1 Einleitung

Transcription

1 Einleitung
1
Einleitung
„Diese Erklärung der englischen Regierung ist ein Ereignis von außerordentlicher Tragweite. Es ist das erste Mal, daß eine Großmacht in offizieller Weise zum Zionismus Stellung
nimmt. […] die Anerkennung dieses Anspruchs [auf ein jüdisches Palästina] durch die englische Regierung [ist] ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung […].“ 1
So wertete die Jüdische Rundschau die sogenannte Balfour Deklaration, die der britische Außenminister Arthur James Balfour in Form eines Briefes am 2. November
1917 an Lord Lionel Walter Rothschild richtete. Die im Original nur neun Zeilen
umfassende Sympathieerklärung der britischen Regierung für die Errichtung einer
nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina fand ungeheuren Widerhall
sowohl in der jüdischen als auch in der nichtjüdischen Welt. Es fanden Demonstrationen und Kundgebungen statt, in denen der britischen Regierung gedankt wurde.
In Synagogen wurden Dankesgottesdienste abgehalten. Die Erklärung zog auch
eine breite und lang andauernde publizistische Debatte auf internationaler Ebene
nach sich, für die das oben genannte Zitat ein Beispiel ist. Bei aller Kontroversität,
welche diese Debatte prägte, basierte sie auf einem sich rasch etablierenden
Grundkonsens hinsichtlich der Bedeutsamkeit der Erklärung. Dieser Grundkonsens reproduziert sich in der anhaltenden umfangreichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Aspekten der britischen Erklärung. Etliche
Studien machen in der britischen Erklärung gar den „Samen“, Ursprung oder Ausgangspunkt des Nahostkonfliktes aus.2
So unwidersprochen damit die im Zitat der Jüdischen Rundschau zum Ausdruck
kommende Bedeutsamkeitszuschreibung erscheint, so wenig erklärt sich diese aus
der britischen Sympathieerklärung selbst. Im Gegenteil: Streng genommen wurde
sie nie von der britischen Regierung offiziell verkündet, sondern sie gelangte nur in
Form eines Berichtes über einen Brief an die Öffentlichkeit. Darüber hinaus beinhaltet die Erklärung keinerlei verbindliche Festlegungen Großbritanniens. Auch als
reine Sympathieerklärung charakterisiert die Balfour Deklaration eine große inhaltliche Vagheit: Denn was unter den zionistischen Bestrebungen (Zionist aspirations)
und insbesondere unter dem Begriff der nationalen Heimstätte (national home) zu
verstehen ist, erscheint weitgehend offen.
Damit aber werden die rasch selbstverständlich gewordenen Bedeutungs- und
Bedeutsamkeitszuschreibungen, welche diese Erklärung in ihrer Rezeption erfuhr
und letztlich bis heute erfährt, erklärungsbedürftig.
1
2
JR 46 (16.11.1917), S. 369, Eine Erklärung der englischen Regierung für den Zionismus.
So z.B. zuletzt der Titel von SCHNEER (2010): The Balfour Declaration – The Origins of
the Arab-Israeli Conflict.
2
1.1
Einleitung
Stand der Forschung
Obwohl die Balfour-Deklaration praktisch in keiner Darstellung des ArabischIsraelischen Konfliktes fehlt3, lag lange nur eine Monographie zum Thema vor:
Leonard Stein veröffentlichte sein Werk The Balfour Declaration 19614 noch bevor
alle Dokumente zugänglich waren, dennoch ist sein Buch nicht überholt, sondern
stellt noch immer das grundlegende Werk besonders hinsichtlich der Entstehung
der Balfour Deklaration dar. Daneben existiert eine breite Literatur in Form von
Aufsätzen, die sich mit der Entstehung und auch Bedeutung der britischen Erklärung auseinandersetzt: Besonders die Motive der britischen Regierung werden immer wieder untersucht und die Ergebnisse hinterfragt.5 Nach Alexander Schölch
sind die Motive im Wesentlichen aufgeklärt, unterliegen aber immer noch historiographischen Kontroversen.6 Auch die Rolle der Akteure bildet einen Schwerpunkt der Forschung, auf zionistischer Seite Chaim Weizmann, Nahum Sokolow
oder Louis Brandeis,7 auf anglo-amerikanischer Seite beispielsweise Arthur J. Balfour, Herbert Samuel, Captain Reginald Hall oder Woodrow Wilson8.
Isaiah Friedman nimmt in seiner Studie von 1973 im Wesentlichen die britische
Presse im Vorfeld der Erklärung in den Fokus, eine Untersuchung der internationalen Rezeption in den Printmedien ist nicht Gegenstand seiner Untersuchung.9 In
seinem Buch Germany, Turkey, and Zionism zieht er auch Zeitungsberichte in seine
Untersuchung mit ein, analysiert diese aber hinsichtlich des im Titel angekündigten
„Dreiecksverhältnisses“ Deutschland, Türkei und Zionismus. Die Balfour Deklaration ist hier eher ein Nebenschauplatz.10
Ronald Sanders geht zwar auf einige Presseberichte sowohl vor11 als auch nach12
der Veröffentlichung der Balfour Deklaration ein, aber auch er unternimmt keine
systematische Untersuchung. Egmont Zechlin geht am Rande auch auf die mediale
Resonanz der Balfour Deklaration vor allem im deutschsprachigen Raum ein, beschränkt sich hier aber auf das Jahr 1917 und stützt sich zu großen Teilen auf die
Presseschau der Jüdischen Rundschau.13 Sowohl Friedman, Sander als auch Zechlin
nutzen die Presseberichte eher als „Beiwerk“. Im Wesentlichen dienen sie zur Betonung und als Beleg der positiven Aufnahme der Erklärung.
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Z.B.: MEJCHER; SCHÖLCH (1981); SMITH (42001); BICKERTON; KLAUSNER (42002); STEEN
(2008).
STEIN (1961).
So z.B.: LEVENE (1992); REINHARZ (1996); RENTON (1998).
SCHÖLCH (1981), S. 43.
So z.B.: BARZILAY-YEGAR (1982); STEIN (1964); GAL (1982).
GILMOUR (1996); LEBOW (1968); STEIN (1963); WASSERSTEIN (1976), ROSEN (1988);
SHIMONI (1977).
