 wegs ausgestatteten westafrikanischen Schulbibliothek. Doch auch wir sollten es lesen und durchdenken. Hauptgrund hierfür ist, neben der spannenden Abkehr von der Negritude, Kouroumas Ausdrucksweise. Sein Romandebüt legte den Grundstein für eine Sprache, deren Muster und Rythmus dem Malinké entstammt, während sich ihr Wortschatz aus dem Französischen speist. „Kourouma spricht auf Französisch Malinké.“, lobte einst sein senegalesischer Schriftstellerkollege Cheikh Hamidou Kane. Dazu gehört auch das Erzählen in der Tradition der mündlichen Überlieferung, ausgeübt von den traditionellen Hofpoeten, den Grioten. In ihren Fußstapfen bewegt sich Ahmadou Kourouma in all seinen Romanen. Sein Schreibstil ist in Freud wie Leid bunt und verspielt wie der Blick der empfindsamen Schelms, leidenschaftlich und blitzgescheit. Alle naselange wachsen Metaphern und Gleichnisse, mal frivol, mal schwermütig, aber immer fabelhaft. Die elf Kapitel des in drei Teile gegliederten, 208 Seiten langen Buches tragen klangvolle Namen wie „Um den Hals die Zaubereisen, mit Stahlstacheln gespickt, wie beim Jagdhund auf Pavianhatz.“, „Mit abgemessenen Schritten hinein in die Nacht des Herzens und ins Dunkel der Augen“ oder „Die wilden Vögel begriffen als erste die historische Tragweite der Ereignisse.“. Unverdünnter Alltagsstoff und schwer greifbare Magie künden so von Umbrüchen, vom Scheitern, von der Wandelbarkeit sozialen Ansehens, zweischneidigen politischen Schwertern und der unfassbaren Reduzierbarkeit verachtenswerter Erscheinungen auf die Melange aus Mensch und Geld. Ein Buch von erschreckender Zeitlosigkeit, scharfem Blick und großem Witz. Vermutlich wird es gerade deshalb viel zu wenig gelesen. © wasser-prawda Bücher Annabel Pitcher Meine Schwester lebt auf dem K aminsims „Ich war erst fünf, als es passiert ist. Jasmine war zehn. Sie war Rose‘ Zwillingsschwester. Und für Mum und Dad bleibt Jasmine immer zehn.“ Rose, die ältere Schwester des kleinen Erzählers ist tot. Sie starb bei einem Terroranschlag in London, als ein Papierkorb im Park direkt neben ihr explodierte. Jamies Eltern machen sich gegenseitig Vorwürfe und vergessen darüber ihre noch lebenden Kinder. Die Mutter brennt irgendwann durch und der Vater ertränkt sich im Alkohol. Ein Eltern-Paar, dass sich irgendwie nie einig war. Selbst die gefundenen Überreste ihrer Geliebten Tochter werden gerecht unter den Eheleuten aufgeteilt. Die Mama bekommt ein Grab auf einem Londoner Friedhof, das sie dann aber doch nicht zu besuchen wagt, und der Vater stellt sich „seine“ Körperteile eingeäschert auf den Kaminsims, weil er es nicht übers Herz bringt, die Asche ins Meer zu streuen. Als Jamie Geburtstag hat, futtert er aus Trotz der Urne das vom Vater bereitgestellte Tortenstück weg. Und genau darum scheint es in dem Roman zu gehen: sich von einer Toten nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. So beginnt er eine Freundschaft mit Sunya, seiner muslimischen Schulkameradin, obwohl der Vater Muslime für Rose‘ Tod verantwortlich macht und vor allem mit den beiden Kindern aufs Land gezogen ist, weil es dort keine Muslime gäbe. Eigentlich leidet Jamie nicht unter dem Tod der Schwester. Er selbst kann sich nur an wenige Augenblicke mit ihr erinnern. Aber dass seine Mutter sich aus dem Staub macht, seine Schwester das Essen verweigert und der Vater unerreichbar wird, bleibt für ihn nicht ohne emotionale Folgen. Dass Pitcher die Perspektive des 10-jährigen Jungen ohne Erinnerung wählt, macht den Roman zu einem Buch über Trauer, Familie, Liebe und Toleranz ohne jede Theatralik, ohne