Paraplegie Nr. 138, Mai 2011 - Schweizer Paraplegiker

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Paraplegie Nr. 138, Mai 2011 - Schweizer Paraplegiker
paraplegie
Das Magazin der Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung
Juni 2011 / Nr. 138 / Standard
Wenn Bilder erzählen…
Katja Snozzi kennt die Licht- und Schattenseiten des Lebens
Fortschritt dank Forschung | Einsatz im Ausland | Pilot im Rollstuhl
Hans Erni
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editorial
Liebe Gönnerinnen und Gönner
D
ie Sanierung der Invaliden-Versicherung (IV) gehört zu den Dauerbrennern der
nationalen Politik. Seit Jahren revidieren Bundesrat und Parlament an diesem
Sozialwerk. Ziele sind eine ausgeglichene Rechnung bis 2018, wenn die Zusatzfinanzierung
abläuft, sowie ein Abbau des ziemlich hohen Schuldenberges. Gelingt dies nicht, würde die
IV in ihrer Substanz gefährdet .
Seit der 5. IV-Revision, 2008 rechtskräftig geworden, sind wichtige Instrumente vorhanden, um den Grundsatz «Eingliederung vor Rente» besser verwirklichen zu können.
Mittlerweile haben National- und Ständerat im Rahmen der 6. IV-Revision ein erstes Paket
weiterer Reformen beschlossen. Sie sehen unter anderem Einsparungen bei Hilfsmitteln
sowie die Einführung eines Assistenzbeitrages vor. Bedeutender noch sind verstärkte
Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung von Menschen mit einer Behinderung,
die bereits IV-Rente beziehen.
Die Schweizer Paraplegiker-Gruppe (SPG) unterstützt die Bemühungen zur finanziellen
Gesundung der Invalidenversicherung. Und sie steht vorbehaltslos hinter der Zielsetzung,
mehr Betroffenen eine dauerhafte Rückkehr ins Erwerbsleben zu ermöglichen. Daran
arbeiten wir seit Jahren gemeinsam und sehr intensiv – mit grossem Erfolg. Heute werden
über 80 Prozent der Patienten nach Abschluss der Erstrehabilitation im SPZ Nottwil wieder
berufstätig. Manche sogar in einem 100 Prozent-Pensum, viele in Teilzeitjobs. Letztere
würde es daher umso härter treffen, wenn wahr werden sollte, was in der nächsten Etappe
der 6. IV-Revision auch zur Debatte stehen wird: eine erhebliche Kürzung der IV-Renten.
Dieses Rezept ist, bei allem Respekt gegenüber dem Willen, die Finanzen wieder ins Lot zu
bringen, allerdings untauglich. Denn durch weiteren Leistungsabbau würden jene bestraft,
die bei der Bewältigung ihres Alltages auf IV-Leistungen angewiesen sind.
Daniel Joggi
Präsident Schweizer Paraplegiker-Stiftung
IMPRESSUM: Paraplegie. Das Magazin der Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, www.paraplegie.ch
35. Jahrgang. Ausgabe: Juni 2011/Nr. 138, Standard | Erscheinungsweise: vierteljährlich in Deutsch, Französisch und
Italienisch | Gesamtauflage: 1‘011‘000 Exemplare | Auflage Standard: 210‘000 Exemplare | Copyright: Abdruck nur
mit Genehmigung der Herausgeberin und der Redaktion.
Herausgeberin: Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, 6207 Nottwil, sps@paraplegie.ch | Verantwortlich: Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Unternehmenskommunikation, 6207 Nottwil | Redaktion: Roland Spengler (Leitung),
Christine Zwygart. Bild: Walter Eggenberger, Astrid Zimmermann-Boog, redaktion@paraplegie.ch | Layout: Luciano Pangari,
Karin Distel | Anzeigen: Fachmedien Axel Springer Schweiz AG, 8021 Zürich, info@fachmedien.ch | Vorstufe/Druck: Swissprinters AG, 4800 Zofingen.
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«Unabhängigkeit
ist mir wichtig.»
inhalt
6News
Unter Mitwirkung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung und -Forschung
findet in St. Gallen der «World Ageing & Generations Congress» statt.
8 Katja Snozzi
Die Fotografin bereiste die ganze Welt und hielt fröhliche, aber auch
tragische Momente fest. Sie selber erlitt 2008 einen Schicksalsschlag.
12 Positives Ergebnis
Die Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung
präsentiert für das Geschäftsjahr 2010 eine positive Bilanz.
14 Nachhaltige Hilfe in Drittwelt-Ländern
Querschnittgelähmte überleben in Entwicklungsländern die ersten
Tage nach dem Unfall meistens nicht. Denn die nötige medizinische
Behandlung fehlt, und das Wissen in Paraplegiologie ist rar. In
solchen Fällen helfen Spezialisten der Schweizer Paraplegiker-Gruppe.
Regelmässig stehen Pflegende, Therapeuten und Ärzte im Einsatz –
in Nepal, Haiti und vielleicht bald in Äthiopien.
20 Professor Martin Schwab
Der 62-jährige Basler ist eine Kapazität auf dem Gebiet der RückenmarksForschung. Im Interview berichtet er über seine Arbeit.
26Rollstuhl-Sitz-Zentrum
Querschnittgelähmte müssen perfekt sitzen, damit keine Haltungsschäden
oder Schmerzen entstehen. Die Ergotherapeuten in Nottwil helfen dabei.
32 Mein Tag im Rollstuhl
Er hebt ab. Pilot und Paraplegiker Doros Michaelides sass bereits wenige
Monate nach der Rehabilitation wieder im Cockpit.
34Finale
TV-Moderator Kurt Aeschbacher beschreibt die Risiken des Lebens.
5
NEWS
Splitter
An der Leichtathletik-WM für Junioren
(U16–U23) in Dubai gewann das zehnköpfige Schweizer Rollstuhl-Team insgesamt
34 Med­aillen, davon 11 goldene, 9 silberne
und 14 bronzene. Vor allem wegen des
ungewöhnlich frühen Austragungszeitpunkts (Mitte April) waren vergleichsweise
wenige Nationen und Athleten am Start.
Unabhängig davon belegen Leistungen
und Bilanz der Schweizer ihre Stärken im
weltweiten Vergleich. Erfolgreichste war
Catherine Debrunner (Mettendorf TG) mit
fünf WM-Titeln, einem zweiten Platz und
einem neuen Weltrekord über 200 Meter
in der Kategorie T53. Ebenfalls je sechs
Medaillen brachten Andrea Von Büren
(Basel) sowie Patricia Keller (Waltenschwil
AG) nach Hause.
Benno Fuchs, CEO des Luzerner Kantonsspitals (LUKS), ist neues Mitglied des
Verwaltungsrats der Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) Nottwil AG. Seine Wahl
ist ein weiterer Schritt in der erfolgreichen
Zusammenarbeit des SPZ mit dem
Luzerner Kantonsspital: «Ich freue mich
auf die neue Herausforderung in Nottwil
und bin überzeugt, dass wir mit unserer
Public Private Partnership auf dem richti­gen Weg sind», erklärt der 49-Jährige.
Fuchs ersetzt Ständerätin Helen Leumann,
die nach acht Jahren zurücktrat.
Eine Studie der belgischen Universität
Lüttich kommt zu einem erstaunlichen
Ergebnis: 72 Prozent der befragten Pa­tienten mit einem sogenannten «Lockedin-Syndrom» bezeichnen sich als glücklich.
Diese Krankheit zeichnet sich durch eine
vollständige Lähmung aus, die Betroffenen
sind in ihrem eigenen Körper wie «eingeschlossen». Die Untersuchung zeigt weiter,
dass bestmögliche Pflege sich positiv auf
das Befinden der Patienten auswirkt.
6
Fachkompetenz
weitergeben
In Nottwil befindet sich das Zentrum des
weltweit einzigartigen Leistungsnetzes der
Schweizer Paraplegiker-Stiftung für die
ganzheitliche Rehabilitation von Querschnittgelähmten. Wesentliches zu deren Re-Integration, Lebensqualität und Chancengleichheit trägt die dort vorhandene Fachkompetenz von Spezialisten bei. Sie haben es sich
längst auch zur Pflicht gemacht, Wissen und Erfahrung in vielen Diszi­plinen an andere
weiterzugeben. An der «Rollivision» (Bild) etwa präsentierten 70 Aussteller aus dem Inund Ausland ihre Produkte und Hilfsmittel für Menschen mit einer Behinderung. Ein Anlass,
den Betroffene und Angehörige schätzen, da sie sich über neuste Entwicklungen informieren
können.
Aber auch Mediziner und Pflegende tauschen sich regelmässig aus – wie am Nottwiler Wundforum «Skintact» rund ums Motto «Gesund (w)und glücklich» oder am Pflegesymposium,
das dem Thema «Verwahrlosung – Gratwanderung zwischen Originalität und Selbstauf­
gabe» gewidmet ist. An diesen Fachtagungen gewähren Experten in Referaten und Workshops tieferen Einblick in ihre tägliche Arbeit. Und helfen so mit, das Verständnis für die besonderen Bedürfnisse von Menschen im Rollstuhl sowie neue Methoden und Mittel in der
Betreuung zu fördern.
Test mit neuen
Patientenzimmern
Auf der Station B des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) sind
derzeit Bauarbeiter am Werk. Die Klinik in Nottwil ist seit über 20 Jah­ren in Betrieb, und die Pflegestationen müssen in den kommenden
Jahren saniert werden. Aber wie? Bei dieser Frage sollen vorerst drei
unterschiedlich eingerichtete Testzimmer – ein 4er-, ein 2er- und ein
1er-Zimmer – weiterhelfen, die ab Mitte Juli zur Verfügung stehen:
Die Anordnung der Betten und Lavabos sowie die Ausgestaltung der
Nasszellen variieren, Vorhänge sorgen für mehr Privatsphäre, die Schränke
sind grösser und enthalten einen Safe. Auch die Telefon-, Internet-,
TV- und Radio-Systeme werden auf den neu­sten Stand gebracht. Gegen
die starke Sonneneinwirkung und Hitze im Sommer kommen neu
Storen sowie Decken- oder Bodenkühlungen zum Einsatz. Letztere
könnten dereinst ökologisch sinnvoll und hocheffizient sogar mit
Wasser aus dem Sempachersee gekühlt werden. Patienten und Mitar­beitende testen die Zimmer ab Sommer während drei Monaten. Ihre
Erfahrungen und Anregungen sind später massgebend für das weitere
Vorgehen der zuständigen Projektgruppe, der Mitarbeitende aus diver­sen Bereichen des SPZ sowie Rollstuhlfahrer angehören.
