- Wasser

Transcription

- Wasser
Magazin
Wasser Prawda
Nr. 8/2012
Woody Guthrie: Der Vater
aller Songwriter?
•B.B. & The Blues Shacks
•Jon Lord und der Blues
•Silke Peters im Interview
•Vorabdruck: Ich verstehe
nichts vom Monsun
•Bücher von Barbara Mürdter,
Ahmadou Kourouma, Annabel
Pitcher
•Bilder von Isabel Wienold und
Zbigniew Przadka
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G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d
Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4
Die Redaktion Empfiehlt:
B.B. & The Blues Shacks Come Along (CrossCut)
Soulblues von einer der besten Bluesbands Europas: „Come Along“ setzt die Geschichte der
Blues Shacks wesentlich blueslastiger als „London Days“ fort.
Rick Estrin And The Nightcats
- One Wrong Turn (Alligator/
in-akustik)
Wer auf rockenden, swingenden, partytauglichen
Blues steht, kommt im Sommer 2012 an dem
Album nicht vorbei. Rick Estrin ist nicht nur als
Bluesharpspieler grandios - er ist einfach einer
der intelligentesten Songwriter im Blues zur Zeit.
Tobias Kirmayer presents: The
Guy Davis - The Adventures of
Fishy Waters: In Bed With The
Blues
Die Aufforderung zum Anfang sollte man ernst
nehmen: Füße hoch und zuhören. Wenn man
noch dazu einen brennenden Kamin hat, dann
umso besser. Und was dann kommt, kann man
nur als eine der besten Lehrstunden über die Geschichte des Blues bezeichnen, die je auf Platte
gepresst wurden.
Benoit Viellefont Hot Club Live at the Quecumbar
(JohnJohn)
Ob mit seinem Orchestra oder dem akustischen
Hot Club - der in London lebende Gitarrist und
Sänger Benoit Viellefon gehört zu den besten
Musikern im Bereich der Swingmusik in Europa. Sein zweites Album „Live at the Quecumbar“
entstand in ganz klassischer Manier: Lediglich
ein Mikrofon für die sechs Musiker in einem
kleinen Club..
Editorial
dener Autoren und Songwriter einzubeziehen
scheiterten leider. Aber natürlich gibt es neben
einer ausführlichen Biografie des Songwriters
Hörempfehlungen und die Rezension der gerade
erschienenen Biografie von Barbara Mürdter. So
ausführlich ist das Ganze geworden, dass dafür
kaum noch mehr Artikel im Musikbereich Platz
hatten. Von den Plattenrezensionen natürlich
abgesehen.
Wenn von Kassel in Sachen Kunst die Rede ist,
dann wird immer nur von der documenta geschrieben in diesem Jahr. Doch auch jenseits der
Weltschau sind in der Stadt interessante Künstler und ihre Arbeiten zu entdecken. Unser Autor Lüder Kriete stellt als ersten Teil einer losen
Reihe in diesem Heft Arbeiten des polnischen
Künstlers Zbigniew Przadka vor. Damit begeben
wir uns in unserem Feuilleton auf ein neues Gebiet. Weitere Artikel zu bildenden Künstlern und
ihren Arbeiten sind schon geplant.
Auch Nachrichten aus Literatur und Kultur soll
chon seit Anfang 2012 gab es die Über- es in der „Wasser-Prawda“ zukünftig regelmäßilegung, den 100. Geburtstag von Woody ger geben. Den Anfang macht unter anderem
Guthrie ausführlich in der Wasser-Prawda ein Bericht über den diesjährigen Ingeborgzu begehen. Doch Pläne, dazu Texte verschie- Bachmann-Preis bei den Tagen deutschsprachiger Literatur in Klagenfurt von Erik Münnich.
Außerdem gibt es ein Interview mit der Stralsunder Autorin und Künstlerin Silke Peters und
einen Vorabdruck aus ihrer Erzählung „Ich verstehe nichts vom Monsun“, die im September
im Greifswalder freiraum-verlag erscheinen wird.
Und Ole Schwabe beginnt mit dem ersten Teil
einer Serie über das Werk des afrikanischen Autors Ahmadou Kourouma.
S
Inhalt
Impressum
Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraum-verlag
Greifswald veröffentlicht und erscheint monatlich. Es wird kostenlos an die
registrierten Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de verschickt.
Musik
Strom & Wasser beim Bardentreffen 2012
Wasser-Prawda Nr. 8/2012
Redaktionsschluss: 1. August 2012
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Redaktion:
Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.)
Leiter Feuilleton: Erik Münnich
Woody Guthrie 5
Hörempfehlungen10
Rezension: Barbara Mürdter: Woody Guthrie 14
Jon Lort & der Blues
Mitarbeiter dieser Ausgabe: Ole Schwabe, Kristin Gora, Lüder Kriete, aKi
15
Adresse:
Redaktion Wasser-Prawda
c/o wirkstatt
Gützkower Str. 83
17489 Greifswald
Tel.: 03834/535664
www.wasser-prawda.de
mail: redaktion@wasser-prawda.de
Album des Monats: B.B. & The Blues Shacks
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Rezensionen
A-Z17
Literatur
Literaturmeldungen 26
Anzeigenabteilung:
marketing@wasser-prawda.de
Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda
zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des
Erscheinungs-Monats.
Im Gespräch: Silke Peters
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Vorabdruck aus der Erzählung „Ich verstehe
nichts vom Monsun“ 31
Ole Schwabe: „Von dem sprechen, was geschehen
ist“ - Das Werk des Ahmadou Kourouma (Teil 1/3) 34
Kristin Gora: Annabel Pitcher - Meine Schwester
lebt auf dem Kaminsims36
Die nächste Ausgabe erscheint am 22. September 2012.
Kunst
Zbigniew Przadka - yesterday‘s heroes
Isabel Wienold: Digitale Collagen
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Edgar Wallace - A.S. Der Unsichtbare (2)
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Musik
Strom und Wasser feat.
The Refugees beim Bardentreffen Nürnberg
2012
„Hiergeblieben“ hätte man als Motto über diesen Abend schreiben können. Und das genau war
mein Gefühl bei dem Konzert während des Nürnberger Bardentreffens. Was wir in diesem Land
vielen Flüchtlingen antun, ist nämlich einfach zum Heulen.
Es soll Zeiten gegeben haben, wo Rap und Hiphop politisch waren. Wo Musiker mit dieser
Musik die Verhältnisse auf den Punkt brachten
und den Verhältnissen kräftig ihn den Arsch tratten. Genau das passiert an diesem Abend: Hier
brüllen uns die vergessenen Insassen der Asylbewerberheime ihre Verzweiflung über die real
exsitierenden Verhältnisse ins Gesicht. Da steht
der 19jährige Rapper auf der Bühne, der demnächst nach Dagestan abgeschoben werden soll.
Als Hans Ratz das erzählt, ist tiefe Betroffenheit
in vielen Gesichtern zu sehen. Es ist ein harter
Abend, der die Brutalität der europäischen Asylpolitik an lebenden Menschen deutlich macht.
Das Tragische ist, dass großartige Musiker hier
eine politische Botschaft rüber bringen müssen.
anstatt mit ihrem Publikum eine Party zu feiern.
Aber wie soll man eine Party feiern, wenn alle
wissen, dass alle auf der Bühne (bis auf die mit einem deutschen Pass) am nächsten Tag wieder ihrer Residenzpflicht nachkommen müssen? Und
doch findet diese unmögliche Party auf der Tour
von Strom und Wasser mit The Refugees immer
wieder statt. Wichtig an diesem Abend war, dass
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eine Menge Leute die Unterschriftenliste für ein
Bleiberecht der Musiker unterschrieben haben.
Und vielleicht hilft das, was Hans Ratz und seine Band hier möglich machen, dass die Wähler
in diesem Lande endlich begreifen, dass sie die
Politiker zwingen können, die Verhältnisse zu
ändern. Irgendwann tauchte dann in Nürnberg
noch ein Transparent gegen Deportationen nach
Afghanistan auf. So richtig diese Forderung auch
ist: Ich fragte mich, wieso nur Afghanistan drauf
stand.
aKi
© wasser-prawda
Musik
Oklahoma-Cowboy, Kommunist, Songschreiber-Legende:
Woody Guthrie (1912-1967)
Wie soll man sich Woody Guthrie nähern? Mit Dylans verklärtem Blick auf den großen Helden?
Mit dem kritischen Blick auf einen Musiker, der sich Zeit seines Lebens niemals von seiner Verehrung für Stalin losgesagt hat? Mit dem Blick auf die Songs, die heute noch immer von Folk bis
Punk neue Interpretationen erfahren? Klar ist: Neben Dylan war Woody Guthrie (1912-1967)
der einflussreichste Songschreiber der USA im 20. Jahrhundert. Und ohne ihn hätte es Dylan so
nicht gegeben.
Von Raimund Nitzsche
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Musik
Vorige Seite: „This Machine kills Fascists“ auf Woody Guthries Gitarre wurde zum Markenzeichen. oben: Das Haus der Guthries in Okehma im
Jahre 1979. Die Reste des inzwischen abgerissenen Hauses lagern heute bei einem Trödler.
Vorbemerkungen 2012
talismus von der Privatisierung der Gewinne und
Kapitalismuskritik ist wieder chic im Jahre 2012. Sozialisierung der Verluste erinnert wird. Und
Sie ist wieder angebracht in Zeiten, wo man bei mit Bewegungen wie occupy äußert sich die Kriden Versuchen zur Bewältigung der Bankenkrise tik am global vernetzten Kapital auch wieder auf
immer wieder an Marxens Grundgesetz des Kapi- den öffentlichen Plätzen. Doch etwas ist anders
als etwa in den Jahren der Weltwirtschaftskrise
in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts oder
den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Es ist
ein Protest ohne eine wirklich einende Musik. Es
gibt sie nicht mehr, die Sänger, die die Probleme
einleuchtend und einigend auf den Punkt bringen und Melodien zum Mitsingen finden. Klar,
occupy ist vor allem in Deutschland weit davon
entfernt, eine einheitliche Bewegung zu sein. Es
ist eine Ansammlung der verschiedensten Gruppen von Unzufriedenen von Altlinken (mit ihren
immer noch vorhandenen Träumen vom Kommunismus) über grüne Wohlstandsbürger mit einem allgemeinen Unwohlsein beim Blick auf die
Welt bis hin zu den Opfern der Krise, die Jobs
oder in den Vereinigten Staaten auch ihre Häuser
verloren haben. Niemals wären diese Menschen
etwa bei Konzerten aufeinander getroffen. Doch
im Protest gegen das „eine Prozent“ der Gesellschaft waren sie zusammen aktiv.
Die Heimat des Okie-Cowboys
Wobei auch der Weg von Woody Guthrie zu einem linken Songschreiber nicht von vornherein
vorgezeichnet war, sondern sich eher nebenbei
aus der Biografie und seinem unbändigen Freiheitswillen entwickelte. Ganz patriotisch nannten die Eltern ihren am 11. Juli 1912 geborenen
Sohn nach dem Präsidenten Woodrow Wilson
Guthrie. Doch außer seiner Mutter nannte ihn
bald jeder nur noch Woody. Sein Vater lebte als
Zu den Illustrationen
Die amerikanische Regierung hat die Sandstürme des Dust Bowl ebenso dokumentieren
lassen wie die Folgen der Flüchtlingsbewegung
in Richtung Kalifornien. Einige dieser Bilder
(die mittlerweile gemeinfrei sind) haben wir
als Illustration ausgewählt.
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Musik
konservativer Kleinstadtpolitiker und Landspekulant in der Kleinstadt Okehma in Oklahoma.
Als Woody acht Jahre alt war, wurde Erdöl gefunden und die eigentlich ziemlich verschlafene
Gegend wurde jetzt zum Zentrum für Arbeiter,
Spekulanten, Gauner, Hausierer, Wanderprediger und alle möglichen anderen Bevölkerungsgruppen. Auch Bluesmusiker, Gospelsänger oder
Indianermusiker fanden sich ein und erweiterten das musikalische Weltbild des Jungen, der
bislang hauptsächlich die Lieder der CowboyFamilie seines Vaters und die Balladen aus den
Appalachen, die seine Mutter sang, gehört hatte.
Wenn jemand bei dem Ölboom reich wurde - die
Guthries zählten nicht dazu. Denn immer wieder
hatten sie wirtschaftliche und familiäre Schläge zu verkraften: Das neue Haus der Familie
war schon 1909 bald nach der Fertigstellung in
Flammen aufgegangen. Und 1919 starb Woodys
Schwester Clara, als ihr Kleid bei Hausarbeiten
Feuer fing. Das größte Drama war allerdings die
Krankheit der Mutter, die an Huntington litt,
einer fortschreitenden Degeneration der Nerven.
Irgendwann war sie körperlich und geistig völlig
zerrüttet und musste in eine eine Anstalt eingewiesen werden. Sein Vater hatte bei einem Brand
1927 schwere Verletzungen erlitten und war im
Grunde genommen pleite. Während Woody
halb auf der Straße aufwuchs, fand sein Vater in
Pampa/Texas eine Arbeit als Pförtner in einem
Bordell. Woody selbst schlug sich mit dem Malen von Ladenschildern und als Musikant durch.
Musikalische Vorbilder waren für ihn „The Singing Breakman“ Jimmie Rogers und die Carter
Family. Und nebenbei las er jedes Buch in Reichweite, ob es sich nun um Religion, Psychologie
oder Romane handelte. Mit seiner ersten Frau
Mary zog er gemeinsam für eine Weile mit einem
Wanderzirkus umher. Denn ein sesshaftes Leben
war da schon nichts mehr für ihn.
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Musik
„Dust-Bowl“
Verheerende Sandstürme brachten in den 30er
Jahren das Leben der einfachen Bevölkerung in
Oklahoma, Texas, Arkansas und anderen Bundesstaaten komplett aus dem Gleichgewicht: Mit
einem Schlag verwandelten sich die Felder, die in
den Prärien im später so genannten „Dust Bowl“
angelegt worden waren, in unfruchtbare Wüsten.
Zu Tausenden zogen die Menschen mit ihren
Habseligkeiten in Richtung Kalifornien. Hier
beginnt die Legende der Route 66. Und hier beginnt auch die Kunst so verschiedener Menschen
wie die Romane von John Steinbeck und die
Musik von Woody Guthrie. Eines seiner ersten
Lieder hieß: „So Long, It‘s Been Good To Know
You“ und erzählt die Geschichte des Sandsturmes. 1937 trampte Guthrie ohne seine Familie
nach Kalifornien und begann eine Karriere als
singender Cowboy. Das war damals im Gefolge
von Gene Autry der letzte Schrei in Hollywood.
Gemeinsam mit seinem Cousin Jack ergatterte
er einen Job bei einem regionalen Rundfunksender. Als der Cousin ausstieg - schließlich gab‘s für
die Auftritte kein Geld, fand Woody mit „Lefty
Lou from Old Mizoo“ eine musikalische Partnerin. Der Erfolg gerade bei den Zuwanderern aus
Oklahoma und Arkansas führte dazu, dass die
beiden schließlich einen bezahlten Job beim Sender bekamen und Woody endlich seine Familie
nach Los Angeles holen konnte. Das Familienleben war aber nur kurz. Denn bald schon trampte
Woody quer durch Kalifornien und erkundete,
wo und wie die Zugewanderten in dem Bundesstaat lebten. Und das war für ihn erschreckend:
Riesige Zeltlager und Barackensiedlungen ohne
sanitäre Einrichtungen, ohne Schulen oder gar
medizinische Versorgung. Und die Löhne auf den
kalifornischen Farmen waren durch das Überangebot an Arbeitskräften auf niedrigstem Niveau.
Hier begann Woody nicht nur sich politisch
nach links zu orientieren, dies führte vor allem
auch dazu, dass er eigene Lieder als bissige Kom-
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mentare zur Zeit schrieb wie „Do Re Mi“ über
das Geld, das den Zuwanderern fehlt und sie in
Kalifornien zu einem Elendsdasein verdammt.
Gemeinsam mit dem kommunistischen Journalisten Edward Robbin und dem Schauspieler Will
Geer zog er bald darauf durch die „Okie-Lager“
und rezitierten und sangen vor Zuwanderern, bei
Streiks und Gewerkschaftsveranstaltungen. Guthrie betrachtete sich jetzt als Kommunist und
schrieb für die Parteizeitung eine regelmäßige
Kolumne. So lange bis der Wandertrieb ihn mal
wieder packte und er erst seine Familie zurück
nach Texas verfrachtete und selbst nach New
York trampte.
Der Beginn des Folk-Revival in
New York
Als „Beginn der Volkslied-Renaissance“ oder anders ausgedrückt als Beginn des Folk-Revivals
wird jenes Konzert angesehen, dass Will Greer
am 3. März 1940 im Forrest Theater in New
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Musik
York organsierte. Neben Greer und Guthrie traten hier die bekanntesten Musiker der linken
oder linksliberalen Szene auf, um Geld für die
von den Sandstürmen Betroffenen zu sammeln:
Alan Lomax mit seiner Schwester Bess, Leadbelly, Josh Whith und das Golden Gate Quartett.
Und - auch wenn sein Auftritt wegen Nervosität
ziemlich in die Hosen gegangen sein soll - Pete
Seeger.
Lomax lud Guthrie danach nach Washington
ein, um mit ihm ein Interview für die Library
of Congress aufzunehmen, wie er es schon mit
Leadbelly, Big Bill Broonzy und Jelly Roll Morton gemacht hatte. Woody blieb gleich in der
Stadt und quartierte sich bei der Familie Lomax
ein.
So langsam wurde Woody mit seiner Musik auch
überregional bekannt. Er trat in landesweiten
Rundfunksendungen mit seinen Liedern auf
und veröffentlichte bei RCA ein Album mit den
„Dust Bowl Ballads“. Wobei Album hier noch
ganz klassisch gemeint ist: Zwölf Platten mit je
zwei Liedern, die in einem Album geliefert wurden. Bei Auflagen von rund 1000 Kopien war das
natürlich kein großer Hit. Aber in der Szene war
er als kritischer Songkommentator angekommen
mit Songs wie „Tom Joad“ (nach der Figur aus
Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“). Mit
Pete Seger und Alan Lomax arbeitete er außerdem an der Herausgabe eines Buches mit Liedern von Joe Hill, Maurice Sugar und anderen
Songschreibern unter dem Titel „Hard-Hitting
Songs for Hard-Hit People“. Das erschien aller-
„I hate a song that makes you think that you are not any good. I hate a song that makes you
think that you are just born to lose. Bound to lose. No good to nobody. No good for nothing.
Because you are too old or too young or too fat or too slim too ugly or too this or too that.
Songs that run you down or poke fun at you on account of your bad luck or hard traveling.
I am out to fight those songs to my very last breath of air and my last drop of blood. I am out
to sing songs that will prove to you that this is your world and that if it has hit you pretty hard
and knocked you for a dozen loops, no matter what color, what size you are, how you are
built. I am out to sing the songs that make you take pride in yourself and in your work.“
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Musik
Vorige Seite oben: Notizen von Woodie Guthrie. Vorige Seite unten: Der Sänger Burl Ivers zählt ebenso wie Pete Seeger (oben) zu den Mitstreitern
von Guthrie und den Vorläufern des Folkrevivals.
Hörempfehlungen
„Pretty Boy Floyd“) hören, als auch
auf den anderen drei Scheiben thematische Sammlungen. CD 2 etwa
ist zu Recht mit „Woodys Roots“ betitelt, enthält es doch Songs die zu
den Klassikern der Folkmusik auch
dadurch wurden, dass Guthrie und
andere seiner Zeitgenossen sie interpretierten. Die dritte CD („The Agitator“) bringt nicht nur einige der
Gewerkschaftslieder, die er auch mit
den Almanac Singers aufgeführt hat
sondern auch einige seiner antifaschistischen Kriegslieder. Für BluesMy Dusty Roads
fans ist dann besonders Teil 4 interessant. Denn hier spielt Guthrie zuZahllos sind mittlerweile die Zu- sammen mit Sonny Terry und dem
sammenstellungen von Guthrie- Folksänger Cisco Houston. Etliche
Songs. Wenn man eine umfassende der Titel sind spontane Bluessjams
und für ihr Alter unwahrscheinlich und lassen einen Guthrie erkennen,
gut klingende Sammlung sucht, der wohl nie wieder so meisterhaft
dann sollte man zu der 2009 veröf- als Gitarrist zu hören war. (Rounfentlichten Box „My Dusty Road“ der)
greifen. Grundlage dieser Sammlung bilden - und daher klingen sie Woody at 100: The Woody
derartig frisch und klar - Metallma- Guthrie Centennial Collecster von Aufnahmen, die Guthrie ab
1944 für Herbert Harris und Moses tion‘
Asch gemacht hat und die 60 Jahre
ungestört in einem Keller von Broo- Pünktlich zum 100. Geburtstag erklyn überlebt haben. Gegliedert in schien im Sommer 2012 eine weivier Kapitel kann man so einerseits tere Box mit drei CDs. Smithonian/
die „Greatest Hits“ von Guthrie Folkways hat - mit einem umfas(zwischen „This Land“, „The Sin- senden und großzügig illustrierten
king of the Reuben James“ und Buch versehen - ein luxuriöses Paket
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zusammengestellt, dessen besonderer Kaufanreiz in 21 bislang unveröffentlichten Aufnahmen besteht. Dabei sind vier erst kürzlich entdeckte
Nummern aus dem Jahr 1939, die
aufgenommen wurden in der Zeit,
als er für den Sender KFVD in Los
Angeles arbeitete. Die Texte im Begleitbuch stammen unter anderem
von Robert Santelli, Direktor des
Grammy Museums (und Autor des
noch immer unversichtbaren „Big
Book of The Blues“. (Smithonian/
Folkways)
Woodies Erben oder: Neue
Songs aus alten Texten
Dass seine Texte heute noch im-
mer bewegen können, wurde Ende des Jahrhunderts deutlich, als
Billy Bragg gemeinsam mit Wilco
„Mermaid Avenue“ veröffentlichte: Hier treffen gleich zwei Traditionslinien aufeinander, die von
Guthrie in die Gegenwart reichen.
Auf der einen Seite der vom Punk
herkommende britische Songwriter
- groß geworden in der britischen
Gewerkschaftsbewegung der 80er
Jahre. Und dann eine Band, die
versucht, den Country von sämtlichen historischen Staubschichten
zu befreien und als Musik des späten
20. Jahrhunderts auch für das Rockpublikum zu spielen. Inzwischen ist
„Mermaid Avenue“ auf drei CDs angewachsen. Und 2012 erschien zum
Record Store Day dann die wahrscheinlich definitive Variante der
Sessions. Zu den CDs enthält die
Box noch einen Dokumentarfilm,
in dem Norah Guthrie und Billy
Bragg auf den Spuren von Woody
durch die Gegend fahren und mit
Leuten in der Region ins Gespräch
kommen.
Mindestens ebenso anregend wenn auch musikalisch ganz anders gelagert - fiel das zweite Albumprojekt mit unveröffentlichten
Guthrie-Songs aus: Hans-Eckardt
Wenzel hat für Ticky Tock nicht
nur politische Texte, sondern auch
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Musik
Oben: Grand Coulee Damm. Rechts: Bob Dylan 1962.
Kinderlieder ausgewählt und
daraus eine eigentlich typisch
deutsche Liedermacherscheibe
gemacht. (Allerdings gibt‘s das
Album auch in englischer Fassung unter gleichem Titel...)
Als bislang letztes der Archiv-Projekte erschien 2012
das Album „New Multitudes“
mit dem Amrericana-Stars Jay
Farrar, Will Johnson, Anders
Parker und Yim Yames. Ausgewählt haben sie vor allem Liebeslieder und andere Texte, die
Guthrie in den 30er Jahren in
Kalifornien schrieb. Da finden
sich der „Talkin Empty Bed
Blues“ oder „Careless Reckless
Love“ mit ihrer Sehnsucht nach
einer passenden Begleiterin.
Und die soll dann - schließlich
ist auch das Private politisch des Sängers revolutionären Sinn
erleichtern.
Außerdem finden sich unter
den zwölf Stücken (je drei von
jedem als Leadsänger vorgetragen) Lieder, mit denen Guthrie
die Menschen damals ermutigen wollte und die auch heute
noch ihre Kraft behalten haben
- auch wenn man Metaphern
wie die einer „Hoping Machine“ gnadenlos kitschig finden
mag. Doch ohne Hoffnung
ist es ja nicht möglich, an den
Verhältnissen etwas zu ändern.
Und das war damals schon eines der wichtigsten Ziele des
Dichters. Und damit ist er erschreckenderweise heute immer
noch so aktuell wie damals.
Raimund Nitzsche
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Musik
Oben: Die Almanac Singers.
dings erst knapp 30 Jahre spätern, nachdem das
Manuskript zunächst verloren schien. Zurück in
New York sang er bald für verschiedene regionale
Radiosender - oft auch gemeinsam mit Leadbelly oder dem Golden Gate Quartett und begann,
eine halbstündige Sendereihe für die CBS zu
produzieren, auch wenn der Sender bislang dafür noch keine gesicherte Finanzierung vorweisen konnte. Insgesamt ging es ihm wirtschaftlich
langsam besser. Rr konnte seine Familie nach
New York holen und endlich mit den Kindern
gemeinsam leben. Daneben verschärften sich die
sozialen Themen seiner Lieder, je abgesicherter er
selbst leben konnte. Aus Protest gegen das damals
ständig im Radio gespielte „God Bless America“
von Irving Berlin schrieb er das Lied, das manche
als inoffizielle Hymne der Vereinigten Staaten
ansehen: „This Land Is Your Land“ gehört heute
in die Schulbücher nicht nur in den USA. Selbst
in der DDR wurde das Lied als Beispiel für progressive Kunst im Kapitalismus behandelt. Dabei
werden doch zumeist die Verse fortgelassen, in
denen Guthrie am deutlichsten die sozialen Zustände im Land anprangert:
As I went walking, I saw a sign there,
And on the sign there, It said „no trespassing.“
But on the other side, it didn‘t say
nothing!
That side was made for you and me.
In the squares of the city, In the shadow of a steeple;
By the relief office, I‘d seen my people.
As they stood there hungry, I stood
there asking,
Is this land made for you and me?
sendungen hin und machte sich mal wieder auf
Tramp- oder in dem Fall besser: auf Kneipentour.
Und dann ging es gleich ganz zurück nach Kalifornien. Doch auch dort wollte man mit dem
Doch dann bot ihm eine Tabakfirma eine eigene Kommunisten erst mal nichts zu tun haben.
wöchentliche Sendung an, für die er 200 Dollar Schließlich waren die Kommunisten damals
erhalten sollte. Plötzlich veränderte er einige sei- strikt gegen einen Kriegseintritt der USA auf der
ner Lieder und machte aus ihnen Werbesongs. Seite Großbritanniens und verteidigten sogar den
Aber der große Durchbruch sollte ihm auch so Hitler-Stalin-Pakt und den sowjetischen Überfall
nicht gelingen. Denn jetzt wurde er öffentlich als auf Finnland.
Kommunist denunziert. Und das kam im OkAm Grand Coulee Damm
tober 1940 einem beruflichen Knockout gleich.
