Neuroenhancement: Der Traum vom optimierten Gehirn
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Neuroenhancement: Der Traum vom optimierten Gehirn
Heft 3/2010 Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung Neuroenhancement: Der Traum vom optimierten Gehirn Liebe Leserin, lieber Leser! 19.00 Uhr, die Augen brennen, doch eigentlich sieht es ganz gut aus auf meinem Schreibtisch. Nur das Editorial für das MDK-Forum ist noch nicht mal ansatzweise in Form gebracht. Entweder bleibt’s liegen oder … Power aus der Pillendose! Wir leben in einer »Leistungsgesellschaft«. Berufliche und soziale Auf-, aber auch Abstiege hängen stark vom individuellen Leistungsvermögen ab. Bereits Schüler und Studenten erleben einen starken Leistungsdruck, dem sie in manchem Fall mit »Hirndoping« abhelfen. Die Pharmaindustrie stellt eine ständig wachsende Palette von Muntermachern zur Verfügung – »Neuroenhancement« heißt das schick auf Neudeutsch. Vorsicht bei der Einnahme ist angebracht, zumal der Nutzen oft zweifelhaft scheint. Wollen wir die unkontrollierte Einnahme von stimulierenden Psychopharmaka als Normalität akzeptieren – gewissermaßen als Fortsetzung von Kaffee und Schokolade mit anderen Mitteln? Oder sollen wir solche Praktiken ablehnen, weil sie Abhängigkeiten erzeugen können und ihre langfristigen Folgen noch nicht erforscht sind? Entziehen wir uns mit der Akzeptanz dieser Praktiken nicht der Einsicht, dass zu viel Leistungsdruck die Menschen auf die Dauer krank machen kann? Endgültige Antworten mag es darauf nicht geben, dennoch wollen wir im Schwerpunkt dieser Ausgabe Anregungen für die Diskussion geben. Ihr Dr. Ulf Sengebusch Ak tu e lle s Gute Frage Je länger, je lieber? Interview mit Dr. Lili Grell zu Krebstherapien und ihrem Nutzen 2 Die politische Kolumne Prämie durch die Hintertür 32 tite lth e m a Neuroenhancement Der Traum vom optimierten Gehirn 5 Interview mit Prof. Dr. Klaus Lieb und Dr. Dr. Andreas Franke Urinprobe vor der Prüfung? Studie zu »Hirndoping« bei Schülern und Studierenden 7 Wachmacherpillen am OP-Tisch 9 Schlauer, wacher und bewusster? Heilsversprechen in postmodernen Zeiten Pro und Contra Doping fürs Gehirn 10 12 m d k | wiss e n u n d stan d pu n k te Verhandlungspoker geht weiter Wo stehen wir bei den Pflegenoten? 13 Begutachtung von Berufskrankheiten im MDK Hessen Arbeitsplatz übt oft späte Rache 15 We itbli ck Krebspatientinnen über Haarausfall und Perückenkauf: Nacktheit der besonderen Art 17 Interview mit Prof. Dr. Rupert Gerzer Mission: Possible Body Integrity Identity Disorder Verstümmelt endlich glücklich 18 20 19-Jährige gründet MS-Stiftung Wie eine Watsche ins Gesicht 22 G e su n d h e it u n d Pfleg e Interview mit Prof. Dr. Jürgen Windeler zu Neuregelungen auf dem Arzneimittelmarkt »Ein kluger Schritt« 23 Arztbewertung im Internet: Check your Doc! 25 Patientenrechte In Österreich geht das ganz praktisch 27 Interview mit dem Patientenbeauftragten Wolfgang Zöller Vor amerikanischen Verhältnissen schützen 28 Junge Pflegebedürftige im Heim: Tanztee ist nicht angesagt 29 1 aktuelles Der MDK Westfalen-Lippe unter neuer ärztlicher Leitung Am 1. August 2010 hat Dr. Martin Rieger (49) die Aufgabe des Ärztlichen Direktors im Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe übernommen. Der Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Kardiologie tritt die Nachfolge von Dr. Ulrich Heine an, der seit April 2010 die Geschäftsführung des M D K Westfalen-Lippe wahrnimmt. Seit mehr als 13 Jahren ist Rieger beim M D K Westfalen-Lippe sozialmedizinisch tätig. In dieser Zeit hat er als »Ärztlicher Qualitätsmanager« maßgeblich zum Aufbau eines Qualitätsmanagement systems beigetragen. Weitere Schwerpunkte waren die Einrichtung eines Wissens- und Fortbildungsmanagements sowie die Öffentlichkeitsarbeit. Darüber hinaus engagiert sich Rieger in Gremien wie der Lipida pheresekommission der Kassenärzt lichen Vereinigung Westfalen-Lippe oder der Arbeitsgruppe Kardiologie der Geschäftsstelle für Qualitätssicherung der Ärztekammer Westfalen. Dr. Martin Rieger Führungsspitze des MDS wieder komplett Ab dem 1. Oktober übernimmt Dr. Stefan Gronemeyer die Funktion des Leitenden Arztes und stellvertretenden Geschäftsführers beim Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen ( M D S ). Dies beschloss der M D S -Verwaltungsrat in seiner Sitzung am 31. August. Der 49-jährige Facharzt für Innere Medizin und Kardiologe tritt die Nachfolge von Prof. Jürgen Windeler an, der seit dem 1. September an der Spitze des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ( I Q W i G ) steht. Nach dem Studium an der Freien Universität Berlin war der gebürtige Düsseldorfer viele Jahre klinisch tätig – zuletzt als Leitender Oberarzt in einer großen Rehabilitationseinrichtung in Essen. Im Jahr 2005 begann er seine Tätigkeit beim M D S als Fachgebietsleiter Rehabilitation / Geriatrie und leitet seit 2007 in Personalunion den Bereich Sozialmedizin – Teilhabe / Pflege. Gronemeyer ist verheiratet und hat zwei Kinder. Dr. Stefan Gronemeyer m d k forum 3/10 Rösler beruft neuen GesundheitsSachverständigenrat Bundesgesundheitsminister Rösler hat am 13. Juli den neuen Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen ernannt. Dem Rat gehören an: Prof. Ferdinand Gerlach (Institut für Allgemeinmedizin, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main), Prof. Wolfgang Greiner (Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement, Universität Bielefeld), Prof. Marion Haubitz (Abteilung Nephrologie, Medizinische Hochschule Hannover), Prof. Doris Schaeffer (Lehrstuhl für Versorgungsforschung und Pflegewissenschaft, Universität Bielefeld), Prof. Matthias Schrappe (Institut für Patienten sicherheit, Rheinische Friedrich-WilhelmUniversität Bonn, stv. Ratsvorsitzender), Prof. Gregor Thüsing (Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit, Rheinische Friedrich- Wilhelm-Universität Bonn) Prof. Eberhard Wille (Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Universität Mannheim, Ratsvorsitzender). Nicht mehr zum Rat gehören: Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey, Prof. Dr. Gerd Glaeske sowie Prof. Dr. Rolf Rosenbrock. Ausland-Attest kein Beweis für Arbeitsunfähigkeit Ein im Ausland ausgestelltes ärztliches Attest reicht nicht ohne weiteres für den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit. Das Attest muss den Anforderungen an inländische Bescheinigungen entsprechen und vor allem nachvollziehbar darlegen, dass eine zur Arbeitsunfähigkeit ( AU ) führende Erkrankung vorliegt. Das urteilte das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz am 24. Juni 2010 (Az.: 11 Sa 178/10). Das Gericht zweifelte an einer AU -Bescheinigung aus der Türkei. Dort hatte ein Arzt dem Kläger 30 Tage Bett ruhe verordnet und zugleich bescheinigt, danach sei der Kläger wieder arbeitsfähig. Zwar komme einem ärzt lichen Attest ein »hoher Beweiswert« zu. Das gelte jedoch nicht, wenn es unschlüssig sei. Hier sei nicht erkennbar, wieso nach dreißig Tagen Bettruhe der Kläger wieder als arbeitsfähig angesehen werde, ohne dass eine erneute Kontrolluntersuchung erfolgt sei. Eine Revision ließ das Gericht nicht zu. Hohe Kosten durch Demenz und Depressionen Gut die Hälfte der Kosten von psychischen Erkrankungen und Verhaltens störungen fielen im Jahr 2008 auf nur zwei Diagnosen: Demenzerkrankungen und Depressionen. Die Kosten für diese Erkrankungen sind seit 2002 um 32% gestiegen und damit stärker als bei allen anderen Diagnosen. Das ist eines der neuen Ergebnisse der Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamtes. Insgesamt lagen die Krankheitskosten im Jahr 2008 bei gut 250 Milliarden Euro, für psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen bei knapp 29 Milliarden. Insgesamt sind die Krankheitskosten seit 2002 um 16% gestiegen, die Kosten durch psychische Erkrankungen von 2002 bis 2008 mit 22% besonders stark. Sie bilden die Krankheitsgruppe mit den dritthöchsten Kosten: In die Krankheitskostenrechnung fließen – neben medizinischen Heilbehandlungen – auch sämtliche Gesundheitsausgaben für Prävention, Rehabilitation und Pflege ein. 2 gute frage m d k forum 2/10 Interview mit Dr. Lili Grell zu Krebstherapien und ihrem Nutzen Je länger, je lieber? M ö g l i c h s t g r o SS e E f f e k t i v i t ä t und möglichst wenig Nebenwirkungen – das versprechen viele neue Medikamente gegen Krebs. Das Ziel ist nachvollziehbar und respektabel, doch gleichzeitig schnellen die Kosten in die Höhe. Dr. Lili Grell vom MDK Westfalen-Lippe skizziert für uns Möglichkeiten, aber auch Grenzen neuer Krebstherapien. MDK Forum Wenn man vom Nutzen einer Krebstherapie spricht, denken Nicht-Mediziner zuerst an Heilung. Worum geht es in den Nutzenbewertungen? Dr. med. Lili Grell Es wäre schön, alle Krebsarten könnten geheilt werden und alle zugelassenen Arzneimittel würden zu einer Heilung führen. Bei manchen bösartigen Erkrankungen gelingt dies auch, aber leider nicht bei allen. Aus sozialmedizinischer Sicht ist Nutzen das, was dem Patienten hilft, was für Patienten wichtig und relevant ist. Dieser Nutzen betrifft nicht die Wirkung auf zum Beispiel Stoffwechselparameter, deren Bedeutung für die Patienten unklar ist. MDK Forum Viele neue Therapien treiben die Kosten einer Krebs behandlung in neue Höhen. Stellt man das in Relation zum Nutzen? Grell Nein, den Preis eines Arzneimittels bestimmt in Deutschland – als eines der ganz wenigen Länder – der pharmazeutische Unternehmer selbst. Wie in der Wirtschaft üblich, wird der Preis genommen, den der »Kunde« zu zahlen bereit ist. Wirkstoffe wie Acetylsalicylsäure, zum Beispiel als Aspirin, sind ja nicht ohne Nutzen, im Gegenteil, der Wirkstoff ist immer noch Standard für viele Indikationen. Trotzdem sind sie günstig. MDK Forum Sie haben einmal gesagt, dass es in Krebs-Studien nicht mehr darum geht, wie viel länger ein Patient dank eines neuen Medikaments lebt, sondern nur noch darum, wie lange es dauert, bis der Tumor nach erfolgter Behandlung wieder zurückkehrt. Trotzdem werden sie verordnet. Geht da etwas schief? Grell Es wird niemand bestreiten, dass eine relevante Verlängerung des Überlebens oder Verbesserung der Lebensqualität für einen Tumorkranken