SPS und SPF dabei
Vom 29. August bis 2. September 2011 findet an
ihrerseits gestaltet zwei Spezialsessionen, die
der Universität St.Gallen der 7. «World Ageing &
sich mit «Älterwerden mit Querschnittlähmung»
Generations Congress» statt. Der Anlass bildet
(30. August) bzw. «Alter, Funktionalität und
eine weltweite Plattform für Wissens- und Erfah-
Gesundheitswesen» (31. August) beschäftigen.
rungsaustausch zu Alters- und Generationenfra-
Gleichzeitig kommen mehrere Fachreferenten
gen. An vier Tagen diskutieren Teilnehmer und
aus Nottwil.
Experten über Einflüsse des demographischen
SPS-Präsident Daniel Joggi: «Dank Fortschritten in
Wandels auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, ins-
Medizin und Rehabilitation steigt die Lebenser-
besondere aber auch auf das Gesundheits- und
wartung von Menschen mit Querschnittlähmung.
Sozialwesen.
Gleichzeitig erhöht sich, wie bei Fussgängern
Am Fach-Kongress aktiv beteiligt sind 2011 erst-
auch, die Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher
mals auch die Schweizer Paraplegiker-Stiftung
Komplikationen, etwa Herz-Kreislauf-Probleme
(SPS) und die Schweizer Paraplegiker-Forschung
oder Diabetes. Hinzu kommen lähmungsbeding-
(SPF). Die SPS unterstützt die Durchführung in
te Störungen bestimmter Organe, die sich im
Partnerschaft mit den Organisatoren. Die SPF
Alter verschärfen können, sowie neue, zusätzliche Anforderungen im Umfeld. Im Sinne von Prävention und im Interesse der Betrof­fenen engagieren wir uns hier vermehrt. Vor allem die SPF
kann durch ihre Arbeit wesentlich dazu beitra-
Agenda 2011
4. Juni
Internationaler Rollstuhl-Marathon
und Handbike-Strassenrennen
Oensingen SO
22. – 26. Juni
Schweizer Meisterschaften Handbike
Sierre VS
25. Juni
Sommerfest für ehemalige SPZ-Patienten
SPZ Nottwil
Weitere Infos und Anmeldung unter
www.paranet.ch/Veranstaltungen
7. – 17. Juli
Weltmeisterschaften Bogenschiessen
Turin (Italien)
12. – 17. Juli
Swiss Open Rollstuhl-Tennis, Genf
gen, bevorstehende Herausfor­
derungen richtig
anzugehen und tragbare Lösungen zu finden.»
Weitere Informationen und Anmeldung:
13. August
Schweizer Meisterschaften Junioren
Rollstuhl-Leichtathletik, SPZ Nottwil
www.wdaforum.org
Fünf neue Partner
Swiss Paralympic erhält finanzielle und anderweitige Unterstützung von
fünf weiteren Unternehmen. Eine bedeutsame Partnerschaft zur Förderung
von Schweizer Spitzensportlern mit einer Behinderung wurde mit Allianz
Suisse geschlossen. Der Beitrag der Versicherungsgesellschaft soll mithelfen,
ambitionierten Athleten bessere Voraussetzungen für das Erreichen
hochgesteckter Ziele an internationalen Meisterschaften zu gewährleisten.
Zudem verspricht man sich von weitreichender Zusammenarbeit auch, in der
Öffentlichkeit mehr Interesse am paralympischen Sport wecken zu können.
Allianz SE sponsert auch das Internationale Paralympische Komitee (IPC). ­
Ein Kooperationsvertrag wurde zudem mit der Rehaklinik Bellikon (AG)
unterzeichnet. Auch diese ist nun offizieller Partner von Swiss Paralympic.
DermaPlast wiederum stellt Erst-Hilfe-Material zur Verfügung, während die
Leistungen von BP einen Förderungsbeitrag, Benzin-Gutscheine sowie
ständigen Rabatt für Mitglieder an BP-Tankstellen in der Schweiz umfassen.
Neuer, zusätzlicher Gold-Team-Sponsor ist Globetrotter – ein Reiseanbieter,
der spezielle Bedürfnisse von Sportlern aus langer Erfahrung kennt.
7
Porträt
Ein Leben in
Schwarz-Weiss
Über Jahrzehnte hat Katja Snozzi mit ihrer Kamera das Weltgeschehen
festgehalten – fröhliche, schaurige und traurige Momente. Heute fotografiert
die 64-Jährige kaum mehr; seit einer Operation im Dezember 2008 ist
sie auf den Rollstuhl angewiesen. Das hindert sie jedoch nicht daran, eine
grosse Ausstellung in Locarno vorzubereiten.
Text: Christine Zwygart | Bilder: Astrid Zimmermann-Boog
B
ilder sagen mehr als Worte. Vielleicht
hätte Fotografin Katja Snozzi diese Szenerie früher sogar mit ihrer Kamera festgehalten: Der Wind, der durch ihren Garten in
Verscio TI fegt und die ausladenden Blätter
der Tessiner Palmen zerzaust. Die Blumentöpfe mit Stiefmütterchen und Margriten,
die den Sitzplatz zieren. Und dann mitten in
dieser Idylle, zwischen Haus und Rasen, steht
ein knallroter Rollstuhl. Einsam und verlassen. Unschuldig und doch irgendwie verdächtig. Ein Verräter, der mehr über die Bewohnerin preisgibt, als ihr lieb ist. Sie selber
bezeichnet ihn ironisch als «meinen Ferrari», zu dem sie eine zwiespältige Beziehung
pflege: «Er ist immer für mich da, aber ich
will ihn nicht überstrapazieren.»
Im Haus benützt die 64-Jährige lieber ihren
Rollator, der auch jetzt neben dem weissen
Sofa in Griffnähe steht. Mit ihrem Ehemann
Mucio geniesst Katja Snozzi hier einen Kaffee und lässt den Morgen gemütlich angehen. Das ebenerdige Haus ist mit antiken
und modernen Möbeln eingerichtet, dekoriert mit viel afrikanischer Kunst. «Ich habe
meine Kindheit in Kenia verbracht, meine
Eltern hatten eine Farm in der Nähe von Eldoret», erzählt sie. Dort ist ihre Liebe zum
schwarzen Kontinent entbrannt. Und lodert
bis heute.
Gefühllos
Eine Safari im Rollstuhl – ob das wohl möglich wäre? Katja Snozzi überlegt und erzählt
dann, was im Dezember 2008 passiert ist:
Nach einer Routine-Operation am Rücken
erwacht sie mit dem Gefühl, dass etwas nicht
stimmt: «Ich kann bis heute mein linkes
Bein und den Fuss nicht kontrollieren, das
Gefühl von der Taille an abwärts ist kaum
vorhanden.» Was genau dazu führte, versuchen Gutachter herauszufinden. «Anfangs
Zweisamkeit. Katja und Mucio Snozzi sind
seit über 40 Jahren verheiratet.
war ich optimistisch, dachte, das sei nur vorübergehend.» Doch nach zwei von insgesamt sechs Monaten im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil sagten die
Ärzte: «Das wird nicht besser», und bestellten ihr einen eigenen Rollstuhl. Ein entsetzlicher Moment sei das gewesen. «Ich? Ein Rollstuhl? Soll ich den mit nach Hause nehmen?
Das war für mich undenkbar.»
Mittlerweile habe sie sich in die neue Situa­
tion «notgedrungen hineingelebt». Ohne
Ehemann Mucio und gute Freunde hätte sie
diese schwere Phase nie überstanden. «Mein
Leben hat sich radikal verändert. Hilfe anzunehmen, fällt mir noch immer schwer. Denn
ich kann nicht viel zurückgeben.» Ihr Mann
winkt ab und meint: «Sicher haben wir uns
Gemütlichkeit. Das Ehepaar
Snozzi beim Lesen daheim in
Verscio TI. Katjas Rollator steht
griffbereit neben dem Sofa.
die Pension anders vorgestellt. Doch wir
kommen zurecht.» Seit über 40 Jahren sind
die beiden verheiratet, haben zwei Kinder
und drei Enkel, die Bande sind stark. Und natürlich gibt’s vieles, das nie mehr sein wird
wie zuvor. Grosse Sachen, wie spontane Ausflüge und Reisen, aber auch kleine, banale:
«Ich liebe Handtaschen! Doch im Rollstuhl
oder an Krücken kommen sie mir nur in die
Quere. Deshalb habe ich meine schönsten
Stücke verschenkt.»
Berührend
Über 30 Jahre hat Katja Snozzi im Auftrag
von Medien und humanitären Institutionen
die Welt bereist und fotografiert. Menschen
standen dabei immer im Mittelpunkt, oft gebeutelt von Krieg, Armut und Hunger. «Auf
meinen Instinkt konnte ich mich in heiklen
Momenten stets verlassen.» Trotz bester
Vorbereitung geriet die Fotografin aber auch
in kritische Situationen: So war sie in Kuwait-City, als Saddam Hussein 1990 dort
«Ich? Im Rollstuhl?
Undenkbar!»
einmarschierte – und wurde zu einer seiner
Geiseln. «Einen Monat lebte ich mit 23 Per­
sonen im kleinen Schweizer Konsulat. Das
war happig, denn wir wussten nie, was Saddam macht und wie lange das Ganze dauert.»
Fidel Castro, Dalai Lama, Yasser Arafat – die
Fotografin hat unzählige Persönlichkeiten
des Weltgeschehens getroffen. Doch geblieben sind ihr im Herzen andere Menschen:
Wie das Mädchen Shani in Ruanda, das von
Macheten verstümmelt worden ist. Das Leiden der Flüchtlinge im Bosnien-Krieg. Oder
die 500 Kinder, die in Somalia Tag für Tag vor
ihren Augen verhungert sind. «Am meisten
beeindruckt haben mich Männer und Frauen, die in ihrem Leid die Würde und den Mut
nicht verloren haben.» Ihren Protagonisten
9
Küche. Der Tisch lässt
sich unterfahren.