Woody machte sich daher auf nach Portland, wo
Zumindest brachte es Woody mal wieder aus
am Columbia-River zwei große Staudämme erdem Gleichgewicht. Er schmiss seine Rundfunkrichtet werden sollten und über das Regierungspler wie die 2011 von Chrom Dreams veröffentlichte „Bob Dylan‘s Woody Guthrie Selection“ eigentlich auf der Hand. Akribisch listet
das Booklet auf, wann Dylan die Songs gespielt
oder gar aufgenommen hat.Doch ist die Doppel-CD wesentlich mehr, nämlich eine Zusammenstellung von vielen der besten Songs, die
Guthrie je aufgenommen hat. Natürlich fehlen
da weder „This Land Is Your Land“ noch „I
Ain‘t Got No Home“. Aber auch Traditionals
wie „The House of The Rising Sun“ oder „Froggie Went A-Courtin“ oder Songs wie Jimmy
Guthrie für Dylanologen
Rodgers „Blue Yodel Nr. 8 (Muleskinner Blues“
Die Dylanologen durchforsten das Wirken von
finden sich unter den 41 Aufnahmen. So ergibt
Bob Dylan bis in jede Einzelheit. Etwa wann er
sich ein Überblick über einen großen Teil der
bei welchem Konzert welches seiner Lieder in
Lieder, die beim Folkrevival in den 50er Jahren
welchem Tempo gespielt hat. Da lag ein Samzu Standards für die jungen Barden wurden.
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Musik
projekt auch ein Dokumentarfilm geplant war.
Allerdings bekam er nicht den erhofften Job als
Folksänger in dem Film, wurde aber für eine
Weile als Landvermesser bei dem Projekt eingesetzt. Trotzdem schrieb er in der Zeit eine ganze Serie von Liedern über das Projekt, den Fluss
und die Region. Großspurig seine Verse, die die
damals größte Talsperre der Welt als größtes aller
Weltwunder preisen:
„Now the world holds seven wonders
that the travelers always tell,
Some gardens and some towers, I
guess you know them well.
But now the greatest wonder is in
Uncle Sam‘s fair land,
It‘s the big Columbia River and the big
Grand Coulee Dam. (...)“
Nach einem Monat allerdings war der Traum
aus, Der Film wurde niemals fertiggestellt. Woody pleite, seine Frau wollte die Scheidung, das
Auto war beschlagnahmt. Und für den Rückweg
nach New York fand sich nur ein Viehwaggon.
In der Almanac-Kommune
Pete Seeger hatte in New York inzwischen eine
Gruppe musizierender Freunde gefunden, mit
denen er eine lose Band gründete, die vor allem
bei politischen Veranstaltungen auftrat. Doch die
„Almanac Singers“ schafften mit ihren alten und
neuen Folksongs den Schritt heraus aus der reinen Gewerkschaftsszene. Oder zumindest hätten
sie ihn ein paar Mal fast geschafft, wenn sie mit
ihrer politischen Ausrichtung nicht immer wieder
angeeckt wären. So sangen sie zunächst gegen die
Politik von Präsident Roosevelt und gegen eine
Kriegsbeteiligung der USA. Dann allerdings griff
Deutschland die Sowjetunion an und die Stimmung im Land kippte. Guthrie - inzwischen Teil
der Band - nahm mit ihnen gemeinsam schnell
ein paar Shanties und Siedlerlieder auf Platte
auf. Und dann gingen sie auf Tour mit dem von
den Einnahmen gekauften Buick. Überall wo
Streiks waren, traten die Sänger auf in ihren Arbeitsklamotten - damals noch ein Affront gegen
das System. Schließlich kaufte man gar ein gemeinsames Haus und gründete eine Kooperative.
Später nannte man sowas wohl Kommune oder
zumindest WG. Und vom Chaos her muss es
wohl vergleichbar gewesen sein, wenn man den
Ausführungen von Victor Grossman in seinem
Buch „If I Had A Song“ glauben kann.
Zu dem losen Haufen kamen im Laufe der
Zeit noch eine Menge Musiker hinzu. Auch die
Bluesmen Sonny Terry und Brownie McGhee,
die von Lomax in die New Yorker Szene geholt worden waren, gehörten irgendwann dazu.
Schließlich waren soviele Leute Teil der Almanac
Singers, dass man gleichzeitig an verschiedenen
Orten Konzerte geben konnte. Doch durch den
Gang der Geschichte war immer wieder mal ein
kompletter Wechsel des Programmes fällig: Als
Japan die USA angriff, hörten die Gewerkschaften sofort mit ihren Streiks auf und unterstützten
die Kriegswirtschaft. Und damit waren die Auftrittsmöglichkeiten der Streikbarden dahin. Aber
schnell hatten sie Anti-Hitler-Lieder geschrieben, die von Decca sogar als Album veröffentlicht werden sollten. Im New Yorker Nachtclub
„Rainbow Room“ bekamen sie ein langfristiges
Engagement mit ihren Folksongs. Und schließlich waren sie sogar in landesweiten Radiosendungen zu hören. Nur dass dann plötzlich New
Yorker Zeitungen Schlagzeilen wie „Friedenschor
wechselt Melodie“ oder „Sänger in KriegsmoralSendung zwitscherten auch für Kommunisten“
veröffentlichten, brachte die Karriere der Almanac Singers zu einem plötzlichen Ende. Ein Teil
der Gruppe zog nach Detroit, um dort vor den
Arbeitern in der Autoindustrie zu singen. Pete
Seeger wurde im Juli 1942 zur Armee eingezogen. Und Woody Guthrie trat in die Handelsmarine ein, wo er in Geleitzügen über den Atlantik
Dienst als Schiffskoch tat und gleich zwei Mal
versenkt wurde.
nismus der McCarthy-Ärä so gut wie unmöglich,
damit öffentlich wirken zu können. Josh White,
Pete Seeger, Paul Robeson und andere wurden
vor den Ausschuss zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit geladen und gaben dort
ganz unterschiedliche Bilder ab. Während White
versuchte, durch eine Aussage seine Karriere zu
retten, auch wenn er damit Robeson ans Messer lieferte, versuchte Seeger ohne Verleumdungen und ohne Zugeständnisse durchzukommen.
Guthrie lebten inzwischen mit seiner neuen Frau
Marjorie zusammen und versuchte nach seiner
fiktiven Autobiografie „Bound For Glory“ ein
zweites Buch zu schreiben. Daneben schrieb er
seiner Tochter Cathy eine Menge Kinderlieder.
Als sie mit vier Jahren durch ein Feuer starb, fiel
Guthrie in eine tiefe Depression.
Und schließlich brach bei ihm die gleiche Krankheit aus, die auch seiner Mutter zum Verhängnis
wurde. Nachdem er im Zustand der geistigen
Umnachtung seine Frau und die Kinder mehrfach angegriffen hatte, ließ er sich in ein Krankenhaus einliefern, wo er die letzten Jahre seines
Lebens blieb. Eigentlich war er von der Welt
schon fast vergessen. Doch dann kam Bob Dylan
als Pilger daher, sang für ihn und sang öffentlich
seine Lieder. Und damit war spätestens die Legende geboren. Ganz unabhängig von Fragen
des Antikommunismus oder was auch immer.
Nur noch von alt gewordenen Antikommunisten wird er heute noch wegen seiner politischen
Gesinnung abgelehnt. Und auch wenn in seiner
Geburtsstadt noch immer kein Museum an ihn
erinnert, steht doch zumindest auf einem Wasserbehälter am Stadtrand groß „Home of Woody
Guthrie“. Auch wenn das so ziemlich das einzige
Zeichen dafür ist, dass man sich in Okehma an
den wohl berühmtesten Sohn der Stadt überhaupt erinnert. Selbst die Stelle, wo bis Ende der
70er Jahre das Haus der Guthries stammt, ist
heute komplett zugewachsen. Vom Haus selbst
sieht man noch die Fundamente. Und als Billy
Der Vater des Folkrevival
Bragg Anfang des Jahrhunderts dort war, bot ein
Auch wenn die Musiker um Pete Seeger auch Trödler Holz an, was von dem Haus der Guthries
nach dem Krieg ihr politisches Engagement fort- stammen soll. Einen Beleg allerdings gab es nicht
setzten, wurde es doch durch den Antikommu- dafür.
13
© wasser-prawda
Musik
Wenn man sich mit Woody Guthrie beschäftigen will, ist die Auswahl an deutschsprachigen
Büchern nicht sehr groß. Pünktlich zum 100.
Geburtstag des Songwriters erschien im Verlag
Neues Leben eine faktenreiche Biografie der
Journalistin Barbara Mürdter.
Wenn man heute Woody Guthrie als Vater der
amerikanischen Folkmusik betrachtet, gar als
ersten Punker, dann haben Musiker daran Anteil, die sich noch heute auf ihn berufen. Dylan,
Joe Strummer, Billy Bragg,... Die Generation
der Nachfahren des Songwriters zieht sich quer
durch alle Musikstile. Und mittlerweile sind es
nicht nur seine politischen Songs, für die man
ihn verehrt. Gerade durch Projekte wie die „Mermaid Avenue“-Alben von Billy Bragg und Wilco
oder „Tic Toc“ von Wenzel ist klar geworden,
wie vielseitig Guthrie als Lyriker war. Von gesellschaftskritischen Songs bis hin zu schwelgerischer Liebeslyrik, von Kinderliedern bis hin zu
jüdischen Liedern reicht das Spektrum. Woody
Guthries Werk ist mindestens ebenso komplex
wie sein Leben.
Das Wichtigste an Barbara Mürdters Biografie,
ist die Tatsache, dass sie (trotz des plakativen Untertitels) vor den Widersprüchen und Brüchen in
Guthries Biografie nicht zurückschreckt. Aus den
verschiedensten Quellen (leider meist aus schon
veröffentlichten Büchern) hat sie Guthries Leben
rekonstruiert und dabei besonderen Wert auf die
gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA seinerzeit gelegt. Denn ohne diese wäre kaum zu
verstehen, wie Guthrie zu einem Liedermacher
wurde, der sich ganz bewusst politisch engagierte.
Doch Mürdter geht eben auch auf das turbulente
Privatleben Guthries ein und schildert das musikalische Umfeld um Pete Seeger, die Almanac
Singers oder die Arbeit der Lomax-Familie. Von
Oklahoma über Kalifornien nach New York, von
der Weltwirtschaftskrise über die Zeit des New
Deal bis nach dem Zweiten Weltkrieg entsteht
so nicht nur das Bild eines unangepassten Lebens
sondern auch das einer sich verändernden Gesellschaft in den Vereinigten Staaten. Und damit ist
Mürdters Biografie zur Zeit wahrscheinlich das
Beste, was man in deutscher Sprache zu Guthrie
finden kann.
Wenn ich von einer Biografie etwas erwarte,
dann sind es aber nicht allein die Fakten eines
Lebens. Viel mehr will ich auch verstehen, wie
ein Mensch gedacht hat, wie er zu seinen Werken
wirklich gekommen ist. Und hier versagt leider
die Herangehensweise der Autorin. Es fehlt eine
wirklich engagierte und persönliche Auseinandersetzung mit seinen Songs, mit seiner Musik.
Es fehlt der Mut, persönliche Motive in die Darstellung mit einzubringen. Immer wenn es um
Kunst, um Musik oder Literatur geht, ist die
klassische Herangehensweise der nüchternen Betrachtung für mich letztlich unbefriedigend. Bei
allen Fakten bleibt Guthrie so seltsam unnahbar und hölzern. Das ist wirklich schade. Auch
macht das Fehlen von Fußnoten die Arbeit für
wissenschaftliche Weiterarbeit leider untauglich.
(Besonders störend ist das für mich bei den zahlreichen Zitaten aus Songs oder Aufsätzen, die als
„Randbemerkung“ das Buch auflockern. Nicht
14
immer wird aus dem laufenden Text deutlich,
aus welchem Text die Zitate gerade stammen.)
Für eine weitergehende Auseinandersetzung
kann man Bücher wie „Prophet Singer. The
Voice and Vision of Woody Guthrie“ von Mark
Allan Jackson heranziehen. Wo Mürdter die vollständigen Fakten eines Lebens zusammenträgt,
widmet sich dieser ganz gezielt seiner Art des
Songwritings und wie genau seine Lieder von der
Politik beeinflusst wurden und selbst politische
Änderungen anregten. Leider gibt es dieses Buch
noch nicht in deutscher Übersetzung. Was allerdings anlässlich des 100. Geburtstages von Guthrie in einer Neuauflage herausgekommen ist,
ist Guthries autobiografischer Roman „Bound
For Glory“ - in Deutschland verkauft als „Dies
Land ist mein Land“. Und auch wenn man Guthrie nicht wie manche Kritiker mit James Joyce
vergleichen kann: Das ist sicherlich eine anregende Lektüre und eine Einführung in das wilde
Denken des Songwriters.
Raimund Nitzsche
Barbara Mürdter: Woody Guthrie Die Stimme des anderen Amerika
Verlag: Neues Leben;
Auflage: 1 (15. Juni 2012)
240 Seiten
€ 17,95
ISBN-13: 978-3355018012
© wasser-prawda
Musik
Jon Lord und der Blues
Es ist schon eine Schande, dass man oft erst
durch Todesnachrichten dazu angeregt wird,
sich wieder mit der Musik seiner Jugendhelden
zu beschäftigen. Deep Purple war irgendwann
erledigt für mich. Die Reunion der 80er Jahre
überzeugte mich nicht. Ich wollte mir die Erinnerung an die großen Zeiten der klassischen
Besetzung mit Jon Lord, Ian Gillan und Blackmores Gitarre nicht verderben. Und so entging
mir die Entwicklung des Hammond-Spielers
Jon Lord seither komplett.
Tina Turner noch nicht zu einer Karrikatur ihrer
selbst verkommen war. Und der „Walkin Blues“
mit den lang nicht mehr gehörten Basslinien von
Hodgkinson ist mehr eine Hommage an die späteren Zeiten von Alexis Korner als ein Ausflug ins
Delta a la Robert Johnson. Beim Schlusstitel „I‘m
a Man“ kommen natürlich sofort die Erinnerungen an die Spencer Davis Group.
Mag sein, dass hier der Blues nicht neu erfunUmso überraschter war ich jetzt, als ich bei der den wurde. Aber dieses Album ist nicht nur eine
Recherve auf ausgerechnet Blues-Alben von ihm wirklich gute Bluesscheibe sondern auch eine
stieß. Einerseits die Scheiben mit den Hoochie würdige Erinnerung an Jon Lord.
Coochie Men. Aber vor allem das Live-Album
Ein ganzes Stück mehr in Richtung Bluesrock
mit seinem Jon Lord Blues Project.
Das vor rund 800 Jazzfans in Rottweil mitge- und (leider auch) Langeweile geht das 2007 erschnittene Konzert ist so etwas wie eine Zeitreise schienene Album „Danger White Man Dancing“.
zurück in den britischen Rhythm & Blues vor der The Hoochie Coochie Men (Bob Daisley, Tim
Erfindung des Hardrock. Neben Jon Lord gehö- Gaze, Rob Grosser und Jon Lord) haben sich auf
ren zu dieser All-Star-Band Bassist Colin Hodg- der Scheibe Gäste wie Jeff Duff, Jimmy Barnes
kinson, Maggie Bell (Gesang), Miller Anderson und vor allem Ian Gillian eingeladen. Und damit
(Gitarre und Gesang), Zoot Money (Keyboard sollte man die Scheibe trotz einiger Schwächen
doch mal wieder einem Hörtest unterziehen.
und Gesang) und Pete York am Schlagzeug.
Das Programm: Klassiker bis zum Abwinken wie Leute, die es beim Blues rockiger als ich mögen,
der scheinbar unverzichtbare „Hoochie Coochie werden mehr Spaß haben als Puristen.
Man“ oder der „Walkin Blues“. Aber auch Tom
Waits‘ „Way Down In The Hole“ oder Deep Und jetzt hör ich doch wieder mal „Made In
Purples „Lazy“ und „When A Blind Man Cries“ Japan“ und lasse die Boxen dröhnen! Und um
das Vergnügen komplett zu machen, nehme ich
passen sich hier ein.
Dass sich die Bandmitglieder das Gesangsmikro die Komplettedition der Konzerte, aus denen
teilen, macht das an sich schon inspirirerte und dieser Meilenstein der Rockgeschichte zusamfaszinierende Konzert noch abwechslungsreicher. mengestellt wurde. Mehr „Smoke on the Water“
Wenn etwa Maggie Bell „Wishing Well“ röhrt, braucht kein Mensch. Aber auch nicht weniger.
dann kommen Erinnerungen an eine Zeit auf, als
Raimund Nitzsche
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Platte Des Monats
B.B. & The Blues Shacks Come Along
Soulblues vom Feinsten: B.B. & The Blues Shacks sind dafür in Europa eine der ersten Adressen.
Wesentlich bluesiger als der Vorgänger „London Days“ ist jetzt das zwölfte Album der Hildesheimer Band mit dem Titel „Come Along“.
Manchen langjährigen Fans waren „London
Days“ zu viel Soul und zu wenig Blues. Ich kann
das nicht wirklich verstehen. Aber ich verfolge
die Geschichte der Band um Michael und Andreas Arlt ja auch noch nicht seit 20 Jahren. Erst
ein Sampler in einer von mir regelmäßig gelesenen Musikzeitschrift führte zur ersten Begegnung
mit ihnen - und da wurden sie gar unter dem
Label „Swing“ mit einbezogen. Was natürlich
nur im Zusammenhang mit dem swingendem
Jumpblues der 40er/50er Jahre zu verstehen ist.
Ansonsten geht man völlig fehl, wenn man diese Band zum Swingrevival der 90er Jahre dazurechnet. Nein - hier ist wirklich in Deutschland
eine Band gewachsen, die inzwischen einen ganz
eigenen Sound gefunden hat irgendwo zwischen
Soul und Blues und meilenweit entfernt von jeglicher Form des Bluesrock. Und da bildete das zu
Recht hochgelobte Album „London Days“ einen
Höhepunkt der Entwicklung mit dem Schwerpunkt Soul. Mit „Come Along“ geht es jetzt wieder etwas bluesiger zur Sache.
Die Songs - sämtlich von den Gebrüdern Arlt geschrieben - spielen sich alle mehr oder weniger
im Beziehungschaos und dem Hin- und Her der
Liebe ab. Ob nun beim Opener „True Love In
Vain“ mit dem schon fast zum Klischee geronne-
nen Bild der Geliebten, die mit dem Morgenzug
davonfährt, gespielt wird; ob gleich danach die
Frau ihren Partner als „Money Tree“ ansieht und
das „Home Sweet Home“ verkommen lässt - das
geht immer mit einer Menge Humor zur Sache.
Aber eben auch mit jeder Menge Gefühl, das für
Blues und/oder Soul ja nun mal unabdingbar
ist. Und damit kann sich dann jeder erwachsene
Mensch irgendwie in die Stücke hineindenken
und -fühlen. Denn letztlich ist doch die Liebe
oder das Fehlen derselben eines der universellen
Themen jeglicher Kunst und nicht nur des Blues.
Wenn die Blues Shacks etwas auszeichnet, dann
ist das das völlige Fehlen von Eitelkeit als Band.
Andreas Arlt ist sicherlich einer der besten Bluesgitarristen des europäischen Kontinents und sein
Bruder Michael zählt als Sänger ebenso zur absoluten Spitzenklasse. Ähnliches kann man auch
von der Rhythmusgruppe (Henning Hauerken
- b, Bernhard Egger - dr) und von Pianist und
Organist Dennis Kockstadt sagen. Diese Meisterschaft wird aber fast nie in irgendwelchen
effekthascherischen Soloeskapaden vorgetragen
sondern immer ganz im Sinne der Songs eingesetzt. Ein längeres Solo wie in „Doesn‘t Matter
Anymore“ ist da schon eine Ausnahme, über die
man sich dann besonders freut. Für den vollen
16
Sound haben sich die Blues Shacks wieder mit einer Bläsertruppe (The No Blow No Show Horns)
und The Shackettes als Background-Chor verstärkt. Insgesamt würde es mich nicht wundern,
wenn „Come Along“ bei den Abstimmungen
zum Album des Jahres ganz oben landen würde.
Es ist ein rundes und zu keiner Sekunde langweiliges Album, bei dem man noch im vierten oder
fünften Hördurchgang neue Nuancen entdeckt.
(CrossCut/in-akustik)
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Platten
klassischem Folkblues („I Believe“)
über Rockabilly bis hin zu jazzigen
Bluesetüden wechseln, ohne dass
es dabei zur heillosen Zerfaserung
seines Albums kommt. Denn es
sind eigentlich immer die Songs,
die die entsprechende musikalische
Behandlung verlangen. Und so ist
„Right On Cue“ eine jener Entdeckungen auf dem Bluesmarkt, die
man guten Freunden hinter vorgehaltener Hand empfiehlt und von
Al Wood & The Woodsmen - denen man hofft, dass sie so eine
Right On Cue
breite Aufmerksamkeit finden möBlues aus Kanada. Dieses Mal mit gen. Blues für Genießer sozusagen.
der faszinierenden Bluesharp und
Nathan Nörgel
den Songs von Al Woods. Gemeinsam mit seinen Woodsmen musiziert der Songwriter auf seinem
aktuellen Album „Right On Cue“
zwischen traditionellem Blues,
Roots und Soulblues.
Das kann schon manchmal ein
wahrer Teufelskreis sein mit dem
Blues. Noch immer trinkt sie schon
früh am Morgen Whiskey, um klar
zu kommen. Doch natürlich wird
das so nichts. Und so fort. „Vicious Circle Blues“ ist eine dieser
Arthur Alligood - One Silver
hörenswerten Bluesgeschichten, die
Needle
Al Woods mit einer wundervollen Singer/Songwriter Arthur Allision
Soulstimme und einer Bluesharp kommt aus der Gegend von Memirgendwo im Spannungsfeld zwi- phis. Sein aktuelles Album „One Silschen Little Walter und Sugar Blue ver Needle“ hat allerdings nur wenig
auf seinem neuen Album vorträgt. mit Country zu tun sondern ist eine
Andere dieser Geschichten erzählen Sammlung von zehn meist lyrischen
- es ist ein Bluesalbum! - von Zügen, Folksongs mit Bandbegleitung.
vom Alkohol, dunklen Wolken am Es sind Bilder von zerbrochenen
Horizont oder bitteren Pillen, die Dingen und Gefühlen, die immer
man zu schlucken gezwungen ist. wieder in den Songs auftauchen, sei
Thematisch ist das natürlich keine es die Suche nach einem Fernglas,
Revolution. Aber musikalisch ist das das nicht schon spinnennetzförmispannend und äußerst vielseitig.
ge Risse auf den Linsen hat oder die
Dass Al Woods seine ersten Sporen silberne Nadel, die man braucht,
als Bluesmusiker in einem Um- um Dinge wieder zu nähen. Und es
feld verdiente, dass mehr auf Punk sind auf diese Lyrik und Stimmung
und Alternative stand, dass merkt abgestellte Arrangements, die „One
man heute eher weniger. Viel mehr Silver Needle“ zu einem Highlight
hört man, dass er im Laufe der der aktuellen Singer/SongwirterJahre die Bluesgeschichte von der Szene machen. Hier sitzt nicht der
Vorkriegszeit bis in die Gegenwart einsame Barde mit seiner Gitarre.
studiert und verinnerlicht hat. So Hier spielt einer, der seinen Songs
kann er auf dem Album zwischen notfalls auch den nötigen Druck
Big Walker - Root Walking
„Americana Blues & Roots“ lautet
der Untertitel des Albums, das der
Bluesharpspieler und Saxophonist
Big Walker jetzt veröffentlicht hat.
Grundlage der Songs sind Afroame-
rikanische Gedichte aus Vergangenheit und Gegenwart.
Big Walker - ich geb es freimütig zu - war mir bislang unbekannt.
Umso überraschter war ich. als ich
unter seinen Lehrmeistern so unterschiedliche Künstler wie Paul
Butterfield und Jimmy Witherspoon fand. Und über die letzten Jahrzehnte hat der Harp- und
Saxophonspieler unter anderem
mit Mike Bloomfield, Big Mama
Thornton und Luther Tucker gespielt. Mit The Soul Rebels war er
in den 80ern in Europa unterwegs
und blieb für einige Jahre diesseits
des Atlantic. Vor allem in Skandinavien hat er seine Fanbasis. So
dürfte es auch zu verstehen sein,
dass er „Roots Walking“, sein zwei-
gibt, um seine Botschaft zu singen.
Anklänge aus Folk, Americana und
ein wenig Rootsrock sind dafür die
Mittel der Wahl. Lohnt sich für
Freunde dieser Musik. (NewSong
Recordings)
Nathan Nörgel
Benoit Viellefont Hot Club Live at the Quecumbar
Ob mit seinem Orchestra oder
dem akustischen Hot Club - der in
London lebende Gitarrist und Sänger Benoit Viellefon gehört zu den
besten Musikern im Bereich der
Swingmusik in Europa. Sein zweites Album „Live at the Quecumbar“
entstand in ganz klassischer Manier:
Lediglich ein Mikrofon für die sechs
Musiker in einem kleinen Club. Intimer und lebendiger kann man Gypsy Swing kaum präsentieren.
Manchmal passieren Geschichten,
für die man die Realität eigentlich wegen der Verwendung von
Klischees verklagen sollte. Gerade
hatte ich „Live at the Quecumbar“
im Büro erstmals aufgelegt, als ein
Franzose den Laden betrat und
fragte, ob wir nicht Werkzeuge zum
Schleifen hätten. Haben wir natürlich nicht. Schreibfedern nutzen wir
eher selten - und die entsprachen
auch nicht dem Firmenprofil des
fahrenden Handwerkers. Aber als er
genauer auf die Musik hörte, begannen seine Augen zu strahlen. Und
schon waren wir in einem Gespräch
über Django Reinhardt und andere
Swingmusiker der Roma. Am liebsten hätte er sich das Album sofort
auf CD kopieren lassen. Und das
dürfte das beste Kompliment sein,
tes Soloalbum, im schwedischen
Stockholm eingespielt hat.
Aber der Ort ist eigentlich egal:
Big Walker spielt ganz traditionellen Blues im Stil des MississippiDelta. manchmal gibt es Ausflüge nach New Orleans, und auch
Chicago taucht auf der musikalischen Landkarte auf. Auch sollte
man niemals vergessen, dass die
Kirchen ebenso wie die Baumwollfelder zu den Quellen des Blues gehören. Und selbst Soulbluesklänge
gibt es in Songs wie „Slave“.
Doch die Musik - durchweg auf
höchstem Niveau gespielt und ansteckend vor Begeisterung - ist nur
die eine Seite dieses bemerkenswerten Albums. Spannend ist ebenso,
wie Walker alte Gedichte - vom
17
was jemand einem Album beim ersten Hören machen kann.
Die Musik von Reinhardt und seiner Nachfolger bildet einen Schwerpunkt von Viellefons Musik. Hinzu
kommt allerdings noch „normale“
Tanzmusik der 40er Jahre und die
klassische Musette, was insgesamt
eine wunderbar altmodische und
mitreißende Mixtur ergibt, die französischer nicht sein kann. Sein Hot
Club spielt in der Besetzung von
zwei Gitarren, Klarinette, Trompete, Akkordeon und Bass. Ob die
Band nun Klassiker interpretiert
wie etwa den unkaputtbaren „Caravan“ von Ellington oder eigene
Songs von Viellefon (wundervoll
besonders: My Dog Is A Gypsy“)
macht bei dem Album keinen Unterschied. Denn hier werden Songs
interpretiert und nicht nachgespielt.
