Tinnitus: Leiden und Chance
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Tinnitus: Leiden und Chance
Dr. med. H. Schaaf · Priv.-Doz. Dr. med. G. Hesse Tinnitus: Leiden und Chance 2. vollständig überarbeitete Auflage Profil Dr. med. Helmut Schaaf Leitender Oberarzt der Tinnitus-Klinik Bad Arolsen Priv.-Doz. Dr. med. Gerhard Hesse Chefarzt der Tinnitus-Klinik Bad Arolsen Große Allee 3, 34454 Bad Arolsen Telefon: (0 56 91) 89 66 · Fax: (0 56 91) 89 68 00 E-Mail: info@tinnitus-klinik.de http://www.tinnitus-klinik.de Profil Verlag GMBH, München, Wien 2004 Satz, Druck und Bindung: Wildner-Druck, Bad Arolsen Bildnachweise: Titelbild und S. 12, 35 erstellt unter Verwendung von Abbildungen von Gilbert Gullaud, Marburg. S. 8, 10: Patientenbilder aus der Hörtherapie; S. 9: Stich von L. da Vinci; S. 11, 23, 54, 82, 87, 97, 108: Schaaf; S. 14, 16, 20: mit freundlicher Genehmigung des Trias Verlages aus dem Patienten - Ratgeber: “Geräuschüberempfindlichkeit”. 2003; S. 15: aus “Tinnitus - Leiden und Chance”, Band 1; S. 22, 39: Karikaturen von “Bob” aus Tinitus Forum; S. 26: Verfremdung einer Abb. der englischen Menière-Society ; S. 27, 29, 41, 46, 69: Fotografien von Dr. Almeling mit Dank an Frau Laubach für die Nachstellung der Untersuchungsszenen; S. 38: Fotografie von E. Schulten; S. 42, 43, 44, 45: Audiometriebefunde angefertigt von E. Müller, Arolsen; S. 55, 57, 90, 92, 95, 105: Jana Holtmann; S. 59: Fotografie H. Holtmann; S. 62: P. D. Kagelmann; S. 71: Historische Darstellung; S. 75: Fotografie (Schaaf) der Figur “Tanz des Lebens (Kenia)”; S. 79: Historischer Stich; S. 80: Fa. KIND; S. 83, 84, 85: Hörtherapeuten der Tinnitusklinik Bad Arolsen; S. 98: Habilitationsschrift Dr. Hesse; S. 101: F. Kaiser; S. 109: Märchenmotiv um 1500; S.118: E. Schulten und G. Sümer. 2. Auflage 2004: ISBN 3-89019-582-2 1. Auflage 1997: Hesse, Nelting, Schaaf (Hg): Tinnitus: Leiden und Chance. ISBN 3-89019 - 417- 6 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Soweit Behandlungen und Medikamente angegeben sind, dürfen die Leser darauf vertrauen, dass Autor und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entsprechen. Dennoch ist jeder Benutzer angehalten, diese Empfehlungen zu überprüfen, so dass jede Applikation und Dosierung auf eigene Gefahr des Benutzers erfolgen muss. Geschützte Warennamen werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Inhaltsverzeichnis 1 Der Tinnitus und das Leiden am Tinnitus 1.0 1.1 1.2 2 Aufbau und Funktionsweise des Ohres 2.0 2.1. 2.2. 13 Das Gehör ................................................................. 14 Vom Schall zum Nervenimpuls ................................. 15 Komplexe Vernetzung und Kommunikation im Hörsystem ............................................................ 18 3 Die möglichen Ursachen von Ohrgeräuschen 3.0 7 Vorab ......................................................................... 8 Tinnitus ... ................................................................. 9 ... ist immer ein Symptom ...................... 9 Das Leiden am Tinnitus ............................................. 10 Das ABC der Hörwahrnehmung ................................ 10 19 Eine Suche entlang der Hörebenen ........................... 20 Objektive Ohrgeräusche ........................................... 20 Subjektive Ohrgeräusche ........................................... 20 3.1 Außenohr – der Ohrpropf .......................................... 20 3.2 Mittelohr – Otosklerose ............................................. 21 3. 3 Innenohr .................................................................... 22 3.3.1 Lärmschäden ............................................................. 22 3.3.2 Der Hörsturz .............................................................. 24 3.3.3 Ein Stau in der Flüssigkeit des Gehörschlauches Das Endolymphgeschehen ........................................ 25 Druckgefühl im und hinter dem Ohr ......................... 