von Nutzen ist, wenn eine Heilung nicht möglich ist. In den letzten Jahren beobachten wir aber, dass immer mehr Krebsmedika mente auf der Grundlage von Studien zugelassen werden, die gerade dies nicht nachweisen. So ist die Zielgröße dieser Studien häufig das Tumoransprechen. Darunter versteht man die Verringerung der mit bildgebenden Verfahren nachweisbaren Tumormasse, z. B. um die Hälfte oder das völlige Verschwinden. Gemessen wird auch die Zeit, bis die Tumormasse wieder zunimmt, als »progression-free survival« bezeichnet. Auch aus Sicht der Zulassungsbehörden ist das Tumoransprechen eine Ersatzzielgröße, ein sogenannter 3 gute frage m d k forum 3/10 Surrogatparameter, und kein zuverlässiger Parameter für den Nutzen der Therapie. Dadurch wissen weder behandelnde Ärzte noch Patienten, ob das Leben verlängert wird und ob die Lebensqualität beeinträchtigt wird – oder eben nicht. Auch für Situationen, in denen der Krebs geheilt werden kann, wie in frühen Stadien des Brustkrebses beispielsweise, erfolgt die Zulassung neuer Medikamente immer häufiger nicht erst, wenn die Heilung nach gewiesen wird, sondern schon auf der Grundlage von Ersatzgrößen, deren Vorhersagewert unklar ist. Der Verlass auf Surrogatparameter kann schlimmstenfalls dazu führen, dass Patienten eine erfolgreiche Therapie vorenthalten wird. Wenn man Surrogatparameter vermeiden will, ist es sinnvoll, die neue Therapie mit patientenrelevanten Parametern als Endpunkt in direkt vergleichenden Studien gegen die bestverfügbare Therapie zu prüfen. MDK Forum Noch ist es Zukunftsmusik – können Sie uns erklären, wie die individualisierte Krebstherapie wirken soll? Handelt es sich dabei überhaupt noch um Medikamente im herkömmlichen Sinne? Grell Viele Krebsbehandlungen sind sehr belastend für die Patienten, und nicht alle profitieren davon. Unter diesem Aspekt wäre es wünschenswert, verlässliche Vorhersageparameter zur Verfügung zu haben. Beispiel Brustkrebs: Bei der Erkennung von Risikofaktoren für das Fortschreiten der Krebs erkrankung sind große Fortschritte erzielt worden und es findet schon heute eine für jede Frau maßgeschneiderte Therapie statt. Die Prognose, aber auch zum Beispiel der Hormonrezeptorstatus und vieles mehr werden berücksichtigt. Oder nehmen wir den Dickdarmkrebs. Dabei wird ein genetischer Marker für eine bestimmte Anti körperbehandlung bestimmt. Bereits durchgeführte Studien haben gezeigt, dass ein bestimmter Genstatus mit besseren Verläufen assoziiert war. Allerdings ist dies keine Garantie für Heilung, auch hier gibt es Therapieversager. Doch vielleicht gelingt es, die Anzahl der unnötig behandelten Patienten zu reduzieren. Das wäre auch ein Erfolg. Bei der medikamentösen Krebsbehandlung sind neben Zytostatika und antihormonellen Substanzen in letzter Zeit Antikörper entwickelt worden und Stoffe, die in den Signal stoffwechsel der Tumorzellen eingreifen. Bei diesen neuen Arzneimitteln gibt es bei manchen Tumorarten bereits Nachweise einer Lebensverlängerung, aber bei anderen ist ein solcher Beweis kurzfristig nicht zu erwarten. Ob die Erwartungen erfüllt werden können, muss die Zukunft zeigen. MDK Forum Stichwort Neben wirkungen: Gibt es Standards der Bewertung dafür, welche Neben wirkungen eher zu tolerieren sind als andere? Grell Anders als bei der Bewertung der Wirksamkeit gibt es einen internationalen Bewertungsstandard für Nebenwirkungen bedauerlicherweise noch nicht. Wie vergleichende Einschätzungen von Nebenwir kungen in methodischer Hinsicht durchgeführt werden können, um zu belastbaren Empfehlungen und Regelungen zu kommen – zum Beispiel bei der Erstellung von Leitlinien, systematischen Bewertungsberichten und der Arznei mittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesauschusses – ist ein wich tiges Thema für die nahe Zukunft. Hiermit beschäftigt sich auch die Sozialmedizinische Expertengruppe 6 »Arzneimittelversorgung« der mdk-Gemeinschaft auf dem Diskussionsforum »Vergleichende Bewertung der Nebenwirkungen von Arzneimitteln«. MDK Forum Werden diese neuen Therapien den Abwägungsprozess Kosten gegen Nutzen nicht noch einmal verschärfen? Grell Nein, das hat nichts mit der Art der Therapie zu tun, sondern mit der Qualität der Nutzenbelege. Würden wir nur erfolgversprechende Behandlungen in der Krankenver sicherung bezahlen, wäre reichlich Geld vorhanden. MDK Forum Wie muss man im Einzelfall damit umgehen? Wie muss aber auch das Gesundheits system oder auch die Gesellschaft insgesamt damit umgehen? Grell Keiner von uns – auch ich nicht – kann vorhersagen, wie wir im Angesicht einer lebensbedrohenden Erkrankung mit Hoffnungslosigkeit umgehen. Können meine Angehörigen und ich die Situation annehmen oder muss es irgendwo Hoffnung geben, sei sie noch so unrealistisch? Letzteres löst einen Therapie aktionismus aus. Ich selber habe auch Krebspatienten behandelt, es war für mich als Ärztin sehr schwer, Patienten und Angehörige über die sogenannte infauste Prognose aufzuklären. Jede Behandlung ist da einfacher. Auch der zweifelsohne notwendige Ausbau der palliativen Versorgung wird allein nicht die Lösung sein. Wir alle müssen uns damit befassen, dass der Tod zum Leben gehört und Krankheit nicht immer ein reparaturfähiger Zustand ist. Wir brauchen in unserer Gesellschaft eine Enttabuisierung des Themas Tod. Nach meiner persönlichen Überzeugung muss auch der Spiritualität ausreichend Raum gegeben werden. Nur so können wir stark genug sein, diese Kranken liebevoll zu begleiten, und auf unnötige Therapien vielleicht verzichten. Die Fragen stellte Christiane Grote Dr. Lili Grell, Leiterin der Sozial medizinischen Expertengruppe »Arzneimittelversorgung« titelthem a: neuroenhancement m d k forum 3/10 Der Traum vom optimierten Gehirn T a b l e t t e n f ü r e i n e n w a c h e n G e i s t , D r a g e e s g e g e n M ü d i g k e i t und Pulver zur Verbesserung der Kon zentration – in zahlreichen Medien wird über eine Zunahme des Konsums von Medikamenten zur kognitiven Leistungssteigerung bei Studenten und Arbeitnehmern berichtet. Wie aber steht es in der gesellschaftlichen Praxis tatsächlich um Konsum und Nutzen von sogenannten »Neuroenhancern«? Und welche Folgen ergeben sich daraus? Manchmal gibt es Tage, da geht einfach alles schief. Nachmittags findet ein entscheidendes Meeting statt, bei dem Sie wichtige Arbeitsergebnisse präsentieren sollen. Sie aber bekommen vor Müdigkeit die Augen kaum auf: Das Kind hatte Bauchschmerzen und hat die halbe Nacht geweint. Nun stellen Sie auch noch fest, dass Zulieferungen Ihrer Kollegen lückenhaft sind und nachträglich bearbeitet werden müssen. Gleichzeitig stapeln sich auf Ihrem Schreibtisch bereits Kundenanfragen und neue Aufträge. Wie verlockend wäre es, wenn man solche Situationen mit einem effektiven und einfachen Mittel in den Griff bekäme: mit einer Pille etwa, welche die Müdigkeit vertreibt und die Konzentration erhöht. Einfach einwerfen, und schon gelingt die Arbeit wie von selbst. Kaffee oder Leistungspille? Doping am Arbeitsplatz – ist das ein Trend der Zukunft? Schon lange nutzen wir verschiedenste Stimulanzien, um uns für den täglichen Arbeitsalltag fit zu machen: Der Kick einer Tasse Kaffee, der beruhigende Griff nach einem Stückchen Schokolade sind in Büros weit verbreitet. Seit neuestem jedoch nutzen Menschen auch Medikamente, um ihre kognitiven Leistungen zu steigern. »Neuroenhancement« nennen Fachleute die Idee, mithilfe von Psycho- oder Neuropharmaka bei gesunden MenNeuroenhancement schen die Konzentration zu verfür die einen, Hirndoping bessern, das Kurz- oder Langzeitfür die anderen gedächtnis zu festigen oder einfach die Aufmerksamkeit zu erhöhen. Kritiker sprechen auch gern vom »Hirndoping«. Es fehlen klare Doping-Regeln wie im Sport Lange war eine solche pharmakologische Leistungssteigerung nur eine bloße Fiktion. Doch inzwischen mehren sich Berichte, dass Studenten und Arbeitnehmer tatsächlich auf Pillen zurückgreifen, um ihre geistige Fitness zu steigern. Und damit stellt sich auch die Frage, wie man gesellschaftlich mit solchem Verhalten umgehen soll. Denn anders als beim Doping im Sport gibt es bislang für die Verbesserung geistiger Fähigkeiten keine klaren Regeln. Trainiert jemand mit Kreuzworträtseln oder Kopfrechnen seine grauen Zellen oder nimmt ein Schüler Nachhilfe, um dem Unterricht besser folgen zu können, wird dies meist sehr hoch geachtet. Bei pharmakologischen Mitteln jedoch fühlen viele Menschen ein Unbehagen: Entsteht so nicht eine ZweiKlassen-Gesellschaft aus denjenigen, die Pillen einwerfen, und Leistungspillen können solchen, die dies nicht tun? Wird langfristig den Leistungsdurch eine Toleranz von Hirn druck noch erhöhen doping möglicherweise sozialer Druck aufgebaut, diese Mittel selbst zu nutzen, um konkurrenzfähig zu bleiben – oder sie den eigenen Kindern zu geben? Bevor man sich in philosophische Erörterungen stürzt, sollte jedoch geklärt werden, welche Mittel es derzeit überhaupt gibt, wer sie anwendet – und welche Wirkung sie bei Gesunden entfalten. Die Medikamente, die im Zentrum des Interesses stehen, werden normalerweise für die Behandlung von psychischen oder kognitiven Störungen eingesetzt. Es handelt sich um Antidementiva wie Donepezil oder Pirace tam, die bei Patienten mit Alzheimer oder Demenz den Hirnstoffwechsel anregen und einem Abbau geistiger Leistungen entgegenwirken. Hinzu kommen Psychophar maka wie Modafinil, die bei chronischer Müdigkeit, Narkolepsie oder Depressionen verschrieben werden und bei Gesunden die Aufmerksamkeit steigern sollen, sowie Amphetamine wie Methylphenidat, die gegen Unruhe und Nervosität eingenommen werden. Auch Antidepressiva wie Fluoxetin, in den usa unter dem Namen Prozac verkauft, gelten wegen ihrer antriebssteigernden Wirkung als beliebte Lifestyle-Drogen. 