Das macht die Arbeit
hier einfacher – wie
das Schneiden der
Colomba.
Garten. Katja Snozzi
liebt Blumen, früher
«gärtnerte» sie oft
und gerne.
«Bilder bewirken
oft mehr als Worte»
ist sie immer gegenübergetreten, hat nie
einfach nur aus der Ferne abgedrückt. So sind
Aufnahmen entstanden, die unter die Haut
gehen. Bilder, die einerseits das Leiden der
Schwächsten sichtbar machen, andererseits
aber auch ausgelassene Lebenslust und Fröhlichkeit zeigen. Rückblickend sagt Katja
Snozzi: «Ich realisierte schnell, dass Bilder
oft mehr bewirken als Worte.»
Phantasievoll
Man hört ihr gerne zu. Nicht nur, weil ihre Geschichten packend sind – Katja Snozzis Stimme
ist angenehm tief und rauchig. Manchmal vergisst man dabei fast, auf den Inhalt zu achten.
Doch dann kommt dieser monumentale Satz:
«Heute fotografiere ich nicht mehr.» Pause.
Wieso nicht? «Im Rollstuhl? Nein, bitte! Um
auf meine Art zu fotografieren, muss ich beide
Hände frei haben und mich schnell bewegen
können.» Sie mag keine halben Sachen. Basta.
Obwohl: Die Akkus der Kamera lädt sie immer
wieder mal auf – eine jahrelange Angewohnheit. Man wisse ja nie . . .
Ihre Welt ist kleiner geworden, und ihr Lebensmittelpunkt ist heute in Verscio. In diesem
10
Dorf am Eingang zum Centovalli bewegt sich
Katja Snozzi mit ihrem Rollstuhl eigentlich nie
– zu eng und stotzig sind die Strassen und Gässchen. «Will ich mir was Gutes tun, begleitet
mich meine Freundin Lucia ins Shopping-Center.» Sie sagt’s mit einem herzhaften Lachen,
erzählt dann von der Physiotherapie, die sie
zwei Mal pro Woche besucht. Ansonsten passiere in ihrem Alltag nicht viel. «Ja, ich sitze oft
einfach da, höre Musik oder lese.» Das tönt
nicht anklagend, es ist mehr eine Feststellung.
Dann wird die Frau etwas verlegen; dank den
tollen «Lehrerinnen» im Atelier für Gestaltung
im SPZ habe sie eine neue Herausforderung angenommen: Töpfern und Seidenmalen. «Ausgerechnet! Dabei habe ich doch jahrelang über
die Makramee-Kurse in der Toscana gespottet . . .» Im Moment bleibt jedoch kaum Zeit für
diese neue, kreative Ader. Denn eine Idee von
Katja Snozzi verwirklicht sich gerade: Nach
verschiedenen Ausstellungen in früheren Jahren gibt’s diesen Sommer eine Retrospektive.
Atemberaubend
Im Büro daheim stapeln sich Bilderrahmen mit
Vergrösserungen, Reise- und Fotobücher – in
all den Jahren hat sich viel angesammelt. Dias
und Negative sind längst eingescannt und geordnet. Katja Snozzis Fotos entstanden auf allen
Kontinenten, die Intensität in ihrer Fülle ist
atemberaubend. Das fand auch eine befreun­
dete Künst­lerin, die jemanden kannte, der jemanden kannte . . . So standen bald die Verantwortlichen von Locarnos Kulturdiensten bei
ihr im Wohnzimmer. Das Ergebnis: «Wir machen eine Ausstellung!» Und zwar im Sommer
während des Filmfestivals. «Das bedeutet mir
sehr viel», erzählt die Künstlerin, die sich selber
nie als solche bezeichnen würde. In Locarno
wurde sie geboren, und hier zeigt sie nun eine
Auswahl ihres Lebenswerks. Obwohl: «Mittlerweile habe ich fast ein bisschen Angst davor»,
gesteht Katja Snozzi. Und sie werde nach der
Vernissage gleich für ein paar Tage mit Ehemann und Freunden nach Italien verreisen.
«Die Besucher sollen meine Bilder anschauen.
Nicht mich.» Lobhudeleien und all das Gerede
mag sie nicht. Typisch Fotografin – ihre Bilder
sagen eben mehr als Worte.
Porträt
Mutter mit Kind
im orthopädischen
Zentrum des IKRK,
Huambo (Angola)
1997
Ehepaar in Marama
(Nigeria) 1992
Flüchtlingsfrau an der
Kosovo-Albanischen Grenze 1999
Ausstellung
Katja Snozzis «MondoMomenti» findet vom
29. Juli bis 21. August in «La Casorella»
(Eingang via Castello Visconteo) in Locarno statt.
Öffnungszeiten: täglich von 10 bis 12 Uhr und
von 14 bis 17 Uhr. www.katjasnozzi.ch
Jameela, Beirut
(Libanon) 1979
11
solidarität
Gut gerüstet für die Zukunft
Die Gönner-Vereinigung (GöV) der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) ist für die Zukunft
gut gerüstet. An der Mitglieder-Versammlung in Nottwil wurde eine positive Bilanz des
Geschäftsjahres 2010 präsentiert. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der breiten Unter­
stützung der gemeinnützigen Institution durch die Bevölkerung.
Z
u den hervorstechenden Ergebnissen
der Tätigkeit der Gönner-Vereinigung
im vergangenen Jahr gehörte dasjenige in
der Mittelbeschaffung. 2010 summierten
sich die Einnahmen in der Sparte Solidarität
– Mitgliederbeiträge, Spenden, Erbschaften
und Legate – auf 73,7 Mio. Franken. Dies
entsprach einem Anstieg von gegen fünf
Prozent im Vergleich zu 2009. Auf hohem
Niveau blieben auch der Bestand der aktiven
Mitglieder sowie die Anzahl Neuregistrierungen (41’200). Mit 835’000 Haushalten
bzw. rund 1,5 Mio. Personen, die ihr ange­
hören, ist die GöV weiterhin zweitgrösste
NPO-Mitgliederorganisation im Lande.
Geführt wird sie von einem achtköpfigen
Vorstand. Vier Mitglieder desselben – Barbara
Moser-Blanc (Rheinfelden AG), Vreni Stöckli
(Ibach SZ), Pius Segmüller (Luzern) und
Stephan Zimmermann (Zürich) – wurden an
Ihre Informationsquellen
Die Gönner-Vereinigung (GöV) der Schweizer Paraplegiker-Stiftung
hat ihren Geschäftssitz seit 1. Juli 2010 in Nottwil. Im dortigen
Contact Center können Mitglieder auch den Einzel-Geschäftsbericht
2010 der GöV, die neuen Statuten und allgemeinen Mitgliedschafts­
be­stimmungen in gedruckter Form beziehen. Die genannten Dokumente sind ausserdem zum Herunterladen auf der Internet-Plattform
www.paraplegie.ch erhältlich.
Kontaktadresse: Gönner-Vereinigung, Contact Center, 6207 Nottwil,
Telefon 041 939 62 62, mitglieder.sps@paraplegie.ch
Geschäfts- und Finanzbericht SPG 2010
Die Tätigkeit 2010 von sämtlichen Gesellschaften der Schweizer
Paraplegiker-Gruppe (SPG) und ihr nahestehenden Organisationen
ist in allen Einzelheiten im Geschäftsbericht sowie im separaten
Finanzbericht der SPG dokumentiert. Diese Publikationen gibt es
ebenfalls auf www.paraplegie.ch oder in gedruckter Form.
Kontaktadresse: Sekretariat Schweizer Paraplegiker-Stiftung,
6207 Nottwil, Telefon 041 939 63 63, sec.sps@paranet.ch).
12
der Mitglieder-Versammlung für weitere
zwei Jahre gewählt. Präsident Heinz Frei
(Etziken SO), Hans Jürg Deutsch (Greifensee
ZH), Hans Georg Koch (Grosswangen LU)
und Christian Wenk (Dagmersellen LU) als
übrige müssen erst 2012 bestätigt werden.
Weiter wurden, nebst der Jahresrech­nung,
die Statuten in überarbeiteter Fassung
genehmigt sowie die Beibehaltung der
Mitgliederbeiträge in aktuell gültiger Höhe
beschlossen.
Anstieg der Ausgaben
Höheren Erträgen standen letztes Jahr allerdings auch Mehr-Ausgaben für eine umfassende Versorgung von querschnittgelähmten Menschen gegenüber. Von 55,8 Mio.
Franken insgesamt entfielen 15 Mio. auf
Leistungen für unmittelbar Betroffene. An
Direkthilfe wurden 6,3 Mio., zur Begleichung
ungedeckter Pflegekosten 3,9 Mio. und an
Unterstützungsbeiträgen für 29 GöV-Mitglieder 4,8 Mio. Franken entrichtet. Weitere
0,5 Mio. Franken erhielten verschiedene Institutionen für spezifische Projekte zu Gunsten von Menschen im Rollstuhl. Aus den gleichen Quellen stammten Betriebsbeiträge an
die zum Leistungsnetz der SPG gehörenden
Organisationen. Der Sektor Medizin (Hauptträger SPZ Nottwil) erhielt 13,6 Mio. Franken.
Für den Bereich Integration und lebens­lange
Begleitung wurden 5,5 Mio. und für die
Forschungstätigkeit 6,2 Mio. Franken aufgewendet. Überdies flossen 12 Mio. Franken in
den Fonds «Ganzheitliche Rehabilitation».