26 3.3.4 Die Menièrsche Erkrankung ...................................... 26 3.4 Die Halswirbelsäule (HWS) ....................................... 27 3.5 Das Kiefergelenk ........................................................ 28 3.6 Zähne und Amalgam ................................................. 30 3.7 Die immun- mit bedingten Schwerhörigkeiten .......... 30 3.8 Hindernisse und Irritationen auf dem Weg zum Gehirn ......................................... 31 3.8.1 Elektrische Entladungen ............................................ 31 3.8.2 Akustikusneurinom ................................................... 31 3.8.3 Multiple Sklerose ...................................................... 32 3.9 Zentrale Tinnitusformen „im Kopf“ ........................... 32 3.10 Nebenwirkungen von Medikamenten ...................... 33 Schmerzmittel mit ASS .............................................. 33 Entwässernde Mittel: Diuretika ................................. 33 Spezielle Antibiotika: Aminoglykoside ..................... 34 Anti-Malaria Mittel: Chinin und Chinidin ................ 34 Anti-Depressiva ......................................................... 34 Beta-Blocker .............................................................. 34 “Die Pille” ................................................................. 34 Chemotherapeutische Mittel ..................................... 35 „Genussmittel“ ........................................................... 35 3. 11 Psychische Konflikte ................................................. 36 4 Diagnostik 4.0 4.1. 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6. 4.7 4.8 4.9 37 Der Gang durch die Untersuchung ........................... 38 Die Krankengeschichte .............................................. 38 Die hals-nasen-ohrenärztliche Untersuchung ........... 41 Der Hörtest (Audiogramm) ........................................ 41 Otoakustische Emissionen ......................................... 45 BERA .......................................................................... 46 Bildgebende Verfahren .............................................. 46 Die Manualtherapeutische Untersuchung ................. 46 Psychologische Diagnosemöglichkeiten ................... 47 Abschließende Gesamtwertung ................................. 50 5 Hilfe im Akutfall 5.0 5.1 5. 2 5.3 5.3.1 5.3.2 51 Der Akute Tinnitus ..................................................... 52 Die Infusionstherapie ................................................. 52 Die hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) ................... 54 Infusionen, HBO und dann? ...................................... 57 Ist eine Tinnitus-Dekompensation absehbar? ............ 57 Leidenswege .............................................................. 58 6 Die Bewältigung des chronischen Tinnitus 61 Der Chronische Tinnitus ............................................ 62 Sich mit dem Tinnitus vertraut machen ..................... 63 Die Tinnitus-Lautheit ................................................. 66 Leben mit dem Tinnitus ............................................. 67 Musik- und Klangtherapie ......................................... 67 Entspannungsverfahren .............................................. 68 Bewältigungsansätze bei Schlafproblemen ............... 70 Den Tinnitus bewegen ............................................... 74 Manualtherapeutische Ansätze ................................. 75 Freizeitsport für Tinnitus-Betroffene .......................... 77 Hörgeräte .................................................................. 77 Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) ........................... 79 Angewandte Hörtherapie .......................................... 81 Das Tinnitus-Tagebuch .............................................. 88 Psychotherapeutische Unterstützung ........................ 89 Brief an den Tinnitus .................................................. 