5 6 m d k forum 3/10 titelthem a: neuroenhancement Verschreibungspflicht lässt sich umgehen Zwar sind die Mittel verschreibungspflichtig, dank Internet-Apotheken im Ausland ist es jedoch leicht geworden, auch ohne Rezept an die Pillen zu gelangen. Legal ist das nicht. Und doch warnen erste Studien davor, dass der Konsum von Neuroenhancern zunimmt. Bereits 2005 publizierte der us-amerikanische Forscher Sean McCabe von der University of Michigan eine Studie, für die er mehr als 10 000 Studenten von 119 Colleges quer durch die usa befragt hatte. Vier Prozent gaben an, innerhalb des vergangenen Jahres illegal verschreibungspflichtige Sub stanzen wie Methylphenidat eingenommen zu haben. Auch bei Wissenschaftlern scheint der Griff zur Pille zumindest eine Option: Bei einer nicht repräsentativen Umfrage des Wissenschaftsmagazins Science aus dem Jahr 2008 gab von 1500 Teilnehmern jeder Fünfte der Großteils amerikanischen Forscher an, Methylphenidat oder Modafinil zu nehmen, um die eigene Geistesleistung zu steigern. Eine weitere Auswertung bislang publizierter Studien aus dem Jahr 2008 schlüsselte die Erkenntnisse der Wissenschaft weiter auf: Demnach zeitigen Antidepressiva bei Gesunden keine kurzfristigen Effekte, Studien zu langfristigen Wirkungen fehlen. Auch für MethylpenidatProdukte wie Ritalin wurden keine Belege für eine signifikante Wirksamkeit gefunden. Allein subjektiv fühlten sich die Befragten besser. Für Antidementiva gibt es noch gar keine aussagekräftigen Studien. Die Situation in Deutschland Ist das Hirndoping also auf dem Vormarsch? Für DeutschEinzig bei Modafinil gab es stichhaltige Belege, dass es land lässt sich dies bislang nicht bestätigen. Dies zumindest zeigt eine repräsentative Umfrage des dak-Gesund- Einbrüche in der Geistesleistung nach einmaligem Schlaf heitsreportes aus dem Jahr 2009. Von 3000 befragten Er- e ntzug kompensiert. Wurden die Probanden jedoch werbstätigen im Alter von 20 bis 50 Jahren gab zwar jeder mehrmals ihres Schlafs beraubt, verminderten sich die Fünfte an, jemanden zu kennen, Leistungen nach Einnahme des Medikaments. »Das der schon einmal solche Medika- wachsende öffentliche Interesse an Neuroenhancement«, Wirksamkeit von Neuro mente ohne medizinisch triftige schreiben die Forscher um Dimitris Repantis von der enhancern ist nicht belegt Gründe eingenommen habe. Selbst Berliner Charité nüchtern, »steht in bemerkenswertem zur Pille gegriffen hatten indes gerade einmal 1,6% der Gegensatz zu dem Mangel an Belegen für EnhancementStudienteilnehmer. Wirkungen verfügbarer psychopharmakologischer WirkDie Folgerung des dak-Gesundheitsreports ist eindeu- stoffe.« tig: »Diese Zahlen stützen nicht die Annahme, dass es sich Hinzu kommt: Wer schon einmal zu Ritalin und Co. beim ›Doping am Arbeitsplatz‹ bzw. ›Enhancement aktiv gegriffen hatte, klagte über Nebenwirkungen, die von Erwerbstätiger‹ um ein (bereits) weit verbreitetes Phäno- Herz- und Kreislaufbeschwerden über Kopfschmerzen bis men handelt. Vielmehr verstärkt sich der Eindruck, dass hin zur psychischen Abhängigkeit reichten. in der Öffentlichkeit ein verzerrtes Bild dargestellt wird.« Schaut man sich die Wirkung der Medikamente bei GeLeistung um jeden Preis? sunden genauer an, erhärtet sich diese Vermutung. Denn Dennoch scheint das Neuroenhancement auf die Mendie Wirksamkeit der Neuroenhancer ist nicht belegt. schen eine gewisse Faszination auszuüben. Für die BefürWenn überhaupt, ergab eine Studie von Reinoud de Jongh worter ist es womöglich der Traum vom geistigen Schlavon der Utrecht University aus dem Jahr 2006, nutzen die raffenland, in dem man berufliche Erfolge feiert, ohne dafür Pillen nur Menschen, die kognitive Defizite haben. Leute Opfer zu bringen. Für die Kritiker die pharmakologische mit überdurchschnittlicher Leistungsfähigkeit – Studen- Verfestigung gesellschaftlicher Strukturen, die Leistungsten oder Manager zum Beispiel – schneiden nach der fähigkeit vor die Bedürfnisse des Individuums stellen. Einnahme der Medikamente in der Regel schlechter ab Sicher ist: Die Optimierung des Gehirns wird so schnell als vorher. nicht aus dem Fokus verschwinden. Das glaubt auch Armin Grunwald, Philosoph und Technik-Ethiker am Karlsruher Institut für Technologie, der die Enhancement-Bestrebungen mit dem Wunsch nach Schönheits-ops vergleicht. »Für Enhancement-Technologien wird es einen Markt geben«, sagt er, »wir werden damit umzugehen haben.« Tanja Krämer, Mag. phil, Wissenschafts journalistin in Bremen. info@tanjakraemer.de 7 titelthem a: neuroenhancement m d k forum 3/10 Interview mit Prof. Dr. Klaus Lieb und Dr. Dr. Andreas Franke Urinprobe vor der Prüfung? Studie zu »Hirndoping« bei Schülern und Studierenden E r s t m a l s w u r d e i n D e u t s c h l a n d im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung die Bereitschaft von S chülern und Studierenden erhoben, Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung, sogenannte pharmakologische Neuroenhancer, einzunehmen. Prof. Dr. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni versitätsmedizin Mainz, und Dr. Dr. Andreas G. Franke befragten rund 1500 Schüler und Studierende aus Hessen und Rheinland-Pfalz zu Wissen, Einstellungen und Konsumverhalten gegenüber potenziell leistungssteigernden Substanzen. MDK Forum Herr Professor Dr. Lieb, zu welchen Ergebnissen hat Ihre Studie bzgl. Häufigkeit und Bereitschaft geführt? Prof. Dr. Klaus Lieb Von den etwa 1000 befragten Schülern und 500 Studenten aus verschiedenen Bundesländern haben etwa 4% angegeben, bereits mindestens einmal in ihrem Leben Stimulantien (Amphetamine oder Methylphenidat) zur geistigen Leistungssteigerung eingenommen zu haben, und nicht etwa zum »Highwerden« oder aus Abenteuerlust. Dr. Dr. Andreas Franke Insgesamt konnten wir eine sehr hohe Bereitschaft feststellen, solche Substanzen einzunehmen, wenn diese sicher und frei verkäuflich wären, keine Nebenwirkungen hätten und nicht abhängig machten. Dann wären fast 80% der Befragten bereit, einzunehmen. Nur 11% würden grundsätzlich keine pharmakologischen Leistungssteigerer einnehmen. Gegenüber den 4%, die bereits tatsächlich Stimulantien eingenommen hatten, ist das eine enorm hohe Bereitschaft. Der Aspekt der Illegalität der Beschaffung von Drogen wie Amphetaminen bzw. verschreibungspflichtigen Substanzen ohne Rezept hält offensichtlich viele davon ab, diese Substanzen einzunehmen. MDK Forum Welche Ursachen / Motive führen zur Einnahme von Neuroenhancern? Lieb In unserer Studie hat sich gezeigt, dass die Konsumenten einen starken Leistungsdruck erleben, ob in der Schule, beim Sport oder im Privatleben. Dieser Druck führt offenbar dazu, dass sie Konzentration und Wachheit steigern wollen, um die eigene Lernleistung zu verbessern. Es sind vor allem Schüler und Studenten mit schlechteren Leistungen, die zu solchen Substanzen greifen, um vor der Prüfung möglichst viel in kurzer Zeit lernen zu können. Diese Gruppe zeigt auch einen häufigeren Konsum anderer legaler und illegaler Drogen wie zum Beispiel Alkohol und Cannabis. Sie sehen sich eher als benachteiligt an und empfinden ihren Konsum nicht als unfair den jenigen gegenüber, die kein Hirn doping betreiben. Der durchschnittliche oder gute Schüler oder Student greift seltener zu leistungssteigernden Substanzen. MDK Forum Gibt es eine Altersskala? Wann fängt die Einnahme im Durchschnitt an? Franke Im Durchschnitt findet die erste Einnahme von Stimulantien im Alter von 19 bis 20 Jahren statt. Das Alter der ersten Einnahme von Koffeintabletten liegt mit 14 bis 15 Jahren deutlich niedriger. MDK Forum Welche Nebenwirkungen können die Substanzen haben? Lieb Amphetamine und Methylphenidat haben selbstverständlich auch Nebenwirkungen. Sie ver ursachen sehr häufig Schlafstörungen und Nervosität, können zu Ab hängigkeiten führen und Psychosen sowie depressive oder manische Syndrome auslösen. Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn bei den Konsumenten eine Veranlagung für solche Erkrankungen besteht. Insgesamt sollte man diese Risiken nicht in Kauf nehmen. MDK Forum Laut Focus erhalten in den usa bereits 16% der Schulkinder solche »neurocognitive enhancer«. Geben auch bei uns Eltern ihren Prof. Dr. Klaus Lieb 8 m d k forum 3/10 titelthem a: neuroenhancement Kindern bereits konzentrations fördernde und leistungssteigernde Substanzen, und welche Gefahren können damit verbunden sein? Franke In den usa sind neben Methylphenidat auch Amphetaminsalze zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (adhs) zugelassen, in Deutschland nur Methylphenidat. Wenn man davon ausgeht, dass ca. 5–6% der Kinder und Jugendlichen ein adhs haben, kann die therapeutische Verwendung dieser Substanzen die hohe Rate von 16% Konsumenten von »neurocognitive enhancern« nicht erklären. Es gibt Berichte, dass Kinder mit adhs oder deren Eltern auch gesunden Kindern diese Substanzen (weiter)geben. Mit unserer Studie können wir jedoch keine Aussage zur Situation in Deutschland machen, da wir das nicht untersucht haben. Die Anwendung bei gesunden Kindern ist besonders kritisch zu sehen, weil diese Substanzen in die Gehirnentwicklung eingreifen können und Langzeitstudien zur Sicherheit komplett fehlen. MDK Forum Gibt es in Deutschland eine Studie, die den Konsum unter Minderjährigen bereits untersucht hat? Franke Nein, eine Studie, die den Missbrauch von Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung bei Minderjährigen in Deutschland untersucht hat, ist uns nicht bekannt; aber sie wäre wünschenswert, wenn auch methodisch aufwendig. Wir haben unsere ausschließlich volljährigen Probanden allerdings auch gefragt, ob sie überhaupt schon einmal in ihrem Leben derartige Substanzen eingenommen haben. Auf diese Weise haben wir die Zeit vor der Volljährigkeit auch mit einbezogen. MDK Forum Ist in Deutschland grundsätzlich eine steigende Tendenz der Einnahme zu erkennen? Wenn ja, auf welche Datenquelle greifen Sie zurück? Lieb Die Einnahme von Substanzen ist kein neues Phänomen. Früher wurde beispielsweise Captagon zum pharmakologischen Neuroenhancement eingenommen, und Stimulantien wie die Amphetamine sind schon seit über siebzig Jahren bekannt, Methylphenidat seit circa sechzig Jahren. Ob die Einnahme in Deutsch land zunimmt, können wir nicht sagen, da wir nur eine Querschnitts untersuchung durchgeführt haben. Auch andere wissenschaftliche Studien liegen unseres Wissens nicht vor. Die Konsumraten von Stimulantien bei Schülern und Studierenden in den usa liegen allerdings höher (5–9%). Es ist daher nicht auszuschließen, dass auch die Prävalenzrate in Deutschland in Zukunft ansteigt, da häufig Trends aus den usa in Deutschland mit einer gewissen