Leistungs-Kennzahlen Sparte Solidarität
2010
2009
Total Erlös (Angaben in Mio. CHF)
73,7
70,5
Mitgliederbeiträge
63,6
62,4
Spenden, Erbschaften und Legate
10,1
8,1
Total verwendete Mittel (Angaben in Mio. CHF)
55,8
55,4
Unterstützung GöV-Mitglieder
4,8
2,9
Direkthilfe querschnittgelähmte Personen
6,3
4,9
Abgeltung ungedeckter Pflegekosten
3,9
2,9
Direkthilfe gemeinnützige Institutionen
0,5
0,8
13,6
13,7
Bereich Integration und lebenslange Begleitung
5,5
7,2
Bereich Forschung
6,2
9,7
Unterstützungsbeiträge
Betriebsbeiträge
Bereich Medizin
1)
Gönner-Vereinigung
3,0
Zuweisung Fonds
«Ganzheitliche Rehabilitation»
1)
12,0
13,3
Starkes Image als Trumpf
Obschon die GöV und die SPS derzeit auf gesunden Beinen stehen, müssen die Marketing- und Fundraising-Anstrengungen weiter intensiviert werden. Bei all dem können
beide, ausser auf breite Unterstützung und
Treue der Bevölkerung, auf einen besonderen
Trumpf zählen: Die SPS gehört – neben der
REGA und Médecins sans frontières – zu jenen gemeinnützigen Institutionen mit dem
besten Image. Zusätzlichen Schub im Kampf
um öffentliche Aufmerksamkeit gab es durch
TV-Werbespots, die auch im laufenden Jahr
gezielt eingesetzt werden. Flankierende
Unterstützung leisten das Magazin «Paraplegie», das seit 2010 in grösserem Format
und zeitgemässer Aufmachung erscheint,
eine modernisierte, besser zugängliche Internet-Plattform (www.paraplegie.ch) sowie
ein neuer, berührender Imagefilm mit dem
Titel «Tag für Tag».
Mehr Effizienz im Verkauf
Der Verkauf von «Parashop»-Artikeln wurde in technischer und logistischer Hinsicht
optimiert. Infrastruktur wie auch Lagerverwaltung, Versand und Inkasso sind durch
eine externe Firma sichergestellt. Die Kooperation mit dieser ermöglicht auch eine
effiziente Bearbeitung von Online-Bestellungen sowie das Bezahlen mittels Kreditkarten. Der Betrieb der Parabörse in Basel
hingegen wurde nach 16 Jahren eingestellt
und der gesamte Bestand in einer Auktion
verkauft. Der Erlös floss vollumfänglich in
die Unterstützung von querschnittgelähmten Menschen.
Das Labor wurde am 1. Januar 2010 von der Stiftung übernommen.
13
DOSSIER
Zerstörung, Elend, Armut. Nach
dem verheerenden Erdbeben in Haiti
ist der Alltag für alle Betroffenen
schwer. Besonders aber für Verletzte
– und Querschnittgelähmte.
14
Weltweit
im Einsatz
Haiti, Nepal, Äthiopien – Mitarbeitende der Schweizer Paraplegiker-Gruppe helfen dort, wo die Not am grössten ist. Mit ihrem
Wissen können Ärzte, Therapeuten und Pflegefachleute in Krisengebieten Leben retten. Solche humanitären Einsätze sind eine
moralische Verpflichtung, finden die Verantwortlichen in Nottwil.
15
Bild: KEYSTONE/AP Photo/Esteban Felix
Text: Christine Zwygart | Bilder: Mitarbeitende der SPG
M
anchmal sorgen Katastrophen für Aufsehen und rücken ein Land in den Fokus des Weltgeschehens. So wie das Erdbeben
in Haiti, das unzählige Tote, Verletzte, Obdachlose forderte – und viele Querschnittgelähmte zurückliess. Manchmal geschehen
Schicksalsschläge aber auch, ohne dass die
Welt davon erfährt. Wenn jemand beispielsweise in Nepal auf dem Dach eines Busses
mitfährt, beim Bremsen herunterfällt und
sich den Rücken bricht. Oder wenn Menschen in Äthiopien bei der Nahrungssuche
von Bäumen stürzen und ihre Beine nicht
mehr spüren.
In Entwicklungsländern sind die Folgen für
Querschnittgelähmte noch gravierender als
anderswo. Die meisten sterben in den ersten
Stunden oder Tagen, da sie keine medizinische Behandlung erhalten. Überstehen sie mit
Glück die kritische Phase, stehen ihnen
schwere Zeiten bevor. Denn RehabilitationsKliniken gibt es in Drittwelt-Ländern kaum
und medizinische Nachsorge fehlt. Um dies
zu ändern, geben Spezialisten der Schweizer
Paraplegiker-Gruppe (SPG) ihre Erfahrungen
in Betreuung, Behandlung und Begleitung
von Querschnittgelähmten weiter.
Nepal im März 2009
Pflege-Expertin Miriam van Schriek muss einem Mann Blut abnehmen und weiss: «Das
darf nicht danebengehen.» Denn medizinisches Material ist knapp im Spinal Injury Rehabilitation Centre (SIRC) in Nepal, und alles
müssen die Patienten selber bezahlen. Überhaupt ist das Arbeiten in der Rehabilitationsklinik bei Banepa, 20 Kilometer südöstlich von
Katmandu, ganz anders als im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). «Das ‹europäische›
Denken schaltet man besser ab», sagt die
41-Jährige. Der Zusammenhalt untereinander
ist stärker, jeder hilft jedem. Dafür gibt’s nur
ein paar Stunden pro Tag Strom, und das Per-
16
1
3
4
sonal trägt selbst im Gebäude Winterjacken –
ein Heizung fehlt. Braucht einer der 50 Patienten ein Medikament, müssen die Angehörigen
dieses zuerst bezahlen. Mit Patienten, Pflegenden und Angehörigen übt das Team aus der
Schweiz einfache, aber hilfreiche Handgriffe.
Wie kann ein Patient rückenschonend vom
Bett in den Rollstuhl transferiert werden? Miriam van Schriek und ihre Kolleginnen zeigen
die Prozedur und schulen so das einheimische
Personal: «Manchmal ist das schwierig, weil
nicht alle gut englisch verstehen.»
2
Wertvolle Hilfe vor Ort.
1 Michael Baumberger,
Chefarzt Klinik SPZ, und
Sibille Bühlmann im
Prothesen-Zentrum von
Jimma (Äthiopien).
2 Miriam van Schriek beim
Transfer-Training in Nepal.
3 Sibille Bühlmann mit
Patientin in Haiti und
4 Alexandra Rauch beim
Daten erheben.
5 Michael Baumberger mit
einem haitianischen Arzt.
5
Hans Georg Koch, Oberarzt im SPZ, versucht
derweilen, die schlecht informierten Patienten aufzuklären. «Anhand von Röntgenbildern erläutere ich den Sachverhalt. Und
bringe ihnen schonend bei, dass eine Querschnittlähmung nicht plötzlich wieder verschwindet.» Aus Sperrholz bastelt der 56-jährige Mediziner mit den Paraplegikern Rutschbretter für den Transfer – geübt wird dann mit
der Ambulanz. «Das ist das einzige Auto, das
uns zur Verfügung steht.» Verbände wechseln, Krankenakten durchgehen, knifflige
DOSSIER
Basteln.
SPZ-Oberarzt
Hans Georg
Koch feilt mit
einem Patienten
in Nepal ein
Rutschbrett, das
beim Transfer
aus dem
Rollstuhl hilft.
Fälle begutachten – das Team arbeitet hier mit
viel Engagement. Im Schnitt ein Mal pro Jahr
reisen SPZ-Mitarbeitende für ein paar Wochen nach Nepal, um Kontinuität und Nachhaltigkeit zu garantieren.
Haiti im Sommer 2010
Drückend liegt die Hitze über Cap Haitien im
Norden des Landes. «Das Arbeitstempo ist
hier auf Haiti langsamer, denn die Temperaturen setzen Grenzen», erzählt Alexandra
Rauch. Die 42-jährige Physiotherapeutin und
Gesundheitswissenschaftlerin arbeitet in
der Schweizer Paraplegiker-Forschung (SPF).
Fünf Monate nach dem Erdbeben reist sie mit
einem SPZ-Team ins Provinzspital, um bei
der Rehabilitation von Querschnittgelähmten mitzuhelfen. Wie immer bei solchen Einsätzen geht es darum, fehlendes Wissen zu
vermitteln. Von den Lebensbedingungen vor
Ort ist sie erschüttert: «Die in Armut lebenden Haitianer haben kein sauberes Trinkwasser und die hygienischen Bedingungen
sind katastrophal.»
Die Forscherin ist mit einem speziellen Auftrag hier her gereist: Sie erhebt Daten über
Querschnittgelähmte. Wie sieht es aus punkto
Blasen- und Darmfunktion, Schlaf, Schmerzen, Mobilität, Zugang zu Gebäuden, der beruflichen Situation, der Integration in die Gesellschaft und dem entsprechenden Bedarf an
Pflege und Therapien? «Längerfristig wollen
wir ein einfaches Instrument entwickeln, mit
dem Informationen über den rehabilitativen
Bedarf von Querschnittgelähmten gewonnen
werden können.» Damit Länder in Not einen
17
Hausbesuch
in Nepal. Das
Leben weitab von
geteerten Wegen ist mit
dem Rollstuhl schwierig –
auch für diesen Familienvater.
Überblick erhalten: Was ist bereits vorhanden,
und was muss für eine gute Rehabilitation
noch eingerichtet und organisiert werden.
Während der vier Wochen vor Ort gelingt es
dem SPZ-Team, die Patienten aus den Betten
zu nehmen und zu mobilisieren, mit ihnen
Kraft zu trainieren sowie ihre Selbstständigkeit mit dem Rollstuhl und ihre Körperpflege
zu verbessern. Dabei kämpfen die Schweizer
mit ungewohnten Arbeitsbedingungen wie
Ziegen und Hunden, die durch die Klinik
streunen. Oder Zäpfchen, die sich in der Bruthitze auflösen. Geplant ist nun der Aufbau einer Reha-Abteilung mit sechs Betten, damit
die Nachsorge gesichert ist. Ein haitianischer
Arzt reist eigens nach Nottwil, um im SPZ das
entsprechende Know-how zu erhalten.
Äthiopien im Dezember 2010
Die Zimmer des Universitäts-Spitals in Jimma
sind zum Bersten voll, es herrschen chaotische
Zustände. SPZ-Physiotherapeutin Sibille Bühlmann versucht sich einen Überblick zu verschaffen, wer hier für was zuständig ist: «Doch
das ist nicht einfach, denn vom einheimischen
Personal tragen alle weisse Kittel», erzählt die
32-Jährige. Die Klinik liegt 250 Kilometer
südwestlich der Hauptstadt Addis Abeba, die
18
Patienten hier leiden an Tuberkulose, Lepra
und Aids. Auch Querschnittgelähmte werden
eingeliefert – wenn sie den oft langen Transport überleben. Niemand kennt sich hier mit
dieser Behinderung aus, Rollstühle sind rar,
und meistens liegen die Patienten im Bett.
