Wenn ein Kapitän auf hoher See die Bordwand wegfliegen sieht

Transcription

Wenn ein Kapitän auf hoher See die Bordwand wegfliegen sieht
09.02.14, 16:58
Seenotrettung
Wenn ein Kapitän auf hoher See die
Bordwand wegfliegen sieht
DVD-Produktion aus Fleestedt dokumentiert den Beruf des Berufsbergers auf See.
Hochseeschlepperkapitän a.D. Norbert Clasen berichtet von seinen dramatischen Einsätzen
auf der ganzen Welt.
Von Thomas Sulzyc
Foto: Norbert Clasen
Seeschlag hat im Jahr 1990 im Ärmelkanal ein scheunentorgroßes Leck in den Rumpf des
Frachters Toledo gerissen – ein Fall für den Bergungsinspektor Norbert Clasen aus Fleestedt
Fleestedt. Die Schiffsplakette mit einem Gewicht, das es als Anker einer Jolle dienen könnte,
erinnert an sein erstes Kommando als Kapitän: Im Jahr 1972 treibt die amerikanische
Bohrplattform Ocean Tide unkontrolliert auf die dänische Küste vor Esbjerg zu.
Schlepperkapitän Norbert Clasen aus Fleestedt soll das im Meer treibende Stahlungetüm
wieder einfangen. Mit 35 Grad Schlagseite droht die Bohrinsel zu kentern.
56 Besatzungsmitglieder hoffen auf Rettung, aber der Sturm bläst die Hubschrauber
gnadenlos von der Landeplattform fort. Unter Clasens Kommando gelingt es der
Schlepperflotte, die Bohrinsel so zu drehen, dass die Helikopter sie anfliegen können.
Für den Einsatz des Hamburger Hochseeschleppers "Bugsier 26" erhalten der Kapitän und
seine Besatzung von dem damaligen Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt, Peter
Schulz, als Anerkennung eben die Schiffsplakette, die Norbert Clasen heute in dem
Kapitänszimmer seines Eigenheims in Fleestedt aufbewahrt.
48 Jahre lang hat Norbert Clasen als Schlepperkapitän und Bergungsinspektor für die größte
deutsche Bergungsreederei, die traditionsreiche Hamburger Bugsier-, Reederei- und
Bergungsgesellschaft, gearbeitet. Heute ist der 70-Jährige als Experte beim Nachrichtensender
N24 immer dann gefragt, wenn Havarien für Aufsehen sorgen.
Der Fleestedter kommentierte im Januar 2012 im Berliner Fernsehstudio die
Schiffskatastrophe, als die das italienische Kreuzfahrtschiff Costa Concordia auf Grund lief
und 32 Menschen starben. Vier Bücher hat Norbert Clasen über sein Leben als Berufsberger
geschrieben. Jetzt gibt es die dramatischsten Einsätze auch als Dokumentarfilm. Clasen hat
die DVD zusammen mit dem Fleestedter Horst Fahrenkrog, 64, produziert. Der hat vier Jahre
in der Marine gedient und ist auf dem Lenkwaffen-Zerstörer "Rommel" zur See gefahren.
"Mayday, Mayday" lautet der Titel der zwei Stunden langen Dokumentation, die in 16 Clips
(Kapitel) unterteilt ist. Die Wahl des allgemein bekannten internationalen Notrufs im
Sprechfunk zeigt, das Clasen und Fahrenkrog nicht nur ein Fachpublikum, sondern auch
Laien ansprechen wollen. Die Texte seien leicht verständlich, sagt Norbert Clasen.
Der Kapitän hat sie geschrieben und auch gesprochen. Horst Fahrenkrog ist der Mann für das
Technische bei dieser Fleestedter Eigenproduktion, hat alte Schmalfilme des Kapitäns für die
DVD digitalisiert. Teilweise hat er sogar die Musik selbst produziert.
Norbert Clasen beschreibt die schwierige Arbeit der Seeleute im Bergungsdienst und
beschreibt das Ritual der Äquatortaufe auf einem Frachtschiff. Als Bergungsinspektor aus
Hamburg mit dem Hubschrauber oder dem Flugzeug eingeflogen, hat Clasen stets auf dem
Schlepper übernachtet. Nicht im Hotel, selbst wenn sich das Unglück vor der Küste abspielte.
Die Hochseeschlepper hätten Einzelkabinen, sagt er, es gäbe einen Koch und einen Steward
an Bord. "Das ist doch wie in einem Fünf-Sterne-Hotel", sagt Nobert Clasen.
Bei den ausgesuchten und digitalisierten Videos und Super-8-Schnipsel aus Clasens
Filmschatz stehen spektakuläre Rettungsaktionen aus dem Leben des Kapitäns im
Mittelpunkt. Die Verhältnisse in der Antarktis, wo über Silvester 74 Forscher und Touristen
auf der "Akademik Schokalskij" im Packeis gefangen waren, kennt der Bergungsexperte aus
eigener Erfahrung. Im Jahr 1971, damals war er noch nautischer Offizier, führte ihn das auf
ein Riff gefahrene norwegische Passiergierschiff "Lindblad Eplorer" vor die südlichen
Shetland Inseln.
Im arktischen Sommer, bei für dort gemütlichen null bis minus fünf Grad Celsius, sollte die
Besatzung des Schleppers Arctic den Touristendampfer vor dem Sinken retten und nach
Buenos Aires bringen. Innerhalb einer Woche hatte die Crew ein Leck abgedichtet und das
Schiff wieder flott gemacht. Pikanterie der Geschichte: Im Jahr 2012 war die "Lindblad
Explorer" vor der Antarktis wieder in Havarie geraten - und diesmal gesunken.
Norbert Clasen hat dramatische Geschichten zu erzählen. Von auf tückischen Sandbänken
gefangenen Schiffen. Von Frachtern im Griff des berüchtigten Scharhörn-Riffs. Oder die von
einem scheunentorgroßen Leck im Rumpf des Frachters Toledo: Seeschlag, eine Laune der
Natur, hatte dem 20.000-Tonnen-Schiff 1990 im Ärmelkanal ein Stück der Bordwand
genommen.
"Wenn ein Kapitän die Lukendeckel wegfliegen sieht, dass ruft er nur noch mayday,
mayday", sagt Norbert Clasen. Das Problem des damals hinzugerufenen deutschen
Bergungsinspektors: Kein Hafen wollte dem arg ramponierten Frachter eine
Einlaufgenehmigung erteilen. Norbert Clasen ließ ihn schließlich in eine kleine Bucht
schleppen.
Am Ende war die Toledo nicht mehr zu retten. Die Ladung mit Kalisalz wurde gelöscht, das
Öl abgepumpt und das Schiff in der Biskaya in 3500 Meter Tiefe kontrolliert versenkt. "Alles
mit Genehmigung der Umweltbehörde", sagt Norbert Clasen, "sogar die 50 Bierkisten wurden
vorher von Bord genommen."
Die DVD ist auch eine Reminiszenz an den Beruf des Berufsbergers auf See: "Ohne deren
technisches Wissen und navigatorisches Können", sagt Norbert Clasen, "wären viele Seeleute
heute nicht mehr am Leben und viele Schiffe verloren gegangen."
DVD "Mayday, Mayday – Hochseeschlepper im weltweiten Einsatz" (27,60 Euro),
Bestellung bei: Norbert Clasen, Telefon: 04105/3815, E-Mail: no-clasen@t-online.de