Verzögerung in gleichem Ausmaß aufgegriffen werden. MDK Forum Welche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft sehen Sie durch die Einnahme von leistungssteigernden Substanzen? Lieb Welche Auswirkungen ein weit verbreiteter Konsum von pharmakologischen Neuroenhancern auf unsere Gesellschaft hätte, ist schwer zu beantworten. Ich denke, dass sich unsere Gesellschaft erst mal klar darüber werden muss, wie sie mit diesem Phänomen umgehen will. Dazu gehört Antworten zu finden auf Fragen wie: Ist es fair, solche Substanzen einzunehmen? Ist es Betrug, sie vor einer Prüfung einzunehmen? Sollte es Kontrollen geben? Wie sollen wir mit dem Druck auf diejenigen umgehen, die kein Hirndoping betreiben wollen, indirekt aber dazu gezwungen werden, weil viele andere es tun? Viele dieser Fragen sind sicherlich Zukunftsfragen, da bisher keine der aktuellen Substanzen dazu geeignet ist, deutliche kognitive Leistungssteigerungen hervorzurufen. Sie können eigentlich nur dafür sorgen, dass sich Schüler und Studierende länger wach halten können, intel ligenter oder klüger wird man dadurch sicher nicht. MDK Forum Welche Präventionsmaßnahmen kann man einführen und sollte man dies überhaupt tun? Lieb Information und Aufklärung sind sehr wichtig. Man sollte die Substanzen weder als »Smarties« verharmlosen noch verteufeln, sondern kritisch informieren. Dies gilt nicht nur für die Informationen über mögliche Nebenwirkungen, sondern auch für die begrenzte Wirkung der Substanzen. Die derzeit geltenden strengen gesetzlichen Regularien sind aufgrund der verbundenen Risiken notwendig. Die Fragen stellte Burga Torges Buchtipp K l aus Li e b : Hirndoping: Warum wir nicht alles schlucken sollten Umfassendes deutschsprachiges Sachbuch zum Thema pharma kologisches Neuroenhancement bzw. Hirndoping. Es gibt einen fundierten wissenschaftlichen Über- blick über die aktuelle medizinische, sozialwissenschaftliche und ethische Diskussion zum Thema. 9 titelthem a: neuroenhancement m d k forum 3/10 Wachmacherpillen am OP-Tisch E t w a z w e i M i l l i o n e n D e u t s c h e haben schon einmal am Arbeitsplatz Psychopharmaka eingenommen. Dies geht aus dem Gesundheitsreport 2009 der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) hervor. Auch Chirurgen sind bei wachsendem Leistungsdruck versucht, Medikamente zu schlucken, die sie möglichst lange konzentriert arbeiten lassen. Studienergebnisse zeigen, dass ein Drittel der Chirurgen den Gebrauch von Neuroenhancern nachvollziehen kann. Welche Rolle die Wachmacherpillen für Operateure tat- auf Lehrer – leiden Chirurgen zunehmend unter Burn-out. sächlich spielen, ist bisher unklar. Die Deutsche Gesell- Schlechtes Arbeitsklima sowie eine hierarchische Organischaft für Chirurgie (dgch) untersuchte nun erstmals sationsstruktur sind gemäß den Befragungsergebnissen die Lebensqualität von Chirurgen in Deutschland. Darin weitere Faktoren, die sich belasbefragte sie die Teilnehmer auch nach der Bereitschaft, tend auswirken. Zu ähnlichen Chirurgen leiden nach ihre berufliche Leistung medikamentös zu steigern. Einschätzungen kommt eine im Lehrern am häufigsten unter Dr. Thomas Bohrer, Oberarzt an der Universitätsklinik April im Deutschen Ärzteblatt Burn-Out Würzburg, stellte die Ergebnisse im April auf dem veröffentlichte Studie von Medi127. Chirurgenkongress in Berlin vor. Knapp 3000 Chirur- zinsoziologen der Universitätskliniken Hamburg und gen nahmen an der bisher größten Studie dieser Art teil. Düsseldorf. Das Team um Prof. Olaf von dem Knesebeck und Prof. Johannes Siegrist hat 1300 chirurgisch tätige Klinikärzte befragt. Das Ergebnis: Etwa ein Viertel ist Distanz geht durch Smart Pills verloren Aufwendige Operationen und lange Klinikdienste verlan- von einer Gratifikationskrise, das heißt von einem Missgen von Chirurgen Arbeitszeiten, die Körper und Geist verhältnis von Verausgabung und Belohnung, betroffen. erheblich belasten. Da liegt die Versuchung nahe, nach Etwa ein Fünftel der chirurgisch tätigen Ärzte hat einige Substanzen zu greifen, die ausgleichen und dämpfen, vor Male im Monat daran gedacht, den Beruf aufzugeben. allem aber aufmerksam, konzentriert und wach halten: Knapp 45% sehen die Qualität der Patientenversorgung Modafinil oder auch Methylphenidat – bekannter als Rita- manchmal oder oft durch Überarbeitung gefährdet. lin –, entwickelt für die Therapie von krankhaftem Schlafdrang oder Aufmerksamkeitsdefiziten. Dass diese Mittel auch für Chirurgen attraktiv sein können, zeigen Bohrers Studienergebnisse: »Den zunehmenden Gebrauch leistungssteigernder Medikamente, sogenannter Neuroenhan cer, halten 33% der Befragten für nachvollziehbar oder absolut nachvollziehbar« erklärt Dr. Bohrer. »Bei einem chirurgischen Eingriff sind in hohem Maße klare Urteilsfähigkeit und hohe Entschlusskraft gefragt«, sagt Prof. Hartwig Bauer, Generalsekretär der dgch. Diese Fragen der Zukunft könnten durch das sogenannte Neuroenhancement be- Ist die Einnahme von leistungssteigernden Mitteln nicht einträchtigt sein. Auch die nötige Distanz zum Operations zwangsläufig die Folge, mit steigenden Belastungen fergeschehen könne durch die »Smart Pills« verloren gehen. tigzuwerden? Haben wir es mit einer Entwicklung zu tun, Kritik übt Bauer auch an einem im vergangenen Jahr ver- die sich noch aufhalten lässt? Wenn der Druck und die öffentlichten Memorandum von sieben Experten unter- Arbeitsbelastung steigen, wäre es naiv, einfach über die schiedlicher Fachrichtungen. Darin finden diese »keine Wettbewerbsgesellschaft zu schimpfen und alle Arbeitüberzeugenden Einwände gegen eine pharmazeutische nehmer zu Abstinenz zu verpflichten. Die Menschen beVerbesserung des Gehirns und der Psyche«. Ein Risiko se- wältigen ihre Anforderungen seit je mit psychoaktiven hen die Autoren lediglich in einer körperlichen Abhängig- Substanzen, sei es nun mit Kaffee, Kokain, Alkohol oder keit. »Ein liberalisierter Umgang, der mangels qualifizier- Nikotin. Es ist utopisch anzunehmen, aufputschende Psyter Studien schlicht auf Unsicherheit und Unwissenheit chomittel ohne Risiken haben zu können. Gesellschaft und basiert, wäre jedoch das falsche Signal«, meint Bauer. Forschung werden nicht umhinkommen, das bestehende Arsenal der Drogen und Medikamente zu bewerten und über einen verantwortlichen Gebrauch zu diskutieren. Qualität der Patientenversorgung gefährdet Wenn auch nicht der Gebrauch von Neuroenhancern AusMartin Dutschek, löser der Studie von Bohrer war, so geht sie doch auf mögLeiter Unternehmens liche Ursachen ein. Mehr als andere Berufsgruppen – bis kommunikation beim MDK Niedersachsen. martin.dutschek@mdkn.de 10 titelthem a: neuroenhancement m d k forum 3/10 Schlauer, wacher und bewusster? Heilsversprechen in postmodernen Zeiten G e g e n a l l e p e r s ö n l i c h e n Ä r g e r l i c h k e i t e n g i b t e s e i n e P i l l e , wir schlucken uns Lebensqualität und Attraktivität, Seelenheil und Lust in Pillenform herbei! Vor allem aus den USA kam in den letzten Jahren eine vermeintliche Wundermittelentdeckung nach der anderen. Melatonin, DHEA, Prozac oder Viagra sind nur einige Beispiele. Die zum Neuroenhancement eingesetzten Donepezil und Piracetam sind die vorläufig letzten in dieser Kette. Melatonin sollte neben einem erfüllten Sexualleben auch helfen bei Alzheimer, Aids, Autismus oder Krebs und dem vermeintlich größten aller Übel, dem Alter. Der Nutzen: zweifelhaft. dhea (Dehydroepiandrosteron) wird auch als »Anti-Altersstoff« angeboten. Befürworter meinen, dass sich damit Alterserscheinungen wie Muskelabbau oder Krankheiten wie Osteoporose, Impotenz, Alzheimer oder Krebs bekämpfen ließen. Skepsis ist auch hier angebracht. Ende der 80er Jahre kam Prozac in den usa auf den Markt, ein Mittel gegen Depressionen (ein sog. Serotonin-Reuptake-Hemmer, bei uns als Fluctin im Handel). Es wurde aber auch bald von Gesunden geschluckt: Es aktiviert, macht gute Laune. Für Peter Kramer, Psychi- ater und bekannter Befürworter von Prozac, glichen die Möglichkeiten des neuen Medikaments der »kosmetischen Psychopharmakologie«, die Psychotherapie werde überflüssig. Und dann die nächste Mega-Droge: War Prozac noch als Mittel gegen psychische »Hänger« be- Fünf Gruppen von Arzneien für das Gehirndoping 1. Methylphenidat wird außer zur A D H S -Therapie auch bei Narkolepsie und zur Steigerung der Wirksamkeit von Anti depressiva bei therapieresistenten Depressionen verwendet. Schüler und Studenten, aber auch Wissenschaftler und Manager konsumieren Methylphenidat zur Steigerung ihrer Konzentration. Hochdosiert wirkt das Präparat sogar euphorisierend. 2. Modafinil, indiziert etwa bei Narkolepsie und Schicht arbeiter-Syndrom, ist auch bei Geschäftsreisenden mit Jetlag beliebt. Studenten und Manager machen sich den Wirkstoff zunutze, um auf den Punkt fit zu sein – etwa bei Prüfungen oder Präsentationen. 3. Betablocker wie Metoprolol helfen Patienten mit Bluthochdruck oder Herzinsuffizienz und werden auch zur Migräneprophylaxe verwendet. Gesunde Menschen nehmen das Präparat gegen ihre Prüfungsangst ein. 4. Spezifische Antidementiva werden offenbar nicht nur zur Demenztherapie verwendet. Seit bekannt ist, dass einige der Mittel in klinischen Tests an Piloten deren kognitive Leistung steigerten, erfreuen sich diese Präparate auch unter gesunden Zeitgenossen zunehmender Beliebtheit. 