Wenn sie nicht mehr arbeiten können, fallen
sie der Sippe sowieso nur zur Last.
Begeistert sind Oberarzt Koch und Sibille
Bühlmann hingegen vom Prothesen-Zentrum,
das zum Spital gehört: «Hier herrscht Ordnung, und das Personal ist gut ausgebildet.»
Fünf Angestellte fertigen Mass-Schuhe, Gehapparate, Korsette und Prothesen. Geplant ist
eine Produktion von Rollstühlen mit Teilen,
die im Fahrradhandel erhältlich sind. «Somit
wären sie unabhängig von Ersatzteilen aus
dem Ausland. Da der Import schwierig ist,
wäre dies sinnvoll», urteilt Koch.
Das SPZ-Team ist nach Äthiopien gereist, um
einen Augenschein zu nehmen. Soll sich die
SPG hier engagieren? Die Stiftung könnte beispielsweise das Prothesen-Zentrum unterstützen, die dringend nötigen Physio- und Ergotherapeuten besser ausbilden oder beim
Aufbau einer Rehabilitations-Abteilung helfen. Noch ist offen, wie und ob sich Nottwil in
Äthiopien engagiert.
Können verpflichtet
Manchmal wird die SPG direkt angefragt, ob
sie helfen kann (zum Beispiel in Nepal),
manchmal bietet sich die Stiftung selber an
(Haiti), und manchmal wünschen sich andere
Partner vor Ort ein Engagement der Spezialisten in Nottwil (Äthiopien). Die Schweizer
Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Deza unterstützt finanziell das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und Handicap International, die sich beide für Anliegen
der Rollstuhlfahrer stark machen. Eigene Projekte hat die Deza indes nicht: «Die fachlich
sehr spezifische Unterstützung und Behandlung von Querschnittgelähmten stellt in unseren Partnerländern keine Priorität dar»,
sagt Sprecher Lars Knuchel. Die Deza konzentriere sich darauf, dort die Basis der Gesundheits-Versorgung zu verbessern.
So bleibt Nottwil erste Anlaufstelle für Anfragen aus dem Ausland. Denn hier arbeiten
die Mitarbeitenden, die das komplexe Wissen mitbringen und mit Herzblut dabei sind.
So sagt Sibille Bühlmann: «Ich kann mit einem Einsatz im Ausland zwar nicht die Welt
verändern, aber einem einzelnen Menschen
etwas Gutes tun.» Nie mehr vergessen wird
Miriam van Schriek das Abschiedsfest mit
Kuchen und Tee in Nepal: «Da gabs nur strahlende Gesichter und viele Hände, die gleich
einen Vorrat an Süssigkeiten hamsterten.»
Und tief eingebrannt hat sich bei Alexandra
Rauch der krasse Unterschied auf der karibischen Insel Haiti: «Hier ein traumhafter
Strand, da die katastrophalen Lebensbedingungen.» Antrieb für alle ist der humanitäre
Aspekt. Oder wie Hans Georg Koch betont:
«Wir nehmen für uns in Anspruch, in der
Rehabilitation von Querschnittgelähmten
die Besten zu sein. Das verpflichtet uns, anderen zu zeigen, wie das gemacht wird.» Zum
Wohle von Para- und Tetraplegikern auf der
ganzen Welt.
ROLLSTÜHLE
Projekt in Pakistan
Theo Basler gehört zu den Entwicklungshelfern der
ersten Stunde. Der Pflege-Experte arbeitete erstmals
Anfang der 80er-Jahre im Auftrag des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in der pakistanischen
Stadt Peshawar und half dort, ein neues Rehabilitationszentrum für Kriegsverletzte zu eröffnen. Nach
dem grossen Erdbeben kehrte er im Januar 2007 erneut nach Pakistan zurück – diesmal als Mitarbeiter des
Schweizer Paraplegiker-Zentrums. «Die Sicherheitslage
war damals schwierig, frei bewegen konnten wir uns
nicht», erinnert sich der heute 66-Jährige.
Der Einsatz fand in Rawalpindi, der Zwillingsstadt von
Islamabad, statt. In einem Rehabilitationszentrum des
Militärs schulte das SPZ-Team einheimisches Personal
– und fand dabei alte Relikte: «Die Drehbetten, die
dort im Einsatz waren», erzählt Theo Basler, «kannte
ich noch aus den 70er-Jahren.» Und er erinnert sich
auch gut an die Schwierigkeiten, die es zwischen den
Kulturen gab: «Ein in der Tradition verwurzelter Pakistani würde nie eine fremde Frau berühren. Und eine
einheimische Frau nie einen fremden Mann. Anders
verhalten sich Leute, die mit westlichem Denken in Berührung kamen.» So waren für die Pflege der Patienten
die Angehörigen zuständig. Nur nach und nach fielen
diese Schranken, denn die Schweizer Helfer packten
überall beherzt zu.
Der Einsatz in Pakistan ist eines von vielen Projekten,
das die Schweizer Paraplegiker-Stiftung in der Vergangenheit unterstützte. So fanden auch Workshops in
Thailand, Arbeitseinsätze in Litauen, Fachreferate in
Indien und Italien statt.
Praktische Übung. Pakistanische Pflegerinnen wickeln Theo
Baslers Beine für eine Lymphdrainage ein.
«Wir geben Wissen weiter – das ist sehr
nachhaltig»
D
aniel Joggi, 61, ist Präsident der Schweizer Paraplegiker-Stiftung
(SPS), die auch Hilfseinsätze im Ausland finanziert.
Ist Katastrophen- und Entwicklungshilfe wirklich eine Aufgabe
der SPS?
Wir besitzen in der Behandlung und Pflege von Querschnittgelähmten ein grosses Wissen. Dieses bieten wir gerne an, wenn irgendwo
auf der Welt Not herrscht. Sicher gehört Entwicklungshilfe aber nicht
zu unserem Kerngeschäft, deshalb suchen wir auch nicht aktiv nach
Projekten, die wir unterstützen könnten.
Gibt es für solche Einsätze ein spezielles Budget?
Nein, wir entscheiden von Fall zu Fall. Dabei geht es auch nicht um
sehr hohe Beträge: Die Löhne der Mitarbeitenden laufen normal weiter, die Stiftung übernimmt Transport, Unterkunft und Logistik. So
hat der vierwöchige Einsatz in Haiti beispielsweise 30’000 Franken
gekostet – ohne Löhne.
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, ob sich die Stiftung
engagiert?
Das ist sehr individuell, denn bis jetzt haben wir kein generelles Konzept. Eine Idee wäre jedoch, dass wir eine Art Notfall-Container parat
stellen und die Mitarbeitenden darauf schulen. So wäre es künftig
möglich, nach einer Katastrophe schnell auszurücken, um bereits in
den wertvollen ersten Tagen vor Ort zu sein.
Es kommen auch ausländische Fachleute ins SPZ. Was bekommen
sie mit auf den Weg?
Wir können zeigen, wie weit entwickelt die Technologie heute ist. Und
was man auch mit einer weniger modernen Ausrüstung erreichen
kann. Denn der Prozess ist meistens wichtiger als das Gerät. Wenn die
Auflösung des Röntgenbildes nicht so hoch ist, spielt das nur bei einem
von zwanzig Fällen eine Rolle. Viel wichtiger ist die richtige Interpretation.
Wie nachhaltig sind die Projekte?
Wir erledigen die Arbeit nicht selber, sondern bilden Einheimische
vor Ort aus. Dieser Wissens-Transfer ist sehr nachhaltig. Wer weiss,
wie ein Prozess funktioniert, kann sein Können immer und überall
einsetzen.
Sind wir verpflichtet zu helfen?
Ja, wir sind moralisch verpflichtet, jenen zu helfen, denen es schlechter
geht als uns. Der Solidaritätsgedanke ist typisch für die Schweiz.
19
«Wir dürfen keine
Wunder erwarten»
Professor Martin E. Schwab ist federführend auf dem Gebiet der RückenmarksForschung. Mit seinem 30-köpfigen Team kann er an der Universität Zürich erste
Erfolge verbuchen. Der 62-Jährige über intakte Chancen, lähmende Bürokratie
und weltweite Projekte.
Interview: Christine Zwygart | Bilder: Astrid Zimmermann-Boog
S
ie forschen seit über 25 Jahren, wie
man durchtrennte Nerven wieder
zum Wachsen bringen kann. Was
interessiert Sie daran?
Dieses wissenschaftliche Thema galt früher
als hoffnungslos. In Lehrbüchern stand, es
gebe keine Reparatur von Hirn- oder Rückenmark nach grossen Verletzungen. Ich
arbeitete damals auf diesem Gebiet und hatte Hinweise, dass sich da vielleicht doch etwas machen liesse. Deshalb beschloss ich,
diese Nuss zu knacken.
Wie kam es zu Ihrer Entdeckung eines
körpereigenen Stoffes, der die Nerven
hindert, wieder zusammenzuwachsen?
Der Ursprung war eine Beobachtung in Zellkulturen, die sich komisch verhielten. Wir
studierten und kamen auf die Idee, dass es
so etwas wie Wachstums-Hemmstoffe geben könnte. Also gingen wir der Frage
nach, was diese Hemmer genau verhindern. Und was sie im Rückenmark oder im
Hirn bewirken.
Sie entwickelten einen Antikörper. Was
macht der genau?
Der so genannte «anti-Nogo»-Antikörper
schaltet einen der wichtigsten Wachstumshemmer aus; nämlich ein Eiweiss, das in den
Nervenfaserhüllen im Rückenmark und Gehirn vorkommt. Dadurch können die Nervenfasern nachwachsen. Viele verschalten
sich wieder sinnvoll, sodass ein verletztes
20
Teamarbeit.
Mit einer
Mitar­beiterin
diskutiert
Schwab eine
Analyse.