Und das macht die Band in der Retro-Swing-Szene zu einer der wichtigsten, weil bei ihr eben die Swingmusik nicht museal ausgestellt wird
und tot ist. Nein, Benoit Viellefon
Hot Club lässt den Swing lebendig
bleiben. Und dass sie damit großen
Erfolg haben und daher ihre Plattenpräsentation gar in der Royal
Albert Hall feiern werden, ist wohl
verdient. (JohnJohn)
Nathan Nörgel
Debbie Davies - After The
Fall
Debbie Davies ist als E-Gitarristin
eine Legende im Blues. Nach Bands
wie Maggie Mayall and the Cadillacs wurde sie vor allem bekannt
durch ihr Engagement in der Band
Kinderreim bis hin zu Balladen und eigene Texte mit der Musik
zu einem Blues verbindet, der ganz
tief die afroamerikanischen Traditionen atmet andererseits aber auch
lebendiger ist als die Musik von
Neo-Traditionalisten, wie etwa Eric
Bibb (mit dem er befreundet ist)
oder Keb‘ Mo‘. Vergleichen würde
ich „Roots Walkin“ vom Ansatz
her eher mit Alben wie den letzten
Werken von Otis Taylor oder auch
dem Heritage Blues Orchestra:
Nur wenn der Blues die Geschichte
in Erinnerung behält, bleibt er als
Musik lebendig. Aber nur, wenn
diese Musik auch in Gegenwart
und Zukunft schaut, bleibt sie relevant. Äußerst empfehlenswert!
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Platten
fasst; heute mag mancher darüber anders denken. - Die zwei Begleiter
von Willy, Seth und David sind aber so gut, dass sie nicht nur mühelos,
sondern mit bewunderswerter Hingabe eine Barkasse zum 4-Master gestalten. Und Mister DeVille tut das, wass er einfach intuitiv gut kann:
Willy zeigt sich als souveräner Kapitän, der sein Schiff mit Bravour in
den sicheren Hafen steuert. So sind auf dieser 1. DVD 17 Songs zu hören, die einen eher essentiellen Charakter haben, denn vor Improvisation
und Spontanität sprühen. Die Musiker auf dieser DVD sind neben Willy
DeVille - Gesang, Gitarren; Seth Farber - Piano und Backing Vocals und
David Keyes - Bass und Backing Vocals. Gesamtlaufzeit 82 min.
DVD 2 Willy DeVille Live At Metropol
Willie DeVille - Still Alive
Anlässlich seines dritten Todestages am 06. August bringt Meyer Records
mit Willy DeVille Still Alive eine aufwendig ausgestattete 3er DVD-Box
auf den Markt. Es gibt zwei Konzerte von Willy aus Berlin aus dem Jahre 2002, Trio und full Band. Dazu aber noch eine sehr bemerkenswerte
Doku-DVD, die alleine schon lohnenswert ist. Es scheint glaubhaft, dass
mit dieser Box die Fangemeinde des oft als exzentrisch eingestuften Musikers aus New York deutlich anwachsen wird.
Dass Willy DeVille Zeit seines Lebens nicht zu den Gesundheitsaposteln
der Szene gehört hat sollte bekannt sein. Die Zeit, in der das Ungesunde
die Kreativität so unvergleichlich intensiv beflügelte, sind für den Grand
Capitano des Piraten-Rock zur Zeit der Mitschnitte schon passé. So wird
dem Betrachter gestattet, ein sehr intimer Voyeur voller Verantwortung
und Respekt zu werden, dem neben der Musik auch ein tiefer Blick in den
Privatmann Willy DeVille gewährt wird.
Durch die exzellente Arbeit von Diethard Küster als Direktor des Ganzen
ist ein einmaliges Dokument mit Lebensausschnitten des Künstlers und
Menschen Willy DeVille entstanden. Voller Sympathie und genug Raum
für die persönliche Begegnung, ist diese 3er DVD-Box für alle interessant,
deren Leben mit Musik mehr ist als nur der Besuch eines Konzerts oder
das Hören von audiphonen Konserven.
DVD 1 Willy DeVille Unplugged in Berlin
Beide Konzert-DVDs sind Neuauflagen der zum 25- jährigen Bühnenjubiläum 2002 veröffentlichten und längst vergriffenen „The Legendary
Berlin Concerts“. Die beiden Konzerte wurden komplett neu vom 4:3 ins
16:9 Format umformatiert. Auf DVD 1 ist das Konzert aus der Columbia-Halle in Berlin-Kreuzberg.
Dieses Trio-Konzert beeindruckt durch seine Synchronität zwischen Leben und Arbeit. Alle, wirklich alle, Musiker, Kameraleute, Publikum zeigen ein Bild von sich, das alles andere als künstlich ist, aber gerade dadurch
große Kunst wird. Willy lässt sich von der Kamera über‘s Gesicht, welches
wirklich nicht mehr frisch und sexy ist, streicheln. Das Publikum scheint
beseelt von dem Wissen und Mitleid darüber, dass Willy auf Grund eines
kurz zuvor erlittenen Autounfalls und der davon resultierenden Hüftverletzung nicht, wie gewohnt, singen, springen und tanzen kann. An den
Problemen im Umgang mit seiner Sucht aus vergangenen Tagen lässt er
die Fans teilhaben, indem er einfach nicht ohne Zigarette auf der Bühne
auskommt. Dem Gesang hilf das wahrlich nicht. ‚Hound Dog‘ wurde
damals vom Publikum als originelle Version des Elvis-Klassikers aufgeIcebreakers von Alber Collins. Sein
Gitarrenstil ist in ihrem Spiel noch
immer zu hören. „After The Fall“ ist
ihr elftes Studioalbum.
Lassen wir mal die ganzen historischen Fakten über die Geschichte
einer musikalischen Legende. „After The Fall“ benötigt diese Fakten
nicht. Denn es ist einfach ein rundes Album, das die verschiedensten Stile des zeitgenössischen Blues
bedient und dabei eine Menge Geschichten erzählt. Geschichten, die
Debbie Davies zumeist allein oder
mit ihrem Schlagzeugkollegen Don
Castagno geschrieben hat. Die Geschichte zur Krise etwa „Done Sold
Everything“ über die verzweifelte
Suche nach Geld, nachdem man
schon sämtliche Reserven zusammengekratzt und den überflüssigen
Ballast versetzt hat. Oder die wü-
Die Aufnahmen dieser DVD enstanden im Herbst 2002 im Berliner
Metropol. Im Vorfeld hatte es manche Unvorhersehbarkeiten gegeben
und so konnte die geplante Generalprobe am Tag zuvor nicht stattfinden. Die Professionalität aller Mitwirkenden machte aber trotzdem einen einmaligen Konzert-Mitschnitt möglich, der auf dieser DVD für alle
Zeiten festgehalten ist. Willys hervorragende Band erschafft mit „Loup
Garou“vom Start weg diese wunderbar schwüle Spannung, die DeVilles
Musik immer innewohnt. Der Meister selbst war topp in Berlin, seine
Stimme einfach nur cool und sein Slide-Gitarre-Spiel virtuos, Gänsehaut
inklusive! So wurde eine Mischung aus Blues, Soul, TexMex, Countryfolk
und Doo-Wap geboten, die keine Wünsche offen ließ. Mit dem 20. Titel
„Hey Joe“ geht ein Konzert über die Bühne, das mit eigenen Highlights,
aber auch mit gelungenen Covers besetzt ist. Das begeisterte Publikum im
ausverkauften Metropol feierte seinen Star und dessen Band frenetisch.
- Ein dickes Lob an Kameraführung und Regie, denen es gelungen ist,
diese Atmosphäre einzufangen! Die Musiker auf diese DVD sind: Willy
DeVille - Gesang, Gitarren; Freddy Koella - Gitarren, Violine, Mandoline; David J. Keyes - Bass, Backing Vocals; Boris Kinberg - Percussons;
Dorene Wise & Yadona Wise - Backing Gesang. Gesamtlaufzeit 92 mim.
DVD 3 Willy DeVille Specials
Bei dem Material der dritten DVD, „The Willy DeVille Specials“, handelt
es sich um absolute Erstveröffentlichungen auf DVD. Dieses Filmmaterial enthält manche Rarität. Willy erlaubt dem Betrachter eine sehr persönliche Nähe. Besonders der 32 Minuten lange 1. Teil des hochgelobten
Films „Beautiful Losers“ von Diethard Küster gilt als ein außergewöhnlich persönliches Dokument. Willy DeVille erzählt mit beeindruckender
Offenheit über seine Hoffnungen und Träume, über seine Niederlagen
und Triumphe. Dazu gibt es unveröffentlichte Songs, einen längeren Ausschnitt aus dem Film „Va Banque“, in dem Willy unter anderem mit
unserem ehemaligen Außenminister Joschka Fischer zu sehen ist, der einen Taxifahrer spielt. Die DVD enthält darüber hinaus sehr persönliche,
nie zur Veröffentlichung vorgesehenes Material eines Soundchecks, bei
dem einige Songs völlig neu erarbeitet werden, zudem ein Gespräch mit
der Rock‘n‘Roll-Legende Jack Nitzsche, der sehr eindrucksvoll über Willy
DeVille und das Musik-Business erzählt. Da Jack Nitzsche als ausgesprochen eigenwillig und pressescheu galt, überrascht auch dieser Teil durch
seine unzensierte, fast intime Offenheit. Gesamtlaufzeit 81 min.
Die Box-Booklets
Das ganze Paket wird durch ein sehr liebevoll und aufwändig produziertes Booklet von 32 Seiten abgerundet. Auch einige von Willy DeVilles
Musikern kommen hier zu Wort. Dazu gibt es ein zweites, 24-seitiges
Booklet mit einem Interview, das quasi als künstlerisches Vermächtnis des
Meisters angesehen werden kann. Ein ästhetisch hochwertiges Musikpaket eines außergewöhnlichen Künstlers!
Lüder Kriete
tend-zynische Auseinandersetzung
mit dem Verflossenen „Don‘t Put
The Blame“. Das ist einfach großartiges Songwriting von einer wundervollen Sängerin und Gitarristin
über das Leben, die Liebe und den
Blues (um mal einen Albumtitel von
Etta James zu zitieren - man könnte auch sagen: Über das Leben, das
Universum und den ganzen Rest).
Anhören und weiterempfehlen!
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Do I Smell Cupcakes? Springs
Aus Cottbus in die Haupstadt,
immer der Nase nach: Do I Smell
Cupcakes? mit Springs machen dabei keine schlechte Figur. Diese fünf
Jungs machen einen sehr frischen
Indie Pop-Rock. Der ist eingängig,
leicht und doch sehr gehaltvoll und
ganz einfach gut. Ihr Debut-Album
überzeugt durch die sehr ausgewo-
© wasser-prawda
Platten
gene Aufnahmequalität. So wird ein
harmonischer Ensemble-Eindruck
geschaffen, der eine Menge individueller Klasse einbaut, ohne eine
Person oder ein Instrument besonders in den Vordergrund zu rücken.
Teamplay, fair and beautiful.
Das in dieser Truppe ein ganz enormes Potential steckt beweisen sie
schon recht frühzeitig auf ihrem
Album mit Autumn in Minor/
Autumn in Major; Titel 2 & 3.
Da nehmen sie zwar die Hilfe von
Freunden dazu und lassen sich mal
ganz kräftig einen blasen, aber –
jaja, Jungs, das geht ab! Die Riffs
von Trompete und Posaune und darüber das ungezügelte Sax, das hat
was, ganz ehrlich, davon darf‘s gerne mehr werden.
Ebenso positiv ist zu bewerten, dass
sich die Bande nicht scheut neben
satten Bläser-Arrangements auch
schnulzig-schöne
Streicher-Sätze
zu präsentieren. Es zeigt, mal ganz
abgesehen vom Wohlklang, dass sie
sich sicher sind mit dem was sie tun.
Ebenso haben sie keine Probleme
damit manchem Song ein elektronisches Outfit zu verpassen, Snake
Devotion, oder akustisch gewandet
daher zu kommen, The Quantity
Of Things.
13 Tracks sind im Angebot; fast
51 Minuten braucht es für einen
Durchlauf. Musik, die alleine ebenso viel Spaß macht wie mit anderen,
die die Hausarbeit genauso verschönt wie die Pause im Stau. Und
ganz sicherlich auch live unglaublich viel Spaß macht.
Zu den englischen Lyrics sollte man
sich seine eigene Meinung bilden.
Aber da nehmen wir mal ihre Jugend als Erklärung für manch ein
„schummriges“ Bild (inside out).
Dieses Erstlingswerk ist ein durchaus ernst zu nehmendes Angebot.
Mal abgesehen von diesem unmöglichen Band-Namen. Wenn Euch
die Fans schon ‚Napfkuchen‘ rufen,
dann solltet ihr dem unbedingt folgen und wenn‘s doch Englisch sein
muss, dann eben cupcakes – aber
den Rest solltet ihr schnellstens entsorgen. Wenn dann beim nächsten
Album Band-Name, Bild-Botschaft
und Albumtitel stimmen, dann sehen wir etwas wirklich Großes auf
uns zukommen. (JMG Records/
da-music)
Lüder Kriete
Momente, wo man eigentlich zu
schwach ist für die Einsamkeit, da
ist Ed Laurie mit seinem Album der
rechte Begleiter. Dieses Album hat
die Kraft, einen aufzufangen und
am Ende getröstet zu entlassen.
Nathan Nörgel
Ed Laurie - Cathedral
„Still No Sign of Al“ - dieser Satz,
den der britische Songwriter Ed
Laurie an einer Kathedrale fand, bildet den Ursprung für „Cathedral“.
Das dritte Album Lauries ist eine
melancholisch-träumerische Reise
auf der Suche nach dem mysteriösen Al und dem Leben, dem Universum und so weiter.
Als Musikfan und auch als Rezensent hat man für jede musikalische
Richtung so seine Referenzalben,
Platten, die in ihrer Art einzigartig sind und noch nach Jahren sich
immer wieder in Erinnerung rufen. Ich kann noch heute mir den
Tag in Erinnerung rufen, wo ich
erstmals „Grace“ von Jeff Buckley
hörte. Diese Melancholie, diese Leidenschaft, die Trauer und vor allem:
diese traumhafte Stimme... Als „Cathedral“ erstmals im Playler lief, da
tauchte dieser Tag vor dem inneren
Auge auf. Und auch beim dritten
oder vierten Hördurchgang komme
ich nicht von der Assoziation los.
Gegenüber Ed Laurie mag das unfair sein. Denn eigentlich kann sich
mit „Grace“ für mich so schnell
kein Songwriter-Album messen
lassen. Doch wenn ich ehrlich bin:
Ed Laurie kommt hier manchmal
verdammt dicht ran. Diese Lieder,
die weit entfernt sind vom drögen
Liedermachergeklimper entfalten
einen Sog durch die Texte ebenso
wie durch die Orchestrierung. Da
werden keine verzerrten Rockgitarren eingesetzt sondern es bauen sich
Streicherteppiche auf. Saxophonsoli überraschen. Und selbst die Sitar
wirkt nicht aufgesetzt. Und Lauries
Stimme hat für mich manchmal fast
die beschwörende Kraft von Buckley. Auch die Geschichten, von denen er singt, sind eher bei Buckley
als etwa bei Billy Bragg anzusiedeln:
Lyrische Meditationen über die
immer wieder zerbrechliche Liebe,
über die Suche nach dem Halt in
der Gegenwart oder dem Geist, der
all das zusammenhält.
Ein Kollege meinte, „Cathedral“
wäre das richtige Album für Sonntagnachmittage. Ich denke: Für die
Stunden danach, für die einsamen
19
Und wenn wir schon bei der Familie
sind: auch sein Sohn David Campbell spielt bei zwei Liedern mit und
sorgt mit seiner Geige für eine gehörige Abwechslung im klassischen
Bluessound. Sein Patensohn Lurrie
Bell ist mit Gitarre und Bluesharp
bei drei Stücken zu hören und
jammt mit dem Patenonkel im letzten Track „Playing Around These
Blues“. Damit ist das musikalische
Familientreffen komplett. Und hier
ist man dann doch musikalisch im
Mississippi-Delta
angekommen.
Und man wünscht sich, das Album
würde noch länger dauern in seiner
Schönheit. Aber es gibt ja die Repeat-Taste. (Delmark)
Raimund Nitzsche
Eddie C. Campbell - Spider
Eating Preacher
Relaxt, groovy, voller Humor und
mit einer unvergleichlichen Gitarre
präsentiert sich Eddie C. Campbell
auf seinem 2012er Album „Spider
Eating Preacher“. Und er scheint
mit 72 Jahren dennoch jünger zu
sein als ein großer Teil der Blueszene
von Chicago.
Nein, ich habe keine Lust, die ellenlange Liste der Musiker aufzuzählen,
für die Eddie C Campbell seinerzeit
in der West Side von Chicago die
Gitarre gespielt hat. Namedropping
hat der 1939 geborene Sänger und
Gitarrist nicht nötig. Hier ist ein
Musiker, der in seinem Spiel heute
noch den Sound hat, der damals
in den Clubs angesagt war. (Und
manche vermuten, seine JazzmasterGitarre wäre noch die gleiche wie
damals. Aber das ist nicht wirklich
relevant.) West Side Funk nennt er
seinen Stil. Und das umschreibts genau: Hier sind statt rollender Rockrhythmen eher Funkfundamente zu
hören. Und die Gitarre spielt dazu
(mit jeder Menge reverb) perlende
bis schneidende Linien aus dem
Grenzbereich zwischen B.B.King
und Jazz. Das ist Urban Blues, das
ist Musik weit fort vom Mississippi
aber doch noch mit beiden Beinen
im Blues. Campbell singt (die meisten der Songs stammen aus seiner
Feder) Geschichten, denen man
gerne genauer nachforschen würde:
Was hat es mit dem spinnenfressenden Pfarrer des Titelsongs wirklich
auf sich? Dann gibt es wieder Momente, wo dieser Humor von persönlicher Nähe abgelöst wird, wenn
er etwa in All My Life über das lange Leben mit seiner Frau erzählt,
die im Übrigen in seiner Band den
Bass spielt. (Ok, gerade dieses Lied
stammt nun nicht von Campbell
sondern von Jimmy Lee Robinson.
Aber gesungen und gespielt wird er
derartig intensiv, dass es einer Annektion des Liedes gleichkommt.)
Eleni Mandell - I Can See
The Future
Kammerpop mit jazzigen Anklängen für Spätsommerabende singt
Eleni Mandell auf ihrem aktuellen
Album „I Can See The Future“. Wer
von ihr rockige Ausflüge wie auf
dem Vorgänger „Artificial Fire“ erwartet, dürfte enttäuscht sein. Aber
die Songwriterin hat sich ja bislang
jedes Mal neu erfunden.
Oh ja, es ist Sommer, manchmal
sogar „Magic Summertime“, wie
die Sängerin verführerisch intoniert. „I Can See The Future“ hat
musikalisch überhaupt nichts mit
der Zukunft zu tun, sondern mit
den magischen Popmelodien der
60er Jahre, mit dem Soulpop einer
Dusty Springfield vor dem Ausflug
nach Memphis, mit den zauberhaften Songs von Nancy Sinatra
mit Lee Hazelwood und anderen
Kostbarkeiten der Vergangenheit.
Wenn es die Lieder brauchen, gibt
es den Himmel voller Geigen. Nur
manchmal ist ein Saxophon zu hören. Harmonium und diverse andere Instrumente untermalen die
meist träumerische bis melancholische Stimmung der Lieder. Und
die sind schon eher mit dem Thema Zukunft zu fassen. Nicht mit
der Zukunft der Welt. Sondern eher
mit der Zukunft der Sängerin, die
noch immer auf der Suche nach der
ganz großen Liebe ist, mit der Zukunft des ehemaligen Partners, mit
der Zukunft der kleinen Kinder.
Das ist Musik für späte Abende,
nichts für den Morgencafe, auch
nichts für die After Work Party. „I
© wasser-prawda
Platten
Can See The Future“ kann der DJ
einbauen nachts zwischen Roy Orbison und Lee Hazelwood. Oder
vielleicht auch als Entspannung
nach dem Seelenstriptease-Pop der
frühen Tindersticks. Damit wird
man als Hörer sanft aufgefangen
und sieht statt in die dunklen Abgründe dann eben doch in eine
wenn auch noch verschleierte doch
lebenswerte Zukunft.
Raimund Nitzsche
nen. Dann kann er vielleicht auch
Blues spielen, den ich ernst nehmen
kann. „It‘s A Blues Thing“? - definitiv nicht. Das ist gequirlte und polierte Langeweile.
Nathan Nörgel
Gabriele Poso - Roots of
Soul
Fabian Anderhub - It‘s A
Blues Thing
Geboren in der Schweiz, aufgewachsen in Kanada und jetzt wohl doch
wieder in Europa gelandet: Fabian
Anderhub zählt zur jüngeren Generation der Bluesrockgitarristen. „It‘s
A Blues Thing“ nennt er stolz sein
aktuelles Album.
Achtung - ich muss mal wieder
ernsthaft nörgeln! Es reicht mir bei
einem Album nicht, dass da irgendwo der Begriff „Blues“ auftaucht.
Es reicht mir auch nicht, wenn darauf Songs im klassischen 12-TakteSchema dargeboten werden. Blues
ist nicht einfach eine Frage von
Namen, Technik und Komposition. Wer nicht bereit ist, sich mit all
seiner Persönlichkeit in den Blues
hinein zu knieen, sollte auf Plattenproduktionen verzichten.
Wenn Anderhub den Blues spielt,
dann ist das Kunsthandwerk auf
hohem technischen Niveau in einer
blitzsauberen Produktion. Er spielt
sich durch die Klassikerwelt von
John Lee Hooker und Howlin Wolf
bis hin in die kanadische Gegenwart. Und man fragt sich die ganze
Zeit: Wo ist hier die eigenen Note?
Wo hat der Typ den Blues? Nach
meinem Höreindruck nirgends. Das
ist aufgesetzte Mache, gekünstelte
Traurigkeit, vorgetäuschte Härte.
Den Blues hat auf dieser Scheibe
der famose Bluesharpspieler und
auch die als Gast eingeladene Layla
Zoe. Aber Anderhub? Er kann blitzsaubere Solos aus dem Handgelenk
schütteln. Er klingt als Sänger wie
Schwiegermutters Liebling. Und er
langweilt ansonsten.
Fazit: Anderhub sollte wirklich
noch paar Jahre Lebenserfahrung
sammeln und die Härten und
Schönheiten des Lebens kennenler-
Grooves zwischen Kuba und Afrika, eine Mixtur zwischen Jazzpop
und Latin - insgesamt ist „Roots of
Soul“ Kandidat für das Sommeralbum 2012. Der Italienische Multiinstrumentalist Gabriele Poso hat es
beim deutschen Label INFRACom!
veröffentlicht.
Hier tappt man ganz schnell in die
Klischeefalle: So leicht, dass es sogar in Milch schwimmt, lautete vor
Jahren der Werbeslogan für einen
Schokoriegel. Und bei „Roots of
Soul“ ist man versucht, mit ähnlichen schrägen Bildern zu argumentieren. Denn an diesem Album ist
scheinbar alles federleicht und luftig
geraten, dass mancher gar versucht
sein könnte, hier von Easy Listening
zu sprechen. Doch wenn man sich
das Album genauer anhört, wenn
man der Versuchung, die Klänge
einfach an sich vorbei plätschern
und rieseln zu lassen, widersteht,
dann entdeckt man ein Jazzalbum,
wie es für den Sommer genau richtig ist. Klar - „Roots of Soul“ ist alles andere als aventgardistisch. Es ist
ganz klar geschichtlichen Kategorien wie dem Latin-Jazz verpflichtet
und verlässt die dort vorgegebenen
Konventionen nicht. Doch zeigt
sich die Meisterschaft eines Künstlers eben nicht auch gerade darin,
dass er innerhalb eines vorgegebenen Rahmens etwas schafft, was die
Blickweise verändert?
Es sind Lieder wie der Opener
„Sunshine“ mit der faszinierenden
Tanya Michelle, die einen auf das
sommerlich leichte Musikvergnügen einstimmen. Doch das Album
ist eben nicht nur die tausendste Wiederholung der Latin-JazzKlischees der frühen 70er sondern
zeigt auf, wie der ganze melodische
und rhythmische Kosmos ohne die
Verwurzelung in Afrika undenkbar
wäre. Und auch, wie stark diese Musik heute ein Genre wie den NeoSoul noch immer beeinflusst.
Wer sich auf solche Gedankenreisen
nicht begeben will, hat mit „Roots
of Soul“ natürlich auch eine prima
Musik für seine Sommerparty an
schwülen Abenden dabei.
Raimund Nitzsche
ersten Hinhören zuckersüss ist, deren Abgründe aber schon hinter
der nächsten Ecke lauern können.
Selbst wenn sie singt „Here Comes
The Light“, dann ist das nicht die
helle strahlende Sonne eines Urlaubskatalogs, sondern eher das verräucherte Licht an der Kneipendecke in einem Film Noir.
Keiner traut sich heute mehr, Gemma Ray mit Amy Winehouse oder
gar Norah Jones zu vergleichen. Das
ist schon mal der erste Schritt. Der
nächste muss aber sein, dass aus ihr
endlich ein Star wird. Denn als ewiger Geheimtipp ist diese Frau viel
zu gut. Das musste ich jetzt mal
loswerden. Und nun: Ab und Album hören, eigene Meinung bilden
Gemma Ray - Island Fire
und danach die Scheibe neben die
Düsterer Pop mit hohem SuchtpoLieblingsplatte von Nancy Sinatra
tential, schwärmerische Dramen
einsortieren.
und eine der wenigen echten PopNathan Nörgel
Diven der Gegenwart: Zum Glück
ist Gemma Ray ihrem Stil auch mit
dem aktuellen Album „Island Fire“
treu geblieben. Nur noch besser ist
sie geworden.
Als Gemma Ray kürzlich im Vorprogramm von Marianne Faithful in
Deutschland unterwegs war, da soll
sie die altgewordene Sängerin glatt
an die Wand gespielt haben. Meint
jedenfalls der Kritiker des „Spiegel“.
Das verwundert nicht, wenn man
ihr im Frühjahr 2012 erschienenes
Album „Island Fire“ hört: Während Guy Davis - The Adventures
die großen Zeiten der Faithful als of Fishy Waters: In Bed With
Popsängerin irgendwann im Dro- The Blues
genrausch kaputtgingen (und ihre Guy Davis ist beides, Bluesman und
Fortsetzung nur in zerbrochenen Schauspieler. Als Doppel-CD hat er
wenn auch teilweise großartigen jetzt sein Ein-Personen-Stück über
Rockscheiben fanden), ist Gemma den wandernden Bluesmusiker FisRay irgendwie eine Reinkarnati- hy Waters veröffentlicht, mit dem er
on der Popsängerinnen der frühen seit den 90er Jahren immer wieder
60er Jahre: Scheinbar unschuldig auf der Bühne stand.