5. Amphetamine und amphetaminähnliche illegale Drogen wie Ecstasy und Speed werden auch gerne zur Steigerung der Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz eingenommen. Tanja Wenzel, M D K Bayern kannt geworden, kündeten die Gazetten über Monate von der Wirkung des Mittels Viagra gegen körperliche »Hänger« beim Mann. Viagra wirkt, keine Frage. Die unkontrollierte Verfügbarkeit über das Internet und der Konsum von Männern mit Herzerkrankungen können aber zu erheblichen Problemen führen: »Exitus beim Koitus«. Pharmakonzerne bestimmen Diskussionen um Lifestyle-Mittel mit Das »Viagra-Phänomen« hat auch Einzug gehalten in die Bereiche von Cognitive Enhancement, Gehirn- oder Mind-Doping. Arzneimittel, zugelassen zur Anwendung bei Krankheiten oder Symptomen, die mit einer Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten verbunden sind, werden auch von gesunden Menschen geschluckt: Mittel zur Be2007: etwa 29 Milliarden handlung der Alzheimer-KrankDollar Marktvolumen heit wie Donepezil oder Pirace weltweit für Lifestyle-Mittel tam gehören ebenso dazu wie Psychostimulanzien, die bei adhs oder Narkolepsie angewendet werden. Mittel wie Methlyphenidat oder Modafinil werden in diesem Zusammenhang immer wieder genannt. In einer sozialen Umwelt, in der Leistungsfähigkeit und geistige Fitness als besondere Werte gelten und 11 titelthem a: neuroenhancement m d k forum 3/10 Menschen danach bewertet werden, ob sie mit »wachem« Bewusstsein und »schnellem« Verstand ihre Arbeits- oder Lebensaufgaben bewältigen, wird der Wettbewerb um möglichst gute Ergebnisse in Ausbildungen und Prüfungen zur Basis für die individuelle Zukunftssicherung erhoben. Es kann daher nicht erstaunen, dass sowohl Einzelpersonen als auch internationale Pharmakonzerne nicht nur ein hohes Interesse an dieser Entwicklung haben, sondern die Diskussionen um Lifestyle-Mittel auch mitbestimmen. Im Jahre 2007 wurde das Marktvolumen für solche Produkte immerhin auf rund 29 Milliarden Dollar weltweit geschätzt, etwa so viel, wie hierzulande im gleichen Jahr für die gkv-Arzneimittelversorgung insgesamt ausgegeben wurde. Und die Firmen haben durchaus renommierte Begleiter für ihre Forschungsanstrengungen und ihre Umsatzhoffnungen: So hatte der bekannte Neurobiologe und Nobelpreisträger Eric Kandel, der mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten einen Beitrag zum molekularen Verständnis der kognitiven Fähigkeiten unseres Gehirns geleistet hat, schon im Jahre 2003 gemutmaßt, dass es innerhalb der nächsten fünf Jahre die erste Pille gegen das Vergessen geben würde. Damit soll das Poten zial unseres Gehirns gezielter und vollständiger genutzt werden können. Nun sind diese fünf Jahre vorbei, ein wirklich passendes Produkt, das der Ankündigung von Eric Kandel gerecht würde, hat die Pharmaindustrie allerdings bis heute noch nicht anbieten können. Hirndoping für alle? Doch täuschen wir uns nicht: Das Interesse von Pharmafirmen wird weitergehen und umso mehr verstärkt werden, je mehr das Bedürfnis und der Bedarf nach solchen Mitteln wächst: Dem Disease-Mongering wird ein Need-Mongering folgen, die Kreierung eines angeblichen Bedarfs, der sich dann auch noch auf wohlformulierte Gedanken aus einem im November 2009 publizierten Memorandum von sieben Experten aus den Bereichen Philosophie, Jura, Psychiatrie, Medizin zur Nutzung von pharmazeutischem Neuro-Enhancement (»Gehirndoping«) beziehen kann (siehe Homepage der Zeitschrift Gehirn und Geist). Dort heißt es unter anderem: »Während nämlich die ethische Fachdebatte zum Thema Neuroenhancement inzwischen ein hohes argumentatives Niveau erreicht hat, wird das Phänomen in populären Medien überwieFortsetzung des geistigen gend sorgenvoll kommentiert, Optimierungsstrebens mit wobei die Triftigkeit der geäuanderen Mitteln? ßerten Bedenken nur selten hinterfragt wird. Demgegenüber wollten die Autoren des Memorandums der öffentlichen Debatte einen nachhal tigen Impuls geben, indem sie neben den Risiken auch die Chancen darstellen, die aus der medikamentösen Steigerung des Wohlbefindens und der geistigen Leistungsfähigkeit erwachsen.« Es gebe keine »überzeugenden grundsätzlichen Einwände gegen eine pharmazeutische Verbesserung des Gehirns oder der Psyche«, denn das sei nur die Fortsetzung eines zum Menschen gehörenden geistigen Optimierungsstrebens mit anderen Mit- teln. In dem Memorandum kommt weniger die Sorge über die Seelen der Menschen zum Tragen als Probleme der »Verteilungsgerechtigkeit«. Die Parole lautet: Hirn doping für alle, es sei durchaus ethisch vertretbar, dem Schwinden der kognitiven Fähig keiten durch bestimmte ArzneiGesundheitliche Risiken mittel Einhalt zu gebieten wie müssen Industrie-unab man dies auch durch eine Lesehängig evaluiert werden brille im Alter zum Ausgleich der Altersweitsichtigkeit tue, so jedenfalls eine der Mitautorinnen des Memorandums in einem Interview. Die profitorientierten Pharmaunternehmen und Biotech-Startups werden auch diesen Markt für sich erobern und das Bedürfnis bzw. den individuellen Bedarf nach der Vermeidung von kognitiven »Hängern« ebenso mit dem Angebot von Arzneimitteln beantworten wie sie dies bei körperlichen »Hängern« mit Viagra und Co. getan haben. Die Machbarkeit wird das Angebot bestimmen. Darum dürfen die gesellschaftlichen Chancen und Risiken nicht auch noch von denen bewertet werden, die ein wie auch immer geartetes ökonomisches Interesse an der Ent wicklung des »Viagra für unser Gehirn« haben. Die ge sellschaftliche Verträglichkeit und die gesundheitlichen Risiken solcher absehbaren Strategien müssen vielmehr Industrie-unabhängig evaluiert werden, bevor das »Gehirndoping für Gesunde« auf unserem Pharmamarkt als neue Begehrlichkeit angeboten wird. Das »Soma« aus der »Schönen neuen Welt« von Aldous Huxley lässt grüßen! Prof. Dr. Gerd Glaeske Zentrum für Sozial- politik (ZeS), Universität Bremen gglaeske@zes. uni-bremen.de 12 titelthem a: neuroenhancement m d k forum 3/10 Doping fürs Gehirn W ä h r e n d d i e e i n e n v o r d e n i n d i v i d u e l l e n u n d g e s e l l s c h a f t l i c h e n L a n g z e i t f o l g e n der Einnahme von sogenannten »Smart Pills« warnen, halten die anderen sie für eine normale Entwicklung in unserer Leistungs gesellschaft. Prof. Dr. Reinhard Merkel von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg plädiert daher für die Selbstbestimmung des Individuums. Grenzen beim Neuroenhancement werden hingegen von Prof. Dr. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, dringend angemahnt. Präparate, die die mentalen Fähigkeiten verbesserten und deren Nebenwirkungen vernachlässigbar gering wären, wären genauso positiv zu beurteilen wie zum Beispiel die vernünftige Ernährung, die ja eindeutig einen Neuro-Enhancement-Effekt hat. Das Einnehmen von Mitteln zu Zwecken, die man traditionellerweise auf anderen Wegen und mit viel mehr Aufwand, wie zum Beispiel guter Schulbildung, erreicht, mit einer prinzipiell negativen Aura zu umgeben, ist unangemessen. Man vergleiche das mit der Einnahme von Koffein: Wir versuchen schon immer, mit künstlichen Mitteln die Bedingungen unserer mentalen Fähigkeiten zu verbessern. Von Dingen, die erhebliche Nebenwirkungen haben und deren positive Wirkungen nicht beglaubigt sind, ist selbstverständlich abzuraten; aber verboten oder auch nur verbietbar sind sie deshalb bei uns noch lange nicht: zum Beispiel Zigaretten oder Alkohol. Man sollte nicht vergessen, dass es im Streit um Enhancements stets auch um die Grundrechte der autonomen Persönlichkeit geht. Das soll kein Plädoyer für Neuroenhancement-Präparate (nep) sein, aber sehr wohl eines für die Freiheit und Autonomie der Rechtsperson zur Selbstbestimmung ihrer eigenen Belange. Dass der Leistungsdruck, der in unserer Gesellschaft sehr stark ist, durch die Verbreitung dieser Mittel größer wird, ist gewiss nicht auszuschließen. Es darf aber dabei nicht vergessen werden, wo dieser Druck herkommt: aus der ökonomischen Organisation unserer Lebenswelt. Es wäre eine absolut naive Vorstellung, zu behaupten, ein Verbot von neps würde den kompetitiven Druck auf die Individuen im sozialen Alltag mildern. Die Rückfrage liegt nahe, ob dann nicht auch alle traditionellen Strategien einer allgemeinen Verbesserung mentaler Fähigkeiten, beispielsweise die Optimierung der Schulbildung unserer Kinder, den sozialen Leistungsdruck ganz genauso verstärken müssten. Wer wollte deshalb ernsthaft eine Verschlechterung der Schulbildung fordern? pro Prof. Dr. jur. Reinhard Merkel lehrt Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Er ist Mitautor des Memorandums »Das optimierte Gehirn« Selbstverständlich ist nichts dagegen einzuwenden, dass wir als Mitglieder einer modernen Leistungsgesellschaft versuchen, mit unseren Leistungen immer weiter über uns hinauszuwachsen. Doch zur Disposition steht: Mit welchen Mitteln und zu welchen Risiken für den Konsumenten und die Gesellschaft? Wer Koffein, Methylphenidat und Amphetamine als »Smart Pills« in einem Atemzug nennt und so tut, als seien sie nicht unterschiedlich, informiert fahrlässig falsch. Die Einnahme von Methylphenidat unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz und ist nur Patienten mit bestimmten Erkrankungen wie einem adhs erlaubt, Amphetamine sind illegale Drogen – und das zu Recht, denn beide Sub stanzen haben erhebliche Nebenwirkungen, können psychische Erkrankungen auslösen oder zu Abhängigkeiten führen. Wer jetzt eine Liberalisierung der Einstellung zum pharmakologischen Neuroenhancement fordert, unterschlägt, dass wir auf die meisten Fragen, die sich daraus für uns und unsere Gesellschaft ergeben könnten, keine Antworten haben. Eine Liberalisierung würde aber solche Antworten voraussetzen, wenn wir verantwortungsvoll und mündig mit solchen Substanzen umgehen können sollen. Solche Fragen sind etwa: Wie wirken diese Substanzen bei Gesunden bei Langzeiteinnahme? Inwiefern muss dem Gehirn als Sitz unserer Persönlichkeit ein besonderer Schutz vor Einflussnahme eingeräumt werden? Gefährdet pharmakologisches Neuroenhancement, wenn es denn verbreitet wäre, die Fairness im gesellschaftlichen Wettbewerb oder die individuelle Freiheit, sich dafür oder dagegen zu entscheiden? Wie könnte sich unser gesellschaftliches Miteinander dadurch verändern? Alles der Regulation eines Marktes zu überlassen, wäre verantwortungslos. Wir müssen nicht alles tun, was wir können. Auch in anderen Bereichen wie der Gentechnik setzen wir Grenzen. Beim pharmakologischen Neuroenhancement tun wir gut daran, wirksame Grenzen wie das Arzneimittelgesetz beizubehalten und über weitere Grenzziehungen nachzudenken. contra Prof. Dr. med. Klaus Lieb Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz mdk | wissen und standpunk te m d k forum 3/10 Wo stehen wir bei den Pflegenoten? Verhandlungspoker geht weiter B i s J a h r e s e n d e sollen die Transparenzvereinbarungen überarbeitet sein. Darauf hatten sich GKV-Spitzenverband und die Verbände der Leistungserbringer Mitte Juni geeinigt. Derzeit sondieren die Vertragsparteien, ob die Trans parenzvereinbarungen kurzfristig überarbeitet