Tier – und in Zukunft hoffentlich ein Patient
– sein Bein oder den Arm besser bewegen
kann. Gemeinsam mit Novartis entwickelten wir einen Antikörper, den wir den
Menschen verabreichen können. Der Antikörper wird in den Flüssigkeitsraum gespritzt, der sich unten in der Lendenwirbelsäule befindet.
Die klinische Studie dazu läuft noch.
Gibt’s dennoch bereits Tendenzen?
Tests an über 50 Patienten zeigen: Die Antikörper erzeugen keine Nebenwirkungen.
Und es ist möglich, das Medikament wie geschildert ins Rückenmark zu bringen – das
hat zuvor noch niemand versucht. Als
nächstes müssen wir nun die Wirksamkeit
in einem Blindversuch nachweisen. Die einen Patienten erhalten das Medikament,
andere nur ein Placebo. Dieser Versuch
beginnt noch 2011 und dauert etwa zwei
Jahre.
Sind die Patienten dafür schon
­bestimmt?
Frischverunfallte Patienten, die ausschliesslich an einer Rückenmarksverletzung leiden
und keine anderen gesundheitlichen Probleme haben, werden weltweit rekrutiert. Gesucht sind vorerst vor allem Tetraplegiker,
Interview
Persönlich
Martin E. Schwab wurde am 11. April 1949
in Basel geboren. Er studierte Zoologie mit
Botanik und Chemie als Nebenfach und promovierte 1973. Als Postdoktorand konnte er
am Biozentrum Basel einen Nervenwachstumsfaktor nachweisen. Nach der Habilita­
tion 1978 arbeitete er in Harvard (USA) und
am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in
München (D), wo er die Existenz von Nervenwachstums-Hemmstoffen nachwies. 1985
wurde er ans Institut für Hirnforschung der
Universität Zürich berufen. Seit 1997 hat er
eine Doppelprofessur am Biologie-Departement der ETH Zürich, die seit 1998 gemeinsam mit der Universität ein Zentrum für Neurowissenschaften betreibt. Seine Forschung
konzentriert sich auf das Ausschalten des so
genannten «Nogo»-Proteins, das die Nervenfasern hindert, wieder zusammenzuwachsen.
Schwab ist seit 1972 mit der Künstlerin Ruth
Handschin verheiratet und lebt in Zürich.
weil das Halsmark die Atmung und die Arme
steuert. Experimente an Affen haben gezeigt,
dass die Erfolgschancen dort am besten sind.
Und wir arbeiten nur mit Frischverletzten,
da diese auf die Therapie besser ansprechen.
Wieso?
Ist eine Nervenzelle verletzt, macht sie einen
spontanen Reparaturversuch; wie ein Baum,
der nach dem Zurückschneiden neu ausschlägt. Dieser Prozess findet jedoch nur in
den ersten zwei Wochen nach dem Unfall
statt und stoppt dann wegen den Hemmstoffen. Bei Querschnittgelähmten, die schon
länger im Rollstuhl sitzen, sind die Nerven-
zellen wachstumsinaktiv. Um diese zu reaktivieren, braucht es zusätzliche Stimulation
und eine Kombination von Antikörpern und
Wachstumsfaktoren. In Tieren erzielten wir
damit bereits Erfolge. In Menschen müssen
wir aber zuerst zeigen, dass beide Therapien
separat funktionieren. Daran arbeiten wir.
Weltklasse. Professor
Martin Schwab in
seinem Labor an der
Universität Zürich.
Wie funktioniert der klinische Test über
die Landesgrenzen hinweg?
Das ist unheimlich kompliziert, denn wir benötigen in allen Ländern eine spezielle Bewilligung. Ausserdem müssen wir sicherstellen, dass die Antikörper überall gleich
verabreicht, die anschliessenden Tests und
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Paraplegie
Interview
Praxis
Papierstösse.
In seinem Büro in
Zürich stapeln
sich Arbeiten von
Doktoranden,
Unterlagen und
Dokumente.
die Rehabilitation gleich durchgeführt werden. Denn eines dürfen wir nicht vergessen:
Das alleinige Verabreichen von ein paar
Spritzen bringt wahrscheinlich nicht viel.
Wir schaffen mit dieser Therapie bessere Voraussetzungen für die Rehabilitation. Diese
wird’s immer brauchen. Wir geben dem Patienten zwar neue Nervenverbindungen, aber
die müssen dann eintrainiert und stabilisiert
werden.
Was erwarten Sie im besten Fall nach
zwei Jahren?
Wir arbeiten mit schwer verletzten Patienten. Wenn wir Erholungen sehen, die aussergewöhnlich sind – im Vergleich zu mehr als
2000 detailliert dokumentierten Fällen ohne
Antikörper und der Placebo-Testgruppe –
wäre das ein schönes Resultat.
An der Universität Zürich läuft ein
weiteres Projekt mit Elektro- und Botenstoff-Stimulation. Sieht das erfolgsversprechend aus?
Seit 30 Jahren weiss man, dass unterhalb der
Verletzungsstelle noch viele Schaltelemente
vorhanden sind, die beispielsweise das Lau-
fen koordinieren können. Die Kontrolle vom
Hirn her funktioniert allerdings nicht mehr.
Wenn man diese Schaltkreise elektrisch stimuliert, arbeiten sie wieder. Das wurde an
Ratten und Mäusen getestet. Die Hoffnung
ist, dass bei Schwerverletzten vielleicht dieser
Prozess wieder in Gang gebracht und mit anderen Therapien kombiniert werden kann.
Am Paraplegiker-Zentrum Balgrist in
Zürich sollen diesen Sommer zwölf
Patienten mit neuronalen Stammzellen
therapiert werden. Was will man damit
bewirken?
In einem amerikanischen Forschungsverbund, der von der Stiftung des ehemaligen
Superman-Darstellers Christopher Reeve finanziert wird, arbeiten mehrere Gruppen
mit Stammzellen im Tierexperiment. Diese
Zellen können im Rückenmark eine RelaisFunktion übernehmen; also eine Umschaltstelle bilden, die abgequetschte Nerven­
stränge auf noch funktionierende Bahnen
umlenkt. Diese Erkenntnisse sollen nun auf
den Menschen übertragen werden, auch um
sicherzustellen, dass es keine Nebenwirkungen gibt. Eine Gruppe in Schweden hat beim
Forschen für ein besseres
Leben im Rollstuhl
Die Schweizer Paraplegiker-Forschung
(SPF) in Nottwil startet im Sommer
mit einer grossangelegten Befragung:
Die «Swiss Spinal Cord Injury Study»
(SwiSCI) ist die erste Langzeitstudie für
Menschen mit Rückenmarksverletzungen in der Schweiz. Sie setzt sich ganzheitlich mit physiologischen Funktionen,
aber auch mit psychologischen Aspekten und der gesellschaftlichen Integration Betroffener auseinander – mit dem
Ziel, deren Lebensqualität zu verbessern. Die Schwerpunkte erstrecken sich
von der klinischen Rehabilitation, der
pflegerischen und therapeutischen Versorgung bis zur sozialen Teilhabe und
Chancengleichheit in der Gesellschaft.
Besonderes Augenmerk liegt auf der
Frage, welche Faktoren dazu beitragen, im Alter gesund zu bleiben. Die
erhobenen Daten kommen dann in eine
Datenbank, die Grundlage für ein nationales und internationales Forschungsnetzwerk bilden wird.
Die SPF wird von der Schweizer Paraple­
giker-Stiftung (SPS) finanziell unterstützt.
Mit der Anerkennung als ausseruniver­
sitäre Forschungsinstitution durch Bund
und Kanton Luzern, mit der Schaffung
einer Professur an der Universität Luzern
für Gesundheits-Wissenschaften und -Politik erfüllt die SPF auf dem Forschungsplatz Schweiz eine wichtige Aufgabe.
Ihre Kernkompetenz umfasst die Forschung zum Zusammenspiel körperlicher,
psychischer und sozialer Faktoren bei der
Entwicklung und Überwindung von Behinderung.
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Interview
«Mir schreiben Betroffene
aus der ganzen Welt»
Versuch mit Ratten eine starke Schmerzrelevanz festgestellt – da muss man also vorsichtig sein.
Gibt’s weltweit andere Projekte, die Sie
aufmerksam verfolgen?
Eine Firma in Kalifornien versucht ebenfalls,
mit Stammzellen die Nervenhüllen zu reparieren. Weiter laufen Versuche, Narbenge­
webe enzymatisch abzubauen oder zu überbrücken. Andere Forscher versuchen, die
Wachstumsfaktoren der Nerven zu begünstigen. Viele dieser Studien sind ermutigend,
aber dennoch zur Zeit noch weit von einer
klinischen Anwendung entfernt.
Arbeiten Forscher zusammen – oder sind
sie doch eher Konkurrenten?
Sie sind häufig beides: Kollegen, die zusammenarbeiten, aber auch Konkurrenten. Dennoch ist die Vernetzung sehr wichtig, weil ein
Resultat nur gut ist, wenn die Kollegen es
kennen und sagen: Das ist gut! Deshalb publizieren wir alle unsere Resultate in inter­na­
tionalen Zeitschriften.
Wie erfolgreich ist die Schweiz im
Vergleich zum Ausland?
In der Hirnforschung ist die Schweiz hinter
den USA und England die Nummer 2. Und
im Bereich der Querschnittlähmung sind wir
eines der bekanntesten Labors weltweit.
Ist unsere Gesetzgebung dabei
hilfreich?
Wir sind dankbar, dass uns die Politik finanziell unterstützt. Auch wenn wir nicht gerade
im Geld schwimmen und viele Mittel selber
akquirieren müssen. Unzumutbar ist hingegen die Bürokratie, die immer mehr zunimmt. Mein Tag ist ausgefüllt mit Vorlesungen geben, Geld beschaffen, Ideen haben,
Publi­ka­tionen schreiben, Studenten betreuen
– und so bleibt das Verständnis beim Ausfüllen des x-ten Formulars und bei der x-ten Zählung jeder Maus auf der Strecke. Ich könnte
heute nicht mehr arbeiten ohne jemand, der
halbtags nichts anderes macht, als sich um
diese Bürokratie zu kümmern. Wir müssen
uns ernsthaft die Frage stellen: Stehen wir
zur biologisch-medizinischen Forschung? Ja?