(wie die Stimme suggeriert und die Die Aufforderung zum Anfang sollStreicher süß behaupten) und doch te man ernst nehmen: Füße hoch
gleichzeitig verrucht und verführe- und zuhören. Wenn man noch
risch kann diese Frau einen von der dazu einen brennenden Kamin hat,
ersten Note an völlig gefangenneh- dann umso besser. Und was dann
men. Die Songs kommen daher wie kommt, kann man nur als eine der
die Dramen der Girlgroups, die Me- besten Lehrstunden über die Gelodien sind eingängig und entfalten schichte des Blues bezeichnen, die
Bilder in Cinemascope im Kopf. je auf Platte gepresst wurden. Denn
Ja, ich kann verstehen, wenn einer mit der Geschichte des Hobos Fishy
der Rezensenten meint, manchmal Waters erzählt Sänger, Songschreiklänge sie wie die jüngere Schwester ber, Gitarrist und Schauspieler nicht
von Calexico. Schuld daran sind die nur einfach eine Geschichte. Im
zuweilen einfallenden Mariachiblä- Leben des Hobos entfaltet sich die
ser und die Gitarren, die wie eine ganze Welt des Blues am Anfang des
Kreuzung aus „Desperado“ und 20. Jahrhunderts ebenso wie die GeDick Dale klingen. Aber mit glei- schichte des Rassismus in den Südchem Recht könnte man sie als eine staaten. Ob Fishy Waters nun aus
Musikerin bezeichnen, die Taranti- seinem Leben und über seine Fano und Rodriguez in Klangwelten milie erzählt oder die skurilen Gestalten zum Leben erweckt, denen
packt.
Gemma hat mittlerweile ihre ganz er auf seiner Reise durch den Süden
eigene Popwelt erschaffen, eine begegnet: Das ist beste UnterhalWelt, in die man sich flüchten kann, tung kombiniert mit feiner Blueswenn der Alltag mal wieder zu stres- musik voller Humor (wie in der
sig ist. Eine Welt aber, die nur beim Geschichte über den einbeinigen
20
© wasser-prawda
Platten
Grabräuber) oder düster (wie in der
Schilderung eines Lynchmordes).
Was Fishy Waters erlebt und erzählt, das erweckt Davis erzählend
und singend so zum Leben, dass
man die Bilder förmlich vor Augen
sieht. Und ob er nun eigene Lieder singt oder Klassiker von Robert
Johnson, Blind Blake oder anderen
- sie erklingen in einer Eindringlichkeit und Eleganz, die weniger nach
Lagerfeuer oder Juke Joint sondern
eher nach Theater oder Nachtclub
klingen. Aber das geht völlig in
Ordnung. Denn so werden diese
Lieder Teil der erzählten Geschichte
und stehen nicht als Fremdkörper
daneben. Auch wenn man des Englischen nicht vollkommen mächtig
ist, kann man dem Doppelalbum
doch gut lauschen und sich fesseln
lassen. Spätestens beim dritten Hören hat man dann auch die Feinheiten der Sprache des Stücks kapiert.
Schade nur, dass „The Adventures
of Fishy Waters“ in Deutschland
nur als sehr teurer Direktimport erhältlich ist. Selbst der Download bei
amazon ist mit knapp 20 Euro nicht
gerade preiswert.
Raimund Nitzsche
wo zwischen Jazz und Soul a la Amy
Winehouse, kann aber durchaus
auch rockig zur Sache gehen.
Die sieben Songs der EP sind in
Toronto (die ersten vier) und New
Orleans eingespielt worden. In
Toronto wurden die Sugar Devils
(Drew Austin - Drums, Josh Piche
- Gitarre) verstärkt von dem JazzTrompeter Brownman Ali, Bassist
Jesse Deitschi und Rob Christian
an Keyboards und Saxophon. Die
Mixtur der vier Tracks ist entsprechend fett: Da ist der Pop-Reggae
„Without You“, „Criminal“ könnte
man eher als Jazz mit einer gehörigen Dosis Soul klassifizieren. Und
„Before You Go“ (eindeutig der Hit
der ganzen EP!) hat einen Groove
irgendwo zwischen New Orleans
und Latinjazz. Während hier Torres wie eine verwundete Souldiva
schmachtet, hebt die Jazztrompete
von Bowmann die Nummer gleichzeitig aus dem Popkontext heraus
in künstlerische Höhen. Und „King
of the Block“ ist einfach ein R&BSong im Stile der 60er Jahre.
Teil 2 der EP geht den eingeschlagenen musikalischen Richtungen
mit anderer Besetzung weiter nach.
„Sticky Fingers“ (der zweite Höhepunkt der CD) ist wundervoll dreckiger Blues mit Hammond und
röhrendem Saxophon. „Sugar Devil“ (die Erkennungsmelodie der
Band) ist ebenso bluesig, sie rockt
und hat gehörigen Dreck zwischen
den Noten. Doch zum Mix kommt
dann noch etwas von den Sounds
eines Stevie Wonder in den frühen
70ern hinzu. „I‘ll Be Good To You“
mag zwar wie normaler Rhythm &
Blues klingen, ist aber eigentlich
Irene Torres and The Sugar
eine Neuinterpretation von Charlie
Devils - s.t.
Eigentlich sind Irene Torres und Parkers „Confirmation“. Zuviel der
ihre Sugar Devils ein Trio., wenn Anspielungen? Zuviel Bezugspunkman den Fotos glauben will. Doch te? In diesen Falle nicht. Denn das
auf ihrer aktuellen (zweiten) EP macht die Faszination der Scheibe
werden sie von einer Menge Gäste aus: Vielseitig, sexy, intelligent und
unterstützt und servieren einen Mix mitreißend. Und niemals langweieigener Songs zwischen Jazz, Swing, lig. Eine gute Visitenkarte! Und wo
bleibt das Album?
Funk, Rootsrock und Reggae.
Nathan Nörgel
Mancherorts sind Visitenkarten so
etwas wie eine Kunstform: Wie stellt
man sich am Besten seinem Gegenüber vor? Wie kann man ihn auf
knappem Raum klar machen, dass
der Kontakt mit einem wichtig und
lohnend ist? Wenn man die EP als
musikalische Visitenkarte begreifen
will, dann haben Irene Torres And
The Sugar Devils alles richtig gemacht. Mit nur sieben Liedern machen die aus Peru stammende Sängerin und ihre Begleiter klar, dass
hier eine Band entstanden ist, wie Jerry Douglas - Traveler
man sie zur Zeit nur selten zu hören Eine musikalische Wundertüte
bekommt. Verantwortlich ist dafür ist das neue Album „Traveler“ des
natürlich zuerst die Sängerin: Torres Dobro-Spielers Jerry Douglas. Muüberzeugt mit einer Stimme irgend- sikalisch geht es vom Bluegrass über
Folk bis hin zum Blues und zu rockigen Klängen. Und zu den Musikern
und Sängern gehören so verschiedene Künstler wie Eric Clapton, Paul
Simon, Doctor John, Alison Kraus
und Mumford & Sons.
Nein, es ist zum Glück nicht Montag. Aber Lead Bellys „On A Monday“ ist nichtsdestotrotz ein großartiger Beginn für ein Album. Und es
ist ein passender Start für eine musikalische Rundreise, die Jerry Douglas und eine große Zahl von Gästen
in Studios in New Orleans, Nasville, New York, Montreal und dem
britsche Banbury führte. Wenn diese Reise - eine höchst unterhaltsame
Reise auch durch die verschiedensten Musikstile zwischen Folk, Bluegrass, Blues und Rock - ein Thema
hat, dann könnte man es damit umschreiben, die Möglichkeiten von
Dobro, Lap Steel und Slide-Gitarren bis an die Grenzen auszuloten.
Denn nicht umsonst wird Douglas
vor allem von Musikerkollegen als
einer der weltbesten Dobro-Spieler
bezeichnet und kann mit seinen vielen Grammies und ähnlichen Preisen wahrscheinlich mittlerweile ein
ganzes Haus füllen.
Dass dies niemals langweilig wird,
liegt nicht allein an den Gästen
der Tour, auf deren Alben er in
den letzten Jahren auch schon als
Gast auftrat. So singt Eric Clapton
(nein, seine Gitarre hat er nicht dabei!) eine wunderschön entspannte
Fassung von „Something You Got“
und die Bläser schaffen ein ähnlich
entspanntes Bluesfeeling wie auf
seiner letzten Studioplatte. Und
Douglas lässt ein beseeltes Solo auf
der Lap Steel vom Stapel, das aus
dem Ganzen eine äußerst beeindruckende Interpretation macht. Wenn
ausgerechnet Paul Simon dann
„The Boxer“ singt, gerät das auch
deshalb nicht zum Selbstzitat, weil
eben neben ihm auch noch Mumford & Sons beteiligt sind. Auch Dr.
John, Keb‘ Mo‘ oder Alison Krauss
und seine Bandkollegen von Union
Station tun das, wofür sie bekannt
sind. Und das ist auch gut so. Überraschend und prägend für das ganze
Album sind dann nämlich doch immer wieder die klanglichen und virtuosen Akzente, die Douglas selbst
in die Songs einbringt und die seine
Eigenkompositionen zu Hightligts
der aktuellen Folk- und Bluegrassmusik machen. (Neo Membran/
Sony)
Raimund Nitzsche
damit auch eine musikalische Autobiografie mit der Intimität einer
spontanen Wohnzimmersession.
Klar, John Primer wird man immer
zuerst mit Willie Dixon und Muddy
Waters in Verbindung bringen. Erst
bei Dixons All-Stars und später in
der letzten Band von Waters war er
der solide Gitarrist im Hintergrund.
Doch heute dürfte er einer der wesentlichsten Bewahrer des klassischen Chicago-Blues der 50er und
des Mississippi-Blues der 40er sein.
„I really don‘t try to change the
blues I just try to keep it original“,
schreibt er in den Liner Notes zu
„Blues on Solid Ground“. Und original meint: Hier ist ein musikalischer Rahmen, ein Klangideal, das
seit Jahrzehnten eine vertraute und
geliebte Heimat ist. Und in dieser
Heimat erzählt Primer dann seine
Geschichten. Er erzählt von der Jugend damals in der Hütte, wo kaum
jemand genug Platz hatte, von der
Armut und der Sehnsucht danach,
rauszukommen. Und natürlich erzählt er von der Liebe ebenso wie
vom Umherziehen, wie es die Bluessänger schon immer getan haben.
Aber das sind Primers heutige Geschichten, das ist ein wenig so wie
die abendlichen Erzählungen am
Kamin aus der Jugend. Und genau
so klingt es auch: Hier ist der Blues
spontan und nicht auf Elektrizität
oder gar technische Rafinessen abgestellt. Gitarre, Klavier und Mundharmonika - viel mehr brauchen
die Lieder nicht. Mich persönlich
erinnert das immer wieder an die
ersten Aufnahmen, die Muddy Waters in Chicago gemacht hat, bevor
ihn Chess wirklich mit kompletter
Band im Studio losrocken ließ. Und
genauso spannend und faszinierend
sind auch Primers Songs heute.
Veröffentlicht hat er „Blues on Solid Ground“ auf dem eigenen Label
„Blues House Productions“. Das
gab ihm die Möglichkeit, das Album eben so intim zu gestalten wie
er es haben wollte, so ganz ohne
John Primer - Blues on Solid Glanz und Brimborium. Es sollte so
klingen, als wäre er in unserer KüGround
Eine musikalische Rückbesinnung che zum Singen. Und das ist eine
auf seine Kindheit in Mississippi ist Besonderheit, die man nicht genug
John Primers neues Album „Blues loben kann: Primers Geschichten
on Solid Ground“ geworden. Und kann man endlos lauschen.
21
© wasser-prawda
Platten
Raimund Nitzsche Einfluss ein guter Produzent auf die
künstlerische Arbeit haben kann.
Denn hatte Stone in letzter Zeit ihre
Freiheit verteidigt und selbst versucht, die Verantwortung zu tragen,
so ist jetzt wieder Steve Greenberg
an Bord, der schon das Debüt produziert hatte.
Ach so: Um die Parallelen zum
Debüt zu vervollständigen: Hatte sie als Sechzehnjährige „Fell In
Love With A Girl“ von den White
Stripes“ interpretiert, so findet sich
auch diesmal wieder ein Lied aus
Joss Stone - Soul Sessions
der aktuelleren Rockmusik, das zum
Vol. 2
Mit ihren letzten Alben hatte die Soul umfunktioniert wird. Diesmal
britische Soulsängerin Joss Stone erwischte es „The High Road“ von
ebensowenig überzeugen können Broken Bells. Erwischt ist bissel gewie mit ihren Beiträgen für die mein - nein: die Fassung ist zwar
Band SuperHeavy mit Mick Jagger ganz schön pathetisch, geht aber
und Co. Soul Sessions Vol. 2 knüpft schon in Ordnung.
Raimund Nitzsche
daher konsequent an ihr Debüt als
Teenager an: Stone interpretiert zumeist Soulsongs der 60er bis 80er.
Das letzte Lebenszeichen von Joss
Stone, dass mich in den letzten Monaten wirklich überzeugt hatte, war
die EP der Band Yes Sir Boss, die
sich auf ihrem eigenen Label unter Vertrag genommen hatte. Dass
ich jetzt tatsächlich mal wieder mit
einem zufriedenen Lächeln dasitze, und Joss Stone selber lausche,
damit hatte ich schon nicht mehr
gerechnet. Aber die zweite Version
Julian Sas - Bound To Roll
der „Soul Sessions“ ist wirklich ein
Der niederländische Bluesrockgitarernsthafter Comeback-Versuch, ein
rist Julian Sas legt über zwei Jahre
Versuch, an die eigene Geschichte
nach seinem letzten Lebenszeichen
und Glaubwürdigkeit anzuknüpfen.
mit „Bound To Roll“ sein neues StuNach den ersten beiden Liedern „I
dioalbum vor. Musikalisch ist das
Got The ...“ und „Give More Poeine Hommage an alles was rockig
wer To The People“ war ich sogar
ist im Blues zwischen Buddy Guy,
bereit, in völlige Begeisterung zu
Stevie Ray Vaughan, Rory Gallagverfallen: Klassischer sixties Soul
her, den Allman Brothers und AC/
mit einer Powerstimme und ohne
DC.
Streicherglasur.
Klar kommen genau diese Zutaten Wie viele Platten kann man noch
später auf dem Album zum Zuge. im klassischen Trio-Format einer
Aber dies dürfte Fans der 70er Jahre Bluesrockkapelle aufnehmen, ehe es
nicht stören. Denn einige der Songs ausgereizt ist? Julian Sas klammert
stammen eben genau aus dieser sich auf „Bound To Roll“ glückZeit. Und trotz der Streicher steht licherweise nicht sklavisch an die
eben immer die wunderbare Stim- spartanische Form sondern lässt sich
me von Stone im Zentrum. Selbst ab und zu von einem Hammond„Teardrops“ von Womack & Wo- Organisten unterstützen. Und das
mack klingt hier eigen und frisch. tut Songs wie „The Blues Won‘t
Ein Kollege meinte: Die zweiten Stay“ hörbar gut. Ansonsten tut
Soul Sessions seien das erste Album sich wenig an der Bluesrockfront:
seit ihrem Debüt, wo Joss Stone Die Riffs rocken mit Anklängen an
wirklich die ganze Zeit ganz auf sich AC/DC oder Status Quo. Die Balfokussiert ist. Und das kann man lade „Burning Bridges“ erinnert ein
ohne Einschränkungen unterschrei- wenig an Gary Moore zu seinen besben. Auch wenn sie ihre größten seren Zeiten. Und Höhepunkte der
Erfolge in den Hitparaden mit ih- Scheibe sind die Cover von Dylans
ren eigenen Songs etwa von „Mind „Highway 61“ und Rory Gallaghers
Body & Soul“ hatte - als Sängerin „Shadow Play“. Erwähnenswert
ist sie bei diesen Liedern hier end- auch noch „How Could I‘ve Been
lich wieder bei der Sache und nicht So Blind“, was untypisch für Sas
in irgendwelchen seltsamen Hip- ganz starker Southern Rock ist ohne
pieträumen gefangen. Das ist mal Angst vor Pathos.
wieder ein Beweis dafür, welchen
Nathan Nörgel
Larkin Poe - Thick As Thieves
Perfekter und zuckersüßer Country-Pop von zweien der drei Lovell
Schwestern findet sich auf ihrer
aktuellen EP „Thick As Thieves“.
Dazu gibt es dann noch eine DVD,
die Larkin Poe vor vierzig Leuten in
einer schwedischen Kneipe eingespielt haben.
Als 2011 bei uns in der Redaktion
die EP „Spring“ von Larkin Poe ankam, da freuten wir uns über die
träumerischen Songs mit ein wenig Rock-Appeal. Mit ihrem neuen Werk machen die Schwestern
genau da weiter: Leichfüßige Songs
zwischen Folk und Country singen
sie. Und nur manchmal rockt die
Gitarre los. Doch bei all der Süße
fehlt der Scheibe etwas: Nämlich
Songs, die sich im Ohr festsetzen.
Das plätschert so vor sich hin und
ist wieder verschwunden im Vergessen. Eigentlich ist von „Thick As
Thieves“ das jazzige „On The Fritz“
(aber wenn es um solche Stilmixturen geht, dann sage ich nur: Katzenjammer!) und „Russian Roulette“
wirklich erwähnenswert. Etwas wenig. Das ist schade. Denn eigentlich
hatte ich von Larkin Poe etwas mehr
erwartet.
Nathan Nörgel
Lil‘ Ed & The Blues Imperials
- Jump Start
Wenn bei Alligator eine Band heute
für das Labelmotto „Genuine Houserockin Music“ steht, dann sind
das sicherlich Lil‘ Ed & The Blues
Imperials. Das neue Album „Jump
Start bringt den gewohnten rockigen Slide-Gitarren-Blues der Truppe mit gehöriger Energie über die
Boxen.
Manchmal muss es einfach die rohe
Energie sein, die die Menschen auf
die Tanzfläche holt. Lil‘ Ed zollt
mit seinem Spiel ebenso Elmore
James, Hound Dog Taylor wie sei-
22
nem Lehrer J.B. Hutto Tribut. Und
das heißt: „Jump Start“ ist eines der
Alben, die man sich auch neben die
von George Thorogood und anderen Bluesrockern stellen könnte.
Der Blues hier ist heiß, hart, sexy
und extrem tanzbar. Auch wenn der
Gitarrist nicht unbedingt der größte
Songwriter sein mag - bei Songs wie
dem witzigen „Jump Right In“ vergisst man das schnell wieder.
Lil’ Ed Williams und sein Halbbruder James “Pookie” Young spielen
schon seit ihren Teenagerjahren in
den 70ern zusammen. Und daher
sind die Blues Imperials inzwischen
nicht nur eine der langlebigsten
sondern vor allem eine der am besten eingespieltesten Bluesbands in
Chicago. Und das ist auf „Jump
Start“ in wundervoller Weise zu hören. (Alligator/in-akustik)
Raimund Nitzsche
Little Feat - Rooster Rag
Zehn Jahre ist es her, dass von Little Feat ein Studioalbum erschien.
Und noch länger liegt die Zeit zurück, als die Band mit ihrem ersten
Sänger Lowell George die bis heute
gültigen Maßstäbe für einen funkigen Southern Rock aufstellte. Mit
„Rooster Rag“, einem neuen Sänger
und einem neuen Schlagzeuger versuchen sie jetzt, daran anzuknüpfen. Operation gelungen.
Wenn man Listen der besten LiveAlben der Rockgeschichte liest,
dann stößt man dort unvermeidlich auf „Waiting For Columbus“.
Und in Rockradios mit Sinn für
die Geschichte entgeht man Songs
wie „Willin‘“ oder „Dixie Chicken“
nicht. Das waren noch Zeiten in
den 70er Jahren! Songs zum Zuhören und Tanzen, Rockgrooves mit
Bluesfeeling und ohne Machogehabe. Und alles in einer noch heute stimmigen Mixtur. Little Feat
müssten eigentlich zum Lehrplan
für alle Studenten von Bluesrock
und Americana gehören. Und die
Sammlung von Alben mit Lowell
George gehören in jede gut sortierte
Plattensammlung.
Was danach passierte, ist eigentlich
weniger wichtig. Meiner Meinung
nach sind die danach erschienenen
Alben niemals wirklich vergleichbar gewesen. Live hatte Little Feat
© wasser-prawda
Platten
allerdings noch immer einen hervorragenden Ruf. Doch inzwischen
ist von der ursprünglichen Band nur
noch Keyboarder Billy Payne dabei.
Doch als angenehme Überraschung
kann man bei „Rooster Rag“ konstatieren: Der Geist dieser Musik ist
noch lebendig. Was Little Feat 2012
machen, ist Americana im besten
Sinne: Rockmusik mit Einflüssen
aus Blues, Soul, Country. Sie spielen Songs wie den „Candy Man“
von Mississippi John Hurt ebenso
wie Willie Dixons „Mellow Down
Easy“. Und für die eigenen Songs
holte sich Payne als SongwritingPartner Robert Hunter (ehemals
Texter etwa für Greatful Dead“
hinzu, was eine sehr überzeugende Idee war. Der Titelsong strahlt
dank der Fiddle von Larry Campbell jede Menge Country Feeling
aus. Und das gospelartige „Church
Falling Down“ ist so nahe an einem
perfekten Song wie nur denkbar.
Klar ist nicht alles überzeugend.
Aber „Rooster Rag“ ist insgesamt
ein wundervoll groovendes Rockalbum. Und wahrscheinlich ist seit
dem Tode von Levon Helm kaum
noch jemand in der Lage, eine solch
überzeugende und uramerikansiche
Rockmusik zu machen.
Nathan Nörgel
Songs überrascht. Von seiner Aktualität her passt die Scheibe gut zu
Alben wie „Blues For The Modern
Daze“ von Walter Trout.
Die Hilflosigkeit, die man angesichts all der Krisenmeldungen verspüren kann, hat Laddie in Songs
gepackt: Nein, die Freiheit, an die
wir alle glauben, wird für die meisten Menschen nicht kommen. Es ist
nicht die Freiheit, es sind nicht Ideale wie „Love & Peace“, die die Welt
am Laufen halten. Es ist das Geld.
Alles andere ist Illusion, klagt er in
„Paper In Your Pocket“. Und letztlich fühlt man sich so hilflos, dass
man sich danach sehnt, dass Mutter
einen in den Arm nimmt und alles
in Ordnung bringt. („Time Is Running Away“) Die Träume fliegen
draußen vor dem Fenster vorbei,
doch resigniert weiß man, dass man
niemals den Mut hat, rauszugehen.
Und schon gar nicht, den Träumen
nachzufliegen. Alleine schon gar
nicht. Aber ist da jemand bereit, einen zu begleiten? („Would You?“)
Das sind so gar nicht die Themen,
die ich von einem jugendlichen
Bluesrocker heutzutage erwarten
würde. Das sind Songs, die in ihrer Direktheit und Offenheit einen
daran erinnern, was man früher
an Rockmusik so mochte: Dass sie
ein Protest ist gegen alle Enge, gegen alle Hohlheit und Verlogenheit.
Und da passt dann auch, dass Laddie als einzigen Coversong für sein
Album den „Inner City Blues“ von
Marvin Gaye ausgewählt hat, das
Lied eines ebenso fragenden und
desillusionierten Kollegen.
Ach so: Ansonsten ist „Burning
Bridges“ musikalische Standardware: Ein knochentrockenes Rocktrio mit heftigem Bums von der
Rhythmusgruppe (Lee Clifford Mitch Laddie - Burning
dr, Rhian Wilkinson - bg) und ein
Bridges
Manche Fans meinen im Internet, technisch über jeden Zweifel erhagegen Mitch Laddie würde Joe Bo- bener Gitarrist, der zwischen Hennamassa alt aussehen. Sein zweites drix, Stevie Ray Vaughan und Rory
Album „Burning Bridges“ hat der Gallagher seine Bluesrockahnen
21jährige Gitarrist und Songwriter studiert hat. Leider folgt er der Tengleich selbst produziert. Die Fans denz, den Blues immer mehr nur
harter Rockgitarren mit bluesigen noch als Alibi zu führen. Das hier
Anklängen werden das Album lie- ist kein Bluesrock mehr, sondern
ben. Und wer sich ausführlich mit Hardrock.
Nathan Nörgel
Laddies Songs beschäftigt, kann einen durchaus intelligenten und enRalf Illenberger - Red Rock
gagierten Songwriter entdecken.
Nein, ich werde nicht schon wie- Journeys
der meine Litanei anstimmen über Einer der „alten Herren“ der deutall die jungen oder junggebliebe- schen Akustik-Szene; Ralf Illenbernen Gitarrenhelden, die technische ger lässt uns teilnehmen an seinen
Fertigkeiten präsentieren aber den Red Rock Journeys. Inspiriert wurBlues nicht mal erkennen würden, de dies Album von der Landschaft
wenn er sie in den Hintern treten in seiner Wahlheimat Sedona/AZ,
würde. Denn auch wenn „Burning USA, aufgenommen im niederBridges“ vom Stil her genau in diese sächsischen Stockfisch Studio in
Kategorie gehören könnte, war ich Northeim. 51 Minuten lang kann
doch beim zweiten Hören von den man hier teilnehmen an einer Reise
durch die virtuose Spielwelt dieses
Ausnahmegitarristen.
tauchte Estrin auch im Bandnamen
auf. „One Wrong Turn“ ist das zweite Album unter dem neuen Namen.
Und wer auf rockenden partytauglichen und gleichzeitig intelligenten
Blues steht, kommt im Sommer
2012 an dem Album nicht vorbei.
Also eins kann der Ralf Illenberger
ganz sicher und das außergewöhnlich gut: Gitarre spielen! Einzigartig, mit welcher Klarheit dieser
Mann selbst Flageoletts erklingen
lässt. Kaum glaublich sein Fingerspiel - kein Rutschen, kein Reiben,
alles rein. Aber genau darin liegt
auch das Risiko. Mitunter wäre
ein „schmutziges“ Spiel weg vom
perfekten technischen know-how,
deutlich emotionaler, verbindender.
So bleibt bisweilen eine gewisse Distanz zum Mann „auf der Bühne“
und seinem Publikum.
Und immer wieder die Wurzeln aus
dem anglo-amerikanischen Folk;
dieses klassische Finger-Picking a
la Rag oder Shuffle wie bei Walk In
The Park oder die Anleihen aus der
europäischen Gitarren-Geschichte
wie bei The Veil. Der Ton des Ralf
Illenberger schwebt absolut gekonnt
aus den Boxen. Kaum zu glauben,
dass die Aufnahmetechnik das derartig gut eingefangen und ebenfalls
reproduzierbar gemacht hat – allerhöchstes summa cum laude!
Bei einigen Stücken lässt sich der
Meister von Sandro Gulino am EBass begleiten; ganz zart und sanft,
gerade so, dass das Volumen nicht
überfrachtet wird. In drei Titeln;
Light Wave, Joy und The Kiss, wurde ein Echo als musikalischer Spiegel eingesetzt. Das macht die Stücke
faszinierend wie einen mit Sternen
übersäten Nachthimmel.