werden können. Ein Ende der Verhandlungen scheint nicht in Sicht. Die Bilanz nach gut einem Jahr Pflegenoten kann sich sehen lassen: Ca. 10 800 Pflegeeinrichtungen hat die mdk geprüft, seit am 1. Juli 2009 die neuen QualitätsprüfungsRichtlinien in Kraft getreten sind. Rund 8700 Trans parenzberichte waren Mitte August nach Auskunft der Datenclearingstelle beim vdek veröffentlicht, davon 5100 für Pflegeheime und 3600 für ambulante Pflegedienste. Mit Abschluss der Pflege-Transparenzvereinbarungen (ptv) für Pflegeheime im Dezember 2008 bzw. im Januar 2009 für ambulante Pflegedienste wurde Neuland betreten; Vorbilder gab es weder national noch international. Deshalb hatten sich die Verhandlungspartner darauf verständigt, die Kriterien und die Notensystematik evaluieren zu lassen. Am 22. Februar fand in Berlin ein Workshop zu den Transparenzkriterien und dem Bewertungssystem von Pflegeeinrichtungen statt. Auf Einladung des gkvSpitzenverbandes stellten Experten der mdk-Gemeinschaft Vertretern von Kassen und Leistungserbringern sowie der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit die Ergebnisse einer Evaluation vor, in der sie 928 Qualitätsprüfungen in Pflegeheimen und 231 Prüfungen in ambulanten Pflegediensten untersucht hatten. mdk-Konzept: Defizite bei Risikokriterien sollen zu Abwertungen führen Die Vertreter von mds und mdk kommen zu der Einschätzung, dass die Notensystematik grundsätzlich geeignet ist, Qualitätsunterschiede zwischen Pflegeeinrichtungen darzustellen. Allerdings hat ihre Analyse auch erbracht, dass sich zum Teil Mängel bei personenbezogenen Kriterien – zum Beispiel bei der Vermeidung von Druckgeschwüren – nicht ausreichend in der Bereichs- und in der Gesamtnote niederschlagen. Besonders gravierend ist dies bei Kriterien, deren Nichterfüllung mit deutlichen Beeinträchtigungen der Lebensqualität oder mit gesundheitlichen Schäden verbunden sein kann. In dem Bericht werden für die stationäre Pflege 9 von insgesamt 38 per sonenbezogenen Kriterien als sogenannte Risikokriterien identifiziert. Bezogen auf diese Kriterien gibt es eine relevante Zahl von »Ausreißern«, in denen gute Bereichs- und Gesamtnoten mit einem »mangelhaft« bei einem Risikokriterium einhergehen. Die Autoren schlagen deshalb vor, bei einer mangelhaften Bewertung dieser Risikokriterien das Bereichsergebnis und die Gesamtnote abzuwerten. Das zwischen gkv-Spitzenverband und Leistungs erbringern vereinbarte Evaluationskonzept sah darüber 13 14 m d k forum 3/10 mdk | wissen und standpunk te hinaus eine wissenschaftliche Begleitung vor. Hiermit wurden die Pflegewissenschaftlerinnen Prof. Dr. Martina Has seler, Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, und Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann, Alice Salomon Hochschule in Berlin, beauftragt. Ende Juli haben sie ihr mehr als dreihundert Seiten starkes Gutachten dem »Beirat zur Evaluation der Pflege-Transparenzvereinbarungen« vorgelegt, dem neben Vertretern der Pflegekassen und der Verbände der Leistungserbringer auch Pflegewissenschaftler und Patientenvertreter angehören. Wie die Expertise der mdk-Gemeinschaft kommen auch die beiden Wissenschaftlerinnen zu dem Ergebnis, dass Risikokriterien stärker gewichtet werden sollten, »so dass Einrichtungen / Dienste, die diese wesentlichen ›Risikokriterien‹ nicht erfüllen, eine schlechte Benotung hierbei Wissenschaftliches nicht durch andere – weniger Gutachten Ende Juli relevante – Kriterien kompensievorgestellt ren können«. Weiter schlagen sie vor, sämtliche Transparenzkriterien noch einmal auf ihre Aussagekraft hin zu überprüfen und die Auswahl entsprechend anzupassen. Vonseiten der Leistungserbringer ist immer wieder der Vorwurf erhoben worden, die mdk-Qualitätsprüfungen seien »dokumentationslastig« – eine Kritik, die von den Medizinischen Diensten nicht geteilt wird. Hasseler und Wolf-Ostermann empfehlen nun, »statt der Prüfung der Qualität auf der Basis von Pflegedokumentationen Indikatoren bzw. Kriterien zu entwickeln und zu wählen, die Aussagen machen können über die erbrachten Leistungen, die der Heimbewohner / der Kunde tatsächlich erhält.« Kritik üben die Wissenschaftlerinnen auch an dem Stichprobenverfahren. Insgesamt lägen durchschnittlich geringe Fallzahlen vor. Dennoch wollen auch sie aus pragmatischen Gründen an der 10%igen Stichprobenauswahl festhalten. Zudem sprechen sie sich dafür aus, dass mindestens zehn statt bisher fünf Personen einbezogen werden. Überarbeitet werden sollte nach dem Urteil der Wissenschaftlerinnen auch die Berechnungssystematik bzw. Notenvergabe – und zwar sowohl auf der Ebene von Einzelkriterien als auch auf der Ebene von Bereichs- und Gesamtnoten. Beirat empfiehlt schrittweise Umsetzung Als ein »gutes Signal« für die Transparenz in der Pflegequalität wertet Gernot Kiefer, Vorstand des gkv-Spitzenverbandes, die Berichtsergebnisse. »Der mit den Pflegenoten eingeschlagene Weg ist der richtige«, ist er überzeugt. Der Beirat rät den Vertragspartnern bezüglich der Empfehlungen »wegen der Komplexität die Umsetzung in kurz-, mittel- und langfristigen Entwicklungsschritten vorzunehmen«. Da national und international über tragbare wissenschaftliche Grundlagen fehlen, ist nach Einschätzung des Beirats auch ein langfristiger Weiter entwicklungsprozess, etwa bei der Überprüfung wissenschaftlicher Gütekriterien, erforderlich. Mitte des Jahres haben die Vereinbarungspartner die Verhandlungen wieder aufgenommen. »Bisher ist das ein zähes Ringen«, so Jürgen Brüggemann, der für den mds als Berater an den Verhandlungen teilnimmt. Dabei gehe es unter anderem um die Frage, was als aussagefähige Informationsquelle anzuerkennen sei. »Den Leistungs erbringern geht es darum, neben Pflegedokumentation und InauVerhandlungsmaschine genscheinnahme auch andere In wieder angeworfen formationsquellen zu etablieren. Das können zum Beispiel Auskünfte der Mitarbeiter sein«, so Brüggemann. »Das darf aus unserer Sicht aber nicht dazu führen, dass man so lange prüft, bis man irgendwann ein positives Ergebnis hat.« Querelen gibt es auch innerhalb der Reihen der Leistungserbringer. Ende August verließen der Arbeitgeberund BerufsVerband privater Pflege (abvp), die Bundesarbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege (bah) und der Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (vdab) die Beratungen. Sie warfen den anderen Verhandlungspartnern vor, kein Interesse an einer grundlegenden Überarbeitung zu haben. Einzelschritte zur Veränderung der ptv aber seien »Zeitverschwendung«. Den Vorwurf wiesen die anderen Verhandlungspartner – gkv-Spitzenverband, Vertreter der Sozialhilfeträger und die anderen Leistungserbringer – zurück. »Gerade weil Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen sich ihrer vom Gesetzgeber übertragenen Verantwortung bewusst sind, wollen sie bis Ende des Jahres erste konkrete Schritte für kurzfristige Veränderungen vorlegen«, hieß es in einer gemeinsamen Presseerklärung. Mittel- und langfristige Schritte sollen folgen. Münsteraner Urteil untersagt Veröffentlichung Unruhe droht auch von anderer Seite: Ungefähr 200 Einrichtungen haben nach Auskunft des vdek bisher gegen die Veröffentlichung ihres Transparenzberichtes geklagt. In erster Instanz ging etwa die Hälfte der Verfahren zugunsten der Kassen aus. In zweiter Instanz sind erst neun Verfahren verhandelt worden; in sieben Fällen haben die Kassen Recht bekommen, in zwei Fällen die Einrichtungen. Das zuletzt veröffentlichte Urteil des Sozialgerichts Münster vom 20. August untersagte erstmalig in einem Klageverfahren die Veröffentlichung eines Transparenzberichts im Internet. Geklagt hatte ein Pflegeheim aus dem Kreis Borken. »Die Pflegenoten haben Bewegung in die Qualitätsdiskussion in der Pflege gebracht und Transparenz hergestellt, wo es vorher keine gab«, kommentierte Dr. Peter Pick, Geschäftsführer des mds, das Urteil. »Grundsätzlich haben sich die Pflegenoten bewährt. Wir sollten jetzt das Instrument so weiter entwickeln, dass die Kinderkrankheiten behoben werden.« Und auch beim gkv-Spitzenverband bleibt man zuversichtlich: »Wir sehen der weiteren rechtlichen Prüfung gelassen ent gegen«, betonte dessen Sprecher Florian Lanz. Christiane Grote leitet das Fachgebiet »Presseund Öffentlichkeitsarbeit« des M D S . c. g ro te @ m d s - ev. d e mdk | wissen und standpunk te m d k forum 3/10 15 Begutachtung von Berufskrankheiten im MDK Hessen Arbeitsplatz übt oft späte Rache B e r u f s k r a n k h e i t o d e r n i c h t ? Neben den Betroffenen haben auch die Krankenkassen ein Interesse an Klärung, um Erstattungsansprüche gegenüber anderen Sozialversicherungsträgern geltend zu machen. Dazu greifen sie auf Experten des MDK wie Dr. Matthias Löffler zurück. Mit viel Akribie und Spürsinn deckt er beim MDK Hessen Berufskrankheiten und deren Ursachen auf. Für die Kassen lohnt sich das: Rund fünf Mio. Euro werden ihnen jährlich erstattet. Helmut W. war nie ein starker Raucher – und trotzdem: Lungenkrebs. Im September 1999 wird ihm im Univer sitätsklinikum Gießen der rechte Lungenoberlappen entfernt. Die histologische Untersuchung des entnommenen Gewebes lässt für Hoffnung keinen Platz: Der Tumor hat sich schon in die Thoraxwand gefressen. Bis in die 80er Jahre war W. als Abrissarbeiter auf dem Bau tätig. Damals war Asbest als Wärmedämmung und Brandschutz weit verbreitet. Die Wahrscheinlichkeit, dass er dem hoch kanzerogenen Mineral ausgesetzt war, ist groß. W. Helmut W.: meldet seinen Verdacht einer Lungenkrebs durch Asbest? Berufskrankheit der Berufsgenos senschaft (bg). Im Falle einer Anerkennung als Berufskrankheit, so hofft er, wäre seine Familie durch eine Hinterbliebenenrente zumindest finanziell abgesichert. Auch andere Stellen wie Arbeitgeber, behandelnder Arzt oder die Krankenkasse sind dazu berechtigt und zum Teil sogar verpflichtet. Der Unfallversicherungsträger leitet dann das Feststellungsverfahren ein und prüft, ob eine Berufskrankheit vorliegt. Versicherte müssen Berufskrankheit nachweisen »Von der Verdachtsmeldung bis zum Feststellungsbescheid ist es oft ein weiter Weg«, weiß Dr. Matthias Löffler. Seit 1992 arbeitet der fünfzigjährige Arbeitsmediziner beim mdk Hessen, seit 1998 ist er dort auf