94 Psychopharmaka ....................................................... 95 Die stationäre Tinnitus-Therapie ................................ 96 Das Leiden am Tinnitus beim älter werdenden Menschen .............................. 97 6.3.16 “Tönend zurück nach vorn” ........................................... bei zusammenbrechenden Welten? ......................... 101 6.0 6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6 6.3.7 6.3.8 6.3.9 6.3.10 6.3.11 6.3.12 6.3.13 6.3.14 6.3.15 7 Tinnitus als Chance 7.1 7.2 Anhang: 107 Leiden und Heilen wie im Märchen ........................ 108 Alles Logo? Wo liegt der Sinn? ................................ 109 Glossar ..................................................................... 112 Bücher ..................................................................... 114 Selbsthilfegruppen ................................................... 116 Register .................................................................... 117 Autoren - Dank ........................................................ 118 Schlafrituale ............................................................. 119 Wissensätze ............................................................. 120 8 Kapitel 1 · Der Tinnitus und das Leiden am Tinnitus Vorab: 1 Das stete Pfeifen und Brummen im Ohr, das unter der medizinischen Bezeichnung „Tinnitus“ bekannt ist, gehört inzwischen zu einer der am weitest verbreiteten Erkrankung unserer Gesellschaft. Tinnitus bezeichnet dabei alle Hör-Wahrnehmungen, die nicht durch Laute von Außen bedingt sind. Der vornehmlichste Grund für die Zunahme des Leidens am Tinnitus dürfte die rasante industrielle und technische Entwicklung der letzten 50 Jahre sein. Diese hat eine erhebliche Mehrbelastung für den menschlichen Organismus gebracht, so dass gerade sensible Systeme massiv gestört werden können. Dabei steht unser Ohr als das empfindlichste aller Sinnesorgane der Zunahme der Umweltgeräusche und der akustischen Belastung durch Verkehr, Beruf oder Freizeit relativ hilflos gegenüber. Die Möglichkeiten, sich gegen eine Reizüberflutung abzuschirmen, sind sehr begrenzt: das Ohr ist immer offen, auch nachts, wenn wir schlafen. Die Folge ist eine oft vollständige Überreizung unseres Hör-Systems. So treten Schädigungen am Hörorgan heute tatsächlich wesentlich häufiger als in früheren Jahren auf. Allerdings sollte der Tinnitus als Höreindruck unterschieden werden von dem daran möglicherweise gekoppelten Leiden am Tinnitus. Ca. 3 Millionen Erwachsene in Deutschland (4% der Bevölkerung) hören (ständig und störend) Ohrgeräusche. So gibt es viele Menschen, die einen Tinnitus haben, aber nicht darunter leiden. Anderseits gehen auch viele seelische Erkrankungen mit für den Einzelnen oft bedrohlich erlebten Veränderungen und Brüchen in dieser schnelllebigen Welt einher. Auch dies scheint einen eventuell schon vorher vorhandenen, aber bis dahin nicht als quälend empfundenen Tinnitus deutlicher in die Wahrnehmung zu rücken. Dabei kann der Tinnitus sogar in den Vordergrund des Beschwerdebildes treten – er macht dann häufig erst auf die seelische Not aufmerksam. Eine erfolgversprechende “wirkliche” Heilung ist vor allem beim akuten Tinnitus, d.h. einem plötzlich auftretenden Ohrgeräusch in den ersten Wochen möglich. 50% (ca. 1,5 Millionen) der chronischen Tinnituspatienten leiden erheblich und klagen über Hoffnungslosigkeit, Ängste, Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Doch auch beim chronischen Tinnitus, wo eine Heilung im Sinne von “Abschalten” in der Regel nicht möglich ist, gibt es viele Verfahren, um die Beschwerden zu bewältigen, veränderbare Anteile zu bearbeiten und wieder zur gewohnten Lebensqualität zurück-zufinden. Dabei möchte Ihnen dieser Ratgeber helfen, der sich als Anleitung zum individuellen Handeln versteht. Er bietet Basisinformationen zu Ursachen und Diagnose der Erkrankung, leistet aber auch konkrete Hilfestellung zum sinnvollen Umgang mit dem Tinnitusleiden. 