Zynismus, ohne Gefühlsduselei. Ein Buch, das auf eindringliche Weise zeigt, wie Kinder in einer Familie überleben, wenn ein Kind stirbt, in dem aber auch Sätze wie : „Hier sieht es ganz anders aus als in London. Es gibt Berge, die so hoch sind, dass sie Gott in den Po pieken könnten“ stehen, und in dem der Leser auch ger- 36 ne mit einem Zehnjährigen über die Dummheiten seines Vaters herzhaft lachen kann. Ganz allgemein bin ich kein großer Fan davon, wenn Erwachsene versuchen, Bücher über Kinder aus ihrer Perspektive zu schreiben. Annabell Pitcher aber ist es gelungen, ein Buch über und für Kinder zu schreiben, wie auch über und für Erwachsene, das sich zu lesen und zu verschenken definitiv lohnt. Kristin Gora Annabel Pitcher, Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims Roman Aus dem Englischen übersetzt von Sibylle Schmidt 224 Seiten Wilhelm Goldmann Verlag München 2012 ISBN: 978-3-442-31253-5 16,99 Euro (Hardcover) 13,99 Euro (eBook) © wasser-prawda Feuilleton Zbigniew Przadk a yesterday‘s heroes (d:gallery, K assel) Schenkt man mächtigen Meinungsbildnern Glauben, dann hat Kassel nur während der 100 Tage dauernden dOCUMENTA 13 in den nur für diese Ausstellung vorgesehenen Räumen wirklich Kunst zu bieten. Für die der begehrte Besucher naturlich angemessen bezahlen muss. Wer nach Kassel kommt kann aber auch neben der dOCUMENTA fündig werden, und dass mindestens ebenso international, ebenso spannend und dazu noch deutlich preisfreundlicher. Der Pole Zbigniew Przadka ist einer von diesen Künstlern, die in Kassel derzeit in der zweiten Reihe stehen und doch bereit sind, auf die Überholspur zu wechseln. Teile seines Werkes „yesterday‘s heroes“ sind derzeit in der d:gallery in Kassel-Wehleiden zu sehen. - Unser Autor Lüder Kriete empfiehlt die Begegnung mit dieser Kunst ganz nachdrücklich. Mit seiner offen Werk-Reihe „yesterday‘s heroes“ zeigt Zbigniew Przadka einen kleinen repräsentativen Ausschnitt aus der bis jetzt über 60 Werke umfassenden Serie. Diese Werkschau ist ein Teil der aktuellen Ausstellung „80 Tage KunstStaffel“ in der Kasseler d:gallery. Meist entstehen am Anfang kleine, einzelne Miniaturen, etwa in der Größe einer Zigaretten-Schachtel, die dann zu einer Gruppe, einem Ensemble, einer Combo, einer Band von 6 bis 13 Bildern auf einem Tableau zusammengestellt werden. Zeitlich entstehen diese Helden oft später am Abend, nach getaner Arbeit, einem entspannenden Schoppen Rotwein und einer harmonischen, kreativen Spannung neben der Ruhe zum Geniessen. Grundlage ist meist eine Zeichnung. Diese wird auf Kreidepapier mit Tusche und Wachs aufgetragen. Dazu ein magisches Tröpfchen Wasser und die künstlerische Erfahrung des Meisters, so entsteht auf dem Blatt eine einzigartige Mischung, die an frühe Daguerreotypie erinnert. Je nach Intensität der Farben kann auch der Eindruck von Emaille-Arbeiten entstehen. Beabsichtigt waren diese Effekte nicht, sie enstanden im schöpferischen Prozess und haben sich quasi ihr Thema selbst gesucht. „yesterday‘s heroes“ das ist wie eine Rückschau auf die kreativen Kräfte, ihre Verwandlung durch die Zeit, ihre Verwandlung im Betrachter und auch Hörer. Denn diese Bilder tönen, sprechen, verkünden eine Botschaft. Wer „live“ vor diesen Bildern steht, der empfindet intuitiv den zu ihm sprechenden, im Bild lebenden; ist es Mick Jagger, Keith Richards, Willy DeVille oder gar Karl May? Und doch sind es keine Portraits dieser Menschen, es ist mehr der ‚Spirit‘ dieser Wesen und ihrer Kunst, der in eine intime Kommunikation mit dem Betrachter tritt. Die Leute kenn ich