DAWAI, DAwAi - Neues Deutschland
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DAWAI, DAwAi - Neues Deutschland
Lust am Widerspruch Nr. 16 Feb 2008 THEMA: DIE PUTIN-JUGEND DAWAI, DAwA i DER WILDE OSTEN ausserdem im heft: PUTIN: TOP ODER HOP NASHI PUTINS JUGEND Foto [M]: dreamstime.com AIDS I N RUSSL AND Grüße aus... EditoriAL Wer redet denn heute noch über Jugendkriminalität? Niemand. Die U-Bahn-Prügler sind im Wahlkampf Opfer des hessischen Krawallmachers geworden, nützliche Idioten, die 0,1 Prozent der schweigenden Mehrheit angemessen aufgewühlt, empört, angemacht und ihn möglicherweise ein weiteres Mal ins Ministerpräsidentenamt gehievt haben. Der Türke hat seine Schuldigkeit getan (der Grieche übrigens auch), der Türke kann gehen. Von den wohlfeilen Beteuerungen, Abhilfe schaffen zu wollen, wenn junge Leute zuschlagen, vorzubeugen, verstehen und nachvollziehen zu wollen, ist ein waberndes Angstgefühl geblieben, wenn es dunkel wird in Berlin Neukölln. Mission erfüllt. Darauf kann man bauen. Die Perversion ist offensichtlich, denn die wahren Gewalttäter machen das pensionierte Opfer und die immigrierten Täter gleichsam zu Spielfiguren im Politmonopoly. Eiskalt in der Parteinahme für die eine Seite und ebenso eiskalt im Links-liegen-Lassen beider Seiten nach erfolgtem Hochkochen. Mit Verlaub, aber die rassistischen Pauschalurteile an die Adressen junger Migranten haben zumindest ein wenig Sorgsamkeit in der Analyse migrantischer Lebensumstände mit sich gebracht – sozusagen als Abfallprodukt eines öffentlichen Diskurses. Wenn jetzt die öffentliche Aufmerksamkeit schwindet, ist das das eigentliche Problem, das umso schwerer schwiegt, weil Bild und Koch ein rassistisches Süppchen gekocht haben, das nachschmeckt. Unnötig zu erwähnen, dass migrantischen Jugendlichen die Fäuste gebunden sind, wenn es darum geht, die eigenen Lebenslagen massenwirksam zu erklären. Was ist bloß los mit diesen Kirgisen? Kaum ist der Russe weg, geben sie dem Ami das Land in die Hand. Und alles bleibt, wie es ist? Unsere Autorin betrachtet den Wandel. von Susan Diehm Um sich hervorzutun, bleibt da nur vaterländisches Engagement – beispielsweise am Hindukusch, wo Gewalt, ob nun gegen Pensionäre oder Menschen jüngeren Alters, per Bundestagsbeschluss gedeckt und damit völlig ok ist. Empfohlen sei auch die Lektüre unserer aktuellen Ausgabe. In Russland (Bald sind Präsidentenwahlen, deshalb das Thema!) machen junge Menschen vor, wie Gewalt politisch korrekt sein und zugleich auf Wohlwollen der Herrschenden stoßen kann. Das könnte dann auch Roland Kochs Interesse wecken. Thomas Feske Foto [M]: photocase.de Wenn der Reisende auf dem Manas-Flughafen in Bischkek landet, sieht er zuerst Flugzeuge der U.S. Air Force. »Aha, auch in einem weltpolitisch vermeintlich uninteressanten Land wie Kirgistan sind die Amerikaner vertreten, was machen die denn hier?«, fragt er sich vielleicht. Und denkt er kurz über die Lage der kleinen Republik mit ihren fünf Millionen Einwohnern auf der Weltkarte nach, kommt die Erleuchtung: Das seit 1991 unabhängige Kirgistan liegt im Herzen Zentralasiens und damit nicht weit entfernt vom Krisenherd Afghanistan. Als Partner im Kampf gegen den internationalen Terrorismus hat die kirgisische Administration der Einrichtung eines US-amerikanischen Luftwaffenstützpunktes zugestimmt, der die wichtigsten Deviseneinnahmen des Staates erbringt. Doch nach Verlassen des Flughafens sind die Amerikaner auch schon vergessen, denn die im Norden liegende Hauptstadt Bischkek ist durch und durch ein Erbe der sowjetischen Stadtplanung. Das Zentrum ist geprägt durch breit angelegte Straßen für die ehemals prunkvollen Militärparaden, große repräsentative Gebäude, die überdimensioniert und plump wirken und in naher Ferne türmen sich die vielen monotonen Plattenbausiedlungen auf. Der zentrale Ala-Too Platz, der in den 1970er Jahren als Roter Platz erbaut wurde, ist Ausdruck des Transformationsprozesses. Dort, wo früher ein LeninDenkmal stand, streckt heute die neue Freiheitsstatue Erkindik das kirgisische Nationalsymbol Tunduk, den Schlusskranz einer Jurte, in die Luft. Lenins neues Zuhause hingegen ist der hintere nördliche Teil des Platzes, ein Kompromiss zwischen den kommunistischen Kräften und der neuen politischen Elite unter dem ersten Präsidenten Askar Akajew. Neben dem sowjetischen Erbe entdeckt man auch Neues als Produkt der Marktöffnung. CocaCola ist wohl in allen Ländern der Welt vertreten. Große Einkaufszentren bieten fast alles, was das Herz begehrt –überwiegend in China produziert. Produkte, die für den westlichen Reisenden durchaus sehr billig zu erwerben sind, aber für manch Kirgisen in weiter Ferne bleiben. Erlebnisreich ist der Besuch eines Basars. Ein großer Unterschied zwischen kirgisischen und orientalischen Basaren besteht darin, dass der kirgisische Händler ganz nach seiner Gemütsart ruhig an seinem Stand weilt und nicht ständig lautstark irgendwelche Produkte anpreist. Dennoch geht es auf den Basaren sehr lebhaft zu und sie stellen noch immer die wichtigste Einkaufsmöglichkeit der Kirgisen dar. Verlässt der Reisende die Hauptstadt in Richtung Süden, kann der Trip schnell zum kleinen Abenteuer werden. Das große Hindernis in Kirgistan für die Infrastruktur und den Austausch zwischen Nord und Süd stellen zwei der größten Gebirgsketten Asiens dar: der Tien Shan im nördlichen und zentralen Teil und der Pamir-Alai im Süden, beide mit Höhen über 7000 Meter. Nur fünf Prozent des Staatsterritoriums liegen unter 1000 Metern. Daher gibt es auch nicht viel Auswahl an Reisemitteln. Es bietet sich zum einen die Möglichkeit, mit einem kleinen, leicht klapprigen Flugzeug direkt über die Gipfel des Tien Shan zu fliegen oder mit Kleinbus bzw. Inhalt S. 2 & 3 - CCCP: Kirgistan Illustration: Florian Bielefeldt Lenin hat den Ala-Too Platz verlassen. Eine neue Freiheitsstatue herrscht jetzt über den größten Platz der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Es hat sich einiges geändert in der ehemaligen Kirgisischen SSR. S. 4 & 5 - Jugend in Putins Russland Die Russen kommen! Und zwar nach Deutschland – mit unterschiedlichsten Erwartungen und Erfahrungen. Was sie hier wollen, haben sie uns erzählt. S. 6 - Flüster mir ins Teig-Ohr Pelmeni at its best. Ein kulinarischer Feldzug durch die Berliner Imbisslandschaft. Dort, wo deutsche Leckermäuler die russische Gastronomie okkupieren, haben unsere Autoren den Selbstversuch gewagt und sich Lenins Lieblingsgericht gewidmet. S. 7 - ASW für Afrika Vom Osten in den Süden. Theater gegen Aids – das ist nur eines der Projekte der Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt. S. 8 - Ein Lehrstück der Zensur Foto [M]: photocase.de Der Beschränkung grundlegender Bürgerrechte sind scheinbar keine Grenzen gesetzt. Das wissen Dokumentarfilmer in Russland genauso wie couragierte Artikelschreiber in Deutschland. Auto über die ramponierten Straßen zu fahren. Ein ausgebautes Eisenbahnnetz existiert nicht. Die wichtigsten Verkehrsachsen wurden zu Sowjetzeiten erbaut, mit den Zielen der Ressourcenerschließung und der Versorgung abgelegener Gebiete. Die Verkehrsinfrastruktur war komplett auf Russland ausgerichtet, auf die Verbindungen innerhalb Kirgistans wurde nicht geachtet. So gibt es heute im Norden und Süden vereinzelte auslaufende Bahnlinien und nur eine asphaltierte Straße, die Bischkek im Norden mit Osch im Süden verbindet. Auf dem Weg zum zweitgrößten Gebirgssee der Welt, dem Issyk Köl, passiert man die Industrieachse Bischkek - Kant - Balykshy. Sie ist auch heute noch von landesweiter Bedeutung, aber seit der Unabhängigkeit kam es zum Niedergang zahlreicher Industriezweige. Balykshy war früher ein wichtiger Warenumschlagsplatz und bedeutender Produktionsstandort. Doch mit dem Ende der UdSSR fielen die meisten und wichtigsten Handelsbeziehungen sowie Geldmittel weg und die Industrie brach mit der Zeit zusammen. Infolge dessen ist heute nicht nur in Balykshy, sondern in ganz Kirgistan die Arbeitslosigkeit sehr hoch (offiziell zwölf Prozent ohne Berücksichtigung der unterbeschäftigten Landbevölkerung) und viele Kirgisen (über 500 000 Arbeitsmigranten leben in Russland und ca. 100 000 in Kasachstan) suchen ihr Glück anderswo. Heutzutage ist die Landwirtschaft der bedeutendste Wirtschaftssektor und Arbeitgeber für über 50 Prozent der Beschäftigten. Leicht kommt der Reisende mit Einheimischen ins S. 9 - AIDS in Russland Die neue Zeit bringt für Russland 87000 neuinfizierte Aids-Kranke jährlich. Hilfsorganisationen stehen vor einem Dilemma, denn von einer fortschreitenden Aufklärung, einem Mehr an Wissen und Vorsicht im russischen Alltag kann nicht die Rede sein. Gespräch, da die Kirgisen äußerst gastfreundlich sind. So hört man sehr oft, dass zu Sowjetzeiten vieles besser war, aber die Freiheit für sich und ihr Land sei wichtiger. Viele Kirgisen haben Zukunftsängste und stecken ihre ganze Hoffnung in die eigenen Kinder, denen sie eine gute Bildung zu ermöglichen versuchen, nicht zuletzt, weil sie nicht nur im Rentenalter auf deren finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Die Tristesse der Arbeitslosigkeit auf den Dörfern lässt viele Männer dem Alkohol verfallen. Welch Paradoxie: der soziale Zustand einerseits und die Natur des Landes andererseits! Das nördliche Ufer des Issyk Köl ist noch heute ein beliebtes Urlaubsziel nicht nur der Kirgisen sondern auch von Russen und reichen Kasachen. Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajev besitzt ein großes Anwesen direkt am See. S. 10 & 11 - It`s time for an attitude Der Süden des Landes mit seinen bedeutungsvollen Städten Osch und Dschalalabad sowie dem fruchtbaren Ferghanatal unterscheidet sich um einiges vom Norden. Während der Norden moderner und aufgeschlossener ist, was vor allem auf den frühen russischen Einfluss zurückgeht, und sich unter anderem in der freizügigen Kleidung widerspiegelt, ist der Süden religiöser und traditioneller geprägt. Der Reisende erfährt von bewegter Geschichte, erlebt aufgeschlossene, gastfreundliche Menschen und eine wunderschöne und vielfältige Natur, die Kirgistan auch angesichts sozialer und ökonomischer Krisen zu einem beeindruckenden Reiseziel werden lassen. S. 15 - »Putin dient aufrichtig seinem Land.« Frauen haben seit jeher eine Affinität zu Goldkettchen. Manch eine macht ihre Leidenschaft zum Beruf – Emanzipation im Hiphop, word! S. 12 & 13 - Nicht einfach nur ein Job Der sterbende Schwan quicklebendig – in Sacco und Vanzetti spricht eine russische Ballerina über ihre Arbeit in Deutschland und natürlich über Vladimir Malakhov. S. 14 - Eisenzeit in Warschau Die Wunden, die der Vernichtungswahnsinn der Nazis gerissen hat, sind tief bei den Völkern des Ostens. Frank Hammer hat das in Warschau erlebt und erzählt seine Geschichte. Putin mag die Duma-Wahlen hinter sich haben, einen (ihm) viel versprechenden Nachfolger gefunden haben, das dicke Ende aber kommt jetzt: Sacco und Vanzetti bitten zum Putin-Check. Im Gespräch mit einer russischen Ärztin und den Reportern ohne Grenzen. S. 16 - Off Zum Schluss grüßen Sacco und Vanzetti noch mal alle, die uns kennen. Hallo. 