9 Basiswissen Tinnitus – Tinnitus ist immer ein Symptom 1 1.1 Tinnitus ... Die Auseinandersetzung mit dem Tinnitus ist ein wichtiger Schritt zum Leben mit der Erkrankung. Wer über Ursachen und Auswirkungen der Ohrgeräusche informiert ist, der kann lernen, die Angst beim Tinnitus zu überwinden, den Tinnitus anzunehmen und vor allen Dingen den aufreibenden Kreislauf zwischen dem Leiden am Tinnitus und der sich ständig stärkenden Aufmerksamkeit für den Tinnitus zu beenden. So ist die Kenntnis über die Vorgänge im Ohr und im Gehirn eine wichtige Voraussetzung für den wirkungsvollen Umgang mit dem Ohrgeräusch. .... ist immer ein Symptom! Wichtig zu wissen ist, dass Tinnitus immer ein Symptom, ein Zeichen einer Veränderung im sogenannten hörverarbeitenden System ist. Tinnitus ist nie die Krankheit selbst! Auch bei gesunden Menschen ist ein Tinnitus wahrscheinlich als “Grundrauschen” vorhanden, er wird meist nur nicht als solcher wahrgenommen und - was wichtiger ist - dauerhaft beachtet. Setzen sich Menschen etwa in einer schalldichten Kammer absoluter Stille aus, so entsteht innerhalb kurzer Zeit ein akustischer Eindruck. Das liegt daran, dass das Innenohr wegen seiner ständig aktiven Sinneszellen seit der Geburt ein sehr lauter Ort ist. In etwa vergleichbar ist dies mit einer Tonanlage, die bei eingeschaltetem Strom ein durchaus hörbares, meist leises Grundrauschen hat. In der Regel werden - beide - Grundmuster im hörverarbeitendem System als Ruhe gedeutet und über - hört. In absoluter Stille ist das Rauschen aber wahrzunehmen, wenn man hin-hört. Erst wenn der Strom ausgeschaltet wird, ist absolute Ruhe, dies gilt - vergleichbar - auch für das Ohr. Wenn sich in der Hörwahrnehmung etwas ändert, kann dies als Tinnitus empfunden werden. Dazu kann ein mehr oder weniger schwerer Schaden im Innenohr führen. Aber auch ohne organische Veränderung, bei bestem Hörvermögen, kann eine Senkung der Wahrnehmungsschwelle für das ganz normale Grundrauschen entstehen. Dies ist z.B. möglich, wenn die inneren ”Hörfilter” geschwächt oder aufgebraucht sind, wenn wir nach Arbeitsüberlastung ”ent”-nervt sind oder zu viel (Stress) “um die Ohren” hatten. Tinnitus bezeichnet alle Hör-Wahrnehmungen, die nicht durch Laute von außen bedingt sind. 10 Kapitel 1 · Der Tinnitus und das Leiden am Tinnitus Bei kleinen organischen Änderungen, wie leichten oder langsam hinzugekommenen Hörverlusten, ermöglichen es meist zahlreiche Hörfilter, Änderungen dieses Grundmusters als veränderten Höreindruck wegzufiltern und nicht ins Bewusstsein gelangen zu lassen. 1 Bei chronischen Tinnitus-Eindrücken liegen fast immer Schädigungen im Innenohr (Lärmschäden, Hörsturz), Schwankungen in der Flüssigkeit des Innenohres oder Übererregbarkeiten oder Fehlsteuerungen bei den Nervenaktivitäten im Innenohr vor. Entscheidend für das Tinnitusleiden ist, unabhängig von der Art der Tinnitusentstehung, wie sehr sich die Betroffenen durch das Ohrgeräusch gestört fühlen. 1.2 Das Leiden am Tinnitus Das ABC der Hörwahrnehmung Im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Menschen war es erforderlich, sich neu auftretenden Geräuschen sofort und in höchster Alarmbereitschaft zuzuwenden. Für Menschen, die vor geschichtlich noch gar nicht allzu langer Zeit um ein Lagerfeuer saßen, war es sogar überlebenswichtig, beim Knacken eines Astes sofort hin-zuhören, ggf. aufzuspringen, anzugreifen, zu fliehen, oder wenn alles nicht mehr möglich war, sich tot zu stellen. Nur wenn etwas Bekanntes oder Vertrautes identifiziert werden konnte, durfte sofort Entspannung einkehren, ansonsten musste man sich mit dem Neuen vertraut machen oder einen ungefährlichen Umgang finden. A) Erkenne ich die Geräuschquelle (den Reiz), ja B) oder nein Bewerte ich - meist unbewusst - diese Quelle positiv oder negativ Dann folgt C) die - meist unwillkürliche - Reaktion. 