Nichts ist absolut - Fachzeitschriften Religion und Theologie
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Nichts ist absolut - Fachzeitschriften Religion und Theologie
PTh 2012/2 118 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur Nichts ist absolut Janne Tellers Jugendroman verstört den Glauben an die Bedeutung Maike Schult Janne Teller: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. Roman, Carl Hanser Verlag / München 2010, 140 S. Viel zu besitzen, heißt noch nicht zu wissen, was zählt. In Tæring, einem vornehmen Nest in der dänischen Provinz, beginnen Jugendliche, die vieles haben und denen Entscheidendes fehlt, mit einer eigenartigen Sammlung. Sie häufen Dinge an, die etwas bedeuten, um ihren Mitschüler Pierre Anthon davon zu überzeugen, dass er mit seiner nihilistischen Einstellung im Unrecht ist. Pierre Anthon glaubt nämlich, dass nichts irgendetwas bedeutet und es sich darum nicht lohne, irgendetwas zu tun. Alles sei egal, und weil dies so ist, könne man mit dem Leben aufhören, ehe man angefangen hat. Diese Botschaft verkündet er, seit der erste Schultag nach den Sommerferien wieder mit den gewohnten Phrasen ihres Lehrers begonnen hat. Pierre Anthon packt daraufhin seine Tasche, verlässt die Schule und sitzt fortan im Pflaumenbaum, wo er Früchte futtert und die Schüler mit Sätzen bewirft: Alles ist egal […]. Denn alles fängt nur an, um aufzuhören. In demselben Moment, in dem ihr geboren werdet, fangt ihr an zu sterben. Und so ist es mit allem. […] Das Leben ist die Mühe überhaupt nicht wert. (11) Dem wollen die anderen Siebtklässler nicht zustimmen. Zwar wissen sie, dass sich vieles im Leben um Äußerlichkeiten dreht, und sie wissen auch, dass aus ihnen selbst etwas werden soll, das nach etwas aussieht (15). Trotzdem wollen sie nicht in der Als-ob-Welt leben, von der ihnen Pierre Anthon erzählt (11). Sie wollen sich die 118 Lust am Leben und an der Zukunft (134) nicht nehmen lassen und schleudern seinen Victoria-Pflaumen eigene Aussagen entgegen, die ihnen in ihrem Kampf für die Bedeutung (97) den Sieg bringen sollen. Doch an Pierre Anthon prallt alles ab, und nichts kann ihn bewegen, von seinem Baum wieder herunterzusteigen. Darum wollen ihm seine Mitschüler den Gegenbeweis liefern und Gegenstände zusammentragen zu einem Berg aus Bedeutung (30). Aber außer Fotos, einer alten Puppe und einem Gesangbuch kommt zunächst nicht viel zusammen. Daher fordern die Schüler, dass jeder etwas Bestimmtes abgeben muss. Etwas, an dem das Herz hängt: Marie-Ursula ihre Zöpfe, Frederik die dänische Flagge, Hussein seinen Gebetsteppich und der fromme Kai eine Skulptur von Jesus Christus. Was spielerisch beginnt, gerät zunehmend außer Kontrolle. Wer etwas abgeliefert hat, darf als Nächster fordern, und die Forderungen werden immer abstruser. Jeder kennt den wunden Punkt (31) des anderen, und jeder, den der eigene Verlust schmerzte, verlangt auch beim anderen nach Dingen, die weh tun: Gerda soll ihren Hamster opfern, Sofie ihre Unschuld und Jan-Johan den Zeigefinger seiner rechten Hand. Als die Sache schließlich auffliegt und ein New Yorker Museum unerwartet viel Geld für die inzwischen schauerlich stinkende Sammlung bietet, müssen die Kinder noch einmal gemeinsam entscheiden, was ihnen der Berg bedeutet, ob sie ihn für schnöden Mammon (132) verkaufen oder nicht, und sie müssen erkennen, dass mit der Bedeutung nicht zu spaßen ist: Wir weinten, weil wir etwas verloren hatten und etwas anderes bekommen hatten. Weil beides wehtat, verlieren und bekommen. Und weil wir wussten, was wir verloren hatten, während wir das, was wir bekommen hatten, noch nicht benennen konnten. (137) Janne Tellers Roman wirft Fragen auf und hält sich mit Antworten zurück. Das macht PTh 2012/2 119 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur ihn trotz seiner didaktischen Anlage zu einem interessanten Stück Literatur und vielen Erwachsenen suspekt. Seit seinem Erscheinen (dänisch: 2000, deutsch: 2010) polarisiert der schmale Band, der in Dänemark und Frankreich als Schullektüre verboten war und später mit Preisen ausgezeichnet wurde. Inzwischen ist er in dreizehn Sprachen übersetzt und erzählt aus der Sicht der damals vierzehnjährigen Agnes lakonisch die Grausamkeiten nach, die sich vor Jahren in ihrem Heimatort zugetragen haben und mit deren Folgen sie nun leben muss. Im Dreischritt aus Positiv, Komparativ und Superlativ schreitet das Buch die Konventionen einer Gesellschaft ab, in der sich alles aufstufen soll zu Gut. Besser. Am besten. (18) und die Stimme des Zweifels kein Gehör findet, weil es nur entweder-oder gibt und aus dem kleinsten Bedenken schnell ein winziges bisschen wird. Weniger. Nichts. (117) Eben das Nichts hält ihnen der philosophische Pflaumenwerfer Pierre Anthon entgegen. Unbestechlich ironisiert er das menschliche Treiben unter der Sonne, ein Diogenes im Pflaumenbaum, ein zeichenhandelnder Prophet und Prediger, der die Eitelkeiten des Lebens entlarvt als ein flüchtiges Haschen nach Wind und ihnen nichts entgegensetzt als den ewigen Kreislauf des Lebens (92). Seine Sätze nisten sich ein in den Köpfen der anderen und unterwandern ihr geradezu fanatisches Verlangen nach Bedeutung. Doch während sie noch glauben, den Sinn des Ganzen gefunden zu haben (119), ahnen sie schon: Ihre Opfer waren vergeblich, und nichts wird bleiben als Asche und Staub. Am Ende steht die Erkenntnis: Bedeutung ist relativ (116). Dieser Einsicht würden sich die Jugendlichen gern entledigen, doch der Zweifel lässt sich nicht erschlagen. Er bricht auch nach Jahren wieder auf und quält als bohrende Frage: Nicht wahr, Pierre Anthon? Nicht wahr? (140) Wie sich mit Zweifeln leben lässt, ohne dass nichts als Leere daraus wird (117), ist eine echte Frage, auf die der Roman keine Antwort gibt. Er fordert aber diejenigen, die sich durch ihn provoziert fühlen mögen – Eltern, Schule, Politik und Religion(en) – zum Nachdenken heraus, wie