doch von damals, das war doch gleich um die Ecke bei uns oder war‘s damals vor‘m TwenClub oder vielleicht doch bei . . . Die Beatles haben mit ihrem Hit „Yesterday“ sicherlich einen Impuls für diese Reihe gegeben, aber eine reine ‚Musik-Revue‘ ist es eben nicht. Es ist strömende Zeit in Bildern, dargestellt in vielen kleinen Facetten. Schön, retro und doch kein bisschen nostalgisch. Eine neuerliche Verwandlung erfährt die Technik, indem die kleinen Miniaturen fotografiert und auf etwa DIN A 2 vergrößert werden. Sieben solcher „großen Bilder“ sind in der d:gally zu sehen. Diese Vergrößerungen werden zudem 37 noch mit Farbe weiter bearbeitet, sodass es nicht beim reinen Druck bleibt. Die Preise für diese Tableaus und Drucke bewegen sich in einem sehr moderaten Rahmen im unteren dreistelligen Bereich. Auch in diesem Bereich kann der dOCUMENTA 13 also locker paroli geboten werden. Zbigniew Przadkas „yesterday‘s heroes“ können in der d:gallery, Schönfelder Str. 41 b, 34121 Kassel, besucht werden. Die Öffnungszeiten sind Do + Fr 15-19; Sa 11-19; So 11-16 mit Brunch. Tel.: 0561 - 766 08 077 © wasser-prawda Feuilleton 38 © wasser-prawda Feuilleton 39 © wasser-prawda Feuilleton Isabel Wienold Digitale Collagen Jürgen Buchmanns „Memoiren eines Münsterländer Mastschweins“ laden mit ihrer überbordenden Fabulierlust geradezu dazu ein, sie auch grafisch oder mit anderen Medien umzusetzen. Seine Uraufführung fand das Werk denn auch 2011 als halbszenische Inszenierung. Dafür fertigte die Bielefelder Grafikerin Isabel Wienold eine Serie digitaler Collagen an, die zunächst als Bühnenhintergrund dienten. Doch die aus diversen Werbebeilagen zusammengefügten Bilder wirken auch als eigenständige Arbeiten. Das Schwein und seine Odyssee durch die Weiten Ostwestfalens hin nach Bielefeld werden zusammengesetzt aus Fotografien von Lebensmitteln zwischen Knäckebrot und Schweinemett und geben dem Text eine ganz eigene komische (oder auch konsumkritische) Deutungsebene. Wird doch der „natürliche“ Weg des Mastschweins vom Koben zur Fleischertheke oder den heimischen Grill den Anstrengungen des Tieres, als Autor die Sprache zu Fall zu bringen entgegen gestellt. Von den zehn Collagen, die im Format A 3 als Einzelstücke gedruckt wurden, können einzelne Exemplare über die Redaktion der WasserPrawda bestellt werden. Der Preis beträgt pro Isabel Wienold (Jg. 1964) arbeitete von 1995Bild 15 Euro. Für 12 Euro kann man die ge- 99 als Gestalterin bei der politischen Wochenzeitung StadtBlatt in Bielefeld. samte Serie als Postkarten erwerben. 40 Seit 2000 ist sie als selbständige Grafikdesignerin und Illustratorin hauptsächlich für gemeinnützige Organisationen tätig. © wasser-prawda Feuilleton 41 © wasser-prawda Feuilleton Edgar Wallace A.S. der Unsichtbare The Valley of Ghosts (1922) Kriminalroman Aus dem Englischen übertragen von Ravi Ravendro 2 Nachdem man in Beverley angekommen war, mußte Andy erst noch einige Formalitäten erledigen, bevor der Gefangene nach London überführt werden konnte. Es wurde ihm auf der Polizeistation mitgeteilt, daß die Überführung erst noch von einem lokalen Justizbeamten genehmigt und angeordnet werden müsse. »Wo kann ich denn einen finden?« fragte Andy. »Da ist zunächst Mr. Staining, Sir«, sagte der Polizeisergeant gemütlich, »aber der ist gerade krank. Dann Mr. James Bolter, aber der ist auf Urlaub. Mr. Carrol – gut, daß ich daran denke, der ist zur Pferdeschau gegangen. Er züchtet nämlich –« »Es scheint hier etwas in der Luft zu liegen«, unterbrach ihn Andy, »das die Leute schwatzhaft macht, Sergeant. Aber vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Ich wollte nicht die Leute wissen, die nicht zu sprechen sind. Gibt es hier in der Nähe denn niemand, der das Amt eines Friedensrichters verwaltet?