11 Das ABC der Hörwahrnehmung 1 Dies gilt auch für den Tinnitus. Denn dieser in der Regel unbekannte und meist negativ bewertete neue Hör-Eindruck erfordert besonders anfänglich sehr viel Aufmerksamkeit. Dabei stellen sich Reaktionen ein, in dem sich viele Anteile des Musters: Angriff oder Flucht oder Totstellen wiederfinden lassen: Der Teufelkreislauf aus Tinnitus-Lautheit und meist negativer Bewertung kann zur Reaktionen wie Angriff und Flucht führen. Werden diese nicht aufgelöst, kann dies in einer depressiven Dekompensation mit dann wieder erneuter Tinnitus-Verstärkung enden. Die Information über den Tinnitus und das “Sich-vertraut-machen“ mit den Ursachen und Auswirkungen des Tinnitus ist daher eine wichtige Grundlage, um den aufreibenden bewerteten Kreislauf zwischen Tinnitus und Aufmerksamkeit beenden zu können. Sonst wird dieser Kreislauf immer eingefahrener und kann dazu führen, dass der Tinnitus nicht überhört werden kann. Wenn der Tinnitus in einer krisenhaften Situation in die Wahrnehmung rückt, vermuten wir als Ursache der verstärkten TinnitusWahrnehmung eine Schwächung der Hörfilter. Hörfilter sind Funktionssysteme, die gewohnte oder nicht notwendige Töne und Geräusche unterdrücken und ablenken, bevor sie in die Wahrnehmung kommen können. Ein Beispiel dafür ist die Uhr, die 24 Stunden tickt, in der Regel aber nicht tickend wahrgenommen wird, obwohl sie laut genug ist, um gehört zu werden. 12 Kapitel 1 · Der Tinnitus und das Leiden am Tinnitus 1 Eine krisenhafte Situation bei seelischer Erkrankung kann mit einer Schwächung von Hörfiltern einhergehen. Dies kann zu einer Verstärkung der Tinnitus-Lautheit und einer - dann meist negativen Bewertung führen, die eine gerichtete Aufmerksamkeit auf den Tinnitus groß werden lässt. In beiden Fällen entsteht ein Kreislauf mit sich verstärkenden Elementen, die Energien und Ressourcen des Gesamtorganismus benötigen und verbrauchen! Der Tinnitus verstärkt die zunehmend krankhaft werdenden Reaktionen, die anwachsende psychische Not verstärkt die Tinnitus Lautheit. Erfolgt kein bewusster oder unbewusster Stopp kann dies - konsequent weitergedacht und beobachtet - in einer totalen Erschöpfung enden. In beiden Fällen hilft zur Ab- und Aufklärung ein - möglicherweise wiederholtes - Gespräch mit einem kundigen Experten und - so wünschen wir, ein wesentliches Stück weit die Lektüre dieses Buches. Nicht zuletzt könnte spätestens hier der Kontakt zur Deutschen Tinnitus-Liga, Postfach 349, 42353 Wuppertal, (www.dtl.de) aufgenommen werden, die über Selbsthilfe-Gruppen informiert und Basisinformationen zur Verfügung stellt (s. Seite 116). So ist auch ein chronisches Ohrgeräusch kein Grund zur Mut- und Hoffnungslosigkeit! Hilfen und Therapien sind möglich! 118 Die Autoren Dr. med. Helmut Schaaf Facharzt für Anästhesie, Psychotherapie Er studierte Medizin und arbeitete als Anästhesist in Köln, bevor er selber im Rahmen einer Menièreschen Erkrankung u.a. Tinnitus und Schwindel als Patient kennen lernte und so aus seinem ursprünglichen Beruf ausscheiden musste. Seit 1994 arbeitet er als leitender Oberarzt in der Tinnitus-Klinik Bad Arolsen und hat inzwischen mehrere Bücher und wissenschaftliche Beiträge zu Tinnitus, Hyperakusis, Gleichgewicht und Schwindel und M. Menière (siehe auch www.drhschaaf.de) geschrieben. PD Dr. med. Gerhard Hesse Facharzt für HNO-Heilkunde Studium der Physik und Medizin in Hannover. Leitung der bundesweit einzigartigen Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen als Ärztlicher Direktor. Er hat zahlreiche Beiträge zur Innenohrforschung sowie zur Elektrophysiologie der Hörbahn- und Tinnitustherapie veröffentlicht und unterhält als Privatdozent Lehrtätigkeiten an der Universität Witten. Er hat sich habilitiert über objektive Diagnosemöglichkeiten in der Hörwahrnehmung und über das Hörvermögen im Alter. Unser Dank gilt Frau R. Kaiser und K. Erxmeyer für die lektorierenden Arbeiten sowie H. Holtmann, R. Steinhof, W. und H. Wildner für die vielen Nachlese- und Korrekturarbeiten. Es ist kaum zu glauben, wie viele Fähler und Satzverdreher sich auf 120 Seiten einschleichen können. 