sie andere in der Deutung des Lebens so begleiten können, dass es relativ bedeutungsvoll und der Mühen wert erscheint. Erkundungen im Netz Kristin Merle Thomas Zeilinger: netz. macht. kirche. Möglichkeiten institutioneller Kommunikation des Glaubens im Internet (Studien zur Christlichen Publizistik 20), Christliche Publizistik Verlag, Erlangen 2011, 371 S. Mit der Habilitationsschrift von Thomas Zeilinger ist nun wieder ein umfassenderer (Feld-) Forschungsbeitrag aus evangelischer Sicht zum Thema ‚Internet und Kirche‘ erschienen. Das ist gut so, denn systematische Zugriffe sind hier in den letzten Jahren, gemessen an den gewaltigen Entwicklungsdynamiken des Interconnected Networks und seiner Allgegenwart als unterschiedlichste kulturelle Praktiken, selten unternommen worden (vgl. mit ähnlichem kirchentheoretischen Interesse: Bernd-Michael Haese, Hinter den Spiegeln – Kirche im virtuellen Zeitalter des Internet [PTHe 81], Stuttgart 2006). Die Studie Zeilingers ist im Zusammenhang der wissenschaftlichen Begleitung (2002– 2005) des Projektes „Vernetzte Kirche“ der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern entstanden und fragt nach „den Bedingungen, Möglichkeiten und Aufgaben kirchlicher Kommunikation im Netz“ (16). Ein erster Teil widmet sich also den Bedingun119 PTh 2012/2 120 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur gen institutioneller Kommunikation im Netz (Mediennutzung; Nutzungsbedingungen; kommunikative Umstellungen u. a.) – und rekurriert u.a. noch einmal auf Zeilingers Entwurf einer „Theologie der Mächte und Gewalten“ (90ff.; vgl. Thomas Zeilinger, Zwischen-Räume. Theologie der Mächte und Gewalten [Forum Systematik 2], Stuttgart u.a. 1999) zur Beschreibung der medialen Dynamiken und der bleibenden theologischen Reflexionsaufgabe. Ein zweiter Teil nimmt die Erfahrungen des Projektes „Vernetzte Kirche“ stärker in den Blick und zeigt hier (recht praxisorientiert) Möglichkeiten wie Grenzen der „kirchlichen Kommunikation des Glaubens im Netz“ (103ff.) auf. Der Kommunikationsbegriff wird für das weitere Vorgehen komplementär aufgegliedert, indem er informationstheoretisch, systemtheoretisch und handlungstheoretisch gefasst wird, um mit Beobachtungen und Erfahrungen des bayerischen Projektes ins Gespräch gebracht zu werden. Ein dritter Teil schließlich liefert – und hier vermutet die Leserin das Herzstück der Studie – „in potenzialorientierter Perspektive“ (21) Reflexionen und Impulse mit Blick auf eine ethische Bildungsaufgabe von Kirche im Netz. Eine auf Freiheit und Verantwortung gerichtete, integrative Ethik ist das Ziel: „Ein [...] die Möglichkeiten des Netzes allererst erkundender Zugang der Institution Kirche nimmt ihre eigene eschatologische Orientierung ernst [...]: Die Institution Kirche hat für die Ethik des Netzes die Antworten nicht einfach schon als vorzugebende parat, sondern muss diese erst in der Entwicklung des Netzes (mit) erkunden.“ (269) Neben Hans G. Ulrich und Philippe Patra dient Rafael Capurro als stetiger Bezugspunkt der Auseinandersetzung: Capurros Bild der ‚Vernetzung als Lebenskunst‘ wird medienethisch als „gemeinsame Suche nach dem [...], was auf uns zukommt“ (276) interpretiert, als mediale Kompetenz, die zu120 gleich als soziale Kompetenz wahrgenommen wird. Das Bild des Netzwerkes ist es dann auch, das metaphorisch den Begriffen Konziliarität und communio Ausdruck verleihen soll. Kirche in ihrer Gestalt wie ihrer Gestaltung sieht sich so in einen Verweisungszusammenhang eingestellt, der Pluralität und Individualität, Einheit und Vielfalt, entscheidungsfähige Struktur und Partizipation zusammendenken lässt. (324) Zeilinger plädiert für ein „explorativ-erkundendes Einmischen auf dem Weg der Anschauung“ (325), Verkünden ist dem Verstehen nachgeordnet. Fünf Schwerpunkte lassen sich aus theologischer Sicht zur ethischen Bildung im Netz festmachen, die mit folgenden Stichworten bezeichnet werden können: christlicher Realitätssinn, Navigationskunst, Inklusion, Perspektivwechsel und Medien-Askese. (310) Wohltuend an der vorliegenden Studie ist die Haltung des Autors: Es werden Themen wie Entschleunigung, face-to-face-Interaktion und Zeiten der Internetabsenz behandelt, dies allerdings in einem komplementären Denken. Insofern geht es um eine Vernetzung von online- und offlineWelten und den medienbewussten Umgang in den verschiedenen Handlungszusammenhängen. In jedem Fall zentral für die weitere theologische Theoriebildung in diesem Feld ist der Verweis auf die Transformation des Kommunikationsmodus: Teilhabe und Dialogizität im ‚neuen Netz‘ weisen vom passiven Mediennutzer weg hin zur Eigenverantwortlichkeit der Nutzer und Nutzerinnen. Das Marktplatzmodell löst das Sender-Empfänger-Modell ab. Was dies konkret für kirchliches Handeln bedeutet, wird sich in der Zukunft erst noch erweisen. Die Studie gibt eine vorläufige Antwort: Kirche hat die Funktion einer Kundschafterin und Zeugin vor aller Wächterfunktion. (267ff.) Zeilingers Studie ist multiperspektivisch angelegt, es finden sich vielfältige positionelle Bezüge im Buch, die Interesse auf PTh 2012/2 121 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur mehr wecken. Mehr erfahren hätte die Leserin auch gerne über die konkret empirische Ausgestaltung dessen, was Zeilinger „teilnehmende Beobachtung“ im Zusammenhang des Projektes „Vernetzte Kirche“ nennt. Ausgesprochen schade ist, dass neuere Entwicklungen in den Social Media, sozial- und medienwissenschaftliche Analysen und Reflexionen der letzten Zeit offensichtlich nicht mehr eingehend berücksichtigt werden konnten. Das Schlusskapitel versucht, die Lücke zu schließen. Insgesamt führt netz. macht. kirche jedoch vielfältig in den Problemzusammenhang der Chancen und Möglichkeiten kirchlichen Handelns in den unterschiedlichen Ausgestaltungen des WWW ein – ein anschaulicher Erkundungsgang im Netz. Mit Paul und Paula zur Soziologie Gerald Kretzschmar Armin Nassehi: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen, Vs Verlag, Wiesbaden 2008, 207 S. „Es ist mittags – Zeit für die Mittagspause, Zeit um einige Besorgungen zu machen. Da treffen sich Herr A und Frau B auf der Straße. Herr A ist aufgeregt. Er hatte immer gehofft, Frau B zu treffen, und nun, da es geschehen ist, ist er ebenso froh wie aufgeregt.