4 Im Fokus: Jugend in Putins Russland Illustration The Russian Lover: Florian Bielefeldt RUSSISCHE INNEN ANSICHTEN I Wie wir in Deutschland leben und was wir uns für Russland wünschen. Stefan Rudi (23, Spätaussiedler, lebt seit fünf Jahren in Berlin, Student) Wirst du manchmal mit Klischees von Seiten Deiner deutschen Mitmenschen konfrontiert? Auf jeden Fall. Besonders was Wodka angeht. Irgendwie haben die Deutschen das Gefühl, man würde Wodka in Russland wie Wasser trinken. Und natürlich kommen viele mit dem Klischee, dass in Russland alle korrupt seien und alles von der Mafi a reguliert würde. Du kennst das Leben in Berlin und Russland. Was sind die Gemeinsamkeiten und worin siehst Du deutliche Unterschiede? Hier in Deutschland sind die Menschen etwas toleranter und vielleicht mehrsprachiger. Falls du in Russland kein Russisch kannst, hast du keine Möglichkeit, dich mit den Leuten zu unterhalten. Aber in den Großmetropolen wie St. Petersburg und Moskau ist das wie hier in Berlin. Was vermisst Du in Deutschland? Mehr Lockerheit. Viele rennen chaotisch durch die Stadt, du hast praktisch keine Möglichkeit andere Personen auf der Straße kennen zu lernen. Dafür brauchst du mindestens Internet. Ich vermisse meine Freunde hier. Solche Freunde wie in Russland fi ndet man hier leider nicht. Die radikal konservative Jugendbewegung Naschi geht sehr militant gegen Andersdenkende in Russland vor. Kennst Du diese Bewegung? Ja, ich kenne diese Bewegung. Die Frage ist schwer zu beantworten. Einerseits muss man die Leute in Russland mit etwas strengerer Innenpolitik regieren. Nur Russen verstehen das. Für andere ist es ein unlösbares Rätsel. Laut Naschi ist Putin genau die Person, die in Russland regieren kann, so dass Russland nicht nur außenpolitisch stark erscheint, sondern auch innenpolitisch stabil bleibt. Andererseits bin ich mit diesen Methoden, die sie ausüben, mit purer Gewalt gar nicht einverstanden. Leider schließt die russische Regierung die Augen, wenn man Handeln gegen Naschi verlangt. Wenn die Politiker streng gegen die Radikal-Konservativen vorgehen würden, würden sie Sympathie und Stimmen gewinnen. Ich kenne keinen, der mit dieser Bewegung sympathisiert – weder hier, noch in Russland. Wie werden die Wahlen am 2. März ausgehen? Ich denke mal, es ist schon entschieden. Putin bzw. die Person, der er den Rücken stärkt, wird gewinnen. Ich hoffe nur, dass diese Person Russland nicht aus den Gleisen wirft. Die Fragen stellte Claudia Goldberg. EIN HUND FÜ Jeder sollte ein Haustier haben dürfen. Auch Bald-nicht-mehr-Präsident Putin, der in zwei Wochen nicht mehr für das Präsidentenamt antreten darf. Wenn es sich hierbei allerdings um einen Kampfhund mit aggressiven Tendenzen handelt, wäre ein Wesenstest angebracht, bevor man ihn ohne Maulkorb unter Menschen lässt. Andererseits hat man die Dinge in Russland schon immer etwas anders gehandhabt... von Agata Waleczek Am 1. März wird Nashi drei Jahre alt. Nashi, übersetzt die Unsrigen, ist momentan Russlands größte Pro-PutinJugendbewegung. Ihre Mitgliederzahlen belaufen sich auf über 100 000; etliche Anhänger, die gern dabei wären, aber den Auswahlkriterien nicht entsprechen, nicht mitgezählt. Und Nashi wächst. Ursprünglich war Nashi als Reaktion auf die Jugendbewegungen der Orangenen Revolution gedacht gewesen. 2004 verhalfen diese in der Ukraine dem pro-westlichen Kandidaten Wiktor Juschtschenko zum Wahlsieg. Auf russischem Terrain käme ein ähnliches Szenario des Kremls schlimmstem Alptraum gleich. Das Letzte, was man will, ist, dass die frische ukrainische Brise nach Russland hinüber weht und sich dort zu einem politischen Sturm ähnlichen Ausmaßes entwickelt. Nashi versucht dem vorzubeugen, indem Regierungskritiker einfach gleich als Hochverräter und Staatsfeinde abgestempelt werden – bedingungslose Verehrung des Staatsoberhauptes. Die durch den russischen Politiker Vasily Jakemenko gegründete Organisation hat es sich zum Ziel gemacht, Vaterlandsstolz in die Köpfe der jungen Russen zu hämmern und das Staatsoberhaupt vor Oppositionellen zu schützen. Und Nashi schützt Putins Politik sehr effektiv, wobei es nicht immer bei bloßen Worten bleibt. Als im Frühling 2007 das Denkmal eines Sowjet-Soldaten (Bronze-Soldat von Tallinn) in Estland entfernt werden sollte, waren es junge Russen, die sich vehement dagegen wehrten, gewalttätige Übergriffe und Straßenbarrikaden inbegriffen. Immerhin verletze das das Andenken an die gefallenen Soldaten der Sowjetarmee. Den Ausschreitungen, die 99 Verletzte und einen toten Russen forderten, folgten die Festnahmen von vier Personen, darunter auch Mark Sirok. Der 18-jährige Sirok gilt als der inoffi zielle Anführer des estnischen Arms der Putin-Jugend. Nashi selbst ist in Estland nicht zugelassen. Sirok wusste nach seiner Freilassung aus der zweimonatigen Haft von menschenunwürdiger Behandlung im estnischen Gefängnis zu berichten und beteuerte seine Unschuld. Andere Nashi-Mitglieder indes wurden zu Besuch und angeregtem Gespräch bei Putins Nachfolger geladen. Für außerordentliche Dienste bedankt sich die Regierung eben und unterstützt wohlwollend ihren Wachhund: Starthilfe bei der Karriere, etliche Privilegien und endlose Freizeitangebote im Sinne des Kremls. Woher genau die fi nanziellen Mittel dafür kommen, wird nicht offen gesagt, denn offi ziell ist Nashi nicht die Jugendorganisation der Putin-Partei. Dafür aber eine spannende Alternative für viele junge Russen. Im Juli 2007 nahmen am alljährlichen Nashi-Camp 10 000 Jugendliche teil. 200 Meilen nördlich von Moskau wurde dort nicht nur militärisch gedrillt, auch Seminare gehörten zum zweiwöchigen Pflichtprogramm. Eine hervorragende Ausbildungsstätte für zukünftige paramilitärische Kräfte. Aber nicht nur. Auch auf die Reproduktion wird besonderer Wert gelegt. Auf Spontanhochzeiten wurden im Nashi-Camp letzten Sommer 30 Pärchen verheiratet. Als Anreiz sponserte Nashi Hochzeitskleider, Ringe und Zelte für die Hochzeitsnacht. Die Regierung lässt für einen saftigen Bevölkerungszuwachs eben gern mal was springen. Aber dann auch bitte nicht weniger als drei Kinder, ganz im Sinne des Vaterlands. Damit diese später dann wie Mami und Papi Russland voll und ganz dienen können, müssen sie aber auch so leistungsfähig wie möglich sein. Nashi lehnt Alkohol, Nikotin und Kondome grundsätzlich ab. Auf dass gesunde Körper gesunden Nachwuchs produzieren. Überlegenheitsanspruch, Genussmittelverbote, absolute Ergebenheit gegenüber dem Staatsoberhaupt, Militärsport, Verklemmtheit – vor allem der Vergleich mit der Hitler-Jugend wird von vielen bemüht. Friedrich Ragette, der selbst Mitglied war, äußert sich in einem Leserbrief im September 2007 an Newsweek zum Thema Nashi folgendermaßen: »[...] it is a carbon copy.« Etliche liberale russische und westliche Politiker stimmen mit ihm überein. Solchen bösen Vergleichen möchte die Bewegung im Voraus Einhalt gebieten. Nashi hat sich den Kampf gegen Faschisten auf die Fahne geschrieben. An und für sich ist das eine sinnvolle und löbliche Idee, wenn nur mit Faschisten nicht alle gemeint wären, die gegen Putin sind. Auch in anderen Punkten hat die Organisation abenteuerliche Vorstellungen, verkehrt mithilfe massenwirksamer Propaganda Realität in ihr genaues Gegenteil. So ist laut Nashi-Website die europäische Demokratie vom Aussterben bedroht und Leoni Kujov, Repräsentant der Bewegung in St. Petersburg, verkündet: »Russia is developing into a democratic country. It’s just that we don’t agree with the defi nition of democracy set by the West.« Bleibt die Frage: Ist das alles bloßes Gebell oder handelt es sich um die Art Hund, die imstande ist, ganze Gliedmaßen abzubeißen? Ein wenig kritische Distanz ist in jedem Fall nicht schlecht, auch wenn das Nashi-Fußvolk von kurzsichtigen Beobachtern noch belächelt wird. Ein Artikel in der Los Angeles Times vom 25. Dezember 2007 beschreibt hierzu eine amüsante Szene auf einer Demonstration. Zitat einer politisch ahnungslosen, gepiercten Blondchenaktivistin: »My boyfriend was a member, and I joined him for one of the actions and I thought it was cool.« Klar machen solche Leute auch einen Teil der Anhänger aus. Aber Nashi selbst ist nach einer klaren Hierarchie aufgebaut. Und ganz oben stehen die zukünftigen Elite-Politiker Russlands: vom Kreml für den Kreml an der Nashi-Uni ausgebildet. Wer braucht da noch eine Opposition? ÜR PUTIN Im Fokus: Der 9. November 5 RUSSISCHE INNEN ANSICHTEN II Wie wir in Deutschland lebten und was wir uns für Russland wünschen. Olga Petrushko (23, Austauschstudium in Berlin, lebt in Moskau, PR-Beraterin) Olga, Du hast ein Jahr in Deutschland verbracht. Bestimmt hattest Du einige Klischees im Kopf. Haben sich Deine Vorstellungen über Deutsche bestätigt? Teilweise. Ich habe immer gehört, dass die Deutschen sehr ordentlich seien und immer bestimmten Regeln folgen. Das hat sich auch bestätigt, wobei Berlin doch viel freisinniger ist als die durchschnittliche, deutsche Stadt. Du kennst das Leben in Berlin und Moskau, worin siehst Du frappierende Unterschiede? Der größte Unterschied besteht meiner Meinung nach darin, dass die Berliner sich viel mehr Zeit nehmen, um sich im Leben zu fi nden. In Moskau geht alles viel zu schnell. Gleich nach der Schule in die Universität, dann während des Studiums auch gleich eine Stelle fi nden usw. Hier ziehen junge Leute praktische Berufe vor, die viel Geld bringen können. Noch ein großer Unterschied: Die Berliner (vielleicht auch die Deutschen allgemein) sind viel sozialer und politisch engagiert. Immer fi nden irgendwelche Demonstrationen oder Aktionen statt. Viele Berliner wollen in Sozial- oder Kultureinrichtungen tätig werden. Die Moskauer glauben weder an Politik noch daran, dass ihre Stimme von Bedeutung ist. Illustration Putins Cousine bei der Zeugnisausgabe: Florian Bielefeldt Hast Du überlegt in Deutschland zu arbeiten? Ja, erstmal wollte ich in Deutschland arbeiten. Aber dann habe ich verstanden, dass ich Jahre brauchen würde, um eine gute Stelle zu bekommen. Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist sehr konservativ. Alles geht um Zeugnisse, bestimmte Spezifi kationen und Qualifi kationen. Es ist schwierig, von einem Arbeitsbereich zum anderen zu wechseln. In Moskau sind die Arbeitgeber flexibel. Inwieweit hat Dich das Leben in Deutschland verändert? Hast Du Dinge gelernt, Kontakte geknüpft etc., von denen Du auch noch in Russland profitierst? Ich habe gelernt, vielseitiger und internationaler zu denken. Ich habe neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung entdeckt, wie z.B. die Tätigkeit in internationalen Organisationen und NGOs. Und ich habe auch wirklich gute Freunde gefunden, mit denen ich bis jetzt in Kontakt bleibe. Die konservative Jugendbewegung Naschi geht sehr militant gegen Andersdenkende in Russland vor. Hast Du Beispiele für Naschi-Aktionen im Kopf? Eigentlich verfolge ich solche Sachen nicht wirklich. Aber ich habe vor kurzem ihr Manifest gelesen – manche Ideen, die sie propagieren, sind gar nicht schlecht. Sie sind für active citizenship, gleiche Rechte usw. Das Problem ist, dass es eine Putin-Organisation ist, der keine alternative Jugendorganisation gegenübersteht. Was wünschst Du Dir für den 2. März? Glaubst Du, dass sich Dein Wunsch erfüllen wird? Ich würde Russland einen Präsidenten wünschen, der die Korruption besiegt, in die Regionen investiert und tatsächlich soziale Politik macht. Ich verstehe, dass Russland nicht auf einmal zu einem europäischen Staat werden kann, aber dass es nötig ist, sich in Richtung Demokratie zu entwickeln. Ich bin mir nicht sicher, ob jemand von den Kandidaten diesen Kriterien entspricht. Ich bin davon überzeugt, dass diesen Wahlkampf Putins Nachfolger Medvedev gewinnt. Die Fragen stellte Claudia Goldberg. 6 friss oder stirb: Flüster mir ins Teig-Ohr DAS GOLDENE TEIG-OH R Wladimir Putin serviert sie Angela Merkel beim Staatstreffen und Lenins Lieblingsessen sollen sie auch gewesen sein (obwohl dieses Gerücht vermutlich jedem russischen Gericht anhängt). Jedenfalls Grund genug, dem Mysterium der Pelmeni, aus der sibirischen Komi-Sprache für Ohr aus Teig, nachzugehen. Zumal wir uns in Berlin befinden, wo es ja bekannterweise so irgendwie alles gibt und dazu auch einige Russen. Das mit den Pelmeni sollte also kein Problem sein. Foto [M]: dreamstime.com/ Alexey Solovyev von Eva Flemming Im vorigen Jahrhundert gingen einmal zwei Kaufleute aus Sibirien die Wette ein, wer von ihnen mehr Pelmeni essen könne. Keiner wollte nachgeben. Wie groß war die Überraschung der Zeugen dieses ungewöhnlichen Kampfes, als der Sieger, den letzten Pelmen noch im Munde, tot unter den Tisch sank. Das gleiche Schicksal ereilte auch den zweiten. Beide hatten sich überfressen. Solche düsteren Geschichten beeindrucken uns nicht. Unerschrocken fi nden wir uns an einem Montagmorgen vor dem russischen Imbiss am Ostbahnhof wieder, um uns den Teigtäschchen zu stellen. Zehn vegetarische und zehn Fleisch-Pelmeni schwimmen vor uns auf einem Teller in Brühe unter saurer Sahne. Es regnet und wir setzen uns nicht auf die geschnitzten Holzhocker, die da so verloren auf dem Platz vorm Ostbahnhof stehen, sondern in das mit russischen Bierwerbungen dekorierte Wellblechbüdchen. Die Schwierigkeit besteht darin, die Spinat-Pelmeni von den Pelmeni mit totem Tier zu unterscheiden. Im Hintergrund läuft russisches Radio, außer uns steht noch ein Typ mit einer Tschapka am Tresen, und so hat man für nur drei Euro das Gefühl, vielleicht nicht direkt in Russland zu sein, aber zumindest mal irgendwie was anderes zu machen. Der Laden heißt Lakoma und steht seit 2004 inmitten einer zumindest halb elf morgens bizarren Imbiss-Landschaft aus Döner -, Würstchen- und Asiabuden neben dem Bahnhofsgebäude. Die Verkäuferin ist geschminkt in den Farben von russischem Konfekt. Wir fragen nach den Nationalitäten der Kunden und hoffen auf eine ausschließlich russische Kundschaft, um unser Gefühl von Authentizität zu steigern. Deutsche und Touristen kommen, ja, (auf unsere Nachfrage) auch ein paar Russen. Mist. Der Rest muss also irgendwo anders sein. Ebenso müssen wir feststellen, dass es in Berlin nur zwei Pelmeni-Imbisse gibt, wobei der zweite auch nur ein Ableger des ersten ist und zwar am Fehrbelliner Platz. Wie langweilig. Um die 140 000 Berliner sind russische Muttersprachler. Das wären dann also 70 000 pro Imbiss. So ein Andrang ist allerdings nicht festzustellen, und das kann nicht nur an Montagmorgen liegen. Da nehme man die Anzahl der türkischstämmigen Berliner und proportional dazu die Dönerläden. Ein Gefühl von Ungerechtigkeit drängt sich auf. Dabei scheint doch russische Esskultur im Kommen zu sein, wenn sogar McDonald’s seit Neuestem Soljanka anbietet. Ratlos fahren wir mit Straßenbahn Richtung Osten und gehen erstmal einkaufen. Der Supermarkt an der Storkower Straße nennt sich Intermarket und existiert erst seit Februar. Hier ist die Russenquote schon mal höher, wenn auch nur aufs Personal bezogen. Die Kundschaft hingegen setzt sich aus deutschen Rentnern mit Trolleys und Vietnamesen zusammen. Das Obst ist billig, die Preisschilder deutsch beschriftet und wieder dudelt russisches Radio durch die erstaunlich große Halle. Wir wollen den Selbstversuch wagen und wandern zur Kühltruhe. Das Fleisch/Nicht-Fleisch-Problem löst sich durch Erdbeer-Pelmeni, die dann aber als süße Version gar nicht mehr Pelmeni heißen, sondern Wareniki. Zurück am heimischen Herd fällt uns auf, dass wir saure Sahne brauchen. Es bleibt inkonsequenterweise nur der Vietnamese um die Ecke. Jetzt kommt der entspannte Teil. Irgendwann können wir keine Teigtaschen mehr sehen. Man gedenke der sibirischen Kaufleute. Also erstmal Tee trinken. Die tadschikische Teestube als Geschenk der ehemaligen Sowjetunion an die DDR befi ndet sich im Haus der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft in der Straße Unter den Linden. Nachdem wir durch rätselhafte Gänge voll sozialistischem Gestaltungswillen geirrt sind, fi nden wir im Obergeschoss die Teestube: ein kleiner Raum mit Holzsäulen, niedrigen Tischen und Kissen, auf denen Menschen lagern und an Teeschalen nippen. Es ist nach 23 Uhr und fast jeder Tisch besetzt. Auf der Karte stehen russische Speisen und Tees. (Laut der Kellnerin läuft tadschikisches Essen nicht besonders. Hat schon mal jemand was von Plov gehört?) Tee aus dem Samowar zu trinken, ist eine russische Zeremonie. Mit Teesud brühen, Wasser zum Verdünnen kochen, zwischendurch Wodka trinken und Rumrosinen essen. Der Sud ist so stark, dass er angeblich als Alkoholersatz in russischen Gefängnissen getrunken wurde. Leider ist das Ganze recht zeitaufwendig und die Teestube schließt in einer halben Stunde. Wir entscheiden uns für zwei Sorten von russischem Rauchtee, meiner schmeckt nach Räucherspeck, der meiner vegetarischen Begleitung nach Wald (jedem das Seine). Dazu löffeln wir Marmelade, und das Schälchen mit Rumrosinen ist auch bald leer. Die Gäste gehen nach und nach, wir versinken in unserer Ecke, Teegeruch und Balalaika-Klänge wabern durch den Raum. Irgendwann ist ein Zustand völliger Erschlaffung erreicht. Das muss der Grund dafür sein, dass diese Teestube so populär ist. Es kommen hauptsächlich Deutsche, aber auch Touristen, erzählt die Kellnerin. Die Deutsche Bank hatte hier letztes Jahr eine Weihnachtsfeier mit Kerzengießen – eine eigentümliche Vorstellung. Eine arabische Großfamilie feierte ihre Hochzeit mit Tee aus dem Samowar. Aber wo sind nur die ganzen Russen? Die können dann wohl nur noch bei McDonald’s sein und Soljanka essen. Oder sie sitzen einfach in einem der vielen Dönerläden um die Ecke. Tadschikische Teestube, Am Festungsgraben 1, Berlin Wer wir sind: ASW FRAUENUND BILDUNGSPROJEKTE IN AFRIKA Gefördert von der Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt - ASW Foto[M]: photocase.de/SODI Anzeigen Der farbenfrohe Markt von Bobo-Dioulasso gehört zu den größten im afrikanischen Burkina Faso. Frauen in bunten Pagnes (Wickelröcke) schieben sich durch die Menge, die Marktstände quellen über von Tomaten, Zwiebeln, Möhren, Gurken und allerlei Grünzeug. Doch der idyllische Eindruck täuscht. Die Stadt ist gezeichnet von wirtschaftlichen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit. Die AFPG geht deshalb einen anderen Weg: Sie sucht das Gespräch mit den traditionellen Autoritäten und den Beschneiderinnen. Gemeinsam mit diesen entwickeln die APFGMitarbeiterinnen als Alternative zur alten Praxis unblutige Formen der Aufnahme der Mädchen in die Erwachsenenwelt. Die Abkehr von der Beschneidung wird meist rituell besiegelt. Zugehörige Gegenstände werden entsakralisiert. Besonders Jugendliche sind davon betroffen. Viele müssen auf der Straße versuchen, Geld für die Familie zu verdienen und können nicht zur Schule gehen. Adama Batoe will diesen Jugendlichen eine Perspektive geben. Er führt die Arbeit fort, die sein vor zwei Jahren verstorbener Vater begonnen hatte. Der Schauspieler, Regisseur und Theaterpädagoge Abou Batoe begründete 2002 die Jugend-Theatergruppe Hakili So – Haus der Ideen. Im Gegensatz zu anderen Organisationen setzt die AFPG darauf, dass die dörflichen Gemeinschaften aus sich heraus Traditionen überprüfen und ändern können. Die Bretter, die die Welt bedeuten: Hilfe durch Theater Aids-Waisen, die von der Familie abgeschoben werden, Mädchen, die die Schule nicht besuchen dürfen – die Gruppe setzt sich mit Themen auseinander, die die Jugendlichen aus ihrem eigenen Alltag kennen. Es sind Geschichten, die das Leben schreibt. Im aktuellen Stück geht es um die erste Liebe und Aids. Die Jugendlichen beschäftigen sich darin mit dem Erwachsenwerden, mit Verantwortung, Respekt und der Benutzung von Kondomen. Die selbst gemachten Theaterstücke ersetzen die fehlende Aufklärung zum Thema Aids in den meisten Elternhäusern. Mit Tanz, traditioneller Musik, Rap und ihren eindringlichen Botschaften bewegt die 17-köpfi ge Gruppe in ihrer Heimat ganze Schulen, Dörfer und Wohnviertel und regt das Publikum zu Diskussionen an. Auch dank der fi nanziellen Unterstützung durch die ASW kann für die festen Mitspielerinnen und Mitspieler der Schulbesuch fi nanziert werden. Außerdem können die Jugendlichen eine Starthilfe für eine berufliche Selbständigkeit anfordern. Als Ausdruck der Anerkennung erhalten sie für ihre Auftritte eine kleine Gage. Kultur weiterentwickeln – Kampf gegen die Beschneidung von Mädchen Seit 1991 unterstützt die ASW das Frauen-Ausbildungszentrum (APFG) in Burkina Faso. Ein wichtiger Schwerpunkt seiner Arbeit ist der Kampf gegen die Beschneidung von Frauen. Seit 1996 ist sie in Burkina Faso verboten, doch mit Gesetzen allein kann der Kampf gegen diese grausame Praxis nicht gewonnen werden. Trotz hoher Strafandrohungen für Eltern, Beschneiderinnen und an der Beschneidung Beteiligten werden in Burkina Faso weiterhin Mädchen beschnitten. Schlimmer noch: Auf Grund des Verbots sogar immer jüngere, denn diese können sich noch weniger wehren. Texte 39 der Rosa-Luxemburg-Stiftung So mühsam diese Arbeit scheint, sie ist erfolgreich. In der Provinz Poni, wo die AFPG aktiv ist, ist der Prozentsatz von beschnittenen Mädchen im Alter von 0-14 Jahren mit 15,5 Prozent um über ein Viertel geringer als in den Nachbarprovinzen. Dort liegt er teils deutlich über 20 Prozent. Potentiale und Strukturen vor Ort fördern Die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt (ASW) wurde 1957 in Berlin gegründet und gehört zu den ältesten entwicklungspolitischen Organisationen in Deutschland. Seit