« »Ja, wir haben hier einen solchen Herrn«, erwiderte der Sergeant mit Nachdruck. »Mr. Boyd Salter. Der wird Ihnen den Schein ausstellen.« Er fügte aber vorsichtig hinzu: »Wenn er zu sprechen ist.« Andy mußte lachen, machte sich aber doch auf, um sein Heil bei Mr. Boyd Salter zu versuchen. Er fand, daß der nächste Weg zu dessen Haus nicht über Beverley Green führte. Mr. Salters Ländereien grenzten an Beverley, man konnte am Ende der Stadt durch ein großes Parktor zu seinem Besitz kommen. Andy hatte es schon vorher bemerkt und war neugierig gewesen, wer da wohnen mochte. Beverley Hall, der Sitz Mr. Boyd Salters, war ein stattliches Gebäude, das im Stil des berühmten Iñido Jones erbaut war. Hier herrschten Schweigen und Ruhe. Das Ticken einer Standuhr war das einzige Geräusch, das Andy vernahm, als er in die geräumige, mit Steinfliesen ausgelegte Halle geführt wurde. Der Diener, der Andys Karte hineintrug, ging völlig geräuschlos, und Andy bemerkte zu seinem Erstaunen, daß der Mann Gummischuhe trug. Als dieser nach einiger Zeit zurückkehrte, bat er den Detektiv, näher zu treten. »Mr. Salter ist leidend. Wenn Sie in seiner Gegenwart recht leise und ruhig sprechen wollten, würde er Ihnen sicher sehr dankbar sein.« Andy erwartete nun, einen schwerkranken, zitternden, alten Herrn zu finden, der in einem Sessel saß und von vielen Kissen gestützt wurde. Aber er trat einem gesund aussehenden Mann von etwa fünfzig Jahren gegenüber, der lebhaft aufschaute, als sein Besucher den Raum betrat. »Guten Tag, Mr. Macleod. Was kann ich für Sie tun? Ich sehe, daß Sie Polizeibeamter sind«, sagte er und betrachtete die Karte noch einmal. Andy erklärte ihm die Ursache seines Besuches. »Es ist nicht nötig, daß Sie so leise sprechen«, meinte Mr. Salter lächelnd. »Tilling hat Sie wahrscheinlich darum gebeten? Manchmal bin ich allerdings sehr nervös, aber heute habe ich einen guten Tag.« Er las das Schriftstück durch, das Andy ihm vorlegte, und unterschrieb es. »Unser Freund ist der Diamantenräuber, nicht wahr? Wo hat er sich denn versteckt gehalten?« »In Ihrer Gartenstadt«, erwiderte Andy. Ein Schatten legte sich über Mr. Salters schöne Gesichtszüge. »Sprechen Sie von Beverley Green? Er war natürlich im Gästehaus?« Andy nickte. »Haben Sie einen der Villenbesitzer getroffen?« »Ja – Mr. Merrivan.« »Es sind merkwürdige Leute!« sagte Mr. Salter nach einem kurzen Schweigen. »Wilmot, sein Neffe, ist ein sonderbarer Mensch. Ich weiß nicht, was ich aus ihm machen soll. Mir ist schon öfters der Gedanke gekommen, daß er ein Gentlemanverbrecher ist. Wirklich, ein merkwürdiger Kerl! Und dann dieser Nelson – ein heruntergekommener Bursche! Trinkt wie der Teufel!« Andy erinnerte sich jetzt an die Geschichte, die er von dem Künstler gehört hatte. »Er hat ja wohl eine Tochter«, warf Andy hin. »Ja, ein hübsches Mädchen. Wilmot soll mit ihr verlobt sein. Mein Sohn erzählt mir alle diese Neuigkeiten, wenn er zu Hause ist. Der bringt alles heraus. Er müßte eigentlich Detektiv werden – er ist aber noch auf der Schule.« Er schaute auf den Haftbefehl, löschte die Unterschrift ab und reichte Andy das Schriftstück über den Tisch. »Mr. Merrivan scheint ein sehr liebenswürdiger Herr zu sein«, setzte Andy die Unterhaltung fort. »Ich weiß nichts Genaueres über ihn. Ich habe noch nicht mehr als ›Guten Tag‹ zu ihm gesagt. Er scheint harmlos zu sein, ein wenig langweilig, aber harmlos, und er redet zuviel – wie alle Leute in Beverley.