“ Wie es wohl weitergeht mit Herrn A und Frau B? Wer das wissen möchte, wird die Fortsetzung nicht in einer Erzählung oder einem Roman nachlesen können, sondern in Armin Nassehis Einführung in die Soziologie. Die Geschichte von Herrn A und Frau B – später lernt man sie kennen als Paul und Paula, beide tätig im Bankgewerbe – ist der Illustrationsfun- dus, mittels dessen Nassehi die Leserinnen und Leser in das Feld der Soziologie einführt. Nicht nur die originelle und pfiffige Idee einer kapitelweise fortgeführten Rahmenerzählung, sondern eine klare, verständliche und angenehm zu lesende Sprache überhaupt bieten neben Studierenden der Soziologie auch fachfremden Leserinnen und Lesern fundierte Einblicke in zentrale Begriffe und Theoreme des Faches. Diese Chance sollten Theologinnen und Theologen nutzen, seien sie in der Wissenschaft oder in der kirchlichen Praxis tätig. Schließlich beschreibt und reflektiert die Soziologie mit den Struktur-, Funktionsund Entwicklungszusammenhängen moderner Gesellschaften genau die sozialen und kulturellen Hintergründe, auf denen sich theologisch-kirchliches Denken und Handeln in der Gegenwart ereignet. Als allgemeinste Sozialwissenschaft „interessiert sie sich dafür, wer was warum und wie sagt und tut – und sie fragt nach den Bedingungen für diese Möglichkeiten. Insofern ist sie ein legitimer Spross der Aufklärung.“ (24) Bemerkenswert für theologisch gebildete Leserinnen und Leser ist in diesem Zusammenhang Nassehis Feststellung, wonach die Soziologie eine „außerordentlich protestantische Disziplin“ sei (133). Schließlich verlange sie vom Handelnden Bekenntnisse, Gründe, nachvollziehbare Motive für seine Taten. Einen solchen forschungsgeschichtlichen Brückenschlag von der Soziologie zur evangelischen Theologie findet man unter den gemeinhin eher religionsund kirchenkritisch eingestellten Sozialwissenschaftlern der Gegenwart selten bis nie. Aber es stimmt: Protestantismus, protestantische Theologie wie auch die Soziologie forcieren im Sinne umfassender und tiefgehender Bewusstseinsbildung solide Aufklärung über die Bedingungen menschlicher Existenz in der Moderne. Das verbindet evangelische Theologie und Soziolo121 PTh 2012/2 122 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur gie in vielerlei Hinsicht und verspricht einen gewinnbringenden Dialog für beide Seiten. Armin Nassehis Beitrag zu diesem Dialog sind soziologische Informationen zu den Themen Handlung, Kommunikation, Praxis (29–48), Lebenswelt, Sinn, soziale Rolle, Habitus (49–64), Interaktion, Netzwerk (65–80), Organisation (81–98), Gesellschaft (99–122), Individuum, Individualität, Individualisierung (123–142), Kultur (143–160), Soziale Ungleichheit, Macht, Herrschaft (161–178) und Wissen, Wissenschaft (179–192). Wer in Theologie und Kirche Nassehis Buch zur Hand genommen hat, blickt am Ende der Lektüre nicht nur auf geistreiche Unterhaltung und solide soziologische Information zurück. Er oder sie hat darüber hinaus anregende, zukunftsweisende und perspektivenreiche Impulse erhalten, wie zum Beispiel die aktuellen weitreichenden Maßnahmen kirchlicher Strukturreform und Organisationsentwicklung zu beurteilen sind. Insbesondere die Kapitel über Organisation, Gesellschaft und Individuum, Individualität, Individualisierung sind sowohl für analytisch tätige Praktische Theologinnen und Theologen als auch für diejenigen, die kirchliche Organisationsentwicklung betreiben, in hohem Maße instruktiv. Gerade im Dialog mit theologischen dogmatisch-normativen Argumentationsmustern ist es wichtig, sich bewusst zu machen, wie moderne Gesellschaften konstituiert sind, wo die Chancen und Grenzen des Handelns moderner Organisationen wie zum Beispiel der Kirche liegen und wie und wo in dem Gefüge von Gesellschaft und Organisation(en) das Individuum zu verorten ist. Erst die Kenntnis solcher soziologischer Hintergründe erlaubt es, dem Auftrag der Kirche so Gestalt zu verleihen, dass die moderngesellschaftlichen Lebensbedingungen der Gegenwart wahr- und ernstgenommen werden. 122 Kirche und Männer auf Augenhöhe Volker Linhard Reiner Knieling: Männer und Kirche – Konflikte, Missverständnisse, Annäherungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, 192 S. Langsam, aber stetig wächst die wissenschaftliche Literatur zu Männerarbeit und Männerbildung. So erschienen 2006 die Dissertation von T. Bürger „MännerRäume" bilden“ und der Sammelband zur kritischen Männerforschung „Mannsbilder“, beide im LITVerlag Berlin. Einen weiteren Beitrag dazu liefert Reiner Knieling, Privatdozent an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel. Mit „Männer und Kirche“ legt er einen gut lesbaren und verständlichen Überblick über wichtige „Baustellen“ der Männerforschung vor. Er ordnet seine 13 Kapitel in zwei großen Themenkreisen: „Männerwelten und Kirchenwelten“, sowie „Kirche und Theologie – männerspezifisch buchstabiert“. Im ersten Teil referiert und reflektiert er sachkundig die Ergebnisse der neuesten Männerstudien. Die qualitative Erhebung „Was Männern Sinn gibt“ mit Interviews „kirchenferner“ Männer (2005), die quantitative Wiederholungsstudie „Männer in Bewegung“ (2008) und die neueste SinusStudie (2009) kommen ausführlich zu Wort. Er erfüllt hier einen wichtigen Auftrag praktischer Theologie, wenn es um die Erkundung der Erfahrungswelt heutiger Männer, deren Lebenssituation und Selbstwahrnehmung geht. Von hier aus lassen sich gut Schneisen in die gemeindepädagogische Arbeit mit Männern schlagen. Der Autor erläutert seine Grundthese, dass „männerdominant nicht gleich