FRIEDMAN (1973b).
FRIEDMAN (1998), S. 340.
SANDERS (1984), S. 603.
SANDERS (1984), S. 615 ff.
ZECHLIN (1969), S. z.B. S. 415, FN 18-21, S. 416 FN 22, 23.
Stand der Forschung
3
Gegenüber Steins Monographie bietet das 2009 erschienene Werk von Geoffrey
Lewis kaum neue Erkenntnisse, sondern leistet eher eine allgemeine Einführung in
die Thematik.14 Auf die Presseberichterstattung geht Lewis nicht ein.
Stein bezieht auch die Pressestimmen britischer Zeitungen im Vorfeld der britischen Sympathiebekundung in seine Analyse der Entstehung und Verhandlungen
über dieselbe ein. Er geht jedoch nur auf die unmittelbar nach der Veröffentlichung
der britischen Erklärung erfolgte Berichterstattung in Großbritannien ein, die er als
fast ausschließlich positiv sieht.15 Bei seiner Analyse stützt er sich auf Presseschauen im Zionist Review16 vom Dezember 1917 und auf Nahum Sokolows erstmals 1919
publizierte History of Zionism17, dessen zweiter Band ein Kapitel zu der britischen
Erklärung und ihrer Rezeption enthält. Diese „Quellenbasis“ grenzt zum einen den
zeitlichen Rahmen der Untersuchung stark ein, zum anderen sind beide Zusammenstellungen insofern problematisch, als sie von einem unmittelbar mit der Balfour Deklaration und den sich an diese anschließenden Ereignisse verbundenen
zionistischen Akteur – Sokolow – und einer zionistischen Zeitung stammen und
somit als parteiisch angesehen werden können. Sokolows Feststellung, die Presse
sei ohne Ausnahme wohlwollend gewesen, folgt eine Zusammenstellung von britischen Pressekommentaren, die die Balfour Deklaration loben.18
Mit der Reaktion auf die Balfour Deklaration haben sich einige Wissenschaftler
auseinandergesetzt und ihre Ergebnisse in Aufsätzen veröffentlicht. So beschäftigt
sich Klaus J. Herrmann 1965 mit den Reaktionen der deutschen Juden auf die Balfour Deklaration und zeichnet zugleich die Organisationsstrukturen des deutschen
Judentums nach.19 Er zieht zwar einzelne Artikel der Neuen Jüdischen Monatshefte und
Im deutschen Reich heran, diese sind allerdings zum einen nur Sprachrohre eines Segments des deutschen Judentums, zum anderen beschäftigen sie sich in erster Linie
mit der Erklärung der deutschen Regierung bezüglich des Zionismus und dem
Verhältnis der nicht- bzw. explizit anti-zionistischen Juden zum Zionismus. So
trägt dieser Abschnitt auch die Überschrift Counteracting the Balfour Declaration.20 Im
Zentrum seiner Untersuchung steht keine Analyse der deutsch-jüdischen Presse.
Ebenfalls in den 60er Jahren veröffentlichte Charles I. Goldblatt einen Artikel,
der die Wirkung der Balfour Deklaration in den USA zum Thema hat.21 Dieser
Aufsatz ist der einzige Beitrag, der sich explizit mit der Aufnahme der britischen
Erklärung in der Presse auseinandersetzt. Goldblatt interessiert die öffentliche
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LEWIS (2009).
“Nevertheless, though several of the most widely read newspapers expressed no opinion
on the merits of the Declaration, its reception in the English press generally was friendly
and in many cases warmly sympathetic.” STEIN (1961), S. 559-563, 561.
Eine britische zionistische Wochenschrift. SOWDEN (2007), S. 490.
SOKOLOW (1969), (erstmals 1919 veröffentlicht).
SOKOLOW (1969), S. 84-99.
HERRMANN (1965), S. 303-320.
HERRMANN (1965), S. 313.
GOLDBLATT (1968), S. 455-515.
4
Einleitung
Meinung, die sich für ihn u.a. besonders in der Presse und dem Kongress widerspiegelt.22 Dieser Annahme entsprechend ist der Aufsatz zweigeteilt: Den ersten
Teil bildet eine Analyse der amerikanischen Berichterstattung über die Balfour Deklaration,23 im zweiten Teil findet sich eine im wesentlichen auf andere Quellen als
Presseartikel gestützte Darstellung über die Reaktionen des Präsidenten, des Kabinetts und des Kongresses.24 Goldblatt gliedert den ersten Teil nach Art des Printmediums: säkulare Presse, periodische Literatur, christlich religiöse und jüdische
Zeitschriften. In der von ihm als „secular press“ bezeichneten Unterart, die auch
meine Quellenbasis darstellen soll, untersucht er schwerpunktmäßig die Monate
November und Dezember 1917, dafür finden sich bei ihm Hinweise auf 38 Zeitungen. Er stellt im Wesentlichen eine positive Aufnahme bei den Zeitungen fest,
nennt einige Diskussionslinien,25 auf die er nicht näher eingeht, was auf Grund der
nur knapp fünf Seiten, die dieser Pressegattung gewidmet sind, auch kaum möglich
wäre. Allein der New York Times unterstellt er eine antizionistische Haltung, die sich
konstant in den Kommentaren der Zeitung wiederfände.26 Belege, die dies nachvollziehbar machen, finden sich allerdings nur für den Zeitraum November bis Dezember 1917. Eine Beschäftigung mit dem Für und Wider des Zionismus und der
jüdischen Heimstätte sei allein in der Zeitschriftenliteratur auszumachen.27
Isaiah Friedman fragt in seinem Aufsatz „The Response to the Balfour Declaration“28 in erster Linie nach dem Erfolg der Erklärung für Großbritannien und
die Zionisten. Daher steht nicht so sehr die öffentliche Wahrnehmung im Vordergrund, sie dient ihm lediglich als Anhaltspunkt. So verweist er im Wesentlichen auf
Akten des War Office und des Foreign Office und Briefe der am Geschehen Beteiligten und geht nur auf einige ausgewählte Artikel ein.29 Die Artikel belegen auch
bei Friedman die positive Aufnahme in der Öffentlichkeit und werden von ihm
nicht weiter inhaltlich ausgewertet. Lawrence Davidson geht in seiner Studie der
Frage der Wahrnehmung Palästinas in den USA seit der Balfour Deklaration bis
zur Staatsgründung nach.30 In dieser größer angelegten Untersuchung analysiert er
auch die Berichterstattung vier amerikanischer Zeitungen im Jahre 1917 hinsichtlich ihrer Sicht, Darstellung und somit Vermittlung der Sicht Palästinas und des
Zionismus.31 Einen Fokus legt Davidson auf die Berichterstattung der New York
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GOLDBLATT (1968), S. 503.