« Um diese lokale Eigenart zu bestätigen, sprach er dauernd weiter und erzählte die Geschichte von Beverley und seinen Bewohnern. Plötzlich brachte er das Gespräch auf den Herrensitz. »Es ist ein schöner, ruhiger Platz, aber es ist auch sehr teuer, ihn zu unterhalten. Ich wäre nicht imstande gewesen, für alles aufzukommen, wenn –« Er sah schnell fort, als ob er fürchtete, der Besucher könnte seine Gedanken lesen. Erst nach einiger Zeit begann er wieder zu sprechen. »Haben Sie jemals mit dem Teufel zu tun gehabt, Mr. Macleod?« Er scherzte nicht, sein Blick war ernst und fest. »Ich bin schon einer ganzen Anzahl kleinerer Teufel begegnet«, erwiderte Andy lächelnd, »aber ich habe noch nicht das Vergnügen gehabt, ihr Oberhaupt in Person kennenzulernen.« Mr. Salter schaute Andy mit abwesendem Ausdruck an, obwohl eine sonderbare Bestimmtheit in seinem Blick lag. »In London lebt ein gewisser Albert Selim«, sagte er dann langsam, »dieser Kerl ist ein Teufel. Ich erzähle Ihnen das nicht, weil Sie Polizeibeamter sind. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich davon spreche. Ich habe schon so manchen Verhaftungsbefehl unterzeichnet, aber niemals habe ich die Feder aufs Papier gesetzt, ohne an diesen größten aller Verbrecher zu denken. Er ist ein Mörder – ein Mörder!« Andy war bestürzt. »Er hat Menschen getötet, er hat ihre Herzen gebrochen und sie vorzeitig unter die Erde gebracht. Einen meiner Freunde hat er fast erdrosselt!« Bei diesen Worten preßte er seine Hände so krampfhaft zusammen, daß die Knöchel weiß wurden. »Albert Selim?« Andy wußte nichts anderes zu sagen. Mr. Salter nickte. »Wenn er, wie ich hoffe, eines Tages doch einen Fehler macht und in Ihre Hände fällt, wollen Sie mir dann den Gefallen tun und mich benachrichtigen? Aber dazu wird es wohl nie kommen – der läßt sich nicht fangen!« »Ist er arabischer Herkunft?« Boyd Salter schüttelte den Kopf: »Ich habe ihn nie gesehen. Ich habe auch noch niemand getroffen, der persönlich mit ihm. zusammengekommen wäre«, sagte er zu Andys größtem Erstaunen. »Nun will ich Sie aber nicht länger aufhalten, Mr. Macleod. Was haben Sie eigentlich für einen Rang, wenn ich fragen darf?« »Die Frage habe ich mir auch schon öfters vorgelegt. Ich habe Medizin studiert.« »Sie sind Arzt?« Andy nickte: »Ich führe viele Untersuchungen und Obduktionen aus. Ich bin eigentlich Pathologe.« Boyd Salter lächelte: »Dann hätte ich Sie mit ›Doktor‹ anreden sollen. Sie haben sicher in Edinburgh studiert?« Andy bejahte die Frage. »Ich habe eine Vorliebe für Ärzte. Meine Nerven quälen mich entsetzlich. Gibt es dagegen nicht ein Heilmittel?« »Psychoanalyse. Mit ihrer Hilfe kann man krankhafte Komplexe erkennen und aus dem Denken ausschalten. – Leben Sie wohl.« 42 © wasser-prawda Feuilleton Ein Gespräch über Medizin war das sicherste Mittel, Andy zum Aufbruch zu veranlassen. »Auf Wiedersehen, Herr Doktor. Sie sehen noch sehr jung aus für Ihre Stellung – Sie sind doch nicht älter als dreißig oder einunddreißig?