Ersatzansprüche spezialisiert. Einen solchen Verdacht kann nicht nur der Versicherte an die Berufsgenossenschaft oder einen anderen zuständigen Unfallversicherungsträger melden. Lungenkrebs ist als Folge einer Asbesteinwirkung am Arbeitsplatz als Berufskrankheit anerkannt. Die Tumorauslösende und -fördernde Wirkung von Asbest gilt als wissenschaftlich gesichert. Trotzdem sind im Feststellungsverfahren einige Hürden zu überwinden. »Der Ver sicherte selbst muss nachweisen, dass die Krebserkrankung auf die berufliche Asbestbelastung zurückzuführen ist und nicht etwa aufs Rauchen oder andere Risiken der privaten Lebensführung«, erläutert Löffler. Laut Berufskrankheitenverordnung ist dieser Nachweis erbracht, wenn sich radiologisch oder histologisch Strukturen darstellen lassen, die typisch sind für eine Asbeststauberkrankung der Lungen oder der Pleura. Oder wenn sich für den Arbeitsplatz eine kumulative AsbestfaserstaubBelastung von mindestens 25 Faserjahren belegen lässt. Ursachenforschung – erster Teil Im Falle von W. alles Fehlanzeige. Die histologische Untersuchung an der Uni Gießen ergibt lediglich Pigment einschlüsse und ein paar Silikogranulome im entnommenen Gewebe – kein ungewöhnlicher Befund für die Lunge eines Abbrucharbeiters und zudem ohne Krankheitswert. Zwar glaubt der medizinische Gutachter, den die Berufsgenossenschaft beauftragt hat, ebensolche asbestverdäch tigen Strukturen im Computertomogramm zu erkennen. Doch der hinzugezogene Zweitgutachter will den Befund ohne eine weitere Gewebeuntersuchung nicht bestätigen. Er empfiehlt stattdessen, »zu gegebener Zeit« eine Obduktion Löffler: »Wäre ich nicht vornehmen zu lassen. Auch der Arbeitsmediziner geworden, technische Aufsichtsdienst, der dann Gerichtsmediziner« im Auftrag der Berufsgenossen schaft Arbeitsplätze auf ihre Sicherheit überprüft, stützt Herrn W.s Verdacht nicht. Die kumulierte Asbestbelastung, der W. über Jahre ausgesetzt war, bemisst er auf gerade einmal 1,3 Faserjahre. Für die Berufsgenossenschaft sind die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit nicht erfüllt. Im Oktober 2000 lehnt sie W.s Antrag ab. Im März darauf ist W. tot. Dr. Matthias Löffler 16 m d k forum 3/10 mdk | wissen und standpunk te z. B. die steroidbedingte Osteoporose, die als Folge der Ursachenforschung – zweiter Teil Ein Jahr danach landet der Fall auf Matthias Löfflers Langzeitbehandlung eines Berufsasthmas mit Cortison Schreibtisch. W.s Krankenkasse, die aok Hessen, hat ihn auftritt, für eine altersbedingte Erkrankung gehalten. mit der Begutachtung beauftragt. Erneut werden Erst- Sollen Erstattungsansprüche geltend gemacht werden, und Zweitgutachten sowie Untersuchungsberichte studiert, bedeutet die Identifizierung der Berufskrankheiten-VerTomografien nach einem Hinweis auf eine Asbestbelas- dachtsfälle somit schon die erste Hürde. tung abgesucht. Nach gründlicher Durchsicht muss Löffler seinen Kollegen von der bg recht geben: Die vorliegen Hohe Erstattungsansprüche für die Krankenkassen den Unterlagen lassen keine belastbare Aussage über eine Für die Krankenkassen ist es da ein Vorteil, dass sie auch Asbestexposition zu. Fest steht für ihn aber auch: »Die unabhängig vom Versicherten tätig werden können, um bg hat nicht erschöpfend ermittelt. Absolut fehlerfrei ar- ihre Ersatzansprüche gegenüber anderen Sozialversichebeitet aber keine Institution«, fügt er gleich darauf hinzu. rungsträgern geltend zu machen. In finanzieller Hinsicht Wenn doch Fehler passieren, ist es Löfflers Job, sie zu fin- lohnt sich das allemal. Im Fall W. wurden der aok 47 368 € den, zunehmend auch in Kooperation mit den Berufs erstattet, in anderen Einzelfällen waren es sogar bis zu genossenschaften. Im Fall von W. waren notwendige wei- 160 000 €. Mehr als zehn Millionen Euro erwirtschafteten terführende Untersuchungen schlicht unterlassen worden. Löffler und sein Team mit der Begutachtung zu BerufsSo hatte der Pathologe das Lungenresektat zwar akribisch krankheiten im Erhebungszeitraum September 1998 bis auf alle Arten von krebsverdächtigen Veränderungen hin Dezember 2002 allein für die aok in Hessen. Das sind untersucht – mit einer gezielten Asbestosediagnostik aber rund 2,5 Millionen Euro pro Jahr. Seitdem sind weitere gehatte ihn niemand beauftragt. Die Stellungnahme des setzliche Krankenkassen dem Beispiel der aok gefolgt, Landesgewerbearztes lag nicht vor. Die seinerzeit empfoh so dass sich die jährlichen Erstattungen über alle Kassen lene Obduktion wurde nie veranlasst, und seit W.s Beer heute auf fast fünf Millionen Euro belaufen. digung waren ein verregneter Sommer und ein milder Winter ins Land gegangen – keine guten Voraussetzungen edv-Programm zur Identifizierung von Verdachtsfällen für eine posthume Gewebeentnahme. Die Erfolgsquote bei Durchsetzung der Ansprüche ist hoch: Jeder dritte aufgegriffene Fall wird positiv entschieden. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet das ProSpürsinn wird belohnt Gerade diese scheinbar aussichtslosen Fälle reizen Löff- gramm, das Löffler zu diesem Zweck in Zusammenarbeit ler: Quasi detektivisch ermittelt er wenn nötig auch fern- mit der aok entwickelt hat. Aus ab von Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Daten den Leistungsdatenbanken der »Der Gerechtigkeit auf die banken und befragt Beteiligte. Grübeln, Knobeln, Hinter- Krankenversicherung filtert es Sprünge helfen« fragen bringen ihn letztlich auch im Fall W. auf die rich anhand der Diagnoseschlüssel tige Fährte: W. war doch damals der rechte obere Lungen- gezielt die Versicherungsfälle heraus, die als Berufslappen entfernt worden – was war mit dem Resektat ge- krankheiten infrage kommen können. Diese Auswahl prüft schehen? Ein paar Telefonate und sein Spürsinn wird die Software dann anhand des Berufsschlüssels auf belohnt: Der Lungenlappen hat die Gießener Uni-Klinik Plausibilität. Darüber hinaus erhält der Sachbearbeiter nie verlassen. Formalin-fixiert und in Paraffin gegossen wertvolle Entscheidungshilfen in Form weiterführender liegt er nach wie vor in den Regalen der Pathologie. Auf Erklärungen. Seine Stärken entfaltet das Programm vor Löfflers Hinweis leitet die Berufsgenossenschaft nun allem dort, wo eine große Zahl an Fällen zu verwalten ist, die »weiterführende Amtsermittlung« ein: Eine Asbestose von denen aber nur einige wenige zu Erstattungen führen. diagnose bringt endlich den lang gesuchten Nachweis: Matthias Löffler empfiehlt den Krankenkassen diese Asbestkörperchen und fibrotische Verwachsungen sind »besondere Form der Versichertenbetreuung«, wie er die unter dem Mikroskop deutlich zu erkennen. Für W.s Begutachtung in Erstattungsfragen nennt, nicht allein im Witwe hat damit dreieinhalb Jahre nach dem Tod ihres Hinblick auf den finanziellen Gewinn. Auch aus Gründen Mannes das Warten ein Ende: Die Berufsgenossenschaft der Kundenbindung hält er das Engagement für sinnvoll: gesteht ihr eine monatliche Hinterbliebenen-Rente von »Hinterbliebene, die Sie als Kasse bei der Durchsetzung 950 € zu sowie 4000 € Sterbegeld ihrer Ansprüche unterstützen, bleiben Ihnen danach als In vielen anderen Fällen kommt es gar nicht erst zu Versicherte lange treu.« Für den mdk-Gutachter bedeutet einer Verdachtsmeldung. Nach internen Schätzungen seine Arbeit darüber hinaus eine persönliche Befriedigung. schalten die Kassen nur in jedem siebten Fall von berufs »Meist sind es die kleinen Leute, die von Berufskrank bedingter Erkrankung die zustän- heiten betroffen sind«, erklärt Löffler seine Motivation. Zwischen schädigender dige Berufsgenossenschaft ein. »Damit auch diese ihre rechtmäßigen Ansprüche geltend Die Gründe dafür sind vielfäl- machen können, helfen wir der Gerechtigkeit nötigenEinwirkung und Krankheit tig: Bei berufsbedingten Krebs falls auf die Sprünge.« können Jahrzehnte liegen erkrankungen führt häufig die lange Latenzzeit zwischen Exposition und Ausbruch der Krankheit dazu, dass die Ursache verkannt wird. Auch die Dina Koletzki de Salazar mittelbaren Krankheitsfolgen werden oft nicht mit der ist Referentin Primärerkrankung in Zusammenhang gebracht. So wird Kommunikation beim mdk Hessen. d.koletzki@mdk-hessen.de weitblick m d k forum 3/10 Krebspatientinnen über Haarausfall und Perückenkauf: Nacktheit der besonderen Art F r a u e n w i e d i e S ä n g e r i n Sinéad O’Connor sind die Ausnahme: Sie gehen mit geschorenem Kopf in die Öffentlichkeit – für viele Frauen undenkbar! Doch viele Krebspatientinnen müssen nach einer Chemotherapie mit dem Verlust ihrer Haare fertigwerden – vielleicht die belastendste Nebenwirkung der Therapie. Eine Perücke kann hier helfen und das Selbstwertgefühl wieder stärken. Diese gibt es zum Beispiel in den Filialen des Berliner Unternehmens »Die Perücke«. Karla Wittenstein ist das, was man als »toughe Lady« bezeichnen würde: stets adrett gekleidet und zurecht gemacht, selbstbewusst und unabhängig. Genau so sitzt sie in einer Kabine des Perückengeschäfts »Die Perücke« am Berliner Kurfürstendamm und erzählt ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Krebserkrankung und wie sie sie gemeistert hat. 1995 erkrankt die Berlinerin zum ersten Mal an Brustkrebs. Bei einer Operation wird das befallene Gewebe entfernt, die Brust jedoch erhalten. Ganz ohne Chemotherapie überwindet sie den Krebs. Doch 2007 ist er wieder da. Dieses Mal kommt sie nicht so glimpflich davon: Eine Brust wird ihr entfernt und im Anschluss folgt die Chemotherapie. Da viele Chemotherapien mit Haarausfall einhergehen, muss sich Karla Wittenstein nun auch mit dem drohenden Verlust ihrer Haare auseinan dersetzen. Da sie schon seit längerem Kundin des Berliner Geschäfts ist und dort Haarteile kauft, fällt ihr der Schritt nicht schwer, sich in ihrem Perückengeschäft beraten zu lassen. Dort kennt man sich aus mit dieser speziellen Situation. Rund 40% der Kundinnen sind Chemotherapie-Patientinnen. Einige kommen lange, bevor die Haare auszufallen beginnen, andere erst dann, wenn sie bereits mit dem Haarverlust kämpfen. Doch alle stehen vor demselben Problem, denn die Haare spielen für die weibliche Identität eine besonders große Rolle. »Vielen Frauen wurde im Vorfeld schon eine oder sogar beide Brüste entfernt. Das ist an sich schon schlimm genug«, erklärt Karin Gilsenbach, seit vierzig Jahren Inhaberin des Geschäfts. »Wenn dann auch noch der Haarausfall hinzukommt, ist das sehr belastend. Man sieht sofort, dass etwas anders ist, nicht wie bei einer anderen Krankheit, die man zum Beispiel unter der Kleidung verstecken kann.