GOLDBLATT (1968), S. 460-492.
GOLDBLATT (1968), S. 455-515., S.492-515.
So z.B. das Erstaunen über die Uneinigkeit innerhalb des „jüdischen Lagers” bezüglich des
Zionismus oder auch, dass der Vorwurf der Illoyalität als absurd zurückgewiesen wird.
GOLDBLATT (1968), S. 461-462.
GOLDBLATT (1968), S. 464.
GOLDBLATT (1968), S. 464.
FRIEDMAN (1973a).
Z.B. auf den Jewish Chronicle, die Jüdischen Rundschau, die New York Times, den Daily
Telegraph und die Vossische Zeitung. FRIEDMAN: (1973a), S. 105-124.
DAVIDSON (2001).
DAVIDSON (2001), S. 21-39.
Ziel, Methodik und Durchführung der Arbeit
5
Times, die seiner Ansicht nach Palästina am beständigsten und vollständigsten behandle. Zusätzlich berücksichtigt er die Washington Post, den Chicago Tribune und die
Los Angeles Times. Im ganzen Jahr 1917 veröffentlichten – nach Davidson - diese
vier Zeitungen zusammen etwa 150 Artikel zu Palästina und / oder der zionistischen Bewegung; ein Großteil wurde nach der Erklärung Balfours und Eroberung
Jerusalems am 10. Dezember 1917 veröffentlicht.32 Die Jahre 1918 und 1919 spart
er aus seiner Untersuchung gänzlich aus. Im dritten Kapitel seines Buches thematisiert er die Wahrnehmung Palästinas in der frühen Mandatszeit. Auch hier stützt er
seine Untersuchung auf eine Analyse der oben genannten vier Zeitungen. Sein
Hauptuntersuchungszeitraum geht bis 1922, die Presseanalyse in diesem Zeitraum
ist weniger detailliert als die für das Jahr 1917.33 Im Zentrum seiner Untersuchung
steht aber immer die Wahrnehmung Palästinas in Amerika, nicht die Balfour Deklaration an sich. Die Berichterstattung über diese ist ihm lediglich ein Anhaltspunkt für seine Fragestellung.
In der bisherigen Forschung wird der Berichterstattung über die britische Sympathiebekundung - wenn überhaupt - nur in den ersten Monaten, oft auch nur den
ersten Tagen und Wochen nach ihrer Veröffentlichung Aufmerksamkeit geschenkt.
Sie dient vornehmlich als Beleg für die positive Aufnahme und den propagandistischen Erfolg der Erklärung. Sie ist zu dem wenig systematisch und geht kaum auf
die Inhalte der Berichterstattung ein. Keine der Untersuchungen fragt nach Typologien oder Veränderungen in der Berichterstattung. Allein Goldblatt und Davidson widmen sich in erster Linie den Presseberichten und untersuchen diese über
einen längeren Zeitraum, allerdings wiederum nur für die USA. Goldblatt legt einen
Schwerpunkt auf Zeitschriften und nicht, wie die vorliegende Untersuchung, auf
Tageszeitungen. Davidson wiederum fragt nach der Wahrnehmung Palästinas in
Amerika, die Balfour Deklaration ist hier lediglich ein Aspekt und steht nicht im
Zentrum. Daher kann in dieser Arbeit hauptsächlich auf Davidsons Arbeit zurückgegriffen werden. Ein eindeutiges Desideratum stellt die vergleichende Analyse der
Presseberichterstattung und Kommentierung in den Ländern der Alliierten, einschließlich der USA und der Mittelmächte dar.
1.2
Ziel, Methodik und Durchführung der Arbeit
Dieser Untersuchung liegt die Auffassung zu Grunde, dass Berichterstattung durch
Medien Bedeutung generiert. Ausgehend von dieser Prämisse, werden Medien und
damit auch Zeitungen nicht als neutrale Informationsübermittler begriffen, in denen von Ereignissen einfach berichtet wird. Vielmehr kommt ihnen eine aktive
Rolle in der Meinungs- und Bewusstseinsbildung zu.34 Pointiert formuliert wird
nicht von einem bedeutsamen Ereignis berichtet, sondern dessen Bedeutsamkeit
und Bedeutung werden durch die Berichterstattung immer erst generiert, reprodu32
33
34
DAVIDSON (2001), S. 21.
DAVIDSON (2001), S. 40-63.
Vgl. METZLER (2005), S. 2.
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ziert oder transformiert. Dieses geschieht jedoch nicht nur explizit in Form von
Kommentaren, sondern mitlaufend in jeder Form des Berichtens. Von Interesse
sind nicht nur der Informationswert der Medien, sondern ihr Mitteilungswert und
vor allem die Rückwirkungen, die Mitteilungen auf den Inhalt der Kommunikation
zeitigen.35 Den Medien kommt also eine Doppelrolle zu, indem sie nicht nur abbilden, sondern darüber hinaus durch ihre Auswahl- und Rahmungsentscheidungen
performativ in den politischen Kommunikationsprozess eingreifen.36 Damit werden
sie zu Verstärkern, Multiplikatoren und Mitautoren politischer Debatten: Sie definieren die politische Agenda, thematisieren oder dethematisieren politische Fragen
und Probleme.37 Bis zum frühen 20. Jahrhundert hatten sich die periodisch erscheinenden Zeitungen als politisches Leitmedium etabliert und trugen nicht nur entscheidend zur Schaffung einer „öffentlichen Meinung“ bei, sondern waren auch
aktive Teilnehmer des politischen Prozesses.38 Ob einem Ereignis „weltgeschichtliche Bedeutung“ beigemessen wird, hängt somit entscheidend davon ab, ob und wie
über dasselbe in diesen Zeitungen berichtet wird.