männerspezifisch“ ist, zeigt dies an soziologischen Konzepten („Hegemoniale Männlichkeit“ nach R. Connell und „Männlicher PTh 2012/2 123 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur Habitus“ nach P. Bourdieu), benennt auch den Preis und den Gewinn durch einen Paradigmenwechsel in kirchlicher und theologischer Arbeit hin zu einer männlichen Sichtweise als partikulare unter anderen. Gerade diese soziologischen Aspekte hätten etwas mehr Raum verdient. Ebenso handelt er die neueren konstruktivistischen Überlegungen unter dem Stichwort „Natur versus Kultur“ sehr knapp ab. Der Gedanke, dass Männer selbst die Verantwortung für ihre eigene Entwicklung haben – als Überwindung der Alternativen biologische Determinierung oder kulturelle Formung – wird kurz angedeutet. Im Anschluss an P. Tillich und P. Watzlawick entwickelt Knieling das Konzept der „symmetrischen Korrelation“ und formuliert prägnant: „Mein Wunsch ist, dass das Bild einer Kirche wächst, die sich ‚auf Augenhöhe‘ einmischt, die zuhört und spricht, die lernt und lehrt, die Positionen hat und beweglich ist.“ (S. 71) Im Hauptteil werden weitere Themen „männerspezifisch buchstabiert“. Der Autor entfaltet Gedanken zu einem differenzierendem Umgang mit Leistung und Erfolg, mahnt selbstkritisches Wahrnehmen von Familie, Beziehungen und damit verbundenem Scheitern an und schließt mit einem Beitrag zu den Aspekten Macht und Einfluss – frei von jeglichem ideologischem Ballast. Bei den Überlegungen zur Spiritualität geht es um die „offizielle und nicht-offizielle Theologie“ von „Kirchenmännern“ und trinitarische Impulse für eine männerorientierte Religiosität. Er nimmt den Gedanken der „Schöpfungsspiritualität“ von Männern auf und plädiert für eine stärkere Besinnung auf den ersten Glaubensartikel. Dabei reicht es jedoch nicht, Gottesdienste für Männer einfach ins Freie zu verlegen, sondern es braucht in der Theologie eine dogmatische Öffnung, damit auch hier Begegnung auf Augenhöhe zwischen kirchlichen Amtsträgern und Männern stattfinden kann. Die Kapitel „Biblische Männergeschichten“ und „Männerarbeit“ sind eher in erzählendem – zuweilen etwas weitschweifigem – Ton gehalten, eröffnen aber sicher interessante Anregungen für die Praxis. R. Knieling zeigt auf, wie Männerarbeit in den Gemeinden vor Ort die Grenzen unterschiedlicher Milieus aufweichen kann, wenn Männer über ihre eigenen Themen ins Gespräch kommen. Als Abschluss bietet der Autor sehr gelungene Ausführungen zu „männerkompatiblen“ Gottesdiensten und entwirft mit einem engagierten Plädoyer für eine stärkere Beachtung männerspezifischer Fragestellungen in wissenschaftlicher Theologie und synodalen Gremien seine Vision für die Zukunft von Männern in der Kirche. Durch das ganze Buch zieht sich wie ein roter Faden das Anliegen von Reiner Knieling, kirchliche Männerarbeit, praktische Theologie und die konkreten, vielfältigen Befindlichkeiten moderner Männer miteinander ins Gespräch zu bringen. Hinzu kommen ein ansprechendes Layout mit hilfreichen Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels, ein ausführliches Literaturverzeichnis und weiterführende Hinweise in den Fußnoten, um einzelne Aspekte der Thematik zu vertiefen. Krankheit – Deutungsversuche aus evangelischtheologischer Perspektive Lydia Kossatz Günter Thomas / Isolde Karle: Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2009, 618 S. 123 PTh 2012/2 124 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur „Es gibt keine Krankheiten, es gibt nur Krankengeschichten“ – so Martin Ferel in einem seiner Aufsätze1. Aus welch unterschiedlichen Perspektiven Krankheit bereits innerhalb der evangelischen Theologie wahrgenommen wird, dokumentiert der von Günter Thomas und Isolde Karle vorgelegte Sammelband. Er versteht sich als ein Beitrag im Kontext der „postsäkularen Gesellschaft“ (Habermas). Vor diesem Hintergrund wollen die Aufsätze den Diskurs zu dem Thema Religion und Krankheit führen. Entstanden sind sie im Rahmen dreier Forschungssymposien (2005/06), die Bestandteil eines umfassenderen Forschungsprojektes waren. Der Band trägt einem Desiderat Rechnung, da sich die deutschsprachige evangelische Theologie des 20. Jhdt.s lediglich peripher mit dem Thema Krankheit/Heilung auseinandersetzt. Bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Karl Barth) nahm v. a. die Systematische Theologie Krankheit nicht als Herausforderung für ihr Denken auf. Die Anordnung der Aufsätze orientiert sich klassisch an den einzelnen theologischen Teildisziplinen. Aus der Fülle der Beiträge lohnt es v. a. diejenigen herauszugreifen, die über konventionelle Denkmuster hinausgehen und so für das theologische Denken neue Perspektiven eröffnen. Vor dem Hintergrund dessen, dass sich die evangelische Theologie lange Zeit auf das verbalsprachliche Wort konzentrierte, verdienen die Aufsätze, die den Aspekt der Leiblichkeit in ihr Nachdenken explizit mit einbeziehen, Beachtung. In der (systematisch-)theologischen Vernachlässigung des menschlichen Körpers sieht Peter Wick einen der Gründe, warum T 124 1 Martin Ferel: Die Verwandlung von Krankengeschichten in Lebensgeschichten und die Konstruktion von Biographien. Neue Möglichkeiten einer systemisch-konstruktivistisch orientierten Seelsorge bei kranken und alten Menschen, in: Agnes Lanfermann / Heinrich Pompey (Hg.): Auf der Suche nach dem Leben begegnet dir Gott, Mainz 2003, 76–86; Zitat 76. auch der kranke Körper in der Theologie wenig Berücksichtigung findet. In seinem Beitrag [Zur Interdependenz von Körperdeutungen und Krankheitsdeutungen] weist er nach, dass die Theologie des Paulus immer auch Körpertheologie ist – ein Aspekt, der in der modernen Exegese häufig außer Acht gelassen wird. Wird hingegen mit dem Alten und Neuen Testament die Leiblichkeit wieder entdeckt, so birgt dies die Chance, Theologien kritisch zu durchdenken. Geistliches Heil ist dann nicht länger von körperlicher Heilung zu trennen, mehr noch: Der (kranke) Leib des Menschen, der zum „Tempel des Geistes“ wird, beeinflusst die Gott-Menschbeziehung, so dass sich Körperlichkeit und Pneumatologie wechselseitig bedingen. Darauf, dass jede Krankheitsdeutung kulturell bedingt ist, weist Christoffer H. Grundmann hin. Sein Beitrag [Krank! – Wie? Woran? Warum? Zur theologischen Deutung einer existentiellen Grunderfahrung im interkulturellen Horizont] beleuchtet die existentielle Grunderfahrung des Krankseins aus interkultureller Perspektive. Körpererleben, Diagnose und Therapie sind stets kulturell konditioniert. Eine theologische Krankheitsdeutung muss daher beim Primärerlebnis der Erfahrung des Krankseins, bei der Anthropologie, ansetzen. Leider bleibt Grundmann dabei stehen, den interdisziplinären Dialog der Theologie – etwa mit der Kulturanthropologie – lediglich zu fordern anstatt ihn selbst zu führen. Ein Thema, das wissenschaftlich bislang kaum ernsthaft diskutiert wurde, sich jedoch bis heute ungebrochener Popularität erfreut, nimmt Thomas Staubli auf. Sein Beitrag [Amulette. Altbewährte Therapeutica zwischen Theologie und Medizin], in dem historische, religionswissenschaftliche und theologische Perspektiven zusammenspielen, beschäftigt sich mit der Funktion von Amuletten bei der Heilung von Krankheiten. In seinem Entwurf einer PTh 2012/2 125 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur „Amulettologie“ beschreibt der Alttestamentler Amulette als Zeichen, die menschliche Bedürfnisse an der Schnittstelle von Frömmigkeit und (moderner) Medizin signifizieren und die Funktion eines „materialisierten Gebets“ übernehmen. Anschlussfähig erweist sich der Beitrag v.a. für eine i.w.S. semiotisch orientierte Theologie, die Staublis Überlegungen um einen rezeptionsästhetischen Aspekt ergänzen sowie hinsichtlich einer kontextbezogenen Deutung der Amulette weiterführen könnte. Eine konventionell systematisch-theologische Herangehensweise bietet z. B. Günter Thomas. Er ordnet Krankheit im Sinnhorizont heilsgeschichtlicher Bedeutung trinitätstheologisch ein und eröffnet damit ethische Perspektiven. Laurel C. Schneider hingegen erprobt in seinem Aufsatz [Heilende Anthropologie. Geschlecht, Gesundheit und Wissenschaft in der systematischen Theologie] eine für die Theologie ungewohnte Denkweise, die ihn zu einer ambigen Krankheitsdeutung führt. Die Seinszustände können nicht realiter als Idealzustände aufgefasst werden („Logik der Einheit“), sondern sie befinden sich im ständigen Veränderungszustand („Logik der Vielfalt“). Deshalb wird Krankheit nicht als das Gegenteil von Gesundheit, sondern auch „als ein Aspekt derselben“ verstanden. Insgesamt ist die Publikation im Hinblick auf theologische Themen breit angelegt. Sie nimmt ein in der Theologie eher marginales Thema in den Blick. Ihr Verdienst liegt v.a. darin, die Vielzahl evangelischtheologischer Krankheitsdeutungen in einem Band zusammenzustellen. Allerdings ist der Titel des Bandes irreführend, da dieser ein interdisziplinäres Gespräch suggeriert, das letztlich nicht geboten wird. Eigentlich geht es um evangelisch-theologische Ansätze im intradisziplinären Gespräch, deren interdisziplinäre Bezüge meist nicht über Andeutun- gen hinaus gehen und konventionellen Denkmustern verhaftet bleiben. Auch wäre es wünschenswert, die von Habermas geprägte Wendung der postsäkularen Gesellschaft in einem Beitrag aufzunehmen und auf dessen Bedeutung für die vorliegende Fragestellung hin zu diskutieren, anstatt diese lediglich als Folie der Überlegungen zu postulieren. Dass sich die Praktische Theologie schon länger mit dem Thema Krankheit auseinandersetzt, wird eingangs erwähnt. Deshalb verwundert es, dass sich die praktischtheologischen Beiträge größtenteils auf die christlich-kirchliche Praxis beziehen. So könnte z. B. die Krankheitsdeutung der systemischen Seelsorge die Theologie zu neuen Sichtweisen anregen. Diese nimmt spätmoderne Theorieansätze in ihr Denken auf und vertritt eine i.w.S. konstruktivistische Interpretation. So liegt der Fokus des Bandes eher auf einer systematisch-theologischen Orientierung, was sich auch quantitativ niederschlägt: Etwas über ein Drittel der Beiträge sind der Systematischen Theologie zugeordnet. Wird Krankheit zumeist als ontologisch verstandenes Übel gedeutet, zu dem sich der Mensch zu verhalten hat, so wird dem theologisch bewanderten Leser nur eine eindimensionale Perspektive und wenig Innovatives geboten. Es ist evident, Krankheit im Kontext von Theodizee, Schöpfung und Sünde bzw. im Spannungsfeld von Klage und Hoffnung, Heil und Heilung zu betrachten, oder Krankheitsdeutungen in der Christentumsgeschichte herauszuarbeiten. Ungeachtet dieser Monita wird die Publikation all denen nützlich sein, die sich auf einen Blick über evangelisch-theologische Krankheitsdeutungen informieren möchten. 125 PTh 2012/2 126 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur Nachgefragt Maike Westhelle Wilfried Engemann / Frank M. Lütze (Hg.): Grundfragen der Predigt. Ein Studienbuch, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2.Auflage 2009, 432 S. Schon im dritten Jahr nach seinem Erscheinen gibt es die „Grundfragen der Predigt“ in einer zweiten Auflage und die offensichtlich gute Nachfrage schlägt sich auch in einem erhöhten Preis nieder. Eigentlich erfreulich, dass die Marktgesetze auch bei theologischer Fachliteratur gelten. Die Studierenden nehmen das Kompendium offensichtlich eifrig an und dieser Erfolg spricht für das Studienbuch. Engemann und Lütze setzen sich zum Ziel, die „Verfügbarkeit geeigneter Texte“ (9) zur Reflexion des Predigtprozesses zu garantieren und gestalten darum ein Studienbuch, das zur Lektüre von Originaltexten anregen soll, statt bloße Kurzfassungen zu Rate zu ziehen. Trotz dieser Programmatik im Vorwort stellen die Autoren den Texten jeweils eine Einleitung voran – bleibt zu hoffen, dass die ausführlicheren Hinweise, die gerade Lütze gibt, nicht doch