Die Musik, die Ralf Illenberger dem
Fan mit seinen 11 Titeln zu Gehör
bringt, ist kein Blues oder Rock,
kein Jazz oder Folk. Illenberger hat
eine ganz persönliche Musik geschaffen, die zu vorderst aus seiner
eindrucksvollen Virtuosität schöpft.
Seine Musik ist einfach zeitlos, getragen von seiner ganz besonderen Persönlichkeit. (Stockfisch/
in-akustik)
Lüder Kriete
Sozialsatire als Blues? So etwas ist
relativ selten. Und man muss schon
ein verdammt guter Songwriter
sein, damit das wirklich funktioniert. Aber Rick Estrin wird nicht
umsonst als einer der besten Songschreiber im zeitgenössischen Blues
gefeiert. Wie er in dem wundervoll
rockenden „Lucky You“ ausgehend
vom täglichen Existenzkampf des
Underdog das ganze gesellschaftliche System der Gegenwart kritisiert, das ist schon großartig. Man
wünscht sich ja immer wieder, dass
endlich mal das Geld nicht schon
vor dem Monat zu Ende geht. Und
gleichzeitig gibt es da Leute, die
Urlaub machen an Orten, die man
noch nicht mal aussprechen kann.
Da kann ein Mann doch einfach
nur den Blues bekommen! Von der
Güte gibt es auf „One Wrong Turn“
noch einige Songs mehr. Und man
braucht als Deutscher schon ein
paar mehr Hördurchgänge, um die
Songs wirklich in ihrer Vielschichtigkeit zu genießen. Ok, manche
Geschichten gehen auch sofort ins
Herz, die Beine und das Hirn wie
etwa die witzige Geschichte „I Met
Her At The Blues Cruise“, wo mir
das erste Mal im Blues selbst ausgepiepte Kraftausdrücke begegeneten. (Dass der Titelsong eigentlich
nicht wirklich von Estrin stammt,
sondern schon seit Jahrzehnten als
Three Cool Cats bekannt ist im
Rhythm & Blues, das kann man
übergehen. Der Text ist auf jeden
Fall neu und großartig.)
Wobei The Nightcats in ihrer aktuellen Besetzung schon ohne Sprachkenntnisse jede Menge Spaß machen. Das ist einfach eine derartig
gut eingespielte Band (naja, sie gibt
es ja letztlich schon seit den 70er
Rick Estrin And The Nightcats Jahren!), die typisch kalifornischen
Blues mit jeder Menge Swing im
- One Wrong Turn
Als Sänger und Harpspieler der Rhythmus servieren. Estrin als SänNightcats ist Rick Estrin schon Jahr- ger und Harpspieler hat mit dem
zehnte aktiv. Doch erst als Band- aus Norwegen stammenden Kid
gründer Little Charlie 2008 ausstieg, Andersen einen außergewöhnlichen
23
© wasser-prawda
Platten
Gitarristen hinter sich, mit dem er
sich bei den Solopartieen die Ideen
mit Leichtigkeit zuspielen kann. Ein
Beispiel kommt ganz zum Schluss
in dem knapp siebenminütigen
Instrumental „The Legend of Taco
Cobbler“: Eine Surfgitarre mit viel
Liebe zu Dick Dale, später wandelt
sich die Szenerie zu einem Mexicano-Western, um dann irgendwann
in einem verrauchten Kellerklub
anzukommen. Klar: Das ist kein
Blues. Aber das ist schon kinoreif
und schreit nach einem Einsatz bei
Tarantinos nächstem Film. Und natürlich im Programm des DJs des
Vertrauens.
„One Wrong Turn“ ist musikalisch
vielseitig, witzig, intelligent und
verdammt gut gespielt. Wer das Teil
nicht kauft, ist kein Bluesfan!
Nathan Nörgel
Royal Southern Brotherhood - Royal Southern Brotherhood
Der Bandname hat schon seine Berechtigung: Royal Southern Brotherhood stellen so ziemlich den
Hochadel von Blues und Bluesrock
zur Zeit dar. Mit Cyril Neville und
Devon Allman sind Vertreter der
zwei wohl einflussreichsten Musikerfamilien der Südstaaten dabei.
Mit dem Gitarristen/Songwriter
Mike Zito ist auch einer der wichtigen jüngeren Songschreiber dabei. Und die Rhythmusgruppe
mit Charlie Wooton am Bass und
Schlagzeuger Yonrico Scott (Derek
Trucks Band) macht die Truppe
schon auf dem Papier zu einem absoluten Muss.
Wer sich auf das Hypen von Supergruppen nicht einlassen mag,
der hat meine volle Sympathie. Zu
leicht wurde in den letzten Jahren
jeder Kollaboration dieses Etikett
verpasst. Die entstandenen Platten
waren aber oft dann doch nicht
so, dass sie es verdient hätten. Das
von Thomas Ruf selbst produzierte
Debüt der Royal Southern Brotherhood allerdings macht hier eine
Ausnahme. Denn statt einer Ansammlung von Egozentrikern ist
hier wirklich eine Band enstanden,
bei der es auf das musikalische Miteinander ankommt.
Das geht schon beim Opener „New
Horizons“ los: Sofort fühlt man sich
in die feuchte Schwüle der Sümpfe
Louisianas versetzt. Und diese Gegend verlässt man während der gesamten Laufzeit des Albums nicht
mehr - wenn auch ab und zu kleine Ausflüge etwa in den Latinrock
gemacht werden („Fired Up“ sollte
sich Santana mal ausführlich anhören, bevor er wieder mit einer uninspirierten Veröffentlichung die
Menschheit langweilt!). Alles ist
ganz nah am Blues, alles hat diesen relaxten Groove. Und niemals
versucht sich einer durch ellenlage
Solos in den Vordergrund zu spielen. Statt dessen gibt es immer wieder Attacken, die einen dran erinnern, wie Southern Rock etwa zur
Frühzeit der Allman Brothers mal
war. Manchen Rezensenten trieb
es schon die Freudentränen in die
Augen. Bei mir - weniger nah am
Wasser gebaut - ist es die pure Freude darüber, dass es heutzutage endlich mal wieder solch großartigen
Blues- und Southernrock jenseits
der eingespielten Klischees gibt.
Ruf hat sich hier eine wirklich große Band gesichert. Hoffentlich gibt
es da in den nächsten Jahren noch
mehr Alben der Brotherhood. (Ruf/
in-akustik)
Raimund Nitzsche
Rezensenten fast vorprogrammiert.
Aber eigentlich ist sie unnötig, auch
wenn sich das Souljazz Orchestra
durchaus politisch engagiert und
die Stücke nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen oder traditionelle Volksgeschichten sondern
auch soziale und politische Themen
beinhalten. Die Verständlichkeit
derselben wird allerdings durch die
fast babylonische Sprachenvielfalt
erschwert: Englisch, Spanisch, Portugiesisch und das aus dem Senegal
stammende Wolof werden durch
Einschübe in Französisch und Arabisch ergänzt. Wer da mithalten
kann, ist zu beglückwünschen.
„Solidarity“ kann man trotz allem
gut auch als eines der groovendsten
Alben des Jahres hören und tanzend
würdigen. Die Mischung aus Soul,
Jazz, Afrobeats und ähnlicher Zutaten, mit denen das Orchester weltweit bekannt wurde, wird jetzt noch
erweitert um Reggae und brasilianische Rhythmen. Verantwortlich dafür sind Gäste wie der usrprünglich
aus Sao Luis im Nordosten Brasiliens stammende Gitarrist Tommel
Teixeira Ribeiro oder der Singer/
Songwriter Slim Moore, der familiäre Wurzeln auch in Jamaica hat.
Höhepunkte sind das vorab als
Single erhältliche „Ya Basta“, der
wundervolle Reggae „Kingpin“ und
„Tanbou Lou“. Hier ist ein vom
Ansatz und den Instrumenten her
„retro“ zu nennender Groove entstanden, der gleichzeitig in jeder Sekunde heutig ist. Ob man diese Musik Afro-Jazz oder anders nennen
will - „Solidarity“ ist ein großartiges
Album. Schade nur, dass es erst im
Herbst erscheint. Denn eigentlich
wäre das die ideale Sommerplatte
2012.
Raimund Nitzsche
einer Strandparty verglichen haben.
Weniger irreführend sind Label wie
Funkrock oder auch Jamrock für
das klassische Trio.
Es sind Lieder wie „Sex in the Morning“, die mich schon vor mehr als
zwei Jahren packten und die noch
heute das Besondere ausmachen:
Soul of the River sind eben keine
normale Rockband sondern sind
ein Trio von Musikern, die sich bei
Songwriter-Sessions am Strand gefunden haben und daraus ihre Ideen
ziehen. Da wechseln sich punkige
Reggaeklänge mit funkigen Bluesrock-Ausflügen und akustischen
Balladen irgendwo zwischen Jack
Johnson und G Love ab.
Doch wo Johnson für mich immer
klingt, als sei er kurz davor nach zuviel Hasch ins Koma zu fallen und
seine Songs manchmal so einschläfernd sind wie die Kompositionen
von Enya, da ist hier immer noch
die Energie von jungen Rockern
zu spüren, die sich nicht mit den
Schwierigkeiten des Daseins abfinden wollen.
Persönliche Höhepunkte neben „Sex
In The Morning“ und dem Opener
„Right Right“ sind für mich daher
auch das treibende „Rider“ und das
mit seinem peitschenden Drumgroove dahinjagende „The Well“.
Wer hier statt Jack Johnson eher an
The Clash oder meinethalben auch
an The Police denkt, hat eher ka-
Soul Jazz Orchestra - Solidarity
Seit mittlerweile zehn Jahren gehört
das kanadische Souljazz Orchestra
weltweit zu den bekanntesten Vertretern des Afro Jazz. Ihr mit zahlreichen Gästen eingespieltes Album
„Solidarity“, das im September
bei Strut Records erscheint, erweitert das Spektrum um Sounds und
Rhythmen aus Brasilien und der
Karibik.
„Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch
Lied!“ protestieren Zuhörer in Auerbachs Keller in Goethes Faust.
Und immer wieder gab es seither
die Auseinandersetzungen darum,
ob und wie Kunst sich politisch
engagieren sollte. Wenn ein Album
sich nicht nur plakativ „Solidarity“
nennt sondern auch mit der Covergestaltung an die Plakatkunst sozialistischer Länder anknüpft, dann
ist eine derartige Frage durch den
Blues und Soul im Crossroad Cafe auf radio 98eins
Soul of the River - Soul of
the River
Soul of the River haben mehr als
fünf Jahre gebraucht, ehe ihr Debüt fertig wurde. Wenn man die
Zeit seit der Bandgründung nimmt,
dann hat es bis zum ersten regulären
Album sogar zehn Jahre gedauert.
Denn schon 2002 bildete sich im
kalifornischen Riverside die Band,
deren Klang einige mit einem zum
Surfer mutierten Eddie Vedder bei
24
Alle vierzehn Tage dienstags gibt
es von 20 bis 22 Uhr Blues, Soul
und ähnliche Musik im „Crossroad Cafe“ auf radio 98eins. Hörer in Greifswald und Umgebung
können die Sendung auf UKW
98,1 MHz empfangen. Für alle
anderen gibt es den Livestream
auf www.98eins.de.
Hier
sind
die
Sendungstermine:
14. August
28. August
11. September
25. September
9. Oktober
© wasser-prawda
nächsten
Platten
piert, warum Soul of the River eine überlangen anderen Lieder rausgekürzt hätte....
bemerkenswerte Rockband sind.
Raimund Nitzsche
PS.: Dass das Debüt so lange hat auf
sich warten lassen, liegt nicht nur
daran, dass die Musiker zwischenzeitlich komplett pleite (und einer
von ihnen daher auch obdachlos)
waren. Bassist Steve Hanson hatte
zwischenzeitlich auch wegen Fahrens unter Drogen oder Alkohol
eine mehrmonatige Haftstrafe abzusitzen. Gut, dass man jetzt über
solchen Blödsinn hinaus ist und
statt dessen sich wieder mehr um
die Musik kümmert.
Raimund Nitzsche Suzie Vinnick - Live At Blues-
ne erste Band. Und in den letzten
Jahren hat er mit einer Menge großartiger Musiker zusammengespielt,
darunter mit Levon Helm, Garth
Hudson und Lucky Peterson. „Late
In The Lonely Night“ ist ein stilvolles und unterhaltsames Album voller Gitarrenblues.
Maahn bringt mit Lieder vom Rand
der Galaxis_solo Live ein Album
mit deutschem Liedgut raus, bei
dem nichts dafür spricht es nicht zu
haben. Seinen treuen Fans braucht
wohl niemand mehr zu sagen, wie
gut er ist. Allen anderen sagen wir
es hier: dieser Wolf Maahn ist gut,
Leute.
ville
Studebaker John - Old School
Rockin
Der Name ist Programm: Studebaker John spielt auf seinem neuen Album Bluesrock und Rock ganz im
Stile der späten 60er Jahre.
Ach wenn doch das ganze Album so
wäre wie der Opener „Rockin‘ The
Boogie“: Studebaker John rotzt den
Boogie so mitreißend runter, dass
Leute wie George Thorogood und
ähnliche Jünger von Hound Dog
Taylor und J.B. Hutto neidisch werden könnten. Doch „Old School
Rockin“ hat ein Problem: Es ist zu
lang und hat zu wenig Abwechslung. Die fast unter Live-Bedingungen eingespielte Scheibe füllt die
vorhandene CD-Länge komplett
aus. Doch sind die meisten Lieder
nicht wirklich originell. Und man
erwischt sich immer mal wieder
beim Gedanken, ob das Solo nicht
vor zehn Minuten schon mal gehört
wurde.
Am besten gefallen mir die Songs
wie „Dark Night“, wo die elektrisch
verstärkte Bluesharp zum Einsatz
kommt. Viel zu selten weicht Studebaker John auf der Gitarre von
dem Einheitsbrei der Riffs ab und
zeigt, dass er durchaus auch mal den
Hendrix raushängen lassen könnte. Das passiert eigentlich nur in „I
Stand Alone“. Und auch der zaghafte Ausflug in Latinblues a la Fleetwood Mac in Santanas Lesart in
„Mesmerized“ ist eine angenehme
Ausnahme. Ansonsten: Zu wenig
Abwechslung, zu wenig Feinfühligkeit - und leider fast gar kein Blues
mehr. Was hätte das für ein Album
werden können, wenn man all diese
Mit ihrem 2011 erschienenen Album „Me ‚n‘ Mabel“ wurde die
kanadische Sängerin/Gitarristin Suzie Vinnick über ihre Heimat hinaus bekannt als eine hervorragende
akustische Blueskünstlerin. Eingeladen wurde sie daraufhin vom Satelittenradio Sirius XM, eine Session
für die Sendung B.B. King‘s Bluesville einzuspielen. Diese erscheint
jetzt als Nachfolgealbum „Live At
Bluesville“.
Eine Frau, eine Gitarre. Mehr
braucht es nicht, wenn eine Muskerin wie Suzie Vinnick am Mikrophon sitzt. Eine zarte und nur
manchmal kratzbürstige Stimme
thront über einer kräftig und fast rockend gespielten Gitarre. Die Songs
meist Versionen von anderen, von
Willie Dixon, Steve Winwood oder
aus dem Gospel-Katalog. Aber auch
die eigenen Stücke wie „Looking
for a Kiss“ oder das mit Rick Fines
geschriebene „How‘d You Know I
Missed You“ passen da herein: Das
ist Folkblues heute. Schade nur, dass
die Session für Bluesville nur acht
Songs und damit eine halbe Stunde
umfasste.
Erste Assoziationen des Rezensenten: Das Live-Album von Rory
Block, was vor Jahren mal beim
Women in (E)Motion-Festival in
Bremen mitgeschnitten wurde. Und
da war ich wohl nicht der erste, der
hier eine verwandte Seele hörte. Suzie Vinnick wurde gemeinsam mit
ihrer Gitarre Mabel schon nach Bremen zum gleichen Festival eingeladen. Jetzt muss ich mir doch noch
mal „Me ‚n‘ Mabel“ zulegen. Und
die Liste kanadischer Bluesmusiker,
die es zu beobachten gilt, ist um
eine wirklich bemerkenswerte Frau
länger geworden.
Raimund Nitzsche
Manchmal hat man gleich zum
Anfang das Lied gefunden, dass einem klar macht: diese Platte lohnt
das Hören auf jeden Fall. Wenn „I
Never Shoulda Listened“ mit seinem Kneipenklavier und der sexy
Stimme von Karyn Denham losgeht, dann hat die Party begonnen und verspricht gut zu werden.
Und auch der Rest des Albums von
Tommy McCoy ist alles andere als
langweilig. Als Gitarrist ist McCoy
zum Glück nicht nur auf funkigen
Bluesrock festgelegt, sondern hat
auch für Soulblues (etwa in der Art
von Robert Cray) ein Faible. Und er
ist ein Songwriter, dem man gerne
zuhört. Ok, es sind nicht alle Lieder
so großartig wie das erwähnte oder
der zweite Kracher „Dance Your
Pants Off“ oder das schon fast programmatische „Cars Bars and Guitars“ (zuletzt leuchtete mir so eine
Dreierreihe bei „Steaks und Bier
und Zigaretten“ von Achim Reichel
so direkt ein. Ok, „One Bourbon
One Scotch One Beer“ sollte man
natürlich auch nicht vergessen.)
Anders als bei seiner normalen Triobesetzung in der Band wird auf
dem Album wenn nötig der Sound
durch Piano, Saxophon oder auch
Frauenstimmen im Background angereichert. Und das tut der Scheibe
auf jeden Fall gut. Wie gut McCoy
auch bei langsamen Bluesnummern
auf der Gitarre ist, das zeigt er ganz
zum Schluss bei „My Guitar Won‘t
Play Nothing But The Blues“.
Raimund Nitzsche
Hier gibt‘s den Beweis: 15 Tracks
aufgenommen während der unvergessenen „Fieber Hautnah Solotour
2011“ zeigen den Meister und sein
Publikum wie es besser kaum sein
kann. Die atmosphärische Dichte
an den Spielorten, sein stampfender Beat und die ständig spürbare
Sympathie haben ein Tondokument
geschaffen, das Impulse setzt. Dieses
Album ist Genuss pur.
Was macht diesen Ma(ah)n eigentlich so einzigartig? Sein Singen ist
nicht unbedingt verfüherisch, sein
Gitarrespiel nicht wirklich virtuos,
seine Reime bisweilen simpel und
dennoch dieser gesamte Mensch
Maahn ist deutlich mehr als die
Summe seiner Einzelteile; dieser
Maahn törnt an, dieser Maahn vibiriert, dieser Maahn blutet für mich.
Diesem Maahn würde ich gerne mal
die Halsketten zusammenziehen
und sagen ‚schau mir in die Augen
Kleiner‘, gerne mal die Hände über
die Brust streicheln und sagen ‚Zeig
mir die Rosen im Asphalt‘, und
wenn Du dann anfängst zu singen,
Gevatter, dann würde ich der tobebenden Menge zurufen: „DIESER
CLOWN HAT DEN BLUES!“
Ähnlich mögen die Massen, die die
Klubs auf besagter Tour ausverkauft
machten, empfunden haben. Eingefangen hat die Technik davon
knapp 71 Minuten, die einem vorkommen wie eine komplette Tour.
Dieser Maahn ist so deutsch, wie
die Brüder Grimm und so wenig
‚kölsch‘ wie Hermann Hesse. Auch
wenn es ‚Nothing But A Heartache‘
Wolf Maahn - Lieder vom
zu hören gibt. Hier gibt es ein KulRand der Galaxis_solo Live
Jau Gevatter, darauf hab‘ ich gewar- turgut, das in keinem Lehrplan fehTommy McCoy - Late In The tet: La-Ola auf den Wolken, Begeis- len sollte. - Mehr wollen wir hier
terung in den Auditorien - der Sieg auch gar nicht versuchen in Worte
Lonely Night
Wenn man den Pressematerialien ist Dein! Dazu braucht‘s kein Tele- zu pressen; hier geht‘s um Musik
glauben will, muss Tommy McCoy fon-Voting oder Internet-Polls. Du und zwar um einzigartig gute, so
schon mit einer Gitarre in der Hand machst einfach nur unglaublich viel wie man Liebe macht, einfach nur
geboren worden sein. Jedenfalls hat- Spaß und bist immer noch authen- gut.gut.gut! (Libero/Rough Trade)
Lüder Kriete
te er schon in der Grundschule sei- tisch, nah und ehrlich: dieser Wolf
25
© wasser-prawda
Feuilleton
Liter aturmeldungen
Christoph Hein erhält Uwe-Johnson-Preis 2012
Der Schriftsteller Christoph Hein wird, wie die
Mecklenburgische Literaturgesellschaft mitteilte,
für seinen Ende letzten Jahres erschienen Roman
Weiskerns Nachlass mit dem Uwe-Johnson-Preis
2012 ausgezeichnet. Der Autor werde damit
auch für sein Lebenswerk gewürdigt.
„Hein und Johnson liegen mit ihrem Beobachten und Erzählen dicht nebeneinander“, sagte
der Vorsitzende der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft, welche den Preis zusammen
mit der Tageszeitung Nordkurier alle zwei Jahre
vergibt. Hein, der mit seiner Novelle Der fremde
Freund bekannt geworden ist, verfasste zahlreiche
prosaische Texte sowie Bühnenstücke. Die wahre
Geschichte des Ah Q. Nach Lu Xun gilt als sein erfolgreichstes. Andreas Dresen verfilmte 2005 seinen Roman Willenbrock, einige seiner lyrischen
Arbeiten wurden von Hans-Eckardt Wenzel vertont. Der Autor ist außerdem als Übersetzer (u.a.
der Werke von Molière) tätig und war zwischen
1998 und 2000 erster Präsident des gesamtdeutschen PEN-Clubs.
Sein Roman Weiskerns Nachlass erzählt die Geschichte des 59jährigen Dozenten Rüdiger Stolzenburgs. Dieser ist „ein prototypisches Mitglied
des akademischen Prekariats“: Er besitzt keinerlei Aufstiegschancen, seine Forschungen verlaufen mehr oder minder im Sand und mit seinem
Gehalt kann er gerade so seinen Lebensunterhalt
bestreiten. Sein Arbeitsschwerpunkt, der Schauspieler und Kartograf Friedrich Wilhelm Weiskern, führt weder zu wichtigen Forschungsgeldern noch zu Publikationen. Zu allem Überfluss
ist die vermeintlich sensationelle Entdeckung
von neuem Material aus Weiskerns Nachlass
auch noch eine Fälschung. Zusammen mit der
ruinösen Steuernachzahlung scheint er daran zu
zerbrechen.
oben: Christoph Hein. Unten: Detail des Uwe Johnson-Denkmals in
Güstrow von Wieland Förster. ganz unten: Olga Martinowa.
Korrespondenzen und verschiedenen Materialien. Hinzu kommen das Archiv mit einer ungefähr 8000 Bände umfassenden Arbeitsbibliothek,
mit Einrichtungsgegenständen, Möbelstücken
sowie Erinnerungsgegenständen.
Im Rahmen dieses Umzugs unterzeichneten
am 17. Juli die Universität Rostock, die UweJohnson-Gesellschaft, die Johannes-und-Annitta-Fries-Stiftung, der Suhrkamp-Verlag und die
Peter-Suhrkamp-Stiftung eine Erklärung, mit
der das Fundament für eine 30-bändige Werkausgabe des Schriftstellers gelegt ist. Mit der Herausgabe des Gesamtwerkes soll aber frühestens
2014 begonnen werden.
Uwe-Johnson-Nachlass nach Ros- 36. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt
tock
Nachlass und Archiv des 1934 in Cammin
(Pommern) geborenen Schriftstellers Uwe Johnson werden ab kommendem Jahr in Rostock beheimatet sein. Bisher waren Nachlass (im Auftrag
der Erben) und Archiv vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach verwaltet worden. Dieses
konnte die letzte Rate für den Ankauf des Suhrkamp-Archivs, in dem sich Letzteres befindet,
aber nicht aufbringen.
DLA-Direktor Raulff hätte das Archiv des „Jahrhundertautors […] liebend gerne behalten“,
dieses sei aber „nicht integraler Teil der Archive
von Suhrkamp und Insel, um die es uns in erster
Linie ging“. Das Deutsche Literaturarchiv hatte
das Archiv im Jahr 2009 zusammen mit den Archiven von Suhrkamp, Insel sowie dem von Siegfried Unseld übernommen. Die drei Letzteren
seien inzwischen bezahlt. Der Umzug nach Rostock sei nicht willkürlich. Neben dem Umstand,
dass Johnson dort Germanistik studiert hat, ist
auch die Tatsache, dass die Universität Rostock
die einzige Johnson-Stiftungsprofessur beherbergt, sicher ausschlaggebend gewesen.
Der Nachlass Uwe Johnsons besteht aus schätzungsweise 111 Archivkästen mit Manuskripten,
Vom 5. bis 8. Juli 2012 haben vierzehn Autoren
und Autorinnen ihre unveröffentlichten Texte
bei den 36. Tagen der deutschsprachigen Literatur im österreichischen Klagenfurt vorgestellt.
Nach mehreren Abstimmungsrunden vergab die
Jury den mit 25.000 Euro dotierten IngeborgBachmann-Preis an die in Russland geborene
Schriftstellerin Olga Martynova.
Die vierzehn Autoren – Leopold Federmair, Isabella Feimer, Simon Froehling, Sabine Hassinger,
Lisa Kränzler, Inger-Maria Mahlke, Olga Martynova, Stefan Moster, Matthias Nawrat, Hugo
Ramnek, Mirjam Richner, Matthias Senkel,
Andreas Stichmann sowie Cornelia Travnicek –
stellten in einer Art von „Wettlesen“ ihre Texte
einer Jury vor. Im Anschluss an jede einzelne Lesung lobten, kritisierten, sinnierten und stritten
deren Mitglieder – u.a. Burkhard Spinnen, Meike
Feßmann, Paul Jandl, Daniela Strigl und Hubert
Winkels – über eben gehörte Arbeit, während die
Literaten einem unausgesprochenem Redeverbot
unterlagen. Dies ist zugleich das Aufregende an
diesem Wettbewerb: neben Texten aus erster
Hand, die von ihren jeweiligen Verfassern gelesen werden, wird hier die Möglichkeit geboten,
der Arbeit von Literaturkritikern beizuwohnen
26
© wasser-prawda
Feuilleton
Kurzmeldungen
Die schwedischen Zündhölzer, der in zahlreiche Sprachen übersetzt worden ist. Nach dem
zweiten Weltkrieg, während dem er aktiv am
Widerstand gegen die Deutschen beteiligt war,
gründete er die Zeitschrift La Cassette, die
zahlreiche französische Dichter veröffentlichte.
1969 wurde er für sein Gesamtwerk mit dem
Großen Preis der Académie française ausgezeichnet, im selben Jahr stand er auf der Favoritenliste für den Literaturpreis Prix Goncourt,
erhielt diesen aber nicht. Zwei Jahre später wurde er in die Verleihungsjury des bedeutendsten
französischen Literaturpreises berufen. Sabatiers
Lyrik war stark von den Surrealisten beeinflusst,
seine Prosa beschäftigte sich mit Einzelgängern.
