Eugen Loderer: Arbeiterkind in den Zwanzigerjahren
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Eugen Loderer: Arbeiterkind in den Zwanzigerjahren
Eugen Loderer: Arbeiterkind in den Zwanzigerjahren [...] Meine Eltern waren einfache Leute. Sie stammten aus dem schwäbischen Oberland der Kreise Biberach und Ehingen. Mein Vater war gelernter Bierbrauer. In seinem Elternhaus wuchsen vierzehn Kinder auf. Die älteren Geschwister erzogen die jüngeren, weil die Eltern ihrer Arbeit nachgehen mussten. In einem Haushalt mit vierzehn Kindern wurde nicht viel Federlesens gemacht. Mein Vaterverließ zwanzigjährig das Elternhaus. In Ulm lernte er meine Mutter kennen, die als Küchenhilfe in einer Brauereigaststätte beschäftigt war. Eine neue Heimat fanden sie in Heidenheim, wo mein Vater Hilfsarbeiter in einer großen Maschinenfabrik wurde. Man nannte diese Arbeiter zur damaligen Zeit Taglöhner. Meine Mutter arbeitete als Zigarrenmacherin. Meine Schwester war vierzehn, mein Bruder acht Jahre älter als ich. Nach meiner Geburt musste meine Schwester ihre Arbeit in einer Spielwarenfabrik aufgeben, um mich zu betreuen. Sicher ist dies meiner Mutter sehr schwergefallen. Aber der Zwang der Verhältnisse bestimmte den Lauf der Dinge. Nur weil die Mutter einige Mark mehr verdiente als ihre Tochter, ging sie weiter „aufArbeit“, und die Tochter musste das Kleinkind hüten. Meine Mutter hatte nur nach Feierabend und am Wochenende Zeit für mich. Und die Wochenenden waren sehr kurz, da an Samstagen noch bis 13 Uhr gearbeitet wurde. Meine frühesten Erinnerungen kreisen um die Jahre der Inflation, als das Geld nichts mehr wert war, die Nahrungsmittel knapp wurden und die Menschen hungern und frieren mussten, besonders die anständigen. Ein ganzes Leben lang machte mein Vater sich Vorwürfe, dass er nach dem Ersten Weltkrieg ein kleines Haus, das ihm angeboten worden war, nicht gekauft hatte, nur weil er sich scheute, Schulden zu machen. Hätte er den Mut dazu aufgebracht, hätte er nach der späteren Geldentwertung gut dagestanden. Aber meine Eltern brachten nie den Mut auf, etwas zu riskieren, was für sie nicht überschaubar war. In diesen lnflationsjahren war auch unser Lebensstandard sehr mickrig. Als ich drei Jahre alt war, musste meine Schwester wieder arbeiten, um die Haushaltskasse aufzubessern. Von da an begann für mich eine Leidenszeit, die ich bereits bewusst wahrgenommen habe. Wohin mit dem Kind? So die ständige Frage der Mutter. Die Großeltern waren tot, also brauchte man eine Genehmigung des Stadtpfarrers, den Dreijährigen in den Kindergarten bringen zu dürfen. Jeden Tag musste mich mein Bruder in einem Leiterwagen dorthin fahren, um mich wie ein Paket dort abzugeben, bevor er zur Schule ging. Um 16 Uhr wurde der Kindergarten geschlossen. Wenn der Bruder länger in der Schule war, musste ich warten, bis der Vater aus der Fabrik kam und mich abholte. Da saß ich oft zwei Stunden mutterseelenallein im großen Kindergartensaal und spielte mit Bauklötzen. Die Kinderschwester war eine liebe Frau, aber mit ihrer großen Kopfhaube und in ihrer schwarzen Schwesterntracht war sie für mich eine Erscheinung, die ich fürchtete. Als ich mit vier Jahren erstmals alleine zum