als suffizient angesehen werden und mancher auf die Lektüre des Textes verzichtet. Die neun Kapitel des Buches bestehen stets aus einer theoretischen Grundlegung und der Überlegung zur Praxis, die jeweils durch einen beispielhaften Text (in Ausnahmefällen auch zwei) repräsentiert und zuvor durch einen der Herausgeber eingeordnet werden. Die Auswahl und Anordnung der Texte orientiert sich an den „grundlegenden Elementen des Predigtprozesses“ (9) und beschäftigt sich darum mit Predigt als theoretischer Herausforderung (I), der Bedeutung der Person (II), dem Verhältnis von Text und Predigt (III), dem Hörer126 bezug (IV), Struktur und Gestalt der Predigt (V), der Predigt als Sprachereignis (VI) und als Teil des Gottesdienstes (VII), den Aspekten der Predigtanalyse (VIII) und abschließende der Erarbeitung einer Predigt (IX). In den ersten vier Kapiteln begegnen überwiegend klassische Texte aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg (Haendler, Die Bedeutung des Subjekts für die Predigt, 1949) bis hin zu Texten der 70er Jahre (Josuttis, Der Prediger in der Predigt; Lange, s.u.); allerdings ist das Kapitel zu Text und Predigt mit einem Beitrag von Engemann aus der linearen Vorstellung, mit der in der früheren Homiletik Text und Predigt aufeinander bezogen worden, herausgenommen: Die Predigt als Text kommt in den Blick (111–137) und daran lässt sich erkennen, dass die Herausgeber sich den Traditionen der Homiletik zwar verpflichtet fühlen, aber sehr wohl um deren Weiterführung wissen. In der zweiten Hälfte des Buches werden die Texte dann moderner, insbesondere beim Blick auf die Praxis. Hier erläutert u. a. Nicol, was er unter PredigtKunst versteht. Sein Aufsatz von 2000 geht auf ästhetische Überlegungen zur homiletischen Praxis ein und ermuntert dazu, dass die Predigt so gestaltet wird, dass die Hörenden mit hineingenommen werden und erfahren, um was es geht – induktiv nennt Nicol dieses Predigtverständnis. Das passt zu dem, was Lütze über die Handlungsdimension der Predigt (283–297) sagt. Der für das Studienbuch verfasste Aufsatz von 2006 präsentiert Ergebnisse der Dissertation des Autors und schon deswegen lohnt sich die Anschaffung des ganzen Buches! Gelungen ist dieses Kapitel zum Sprachereignis Predigt insgesamt, denn die neuen Erkenntnisse Lützes werden mit homiletischen Grundlegungen (Otto, Predigt als Sprache, 1982) so verbunden, dass sie sich gegenseitig erhellen. Die Bedeutung der Rhetorik als Ermöglichung bewe- PTh 2012/2 127 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur gender, handelnder Predigt wird hier aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, mit mehr als einer Generation Abstand, so erläutert, dass einmal mehr augenscheinlich wird, wie wenig Form und Inhalt getrennt werden können. Das Studienbuch bietet insgesamt eine informative Auswahl von Texten; es wird sogar ein Blick auf die katholische Wahrnehmung von Struktur und Gestalt der Predigt gewagt. Dass dabei mit den Texten von Metz und Weinrich Stimmen aus dem Jahr 1973 erklingen, ist sicher dem GrundlagenCharakter der beiden Ausführungen zu Narration in der Predigt geschuldet. Dennoch hätte man sich gerade bei dieser Horizonterweiterung gegenwärtige(re) Texte gewünscht. Auch wenn Ernst Lange der Protagonist für das Reden mit dem Hörer ist, verwundert es doch etwas, das ein und derselbe Text (Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit) in verschiedenen Auszügen sowohl für die theoretische wie auch die praktische Perspektive des Hörerbezugs herangezogen wird. Vielleicht hätte man hier bspw. statt der Doppelung und kontrastierend Gräbs Überlegungen zur Predigt als religiöser Selbstthematisierung darstellen können. Insgesamt handelt es sich um ein lesenswertes Kompendium, dessen einleitende Bemerkungen zu den Texten den Lesenden entsprechende Recherchen ersparen. Das erhöht die Praxistauglichkeit – und die Nachfrage. 20 Jahre nach Erscheinen des Homiletischen Lesebuchs von Beutel / Drehsen / Müller ist hiermit eine neuere Sammlung erhältlich, die der Predigtarbeit sicher gute Dienste leistet. Das Inhaltsverzeichnis mit den einzelnen Aufsätzen findet sich unter http://paperc.de/9525-grundfragen-derpredigt-9783374023752/pages/1. Gemeinsam sind wir stark Christian Stasch Herbert Lindner / Roland Herpich: Kirche am Ort und in der Region – Grundlagen, Instrumente und Beispiele einer Kirchenkreisentwicklung, W.Kohlhammer, Stuttgart 2010, 288 S. Das Ergebnis der fünfjährigen Zusammenarbeit eines Superintendenten und eines externen Beraters liegt hier schriftlich vor. Wer sich keine weitere Literatur zum Thema Regionalisierung zu Gemüte führen möchte, wird vielleicht vom Titel abgeschreckt, sollte aber unbedingt noch den Untertitel zur Kenntnis nehmen. Denn in der materialreichen Studie von Herbert Lindner und Roland Herpich geht es gerade nicht um eine neu zu bildende Region, sondern um einen Kirchenkreis, konkret: Berlin Wilmersdorf. Dem Autorenpaar war es wichtig, von einer Regionenbildung unterhalb des Kirchenkreises abzusehen, da die entstehenden Transferkosten zu hoch seien (111). Vielmehr sollten die vorhandenen Strukturen genutzt und mit mehr Leben gefüllt werden. Zu vermuten ist, dass der Regionbegriff in den Titel des Buches gelangte, weil er in allen Landeskirchen vertraut ist, während bei „Kirchenkreis“ die Synonyme (Propstei, Dekanat) mitgedacht werden müssen. Die Verfasser sind der „Überzeugung, dass starke Ortsgemeinden für die evangelische Kirche unverzichtbar sind. Aber auf Dauer wird es starke Gemeinden nur in starken Regionen (sc. Kirchenkreisen) geben.“ (12f.) Im Theorieteil wird deutlich, dass dies einen mittleren Weg darstellt. So wird Kritik am Ansatz Isolde Karles geübt: „Romantisierende Vorstellungen von Gemeinde als Gemeinschaft“ (35) werden ihr attestiert. Kirche sei reicher und umfangreicher als die lokale Gemeinde. „Eine Engführung des Christseins auf den Gemeinde127 PTh 2012/2 128 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur bezug schneidet wesentliche Bereiche ab.