ihren Anfängen entsendet die ASW keine „Entwicklungshelfer“ oder „Experten“. Alle geförderten Projekte werden von Menschen vor Ort ins Leben gerufen und eigenverantwortlich umgesetzt. Förderungsziel der ASW ist, benachteiligte Gruppen vor Ort fi nanziell und ideell so zu stärken, dass sie langfristig und unabhängig den sozialen Wandel in ihren Ländern gestalten. Schwerpunktthemen sind die Wahrung der Menschenrechte, die Stärkung von Frauen und der Schutz der Umwelt in den Ländern des Südens. Aktuell werden in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen über 60 Projekte in Brasilien, Indien und Afrika gefördert. Die Arbeit wird zu 95 Prozent aus Spenden fi nanziert. Der historische Gründungsaufruf der ASW von 1957, der zur Solidarität und Unterstützung der armen Länder der Welt aufruft, hat auch 50 Jahre später nichts an Aktualität eingebüßt. Zum 50. Jubiläum hat die ASW nun unter dem Motto Perspektiven für eine solidarische Welt erneut einen Aufruf gestartet. Weil weder Wirtschaft noch Politik ausreichend Verantwortung für globale Gerechtigkeit zeigen und nicht die seit Jahrzehnten versprochenen 0,7 % des BIP in die Entwicklungshilfe leiten, fordert die ASW eine neue Solidarität. Sie ruft jeden Einzelnen dazu auf, 0,7 % seines Einkommens engagierten Menschen im Süden zu spenden. Kontakt: mailto:Isabel.Armbrust@aswnet.de mailto:Brigitte.Kunze@aswnet.de 208 Seiten, Broschur dietz berlin 2007 14,90 Euro ISBN 978-3-320-02116-0 Michael Brie (Hrsg.) Schöne neue Demokratie Elemente totaler Herrschaft Die Autoren analysieren Prozesse der Gegenwart, die Zivilisationsbrüche wie die von Auschwitz wieder möglich machen könnten, hervorwachsend aus dem Alltag neoliberalen Gesellschaftsumbaus, imperialer Politik und ihrer neuen Kriege, postmoderner Kulturpraxen, der neuen Angstpraxen eines Sozialstaats des »Forderns und Förderns«. Diese »Verteidigung des Westens« und »Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung« erzeugen Ungeheuer, die zu bändigen und zurückzudrängen eine der Hauptaufgaben der Menschheit im frühen 21. Jahrhundert sein dürfte. Dazu bedarf es eines geschärften Bewusstseins für die oftmals fast unsichtbare Grenzlinie in unseren Gesellschaften, die Zivilisation und Respekt für Menschenwürde und Demokratie von Entwürdigung und Barbarei trennt. Bestellungen über: Buchhandel Karl Dietz Verlag Berlin E-Mail: info@dietzberlin.de Rosa-Luxemburg-Stiftung Tel.: 030 44310-123 · Fax: 030 44310-122 E-Mail: info@rosalux.de 7 8 Medien: Lehrstücke der Medienzenur MEDIENZENSUR AUF DER STRASSE ZUR GLÜCKSELIGKEIT Die russische Methode reicht bis nach Köln und verhinderte den internationalen Vertrieb eines Dokumentarfilms. von Claudia Goldberg Langemann porträtiert in ihrem Film die gegensätzlichen Bewohner der Rubljovka. Die Straße erlebt der Zuschauer als Schauplatz lächerlicher Polizeikontrollen, nicht enden wollender Autoschlangen und permanent tönender Blaulichtsignale. Laut Langemann »grenzte es an ein Wunder«,, dass sie als Deutsche eine Drehgenehmigung erhielt. Es war eine gute Entscheidung, das ganze Projekt als russische Filmproduktion zu tarnen. Der Dreh gestaltete sich trotzdem schwierig. Dem Kameramann gelang es nur heimlich, ein paar wackelige Aufnahmen von Putins Staatskarossen, auf dem Weg zum Kreml, zu machen. »Auf der Straße ist jeder Quadratmeter überwacht.«, erklärt Langemann. Sobald ihr Team nicht in der Nähe Foto [M]: photocase.de/Madochab Auf der Rubljovka-Chaussee, in der Nähe Moskaus, prallen die Extreme aufeinander: In der Nachbarschaft von Putin, Staatsbeamten und zwielichtigen Neureichen leben noch immer alteingesessene, ärmere Anwohner. Auch die 70jährige Ljubov Jermilina, die ohne Wasseranschluss und Heizung lebt, wird noch geduldet. Sie sollte sich jedoch in Acht nehmen, denn manchmal brennen Häuser an der Rubljovka. Brandstiftung ist die effektivste Methode, um Anwohner einzuschüchtern und Platz zu machen für noch mehr sterile Villen. Auch davon handelt der Dokumentarfilm Rubljovka – Straße zur Glückseeligkeit, der am 13. Dezember in den Kinos anlief. Die in Köln lebende Regisseurin Irene eines Wachpostens filmte, fuhr eine schwarze Limousine vor und ein Zivilist fragte nach der Drehgenehmigung. Zu den KGB-Manieren gehörte es auch, der russischen Aufnahmeleiterin zu drohen, ihre Produktionsfi rma könne schnell geschlossen werden. Anders als Irene Langemann schien ihr russisches Team wenig beeindruckt von den Androhungen der scharf bewaffneten Beamten. »Russland entwickelt sich zum Polizeistaat«, meinte die Regisseurin zu diesen Episoden. Die erschwerten Drehbedingen waren jedoch nur das Vorspiel. Zurück in Deutschland, suchte Irene Langemann nach einem Partner, der sich um den internationalen Vertrieb des Dokumentarfilms kümmern sollte. Der Moskauer Geschäftsmann Alexander Esin bot 50.000 Euro für die Rechte, den Film international zu vertreiben. Langemann willigte ein, hatte sie selbst doch knapp 50.000 Euro aus eigener Tasche in die Produktion investiert. Die Anrechte für den Vertrieb in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz hatte sie glücklicherweise anderweitig vergeben. Esin sorgte jedoch nicht für den Vertrieb in Russland und anderen Staaten, sondern wollte vielmehr die Ausstrahlung des Films verhindern, indem er die schon verkauften Vertriebsrechte einforderte. Dazu drohte er Langemann, ihr durch seine weitreichenden Beziehungen zukünftige Drehs in Russland unmöglich zu machen. Die Regisseurin vermutet, dass Esin die Ausstrahlung des Films mindestens bis zu den Präsidentschaftswahlen in Russland boykottiert hätte. Erst der Spiegel-Artikel Die russische Methode beendete die Drohungen. Der zwielichtige Kunstkenner verschwand von der Bildfl äche. Da er seinen Vertriebspflichten nicht nachkam, kündigte Langemanns Anwalt kürzlich den Vertrag und ebnete dadurch hoffentlich den Weg für einen internationalen Vertrieb. SCHWEINFURTER LEHRSTÜCK Klar: Die Deutschen haben Angst vor den Russen. In Moskau stellen sie autokratischen Herrschern gern mal einen diplomatischen Persilschein aus. Zuhause aber markieren sie den dicken Max, indem sie ob der russischen Verhältnisse den Zeigefinger so hoch heben, dass er selbst am Ural noch zu sehen ist. Denn my home is my castle. Diese Posse hat sich zwar nicht in Schweinfurt zugetragen, da wir aber besagte Mechanismen kennen, war eine geografi sche Veränderung notwendig, wie auch die Umbenennung unserer Protagonisten, wie im Fall von Christian F., der am Abend des 9. Novembers 2006 nach einer Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht auf einen jüdischen Gedenkstein stieg und sein Geschäft verrichtete. Selbstverständlich sorgte dieser Vorfall in Schweinfurt für große Empörung und zeitigte eine Vielzahl von Erklärungsversuchen. Einen davon bestritt Ulrike Müller, Jungredakteurin der Lokalzeitung Schweinfurter Tagesblatt. In diesen Erklärungsversuch, Titel: Fun – Frust – Jugendknast, gehörte für sie ein Blick auf die Biografie des Täters genauso, wie ein Wort an »die Politiker, die wenn sie an den Jugendlichen in Schweinfurt vorbeigehen, einfach wegschauen«, notwendigen Sozialprojekten den fi nanziellen Boden entzögen und denen Ulrike Müller ins Stammbuch schrieb: »Warum längst tote Menschen ehren, statt erstmal aktuelle Probleme lösen?« Selbstverständlich sollte ein Text dieser Art nicht unbeantwortet blieben. Und so nahmen sich die Vor der eigenen Tür kehren da die wenigsten. Sollten sie aber – um die grundlegenden Bürgerrechte steht es auch bei uns nicht zum Besten. Wenn es um Zensur geht, greifen hier und dort die selben Mechanismen, von denen auch das folgende Schweinfurter Lehrstück erzählt. jungen Leute von Linksruck, ein Grüppchen linker Schweinfurter, der Sache an. Mathias Kranich, 18 Jahre alt, war bekannt für Frechheiten in Textform und widmete Ulrike Müller einen Beitrag, in dem er auf Christian F.’s Eigenverantwortung verwies und auf die Gefahr von verharmlosender Sprache à la »Dummer-Jungen-Streich«. Er wiederum schloss mit dem Satz »Ulrike Müller sollte, wie Christian F., ihren Verstand bedienen, statt Nazi zu sein bzw. das durch den Verweis auf Hoffnungslosigkeit zu relativieren.« Der Linksruck-Text landete auf der Homepage der Gruppe und ward unbeachtet – bis eines schönen Tages der Brief einer Berliner Anwaltskanzlei beim Schweinfurter Kreisverband der Linken einging. In Müllers Namen nun wandte man sich an Linksruck c/o DIE LINKE und verlangte die Unterschrift unter eine Unterlassungserklärung, die Streichung des Textes von der Homepage und obendrein 600 Euro für den entstandenen Aufwand. Bei Zuwiderhandlung würde sich diese Summe auf 5000 Euro erhöhen. Eine Menge Holz, dachte sich auch Kranich, der sofort rechtliche Beratung bei einer stadtbekannten Antifa-Anwältin suchte. von Thomas Feske Die nahm Kontakt mit Müllers Anwalt auf. Der aber gehört gar nicht zu besagter Kanzlei, die also ohne rechtliches Mandat gehandelt hatte. Diese Berliner Anwaltskanzlei ist im Übrigen auch die Hauskanzlei des Schweinfurter Tagesblatt, einem überdies tiefschwarzen Printmediums. Die Redakteure des Blattes sind bekannt für ihren Gram über die Linke in ihrer Stadt und die Gruppe Linkruck ist bekannt für ihre Beziehung zur Linken. Ulrike Müller wiederum wusste nichts von den knackigen Strafandrohungen ihrer Anwälte. Ihr ging es lediglich um die Streichung des Textes. Linksruck willigten, in Anbetracht der Missverständlichkeit eines Einzelsatzes, zähneknirschend ein. Der Rest war und ist Politik: Eine Tageszeitung, die per Gerichtsbeschluss auf dem Rücken junger Leute politische Stellvertreterkämpfe austrägt, eine große Anwaltskanzlei, die ein paar Schüler – kaum volljährig – in Angst und Schrecken versetzt, um sich eine goldenen Nase zu verdienen, und gemeinsam mit den Kollegen der Journalie kritische Meinungen aus dem öffentlichen Raum verbannen will. International: AIDS in Russland Die Krankheit DER ANDEREN 9 ÄNGSTLICH VERSCHWIEG SIE IHRE ERKRANKUNG Sr. Elisabeth, die Caritas betreibt in Propjewsk eine Beratungsstelle für HIV-infizierte Müttern, aber das darf niemand wissen. Warum nicht? Auf die Bitte und den Rat der MitarbeiterInnen des städtischen Aidszentrums und von HIV-Betroffenen selbst, stellen wir die Arbeit dieser Einrichtung ausschließlich als Krisenzentrum für Mütter mit Kleinkindern dar. HIV-infi zierte Mütter haben uns erklärt, dass es für sie eine absolute Horrorvision wäre, vorübergehend in einer Einrichtung zu leben, von der bekannt wäre, das sie für HIV-Infi zierte gedacht ist. Sie befürchten, dass diese Einrichtung überfallen und abgebrannt wird oder sie selbst mit Steinen beworfen und zusammengeschlagen werden. von Anna Lehmann AIDS ist kein Thema in Russland, sagen Vertreter von Hilfsorganisationen. Trotz milliardenschwerer Regierungsprogramme fehlen Prävention und Aufklärung. Doch längst sind nicht mehr nur Junkies und Homosexuelle betroffen, sondern immer stärker auch die Mitte der Gesellschaft. Foto [M]: photocase.de In welcher Situation sind die Frauen, wenn sie zu Ihnen kommen? Die Situation von HIV-infi zierten Müttern und ihren Kleinkindern ist oftmals dramatisch. Viele von ihnen sind sozial in keiner Weise abgesichert und leben in wechselnden Partnerschaften. Meist sind sie in Heimen oder in asozialen Familien aufgewachsen. Sie haben keine abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung und kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Nicht wenige der jungen Mütter sind oder waren drogenabhängig. W enn Frieder Alberth nach Russland reist, dann in die Großstädte, nach St.Petersburg, nach Tomsk oder Nowosibirsk. Dorthin, wo Junkies sich ihre Spritzen teilen und die Immunschwächekrankheit AIDS sich am schnellsten ausbreitet. »Es ist erschreckend, wie wenig die Menschen über AIDS wissen und wie wenig gute Behandler es gibt«, so sein Eindruck. Regelmäßige Aufklärung fehlt, genauso wie Medikamente. Als Gründer des gemeinnützigen Vereins connect plus gibt Alberth Erfahrungen weiter, die er 22 Jahre lang als Pionier der deutschen AIDS-Hilfe sammelte und vermittelt Schulungen für die Pflege und Behandlung AIDSKranker in Russland und der Ukraine. 