Kindergarten ging, bekam ich einmal drei Pfennige, um mir auf dem Weg bei einem Bäcker eine Brezel kaufen zu können. Sonst trug ich ein Vespertäschchen um den Hals, jeden Tag ein Doppelstück Brot mit Marmelade. Auf der Brust an einer Schnur baumelte der Hausschlüssel, für den Fall aller FäIle. Wenn der Begriff »Schlüsselkind« auf jemanden anzuwenden war, dann bestimmt auf mich. Ein großer Tag im Jahr war immer der Stadtrundgang der Kinder. Dazu gab es im Kindergarten Soldatenhelme und einen Gürtel, an dem ein Säbel hing, natürlich auch Helme und Mützen, wie sie die Offiziere trugen, um die sich die Kinder dann schlugen - als ob es fünf Jahre nach einem grausamen Weltkrieg notwendig gewesen wäre, Kleinkinder schon wieder mit Waffen und Uniformen vertraut zu machen! Das Kinderspielzeug war meist auch von dieser Art. Ich selbst hatte billige Bleisoldaten, die einen als Deutsche, die anderen als Franzosen bemalt. Wenn ich unter dem Tisch mit ihnen spielte, ging ich zwangsläufig davon aus, dass Deutsche und Franzosen Feinde seien. Später, in der Schule, wurde im Unterricht viel Zeit darauf verwendet, im Geschichtsunterricht die Kämpfe des Ersten Weltkrieges darzustellen. Wir wohnten in einer Dreizimmerwohnung in einem Wohnblock der Gemeinnützigen Baugesellschaft. Die Miete betrug 25 Reichsmark monatlich. Die Wohnung hatte zwei Feuerstellen, einen Ofen im Wohnzimmer und einen Herd in der Küche. Die Familie fror sich durch lange und harte Winter. Es gab kein Bad und auch keine Wasserspülung. Im Winter musste jeden Abend die Wasserleitung abgestellt werden. Wenn sie trotzdem einfror, wurde sie mühsam mit brennenden Kerzen aufgetaut. Bis zum Jahre 1925 hatten wir nur Gaslicht, erst danach wurden die Wohnungen mit elektrischem Licht ausgestattet. An langen Winternachmittagen, sofern schulfrei war, drückten wir Kinder uns auf abschüssigen Straßen herum. Ich hatte ein wahres Monstrum von Schlitten, uralt, aber immer wieder zusammengenagelt, und beneidete die Kinder aus besserem Haus um ihre schnittigen neuen Schlitten. Wenn ich dann völlig durchgefroren war, ging ich nach Hause, um den Ofen am Brennen zu halten. Das Gaslicht durfte ich aus Sicherheitsgründen nicht anzünden, sondern nur eine kleine Petroleumlampe. Meist schlief ich dann auf dem Sofa ein. Wenn die Familie beisammen war, gab es ein kurzes Abendessen und ein „Marsch ins Bett“. Als ich zur Schule ging, durfte ich länger aufbleiben. An diesen Abenden genoss ich das Familienleben. Man saß rund um den Tisch, Freunde meines Bruders kamen oft, um zu singen, begleitet von Gitarren und Zitherspiel. Man spielte auch „Mensch ärgere dich nicht“. Mutter und Schwester bügelten, flickten Wäsche oder stopften Strümpfe - stundenlang. Vater saß am Ofen und trank seinen selbstgekelterten Most, denn zu einer Flasche Bier jeden Abend reichte das Geld nicht. Im gusseisernen Ofen summtem die Bettflaschen, die dort aufgeheizt wurden, und es roch nach gebratenen Äpfeln. Daran erinnere ich mich heute noch gerne. Bei uns gab es noch kein Rundfunkgerät. Diesen Luxus leistete sich nur eine Familie in der Straße. Einmal durften wir Kinder nachmittags dorthin, um Kinderstunde zu hören. Erstmals vernahm ich aus dem Äther