“ (34) Doch auch das Gegenmodell wird kritisch gesehen: die Forderung von „Kirche der Freiheit“, die Mittel für Ortsgemeinden zugunsten von Netzwerk- und Profilgemeinden zurück zu fahren. Das große Potential, dass in der Reichweite der Ortsgemeinden liege, sei in Netzwerk- und Profilgemeinden nur mit überproportionalen Investitionen und auch dann allenfalls annähernd erreichbar (28). Trotz der letztgenannten Abgrenzung gibt es aber in zwei Bereichen eine große Nähe der beiden Autoren zum EKD-Reformpapier: Zum einen teilen sie die Forderung, dass Kirchenkreise verstärkt als handlungsfähige Subjekte fungieren müssen (38), zum anderen begrüßen sie den Versuch, die kirchliche Organisationsgestalt wahrzunehmen und behutsam zu nutzen. Der Organisationsbegriff könne zwar nicht als Wesensbeschreibung der Kirche, aber doch zur Bewältigung gegenwärtiger Probleme dienen (36). Das vorgestellte Modell der integrierten Kirchenkreisentwicklung ist ein Übertragungsversuch der „Balanced Score Card“. Sieben Systemkomponenten sollen stimmig und ausbalanciert zusammenwirken (40): Arbeit mit überprüfbaren Zielen; Ressourcen; Strukturen; Begleitung der Mitarbeitenden; Kultur des Miteinanders; Prozesse zur Verbesserung der Aufgabenerfüllung; Angebote für die Menschen und die Stadt. Die deskriptive Konkretisierung dieser sieben Faktoren bildet den Hauptteil des Buches. Vorbedingung für eine kräftige Organisation ist eine klare Zielorientierung (55). Die Autoren schließen sich dem „Normativen Management“ (St. Gallener Schule) an und nennen drei Ebenen: die Vision, die Mission (mission statement) und das Leitbild. Die Vision ist hier die eines Pilgerweges, den Menschen in ihrem Leben gehen (56). Die Mission (Sendung) der evangelischen Kirche Wilmersdorf besteht 128 darin, Menschen auf diesem Pilgerweg zu begleiten (57). Die Verdichtung schließlich, das Leitbild, benennt die Kirche als greifbare Gestalt der evangelischen Christenheit und als missionarisch-diakonische Kirche für die Stadt (59). Das Ziel allerdings, gegen den Trend wachsen zu wollen, wird ausdrücklich nicht verfolgt, da es nur zu Resignation führe (60). In diesen Formulierungen, entstanden in kreativen, breit angelegten Prozessen, wird bewusst volkskirchlich argumentiert. Der Kirchenkreis Wilmersdorf versteht sich, als „Kirche für das Volk“, d. h. auch für Menschen anderer Konfessionen und Religionen sowie für Konfessionslose (60). Um dem angesichts sinkender Finanzen nachzukommen, gibt der Kirchenkreis einen Teil seiner Mittel nicht direkt an die Gemeinden weiter, sondern benutzt ihn zur bewussten Steuerung. Jeder Gemeinde kommt neben fest umrissenen Grundaufgaben, die weniger umfangreich sind als bislang, ein Kirchenkreisschwerpunkt zu. Das Gemeindebild ändert sich: „Örtliche Gemeinden sind Makler und Drehscheiben für Anfragen und Angebote, die weit über das hinausreichen, was sie selbst anbieten können und wollen.“ (119) Wie solch eine Schwerpunktsetzung aussehen kann, sei an zwei Beispielen gezeigt. Vier Kirchen wurden als Traukirchen profiliert. Ein Arbeitskreis entwarf einen Trau-Flyer, der auf Brautmessen und Standesämtern ausliegt und in dem diese Kirchen als „romantisch“ und „mittendrin“, als „idyllisch“ und „stilvoll“ hervorgehoben werden. Die Gemeinden, die nicht in diesen Flyer aufgenommen wurden, haben ausdrücklich zugestimmt (199). Arbeit mit Kindern gibt es zwar in jeder Gemeinde, doch in zwei dieser Gemeinden ist dieser Arbeitsbereich ein mit Stellenzuschlägen ausgestatteter Kirchenkreisschwerpunkt. Kennzeichen sind hier u. a. ein besonderer Arbeitsaufwand der Hauptamtlichen, Stärkung von Ehrenamtlichen, PTh 2012/2 129 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur spezielle Räume und gute Öffentlichkeitsarbeit (240). Einige Maßnahmen innerhalb der „sieben Faktoren gelingender Arbeit“ sind lediglich angedacht z. B. die detaillierten Stundenverteilungen im Pfarrdienst oder die vollständige Verknüpfung von Gebäudemanagement mit Gemeindezielen. Überhaupt ist das Buch, so zeigt das auffallend selbstkritische Nachwort, offenbar eher als Programmschrift denn als Bericht völliger Umsetzung zu verstehen. Hier scheint mehr gewollt zu sein als einlösbar ist. So sehr es eine Erleichterung darstellt, keine neuen Strukturen einzuziehen, so sehr kann der systemische Ansatz doch eine Überforderung bedeuten, nämlich „sieben Bälle“(275) im Spiel zu haben. Insgesamt erscheint das vorgestellte Modell v. a. im städtischen Kontext adaptierbar – und dies geschieht auch bereits. Es wird sich in der Praxis erweisen müssen, ob durch eine solch aufwändige Planung gemeinsame Vorhaben gelingen und ein Wir-Gefühl in Gemeinden wie im Kirchenkreis gestärkt wird oder ob, wie es Isolde Karle oder Christian Möller den meisten Reformprogrammen vorwerfen, durch Planbarkeitsglauben ein Aktionismus entsteht, der die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter letztlich erschöpfen wird. Die Debatte um den Nutzen von Leitbildern und Zielformulierungen in der Kirche erhält durch die Studie in jedem Fall neue, differenzierte Gesichtspunkte. Psalmenklang Kura: Psalms and Folk Songs Harald Schroeter-Wittke Markku Ounaskari / Samuli Mikonen / Per Jørgensen, ECM 2010 Mit einem Raunen aus der Tiefe des Flügels beginnt diese Debüt-CD des finnisch-norwegischen Jazz-Trios mit dem Trompeter Per Jørgensen, dem Pianisten Samuli Mikkonen und dem Drummer Markku Ounaskari, dem Kopf des Trios. Die Musik führt in ferne Welten, auch wenn diese europäisch sind. Sie ver- und entführt in einen Bereich, in dem Natur und Gott, Mensch und Religion, Christentum und Schamanismus zusammenklingen. Schon das Cover mit seiner Fotographie aus dem Jahre 1899/ 1900 zeigt dies: Wogulische Männer rudern in zwei Booten und mit ritueller Kleidung bemäntelt über einen stillen See zu einem Opferfest. Die