2001 ließ er connect plus ins Vereinsregister eintragen, zu einem Zeitpunkt, als die Ansteckungszahlen in Osteuropa in die Höhe schnellten. Es dauerte einige Zeit, bis sich das Virus nach dem Ende des Sozialismus in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion bemerkbar machte – doch um die Jahrtausendwende zählten die russischen Behörden offi ziell bereits 87 000 Neuinfektionen pro Jahr. Nirgendwo in Europa breitet sich die Immunschwächekrankheit gegenwärtig so ungehindert aus wie in Osteuropa und Zentralasien. Dem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen zufolge leben neun von zehn Menschen, die sich aus diesen Regionen im vergangenen Jahr infi zierten, in Russland oder der Ukraine. Nach Angaben der russischen Regierung steckten sich 2006 rund 39 000 Menschen mit dem Virus an, die Zahl der registrierten HIV-Positiven wuchs auf 370 000. Doch die Dunkelziffer liegt weitaus höher, selbst die russischen Behörden leiten den VN Schätzungen von bis zu 1,6 Millionen Infi zierten weiter. Das wäre gut ein Prozent der Bevölkerung. Die Epidemie grassiert vor allem in der Drogenszene und verbreitet sich mit jeder unsterilen Nadel weiter. »Über die intravenösen Drogengebraucher wird die Krankheit in Russland am stärksten verbreitet, doch wir beobachten, dass viele Drogengebraucher mittlerweile auch ihre heterosexuellen Partner infi zieren«, berichtet der Fachbereichsleiter für AIDS und HIV am Robert-Koch-Institut Osamah Hamouda. Von den Neuinfi zierten waren im vergangen Jahr 44 Prozent Frauen, soviel wie nie zuvor. Von den Randgruppen der Gesellschaft dringt die Krankheit in die Mitte der Gesellschaft vor. Auch die russischen Behörden haben AIDS mittlerweile als Problem anerkannt. Die Mittel zur AIDS-Bekämpfung wurden verzwanzigfacht, in jedem der 86 Bezirke Russlands gibt es mittlerweile ein lokales AIDS-Zentrum. Doch viele Kranke kämen gar nicht erst ins Zentrum, aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung und Repressionen. »Die Bekämpfung beruht auf rein medizinischer Herangehensweise«, meint er. Präventionsprogramme und Aufklärungskampagnen für die Risikogruppen fehlten. Nach wie vor hat Alberth deshalb den Eindruck, dass AIDS kein Thema in Russland sei. Nach den Statistiken der UN erreichen die Präventionsprogramme für die Risikogruppen nur jeden 20sten Drogenuser und sogar nur jeden 100sten schwulen Mann. Lediglich jeder fünfte HIV-Infi zierte erhält eine antiretrovirale Therapie, die den Ausbruch der Krankheit hinauszögert oder sogar stoppen kann. Die VN mahnen daher den Ausbau von Aufklärung und Vorsorge an. »Es geht nicht recht weiter mit der Bekämpfung«, meint auch Bernhard Hallermann von Caritas International. »Drogennutzer werden weggesperrt und ausgesondert. Kontrollierte Drückerstuben fehlen, auch Kondome zu benutzen, ist nicht weit verbreitet«, kritisiert Hallermann die fehlende Präventionsstrategie. Zum Test gingen viele Junkies allein aus Angst vor Strafen nicht. Diese Einschätzung teilt auch Jörg Basten, vom katholischen Verein renovabis, welcher Aufklärung in sibirischen Jugendclubs und eine Krankenschwesterschule in St.Petersburg fi nanziert. »Die Risikogruppen sind gesellschaftlich nicht akzeptiert, das zivilgesellschaftliche Engagement ist gering«, berichtet er. Erst mit der Akzeptanz anderer Lebensweisen könne eine empathische und damit Erfolg versprechende Präventionsstrategie verbunden sein, meint AIDS-Veteran Alberth. »Die meisten AIDS-Kranken sterben sonst weiterhin zu Hause bei Muttern.« Als Todesursache werde dann eingetragen: Lungenentzündung. Was bedeutet es für die Mütter, wenn sich herumspricht, dass sie AIDS-krank sind oder das Virus in sich tragen? Nicht selten ergeht es ihnen wie Tanja. Sie ist 22 Jahre alt und lebte mit ihrer Mutter, die seit Jahren schwere Alkoholikerin und tuberkulosekrank ist, in einer baufälligen, nicht mehr beheizbaren Hütte. Der Prinz, mit dem sich Tanja ein normales Leben erträumt hatte, jagte sie weg, als sie schwanger wurde. Nach einigen Wochen stellte sich heraus, dass er sie außerdem mit HIV infiziert hatte. Dank rechtzeitiger medikamentöser Behandlung kam die kleine Alesja zwar ohne HIV-Infektion zur Welt. Eine Freundin, selbst allein erziehende Mutter, nahm Tanja und ihr Kind zu sich in ihre EinraumWohnung auf. Ängstlich verschwieg Tanja ihre HIV-Infektion. Doch aus Zufall hat es die Freundin eines Tages erfahren. Sie bat Tanja, sofort mit Alesja ihre Wohnung zu verlassen, denn sie selbst habe schließlich auch ein Kind und sie wolle auf keinen Fall dessen Gesundheit gefährden. Es half keine Erklärung. Gegen die panische Angst der Freundin kam Tanja mit ihren Aufklärungsversuchen nicht an. Wie werden die Betroffenen medizinisch versorgt und betreut? Die medizinische Versorgung bessert sich zusehends, die Qualität der Beratung und Begleitung lässt jedoch in manchen staatlichen Zentren, die es inzwischen in allen Städten gibt, noch zu wünschen übrig. Unser Konzept als Caritas in Westsibirien ist in der HIV-Prävention vor allem auf die Überwindung der Stigmatisation und der gesellschaftlichen Ausgrenzung HIV-infi zierter Menschen ausgerichtet. Unterstützt die Regierung ihre Arbeit? Die russische Regierung ist sich ihrer Verantwortung im sozialen Bereich sehr bewusst und nimmt diese in den letzten Jahren auch immer deutlicher war. Die Rolle von gesellschaftlichen und religiösen Organisationen als Vertreter der Zivilgesellschaft und Partner für den Staat ist in diesem Prozess noch sehr neu. Beide Seiten lernen erst ganz allmählich, aufeinander zuzugehen. Das Interview führte Anna Lehmann. Info: Sr. Elisabeth Jakubowitz (48) ist Aachener Franziskanerin und lebt seit 13 Jahren in Sibirien. Sie leitet seit 2004 die Diözesancaritas des zweitgrößten Bistums der Welt. Die Caritas betreibt in Westsibirien mehr als 60 Projekte an 20 Standorten. Ein Projekt ist speziell der Arbeit mit HIV-Positiven gewidmet. 10 Culture Clash: Female Hip Hop and an attitude to die IT‘S TIME FOR AN ATTITUDE Jeanette Petri a.k.a. Jee-Nice gibt das Female Hiphop-Magazin Anattitude heraus. Von der Akquise über die redaktionelle Arbeit, Gestaltung bis zur Distribution macht sie bislang noch fast alles allein. Rezension Ina Beyer female hiphop. Realness, Roots und Rap Models, Anjela Schischmanjan, Michaela Wünsch (Hg.), Ventil Verlag 2007, 12,90 Euro Der Untertitel deines Magazins lautet »Hip Hop is what you came to represent«. Kannst Du das genauer erklären? Es beschreibt die Haltung von Anattitude, die sich gegen die engen Zuschreibungen im Mainstream-Hiphop wendet. Hiphop ist das, was Du repräsentierst, es ist nicht steif und fest. Das gilt besonders für das im Mainstream noch immer bestehende und gern repräsentierte Frauenbild. Das langweilt! Tender to all gender – das ist Hiphop! Wie oft kommt Anattitude raus und wie ist das Heft aufgebaut? Anattitude Magazine erscheint einmal im Jahr. Es präsentiert Porträts von Frauen, die in den Bereichen Rap, Breakdance, Deejaying oder Graffiti aktiv sind. Inhaltlich geht es um Identität, gender, Feminismus, Politik, Popkultur und Kunst. Daneben gibt es Beiträge zu relevanten Personen in der Hiphop-Geschichte, zu Film oder Mode. Anattitude basiert auf ausführlichen Interviews, Fotostrecken und einer reduzierten Gestaltung. Dargestellt wird das Zeitlose, nicht das Brandaktuelle. Die Interviews werden jeweils in der Muttersprache gehalten und ins Englische übersetzt, damit möglichst viele LeserInnen von den Inhalten profitieren können. Zum Konzept des Hefts gehört auch, nichtdeutsche Hiphop-Welten und -Kulturen zu erforschen und zu repräsentieren. Foto [M]: Selbstportrait Glaubt man den Mainstream-Medien, kommen Frauen im Hiphop bis auf wenige Ausnahmen nur als schmükkendes Beiwerk vor, die Potenz und Errungenschaften männlicher Akteure unterstreichen. Anjela Schischmanjan und Michaela Wünsch rücken mit ihrem Buch female hiphop dieses Bild zurecht: In dem Sammelband, der eigene Beiträge von Hiphop-Aktivistinnen, Interviews sowie kulturwissenschaftliche und gender-analytische Betrachtungen vereint, wird beschrieben, auf welch vielfältige Weisen Frauen in der Hiphop-Kultur aktiv sind und von Beginn an waren. Jeanette Petri a.k.a. jee-nice zeichnet in ihrem Beitrag Here’s a little story�c einen Zeitstrahl von 1973 bis ins Jahr 2006. Darauf markiert sie die Präsenz einflussreicher Ladies – etwa im Jahr 1979, als die R&B-Sängerin Sylvia Robinson das Label Sugarhill Records gründete. Sie veröffentlichte damals den Song Rappers Delight der Sugarhill Gang, der bekanntermaßen zum ersten großen Hiphop-Hit wurde und die Kultur ins Licht der Weltöffentlichkeit rückte. Clara Völker und Stefanie Kiwi Menrath beschreiben, welch unterschiedliche Rollen Frauen für sich im Hiphop besetzen. Neben Queen Bitches wie Lil’ Kim oder Foxy Brown und den Soul Sistahs – Erykah Baduh oder auch Lauryn Hill zählen dazu – stellen die beiden weniger bekannte Selbstentwürfe von hiphop-aktiven Frauen in den Fokus. Gangsta-Rapperinnen wie Bo$$ oder die Deadly Venoms etwa, die sich unantastbar cool und aggressiv geben. Oder die True School MC, der Hiphop als Kultur bei ihrem Schaffen besonders wichtig ist. Die beiden Autorinnen betreiben selbst im Internet die Plattform femalehiphop.net. Über ihr Projekt erzählen sie im Interview. Eine allgemeine Sicht auf das, was Female Hiphop sein könnte, gibt es am Ende nicht – Hiphop ist groß geworden, ist eine globale Kultur mit vielen verschiedenen lokalen Ausprägungen. Dieser Vielfalt kann ein einzelner Band nicht gerecht werden – empfehlenswert ist dennoch beispielsweise der Beitrag von Annett Busch, die ihren Blick