Ausgehend von diesem Grundverständnis wird die auf die Balfour Deklaration
bezogene Berichterstattung ausgewählter Printmedien untersucht. Dabei richtet sich
mein Erkenntnisinteresse auf eine Bearbeitung der Frage: Wie generiert und entwickelt sich die Bedeutung der Balfour Deklaration in der veröffentlichten Meinung?
Diese Fragestellung lässt sich in verschiedene Untersuchungsfragen gliedern: Im
Einzelnen interessiert zunächst, welche Bedeutungen und welche Bedeutsamkeit
der Balfour Deklaration in den Zeitungen zugeschrieben werden. Darüber hinaus
soll versucht werden zu rekonstruieren, wie sich diese Bedeutungs- und Bedeutsamkeitszuschreibungen im Verlauf der Debatte generieren. Letztere Frage richtet
sich einerseits auf die Einwirkungen unterschiedlicher Akteursgruppen, welche - ob
strategisch gezielt oder nicht - die Berichterstattung prägen. Entsprechend der dargestellten leitenden Prämisse rücken hier die Zeitungen selbst in den Blick. Daneben interessieren verschiedene politische und gesellschaftliche kollektive Akteure,
über die berichtet wird und welche selbst mittelbar oder unmittelbar die Berichterstattung prägen. Andererseits müssen in diesem Zusammenhang verschiedene politische Entwicklungen und Ereignisse berücksichtigt werden, welche die Berichterstattung bzw. die Debatte um die Balfour Deklaration beeinflussen.
Jenseits des aufgezeigten Forschungsdesiderates und der damit verbundenen
Überzeugung, dass eine derartige historische Rekonstruktion der veröffentlichten
Meinung an sich von Wert ist, kann ihr bezogen auf die Balfour Deklaration eine
besondere Relevanz zugesprochen werden: Wie in den Protokollen des Kriegskabinetts deutlich wird, erhofften sich dessen Mitglieder von der Sympathieerklärung
eine propagandistische Wirkung.39 Insofern stellt die Rekonstruktion der Berichter35
36
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38
39
FREVERT (2004), S. 12.
FREVERT (2005), S. 19.
FREVERT (2005), S. 18.
FREVERT (2004), S. 17.
“If we could make a declaration favourable to such an ideal, we should be able to carry on
Ziel, Methodik und Durchführung der Arbeit
7
stattung und somit der Rezeption der Balfour Deklaration in der veröffentlichten
Meinung auch eine Überprüfung dar, inwieweit die Erklärung die mit ihr intendierte Wirkung entfalten konnte.
Der Frage nach der Genese der Bedeutung der Balfour Deklaration in der veröffentlichten Meinung liegt nicht die Vorstellung von empirisch belegbaren UrsacheWirkungs-Ketten zu Grunde. Entsprechend soll es hier allein darum gehen, an den
Stellen entsprechende Beziehungsgefüge nachzuzeichnen, wo sich diese in der empirischen Rekonstruktion andeuten.40 Darüber hinaus wird in diesem Zusammenhang auch nicht der Anspruch erhoben, die Beeinflussung der Debatte durch individuelle Akteure zu rekonstruieren. Innerhalb der Arbeit wird die individuelle Urheberschaft der untersuchten Artikel nicht berücksichtigt: Zum einen ist diese Zuordnung oftmals nicht möglich, da die Artikel häufig nicht namentlich gekennzeichnet wurden oder auch mehrere Autoren einen Artikel gemeinsam verfassten,
so z.B. die Leitartikel in der Times41. Zum anderen geht es mir in der Arbeit vor allem um den Versuch einer „Gesamtschau“ der veröffentlichten Meinung. Entsprechend werden die Zeitungen als kollektive Akteure betrachtet.
Mit dem Begriff der veröffentlichten Meinung wird der Gegenstand der Untersuchung auf jenen Teilbereich der „öffentlichen Meinung“ begrenzt, der in Zeitungen als Massenmedien zum Ausdruck kommt. Die Arbeit hat nicht den Anspruch,
Aussagen über die Rezeption und die Wirkung dieser sich in den Zeitungen generierenden Meinung bei den Adressaten, den Lesern, zu treffen. Die Rezeption der
in den Zeitungen veröffentlichten Meinung lässt sich generell nur äußerst schwer
rekonstruieren, da es sich bei der Presse, wie bei allen Medien, um eine „Kommunikation unter Abwesenden“ 42 handelt.
Im Zentrum dieser Arbeit wird die Untersuchung der Berichterstattung jeweils
einer US-amerikanischen, einer britischen, einer deutschen und zweier deutschjüdischer Zeitungen stehen. Dies ermöglicht die Beeinflussung der Debatte seitens
unterschiedlicher kollektiver Akteure zu rekonstruieren. Die Entscheidung, der
medialen Rezeption in gerade diesen drei Ländern nachzugehen, resultiert aus der
Annahme, dass diese Länder von der Balfour Deklaration in gewisser Hinsicht besonders „betroffen“ waren: Großbritannien, da die britische Regierung die Erklärung abgab, Deutschland als Zentrum der Zionistischen Organisation43 und die USA als
ein wichtiger „Adressat“ der Erklärung neben den Zionisten. Die Untersuchung
der amerikanischen Presse scheint auch vor dem Hintergrund sinnvoll, dass Präsident Wilson schon während der Verhandlungen über die Verabschiedung der Sympathieerklärung im Kriegskabinett zu seiner Haltung befragt und damit in die Dis-
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extremely useful propaganda both in Russia and America.” CAB /23/4 -0035 War Cabinet,
261, Minute 12; 31.10.1917.
KELLER (22004), S. 42ff.
SCHRAMM (2007), S. 35.
FREVERT (2005), S. 18.
Kaufmann spricht von einer „deutschen Phase“ des Zionismus von 1904-1920. KAUFMANN (2006), S. 48.