Wogulen, die sich selbst Mansen nennen, sind ein ugrisches Volk nordöstlich des Ural, heute bestehend aus ca. 10.000 Personen. Das Bild ist zeitlich nicht weit entfernt von Strawinskys Frühlingsopfer (Le Sacre du Printemps), welches 1913 in Paris uraufgeführt wurde. Und die Musik von Kura entführt in eine ähnliche Welt, wenn auch mit gänzlich anderen Mitteln. Kura entstammt dem udmurtischen Dialekt und bedeutet Klang. Die Stücke dieser CD basieren zum einen auf traditionellen Liedern finnisch-ugrischer Völkern, die zumeist vom Aussterben bedroht sind. Die Mansen begegnen auf dem Titelbild. Die ca. 500.000 Udmurten sind mit drei Volksliedern vertreten. Sie leben westlich des Uralgebirges zwischen den Flüssen Kama und Wjatka im russischen Föderationskreis Wolga. Erst 1870 wurden sie endgültig christianisiert. Auf der CD erklingt auch ein Volkslied der Wepsen, die nördlich von Karelien in Nordwestrussland leben und 129 PTh 2012/2 130 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur gegenwärtig 13.000 Angehörige zählen. Bis zum 11. Jh. waren sie eines der bedeutendsten finno-ugrischen Völker im Nordosten Europas und kontrollierten wichtige Handelswege. Viele Wepsen sind in den Kareliern aufgegangen, die ebenso mit einem Volkslied auf dieser CD vertreten sind. Karelien hat eine wechselvolle Geschichte zwischen den Großmächten Schweden und Russland einerseits und als Teil der finnischen Kultur andererseits. Die finnische Nationaldichtung Kalevala besteht weitgehend aus karelischen Geschichten, Mythen und Sagen. In Karelien kommt all das zur Geltung, für das diese CD steht: Es gibt dort orthodoxe (russisch-orthodoxe ebenso wie finnisch-orthodoxe) und lutherische Christen, und es gibt dort ein lebendiges Bewusstsein von den vorchristlichen Traditionen, die weitgehend im Schamanismus wurzeln. Neben diesen ethnischen Traditionen kommen fünf russisch-orthodoxe Psalmen zum Klingen sowie sechs Eigenkompositionen von Ounaskari / Mikkonen, die diesen nordischen Jazz in seinem typischen Kolorit zeigen: The Gipsy’s Stone, Mountain of Sorrow, dazu finnische Titel wie Aallot (Wellen) oder Pikkumetsä (Kleiner Wald bzw. Wäldchen). 2 Stücke mit dem Titel „Introit / Changing Paths“ basieren auf russischen Psalmen, ebenso das Eingangsstück Polychronion sowie ein weiteres Stück mit dem Titel Introit. Es geht ums Eintreten, darum, in eine Welt zu kommen, die zu heilen vermag, jenseits profilierter religiöser Festlegungen. Es geht darum, in den Fluss einer Welt zu kommen, die an die eigenen Wurzeln rührt, möglicherweise sogar dorthin zurückführt. Es geht um Religion als religare im Modus des Verschwindens, des Dahingleitens und Fließens, des Unterwegs-Seins und Vorübergehens, des Reisens und Wanderns ebenso wie auch des Ankommens in diesen Prozess(ion)en. Jørgensens Gesangseinlagen, die alle stimmlichen Register ziehen, vom 130 samischen Joiken über islamisch anmutende Klänge bis hin zu schamanischen Gesängen, nehmen mit auf eine Reise, die be(un)ruhigt. Auch in seinem Trompetenspiel lässt Jørgensen ungeahnte Möglichkeiten der Tonerzeugung erklingen. Ounaskaris Percussion ist – in guter schamanischer Tradition – wesentlich für die Begleitung dieser Reise: sparsam, akzentuiert, klanglich hoch differenziert, bewusst und bewusstseinserweiternd. Mikkonens Klavierspiel schließlich ist von einer ungeheuren Souveränität und Aufmerksamkeit, die Bewegung und Ewigkeit zugleich zu Gehör bringen. Selten habe ich Ekstase so leise gehört. Und selten habe ich mich im Hegelschen Sinne so aufgehoben gefühlt wie beim Hören dieser CD. Sie trägt einen wie das mansische Boot auf dem Cover – ein gelungenes Beispiel für die Begegnung von christlichen mit naturreligiösen Traditionen – und dies nicht etwa im fernen Afrika, sondern in europäischen bzw. eurasischen Kontexten. Dabei erinnert diese Musik an untergehende Geschichte(n), verbindet im Klang das, was politisch auseinandergerissen und beschädigt wurde und ist so in mehrfacher Hinsicht eine Musik der Sehnsucht. „In der Stadt sind die Menschen die Natur!“ – So hat die samische Sängerin Mari Boine aus Norwegen auf ihren CDs mit anderen und gleichwohl strukturell ähnlichen musikalischen Mitteln diese Begegnung auf den Begriff gebracht: Eine menschenfreundliche Musik, die rundum gut tut und uns übersetzt. Genau dies spiegelt sich schließlich auch in dem zweiten Track dieser CD: Psalm CXXI (Mironisitsky). Es handelt sich dabei nach orthodoxer Zählung um Ps 120, der für die russisch-orthodoxe Liturgie wesentlich ist. Das finnisch-norwegische Trio (er)zählt diesen Psalm in lutherischer Tradition und bringt so eines der wichtigsten biblischen Wallfahrtslieder in der Begegnung mit völlig fremden Kulturen zum Klingen: Ich hebe meine Augen auf zu Bergen. Woher PTh 2012/2 131 / 6.6.2012 – Umbruch Literatur / Medien / Kultur kommt mir Hilfe? Dieser Psalm ist der Doppelpunkt, der am Anfang der gesamten CD steht. Mit solcher Segens-Verheißung lassen sich auch ungewöhnliche Wege gehen, musikalisch wie theologisch; Wege, die die neu aufkommende Profilierungssucht von Religionen und Kulturen verlassen zugunsten einer Begegnung, die trägt, aber auch Fragen offen lässt: Introit / Changing Paths – das könnte auch für evangelische Profilierungsanstrengungen ein kluges Motto sein. Schwerpunktthema des nächsten Heftes: Menschen mit Behinderung – Subjekte (auch) in Kirche und Theologie? Das nächste Heft (Heft 3/2012) erscheint im August 2012. Autorinnen und Autoren dieses Heftes Dr. Volker Dettmar Eibenweg 27 61440 Oberursel vdettmar@aol.com Prof. Dr. Wilfried Härle (em.) Ernst-Kirchner-Straße 36 73760 Ostfildern Wilfried.Haerle@wts.uni-heidelberg.de Prof. Dr. Kristian Fechtner Seminar für Praktische Theologie Johannes Gutenberg-Universität Mainz Saarstraße 21 55099 Mainz fechtner@uni-mainz.de Apl. Prof. Dr. Bernd-Michael Haese Nordelbisches Kirchenamt Dezernat E Dänische Straße 21/35 24103 Kiel bmhaese@email.uni-kiel.de 131