Dann braucht‘s Tierversuche. Und schliesslich haben wir in der Schweiz die strengste
Gesetzgebung weltweit.
Spüren Sie Druck von Seiten der
­Rollstuhlfahrer?
Ich kenne viele Betroffene von der Arbeit her
oder aus meinem Bekanntenkreis. Und wir
erhalten unzählige Briefe und E-Mails von
Betroffenen aus der ganzen Welt. Ihnen allen
erklären wir offen, wo wir mit unserer Arbeit
stehen. Uns ist bewusst, dass viel Hoffnung
auf unserer Arbeit ruht. Ich schreibe den
Menschen, dass bei unserer Forschung sicher
etwas herauskommen wird – aber damit
nicht alle Probleme gelöst sind. Wir erzielen
höchstens einen Teilerfolg, aber weitere
Schritte werden folgen. Unser Ziel ist momentan, dass ein inkomplett Gelähmter in
seiner Wohnung den Rollstuhl nicht mehr
braucht. Oder dass ein Tetraplegiker seine
Hände wieder benützen oder selber atmen
kann. Darauf konzentrieren wir uns im
Moment. Wunder dürfen wir jedoch keine
erwarten.
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25
Praxis
Der Sitz muss sitzen
Querschnittgelähmte verbringen viele Stunden pro Tag im Sitzen. Stimmen Haltung
und Stabilität nicht, hat das gravierende Folgen.
Text: Christine Zwygart | Bilder: Astrid Zimmermann-Boog
V
erdrehtes Becken, buckliger Rücken,
überspannter Nacken – sitzt ein Rollstuhlfahrer nicht optimal in seinem Gefährt,
beginnen früher oder später die Probleme.
Stephan Mausen weiss, was das bedeutet:
«Die Schultern schmerzen, die Rippen sind
gequetscht, die Atmung fällt aufgrund der
eingesunkenen Haltung schwer, und auf
der Haut können gefährliche Druckstellen
entstehen.» Der Ergotherapeut hilft Betroffenen im Rollstuhl-Sitz-Zentrum (RSZ) in Nottwil, die für sie idealen Anpassungen vorzunehmen. Manchmal braucht es dazu mass­geschneiderte Sitz- und Rückenschalen,
manchmal helfen auch spezielle Antidekubitus-Sitzkissen oder das korrekte Einstellen
des Rollstuhls. Querschnittgelähmten fehlt
die Motorik im Rumpf und das Bewusstsein
für eine gute Körperhaltung. «Ist jedoch alles
optimal auf die Bedürfnisse des Patienten
abgestimmt, gewinnt dieser Lebensqualität,
Balance und Selbstständigkeit zurück», so
der Therapeut.
Gerade Haltung, kaum Schmerzen
Das hat auch Philippe Blanchard am eigenen
Körper erfahren. Der 43-Jährige aus Sorvilier
BE ist seit 1989 im Rollstuhl und litt früher
arg: Sein Becken stand schief, die Wirbel­
säule war krumm. «Heute habe ich keine
Probleme mehr, die Schmerzen sind so gut
wie weg», erzählt der Paraplegiker. Eine
Rückenschale gibt nun Halt, stützt hinten
und auf der Seite. Ebenfalls hilft ihm eine
Sitzschale, die den Druck aufs Gesäss optimal
verteilt und seine Beckenknochen in eine
horizon­tale Linie bringt – sodass Bauchnabel
und Brustbein vertikal wieder gerade übereinander ausgerichtet sind. «Ich habe mich
schnell an diese neuen Hilfsmittel gewöhnt.
Mir geht es viel besser.»
Jemanden nach Jahren wieder gerade auf­
zurichten, ist ein Prozess, der Monate in
Anspruch nimmt. «Die Verkrümmung kam
ja auch nicht von heute auf morgen», erklärt
Stephan Mausen. Zuerst ermittelt der Spezialist mit Hilfe eines Fragebogens den IstZustand, misst die Druckverteilung beim
Sitzen, nimmt Abdrücke von Gesäss sowie
Rücken und findet heraus, wie aktiv der Pati-
ent im Alltag ist. «Denn viele Patienten haben Angst, dass wir sie mit grossen Rückenschalen einbetonieren und einengen», sagt
Mausen. Natürlich bedeute mehr Halt auch
mehr Material und somit mehr Gewicht am
Rollstuhl. «Doch kenne ich niemanden, der
die Hilfsmittel nach der Eingewöhnungszeit
zurückgeben wollte.»
Besonders berührt hat ihn die Geschichte
einer Rollstuhlfahrerin, die nach 20 Jahren
erstmals wieder beide Hände gleichzeitig
benutzen konnte: «Die Balance im Rumpf
stimmte nicht, sodass sie sich immer mit
einem Arm irgendwo festhalten musste, um
nicht nach vorne zu kippen.» Dank optimaler Sitzposition konnte dieses Problem gelöst
werden. Heute kann die Patientin wieder
beide Händen zum Essen und Tippen auf der
PC-Tastatur brauchen.
Alle Fachleute unter einem Dach
Um das Optimum für den Patienten
herauszuholen, arbeitet im Schweizer
Paraplegiker-Zentrum (SPZ) Nottwil
ein ganzes Team für ihn: Ergothe­
rapeuten helfen bei der Anpassung
des Rollstuhls. Orthopädisten formen
aus Schaum- und Kunststoffen dann
die massgeschneiderten Sitz- und Rückenschalen. Und Physiotherapeuten trainieren mit dem Betroffenen den Gebrauch der neuen Hilfsmittel. Angegliedert ist das Rollstuhl-Sitz-Zentrum an die Ergotherapie.
Mehr Infos: www.rollstuhl-sitz-zentrum.ch
26
Beratung. Ergotherapeut Stephan Mausen (r.)
erklärt Patient Philippe Blanchard die Funktion
eines speziellen Sitzkissens für den Rollstuhl.
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Die besondere Spende
In Erinnerung an
«Giùgiù»
Gedenktag. Die Familie Fera und Freunde
von Giuseppe mit einer Collage des Verstor­
benen und dem Scheck für die Stiftung.
Zwei Mal im Jahr gedenkt die Familie Fera ihres Giuseppe: An seinem
Geburtstag im März und an seinem Todestag im August. «Giùgiù», wie ihn
alle nannten, starb im Sommer 2009 an einer Schädelverletzung – nachdem
ein Fremder vor einem Club in Lugano auf den damals 31-Jährigen eingeprügelt hatte. Seither sammeln Freunde, Bekannte und die Familie am Gedenktag jeweils Geld, das sie einem Hilfswerk spenden. So kam es, dass Vertreter
der Schweizer Paraplegiker-Stiftung im Tessin einen Scheck von CHF 5000.–
entgegennehmen durften. Wir danken von Herzen für diese grosszügige
Spende.
Prävention im Arbeitsalltag
Geste der Verbundenheit
Am Monteurentag der Roth Gerüste AG in
Frauenkappelen BE stand das Thema Sicherheit
im Zentrum – schliesslich erfordert die Arbeit
in luftiger Höhe eine konsequente Prävention,
um Unfälle zu vermeiden. Beeindruckend war
der Erfahrungsbericht eines Mitarbeiters, der sich
beim Gleitschirmfliegen schwere Rückenverletzungen zugezogen hatte und für die Rehabilita­
tion im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ)
Nottwil weilte. In einem Referat erklärte
SPZ-­Oberarzt Hans Georg Koch den Monteuren
an­schliessend die medizinische Seite einer
Querschnittlähmung und erzählte von seiner
Arbeit mit den Patienten. Beide Vorträge stiessen
auf reges Interesse. Die Schweizer ParaplegikerStiftung bedankt sich herzlich für die Spende
von CHF 3000.–, die sie von der Firma ent­
gegennehmen durfte.
Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) und die Swissprinters Gruppe
pflegen seit mehreren Jahren eine erfolgreiche Zusammenarbeit. In Zofingen,
Standort des grössten ihrer vier Betriebe im ganzen Land, wird im Auftrag
der SPS das Magazin «Paraplegie» hergestellt. Durch die enge Kooperation ist
bei den Mitarbeitenden dort mittlerweile eine starke Verbundenheit mit dem
Thema Querschnittlähmung und
Menschen im Rollstuhl entstanden. Ausdruck dessen war jüngst
die Übergabe eines Schecks über
CHF 10’000.– durch eine Delega­tion
von Swissprinters, angeführt von
Alfred Wälti, Vor­sitzender der
Unternehmens­leitung. Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung dankt dem
Tradi­tions-Unternehmen herzlich
für diese aussergewöhnliche Geste.
Scheck-Übergabe in Nottwil. Stehend, von links: Alfred Wälti (Vorsitzender Unternehmensleitung, Swissprinters AG ), Nicolas Sauvant (Gesamtleiter Verkauf, Swissprinters AG),
Agnes Jenowein (Leiterin Unternehmenskommunikation und Marketing SPS),
Renato Bolt (Leiter Verkauf Deutschschweiz, Swissprinters AG). Vorne: Daniel Joggi
(Stiftungsratspräsident SPS).
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Briefe an die Stiftung
«Für mehr Selbstständigkeit»
Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Sie mir in
Windeseile die finanzielle Unterstützung bei
der Reparatur meines Elektrorollstuhls zusicherten. Ich hoffe, dass ich damit wieder lange zu den Therapien ins Kantonsspital fahren
kann. Ganz herzlichen Dank für diesen grossen Beitrag. Ohne Ihre Hilfe könnte ich diese
Rechnung nicht bezahlen.
Elisabeth Bösch, Luzern
Für die grosszügige Unterstützung bei der
Anschaffung meines neuen Fahrzeuges und
für das aufmunternde, von Verständnis und
Wertschätzung getragene Schreiben, danke
ich Ihnen von ganzem Herzen.
Beat Ramseyer, Basel
Es hat mich ausserordentlich gefreut, dass
die Stiftung die Reisekosten meiner Begleitperson übernimmt. Wenn man dauernd Hilfe braucht, tut es sehr gut, mal mit einer neuen Person unterwegs zu sein. Überhaupt ist
es schön, Abstand vom Alltag zu haben. Das
gibt mir neue Impulse und Kraft.