Darüber hinaus verfasste er eine mehrbändige
Geschichte der französischen Poesie.
Am 5. Juli verstarb der niederländische Schriftsteller und Übersetzer Gerrit Komrij (Foto unten rechts) im Alter von 68 Jahren nach langer
Krankheit. Er gilt einer der bedeutendsten Gegenwartsdichter der Niederlande. Komrij wurde mehrfach für seine Arbeiten ausgezeichnet
– u.a. mit dem P.C. Hooft-prijs. 2000 kürten
ihn Zeitungsleser zum Dichter des Vaterlands.
Der Autor veröffentlichte mehr als 40 Bücher –
seine 1979 veröffentlichte Lyrikanthologie De
Nederlandse poëzie van de 19de en 20ste eeuw
in 1000 en enige gedichten gilt gar als „Bibel
der niederländischen Dichtkunst“ – und zählt
damit nebenbei noch zu den produktivsten
Dichtern seiner Zeit.
Am 6. Juli verstarb die österreichische Lyrikerin und Exilforscherin Siglinde Bolbecher
im Alter von 60 Jahren nach kurzer schwerer
Krankheit. Die Gründerin der Theodor Kramer Gesellschaft und des Vereins zur Förderung
und Erforschung der Antifaschistischen Literatur war u.a. Herausgeberin des Lexikons der
österreichischen Exilliteratur sowie der Buchreihe antifaschistische Literatur und Exilliteratur.
Studien und Texte. Außerdem hat sie sich mit
dem Frauen- und Männerbild im Nationalsozialismus sowie mit literarischen Arbeiten von
Frauen im Exil beschäftigt. Im März dieses
Jahres wurde Bolbecher für ihre Verdienst für
„Erforschung und Verbreitung österreichischer
Exilliteratur“ mit dem Goldenen Ehrenzeichen
für besondere Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet.
und so einen Eindruck von diesem selten auf
Kompromisse ausgerichteten Geschäft zu erhalten. So lässt sich nebenbei ein Ranking möglicher FavoritInnen auf den Preis erahnen – was
ja gern gesehen ist, wenn man an die unzähligen Castingshows denkt, und wird auch auf der
offiziellen Seite des Wettbewerbs dokumentiert
(„Erster Tag ohne klare Favoriten“; „Lob und
Verriss am zweiten Tag“; „Dritter Tag: Anerkennung und viel Kritik“).
Auch in diesem Jahr ging es hoch her: neben Uneinigkeiten (u.a. „ungeheure Verlockung des Familiären“ vs. „schöner Schein“) und die Bedeutung metaphorischer oder allegorischer Bilder
(u.a. ist ein Hund wirklich ein Hund oder sind
Tiere wirklich Tiere?), über literaturtheoretische
Grundfragen (u.a. nach dem Verhältnis von Literatur und Experiment), hin zu formalen Aspekten (u.a. Auffälligkeiten hinsichtlich der gewählten Erzählperspektive). Doch auch der handfeste
Disput, der manchmal schon fast in verbalen
Entgleisungen gipfelt, kam nicht zu kurz: auf
einen Einwand von Paul Jandl entgegnete der
Juryvorsitzende Burkhard Spinnen: „Jetzt gehen
Sie aber an den Text heran wie ein stalinistischer
Zollbeamter.“
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu (Foto:
rechts oben) wurde mit dem Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels 2012 ausgezeichnet.
Der Börsenvereins des Deutschen Buchhandels,
begründete die Wahl dadurch, dass „Liao Yiwu
[…] in seinen Büchern und Gedichten den
Menschen am Rande der chinesischen Gesellschaft ein aufrüttelndes literarisches Denkmal
[setzt].“ Laois Werke, die sich durch eine starke,
illusionslose und bildreiche Sprache auszeichnen, sind auf Grund seiner kritischen Haltung
zur chinesischen Regierung verboten. Der Autor setzt sich mit der Brutalität und Absurdität
willkürlicher staatlicher Repression auseinander.
Die Schriftstellerin Anna Katharina Hahn
(Foto: Mitte rechts) wurde am 23. Juni mit dem
Wolfgang Koeppen-Literaturpreis der Hansestadt Greifswald ausgezeichnet. Der mit 5000
Euro dotierte Preis wird alle zwei Jahre verliehen. Ausgewählt wurde die Autorin vom letzten
Preisträger Joachim Lottmann. Dieser begründete seine Wahl damit, dass Hahn präzise, ohne
Ideologie und gegenwärtig schreibe. „Stuttgart
21 kommt vor, schwache Vatermänner, die aber
liebevoll zu ihren Kindern sind.“, heißt es weiter.
Und: „Jeder führt ein Leben, für das der Leser
Verständnis hat. Man sieht alle Beschädigungen
und kann sich nicht auf eine Seite schlagen.“
Wundervoll sei das, „eben echte Literatur.“ Die
Suche nach seiner Nachfolgerin bzw. seinem
Nachfolger – der Umstand, dass ein ausgezeichneter Autor den nächsten auszeichnet, stellt im
Übrigen eine Besonderheit im Literaturbetrieb
dar – gestaltete sich schwierig, wollte er mit seiner Wahl doch dem Geschmack des Namensgebers gerecht werden.
Der Schriftsteller Richard Anders verstarb
in der Nacht vom 23. auf den 24.6. an Herzversagen in Berlin. Der Wolfgang-KoeppenPreisträger von 1998 veröffentlichte zahlreiche
vom Surrealismus beeinflusste Lyrik- und Prosabände. Neben dem automatischen Schreiben
experimentierte er mit anderen surrealistischen
Techniken, die Halluzinationen ausdrücken
sollten. Dabei geholfen hat ihm auch der Konsum von Marihuana. Richard Anders wurde 84
Jahre alt.
Am 28.06. verstarb der französische Schriftsteller Robert Sabatier im Altern von 88 Jahren.
Berühmt geworden ist er mit seinem Roman
Nach der Pflicht folgte – im wahrsten Sinne
des Wortes – die Kür. Die achtköpfige Jury entschied sich nach langer Diskussion und einer
zwei Runden dauernden Stichwahl für die von
Jurymitglied Paul Jandl vorgeschlagenen Olga
Martynova und ihren Text „Ich werde sagen Hi“
als Hauptpreis. Jandl sprach in seiner Laudatio
von einem Buch, in dem es um „eine Kindheit
[geht], die endet, als eine kreative Rationalität
beginnt: als zur Sinnlichkeit schön gefüllter Damenstrümpfe und provinzstädtischer Eisdielen
der Sinn tritt.“ Der Text sei „eine hochreflektierte Poetologie, in der es tatsächlich um Adam
27
und Eva geht, um die ägyptische Mythologie, um
E.T.A. Hoffman, Daniel Charms, um eine Pharaonentochter, um Geschichte und Geschichten. Die Provinz, von der hier erzählt wird, ist
die größte, es ist die des literarischen Einfalls.“
Der hier vermittelte Eindruck spiegelt sich auch
in der Jurydiskussion wieder. Hubert Winkels
sprach von einer schönen Arbeit und „ein[em]
wunderbare[n] Kunstgriff“, während Daniela
Strigl vor allem der „hintersinnig-lakonisch-archaische Witz“, der „sprachliche Rhythmus“ und
der „Wechsel vom Dialog zur Geschichte“ gefal-
© wasser-prawda
Feuilleton
len haben. Auch Meike Feßmann stimmte ein:
„ein souverän und luftig erzählter Text“.
Die 1962 in Dudinka geborene, in Leningrad
aufgewachsene und in Frankfurt/Main lebende
Olga Martynova verfasste zahlreiche Gedichte
und Essays, von denen eine Vielzahl in verschiedene Sprachen übersetzt worden sind. 2010 wurde ihr erster Roman „Sogar Papageien überleben
uns“ veröffentlicht, in dem kurze Episoden einer St. Petersburger Autorin geschildert werden.
Dieses Werk landete u.a. auf der Longlist des
Deutschen Buchpreises. Sie ist als Essayistin und
Rezensentin für die Neue Zürcher Zeitung, Die
Zeit und die Frankfurter Rundschau tätig.
Neben dem Hauptpreis wurden aber noch weitere Preise verliehen:
Der von der Kärntner-Elektrizitäts-Aktiengesellschaft gestiftete und mit 10.000 Euro dotierte
kelag-Preis ging an den von Hildegard Elisabeth
Keller vorgeschlagenen Matthias Nawrat (Foto
Mitte oben). Daniela Strigl hatte die „Parodie eines Familienidylle […] sehr gut gefallen“, Paul
Jandl sah den Text gar als „postapokalyptisch
und re-utopisch“ an und konnte nicht nachvollziehen, wie mit diesen mit den Schlagworten
„Parodie“ und „Idylle“ in Verbindung bringen
könne. Der Juryvorsitzende Burkhard Spinnen
war hingegen enttäuscht: „Ein wunderbarer Text,
aber nur als 1. Kapitel […]“ Hildegard Elisabeth
Keller sprang ihrem Kandidaten zur Seite: „Diese
Geschichte ist für mich exemplarisch dafür, wie
ein Autor Figuren erschaffen kann, eine ganze Familie, die lebt, atmet und sich weiterentwickelt.“
In ihrer Laudatio wurde sie konkreter, indem sie
auf Peter Bichsel und dessen Poetik-Vorlesung
verwies: „Geschichten sind nur deshalb Literatur,
weil sie uns an Geschichten erinnern.“
Der 1979 in Opole geborene Autor studierte
Biologie in Heidelberg und Freiburg und am
Schweizerischen Literaturinstitut. Zurzeit arbeitet er als freier Wissenschaftskolumnist und
Kulturkritiker.
Maria Mahlke (Foto rechts oben) und Stefan
Moster zu entscheiden; er bat Stefan Moster um
Entschuldigung und um Verständnis dafür, hielt
aber an Mahlke fest. Hildegard Elisabeth Keller
sprach von einem Text, der „auf den Oberflächen
bleibe“ und fragte: „Warum erschöpft sich das
Du an den Materialien dieser Welten, ohne eine
Schicht tiefer einzudringen, wo vielleicht das
Herz dieser Geschichte schlagen könnte?“ Hubert Winkels monierte zwar „das Zuviel an Geschichte in der Geschichte“, sprach aber von einer „konsequente[n] Nahaufnahme, egal ob man
sich im Backshop, im Sado-Maso-Schuppen oder
bei der Kinder-Erziehung befindet“. Für Corinna Caduff war das „ein ganz toller, eindringlicher
Text über Ausweglosigkeit, der sein Konzept sofort klar macht.“ Auf den Einwand, „ das Du ist
doch eine sozialtherapeutische Ansprache, das
gefällt mir nicht“ von Meike Feßmann, reagierte
Burkhard Spinnen mit: „Diese Frau tut Unsägliches und Unsagbares und ringt darum, sich das
selbst vorzusagen, es zumindest in Sprache zu
überführen“. Sichtbar werde hier die „Entfremdung des Menschen im Kapitalismus, […] ohne
das [sic!] gleich von Harz IV die Rede ist.“
Die 1977 in Hamburg geborene Autorin studierte Rechtswissenschaften. Sie wurde für ihren
Debütroman „Silberfischchen“ mit dem KlausMichael-Kühne-Preis ausgezeichnet.
Der letzte Preis in dieser Reihe ist der von der
BKS Bank gestiftete BKS Bank Publikumspreis, der mit 7.000 Euro dotiert ist. Dieser ging
an Cornelia Travnicek (Jahrgang 1987, Foto unten rechts). Hubert Winkels lud sie nach Klagenfurt ein, was Jury als „eine gute Entscheidung“
bezeichnete, „wenn sie sich auch nicht darüber
einig werden konnte, ob Literatur genuin verstören müsse oder eben auch nur unterhalten darf.“
Cornelia Travnicek ist seit ihrer Schulzeit in zahlreichen Literaturzeitschriften und Anthologien vertreten. Ihr Debüt feierte sie mit „Aurora
Borealis“, wenig später folgte „Die Asche meiner
Schwester“. Für die Arbeit an ihrem dritten Buch
wurde sie bereits mit dem Theodor-Körner-Förderpreis ausgezeichnet.
Erik Münnich
Der mit 7.500 Euro dotierte 3sat Preis ging an
die von Hubert Winkels vorgeschlagene Lisa
Kränzler (Foto Mitte unten). „Willste abhauen“
sei eine Geschichte „der erwachenden Sexualität,
die bekanntlich noch früher beginnt nach Freud
als in diesem Text. Hier beginnt er im Kindergarten. Und in fünf Episoden wird im Grunde
die leidenschaftliche Beziehung zweier Mädchen
zueinander geschildert […]“, führte Winkels in
seiner Laudatio aus. Diese „fünf Episoden, in denen sehr stark über Körper, über Nähe, Gerüche,
über Häute, aber auch über Zorn, Gewalt, das
Aufreißen von Oberflächen, diese sexuelle und
erotische und Liebesbeziehung geschildert“ werden, haben ihn sehr beeindruckt. Lisa Kränzler,
Jahrgang 1983, lebt in Freiburg. Sie studierte
Malerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste. Mit „Export A“ legte sie ihren ersten
Roman vor,. Protagonistin ist die 16järigige Austauschschülerin Lisa, die sich hin- und hergerissen zwischen Gehorsam und Ausbruch fühlt.
Der mit 5.000 Euro dotierte und von verschiedenen Verlagen gestiftete Ernst-Willner-Preis ging
an die Kandidatin des Juryvorsitzenden Burkhard
Spinnen – interessant daran: „Juryvorsitzender
Burkhard Spinnen hatte die schwere Aufgabe,
sich zwischen seinen beiden Kandidaten, Inger-
28
© wasser-prawda
Interview
„Mich interessieren die
Zufälligkeiten, das Kontingente im Täglichen.“
Silke Peters, 1967 in Rostock geboren,
ist Schriftstellerin, bildende Künstlerin
und darüber hinaus in vielen weiteren
Projekten aktiv. Erik Münnich sprach
mit ihr über Literatur, die Kunst von
der Kunst zu leben und verschiedene
Arbeits- wie Suchprozesse.
stücken von der Müllkippe. Dort fand ich auch
das erste Bild von Stalin. Ende der Neunziger
habe ich angefangen, regelmäßig zu schreiben.
Es schien als dass meine gestaute Kreativität ein
Ventil brauchte. Außerdem hatte ich das Gefühl,
ich kann nicht weiter autodidaktisch lesen und
habe mich in ein paar Seminare gesetzt, um lesen
zu lernen. Plötzlich gab es ja dieses Wort Geisteswissenschaft wieder. Und alle Bücher auch.
Erik Münnich: Eine nicht ganz unbeträchtliche Außerdem hat mich die intellektuelle HausbaAnzahl von Menschen verlässt jedes Jahr mangels ckenheit der Naturwissenschaftler nicht mehr
Zukunftsperspektiven Mecklenburg-Vorpom- sehr inspiriert. Durch die Seminare in Greifswald
mern. Du bist hier geboren und immer noch da. – das von Michael Gratz – gab es die ersten literarischen Kontakte. Daneben den Wiecker Boten,
Silke Peters: Zufall, denke ich. Ich habe eine Autorenbetreuung für Literaturveranstaltungen,
Tochter und das macht mich etwas statischer als erste Wettbewerbserfahrungen und so was.
das Mobilisierungsideal.
Erik Münnich: Für junge Schreibende ist es nicht
Erik Münnich: Du bist Lehrerin, arbeitest aber unbedingt ratsam, sich immer nur mit den eigenicht mehr in diesem Beruf. Wie kam es zu der nen Texten zu beschäftigen. Welche MöglichkeiEntscheidung, einen anderen Weg einzuschlagen? ten hast Du genutzt, um Dich auf einem anderen
Weg mit Literatur im Allgemeinen und Deinen
Silke Peters: Ich wusste nie, was ich werden will, Arbeiten im Besonderen auseinanderzusetzen?
habe das Studium 1985 begonnen, um für mich
Zeit zu schinden und lesen zu können. Die Geographie als Wissenschaft hat mich sehr geprägt Meine Deutschlehrerin hat mir ins Abund auch gehalten. Die langen Zeiträume, in iturzeugnis geschrieben: „Silke ist sehr
denen man denken lernt, haben mich beruhigt. belesen.“ Das fand ich eine Frechheit.
Die Botanik ist meine zweite Liebe. Als Lehrerin Mir war immer klar, was ich alles noch
nicht gelesen hatte.
zu arbeiten, war nie mein Ziel. Ich hatte, glaube
ich, ein Forschungsstudium in der Geographie
angestrebt. Heute arbeite ich ab und an gern mit Silke Peters: Lesen - sonst geht nichts. Meine
Deutschlehrerin hat mir ins Abiturzeugnis geKindern im Bereich der Kreativitätsförderung.
schrieben: „Silke ist sehr belesen.“ Das fand ich
eine Frechheit. Mir war immer klar, was ich alles
Ich habe viel gelesen, um mich von
meinem Dorf und auch von den Zumu- noch nicht gelesen hatte.
tungen der DDR zu entfernen.
Silke Peters: Es gibt gerade viele frei flottierende
Ängste, eine klimatische Änderung, die sich in
Debatten entlädt. Aber man muss sich klar machen, dass es ein extrem unwahrscheinliches Ereignis ist, auf das man wettet, wenn man – dem
Mittelstand vergleichbar – von der Kunst leben
will.
Erik Münnich: Zwischen Deinen – vorrangig –
lyrischen Texten und Deinen künstlerischen Arbeiten bestehen Zusammenhänge.
Silke Peters: Zusammenhänge entstehen ja immer, wenn man darauf aus ist, sie zu sehen. Ich
habe in den letzten Jahren viel Kunstgeschichte
gelesen und ein Weg, das zu begreifen, war für
mich, selbst das Material in die Hand zu nehSilke Peters: Ich gut, meine Familie weniger.
men. Es sind nur Notizen im nichtsprachlichen
Mal eine Einladung, mal ein Stipendium, ein
Raum für mich.
Preislein oder ein Heftchen. Ich arbeite nicht
marktförmig.
Erik Münnich: Im September dieses Jahres erscheint im Greifswalder freiraum-verlag ein neuErik Münnich: Dazu passt das Schlagwort: „Die
es Buch von dir: „Ich verstehe nichts vom MonKunst von der Kunst zu leben“…
sun“. Auf den ersten Blick ein langes Gedicht,
Erik Münnich: Die Frage nach dem AuskomErik Münnich: Wann hast Du angefangen, zu men ist verpönt, ich stelle sie trotzdem: kannst
Du davon leben?
schreiben? Gab es dafür spezielle Anlässe?
Silke Peters: Es gab ein paar verstreute Texte
seit dem Abitur. Ich habe viel gelesen, um mich
von meinem Dorf und auch von den Zumutungen der DDR zu entfernen. In den Achtzigern
war es die Begegnung mit dem Werk von Kurt
Schwitters, die wie eine Erlösung für mich war.
Wir haben Merzbilder collagiert – mit Beute-
29
© wasser-prawda
Interview
trotzdem hast Du es mit „Erzählung“ betitelt. Erik Münnich: Mal abgesehen vom Monsun
Warum nicht mit „Lyrik“?
– gibt es einen roten Faden zwischen Deinen
Arbeiten?
Silke Peters: Ich weiß im Moment leider nicht,
was ein Gedicht ist. Als ich mein erstes Langge- Silke Peters: Es scheint diese Wälder zu geben, in
dicht schrieb, merkte ich bei den Lesern, dass sie die man immer wieder geht. Die immer wieder
eine Geschichte beim Lesen konstruieren. Eine einen Lese- und Forschungsansatz generieren.
Erzählung macht ja glücklich, auch wenn sie eine Welches die Themen sind, mag jemand anderes
Lüge ist. Es bleibt also beim Leser, diese Arbeit, besser überschauen als ich. Ich gehe immer noch
diese Erzählung, für sich entstehen zu lassen, gern ins Gelände, also auf Exkursion, und erbeuwenn sie die Gattungsbezeichnung so ernst neh- te vielleicht einen neuen Ansatz. Mancher Ort
men, wie sie sich gedruckt benimmt und er sich sperrt sich auch jahrelang. Entweder komme ich
mit seiner eigenen Illusionsfähigkeit plagt.
nicht hin. Oder die Texte geben nichts her, die
ich von dort mitbringe. Und die Stadt ist, denke
Erik Münnich: Der Text (siehe Vorveröffentli- ich, wichtig für mich.
chung in diesem Heft) erscheint als eine Suche,
der Versuch einer Orientierung. Was hat Dich Erik Münnich: Diesmal plakativer: nicht weniangetrieben bei dieser Arbeit?
ge behaupten, Literatur wäre ohne Leiden nicht
denkbar. Würdest Du dem zustimmen?
Silke Peters: Die Sprache. Du sitzt am Schreibtisch und verwurstest das Material, das dir zu- Silke Peters: Oh Leiden – soll ja die einzige zufliegt und der Text hat nichts mehr mit dem Le- verlässige Transformationsmaschine sein, die wir
ben zu tun. Ein völlig neuer Ort entsteht. Ein besitzen. Ist das für Literatur wichtig? Ich weiß es
Unort. Das war sehr aufregend. Und mich in- nicht. Wichtig ist, dass ich von dem Punkt aus
teressierten die Zufälligkeiten, das Kontingente schreibe, den ich im Moment übersehen kann
im Täglichen. Ich habe versucht mich auf dieser mit aller Subjektivität.
Ebene für diese Zeit offenzuhalten. Diese Dinge
bilden den Rohstoff.
Erik Münnich: Weg von der Literatur, wenden wir uns noch kurz anderen Deiner ProjekErik Münnich: Gab es einen speziellen te zu. Du hast u.a. das Frauennetzwerk M-V
Arbeitsprozess?
mitbegründet.
jekterfahrung eingebracht, ohne die mein Leben
hier im Land ärmer wäre.
Silke Peters: Ich habe versucht, täglich an diesem Text zu arbeiten, immer mit einer kurzen
Rückerinnerung an das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Tressentin an der Recknitz.
Silke Peters: Es scheint mir gerade um den Luftraum zu gehen. Der Pneuma scheint mich affiziert zu haben, seitdem ich in der Heilgeiststraße arbeite und auf alle Kirchen Stralsunds sehen
kann. Ich bestimme wieder Wolken und habe
meine Meteorologiebücher hervorgeholt.
Silke Peters: Das habe ich nicht gegründet. Ich
habe die Frauen dort nur gefunden. In dem Projekt „Die Kunst von der Kunst zu leben“ hatte
ich die Möglichkeit, mit vielen bildenden Künstlern und Künstlerinnen zusammenzuarbeiten.
Das hat mir einige Freundschaften und viel Pro-
30
Erik Münnich: Frauen sind in vielen Bereichen
der Gesellschaft unterrepräsentiert, auch in der
Literatur. Sie haben es vermeintlich schwerer als
Männer. Würdest Du das unterschreiben?
Silke Peters: Es scheint so zu sein, dass Frauen
von einem männlichen Standort aus schreiben
müssen. Ich fand das mal bei Julia Kristeva. Familiensystemisch von der Position des Großvaters mütterlicherseits aus. Das scheint einiges
etwas komplizierter zu machen, wenn man die
eigene Identität zu sehr mit dem Schreiben in
Zusammenhang bringt.
Erik Münnich: Welche Möglichkeiten siehst
Du, diesen Umstand zu verändern?
Silke Peters: Ich weiß nicht, nachdenken und
einander helfen, wenn es gerade möglich ist und
leicht geht im konkreten Fall. Solidarität entsteht
aus einer Verletzung, die man auch erlebt hat,
sagt Richard Rorty.
Erik Münnich: Zum Abschluss noch einen Ausblick auf die nächste Zeit: was hast Du Dir vorgenommen, was willst Du unbedingt angehen?
© wasser-prawda
Bücher
Silke Peters Ich verstehe nichts vom
Monsun
(Auszüge)
Die Nacht und der Schnee. Die Postkarte kommt immer noch
an. Dieses Dorf ist getarnt eine beleuchtete Sache. Die Scheibe
der Mondfinsternis schiebt sich vor. In den Ereignisraum.
Mit Scilla wahrscheinlich. Skylla. An der Straße. Als wir uns
unverhofft trafen. Ich strich diese Zeile aus. Denn wir hatten
uns verabredet.
Du kannst es nachrechnen. Die ganze Nacht. Die einsamen
Schritte. Die linearen Prozesse. Das zerknitterte Papier. Die Lade
jault auf. Dies ist eine Zuflucht. Ein Versuch.
Mit den Verspannungen in den Gliedmaßen. Germaine Richiers
Wesen. Das Äußerste tun in den Anweisungen des Gefundenen.
Blaue Kröten fallen vom Himmel. Wir verkaufen nichts.
Ihm oder vielmehr ihr zu nahe zu treten. Sie sehen nicht mehr
so scharf hin. Die Weiden am Bach. Ach. Mein zurückhaltender
Strich.
Die Gespräche drehten sich um Existenz. Poetic justice. Bilder
die sich aus dem Fixierbad unseres Gesprächs entwickelten. Sie
stapeln sich zu unleserlichen Haufen.
Dem die Doppelbilder entfernt wurden. Wenn es denn sein
muss. Wenn Du es hören willst. Wenn. In der dritten Generation.
Die windschiefe Scheune fällt.
Geballte Zonen der Dunkelheit wenn sich die Farben zu gut
mischten. Ich schreibe das jetzt auf. Märzgrau. Ein methodisches
Stochern im Tag. Ich müsste dir antworten.
Sie werfen Fluggegenstände vom Dach. Die Kinder. Spuren im
stillen Gebiet. Ein Gebet. Wie kommen die Schlingen in den
Bach. Tasten meine Hände.
Das Ende absehen. Den fremden Gedanken verwenden. Was
wird dann aus ihm. In mir. Er wird abgebaut. Verstoffwechselt.
Meine eigene Zeile. Gelöscht.
Morgens beim Aufwachen gegen die Schatten. Kälte und Glück.
Das gezogene Los. Eines muss es ja besiegeln. Die Komposition
dauert an. Im Gebirge ginge ich verloren.
Auf welche Annahmen stützen wir uns. Beim Gehen. Ich schaue
nicht mehr zurück. Ich überlasse es. Dem Gespräch der Amseln.
Der zähen Feuchtigkeit unter den Fittichen.
Wer ist der der das Schreiben macht. Die übersprungene Generation.
Einflüsterungen. Alles wird weich. Tauwetter. Der Sinn.
So sagte man dort vielleicht.
So eine schöne Reise. Über das Schwarze Meer. Dorant und
Dosten. Seine Blumen bleiben. Zu sublimen Zwecken. Iasis.
Die Substanz ist unentdeckt. In den Abgründen der Sprüche.
Die vergessenen Begriffe. Die unübersichtliche Barriere. Schweigen.
Schwingt. Ich würde so gern sein Wort benutzen. Es bildet
eine dicke Staubschicht.
Hier gehen Hirsche auf der Straße entlang. Die Kästen füllen
sich langsam. Mit Abraum. Die Halden dienen jetzt als Wegmarke.
Dort entlang. Ich fahre ans Meer.