Stimmenund Musik, allerdings von einem starken Rauschen und sonstigen Störungen begleitet. Der stolze Besitzer dieser Rundfunkanlage Iieß in seinem Garten, 30 Meter vom Haus entfernt, einen Holzmast mit einer Antenne setzen, um den Empfang zu verbessern. Das war ein erstes Erlebnis mit dem Rundfunk. [...] Ein Sparbuch oder gar ein Girokonto gab es bei uns ebenfalls nicht. Die Garderobe war bescheiden; man unterschied fein säuberlich zwischen Sonntagsund Werktagskleidung. Frauen, die werktags einen Hut trugen, gehörten zu den „besseren Leuten“. Ich selbst hatte nur ein Paar Schuhe, und so war es selbstverständlich, dass ich von Ende Mai bis Anfang September barfuß ging, wie auf dem Klassenbild des Jahres 1931 zu sehen ist. Bei uns wurde gekauft, was man eben so bezahlen konnte. Meist musste ich die meinem Bruder zu klein gewordenen Kleidungsstücke abtragen. Gab es für mich mal etwas Neues, ging meine Mutter mit mir zu einem Schneidermeister, bei dem die Arbeiterleute von der Stange kauften. Der wusste, was meiner Mutter vorschwebte. Wenn schon etwas Neues, dann aber so, dass es möglichst lange hielt. So erhielt ich nur Hosen und Jacken, in die ich erst hineinwachsen musste - also zwei Nummern zu groß. Der Schneidermeister spielte dabei mit. Er griff zur Brust, zog das Jackett nach vorne, drehte mich dabei um und sagte zu meiner Mutter: „Hinten sitzt es ganz prima.“ Danach raffte er das Jackett hinten zusammen, drehte mich wieder um und sagte. „Gucket se, vorne sitzt es auch.“ Die Hosen reichten selbstverständlich bis unter die Knie, denn „der Bub wächst ja noch hinein“. Solche „Kniehosen“ waren für mich das Schlimmste, was es damals in dieser Beziehung gab. Kurze Hosen, kniefrei, schöne Kniestrümpfe und Halbschuhe, möglichst mit Randnägeln wie an den Bergsteigerschuhen, waren mein Traum. Dazu hat es aber nie gereicht. Entsprechend bescheiden war auch unsere Wohnung eingerichtet. Die Eltern hatten noch die Schränke, die sie in die Ehe mitgebracht hatten. Aus Tannenholz, dunkel gebeizt. Im Wohnzimmer ein Tisch, vier Stühle, eine Kommode, ein Blumenständer, ein Sofa und für den Vater ein Korbsessel. Wandschmuck war eine alte Uhr, daneben hingen Fotos von Vater und Mutter: Vater in Soldatenuniform und Mutter in schwarzer Bluse - zugeknöpft bis unter das Kinn. Wir lebten buchstäblich von der Hand in den Mund. Die Eltern erzogen uns gut katholisch; jeden Sonntag ging man zur Kirche. Nach dem Sonntagsessen gab es - für uns Kinder damals das höchste der Gefühle - einen Schokoladenpudding mit Vanillesauce. Bohnenkaffee kannten wir nicht. Jeden Tag Malzkaffee - und damit dieser auch schön schwarz aussah, mit einer gehörigen Portion Zichorie. Der bescheidene Lebensstandard wurde durch die Erträge eines Gartens am Hause etwas aufgebessert. Für den Winter wurde Vorrat angelegt. Vor allem Kohlen, Kartoffeln, Äpfel, selbstgemachtes Sauerkraut und in Wasserglas eingelegte Eier. Mein Vater hielt auch Kaninchen, oft zwei Dutzend, die, zum Sonntag geschlachtet, den Mittagstisch bereicherten. Fleisch gab es ohnehin nur am Sonntag und für die Kinder immer nur einen Bissen. Quelle: Pörtner, R.. (Hrsg.): Alltag in der Weimarer Republik. München 1993, S. 471 f