« »Sie haben es richtig getroffen,« erwiderte Andy lachend und verabschiedete sich. 3 Stella Nelson verließ das Postamt in Bestürzung und Schrecken. Obgleich sie sich nicht umsah, wußte sie doch, daß ihr der Herr mit den scharfgeschnittenen Gesichtszügen aus der Telefonzelle nachschaute. Was würde dieser Mann denken, für den wahrscheinlich schon das kleinste Zucken eines Augenlides Bedeutung hatte? Sie war beinahe schwach geworden, als sie das Wort ›Detektiv ‹ hörte; er hatte auch sicher gesehen, wie sie schwankte und blaß wurde, und er mußte sich über ihr Benehmen gewundert haben. Am liebsten wäre sie davongelaufen; und es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, ihre Schritte nicht noch mehr zu beschleunigen. Sie ging rasch den Abhang zum Bahnhof hinunter. Dort erfuhr sie, daß sie noch eine halbe Stunde bis zum Abgang des Zuges zu warten hatte. Sie war so frühzeitig von zu Hause fortgegangen, weil sie noch einige Besorgungen machen wollte. Aber konnte sie zurückkehren? Durfte sie sich seinen forschenden Blicken, die sie so erschreckt hatten, noch einmal aussetzen? Schließlich ging sie zurück. Ihr Selbstbewußtsein zwang sie dazu. Und sie atmete erleichtert auf, als sie sah, daß der dunkelblaue Wagen verschwunden war. Sie eilte von einem Geschäft zum anderen, um so schnell wie möglich fertig zu werden. Nach kurzem Zögern wandte sie sich wieder zum Postamt und kaufte noch einige Marken. »Welchen Beruf hatte der Herr, von dem wir vorhin sprachen?« Es kostete sie einige Mühe, ruhig zu fragen. »Er war Detektiv, mein Fräulein«, sagte der alte Postbeamte wichtig. »Ich weiß nicht, hinter wem er her ist.« »Wohin ist er denn gegangen?« Sie fürchtete schon die Antwort. »Er wollte nach Beverley Green fahren, wie er mir sagte.« Der Postbeamte schien nicht das beste Gedächtnis zu haben, sonst hätte er sich darauf besinnen müssen, daß Andy eine solche Absicht nicht geäußert hatte. »Nach Beverley Grenn?« wiederholte sie langsam. »Er heißt Macleod!« rief er plötzlich. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich!« »Wissen Sie, ob er hier wohnt?« »Nein, mein Fräulein, er ist nur auf der Durchreise. Banks, der Fleischermeister, wollte es nicht glauben, daß wir einen richtigen Detektiv in der Stadt hatten – einen Beamten von Scotland Yard. Macleod machte die entscheidende Zeugenaussage in dem Marchmont-Giftmordprozeß. Erinnern Sie sich nicht ...? Das war eine aufregende Geschichte! Ein Mann vergiftete seine Frau, weil er eine andere heiraten wollte, und durch Macleods Aussage kam er an den Galgen. Für Mordprozesse habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis.« Sie ging jetzt langsam zum Bahnhof und löste ihre Fahrkarte. Ungewißheit, Zweifel und Furcht quälten sie. Der Gedanke, auch nur ein paar Stunden abwesend zu sein, während dieser Mann hier herumspionierte, erschien ihr unerträglich. Der Himmel mochte wissen, welche Absichten er hatte. Wieder wandte sie sich der Stadt zu, aber dann hörte sie den Zug pfeifen. Kurz entschlossen ging sie zum Bahnhof zurück. Sie wollte ihren ursprünglichen Plan ausführen. Sie haßte Macleod. Sie haßte und fürchtete ihn zugleich. Sie zitterte bei der Erinnerung an seinen durchdringenden, prüfenden Blick, der so deutlich sagte: ›Du hast etwas zu fürchten.‹ Sie versuchte im Zug zu lesen, aber ihre Gedanken waren nicht bei der Zeitung, und obwohl ihre Blicke den Zeilen folgten, sah und las sie doch nichts. Als sie sich ihrem Ziel näherte, wunderte sie sich, daß ihr jemals der Gedanke gekommen war umzukehren. Sie hatte doch nur noch eine Woche Zeit, um diese schreckliche Sache zu ordnen – nur noch eine Woche, und jeder Tag zählte. Vielleicht hatte sie Erfolg und kehrte am Nachmittag glücklich zurück, jauchzend vor Freude. Wie schön wäre es, wenn sie durch dieselben Felder und über dieselben Brücken mit ruhigem Gemüt nach Hause fahren könnte. Mechanisch betrachtete sie durch das Fenster die Landschaft, an der sie ihr Zug vorbeiführte. Ihre Träumereien waren zu Ende, als sie ausstieg. Sie eilte durch die drängende Menschenmenge. Ein Taxi kam auf ihren Wink heran. »... Ashlar Building?