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kussion einbezogen wurde. Dies geschah, da Großbritannien auf Grund der hohen
Kriegskosten von den USA finanziell abhängig war und die Mitglieder des britischen Kriegskabinetts auf die Haltung der USA gerade auch in Hinblick auf die
Friedenskonferenz Rücksicht nehmen wollten.44
Zudem verlagerte sich das Zentrum der Zionistischen Weltorganisation (ZWO) nach
dem Ersten Weltkrieg von Deutschland nach Großbritannien. Aber schon während
des Ersten Weltkrieges gewannen auch die amerikanischen Zionisten eine immer
größere Bedeutung, so dass von einer Verlagerung in den anglo-amerikanischen
Raum gesprochen werden kann. Deutschland scheint vor dem Hintergrund besonders interessant, dass es auf Grund des Bündnisses mit dem Osmanischen Reich
eine besondere Nähe zu diesem hatte und Palästina in dieser Zeit unter osmanischer Herrschaft stand. Die beiden deutsch-jüdischen Zeitungen werden herangezogen, da sich Juden nicht nur von der Erklärung betroffen fühlen konnten, sondern als zentrale Adressaten der britischen Sympathieerklärung gelten können. Dies
rückt die Frage nach der Wahrnehmung und Reaktion der „jüdischen Öffentlichkeit“ in den Blick.
Mit dieser Auswahl kann die veröffentlichte Meinung über die britische Sympathieerklärung auf beiden Seiten der sich aus der Kriegssituation ergebenden Konfrontationslinie abgebildet werden: Mit Deutschland wird die Seite der Mittelmächte
erfasst, mit Großbritannien und den USA die Seite der Alliierten und der mit ihnen
assoziierten Macht der USA. Dieses und die Einbeziehung einer jüdischen zionistischen und einer jüdischen nichtzionistischen Zeitung ermöglichen eine kontrastive
Bearbeitung der Untersuchungsfragen.
Als Quellenbasis der Arbeit wird die Berichterstattung der New York Times, der
London Times, der Vossischen Zeitung, der Allgemeinen Zeitung des Judentums und der Jüdischen Rundschau dienen.45 Diese Zeitungen werden in Kapitel 1.4 vorgestellt und
damit verbunden deren Auswahl begründet. Selbstverständlich erscheint eine breitere Quellenbasis immer wünschenswert. Allerdings zeigte sich bei verschiedenen
amerikanischen Zeitungen oftmals derselbe Tenor, zum Teil sogar fast wörtlich der
gleiche Bericht, so dass der Mehrwert einer breiteren Quellenbasis hier relativiert
wird. Die Berichterstattung in Österreich-Ungarn werde ich nicht berücksichtigen,46
44
45
46
RENTON (1998), S. 119-120.
Im Rahmen der historischen Kontextuierung der Untersuchung werden auch die Protokolle der Sitzungen des britischen Kriegskabinetts, auf denen die britische prozionistische Erklärung diskutiert wurde, als Quellen herangezogen. Des Weiteren werden auch Memoranden, die im Vorfeld von Mitgliedern der britischen Regierung selbst verfasst oder als Entscheidungsgrundlage eingeholt wurden, und der regelmäßige Bericht des Foreign Office
über Ereignisse in Bezug auf den Nahen Osten während des Krieges, der Eastern Report, in
die Untersuchung einbezogen.
Eine stichprobenartige Suche in dem führenden Blatt der Habsburgmonarchie, der Neuen
Freie Presse, das nicht zuletzt auf Grund der prominenten Autoren und Beiträger vor allem
vom liberalen Bürgertum gelesen wurde (WALTER 1994, S. 46.), führte zu keinem Ergebnis.
Die vor dem Ersten Weltkrieg drittgrößte Zeitung Österreich- Ungarns (WALTER 1994, S.
51) kannte der Fackel zufolge keine Judenfrage, so „daß in der Neuen Freien Presse das Wort
Ziel, Methodik und Durchführung der Arbeit
9
obwohl nach Friedmann das österreichische Interesse am Zionismus im Jahre 1917
wiederbelebt wurde.47
Die Untersuchung orientiert sich an vier Eckdaten, an denen sowohl ein qualitativer als auch ein quantitativer Wandel in der Berichterstattung vermutet werden
kann. Den Beginn und den Schwerpunkt der Untersuchung bildet der Zeitraum
angefangen von der Zeit um die Veröffentlichung der Erklärung im November
191748 bis zum September 1918 (Kapitel 2). Das Ende des ersten Untersuchungszeitraumes bildet die Erklärung Präsident Wilsons im September 1918. Dem Zuschnitt dieser im Vergleich zu den anderen Untersuchungszeiträumen längeren Periode und der Schwerpunktsetzung der Untersuchung auf diese liegt die Annahme
zu Grunde, dass die unmittelbare Berichterstattung die Diskussion in den folgenden Jahren präfigurierte: Sie eröffnete und begrenzte den Möglichkeitsraum der
folgenden Debatten in der Presse. Des Weiteren ist zu erwarten, dass gerade in dieser Zeit des noch andauernden Krieges andere Diskussionen bei der Berichterstattung über die Balfour Deklaration mitschwingen. In diesem ersten Untersuchungszeitraum werde ich nicht rein chronologisch vorgehen, sondern aus den jeweils ersten Artikeln der Zeitungen systematische Kategorien bzw. Foki herleiten, die im
Folgenden als Analyseraster dienen werden. (Kapitel 2.2 und 2.3).
Im weiteren Verlauf der Arbeit soll an drei weiteren Eckdaten der Diskussionsverlauf in der Presse dahingehend überprüft werden, inwieweit und wie sich die
Berichterstattung in der Nachkriegszeit veränderte. Im Vergleich zum ersten Untersuchungszeitraum wird hier zu einem eher kursorischen Vorgehen übergegangen.
Zunächst soll dies an Hand der Berichterstattung um die Pariser Friedenskonferenz
ab Januar 1919 geschehen, auf der die Zionisten die Realisierung der in der Balfour
Deklaration zugesagten Unterstützung einer Errichtung einer jüdischen Heimstätte
forderten (Kapitel 3.1). Als zweites Eckdatum wird die erste zionistische Konferenz
nach Kriegsende gewählt, die im Juli 1920 in London stattfand, und die auf sie bezogene Berichterstattung in den Blick genommen (Kapitel 3.2). Das letzte Eckdatum markieren die Veröffentlichung der offiziellen britischen Grundsatzerklärung
bezüglich Palästinas im Juni 1922, das so genannte White Paper, und die offizielle
47
48
‚Zionismus‘ gemieden wurde wie durch Jahre die Syphilis“(Fackel Heft 601-607 (11.1922), S. 77-81,
Für die Neue Freie Presse existiert keine Judenfrage). Somit ist es nicht verwunderlich, dass
weder die Balfour-Deklaration noch die Sympathieerklärung zum Zionismus der österreich-ungarischen Regierung im November 1917 (s. Kapitel 2.3.1) in der Berichterstattung
Erwähnung finden.