Danke, dass es die Schweizer ParaplegikerStiftung gibt, die Entscheide schnell und unbürokratisch fällt. Durch Ihre Unterstützung
und Ihr Eingreifen ist es mir nun möglich,
einen Elektro-Hilfsantrieb für meinen Rollstuhl zu kaufen. Aufgrund von Rheuma war
das Fortbewegen im Rollstuhl für mich sehr
schmerzhaft bis unmöglich geworden. Deshalb bin ich überwältigt, dass die Stiftung
diese Kosten übernimmt. Ich bedanke mich
aus tiefstem Herzen.
Camel Al-Seid, Kreuzlingen TG
Über die finanzielle Unterstützung beim Kauf
eines neuen Autos habe ich mich riesig gefreut. Und ich möchte mich herzlich bei Ihnen bedanken. Das Fahren bereitet mir viel
Spass, denn jetzt bin ich auf dem Weg zu
noch mehr Selbstständigkeit. Dank Ihrem
grosszügigen Beitrag war es möglich, ein
praktisches Auto zu kaufen. Damit kann ich
mein Liegebike, das 2,5 Meter misst, nun
ohne Probleme transpor­tieren.
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ausführliches Kalendarium, Tipps zur Ernährung und fürs Alter nach
60. Rhythmus, Wellness und eine Kindergeschichte sind weitere
Themen. Zudem wird über querschnittgelähmte Menschen berichtet,
die trotz ihrer Behinderung ein weit­gehend selbstbestimmtes Leben
führen. Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Trägerin eines einzigar­
tigen Leistungsnetzes für Betroffene, hilft diesen umfassend bei der
Rehabilitation und Wiedereingliederung. Mit dem Kauf des Kalenders
helfen auch Sie, denn der Netto­erlös kommt der gemeinnützigen
Institution zugute. Erhältlich in Deutsch und Französisch.
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mein Tag im Rollstuhl
« Beim Fliegen wird der
Rollstuhl zur Nebensache »
Doros Michaelides war einst Pilot bei der Swissair. Den Traum vom Fliegen gab
der 42-Jährige auch nach seinem Unfall nicht auf – und kehrte als Paraplegiker
ins Cockpit zurück.
Aufgezeichnet von Christine Zwygart | Bild: RDB/SI/Dick Vredenbregt
«
Ich bin kein Frühaufsteher, da ich oft
bis nach Mitternacht arbeite. Aber
spätestens um 9 Uhr beginnt mein Tag mit
einem Glas Schokomilch. Zwei Stunden
brauche ich, bis ich startbereit bin. Das tönt
für Aussenstehende immer nach wahnsinnig viel Zeit; aber wir Rollstuhlfahrer benötigen für die Morgentoilette und fürs Anziehen halt einfach länger.
Als Unternehmer bin ich unabhängig und
kein Tag ist wie der andere – das liebe ich.
Oft fahre ich ins Restaurant Pizza Zürich, wo
ich mich um Administration, Personalwesen und Homepage kümmere. Manchmal
organisiere ich einen Anlass für eine Firma
– inklusive Lokalsuche, Catering und Musik. Und manchmal passe ich in meiner Garage in Dietikon Quads für Rollstuhlfahrer
an. Mich hat schon immer alles fasziniert,
was einen Motor besitzt; ganz besonders
Flugzeuge: Mein Onkel war Testpilot bei der
Schweizer Luftwaffe und nahm mich als
Bub im Helikopter mit. Damals erwachte
meine Liebe zur Fliegerei. Bis heute habe ich
über 3300 Flugstunden absolviert – die
meisten als Linienpilot im Rang eines ‹Se­
nior First Officers› bei der Swissair, später
auch bei Lufthansa und Balair; zuletzt auf
der Boeing 757 und 767.
32
Trotz Querschnittlähmung habe ich den
Traum vom Fliegen nie aufgegeben. Wenige
Monate nach der Rehabilitation suchte ich
nach einer Möglichkeit, ins Cockpit zurückzukehren. Obwohl ich ja aus der Branche
komme, erlebte ich einen Spiessrutenlauf
durch Behörden und Ämter, bis es endlich so
weit war: Mit einem Fluglehrer hob ich in
Grenchen erstmals wieder ab. Das Gefühl in
der einmotorigen Piper war überwältigend
und gab mir einen riesigen Kick. Ich fühlte
mich frei, und der Rollstuhl war plötzlich
Nebensache.
Mit der Fliegerei wieder Geld verdienen
Weil ich die Seitenruder nicht mehr mit den
Füssen betätigen kann, muss ich die Pedale
mit einer Spezialkonstruktion verlängern.
So lässt sich alles mit den Händen bedienen.
Dieser Umbau dauert nur 15 Minuten und
kann bei fast jeder einmotorigen Maschine
gemacht werden. Die Prüfung für die Privatpilotenlizenz bestand ich problemlos. Ich
musste allerdings noch einen Kontrollflug
mit dem Chefarzt des Bundesamts für Zivilluftfahrt absolvieren, bevor ich die Zulassung
erhielt. Mein nächstes Ziel ist es nun, die Berufspilotenlizenz zurück zu bekommen und
die Ausbildung zum Fluglehrer zu machen.
Das würde mir erlauben, künftig mit der
Fliegerei Geld zu verdienen; sei‘s als Lehrer
oder mit Transport- und Touristenflügen.
Die schönste Flugroute überhaupt führt über
den Aletschgletscher. Dort haben wir während der Swissair-Ausbildung oft trainiert.
Und mein Traum ist es, irgendwann auf
den Malediven eines dieser Wasserflug­
zeuge zu pilotieren.
Ab und zu lade ich Freunde zum Nachtessen
ein, meistens kocht allerdings meine Freundin – obwohl ich das auch könnte. Wenn ich
jemanden beeindrucken will, zaubere ich ein
argentinisches Rindsfilet mit Pasta an pikanter Tomatensauce auf den Tisch. Ein Mal pro
Monat treffe ich mich zudem mit den Kollegen vom ‹Gentleman’s Chess Club› zum
Schachspielen.
Da mein Rückenmark gequetscht, aber
nicht durchtrennt ist, habe ich noch gewisse
Empfindungen. Das äussert sich unter anderem mit einer Art Brennen in Füssen, Gesäss und Beinen. Und so ist es wohltuend,
wenn ich mich zwischendurch hinlegen
kann. Manchmal muss ich spät abends
nochmals ins Restaurant, um den Kassenabschluss zu machen. Dann wird’s spät. Und
der neue Tag bricht an, bevor ich ins
Bett komme.
»
Doros Michaelides
Der 42-Jährige sitzt seit einem Töffunfall im Jahr 2001 im Rollstuhl:
Der vierte Brustwirbel wurde dabei
zertrümmert und das Rückenmark
eingeklemmt. Heute lebt er am
Zürichsee und betreibt eine eigene
Firma für Eventmanagement sowie
den Umbau von Quads und Autos
an die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern. Als ehemaliger Swissair-Pilot
vermittelt er auch Informationen
rund um die Fliegerei für Querschnittgelähmte. www.doros.ch.
33
W
Knörle
Bild: SF/M
erly
Finale
ir lebten in den letzten Jahren in der Illusion, dass alles kalkulierbar ist.
Niemand sprach mehr von möglichen Katastrophen, sondern höchs-
tens von Risiken, die man zudem berechnen – und damit auch versichern kann.
Und die Eintretens-Wahrscheinlichkeit ist vorhersehbar, einschätzbar, also kei-
Kurt Aesc
hbacher
neswegs bedrohlich. Meinten wir. Wenn sie dann trotzdem geschehen, diese
heillosen Katastrophen (im Leben eines Einzelnen oder Ungezählter), dann
sind sie plötzlich kein abstraktes Risiko mehr, das mit einer unwahrschein­
lichen Wahrscheinlichkeit eintritt. Dann wird das abstrakte Risiko zur erschütternden Tatsache, die wir möglichst schnell wieder aus der Welt schaffen möchten. Zu ihrer Interpretation melden sich, wo immer eine Fernsehkamera, ein
Mikrofon oder ein Journalist auftaucht, Dutzende von Experten, die vorher keiner kannte, die im Voraus von nichts wussten, aber im Nachhinein alles erklären können: dass es so weit kommen musste, wie es kam. Und mit ihnen sind
subito all die Stimmen-maximierenden Politiker zur Stelle, die bisher von
nichts wussten, jetzt aber alles interpretieren können: was die Katastrophe (die
auch sie nicht vorhergesehen haben) für die Zukunft bedeutet,
und hauptsächlich, dass sie (und nur sie) das Rezept schon
lange in der Tasche hätten, damit ein vergleichbares Unheil
nie mehr geschehen kann. Vorausgesetzt, man wählt sie! Sie
versprechen den Weg zurück in die unheilvolle Sicherheit
der zukünftigen Normalität, hin zur neuen Illusion, dass der
Verlauf des Lebens kalkulierbar sei.
«Das Schlimmste
erwarten, das
Beste erhoffen»
Wir haben verlernt, uns in unserem Dasein auf das Schlimmste gefasst zu machen. Uns mit gesundem Menschenverstand im Alltag mit dem Unvorstellbaren auseinander zu setzen und trotzdem mit einer gewissen Gelassenheit (darf
man das Unwort «Demut» brauchen?) auf das Beste hinzuarbeiten. Wir haben
vergessen, dass sich die Zukunft nicht einfach aus der Vergangenheit extrapolieren lässt. Wir müssen wohl wieder lernen, dass die Zukunft ausser Kontrolle
ist. Wir müssen wieder lernen, dass Besorgnis keine Krankheit, sondern vielmehr ein Zeichen von Gesundheit ist. Und nur wer mit einer gewissen Sorge in
die Zukunft schaut, ist fähig, die Gegenwart zu geniessen und den Moment zu
leben. Oder sterben nur die anderen und für einen selbst ist der Tod höchstens
ein Risiko, das eventuell mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten
könnte?
34
Kurt Aeschbacher | Er arbeitet für das Schweizer
Fernsehen und moderiert dort hauptsächlich Unterhaltungssendungen. Der 62-Jährige begleitet zudem
Kongresse und führt durch Veranstaltungen. Ausserdem
ist er als UNICEF-Botschafter tätig.
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