119 Schlafrituale a) Der Tag soll wach gestaltet werden: Sowohl vom Mittagsschlaf als auch vom Schlaf vor dem Fernseher soll Abstand genommen werden. b) Das Bett soll als alleiniger Ort des Schlafes hochgeschätzt und auch nur dazu genutzt werden. Es darf somit auch erst aufgesucht werden, wenn wirkliche Müdigkeit vorliegt. c) Es sollen - als Gabe an sich selbst und an die nicht zu erkaufende Göttin des Schlafs - zwei bis drei angenehme Dinge ausgeführt werden, ehe das Bett aufgesucht wird. Das kann sein: ● Eine Runde spazierengehen, ● ein schönes Buch lesen (kein spannender oder gar ängstigender Krimi) ● ein Bad nehmen ... Der Phantasie sollen keine Grenzen gesetzt sein. d) Es soll kein Alkohol oder ein als “Schlaf”mittel ausgegebenes Betäubungsmittel eingenommen werden (Ausnahme sind die sogenannten Neuroleptika und Antidepressiva, wenn sie fachärztlich verordnet wurden. Diese Medikamente machen nicht abhängig). e) Kaffee oder schwarzer Tee sollten 4-6 Stunden vor der gewünschten Einschlafzeit gemieden werden. f) Bei Durchschlafstörungen, also Aufwachen in der Nacht, soll aufgestanden und die Zeit genutzt werden, etwa mit Lesen, Spazierengehen, Klangtherapie oder einem Entspannungsverfahren. Das Bett soll erst wieder aufgesucht werden, wenn wieder Müdigkeit eingetreten ist. g) Um die eigene Schlafzeit zu überprüfen, kann es manchmal nach einer gewissen Zeit sinnvoll sein, ein großes Blatt Papier neben das Bett zu legen und in der Zeit der Schlaflosigkeit alle 15 Minuten ein Kreuzchen zu machen. Was Tinnituspatienten wissen sollten ● Die Durchblutung des Innenohres funktioniert ausreichend. ● Durchblutungsfördernde Medikamente sind deswegen auch entbehrlich. ● Die Durchblutung ist auch dann in Ordnung, wenn der chronische Tinnitus lauter empfunden wird. ● Die Gründe für das Lauter- und wieder Leiserwerden sind Spielbreiten im hörverarbeitenden System und in der Hirnrinde. ● Das tinnitusfreie Ohr ist auch dann noch gesund, wenn dort der gleiche Tinnitus wie im anderen Ohr zeitweilig mitgehört wird, da das Hören von seinen Nervenbahnen und Funktionen her beidseitig orientiert ist. Weil es so wichtig ist, sollen die Sachverhalte noch einmal in den folgenden “Wissenssätzen” ausgedrückt werden: ● Der Tinnitus kann weder von alleine noch mit der Zeit lauter werden. Der Tinnitus wird eher mit der Zeit immer weniger laut wahrgenommen! ● Der Tinnitus kann nie der Grund für eine ggf. weitere Hörverschlechterung sein. ● Der Tinnitus kann alleine auch nicht verrückt machen. ● Der Tinnitus kann von außen nie lauter als 10 - 15 dB (entspricht Blätterrascheln oder Computergeräusch) über der Hörschwelle gemessen werden. Diese Wissens-Sätze sind deswegen so ausführlich und aus verschiedenen Blickwinkeln aufgeführt, um Ihnen aus dem Teufelskreislauf herauszuhelfen. Diese Wissens-Sätze sollen Ihre Bemühungen zur Gesundung unterstützen. Diese Wissens-Sätze sollen nach und nach Ihre Glaubens-Sätze, Vorurteile und Ihre verständlichen Befürchtungen ersetzen dürfen. Wenn sich für einige Betroffene aber viele der Wissens-Sätze zunächst unglaublich anhören sollten, wäre es wichtig, sie mit der eigenen Erfahrung zu überprüfen. Viele Menschen leiden unter Tinnitus, teilweise mit Schlaflosigkeit, Nervosität, Konzentrationsmängeln und depressiven Verstimmungen, die ihr Leben „auf den Kopf“ stellen können. In diesem Buch zeigen die beiden Ärzte der größten Tinnitus-Klinik im deutschsprachigen Raum - ohne die sonst oft üblichen Katastrophisierungen - praxisbezogen für Tinnitus-Betroffene Schritt für Schritt auf, · worauf das Leiden am Tinnitus beruhen kann, · was getan werden muss, · was getan werden darf und · wie letztlich aus einem am Tinnitus Leidenden ein wieder lebensfähiger Mensch werden kann. In einem eigenen Kapitel wird auf die Besonderheiten des Tinnitus-Leidens beim älteren Menschen eingegangen. So macht das Buch Mut und Zuversicht für alle Tinnitus-Betroffenen, die die Bewältigung des Tinnitus-Leidens wagen wollen. Profil-Verlag München · Wien ISBN 3-89019-582-2