FRIEDMAN (1965), S. 151.
In allen untersuchten Zeitungen finden sich auch schon vor der Veröffentlichung der britischen Sympathieerklärung Berichte über den Zionismus. Insbesondere wird das für und
wider einer Annäherung Großbritanniens und der Zionisten und einer öffentlichen Unterstützung des Zionismus diskutiert. In diesem Zusammenhang findet ein regelrechter Pressekrieg statt: Vor allem deutsche Zeitungen bringen Zitate britischer Zeitungen und kommentieren diese kritisch und polemisch. Hierin zeigt sich, dass eine Ausweitung der hier geleisteten Untersuchung hinsichtlich dieser Pressedebatte im Vorfeld sicher lohnend wäre,
da eine Bezugnahme auf diese in der ersten Berichterstattung 1917 erkennbar ist.
10
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Ratifizierung des Mandatsdokuments für Palästina durch den Völkerbund im Juli
1922 (Kapitel 3.3).
Mit diesem Vorgehen wird es möglich, trotz der forschungspragmatischen notwendigen Eingrenzung der Quellenbasis, die Entwicklung der Debatte über einen
vergleichsweise langen Zeitraum hinweg zu untersuchen und damit die Beeinflussung der Debatte durch für die Thematik relevante politische Ereignisse und Entwicklungen in den Blick zu nehmen. Diese werden innerhalb der Kapitel zu den
Untersuchungszeiträumen jeweils einleitend dargestellt.
Berücksichtigt werden in der Untersuchung innerhalb der genannten Zeitungen
und der erläuterten Zeiträume alle Zeitungsartikel, die einen direkten thematischen
Bezug zur Debatte um die Balfour Deklaration erkennen lassen. Die Auswahl wird
damit nicht zwingend daran gebunden, dass die Erklärung in den Zeitungsberichten explizit genannt wird. Insgesamt basiert die Untersuchung damit auf über 450
Artikeln, Kommentaren und Berichten. Die Berichterstattung über die arabischpalästinensische Unabhängigkeitsbewegung wird innerhalb dieser Untersuchung
nicht berücksichtigt werden können, obwohl durch eine kontrastive Gegenüberstellung der beiden Debatten ein vollständigeres Bild der Gesamtdebatte über Palästina
gezeichnet werden könnte.
Die Analyse dieser Quellen erfolgt entlang der folgenden sensibilisierenden Fragen, die sich im Sinne einer Operationalisierung aus der oben entwickelten Fragestellung ableiten.49 Sie dienen insbesondere dazu, auch die in den Quellen implizit
enthaltenen bedeutungsgenerierenden Momente zu erkennen:
In welchen Kontext wird die Balfour Deklaration gestellt und welche Verweise auf andere Debatten finden sich? Hier geht es darum herauszuarbeiten, in Bezug auf welche Kontexte der Erklärung Bedeutung zugesprochen wird.
Inwieweit enthält der Artikel explizite oder implizite Bewertungen der Balfour Deklaration?
Von Interesse sind hier u.a. auch Bewertungen, welche aus den verwendeten Begrifflichkeiten auf konnotativer bzw. assoziativer Ebene erzeugt werden.
Auf welchen impliziten Grundannahmen basiert die Darstellungen und Bewertungen der Balfour Deklaration? Hier geht es darum, die implizit bleibenden Annahmen zu explizieren, welche die Darstellungen und Bewertungen präsupponieren.
Was wird nicht berichtet? Diese Frage ist nur kontrastiv zu bearbeiten; insbesondere
durch einen Vergleich mit anderen Quellen.
Ausgehend von der auf diesen operativen Fragen basierenden Erschließung der
einzelnen Quellen wird die Strukturierung der Debatte an Hand der folgenden Fragestellungen rekonstruiert: Welche intertextuellen Bezugnahmen werden in der Berichterstattung erkennbar? Inwieweit zeigen sich bezogen auf die untersuchten Zeitungen kohärente Positionen zur Balfour Deklaration? Inwieweit verweisen die inhaltli49
Dieses Vorgehen orientiert sich an der diskursanalytischen Herangehensweise, wie sie Keller in Anlehnung an Foucault entwickelt. Gleichwohl soll damit nicht der Anspruch erhoben werden, im engeren Sinne eine Diskursanalyse vorzunehmen. KELLER (22004) S. 4651.
Die untersuchten Zeitungen
11
chen Positionierungen auf politische bzw. weltanschauliche Lager? Bezogen auf diese Frage
wird ein besonderes Augenmerk auf mögliche Differenzen zwischen einer jüdischen und einer nichtjüdischen, zwischen zionistischen und zionismuskritischen
Positionen, sowie auf Differenzen gelegt, welche sich entlang der weltpolitischen
Konfliktlinien des Ersten Weltkriegens entfalten.
Schließlich wird der chronologischen Anlage der Untersuchung Rechnung getragen, indem jeweils mitlaufend auf die Veränderungen geachtet wird.