« sagte der Chauffeur überlegend. »Ja, ich weiß, was Sie meinen, Fräulein.« Ashlar Building war ein großes Bürohaus; sie hatte es noch nie gesehen und wußte auch nicht, wie sie den Mann finden sollte, den sie sprechen mußte. In der Eingangshalle sah sie jedoch die Firmentafeln, die die zwei einander gegenüberliegenden Wände bedeckten. Sie las eine nach der anderen, bis sie plötzlich anhielt. »309, Albert Selim.« Seine Geschäftsräume lagen im fünften Stock. Es dauerte einige Zeit, bis sie das Büro gefunden hatte, denn es lag am Ende eines langen Flügels. Sie sah zwei Türen. Die eine trug die Aufschrift ›Privat‹, die andere ›Alb. Selim‹.Sie klopfte an, und jemand rief: »Herein!« Eine kleine Schranke trennte den eigentlichen Büroraum von dem schmalen Gang, in dem sich die Besucher im allgemeinen aufhalten durften. »Nun, Miss?« Der Herr, der auf sie zutrat, sprach barsch, beinahe feindselig. »Ich möchte Mr. Selim sprechen«, sagte sie, aber der junge Mann schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich, wenn Sie nicht eine Verabredung mit ihm haben. Und auch dann würde er nicht persönlich verhandeln.« Plötzlich unterbrach er sich und sah sie groß an. »Aber Sie sind doch Miss Nelson«, sagte er dann erstaunt. »Ich hatte nie erwartet, Sie hier zu sehen.« Sie wurde über und über rot und versuchte vergeblich, sich zu besinnen, woher er sie kennen konnte. »Sie erinnern sich sicher – Sweeny ist mein Name.« Sie errötete noch mehr. »Ja, natürlich – Sweeny.« Sie war bestürzt und fühlte sich gedemütigt, als sie ihn erkannte. »Sie haben seinerzeit Ihre Stelle bei Mr. Merrivan sehr schnell verlassen?« Nun wurde es ihm ungemütlich, als das Gespräch diese Wendung nahm. »Ja, das stimmt.« Er räusperte sich verlegen. »Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Mr. Merrivan. Ein geiziger Mensch! Und schrecklich mißtrauisch!« Er räusperte sich wieder. »Haben Sie damals nichts darüber gehört?« Sie verneinte. Die Dienstboten blieben nicht lange genug im Nelsonschen Haus in Stellung und wurden nicht so vertraut mit ihrer Herrschaft, daß sie über Klatsch sprechen konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten. »Nun, die Sache verhielt sich so.« Mr. Sweeny war ein wenig erleichtert, daß er Gelegenheit hatte, ihr die Geschichte zuerst von seinem Standpunkt aus zu erzählen. »Mr. Merrivan vermißte einige Stücke seines Tafelsilbers, die ich unglücklicherweise meinem Bruder geliehen hatte, der sie kopieren wollte. Er interessierte sich sehr für altes Silber, da er selbst gelernter Juwelier und Goldschmied ist. Als nun Mr. Merrivan die Stücke vermißte –« Er hustete wieder, wurde sehr verwirrt und sagte, er sei bezichtigt worden, das Silber gestohlen zu haben! Mr. Merrivan hatte ihn fristlos entlassen! »Ich hätte damals verhungern können, wenn nicht Mr. Selim von mir gehört und mir diese Stellung gegeben hätte. Sie ist nicht gerade glänzend«, fügte er entschuldigend hinzu, »aber es ist doch wenigstens etwas. Ich wünsche oft, ich wäre wieder dort in dem hübschen Tal von Beverley Green.« Sie unterbrach ihn: »Wann kann ich denn Mr. Selim sprechen?« Aber er schüttelte wieder energisch den Kopf. »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, Miss Nelson. Ich habe ihn selbst auch noch nicht gesehen.« »Wie?« Sie starrte ihn verwirrt an. »Das ist eine Tatsache. Er ist Geldverleiher – aber das brauche ich Ihnen doch nicht zu erzählen.« Er sah sie mit einem wissenden Blick an, und sie wäre am liebsten vor Scham in den Boden versunken. »Er wickelt alle seine Geschäfte brieflich ab. Ich empfange hier die Besucher und bespreche mit ihnen die Angelegenheit. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß er sich daran hält«, erklärte er. »Die Kunden füllen dann die Formulare aus – Sie verstehen mich schon –, sie geben an, welche Summe sie brauchen, welche Sicherheiten sie bieten können und dergleichen Dinge – und ich lasse dann die Schriftstücke hier im Geldschrank für Mr. Selim, bis er kommt.« »Wann kommt er denn?« »Das weiß Gott allein«, erwiderte Mr. Sweeny. »Auf jeden Fall kommt er hierher, denn die Briefe werden zwei- bis dreimal wöchentlich abgeholt. Er setzt sich dann schriftlich mit den Leuten in Verbindung. Ich erfahre niemals, welches Darlehen sie erhalten oder wieviel sie zurückzahlen.« »Gibt er Ihnen seine Aufträge auch schriftlich?« fragte Miss Nelson, deren Neugierde im Augenblick über ihre Enttäuschung siegte. »Nein, er telefoniert mit mir, ich weiß aber niemals, woher. Es ist überhaupt eine sonderbare Stellung. Ich bin nur je zwei Stunden an vier Tagen der Woche beschäftigt.« »Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, ihn zu sprechen?« fragte sie noch einmal verzweifelt. »Nein, nicht die geringste«, entgegnete Mr. Sweeny, der wieder überheblich wurde. »Es ist nur ein Weg vorhanden, mit Albert Selim geschäftlich zu. verkehren – man muß ihm schreiben.« Sie dachte eine Weile nach. »Geht es Mr. Nelson gut?« »Danke, sehr gut«, antwortete sie hastig, »es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, sich nach meinem Vater zu erkundigen. Ich –« Es war ihr unerträglich peinlich, einen Angestellten ins Vertrauen ziehen zu müssen. »Sie sagen doch nichts davon, daß Sie mich hier gesehen haben?« »Aber bestimmt nicht«, meinte Sweeny zuvorkommend. »Großer Gott, wenn Sie wüßten, welche Leute hierherkommen, Sie würden erstaunt sein. Berühmte Schauspieler und Schauspielerinnen, Leute, deren Namen ein Begriff sind. Minister, Geistliche –« »Leben Sie wohl, Sweeny.« Sie schloß die Tür hinter sich. Ihre Knie wankten, als sie die Treppe hinunterstieg. Sie zog es vor, den Fahrstuhl nicht zu benützen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie sich auf eine Unterredung mit Mr. Selim verlassen hatte. Verzweifelt sah sie sich nun der unerbittlichen Wirklichkeit gegenüber. Es gab keinen Ausweg mehr. Was konnte den Untergang jetzt noch aufhalten? Nichts – nichts! Der Mann, den sie hatte sprechen wollen, der einzige, der ihr helfen konnte, war unerreichbar für sie: Sie stieg um und kam um fünf Uhr nachmittags in Beverley an. Der erste, den sie sah, als sie aus dem Zug stieg, war der ruhige, kluge Detektiv mit den grauen Augen. Er hatte sie auch erkannt, und ihre Blicke trafen sich, als sie das Abteil verließ. Einen Augenblick stand ihr Herz still, dann sah sie an seiner Seite einen Mann mit Handschellen – es war der kanadische Professor! Den hatte er also verhaften wollen – den freundlichen Gelehrten, der sich mit ihr so interessant über Versteinerungen unterhalten hatte. Scottie wußte sehr viel über Fossilien und Gesteinsformationen. Es war sein Steckenpferd. An Scotties anderer Seite stand ein Polizist. Der Verbrecher selbst erwiderte ihren erschrockenen Blick durch ein liebenswürdiges Lächeln. Sie vermutete, daß solche Menschen allmählich abstumpften und hart wurden. Sie sah schnell zu Andy hinüber, ging an ihm vorbei und atmete dann erleichtert auf. Ihre schreckliche Befürchtung hatte sich also nicht bewahrheitet. Sie konnte getrost zurückkehren. Und sie war beinahe in froher Stimmung, als sie den mit Rosenstöcken eingesäumten Gartenweg entlangging. 43 © wasser-prawda