Auf den zerbrochenen Stallfenstern. Ich mache mich klein im
Wind. Hinter den Scheiben das Meer. Graue Struktur. Total
chaotische Turbation. Ein grammatischer Rest. Eine Neige.
Ich bin dazu abgestellt von den anderen. Manches ließe sich
nicht abbilden. Manches schon. Die Möbel sind mein Ideenvorrat
für die nächste Zeit. Daran muss ich denken.
Wir reden über das Tote Meer. Seine Salzkonzentration in
Promille. Wir setzen den Tiefpunkt hier. Den Kara Bogas Gol.
Wir schütten Glaubersalz in den Tee.
Es ist schon alles da. Einiges wird ausgelagert auf die andere
Flussseite. Ich werde die Fähre nehmen. Der Wind blättert die
Seiten um. Und.
Das gibt ein kaltes Fließen. Diese Stelle ist verdorben. Wir
schreiben morgens an einem langen Text. Die Beine erreichen
den Boden nicht mehr. Ich fühlte mich dort sehr zu Hause.
Die Interpunktion hatte mich über den Text gerettet. Ich gehe
von Turm zu Turm durch die vergessene Bürgerlichkeit der
Stadt. Ich winke jemandem Fremden zu.
Verantwortlich. Der Tisch leerte sich. Das Bistro schließt. Ein
ausgetrockneter Salzsee ist meine Landebahn. Die Schollen
wölben sich an den Rändern. Rosa. Queller.
Ich schäme mich ein paar Minuten lang. Irgendwie hatte ich
vergessen mich aufzuladen. Ich sitze am Tisch. Jemand geht
durch ein Weizenfeld. Die Handlungen werden diktiert.
Und die Bilder sind überbelichtet. Im Bergwerk. Die Steigleitern.
Das ist die letzte Tageszeile. Fleckig verweht die Spur Schnee. Die
Raben gehen über den Teich.
Es hatte sehr lang gedauert bis ich dort stand. Ich hatte dieses
Viertel noch nicht erreicht. Der saure Geruch des Milchladens
wehte über die Bücher.
Jede Figur muss etwas wollen. Aus jedem Bild wächst ein anderes.
Wir bleiben bei den Fakten. Bei den Übersetzungsprogrammen.
Dem Vorhof der Wörter.
Ich vermeide zu viele Eindrücke. Aber wie mache ich das.
Vermeiden. Kosmologisch gesehen. Die Uhr geht nach. Eine
Seite lang geht sie nach.
31
© wasser-prawda
Bücher
Die fünf Mykologen auf der Welt die sich noch über auf Pilzen
schmarotzende Pilze unterhalten konnten. Flüssig. Und Ohren
auf. Sonst Kristallbildungen an den Gradierwänden.
Über Schwarzdorn. Über Wolkenbildern die haben ja Konjunktur.
Ein gesprühter Verlauf auf dem Buchschnitt. Ein Rest Farbe
an der Fingerkuppe. Das auch.
Das wirklich gute ist ich verstehe nie etwas. Warum auch. Die
Linien sind ja schon gezogen. Nach denen du peilst. Was danebenfällt.
Ist geschenkt.
Kompost oder einer sammelt es auf. Für das Präparat im Kästchen.
Ein Sammelkästchen. Eine einzelne Seegurke angeklebter
Tang. Bebt. Sinnfällig. Vor und zurück.
Schwer im Geschirr. Kommt. Der Fund in die Trommel. Das
Glas mit Oktopus. Hummer. Hunger. Windbeutelblase. Physa.
Das ist jetzt ausgestellt.
Wir hatten da ein Vokabellager auf der Hafeninsel. Verkauf nach
Gewicht. Reines Maßstück Metall. Maßstück Buche verschollen
bis auf weiteres.
Aber das kann aber das kann rekonstruiert werden. Ja kann
es. Noch. Geschehen denn Vereinsaustritte. Abtritt. Hahnenirgendwasmuster.
Er machte dich ganz weich. Mich ohnmächtig. Die verlorene
Unterschrift auf dem Gedicht begann zu schmerzen. Vergessene
Narben schwollen an. Blau. Rot. Ich kann dich halten.
Nächtelang deinen Atem auslesen. Alle Versprechen sind nichtig
reagieren nicht auf den Tag. Jemand entzündete dein Licht im
Park damit ich von dir wissen konnte.
Wir ziehen in den Sommer ein. Bald. Mich überkommt ein
Versprechen das ich mir gab. Aufzugeben. Im Moment der größten
Ruhe. Im Januar. Mit Winterlingen in der Post.
Silhouetten tanzen gegen das farbige Licht. Ich muss blinzeln.
Immer noch. Dass es dich gibt tastet mein Arm. Gewissheit.
Viel mehr nicht. Grenzverschiebung. Seitendrift.
Die neusteten Theoreme des Zusammenlebens in den Nachrichten
von dir. So einfach als hätte ich schon immer gewusst.
Achtung dies ist uns wichtig. Wir werden es vergessen.
Silke Peters, Ich verstehe nichts vom Monsun
Erzählung
Nachts. Die Möwen können schon auf dem Eis stehen. Wir
werden uns verraten wenn ich nach den Möglichkeiten Ausschau
halte. Und.
freiraum-verlag Greifswald 2012
ISBN 978-3-943672-06-0
110 Seiten
11,95 Euro
Erscheint am 1. September 2012.
Es ist als hätten sie sich verschworen die Dichterinnen. Den
Basalt zu sprengen. Wenn es ihre Biographie ist zu warten. Der
Text weiß nichts. Von mir. Er lebt. Wie deine Textur.
32
© wasser-prawda
Bücher
„Von dem sprechen, was
geschehen ist“- Das Werk
des Ahmadou Kourouma
in drei Teilen
Keinen runden Geburtstag gibt es zu feiern, keinen sich jährendenTodestag zu beklagen, keine
Neuauflage seiner Romane zu begrüßen. Die Beschäftigung mit seinen Werken benötigt keine
kalendarische Rechtfertigung, wohl aber einen wachen Geist und ein offenes Herz.
Vier Romane verfasste er in 76 bewegten Lebensjahren zwischen Westafrika, Asien und Europa.
Er, der Nachkomme einer traditionsreichen Jägerdynastie aus dem Volk der Malinké, der zwangsrekrutierte Soldat der französischen Armee im Indochina-Krieg,der studierter Versicherungsmathematiker. Mehr als 25 Jahre seines Lebens verbrachte der ivorische Schriftsteller Ahmadou
Kourouma im Exil in Algerien, Kamerun, Togo und Frankreich. Seine drei ins Deutsche übersetzten Bücher erzählen von afrikanischen Realitäten, traditioneller Magie und der blutverschmierten Fresse von Macht und Gier auf lokalen und globalen Bühnen.
„Ich schreibe mit den Afrikanern für die Europäer. Ich schreibe wie sie, ich nehme ihre Probleme
und breite sie vor den Europäern aus.“, hat er kurz vor seinem Tod im Jahre 2003 gesagt. Wenden wir unseren Blick also ab von statistischen Analysen sesselfurzender Experten, großzügigen
Geberkonferenzen oder treu-doofen ZDF-Fernsehfilmen und lauschen stattdessen einer der kritischsten Stimmen afrikanischer Literatur. Von Ole Schwabe.
I. Sonnen und Finsternis
Der schwarze Fürst (Erstausgabe Wuppertal 1970; Neuauflage
als „Der letzte Fürst“ 2004)
„Freunde, Verwandte und selbst nur vorbeikommende legten Geschenke und Opfergaben nieder, die
dann unter den Teilnehmern und den großen Malinké-Familien in der Hauptstadt verteilt wurden.“
Zu genau so einer große Malinké-Familie gehört auch Fama. Genauer gesagt zu einem der,
und hier sind wir bereits am Knackpunkt angelangt, ehemals mächtigsten Clans. Ist doch Fama
Doumbuya der „letzte legitime Sproß der Doumbouya-Fürsten von Horodougou, deren Totem der
Panther ist.“
Der Abstieg von einem einst geachteten, wohlhabenden Händler mit Panther-Totem zu einer
verachteten „Hyäne“, welche von den auf Beerdigungen erschlichenen Opfergaben lebt, kam
selbstverständlich weder grundlos noch über
Nacht, sondern nach und nach , unter den flirrenden Strahlen der „Sonne der Unanhängigkeiten.“
Diese verbrannte alles, was einem Mande-Malinké Fürsten wie Fama Lebensinhalt und Identität gewesen war: Krieg und freier Handel. Ersteres
war durch die Kolonialzeit ausgemerzt worden,
der freie Handel hingegen war auch den französi„In der Früh und am Abend ziehen sie von einem schen Kolonialherren ein Herzenswunsch. Nach
Viertel zum anderen, um bei den Feierlichkeiten der Unabhängigkeit im Jahre 1960 war es, begünstigt durch Korruption, Chaos und der Podabeizusein.“
litisierung des Alltags- und Geschäftslebens, mit
Und das lohnt sich, zumindest wenn das früher dem freien Handeln schnell vorbei.
so florierenden, eigene Unternehmen von Umbrüchen und Pechsträhnen hernieder gerafft Fama kochte vor lauter Jammer, daß er so sehr die
wurde.
Nicht nur die tropische Sonne brennt im Jahre
1965 erbarmungslos auf die „Ebenholzküste“ herab, nein auch die „Sonne der Unabhängigkeiten
nahm die eine Hälfte des Himmels ein, röstete das
Universum und dörrte es aus, als wollte sie die kranheitserregenden Nachmittagsgewitter rechtfertigen.“
Fama Doumbouya ist spät dran an diesem Tag,
dementsprechend hastet er durch das garstige
Geknatter der Hauptstadt, inmitten der Flut
derer, die keinen der von den neuen, schwarzen
Machthabern versprochenen Arbeitsplätze ergattern können. Sein Ziel ist eine traditionelle Beerdigungszeremonie der Mande-Malinké, jenem
stolzen Volk, dessen Angehörige in weiten Teilen
Westafrikas zu Hause sind. Doch gehört Fama
keineswegs zum wehklagenden Heer der Angehörigen, vielmehr zum abwartenden Haufen der
„Hyänenbande“.
33
Franzosen bekämpft und verabscheut hatte, etwa
so wie das Gräslein, welches murrte, weil ihm der
Käsebaum alle Sonne nahm; als der Käsebaum umgeschlagen war, bekam es alle Sonne, doch auch den
starken Wind, der es knickte.
Und so lebt Fama alleine mit seiner Frau Salimata und zu allem Überfluss mit Unfruchtbarkeit geschlagen, verarmt und verbittert in der
Hauptstadt.
© wasser-prawda
Bücher
Doch was brachten die Unabhängigkeiten für
Fama? Nur den nationalen Personalausweis und
das Mitgliedsbuch der Einpartei. [...]
Aufs Land kann er auch nicht zurück, weil er zu
alt ist (der Boden von Horodougou ist hart und lässt
sich nur umbrechen, wenn man starke Arme und
kräftige Lenden hat).
Selbstverständlich haben die hier leicht chiffrierten Pseudonyme „Einpartei“ ebenso wie „Sonne
der Unabhängigkeit“ oder „Ebenholzrepublik“
realweltliche Vorbilder. Erstere ist die Rassemblement Démocratique Africain (RDA), eine 1946
gegründete, politische Sammelbewegung der afrikanischen Territorien Frankreichs. Diese ging
mit der Unabhängigkeit im Jahre 1960, in der
Ebenholzrepublik, der Republik Elfenbeinküste, de facto in die „Parti Democratique de Côte
d’Ivoire“ (PDCI) über. Mitbegründet und dominiert wurden beide Bewegungen von Félix
Houphouët-Boigny, einer der Bedeutungen der
viel zitierten „Sonne der Unabhängigkeit“. Dieser
hatte im Jahre 1965 fünf Amtsjahre als Präsident
und Regierungschef auf dem Kerbholz, 27 weitere voll Peitsche und Zuckerbrot sollten folgen.
Satt fressen durften sich an letzterem bevorzugte
Geschäftsleute und Politiker des globalen Nordens, die Tubabas, welche Hand in Hand mit
ivorischen Parteifunktionären und Unternehmern der hemmungslosen Ausplünderung von
Land und Leuten frönten und bis heute frönen.
„Schwarzer, das heißt Verdammnis. Wohnhäuser,
Brükken, Straßen dort unten, alles von Afrikanerhänden erbaut, gehörten den Tubabas, dort wohnten sie. Daran änderten auch die Unabhängigkeiten nichts. Die Schwarzen stehen überall, unter
allen Sonnen und auf jedwedem Grund barfüßig
da, während sich die Weißen die größte Scheibe abschneiden und Fleisch und Fett nur so schlukken.“
Ein anderer Wind freilich wehte Intellektuellen
entgegen, falls sie die Frechheit besaßen, den
vom ehemaligen „Mutterland“ Frankreich und
Houphouët-Boigny verordneten, marktliberalen
und kulturell wie geopolitisch stramm westlichen
Kurs zu kritisieren. Ahmadou Kourouma selbst
musste nach einem 1963 veröffentlichten Theaterstück und der postwendenden Inhaftierung
inklusive, wie er es selbst ausdrückte, „ein wenig
Folter“ ins eingangs erwähnte, mehr als 25 Jahre
währende Exil gehen.
Im Jahre 1968 erschien sein Debüt unter dem
Originaltitel „Le Soleil des Indépendances“ in
einem kleinen kanadischen Verlag, zwei Jahre
später dann beim renommierten Verlag Editions
du Seuil in Paris.
„Sonnen der Unabhängigkeiten, die ihre Schatten
auf den Neger werfen“- vielen französischen Lektoren dieser Zeit erschienen feinsinnige Grobheiten dieser Art als abzulehnende Respektlosigkeit
gegenüber der französischen Sprache.
Inzwischen unter anderem mit dem Literaturpreis der Academie Francaise ausgezeichnet, wurde das Werk 1978 vom Ost-Berliner Verlag Rütten & Loening als „ Der Fürst von Horodougou“
erstmals auf Deutsch publiziert. Zwei Jahre später
folgte dann die Veröffentlichung des Peter Hammer Verlags Wuppertal für Westdeutschland, der
Titel diesmal: „Der schwarze Fürst“.
Die hüben wie drüben fade Übersetzungen des
im Französischen so klangvollen Titels (Le Sol-
eil des Indépendances; wörtlich: Die Sonne der
Unabhängigkeit), sollten nicht von der Lektüre abhalten. Denn Kourouma erzählt, neben
den Grundzügen der Biographie seines eigenen
Großvaters, vom harten, absurden Alltag unter
alten und neuen Sonnen. Als einer der ersten afrikanischen Schriftsteller seiner Generation verließ er mit „Der schwarze Fürst“ die von afrikanischen Intellektuellen wie Aimé Cesaire (Antillen)
und Léopold Sédar Senghor (Senegal) erarbeitete
Grundrichtung der „Negritude“. So dominieren
im Text weniger die in den Hauptwerken der
Negritude häufig vertretenen, idealisierten Hervorhebungen afrikanischer Kulturpraktiken und
Traditionen. Vielmehr beabsichtigt der Autor die
Reflexion traditioneller wie neuartiger Probleme
im Fluss des Lebens zwischen Vergangenheit und
Zukunft, nennt die Taten weißer wie schwarzer
Machthaber, zeichnet die Behäbigkeit einer patriarchalischen Gesellschaft ohne Existenzgrundlage samt dahin schmelzender Legitimation mit
kräftigen Strichen. Auch grausame Riten und
Traditionen stehen bei Ahmadou Kourouma auf
dem Prüfstand. Beklemmend erzählt Kourouma
von der rituellen Bescheidung Salimatas als junges Mädchen auf dem Dorf.
Die Sonne erhob sich rotglühend hinter den Baumkronen. Die Geier, vom Blutdunst angelockt, stiegen auf, hoch über die Wipfel und die Nebelschleier.
Hoch über den Köpfen zogen sie Kreise, stießen wil-
34
des Geschrei und Gekrächz aus. Die Beschneiderin
kam nun auf Salimata zu, setzte sich, ihre Augen
waren rot unterlaufen, Hände und Arme blutbesudelt, ihr Atem ging heftig und stoßweise.
Der so ausgelösten Schockstarre rückt der Fetischpriester in der darauffolgenden Nacht mit
einer brutalen Vergewaltigung zu Leibe.
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Das Parlamentsgebäude der Republik Elfenbeinküste in Yamoussoukro.
Der kleine Ausgang von einer Matte verdeckt, führte in die Nacht hinaus, in den Busch, in die Mysterien. In dem Augenblick, da die Sonne allmählich
schwere Lieder bekam, wurde die Matte beiseite
geschoben, etwas griff nach ihren Hüften und ließ
nicht los,etwas stieß in ihre Wunde;
hängigkeit hatte er mit der „Politik“ auf das falsche Pferd gesetzt.
Und dann wurde Politik ganz groß geschrieben.
Fama ließ alles stehen und liegen und stieg mit angeborener Redefertigkeit und mit Zuversicht ein.
Ein legitimer Sohn eines Häuptlings mußte mit
Eindringlich lässt Kourouma seine heimliche Leib und Seele bei der Vertreibung der Franzosen
Heldin sich an ihre, nach jahrelanger sexueller dabeisein. Politik hieß Männlichkeit, Rache; es galt,
Verweigerung erfolgte Verstoßung aus der Dorf- fünfzig Jahre Besetzung durch die Ungläubigen zu
gemeinschaft erinnern, ihre Flucht aus dem Haus schmähen, zum Kampf zu fordern, der Vernichtung
ihres brutalen Schwagers bis hin zur Begegnung preiszugeben.
mit Fama, ihrer einstigen großen Liebe.
Doch während Fama verbittert und antriebslos Auch dieses Mal ergattert er, der Analphabet und
durch die Straßen der Hauptstadt schleicht, un- Trampel, keinen der im postkolonialen Westafrifähig die Zeichen der Zeit beziehungsweise die ka so heiß begehrten Posten als „Generalsekretär
eigenen Unzulänglichkeiten zu erkennen, schuf- einer Untersektion der Partei oder Direktor einer
tet Salimanta tagtäglich hart, kocht und verkauft Kooperative.“
Reis auf Märkten und den großen Baustellen am Eines Komplotts beschuldigt wird er inhaftiert,
Ufer der Lagune.
gefoltert, verurteilt und nach wer weiß wie vieIhr sehnlichster Wunsch nach einem Kind je- len Jahren im Rahmen einer grell inszenierten
doch bleibt, trotz unzähliger Fetische, Tinkturen Massenbegnadigung zur Nationalen Aussöhnung
und Opfertiere, unerfüllt. Schließlich, als Fama frei gelassen. Gezeichnet von Haft und Versagen
in den Foltergefängnissen der „Sonne der Unan- kennt er danach nur noch eine Richtung.
hängigkeit“ verschwindet, lässt sie sich von einem befreundeten muslimischen Marabout das Fuhr Fama nach Togobala, um ein neues Leben
lang ersehnte Kind machen.
zu beginnen? Nein und nochmals nein! So widerEinige Monate davor reist Fama zu Feierlichkei- sprüchlich es auch schien, Fama fuhr nach Horoten zurück in sein Dorf, welches sich nach den dougou, um so bald wie möglich zu sterben.
Umwälzungen der Unabhängigkeiten auf dem
Staatsgebiet der „sozialistischen Republik Niki- Genau dieser Fall tritt schneller ein als befürchtet
nai“ befindet, der sprachlichen Verballhornung und im tragisch-komischen Ableben Famas zwifür Guinea unter seinem sozialistischen Unter- schen künstlichen Grenzen spiegelt sich Kouroudrücker Sékou Touré. Schnell steht Fama ohne mas scharfsinnig Analyse der wirren Epoche.
ausreichend Geld da, um die von ihm als „Fürst“
erwarteten Wohltätigkeiten und Opfertiere be- „Die heiligen Kaimana Horodougous würden den
zahlen zu können.
letzten Sproß der Doumbouya nicht anzugreifen
Warum Fama schon bald nach seiner Rückkehr wagen.“
verschwindet? Wie bereits zu Zeiten der Unab- „Der schwarze Fürst“ gehört, über 40 Jahre nach
seinem erstmaligen Erscheinen, zu jeder halb-
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wegs ausgestatteten westafrikanischen Schulbibliothek. Doch auch wir sollten es lesen und
durchdenken. Hauptgrund hierfür ist, neben der
spannenden Abkehr von der Negritude, Kouroumas Ausdrucksweise. Sein Romandebüt legte den
Grundstein für eine Sprache, deren Muster und
Rythmus dem Malinké entstammt, während sich
ihr Wortschatz aus dem Französischen speist.
„Kourouma spricht auf Französisch Malinké.“,
lobte einst sein senegalesischer Schriftstellerkollege Cheikh Hamidou Kane. Dazu gehört auch
das Erzählen in der Tradition der mündlichen
Überlieferung, ausgeübt von den traditionellen
Hofpoeten, den Grioten. In ihren Fußstapfen
bewegt sich Ahmadou Kourouma in all seinen
Romanen. Sein Schreibstil ist in Freud wie Leid
bunt und verspielt wie der Blick der empfindsamen Schelms, leidenschaftlich und blitzgescheit.
Alle naselange wachsen Metaphern und Gleichnisse, mal frivol, mal schwermütig, aber immer
fabelhaft.
Die elf Kapitel des in drei Teile gegliederten, 208
Seiten langen Buches tragen klangvolle Namen
wie „Um den Hals die Zaubereisen, mit Stahlstacheln gespickt, wie beim Jagdhund auf Pavianhatz.“, „Mit abgemessenen Schritten hinein in die
Nacht des Herzens und ins Dunkel der Augen“ oder
„Die wilden Vögel begriffen als erste die historische
Tragweite der Ereignisse.“.
Unverdünnter Alltagsstoff und schwer greifbare
Magie künden so von Umbrüchen, vom Scheitern, von der Wandelbarkeit sozialen Ansehens,
zweischneidigen politischen Schwertern und der
unfassbaren Reduzierbarkeit verachtenswerter
Erscheinungen auf die Melange aus Mensch und
Geld. Ein Buch von erschreckender Zeitlosigkeit,
scharfem Blick und großem Witz. Vermutlich
wird es gerade deshalb viel zu wenig gelesen.
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Annabel Pitcher Meine Schwester lebt
auf dem K aminsims
„Ich war erst fünf, als es passiert ist. Jasmine war zehn. Sie
war Rose‘ Zwillingsschwester.
Und für Mum und Dad bleibt
Jasmine immer zehn.“
Rose, die ältere Schwester des kleinen Erzählers
ist tot. Sie starb bei einem Terroranschlag in London, als ein Papierkorb im Park direkt neben ihr
explodierte. Jamies Eltern machen sich gegenseitig Vorwürfe und vergessen darüber ihre noch lebenden Kinder. Die Mutter brennt irgendwann
durch und der Vater ertränkt sich im Alkohol.
Ein Eltern-Paar, dass sich irgendwie nie einig war.
Selbst die gefundenen Überreste ihrer Geliebten
Tochter werden gerecht unter den Eheleuten aufgeteilt. Die Mama bekommt ein Grab auf einem
Londoner Friedhof, das sie dann aber doch nicht
zu besuchen wagt, und der Vater stellt sich „seine“ Körperteile eingeäschert auf den Kaminsims,
weil er es nicht übers Herz bringt, die Asche ins
Meer zu streuen.
Als Jamie Geburtstag hat, futtert er aus Trotz der
Urne das vom Vater bereitgestellte Tortenstück
weg. Und genau darum scheint es in dem Roman
zu gehen: sich von einer Toten nicht die Butter
vom Brot nehmen zu lassen. So beginnt er eine
Freundschaft mit Sunya, seiner muslimischen
Schulkameradin, obwohl der Vater Muslime für
Rose‘ Tod verantwortlich macht und vor allem
mit den beiden Kindern aufs Land gezogen ist,
weil es dort keine Muslime gäbe.
Eigentlich leidet Jamie nicht unter dem Tod der
Schwester. Er selbst kann sich nur an wenige
Augenblicke mit ihr erinnern. Aber dass seine
Mutter sich aus dem Staub macht, seine Schwester das Essen verweigert und der Vater unerreichbar wird, bleibt für ihn nicht ohne emotionale
Folgen.
Dass Pitcher die Perspektive des 10-jährigen Jungen ohne Erinnerung wählt, macht den Roman
zu einem Buch über Trauer, Familie, Liebe und
Toleranz ohne jede Theatralik, ohne Zynismus,
ohne Gefühlsduselei.
Ein Buch, das auf eindringliche Weise zeigt, wie
Kinder in einer Familie überleben, wenn ein Kind
stirbt, in dem aber auch Sätze wie : „Hier sieht
es ganz anders aus als in London. Es gibt Berge,
die so hoch sind, dass sie Gott in den Po pieken
könnten“ stehen, und in dem der Leser auch ger-
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ne mit einem Zehnjährigen über die Dummheiten seines Vaters herzhaft lachen kann.
Ganz allgemein bin ich kein großer Fan davon,
wenn Erwachsene versuchen, Bücher über Kinder aus ihrer Perspektive zu schreiben. Annabell
Pitcher aber ist es gelungen, ein Buch über und
für Kinder zu schreiben, wie auch über und für
Erwachsene, das sich zu lesen und zu verschenken definitiv lohnt.
Kristin Gora
Annabel Pitcher, Meine Schwester
lebt auf dem Kaminsims
Roman
Aus dem Englischen übersetzt von Sibylle
Schmidt
224 Seiten
Wilhelm Goldmann Verlag München 2012
ISBN: 978-3-442-31253-5
16,99 Euro (Hardcover)
13,99 Euro (eBook)
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Feuilleton
Zbigniew Przadk a yesterday‘s heroes
(d:gallery, K assel)
Schenkt man mächtigen Meinungsbildnern Glauben, dann hat Kassel nur während der 100 Tage
dauernden dOCUMENTA 13 in den nur für diese Ausstellung vorgesehenen Räumen wirklich
Kunst zu bieten. Für die der begehrte Besucher naturlich angemessen bezahlen muss. Wer nach
Kassel kommt kann aber auch neben der dOCUMENTA fündig werden, und dass mindestens
ebenso international, ebenso spannend und dazu noch deutlich preisfreundlicher. Der Pole Zbigniew Przadka ist einer von diesen Künstlern, die in Kassel derzeit in der zweiten Reihe stehen
und doch bereit sind, auf die Überholspur zu wechseln. Teile seines Werkes „yesterday‘s heroes“ sind derzeit in der d:gallery in Kassel-Wehleiden zu sehen. - Unser Autor Lüder Kriete empfiehlt die Begegnung mit dieser Kunst ganz nachdrücklich.
Mit seiner offen Werk-Reihe „yesterday‘s heroes“
zeigt Zbigniew Przadka einen kleinen repräsentativen Ausschnitt aus der bis jetzt über 60 Werke umfassenden Serie. Diese Werkschau ist ein
Teil der aktuellen Ausstellung „80 Tage KunstStaffel“ in der Kasseler d:gallery. Meist entstehen
am Anfang kleine, einzelne Miniaturen, etwa in
der Größe einer Zigaretten-Schachtel, die dann
zu einer Gruppe, einem Ensemble, einer Combo, einer Band von 6 bis 13 Bildern auf einem
Tableau zusammengestellt werden. Zeitlich entstehen diese Helden oft später am Abend, nach
getaner Arbeit, einem entspannenden Schoppen Rotwein und einer harmonischen, kreativen
Spannung neben der Ruhe zum Geniessen.