1.3
Die untersuchten Zeitungen
Während des Ersten Weltkrieges spielte Pressezensur in allen kriegführenden Ländern eine Rolle: Die am Krieg beteiligten Mächte waren durch Zensurmaßnahmen
bestrebt, eine jeweils möglichst geschlossene „Meinungsfront“ zu schaffen, die sich
mit der eigenen politischen und militärischen Führung so weit wie möglich identifizieren sollte.50 Die Unterdrückung von unerwünschten Informationen war die
Kehrseite der Propaganda, mit der jeder kriegführende Staat die eigene, befreundete und gegnerische „Öffentlichkeit“ beeinflussen wollte.51 Es soll in der vorliegenden Arbeit nicht darum gehen, eine Geschichte der Zensur zu schreiben oder
Mutmaßungen anzustellen, wie die Zensur die Berichterstattung über die Balfour
Deklaration beeinflusste. Letztlich ist es nur möglich nachzuzeichnen, was veröffentlicht wurde, welche Diskussionen trotz oder wegen der Zensur vorherrschend
waren. Es ist davon auszugehen, dass die enge Verbindung von Zensur und Propaganda Auswirkungen auf die Berichterstattung hatte. Durch die Zensur prägten die
Regierungen auch die Kommunikation. Neben rechtlichen Regelungen von staatlicher Seite spielte die freiwillige Selbstzensur der Zeitungen auf Grund des nationalen Konsenses und des Wunsches der Verleger, nicht unangenehm aufzufallen, eine
wichtige Rolle.52 Die im Deutschen Reich durch das Reichspressegesetz von 1874
formal garantierte Pressefreiheit wurde bei Kriegsbeginn unter Berufung auf den
Notstandsparagraphen 30 wieder aufgehoben.53 Dies bedeutete eine Rückkehr zur
Zensur. Bereits am 31.07.1914 erließ der Reichskanzler eine Liste von 26 Themenfeldern, über die nicht berichtet werden durfte.54 Die britische Presse war während
des Krieges - sei es aus patriotischer Haltung oder aus Furcht vor Maßnahmen der
Regierung - stark selbstzensierend. Aber es gab auch äußere Regulierungen, vor
allem den ersten Defence of the Realm Act (DORA), der im Parlament im August 1914
verabschiedet wurde.55 Die Presselenkung im Deutschen Reich und in Großbritannien wurde im Verlaufe des Krieges erst nach und nach zentralisiert.56 In den USA
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ALBES (2009), S. 974-975, S. 974.
ALBES (2009), S. 974.
JEISMANN (2009), S. 199.
WILKE (22008), S. 257.
WILKE (2007), S. 16-17.
THOMPSON (1999), S. 28.
JEISMANN (2009), S. 203.
12
Einleitung
schränkte eine restriktive Zensur und eine „Spionage“-Gesetzgebung (Espionage
Act vom 5.06.1917) die Pressefreiheit ein.57
Neben diesen redaktionellen Schwierigkeiten durch die Zensurmaßnahmen war
auch die wirtschaftliche Lage der Zeitungen auf Grund des Krieges schwierig: Das
Anzeigengeschäft ging zurück, zunehmende Papierknappheit und die Einberufung
von Journalisten und technischem Personal erschwerten die Arbeit der Zeitungen.58
Als Hauptreferenz der US-amerikanischen Printmedien werde ich die Berichterstattung der New York Times untersuchen. Seit 1896 befindet sich die NYT im Besitz der jüdischen Familie Ochs. Die deutsch-jüdische Herkunft der Familie prägte,
auch den redaktionellen Umgang mit jüdischen Themen, so dass in Bezug auf diese
von der „Jewish Question“ der NYT gesprochen wird.59 Nach Adolph Simon
Ochs, Verleger von 1896-1935, sollte die NYT ein Diskussionsforum der unterschiedlichsten Meinungen zu allen Themen sein, die für die Gesellschaft von Bedeutung waren.60 Dem Publizieren von Nachrichten wurde eine größere Bedeutung
als der politischen Ausrichtung beigemessen.61 Die NYT ist nach Elfenbein besonders in der Ära Adolph Ochs um einen seriös-konservativen Ton bemüht.62 Während des Ersten Weltkrieges beschäftigte das Blatt die größte Zahl an Auslandskorrespondenten aller amerikanischen Zeitungen und brachte daher zahlreichere und
zuverlässigere Meldungen als die Konkurrenten.63 Zugleich gewann sie auf Grund
„ihrer Unabhängigkeit von Parteien, ihres Abdrucks bedeutender Dokumente und
Reden“ so an Prestige, dass sie als „die Stimme der USA“ angesehen wurde.64 1918
erreichte die NYT eine Auflage von 370 000 Exemplaren.65 Zusätzlich werden als
Vergleichsmaterial einzelne Artikel des Boston Daily Globe, der Washington Post und
des Chicago Daily Tribune herangezogen.
Als „Vertreter“ der britischen Presse werde ich die Berichterstattung der von
Schramm als konservativ eingestuften66 Times analysieren. Die 1908 von Lord
Northcliffe67 erworbene Times war die politisch einflussreichste Zeitung der Eliten
Großbritanniens.68 Sie stellte innerhalb der Presse eine „selbständige Großmacht“
dar und wurde auf internationaler Ebene als Sprachrohr der Regierung angesehen.69
Jedoch kam es auf Grund der oftmals von der Regierungslinie abweichenden Poli-
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JEISMANN (2009), S. 205.
BOHRMANN (2009), S. 974.
ELFENBEIN (1996), S. 69.
ELFENBEIN (1996), S. 63.
FISCHER (1966), S. 109.
ELFENBEIN (1996), S. 64.
GABEL (2001), S. 1476.
FISCHER (1966), S. 111.
GABEL (2001), S. 1476.
SCHRAMM (2007), S. 65.
Alfred Ch. W. Harmsworth, seit 1917 Lord Northcliffe.
THOMPSON (1999), S. 2.
SCHRAMM (2007), S. 62-63.