jenseits des europäischen und US-Kontexts nach Afrika richtet. Und schließlich lebt Hiphop von den vielfältigen, immer ganz individuellen Geschichten derer, die ihn tragen. Fiva MC aus München zum Beispiel erzählt darüber, wie sie mit dem Rappen angefangen hat, Quio beschreibt, wie sie mit Sprache starre Geschlechtergegensätze aufzuweichen versucht. Und Pyranja plädiert dafür, sich »ohne wenn und aber« nicht von der männlichen Dominanz in der Szene abschrecken zu lassen und sein eigenes Ding zu machen. In dem Buch wird deutlich: Hiphop ist alles andere als eine männliche Kultur. Oder wie Salt’n’Peppa es einmal gesagt haben: »Ain’t nuthin’ but a she thing«. Du machst ein Magazin speziell über Frauen im Hiphop. Warum? Cause the world needs it! Bei den Recherchen zu meinem Reader Here’s a little story �c, der alle US-amerikanischen MCs von 1976 bis 1990 zusammenfasst, musste ich feststellen, wie wenige female MCs in den bekannten Hiphop-Bibeln und -Magazinen auftauchen. Das hat mich erschüttert, zumal ich ihre rhymes ja von meinen Vinylscheiben her kenne – diese Ladies existieren also. Seit den Anfängen der Hiphop-Kultur hat es eine enorme Anzahl sehr aktiver und einflussreicher Frauen darin gegeben – und von Tag zu Tag werden es mehr. Warum werden sie dann nicht erwähnt? Auch heute schreiben die meisten Hiphop-Mags vor allem über männliche Künstler. Deswegen ist es längst überfällig, Frauen in der Kultur angemessen zu repräsentieren – ohne sie vorher in Bikinis zwängen zu müssen. Deswegen: It’s time for an attitude. So ist Anattitude Magazine 2005 entstanden. Aber vor allem ist es aus der Liebe, Faszination und Respekt unserer Kultur gegenüber geboren. Jeanette Petri a.k.a. Jee-Nice gibt Handzeichen Was waren bisherige Schwerpunkte und welchen Themen wird sich Anattitude zukünftig zuwenden? Die erste Ausgabe legte einen großen Schwerpunkt auf gender. Sie ist vergriffen, aber noch auf www.anattitude.net online lesbar. Die zweite Nummer Paris Hiphop repräsentiert die Pariser Szene anhand acht ausführlicher Interviews. Die dritte Ausgabe, die im Mai 2008 herauskommt, wird sich ausschließlich um Female Hiphop-Geschichte drehen und Größen aus der ganzen Welt zu Wort kommen lassen. In der Zukunft soll es unter anderem eine Go East-Nummer und eine Ausgabe zu Dakar geben. den Clubs höre. Also beschloss ich damals, selbst dafür zu sorgen. Damit fi ng es an. Neben Anattitude fotografiere ich und mache Ausstellungen. Gerade organisiere ich zusammen mit Catfight Magazine (Frauengraffiti-Magazin aus Rotterdam) eine Ausstellung und Party unter dem Titel Hiphop Ladies with Attitude – Jammin Fresh & Def. Dieses Event wird während des einmonatigen Frauen-Hiphop-Festivals We*Bgirlz in Berlin im August 2008 stattfi nden. Dort präsentieren wir Graffiti und Hiphop History – strictly by females. Watch out! Be there! Was machst Du, wenn Du nicht gerade an dem Magazin arbeitest? Bist du selbst im Hiphop aktiv? Ich habe 2000 angefangen, Platten weiblicher MCs zu sammeln und unter meinem DJ-Namen Jee-Nice aufzulegen. Ich habe mich gefragt, warum ich die rhymes dieser tollen Ladies nie in Anattitude ist käuflich: In Buch- und Plattenläden in Deutschland, Frankreich, Belgien und der Schweiz. Eine Liste gibt es auf anattitude.net. Das Gespräch führte Ina Beyer. 11 Culture: Culture Clash DENN SIE WUSSTEN, WAS SIE TATEN MIT SEBASTIAN VON BRAINWASHED von Karsten Schmidt Illustration[M]: Mark Knopf Traurige Tradition der ewigen Jugend: James Dean, River Phoenix, Heath Ledger und der frühe Abschied in die Unsterblichkeit. 8 FRAGEN-CHECK Foto [M]: photocase.de Hallo Sebastian, du warst als Schlagzeuger mit der Band Brainwashed in Russland auf Tour. Wie lange und wo warst du auf Tour? Wir waren in Tscheschard, Mikun, Siktivkar, Workuta, Inta, Wolgaschor auf Tour. Insgesamt 14 Tage mit 11 Konzerten. Am 30. September 1955 starb James Dean – und wurde zum unsterblichen Idol. Er war 24 Jahre alt, als ihn die Lenkradstange seines Porsche Spider beim Zusammenprall mit einem Ford Sedan tödlich durchbohrte. Er hatte zu diesem Zeitpunkt gerade drei Filme abgedreht, die ihn im Bewusstsein der Filmgeschichte fest verankern sollten: mit Elia Kazan »Jenseits von Eden«, mit Nicholas Ray »Denn sie wissen nicht, was sie tun« und mit George Stevens »Giganten«. In diesen Filmen verkörperte James Byron Dean das Lebensgefühl der rebellierenden Jugend der 50er Jahre, sagt der Mythos, und als er starb, wurde er überhaupt zum Inbegriff des rebel without a cause. Dabei gab es zu dieser Zeit auch andere Jugendidole, wie etwa den wütenden Marlon Brando und wenig später Paul Newman, Robert Redford oder Dustin Hoffman. Allerdings drehten und drehen diese Schauspieler weiterhin Filme, wurden alt oder fett oder beides und letztlich alterte auch ihre Generation mit ihnen. Jimmy Dean aber, der hochempfindliche Narzisst und begnadete Selbstdarsteller, der sein kurzes Leben lang nichts anderes wollte, als berühmt zu sein, sich ziel- und stilsicher von Fotografen porträtieren ließ und auf der Straße wie im Leben stets auf der Überholspur fuhr, bekam an jenem 30. September 1955 die ewige Jugend geschenkt. Auch Heath Ledger wird nun im kollektiven Kinogedächtnis auf ewig jung bleiben. Sein Tod am 22. Januar 2008 beendete eine ambitionierte, doch wechselhafte Schauspielerkarriere. Anders als bei James Dean, dessen drei große Hauptrollen wie ein kompaktes Gesamtwerk erscheinen, wird bei Heath Ledger die Erinnerung an einzelne Filme bleiben. Darin ähnelt er River Phoenix, der am 31. Oktober 1993 mit 23 Jahren an einer Überdosis Kokain starb. Phoenix stand schon im Alter von zehn Jahren regelmäßig vor der Kamera und spielte mal größere, mal kleinere Rollen mit wechselndem Erfolg, etwa in dem Coming-of-age-Drama »Stand by me«, dem dritten Teil der »Indiana Jones«-Trilogie oder dem Spionagethriller »Little Nikita«. In Erinnerung blieb aber vor allem seine Darstellung des heimatlosen Strichers Mike in Gus Van Sants »My Own Private Idaho«. Das komplexe, zerbrechliche Porträt einer verlorenen Jugend, das zwei Jahre vor seinem Tod in die Kinos kam, offenbarte Phoenix als einen der talentiertesten Schauspieler seiner Generation. Der Australier Heath Ledger kam als 20-Jähriger nach Hollywood – und wenn man sich in Zukunft an seine schauspielerischen Leistungen erinnern wird, muss zweifellos Ang Lees »Brokeback Mountain« zuerst Erwähnung finden. Die Rolle des schwulen Cowboys Ennis Del Mar, der an den verinnerlichten Normen der Gesellschaft und damit an sich selbst zu verzweifeln droht, war nicht nur seine anspruchsvollste Leistung, sie rückte ihn auch als Schauspieler endgültig in ein anderes Licht. Der Teenie-Schwarm und poster boy, als den ihn Hollywood mit Filmen wie »10 Dinge, die ich an dir hasse« oder »Ritter aus Leidenschaft « vermarktete, war er nicht und wollte er nicht sein, so schien es. Viele Angebote der Studios lehnte er ab, um nicht in diese Schublade gesteckt zu werden. Stattdessen spielte er den depressiven Sohn von Billy Bob Thornton in »Monster’s Ball« oder den Junkie im australischen Film »Candy«. Und doch, nach »Brokeback Mountain« übernahm er die Hauptrolle in »Casanova«, die wieder dem Klischee vom romantischen Helden entsprach, das Hollywood seinen Jungstars gerne aufzwingt. So bleibt bei Ledger wie auch bei Phoenix der Eindruck vom engagierten Schauspieler, der zwischen der Selbstauffassung als Künstler und den kommerziellen Zwängen der Filmindustrie zerrieben wurde. Zweimal wird man Heath Ledger in diesem Jahr noch im Kino sehen: In Todd Haynes Bob-Dylan-Film »I’m Not There« (28.02.08) und im neuen Batman-Teil »The Dark Knight« (21.08.08). Heath Ledger hat sich selbst überlebt. Generell, wie kann man das Tourleben in Russland aus Sicht eines Musikers beschreiben? Durch die Vegetation waren wir gezwungen, mit dem Zug zu reisen und unsere komplette Backline sowie vier Personen immer wieder in ein kleines Zugabteil zu quetschen. Man kommt schlecht mit dem Auto durch die Tundra. Das war der unangenehme Teil. Angenehm war, dass wir in jedem Ort, in dem wir spielten, mit einem Riesenaufwand vom Bahnhof abgeholt wurden (egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit). Man wird auf den Konzerten wie ein Star gefeiert, gerade in kleinen Orten, und die dafür angemieteten Hallen sind fast immer bis auf den letzten Platz gefüllt. Was ist im Gegensatz zu Deutschland anders? Die Veranstalter sind oft netter und dankbarer und tun alles Erdenkliche, dass es auch einer kleinen Band aus Deutschland gefällt und sie gerne wieder kommt. Was den Technikbereich angeht, ist Vorsicht geboten. Oft sind die Boxen selbst zusammengezimmert oder Mikros und weitere Sachen defekt, da muss man dann improvisieren, aber auch da ist das russische Völkchen sehr einfallsreich. Eine Band, die in Russland touren will, worauf sollte sie achten? Am besten so viele eigene Technik wie möglich mitnehmen, wenn man privat untergebracht wurde, niemals das für sie gekochte Essen ablehnen und sich vor allem gut mit Medikamenten gegen Magen/ Darm-Scheiß und Erkältung eindecken, gerade wenn man im Zeitraum von Oktober bis April im Norden Russlands tourt. Du spielst in der Berliner Band Vincent ebenfalls Schlagzeug, werdet ihr auch mit dieser Band in Russland auf Tour gehen? Was sind generell eure nahen Ziele? Wenn es sich anbietet, machen wir diesen Schritt bestimmt. Unser nächstes Ziel ist erstmal einen Verlag zu finden. Jetzt noch paar persönliche Fragen: Was war deine erste gekaufte Platte? Die Ärzte – Planet Punk. Bei einem Look-A-Like-Contest, mit wem würdest du dich vergleichen? Mit wem wirst du verglichen? Axel Stein; auch John Goodman. Welche Frage wolltest du schon immer mal gestellt bekommen? Hältst du dich für die Reinkarnation einer berühmten Person? Sebastian von Brainwashed wurde abgecheckt von Andreas Voland. 12 S und V feat.: Iana Balova und Patricia Meeden zu Tanz und Gesang ES IST NICHT EINFACH NUR EIN JOB Um beim Staatsballett Berlin tanzen zu dürfen, muss man schon über großes Talent verfügen. Dass Iana Balova Talent zur Genüge hat, konnte sie gerade erst beim Jerome-Robbins-Ballettabend in der Staatsoper beweisen. In Fancy Free buhlten drei junge Matrosen um ihre Aufmerksamkeit. Wir sprachen mit ihr über Russland, Vladimir Malakhov und natürlich übers Tanzen. Die Szene dem Stück Alice in Wonderland entnommen, das in der nächsten Spielzeit wieder aufgeführt wird. Natürlich tanzt Iana Balova mit. Hallo Iana, vielen Dank, dass du dir Zeit für uns genommen hast. Ja, gerne. 