Grundlage ist meist eine Zeichnung. Diese wird
auf Kreidepapier mit Tusche und Wachs aufgetragen. Dazu ein magisches Tröpfchen Wasser
und die künstlerische Erfahrung des Meisters,
so entsteht auf dem Blatt eine einzigartige Mischung, die an frühe Daguerreotypie erinnert. Je
nach Intensität der Farben kann auch der Eindruck von Emaille-Arbeiten entstehen. Beabsichtigt waren diese Effekte nicht, sie enstanden im
schöpferischen Prozess und haben sich quasi ihr
Thema selbst gesucht.
„yesterday‘s heroes“ das ist wie eine Rückschau
auf die kreativen Kräfte, ihre Verwandlung durch
die Zeit, ihre Verwandlung im Betrachter und
auch Hörer. Denn diese Bilder tönen, sprechen,
verkünden eine Botschaft. Wer „live“ vor diesen
Bildern steht, der empfindet intuitiv den zu ihm
sprechenden, im Bild lebenden; ist es Mick Jagger, Keith Richards, Willy DeVille oder gar Karl
May? Und doch sind es keine Portraits dieser
Menschen, es ist mehr der ‚Spirit‘ dieser Wesen
und ihrer Kunst, der in eine intime Kommunikation mit dem Betrachter tritt. Die Leute kenn
ich doch von damals, das war doch gleich um
die Ecke bei uns oder war‘s damals vor‘m TwenClub oder vielleicht doch bei . . . Die Beatles
haben mit ihrem Hit „Yesterday“ sicherlich einen
Impuls für diese Reihe gegeben, aber eine reine
‚Musik-Revue‘ ist es eben nicht. Es ist strömende Zeit in Bildern, dargestellt in vielen kleinen
Facetten. Schön, retro und doch kein bisschen
nostalgisch.
Eine neuerliche Verwandlung erfährt die Technik, indem die kleinen Miniaturen fotografiert
und auf etwa DIN A 2 vergrößert werden. Sieben solcher „großen Bilder“ sind in der d:gally
zu sehen. Diese Vergrößerungen werden zudem
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noch mit Farbe weiter bearbeitet, sodass es nicht
beim reinen Druck bleibt.
Die Preise für diese Tableaus und Drucke bewegen sich in einem sehr moderaten Rahmen im
unteren dreistelligen Bereich. Auch in diesem
Bereich kann der dOCUMENTA 13 also locker
paroli geboten werden.
Zbigniew Przadkas
„yesterday‘s heroes“ können
in der d:gallery, Schönfelder
Str. 41 b, 34121 Kassel, besucht werden.
Die Öffnungszeiten sind Do +
Fr 15-19; Sa 11-19; So 11-16
mit Brunch. Tel.: 0561 - 766
08 077
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Feuilleton
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Feuilleton
Isabel Wienold Digitale Collagen
Jürgen Buchmanns „Memoiren eines Münsterländer Mastschweins“ laden mit ihrer überbordenden Fabulierlust geradezu dazu ein, sie
auch grafisch oder mit anderen Medien umzusetzen. Seine Uraufführung fand das Werk denn
auch 2011 als halbszenische Inszenierung. Dafür fertigte die Bielefelder Grafikerin Isabel
Wienold eine Serie digitaler Collagen an, die
zunächst als Bühnenhintergrund dienten. Doch
die aus diversen Werbebeilagen zusammengefügten Bilder wirken auch als eigenständige Arbeiten. Das Schwein und seine Odyssee
durch die Weiten Ostwestfalens hin nach Bielefeld werden zusammengesetzt aus Fotografien
von Lebensmitteln zwischen Knäckebrot und
Schweinemett und geben dem Text eine ganz
eigene komische (oder auch konsumkritische)
Deutungsebene. Wird doch der „natürliche“
Weg des Mastschweins vom Koben zur Fleischertheke oder den heimischen Grill den Anstrengungen des Tieres, als Autor die Sprache
zu Fall zu bringen entgegen gestellt.
Von den zehn Collagen, die im Format A 3 als
Einzelstücke gedruckt wurden, können einzelne Exemplare über die Redaktion der WasserPrawda bestellt werden. Der Preis beträgt pro Isabel Wienold (Jg. 1964) arbeitete von 1995Bild 15 Euro. Für 12 Euro kann man die ge- 99 als Gestalterin bei der politischen Wochenzeitung StadtBlatt in Bielefeld.
samte Serie als Postkarten erwerben.
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Seit 2000 ist sie als selbständige Grafikdesignerin und Illustratorin hauptsächlich für gemeinnützige Organisationen tätig.
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Feuilleton
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Feuilleton
Edgar Wallace
A.S. der Unsichtbare
The Valley of Ghosts (1922)
Kriminalroman
Aus dem Englischen übertragen von Ravi Ravendro
2
Nachdem man in Beverley angekommen war, mußte Andy erst noch einige Formalitäten erledigen, bevor der Gefangene nach London überführt werden konnte.
Es wurde ihm auf der Polizeistation mitgeteilt, daß die Überführung erst noch von
einem lokalen Justizbeamten genehmigt und angeordnet werden müsse.
»Wo kann ich denn einen finden?« fragte Andy.
»Da ist zunächst Mr. Staining, Sir«, sagte der Polizeisergeant gemütlich, »aber
der ist gerade krank. Dann Mr. James Bolter, aber der ist auf Urlaub. Mr. Carrol
– gut, daß ich daran denke, der ist zur Pferdeschau gegangen. Er züchtet nämlich
–«
»Es scheint hier etwas in der Luft zu liegen«, unterbrach ihn Andy, »das die
Leute schwatzhaft macht, Sergeant. Aber vielleicht habe ich mich nicht deutlich
genug ausgedrückt. Ich wollte nicht die Leute wissen, die nicht zu sprechen sind.
Gibt es hier in der Nähe denn niemand, der das Amt eines Friedensrichters verwaltet?«
»Ja, wir haben hier einen solchen Herrn«, erwiderte der Sergeant mit Nachdruck. »Mr. Boyd Salter. Der wird Ihnen den Schein ausstellen.« Er fügte aber
vorsichtig hinzu: »Wenn er zu sprechen ist.«
Andy mußte lachen, machte sich aber doch auf, um sein Heil bei Mr. Boyd
Salter zu versuchen.
Er fand, daß der nächste Weg zu dessen Haus nicht über Beverley Green führte. Mr. Salters Ländereien grenzten an Beverley, man konnte am Ende der Stadt
durch ein großes Parktor zu seinem Besitz kommen. Andy hatte es schon vorher
bemerkt und war neugierig gewesen, wer da wohnen mochte.
Beverley Hall, der Sitz Mr. Boyd Salters, war ein stattliches Gebäude, das im
Stil des berühmten Iñido Jones erbaut war.
Hier herrschten Schweigen und Ruhe. Das Ticken einer Standuhr war das einzige Geräusch, das Andy vernahm, als er in die geräumige, mit Steinfliesen ausgelegte Halle geführt wurde. Der Diener, der Andys Karte hineintrug, ging völlig
geräuschlos, und Andy bemerkte zu seinem Erstaunen, daß der Mann Gummischuhe trug. Als dieser nach einiger Zeit zurückkehrte, bat er den Detektiv, näher
zu treten.
»Mr. Salter ist leidend. Wenn Sie in seiner Gegenwart recht leise und ruhig
sprechen wollten, würde er Ihnen sicher sehr dankbar sein.«
Andy erwartete nun, einen schwerkranken, zitternden, alten Herrn zu finden,
der in einem Sessel saß und von vielen Kissen gestützt wurde. Aber er trat einem
gesund aussehenden Mann von etwa fünfzig Jahren gegenüber, der lebhaft aufschaute, als sein Besucher den Raum betrat.
»Guten Tag, Mr. Macleod. Was kann ich für Sie tun? Ich sehe, daß Sie Polizeibeamter sind«, sagte er und betrachtete die Karte noch einmal.
Andy erklärte ihm die Ursache seines Besuches.
»Es ist nicht nötig, daß Sie so leise sprechen«, meinte Mr. Salter lächelnd. »Tilling hat Sie wahrscheinlich darum gebeten? Manchmal bin ich allerdings sehr
nervös, aber heute habe ich einen guten Tag.«
Er las das Schriftstück durch, das Andy ihm vorlegte, und unterschrieb es.
»Unser Freund ist der Diamantenräuber, nicht wahr? Wo hat er sich denn versteckt gehalten?«
»In Ihrer Gartenstadt«, erwiderte Andy.
Ein Schatten legte sich über Mr. Salters schöne Gesichtszüge.
»Sprechen Sie von Beverley Green? Er war natürlich im Gästehaus?«
Andy nickte.
»Haben Sie einen der Villenbesitzer getroffen?«
»Ja – Mr. Merrivan.«
»Es sind merkwürdige Leute!« sagte Mr. Salter nach einem kurzen Schweigen.
»Wilmot, sein Neffe, ist ein sonderbarer Mensch. Ich weiß nicht, was ich aus ihm
machen soll. Mir ist schon öfters der Gedanke gekommen, daß er ein Gentlemanverbrecher ist. Wirklich, ein merkwürdiger Kerl! Und dann dieser Nelson – ein
heruntergekommener Bursche! Trinkt wie der Teufel!«
Andy erinnerte sich jetzt an die Geschichte, die er von dem Künstler gehört
hatte.
»Er hat ja wohl eine Tochter«, warf Andy hin.
»Ja, ein hübsches Mädchen. Wilmot soll mit ihr verlobt sein. Mein Sohn erzählt
mir alle diese Neuigkeiten, wenn er zu Hause ist. Der bringt alles heraus. Er müßte eigentlich Detektiv werden – er ist aber noch auf der Schule.«
Er schaute auf den Haftbefehl, löschte die Unterschrift ab und reichte Andy das
Schriftstück über den Tisch.
»Mr. Merrivan scheint ein sehr liebenswürdiger Herr zu sein«, setzte Andy die
Unterhaltung fort.
»Ich weiß nichts Genaueres über ihn. Ich habe noch nicht mehr als ›Guten Tag‹
zu ihm gesagt. Er scheint harmlos zu sein, ein wenig langweilig, aber harmlos,
und er redet zuviel – wie alle Leute in Beverley.«
Um diese lokale Eigenart zu bestätigen, sprach er dauernd weiter und erzählte
die Geschichte von Beverley und seinen Bewohnern. Plötzlich brachte er das Gespräch auf den Herrensitz.
»Es ist ein schöner, ruhiger Platz, aber es ist auch sehr teuer, ihn zu unterhalten.
Ich wäre nicht imstande gewesen, für alles aufzukommen, wenn –«
Er sah schnell fort, als ob er fürchtete, der Besucher könnte seine Gedanken
lesen. Erst nach einiger Zeit begann er wieder zu sprechen.
»Haben Sie jemals mit dem Teufel zu tun gehabt, Mr. Macleod?« Er scherzte
nicht, sein Blick war ernst und fest.
»Ich bin schon einer ganzen Anzahl kleinerer Teufel begegnet«, erwiderte Andy
lächelnd, »aber ich habe noch nicht das Vergnügen gehabt, ihr Oberhaupt in
Person kennenzulernen.«
Mr. Salter schaute Andy mit abwesendem Ausdruck an, obwohl eine sonderbare Bestimmtheit in seinem Blick lag. »In London lebt ein gewisser Albert Selim«,
sagte er dann langsam, »dieser Kerl ist ein Teufel. Ich erzähle Ihnen das nicht,
weil Sie Polizeibeamter sind. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich davon spreche.
Ich habe schon so manchen Verhaftungsbefehl unterzeichnet, aber niemals habe
ich die Feder aufs Papier gesetzt, ohne an diesen größten aller Verbrecher zu denken. Er ist ein Mörder – ein Mörder!« Andy war bestürzt.
»Er hat Menschen getötet, er hat ihre Herzen gebrochen und sie vorzeitig unter die Erde gebracht. Einen meiner Freunde hat er fast erdrosselt!« Bei diesen
Worten preßte er seine Hände so krampfhaft zusammen, daß die Knöchel weiß
wurden.
»Albert Selim?« Andy wußte nichts anderes zu sagen.
Mr. Salter nickte.
»Wenn er, wie ich hoffe, eines Tages doch einen Fehler macht und in Ihre Hände fällt, wollen Sie mir dann den Gefallen tun und mich benachrichtigen? Aber
dazu wird es wohl nie kommen – der läßt sich nicht fangen!«
»Ist er arabischer Herkunft?«
Boyd Salter schüttelte den Kopf: »Ich habe ihn nie gesehen. Ich habe auch noch
niemand getroffen, der persönlich mit ihm. zusammengekommen wäre«, sagte er
zu Andys größtem Erstaunen. »Nun will ich Sie aber nicht länger aufhalten, Mr.
Macleod. Was haben Sie eigentlich für einen Rang, wenn ich fragen darf?«
»Die Frage habe ich mir auch schon öfters vorgelegt. Ich habe Medizin studiert.«
»Sie sind Arzt?«
Andy nickte: »Ich führe viele Untersuchungen und Obduktionen aus. Ich bin
eigentlich Pathologe.«
Boyd Salter lächelte: »Dann hätte ich Sie mit ›Doktor‹ anreden sollen. Sie haben
sicher in Edinburgh studiert?«
Andy bejahte die Frage.
»Ich habe eine Vorliebe für Ärzte. Meine Nerven quälen mich entsetzlich. Gibt
es dagegen nicht ein Heilmittel?«
»Psychoanalyse. Mit ihrer Hilfe kann man krankhafte Komplexe erkennen und
aus dem Denken ausschalten. – Leben Sie wohl.«
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Ein Gespräch über Medizin war das sicherste Mittel, Andy zum Aufbruch zu
veranlassen.
»Auf Wiedersehen, Herr Doktor. Sie sehen noch sehr jung aus für Ihre Stellung
– Sie sind doch nicht älter als dreißig oder einunddreißig?«
»Sie haben es richtig getroffen,« erwiderte Andy lachend und verabschiedete
sich.
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Stella Nelson verließ das Postamt in Bestürzung und Schrecken. Obgleich sie
sich nicht umsah, wußte sie doch, daß ihr der Herr mit den scharfgeschnittenen
Gesichtszügen aus der Telefonzelle nachschaute. Was würde dieser Mann denken,
für den wahrscheinlich schon das kleinste Zucken eines Augenlides Bedeutung
hatte? Sie war beinahe schwach geworden, als sie das Wort ›Detektiv ‹ hörte; er
hatte auch sicher gesehen, wie sie schwankte und blaß wurde, und er mußte sich
über ihr Benehmen gewundert haben. Am liebsten wäre sie davongelaufen; und
es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, ihre Schritte nicht noch mehr zu beschleunigen. Sie ging rasch den Abhang zum Bahnhof hinunter. Dort erfuhr sie, daß
sie noch eine halbe Stunde bis zum Abgang des Zuges zu warten hatte. Sie war so
frühzeitig von zu Hause fortgegangen, weil sie noch einige Besorgungen machen
wollte. Aber konnte sie zurückkehren? Durfte sie sich seinen forschenden Blicken,
die sie so erschreckt hatten, noch einmal aussetzen? Schließlich ging sie zurück.
Ihr Selbstbewußtsein zwang sie dazu. Und sie atmete erleichtert auf, als sie sah,
daß der dunkelblaue Wagen verschwunden war. Sie eilte von einem Geschäft zum
anderen, um so schnell wie möglich fertig zu werden. Nach kurzem Zögern wandte
sie sich wieder zum Postamt und kaufte noch einige Marken.
»Welchen Beruf hatte der Herr, von dem wir vorhin sprachen?« Es kostete sie
einige Mühe, ruhig zu fragen.
»Er war Detektiv, mein Fräulein«, sagte der alte Postbeamte wichtig. »Ich weiß
nicht, hinter wem er her ist.«
»Wohin ist er denn gegangen?« Sie fürchtete schon die Antwort.
»Er wollte nach Beverley Green fahren, wie er mir sagte.«
Der Postbeamte schien nicht das beste Gedächtnis zu haben, sonst hätte er sich
darauf besinnen müssen, daß Andy eine solche Absicht nicht geäußert hatte.
»Nach Beverley Grenn?« wiederholte sie langsam.
»Er heißt Macleod!« rief er plötzlich. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich!«
»Wissen Sie, ob er hier wohnt?«
»Nein, mein Fräulein, er ist nur auf der Durchreise. Banks, der Fleischermeister,
wollte es nicht glauben, daß wir einen richtigen Detektiv in der Stadt hatten –
einen Beamten von Scotland Yard. Macleod machte die entscheidende Zeugenaussage in dem Marchmont-Giftmordprozeß. Erinnern Sie sich nicht ...? Das war
eine aufregende Geschichte! Ein Mann vergiftete seine Frau, weil er eine andere
heiraten wollte, und durch Macleods Aussage kam er an den Galgen. Für Mordprozesse habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis.«
Sie ging jetzt langsam zum Bahnhof und löste ihre Fahrkarte. Ungewißheit,
Zweifel und Furcht quälten sie. Der Gedanke, auch nur ein paar Stunden abwesend zu sein, während dieser Mann hier herumspionierte, erschien ihr unerträglich. Der Himmel mochte wissen, welche Absichten er hatte.
Wieder wandte sie sich der Stadt zu, aber dann hörte sie den Zug pfeifen. Kurz
entschlossen ging sie zum Bahnhof zurück. Sie wollte ihren ursprünglichen Plan
ausführen. Sie haßte Macleod. Sie haßte und fürchtete ihn zugleich. Sie zitterte
bei der Erinnerung an seinen durchdringenden, prüfenden Blick, der so deutlich
sagte: ›Du hast etwas zu fürchten.‹ Sie versuchte im Zug zu lesen, aber ihre Gedanken waren nicht bei der Zeitung, und obwohl ihre Blicke den Zeilen folgten,
sah und las sie doch nichts. Als sie sich ihrem Ziel näherte, wunderte sie sich,
daß ihr jemals der Gedanke gekommen war umzukehren. Sie hatte doch nur
noch eine Woche Zeit, um diese schreckliche Sache zu ordnen – nur noch eine
Woche, und jeder Tag zählte. Vielleicht hatte sie Erfolg und kehrte am Nachmittag glücklich zurück, jauchzend vor Freude. Wie schön wäre es, wenn sie durch
dieselben Felder und über dieselben Brücken mit ruhigem Gemüt nach Hause
fahren könnte. Mechanisch betrachtete sie durch das Fenster die Landschaft, an
der sie ihr Zug vorbeiführte. Ihre Träumereien waren zu Ende, als sie ausstieg. Sie
eilte durch die drängende Menschenmenge. Ein Taxi kam auf ihren Wink heran.
»... Ashlar Building?« sagte der Chauffeur überlegend. »Ja, ich weiß, was Sie
meinen, Fräulein.«
Ashlar Building war ein großes Bürohaus; sie hatte es noch nie gesehen und
wußte auch nicht, wie sie den Mann finden sollte, den sie sprechen mußte. In
der Eingangshalle sah sie jedoch die Firmentafeln, die die zwei einander gegenüberliegenden Wände bedeckten. Sie las eine nach der anderen, bis sie plötzlich
anhielt.
»309, Albert Selim.«
Seine Geschäftsräume lagen im fünften Stock. Es dauerte einige Zeit, bis sie
das Büro gefunden hatte, denn es lag am Ende eines langen Flügels. Sie sah zwei
Türen. Die eine trug die Aufschrift ›Privat‹, die andere ›Alb. Selim‹.Sie klopfte an,
und jemand rief: »Herein!«
Eine kleine Schranke trennte den eigentlichen Büroraum von dem schmalen
Gang, in dem sich die Besucher im allgemeinen aufhalten durften.
»Nun, Miss?«
Der Herr, der auf sie zutrat, sprach barsch, beinahe feindselig.
»Ich möchte Mr. Selim sprechen«, sagte sie, aber der junge Mann schüttelte den
Kopf.
»Das ist unmöglich, wenn Sie nicht eine Verabredung mit ihm haben. Und
auch dann würde er nicht persönlich verhandeln.« Plötzlich unterbrach er sich
und sah sie groß an. »Aber Sie sind doch Miss Nelson«, sagte er dann erstaunt.
»Ich hatte nie erwartet, Sie hier zu sehen.«
Sie wurde über und über rot und versuchte vergeblich, sich zu besinnen, woher
er sie kennen konnte.
»Sie erinnern sich sicher – Sweeny ist mein Name.«
Sie errötete noch mehr.
»Ja, natürlich – Sweeny.«
Sie war bestürzt und fühlte sich gedemütigt, als sie ihn erkannte.
»Sie haben seinerzeit Ihre Stelle bei Mr. Merrivan sehr schnell verlassen?«
Nun wurde es ihm ungemütlich, als das Gespräch diese Wendung nahm.
»Ja, das stimmt.« Er räusperte sich verlegen. »Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Mr. Merrivan. Ein geiziger Mensch! Und schrecklich mißtrauisch!«
Er räusperte sich wieder. »Haben Sie damals nichts darüber gehört?«
Sie verneinte. Die Dienstboten blieben nicht lange genug im Nelsonschen
Haus in Stellung und wurden nicht so vertraut mit ihrer Herrschaft, daß sie über
Klatsch sprechen konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten.
»Nun, die Sache verhielt sich so.« Mr. Sweeny war ein wenig erleichtert, daß er
Gelegenheit hatte, ihr die Geschichte zuerst von seinem Standpunkt aus zu erzählen. »Mr. Merrivan vermißte einige Stücke seines Tafelsilbers, die ich unglücklicherweise meinem Bruder geliehen hatte, der sie kopieren wollte. Er interessierte
sich sehr für altes Silber, da er selbst gelernter Juwelier und Goldschmied ist. Als
nun Mr. Merrivan die Stücke vermißte –« Er hustete wieder, wurde sehr verwirrt
und sagte, er sei bezichtigt worden, das Silber gestohlen zu haben! Mr. Merrivan
hatte ihn fristlos entlassen! »Ich hätte damals verhungern können, wenn nicht
Mr. Selim von mir gehört und mir diese Stellung gegeben hätte. Sie ist nicht gerade glänzend«, fügte er entschuldigend hinzu, »aber es ist doch wenigstens etwas.
Ich wünsche oft, ich wäre wieder dort in dem hübschen Tal von Beverley Green.«
Sie unterbrach ihn: »Wann kann ich denn Mr. Selim sprechen?«
Aber er schüttelte wieder energisch den Kopf.
»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, Miss Nelson. Ich habe
ihn selbst auch noch nicht gesehen.«
»Wie?« Sie starrte ihn verwirrt an.
»Das ist eine Tatsache. Er ist Geldverleiher – aber das brauche ich Ihnen doch
nicht zu erzählen.«
Er sah sie mit einem wissenden Blick an, und sie wäre am liebsten vor Scham
in den Boden versunken.
»Er wickelt alle seine Geschäfte brieflich ab. Ich empfange hier die Besucher
und bespreche mit ihnen die Angelegenheit. Damit ist aber noch nicht gesagt,
daß er sich daran hält«, erklärte er. »Die Kunden füllen dann die Formulare aus
– Sie verstehen mich schon –, sie geben an, welche Summe sie brauchen, welche
Sicherheiten sie bieten können und dergleichen Dinge – und ich lasse dann die
Schriftstücke hier im Geldschrank für Mr. Selim, bis er kommt.«
»Wann kommt er denn?«
»Das weiß Gott allein«, erwiderte Mr. Sweeny. »Auf jeden Fall kommt er hierher, denn die Briefe werden zwei- bis dreimal wöchentlich abgeholt. Er setzt sich
dann schriftlich mit den Leuten in Verbindung. Ich erfahre niemals, welches
Darlehen sie erhalten oder wieviel sie zurückzahlen.«
»Gibt er Ihnen seine Aufträge auch schriftlich?« fragte Miss Nelson, deren Neugierde im Augenblick über ihre Enttäuschung siegte.
»Nein, er telefoniert mit mir, ich weiß aber niemals, woher. Es ist überhaupt
eine sonderbare Stellung. Ich bin nur je zwei Stunden an vier Tagen der Woche
beschäftigt.«
»Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, ihn zu sprechen?« fragte sie noch
einmal verzweifelt.
»Nein, nicht die geringste«, entgegnete Mr. Sweeny, der wieder überheblich
wurde. »Es ist nur ein Weg vorhanden, mit Albert Selim geschäftlich zu. verkehren – man muß ihm schreiben.«
Sie dachte eine Weile nach.
»Geht es Mr. Nelson gut?«
»Danke, sehr gut«, antwortete sie hastig, »es ist sehr liebenswürdig von Ihnen,
sich nach meinem Vater zu erkundigen. Ich –« Es war ihr unerträglich peinlich,
einen Angestellten ins Vertrauen ziehen zu müssen. »Sie sagen doch nichts davon,
daß Sie mich hier gesehen haben?«
»Aber bestimmt nicht«, meinte Sweeny zuvorkommend. »Großer Gott, wenn
Sie wüßten, welche Leute hierherkommen, Sie würden erstaunt sein. Berühmte
Schauspieler und Schauspielerinnen, Leute, deren Namen ein Begriff sind. Minister, Geistliche –«
»Leben Sie wohl, Sweeny.«
Sie schloß die Tür hinter sich. Ihre Knie wankten, als sie die Treppe hinunterstieg. Sie zog es vor, den Fahrstuhl nicht zu benützen. Erst jetzt wurde ihr klar,
wie sehr sie sich auf eine Unterredung mit Mr. Selim verlassen hatte. Verzweifelt
sah sie sich nun der unerbittlichen Wirklichkeit gegenüber. Es gab keinen Ausweg mehr. Was konnte den Untergang jetzt noch aufhalten? Nichts – nichts!
Der Mann, den sie hatte sprechen wollen, der einzige, der ihr helfen konnte, war
unerreichbar für sie:
Sie stieg um und kam um fünf Uhr nachmittags in Beverley an. Der erste, den
sie sah, als sie aus dem Zug stieg, war der ruhige, kluge Detektiv mit den grauen
Augen. Er hatte sie auch erkannt, und ihre Blicke trafen sich, als sie das Abteil
verließ. Einen Augenblick stand ihr Herz still, dann sah sie an seiner Seite einen
Mann mit Handschellen – es war der kanadische Professor! Den hatte er also verhaften wollen – den freundlichen Gelehrten, der sich mit ihr so interessant über
Versteinerungen unterhalten hatte.
Scottie wußte sehr viel über Fossilien und Gesteinsformationen. Es war sein
Steckenpferd. An Scotties anderer Seite stand ein Polizist. Der Verbrecher selbst
erwiderte ihren erschrockenen Blick durch ein liebenswürdiges Lächeln. Sie vermutete, daß solche Menschen allmählich abstumpften und hart wurden.
Sie sah schnell zu Andy hinüber, ging an ihm vorbei und atmete dann erleichtert auf. Ihre schreckliche Befürchtung hatte sich also nicht bewahrheitet. Sie
konnte getrost zurückkehren. Und sie war beinahe in froher Stimmung, als sie
den mit Rosenstöcken eingesäumten Gartenweg entlangging.
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