Die untersuchten Zeitungen
13
tik der Times zu Spannungen mit dem Foreign Office im Jahre 1915.70 Die politische Haltung der Zeitung ist durch Lord Northcliffe geprägt, der nach Beginn des
Ersten Weltkrieges in die Gestaltung des Blattes eingriff, vor allem um einen Pressekampf gegen die Mittelmächte zu führen.71 So kam das deutsche Auswärtige Amt
in einer Untersuchung im Dezember 1917 zu dem Schluss, dass die Times „während
des Krieges dauernd schlimmste Schauermärchen“ über Deutschland verbreite.72
Zu Kriegsbeginn erreichte die Times eine Auflage von 200 000.73
Die Vossische Zeitung ist zu den bürgerlich-liberalen Zeitungen des deutschen Kaiserreiches zu zählen.74 Im Jahre 1918 hatte sie eine Auflage von 80 000.75 Georg
Bernhard beeinflusste während des Krieges die politische Tendenz der Zeitung und
wurde 1920 ihr Chefredakteur.76 Seit dem Kauf durch den Ullstein-Verlag 1914
wurde das Blatt wie auch andere Zeitungen, die jüdische Verleger oder jüdische
Eigentümer hatten, als „Judenpresse“ angegriffen.77
Stellvertretend für die jüdische Presse werden die deutschsprachigen Zeitungen
Allgemeine Zeitung des Judentums (AZJ), die Central Verein-Zeitung (CVZ) und die Jüdische Rundschau (JR) untersucht. Unter jüdischer Presse sind hier Printmedien zu verstehen, die explizit jüdische Themen zu ihrem Inhalt haben, sich auch, wenn auch
nicht ausschließlich, an ein jüdisches Publikum wenden. Mit diesen drei Zeitungen
kommen beide Pole – nicht nur des deutschen – Judentums zur Sprache: Zionisten
und Anti- bzw. Nicht-Zionisten. Diese drei Zeitungen sind zwar Publikationsorgane des deutschen Judentums, können aber repräsentativ für jüdische Printmedien
anderer Länder stehen. Da die deutsche Länderorganisation bis zum Ende des Ersten Weltkrieges führend in der ZWO war, gilt dies insbesondere für die JR, das offizielle Publikationsorgan der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD).78 Zudem stellte Die Welt, das ebenfalls deutschsprachige Zentralorgan der ZWO ihr Erscheinen während des Weltkrieges ein, so dass der deutschsprachigen JR eine noch
größere Bedeutung in deutsch-sprachigen zionistischen Kreisen zu kam. Die Zeitung berichtet über die zionistischen Organisationen sowohl in Deutschland als
auch dem Ausland. Ein weiterer Hauptinhalt ist die Polemik gegen die so genannten Assimilanten, gegen das akkulturierte Judentum. Die JR ist „bei einer Untersuchung der Probleme des deutschen Zionismus, der englischen Palästina-Politik und
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FISCHER (1966), S. 72.
FISCHER (1966), S. 72. Die britische Regierung, namentlich Lloyd George, war bemüht,
Northcliffe an sich zu binden und trug ihm politische Ämter an (REQUATE (2004), S. 163166). Im März 1918 nahm Northcliffe schließlich das Amt des Direktors für Propaganda
im Ministry of Information an und war somit in ein Regierungsamt eingebunden (GEBELE
(1987), S. 65).
Handbuch der Auslandspresse (1918), S. 50.
FISCHER (1966), S. 73.
DUSSEL (2004), S. 144
STÖBER (2005), S. 237.
BENDER (1972), S. 38.
SUCHY (1989), S. 169.
Art. Jüdische Rundschau, in: EJ, Vol.11, 2.ed. Detroit 2007, S. 570-571.
14
Einleitung
des Aufbaus der jüdischen Heimstätte eine unentbehrliche Hilfsquelle“.79 Zunächst
erschien die JR wöchentlich, ab Januar 1919 zweimal pro Woche.80 Suchy vermutet
in den Jahren des Ersten Weltkrieges eine Auflagenhöhe von 3 000 bis 5 000.81 Den
Gegenpart der JR bildet die Allgemeine Zeitung des Judentums – Ein unparteiliches Organ
für alles jüdische Interesse, ein Sprachrohr des religiös liberalen Judentums in Deutschland. Die Höhe der Auflage wird auf maximal 10 000 geschätzt.82 Die 1837 vom
Rabbiner Ludwig Philippson gegründete Zeitung diskutierte sowohl innere jüdische
Angelegenheiten der jüdischen (Religions-)Reform als auch äußere politische Ereignisse, die für jüdisches Leben von Interesse waren.83 Unter dem Herausgeber
Ludwig Geiger (1909-1919) hatte die wöchentlich erscheinende AZJ einen antizionistischen und antiorthodoxen Schwerpunkt. Nach Suchy wollte die AZJ unter der
Leitlinie Judentum, Liberalismus, Deutschtum ein geistiger Sammelpunkt für alle
liberalen gebildeten Juden sein.84 Die AZJ erschien ab dem Heft 26 (25.06.1920)
nur noch 14-tägig.85 Im Mai 1922 stellte die AZJ ihr Erscheinen ein und wurde von
der wöchentlich erscheinenden, neu gegründeten Central Verein-Zeitung – Blätter für
Deutschtum und Judentum abgelöst.86 Die CVZ war das Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der sich 1893 in Berlin vor allem als Organisation
zur Abwehr des Antisemitismus gegründet hatte. Für das Jahr 1923 gibt Sperlings
Zeitschriften-Adressbuch eine Auflagenhöhe von 60 000 an.87 Freiexemplare der
CVZ wurden an öffentliche Einrichtungen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Schriftleitungen wichtiger Zeitungen versendet.88 Im CV waren im Jahre
1918 nach Schätzungen 240 000 Mitglieder vertreten, die zum akkulturierten Judentum gehörten.89 Er vertrat eine Ideologie der Synthese von „Deutschtum“ und „Judentum“, der die zionistischen Vorstellungen des Judentums als eigene Nation diametral entgegenstanden, was in den Publikationsorganen der beiden Verbände
immer wieder deutlich zu Tage tritt. Sowohl die JR als auch die AZJ enthalten umfangreiche, internationale Presseschauen, welche in dieser Untersuchung aber nur
Berücksichtigung finden werden, wenn eine kommentierende Haltung der JR oder
der AZJ zum Ausdruck kommt. Die AZJ verdeutlicht ihre Position zu aktuellen
Ereignissen oftmals in der Rubrik Die Woche, die eine Art kommentierte Presseschau darstellt.
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BERNSTEIN (1969), S. 26.
Informationen zur JR bei www.compactmemory.de, Zugriff 29.10.2009.
SUCHY (1989), S. 179.
Informationen zur AZJ bei www.compactmemory.de, Zugriff 29.10.2009.
VOLKOV (22000), S. 33.
SUCHY (1989), S. 173.
AZJ 26 (25.06.1920), S. 300.
Informationen zur AZJ bei www.compactmemory.de, Zugriff 29.10.2009.
Sperlings Zeitschriften-Adressbuch (1923), S. 95.
SUCHY (1989), S. 182-183.
REINKE (2007), S. 100-102.