14 Uhr, dann eine halbe Stunde Mittagspause und dann bis um 18 Uhr. Also ich denke, das geht. Bitte erst einmal ein paar Angaben zu deiner eigenen Person. Wie alt bist du? 16 (lacht). Nein, ich bin 22. Denkst du, dass es Unterschiede zwischen den deutschen und den russischen Tänzern gibt und wenn ja, welche? Ich denke nicht, dass es da große Unterschiede gibt. Hier am Staatsballett trainieren wir alle bei den gleichen Ballettmeistern, daher gleicht sich das Niveau nach einer gewissen Zeit an. Und woher kommst du? Ich komme aus Russland. Aus der Stadt Ufa. In welchem Alter hast du mit dem Ballett angefangen? Mit zehn Jahren. Oh, ist das nicht ganz schön spät? Nein, das ist eigentlich das normale Alter. Manche fangen schon früher an, aber mit zehn, zwölf Jahren ist es eigentlich normal auf eine Tanzschule zu gehen. Wie kamst du zum Tanzen? Meine Mutter hat mich sozusagen dahin geschubst. Da ich immer überall herum getanzt bin, habe ich in der Schule vorgetanzt und mache seitdem Ballett. Wo hast du schon überall getanzt? In Russland, hier in Deutschland und in Italien, wo ich studiert habe. Welche war deine liebste Rolle? Ich weiß nicht, ich habe noch nicht so viele Rollen gehabt, aber ich mag meine Rolle in Fancy Free gerne. Wie viele Stunden am Tag probst du? Das hängt davon ab, ob wir für Aufführungen proben oder nur normalen Unterricht haben. Normaler Unter-richt ist von 10:30 bis 12 Uhr und, wenn wir proben von 12 bis Ist das Training in Russland nicht viel härter als hier? Mit viel mehr Druck? Ich habe in einer kleineren Schule trainiert und da war alles sehr entspannt. Ich denke aber, dass das Training in den großen Schulen härter ist. Warum hast du dich dafür entschieden, in Deutschland zu arbeiten? In Deutschland gibt es eine gut entwickelte Ballett-kultur und viele klassische Ballett-Theater. Das hat mir gut gefallen. Wie empfindest du die politischen Entwicklungen in deiner Heimat? Denkst du, dass Russland auf dem richtigen Weg ist? Das kann ich gar nicht so genau sagen, weil ich seit acht Jahren nicht mehr in Russland war. Die Leute sagen aber, dass es besser geworden ist. Ich verfolge das nicht so und kann das persönlich nicht beurteilen. Warum nicht? Hier sind wir 89 Tänzer im Ensemble – in Russland sind es 200. Das bedeutet, dass es dort eine wesentlich stärkere Konkurrenz gibt. Der Druck ist bei solch einer großen Anzahl von Tänzern einfach größer. Und in den kleineren Ensembles ist die Bezahlung nicht so gut. Wie groß ist die Anerkennung, die man als Balletttänzerin bekommt? Das hängt ganz vom Land ab. In Italien beispielsweise denken sie, wenn du sagst, dass du Balletttänzerin bist, das sei nur dein Hobby und fragen dich, was du beruflich machst. In Russland ist das schon anders. Da sagen sie bewundernd »Ah, du bist eine Balletttänzerin«. In Deutschland ist das ähnlich. Zumindest hier in Berlin. Denkst du, dass sich der Beruf der Tänzerin von anderen Berufen unterscheidet? Die meisten Tänzer sind sehr leidenschaftlich in ihrer Arbeit, es ist wie eine Liebesgeschichte. Es ist nicht einfach nur ein Job und natürlich ist es etwas anderes, wenn du deinen Beruf so liebst wie ich. Aber das kann anderen Menschen in deren Berufen auch so ergehen – wenn sie wirklich mögen, was sie tun. Hast du Heimweh? Nein, eigentlich nicht. Ich bin schon lange von zu Hause weg. Ich vermisse meine Freunde – das auf jeden Fall. Aber ich bin gerne hier in Berlin. Was sind die Vorteile des Lebens eines Tänzers? Du triffst eine Menge Leute. Eine Menge unterschiedlicher Leute mit unterschiedlichen Nationalitäten. Da kannst du wirklich deinen Horizont erweitern. Außerdem lernst du viele Orte kennen, wenn du auf Touren bist. Willst du irgendwann nach Russland zurückkehren? Nein, ich denke nicht. Und die Nachteile? Ein großer Nachteil ist auf jeden Fall, dass man nur bis zu einem bestimmten Alter Rubrik: Interview 13 TALENT SETZT SICH DURCH Interview mit Patricia Meeden, der 22jährigen Hauptdarstellerin des Musicals Miami Nights Foto [M]: Foto: Enrico Nawrath Miami Nights greift viele Elemente aus den 80er Jahren auf, wieso sind die 80er jetzt wieder so interessant? Mit den 80ern verbinde ich Freiheit – in der Mode und in der Musik. Ich denke, dass die Leute sich nach dieser Freiheit, dem Außergewöhnlichen, dem Rebellischen sehnen. arbeiten kann. Danach muss man sich noch einmal orientieren und völlig neu anfangen. Wie empfi ndest du die Arbeit mit Vladimir Malakhov? Er ist immerhin der Name, wenn es um Ballett geht. Er ist trotz seines Ruhmes ein bodenständiger Mensch geblieben und es macht wirklich Spaß mit ihm zu arbeiten. Natürlich ist er der Intendant und natürlich ist er Vladimir, aber du kannst immer mit ihm reden. Er ist offen und freundlich. Er ist menschlich. (Stimmen von draußen) Oh, das ist er da draußen. Oh, wirklich. Na ja, du hast ja nichts Schlimmes gesagt. Ich weiß, aber vielleicht sollte ich alles noch einmal lauter sagen. Ich kann dir die Frage gerne noch einmal stellen. Also… (lacht) Sind die anderen Tänzerinnen eine Inspiration für dich? Ja, natürlich sind Polina (Semionova – Anm. d. Verf.), Nadja Saidakova, Shoko Nakamura, Beatrice Knop und alle anderen Solistinnen eine Inspiration für mich, denn sie sind alle so unterschiedlich und talentiert. Aber auch sie sind alle sehr normal. Jeder wird hier gleich behandelt. Hat sich deine Beziehung zum Tanzen in all den Jahren verändert und wenn ja, wie? Ich weiß nicht, es macht immer noch Spaß, auf der Bühne zu sein. Hast du irgendwelche Aufführungen gehabt, bei denen dir eine lustige Panne passiert ist oder über die du dich besonders geärgert hast? Nein, hier ist noch nichts passiert. In Russland aber wurde mal bei einer Aufführung das Mädchen, mit dem ich zusammen getanzt habe, nicht aufgerufen. So war ich alleine auf der Bühne und musste improvisieren. Ich hoffe, dass mir so etwas nicht noch einmal passiert. Hast du vor irgendetwas Angst? Verletzungen vielleicht? Bis jetzt habe ich mich noch nicht verletzt. (klopft dreimal auf den Tisch) Aber man kann immer fallen. Das kann einfach passieren und ist dann auch nicht dein Fehler. Ich versuche einfach nicht darüber nachzudenken, denn dann macht man sich nur Sorgen. Oh, entschuldige. Ich wollte dich mit meiner Frage nicht beunruhigen. Vergiss sie einfach ganz schnell. Schon passiert. Sehr gut. Was machst du eigentlich in deiner Freizeit? Ach, so das Übliche. Manchmal gehe ich weg oder bleibe auch einfach nur zu Hause und schaue Fernsehen. Zum Thema Rebellion: Pete Doherty, Amy Winehouse – die totale Rock ´n Roll-Attitüde – wie stehst du zu solchen Typen? Ich bin totaler Amy Winhouse Fan und fi nde es absolut schade, dass sie sich so kaputt macht. Ich bin extrem gegen Drogen aller Art. Ich verstehe es, dass manche Menschen kiffen müssen um kreativ zu sein – das ist deren Sache. Aber sich so die Kante zu geben ist einfach nur schlimm. Momentan sprießen überall die Superstars. Es wird gecastet was das Zeug hält. Was hältst du davon? Früher fand ich Casting-Shows toll. Aber man sieht ja was mit den Leuten passiert. Die wandern ins Dschungelcamp. Für mich würde es nicht in Frage kommen. Aber für jemanden, der sonst keine Möglichkeit hat einen Musikproduzenten kennen zu lernen, stellt so eine Show natürlich eine super Plattform dar. Allerdings wird man diesen Stempel »ich war bei einer CastingShow« nie wieder los. Wo siehst du deine Stärke: im Tanzen oder im Singen? Ich bin ausgebildete Balletttänzerin. Dennoch würde ich meine Stärke eher im Singen sehen. Natürlich tanze ich auch gut, da haben die acht Jahre Ausbildung ihre Wirkung gezeigt. Aber mein Herz gilt dem Singen. Zum Tanzen Üben bin ich oft zu faul. Dann müsstest du mal zu Detlef Soost ins Training. Um Gottes Willen! Kann ich mir verkneifen. Hast du einen Tipp für Neueinsteiger? Nicht in die Ballettschule gehen! Eine Musical-Ausbildung ist nicht schlecht. Die integriert Schauspiel, Gesang und Tanz. Natürlich wird das Tanzen nicht so ausführlich gelehrt, das sind nicht die Super-Tänzer, aber wer Talent hat kann sich durchsetzen. Willensstärke ist wohl das Wichtigste, damit kommt man überhaupt sehr weit. Egal, ob man eine Ausbildung hat oder nicht. Nun zur letzten Frage: Hast du für die Zukunft irgend-welche Wünsche, Hoffnungen oder Pläne? Oh. (überlegt) Ja, natürlich möchte ich bessere und mehr Rollen bekommen. Wie jeder vielleicht. Miami Nights – 80er Jahre-Musical - Gastspiel im Berliner Admiralspalast (26.02. - 16.03.2008 Friedrichstraße 101, 10117 Berlin) und in der Alten Oper Frankfurt/Main (18.03. - 29.03.2008 Opernplatz, 60313 Frankfurt/Main) Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg für deine Zukunft. Dankeschön. Die gebürtige Berlinerin Patricia Meeden steht seit ihrem 17. Lebensjahr auf der Bühne – u.a. bei Cats. Derzeit spielt sie in Miami Nights die Kubanerin Laura. Das Interview führte Lisa-Sophia Preller Das Interview führte Ruth Steinhof 14 Poetry Slam: Eisenzeit in Warschau GESCHICHTEN AUS DER EISENZEIT VI Warschauer Kunststücke Illustration: Florian Bielefeldt von Frank Hammer In jener Zeit, als in unserer Weltgegend die Häuser noch grau, aber bewohnt waren, hatte ich, was meine Reisetätigkeit betrifft, zwei auf schnelle Einsicht gegründete Grundsätze. Zum einen sagte ich mir: Im Westen steht eine Mauer, da kommst du nicht rüber, also sieh dir konsequent den Osten an. Der andere Grundsatz war die Folge des ersten: Je weiter du nach Osten fährst, desto mehr Leute aus dem Westen lernst du kennen. 1979 saß ich mit fünf jungen Franzosen im Garten einer kleinen Campingplatzversorgung im Osten von Warschau. Ich hatte mich der Gruppe als Tramp angeschlossen und wir hatten schon eine Tour, die Ostseeküste entlang über die masurischen Seen, hinter uns. Im Garten stärkten wir uns für einen Tagestrip in die Altstadt. Der Tag begann sonnig und vielversprechend. Wir redeten munter durcheinander, wobei Jacques und Josianne, zwei angehende Lehrer, die Übersetzung übernahmen und wir anderen uns mehr in Gestik und Mimik übten. Wir waren so auf uns konzentriert, dass wir gar nicht merkten, dass wir längst die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste erregt hatten. Erst als ein alter Mann demonstrativ am Nebentisch Platz nahm, fiel mir auf, dass er als Späher aus einer Gruppe von Bauarbeitern gestartet war, denen er auch laut seine Beobachtungen mitteilte: »Fünf Franzosen, ein Deutscher.« Der alte Mann war durchaus eine Erscheinung: Er hatte wallendes weißes Haar und ein markantes Indianergesicht. In mein Tagebuch schrieb ich damals: »Er hatte einen durchdringenden Blick, der mir eine Gänsehaut machte. Ich habe solche Augen noch nie gesehen.« Als es uns in der Gruppe unbehaglicher wurde und unsere Gespräche langsam verstummten, sprach er Jacques direkt an, um sich seine Erkenntnisse bestätigen zu lassen. Er tat es in bestem Französisch, was meine Gefährten mit großem Erstaunen quittierten. Als Jacques mir den Dialog ins Deutsche übersetzen wollte, sagte der Alte leise auf Deutsch: »Nicht übersetzen, das ist ein Faschist!« Es dauerte eine Weile bis die schwere der Botschaft bei allen meinen Freunden angekommen war. Josianne protestierte als erste: »Er ist kein Faschist. Er ist unser Freund.« Alle meine Reisegefährten verteidigten mich energisch. Die Stimmung kippte, auch bei den Zaungästen an den anderen Tischen. Schließlich bot mir der Alte – wiederum auf Deutsch – ein Bier zur Versöhnung an. Ich lehnte ab. Wahrscheinlich sogar sehr rigoros. Der Mann wechselte wieder ins Französisch und bat an unserem Tisch Platz nehmen zu dürfen. Als die fünf die Frage bejahten, bat er Jacques, mir das, was er jetzt zu sagen hätte, ins Deutsche zu übersetzen. Es würde ihm – obwohl er es könne – schwer fallen, Deutsch zu sprechen. Seine Geschichte begann er in den zwanziger Jahren des Jahrhunderts, als seine Familie einen berühmten polnischen Zirkus besaß. Er schilderte uns, dass er schon als Kind in der Manege stand und wie der Beifall ihm frühen Genuss bereitete. In der Zeit der Weltwirtschaftskrise starben Zirkus und Vater. Die übrige Familie zog, wie viele Polen, nach Frankreich, um sich in den Kohlebergwerken zu verdingen. Er wurde Lehrling und politisch aktiver Bergman. »Nous sommes les Polonais du Nord…«, sang er uns stolz seine Lebenshymne vor… In der Zeit der Besetzung Frankreichs schloss er sich der Resistance an. Bald wurde er von den Deutschen gefasst. Die triumphierten, als sie ihn hatten: Pole, Jude, Widerstandskämpfer… Von West nach Ost wurde er durch die Lager verbracht, bis er schließlich in Auschwitz ankam. Hier lernte er einen Freund kennen, einen Deutschen. Der war Schriftsteller und Kommunist: »Der hat mich Deutsch gelehrt – nicht die Sprache der Henker. Die Sprache von Goethe und Schiller. Der hat mir Mut gemacht. Der war der einzige von uns, der sich getraut hat, den Wachleuten in die Augen zu sehen. Er ist vor der Befreiung des Lagers gestorben…« Das sagte der alte Mann zu mir. Er sagte es in akzentfreiem Deutsch. Als er es sagte, weinte er ein bitteres Weinen. Irgendwann fragte er mich, ob ich jetzt ein Bier mit ihm trinke… »Natürlich trinken wir ein Bier«, sagte ich. Als er sich später von uns verabschiedete, bat er ein letztes Mal um unsere Aufmerksamkeit. Er nahm ein altes Fahrrad vom Zaun und machte mitten im Sommergarten einen akkuraten Handstand auf dem Lenker desselben. Eine lange Zeit hielt er die Balance. Erst als er abschwang verlor er sie. Er stürzte hart auf das Pfl aster. Bei den Bauarbeitern, die immer noch in der Nähe saßen, löste der Sturz ein großes Gelächter aus. Unser Artist aber schnellte in die Höhe, warf einen kurzen, verächtlichen Blick auf seine früheren Bekannten, griff sich das Rad am Lenker und zog es hinter sich her. Er schritt aus dem Garten, wie man eine Manege verlässt. Wir, in unserer kleinen Runde, konnten nicht lachen. Im Gegenteil. Einen langen Tag schwiegen wir aus Ehrfurcht vor dem fremden Schmerz. Die sieben Fragezeichen: Politik und Medien in Russland gab diesen »neuen Reichen« die Chance zum sozialen Kapitalismus. Nicht alle nutzten sie. Chodorkowskis Fall war eine gute Lehre für sie. Er wurde bestraft, da er neben Gesetzesuntreue auch noch politische Ambitionen pflegte. Auch dies fällt nicht in den Bereich von RoG. Wie sollte sich Europa gegenüber Russland verhalten? Es sollte seine Arroganz und Überheblichkeit abschütteln und Russland als wirtschaftlichen Partner mit ganz anderer Mentalität und Kultur, mit Recht auf eine eigene Entwicklung betrachten. Der moderne russische Staat ist extrem jung und erlebt noch einige Wachstumskrankheiten. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn der »Westen«, statt argwöhnisch, neugierig und erforschend wäre. Im Bereich der Menschenrechte darf es keine faulen Kompromisse geben. Europa muss darauf drängen, dass Russland seine Bekenntnisse zu einer unabhängigen Presse und zur Wahrung der Menschenrechte konsequent umsetzt. Welche Eigenheiten sollten wir kennen, um Russland zu verstehen? Was die »russische Seele« bedeutet? Ein Thema zum Grübeln. Vielleicht helfen Bücher von Dostojewski und Lew Tolstoi. Gefühle sind für Russen von großer Bedeutung. Zusammen weinen oder lachen können wir am besten. Ab und zu sogar übertrieben, weil vieles in Russland zu weit, außer Maßen geht. Absolut fremd ist Fotos[M]: epa/Dmitry Astakhov/Pool Wer steckt vermutlich hinter dem Mord an Anna Politkowskaja? Nur prätentiöse Beobachter können behaupten, dass dieser Mord vom Kreml ausgeführt worden wäre. Die Fälle Politkowskaja als auch Litwinenko sollten negatives Aufsehen erregen, was vollkommen gelang. Ich stimme vielen Analytikern zu, dass an der Spitze des grausamen Unterfangens einer der Exil-Oligarchen steht. Es ist immer noch unklar, wer Anna Politkowskaja umgebracht hat. RoG fordert weiter hartnäckig, konsequent zu ermitteln. Ich habe im November letzten Jahres mit dem zuständigen Chefermittler gesprochen, der versicherte, im Frühling Anklage zu erheben. Bis dahin müsse er schweigen. RoG berichtete ausführlich über die Ermittlungen und möglichen Verstrickungen der Politik in den Mord. www.reporter-ohne-grenzen.de, www.rsf.org 15 Warum genießt Putin eine so hohe Popularität? Putin dient aufrichtig seinem Land. Was war Russland vorher? Ein zerfallener Staat, die Bürger von korrupten Eliten beraubt. Alle zentralen TV-Sendungen gehörten einzelnen Oligarchen und wurden für deren Interessen genutzt. Dazu kam ein beispielloser westlicher Druck auf die Energieressourcen des Landes. Putin unternahm eine Reihe von durchgreifenden Aktionen gegen die konkurrierenden Oligarchengruppen. Parallel führte er eine vernünftige Wirtschafts- und Steuerpolitik, die Steuerzahlen attraktiver als Bestechung machte, was vorher ganz anders war. Das gewonnene Geld wird im Rahmen nationaler Projekte ausgegeben. Der Wohlstand und das Selbstbewusstsein sind nach den Erniedrigungen der 90er Jahre gestiegen. Putin ist eine charismatische Figur, vergleichbar mit Charles de Gaulle. Mit dieser Frage beschäftigt sich RoG nicht, doch eins ist klar: Den Menschen geht es seit dem Amtsantritt Putins wirtschaftlich besser, und das angeschlagene nationale Selbstbewusstsein ist erstarkt. Das Gut Pressefreiheit besitzt leider derzeit bei vielen Menschen in Russland keine Priorität. Wie ist Putins Vorgehen gegen den Ölmagnaten Chodorkowski zu verstehen? Er gehörte zu den Oligarchen, die sich in den 90er Jahren riesiges Kapital angeschafft und keinen sozialen Verpflichtungen, wie Steuern zu bezahlen, nachgegangen sind. Die durchgeführte Privatisierung war amoralisch und wurde nie von den Menschen akzeptiert. Putin Stichwort „Berichterstattung in den Medien“ über und in Russland… Ich bin nach Deutschland übergesiedelt und war voll von idealistischen Vorstellungen vom »freien Westen«. Dann war ich äußert schockiert von einseitigen, sogar feindlichen Pressestimmen. Ich habe kaum gründliche analytische Kommentare, Berichte ohne negative politische Nuancen über Russland gelesen, mit Ausnahme von Peter SchollLatour. Dies kann man in einem gebildeten Land nicht durch Inkompetenz erklären. Es herrscht gezielt Manipulation, Gehirnwäsche. Gezeigt werden entweder besoffene Bauern, geschmacklose Reiche oder Putin als machtgieriges, Blut trinkendes Monster. Lächerlich! Die Pressefreiheit in Russland hat unter Wladimir Putin extrem gelitten. Gab es in den 90er Jahren Pluralität (wenn auch keine Unabhängigkeit), ist jetzt das gesamte Fernsehen auf die Linie des Kreml gebracht worden. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wird die Macht des Präsidenten inszeniert; oppositionelle und kritische Stimmen werden systematisch diskreditiert. In den Printmedien gibt es zwar Inseln der Pressefreiheit, aber die Verbreitung und der Einfluss von Zeitungen ist begrenzt. Das Internet ist zum Instrument für freie Kommunikation und Berichterstattung geworden, aber auch hier gibt es Fälle von Zensur und Einschüchterung (z.B. Gerichtsverfahren vorgeblich wegen extremistischer Inhalte oder Beamtenbeleidigung). In den Provinzen werden unabhängige Medien regelmäßig durch Lokalpolitiker unter Druck gesetzt. den Russen nationale Feindlichkeit, aufgrund der ca. 150 Völker auf russischem Territorium. Um uns besser zu verstehen, müssen wir kommunizieren, Bekanntschaften schließen. Ein Gast ist für den Russen König. Es wird viel gegessen, getrunken, diskutiert und anschließend Freundschaft bis zum Tod versprochen.RoG beschränkt sich darauf, die Entwicklung der Pressefreiheit in Russland zu kommentieren. Um diese steht es derzeit schlecht und RoG setzt sich dafür ein, dass in Russland eine unabhängige, pluralistische und verantwortungsbewusste Presse entstehen kann. Um in Russland Gehör zu finden, ist es wichtig, die Besonderheiten des Landes gut zu kennen, RoG hat deshalb Recherche zur und Expertise für die ehemalige Sowjetunion verstärkt. Elina Feist, Ärztin, viel älter als 27 Jahre, seit 2000 in Berlin. Ihre Verwandtschaft lebt in Sibirien, Moskau und Weißrussland. Die deutsche Sektion von Reporter ohne Grenzen (für RoG im Interview Jakob Preuss) hat seit Juni 2007 einen GUS- Schwerpunkt eingerichtet und arbeitet somit verstärkt zu den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, dem Zusammenschluss von zwölf ehemaligen Sowjetrepubliken. Wir recherchieren zu Einzelfällen, betreiben Lobbyarbeit bei der Bundesregierung und versuchen Journalisten in Not zu helfen. Die Fragen stellte Maximilian Staude. WIR SIND ÜBERALL ZU HABEN In D e r N a c h s t e n Ausgabe ZUTRITT VERBOTEN OFFENTLICHE RAUME GANZ PRIVAT GOOD BYE, STALIN! GESCHICHTEN AUS EINER SCHRUMPFENDEN (EISENHÜTTEN)-STADT. AUS ZWEI MACH EINS: DER FREEDOM TOWER IN NEW YORK SOZIALTREFF SHOPPING MALL Die nächste Ausgabe von Sacco und Vanzetti erscheint am 14. März 2008. Foto [M]: photocase.de Foto: Ruth Steinhof impressum Sacco und Vanzetti wird an fast allen Unis in den neuen Ländern verteilt. Internet: myspace.com/saccoundvanzetti Redaktion: Thomas Feske (V.i.S.d.P.), Martin Schirdewan Autoren dieser Ausgabe: Susan Diehm, Agata Waleczek, Claudia Goldberg, Eva Flemming, Anna Lehmann, Ina Beyer, Karsten Schmidt, Andreas Voland, Lisa-Sophia Preller, Frank Hammer, Maximilian Staude. Unter Mitarbeit von: Stefan Rudi, Olga Petrushko, Sebastian von Brainwashed, Elina, ASW, Reporter ohne Grenzen, PaCo, Florian Bielefeldt. Graphische Gestaltung: Stephan König, Martin Deffner, genausoundanders.com Herausgeber: Neues Deutschland Druckerei und Verlag GmbH Projektmanagement: Christoph Nitz Anzeigen: Dr. Friedrun Hardt (Leitung) (030) 2978-1841, Sabine Weigelt (030) 2978-1842, E-Mail: anzeigen@nd-online.de, Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 18 vom 1. Januar 2008. Täglich. Kritisch. Anders. Die linke Tageszeitung aus Berlin. Jetzt testen. Foto: aurelius/PIXELIO Ja, ich teste »Neues Deutschland« 14 Tage lang kostenlos und unverbindlich. Vorname, Name Tel.-Nr. (für evtl. Rückfragen) Straße, Hausnummer Datum, Unterschrift Abonnent/in PLZ, Ort Neues Deutschland, Aboservice, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin aboservice@nd-online.de * www.neues-deutschland.de/abo DM-FA-PO-SVPO Druck von Links.