« Die Mitarbeiterinnen des Perücken-Geschäfts raten immer dazu, sich schon früh mit dem Thema »Zweithaar« auseinanderzusetzen. Auf diese Weise kann am besten eine Perücke ausgesucht werden, die dem eigenen Haar mög Man kann die Krankheit lichst ähnlich ist. »Wenn sich nicht verstecken die Kundinnen dann zum ersten Mal mit der Perücke sehen, die ihren eigenen Haaren so ähnlich sieht, sind die meisten erleichtert. Dann wissen sie, dass sie auch nach dem Haarausfall noch genauso aussehen werden wie vorher«, erklärt Gilsenbach. Wenn der Haarausfall einsetzt, haben die Kundinnen die Möglichkeit, sich auch das restliche Haar entfernen zu 17 18 m d k forum 3/10 weitblick lassen. Dafür gibt es in dem Geschäft eine Kabine, in die sie sich zurückziehen können. »Das ist ein ganz entscheidender Moment. Einige können es kaum erwarten, weil ihre Haare dann nicht mehr überall herumfliegen. An dere brechen in Tränen aus.« Karla Wittenstein gehört zu der ersten Gruppe. Noch vor der Chemo holte sie sich eine passende Perücke. »Ich wollte mich schon mal darauf einstellen, wie ich aus sehen würde.« Als der Haarausfall während der Therapie dann massiv einsetzte, ließ sie sich von ihrem Mann die Haare abrasieren. Heute, drei Jahre später, ist ihr Haar immer noch nicht wieder voll und gesund. Ein starkes Medikament, das sie zur Vorbeugung vor einer erneuten Erkrankung einnimmt, verhindert den normalen Haarwuchs. An das Tragen der Perücke hat sich die Sechzig jährige jedoch gewöhnt. »Zu Hause laufe ich nur ohne Perücke herum. Das Tolle ist: Wenn man spontan etwas unternehmen möchte, zieht man sich einfach nur die Perücke auf, und fertig. Kein zeitraubendes Frisieren mehr.« Karla Wittenstein hat mit der Chemotherapie eine komplette Typveränderung durchgemacht. Jahrelang lief sie mit einer langen, streng nach hinten gebundenen Mähne herum. Heute trägt sie eine gesträhnte Kurzhaarfrisur. Ein fransiger Schnitt mit dem Namen »Paulinchen«. »Viele Kundinnen nutzen die Gelegenheit und pro bieren etwas Neues aus. So hatten wir zum Beispiel eine Kundin, die sich für die Arbeit eine Perücke geholt hatte, die ihren eigenen Haaren ganz ähnlich war, um nicht aufzufallen. Für die Samstagabende hatte sie jedoch eine blonde, wallende Mähne – gerade um aufzufallen«, erzählt Kai Gilsenbach, Junior-Chef von »Die Perücke«. Die Krankenkassen unterstützen die ChemotherapiePatientinnen beim Kauf der Perücke. Die Gilsenbachs haben Modelle bereits ab 49 € im Angebot. Wer jedoch etwas qualitativ Hochwertiges haben möchte, zahlt bis zu 500 € für die Kunsthaare. »Qualitätsunterschiede gibt es vor allem in der Verarbeitung. Wenn man zum Beispiel e inen Scheitel trägt, kann man an dieser Stelle bei einigen Modellen sehen, dass es nicht die echten Haare sind. Bei einem Qualitätsstück ist das nicht möglich«, erklärt die Inhaberin. Gertrud Peters ist erst seit kurzem Kundin des Perückengeschäfts. Die 67-jährige Rentnerin hatte vor einem halben Jahre eine Brustamputation und anschließend Chemotherapie. »Die verbliebenen Haare abzurasieren fand ich gar nicht so schlimm«, berichtet Peters. »Als ich jedoch zu Hause war und zufällig am Spiegel vorbeiging, habe Wer ist das? ich mich sehr erschrocken. Ich Ich bin das nicht ! dachte: ›Wer ist das? Ich bin das nicht.‹« Im Gegensatz zu Karla Wittenstein trägt Gertrud Peters auch zu Hause stets eine Perücke. »Lange Zeit konnte ich mir auch nicht auf den Kopf fassen, weil es so ungewohnt war, dass dort keine Haare mehr sind.« Wie bei vielen Krebs-Patientinnen sind Gertrud Peters auch die Augenbrauen und Wimpern ausgefallen. Für sie ein Verlust, der fast noch schwerer zu ertragen war als das Fehlen der Kopfhaare. »Es ist eine Nacktheit der ganz besonderen Art, fast unerträglich.« Zwar gibt es viele Kosmetik-Kurse speziell für KrebsPatientinnen, doch viele wissen das nicht und versuchen, mithilfe von Kajal, Mascara oder Lidschatten die fehlenden Gesichtshaare wieder herbeizuzaubern. »Das Thema Aussehen überhaupt kommt in der Krebsberatung zu kurz«, sagt Karla Wittenstein. »Dabei ist das wesentlich für das eigene Wohlbefinden. Während der Chemo geht es einem zwischendurch wirklich sehr schlecht. Wenn man aber in den Spiegel guckt und man ist trotzdem hübsch zurechtgemacht, gibt einem das ein gutes Gefühl.« Friederike Geisler, Stabsstelle Kommuni kation beim MDK Niedersachsen. friederike.geisler@mdkn.de Interview mit Prof. Dr. Rupert Gerzer Mission: Possible M a r s 5 0 0 – Die bisher längste Weltraumsimulation will die Auswirkungen von langer Isolation auf die Gruppendynamik der »Astronauten« untersuchen. Den »Flug zum Mars« nutzt das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) auch, um Erkenntnisse über Salzhaushalt, Blutdruckregulation und Knochenstoffwechsel des Menschen zu erhalten. MDK Forum Herr Professor Gerzer, Sie leiten das Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin beim dlr. Was genau ist der Zweck Ihrer Versuche? Prof. Rupert Gerzer Mit kooperierenden Forschern aus deutschen Kliniken untersuchen wir Gruppendynamik und psychophysiologische Leistungsfähigkeit der Crew und wie sich Astronauten im Krankheits- oder Notfall versorgen können. Eine weitere Gruppe beschäftigt sich da mit, wie sich Mikrobiologie und Gesundheit einer Crew in geschlossenen Systemen entwickeln. Außerdem werden Salz- und Flüssigkeitshaushalt, Blutdruckregulation und Knochenstoffwechsel beobachtet. MDK Forum Je mehr Salz man zu sich nimmt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man eines Tages an Bluthochdruck leidet. Werden zu dieser These neue Aspekte erwartet? Gerzer Wir wollen wissen, was man für die Medizin an neuen Erkenntnis sen gewinnen kann. In diesen Fragen haben wir uns eng mit anderen 19 weitblick m d k forum 3/10 Wissenschaftlern zusammengeschlossen, zum Beispiel mit Prof. Jens Tietze von der Uni Erlangen. Wir fragen uns, was passiert, wenn man unter definierten Bedingungen dem normalen Menschen unterschied liche Salzmengen gibt. Jeder Doktor sagt: Esst wenig Salz, sonst gibt es Probleme mit dem Blutdruck. Der wiederum kann Schlaganfall und andere Probleme verursachen. Aber den Beweis, dass viel Salz wirklich hohen Blutdruck beim Menschen verursacht, haben wir noch nicht. Die Astronauten erhalten während des Testes drei unterschiedliche Salzdiäten. Da gibt es zwei Forschungsrichtungen. Erstens: Wie wirkt sich das Salz auf den Blutdruck und zweitens auf die Knochen aus? Vor einigen Jahren haben wir bei Astronauten in der Erdumlaufbahn festgestellt, dass es mit dem Salzhaushalt Phänomene gibt, die nicht im Lehrbuch stehen. Das heißt für uns: Die Regulation des Salzhaushal tes ist bis jetzt nicht richtig verstanden. In Laborversuchen haben wir auch festgestellt, dass hoher Salz konsum den Knochenabbau fördert. Hoher Salzverzehr ist für den Knochenabbau schädlicher als lange Ruhezeiten im Bett. Eine Langzeitstudie, bei der festgehalten und kontrolliert wird, wie viel Salz die Probanden genau zu sich nehmen, gab es bisher noch nicht. Vorstellbar ist, dass der Effekt von Salz auf den Blutdruck sogar noch höher ist, als wir bisher angenommen haben. Prof. Dr. Rupert Gerzer MDK Forum Hätte man das nicht auch in einem klinischen Verfahrens überprüfen können? Gerzer Die Kosten für solch eine Studie sind extrem hoch. Wir haben jetzt den Vorteil, dass wir die Umgebung der Weltraum-Simulation nutzen können. Auf diese Weise sind die Kos ten für uns nicht annähernd so hoch. MDK Forum Ein Hauptproblem in der Raumfahrtmedizin ist ja die Knochenproblematik. So besteht die Vermutung, dass der erste Mensch, der einen Fuß auf den Mars setzt, sich diesen auch gleich brechen wird, weil das Skelett auf der Reise entkalkt wird. Wie könnte man so eine Situation untersuchen? Gerzer So problematisch ist es glücklicherweise nicht. Mittlerweile wissen wir, wie die Astronauten trainieren müssen, damit der Kno chenabbau so weit wie möglich unterdrückt wird. Ganz aufzuhalten ist er aber dennoch nicht. Er konzentriert sich jedoch auf die Teile des Körpers, die in der Schwerelosigkeit entlastet werden. Es gibt auch einen Unterschied zur Osteoporose, die vor allem ältere Menschen betrifft. Der Knochenabbau bei Astronauten ist eher mit dem Knochenabbau zu vergleichen, der eintritt, wenn man immer nur im Bett liegt. Trotz Training gibt es immer noch Bereiche des Körpers, bei denen der Knochenabbau bis zu 2% im Monat voranschreiten kann. Die Überlegung ist jetzt, dass für das Training – bisher haben sich die Astronauten mit Laufband, Fahr radergometer oder Gewichtheben getrimmt – neue Methoden her müssen. Eine dieser neuen Methoden ist die Herstellung von künst licher Schwerkraft in der Raum station. Mittels einer Zentrifuge, die den Astronauten in Bewegung setzt, ihn dreht. Wenn dazu noch ein wenig Ausdauertraining kommt, könnte das dem Knochenabbau entgegenwirken. MDK Forum Lassen sich bei diesen Forschungen auch Rückschlüsse für Patienten außerhalb der Raumfahrt ziehen? Gerzer Es gibt schon einige Anwen dungen von Forschungsergebnissen in der Medizin. Zum Beispiel bei Kin- dern mit Knochen- bzw. Stabilitäts problemen, wie der Glasknochenkrankheit oder Fehlbildungen. Solch ein Projekt wird an der Uniklinik in Köln durchgeführt und von einer großen Krankenkasse unterstützt. Womöglich lässt sich die Idee der Bewegungszentrifuge für die Rehabilitation von Patienten, die lange bettlägerig waren, nutzen. MDK Forum Die Uni Mainz führt bei Mars 500 Tests zur medizinischen Selbstversorgung durch. Bekommen die Astronauten eine Art Schnitt musterbogen mit, wie sie sich selbst helfen können? Gerzer Hier geht es auch um telemedizinische Betreuung bzw. Telepräsenz, die generell für die medizinische Versorgung in Zukunft von Bedeutung sein wird. Zum Beispiel: Wie bekommt der Astronaut den nötigen Rat von seinem Computer? In der Vergangenheit wurde der Patient zur Expertise gebracht. In Zukunft wird es darum gehen, wie kommt die Expertise zum Individuum, damit es möglichst erst gar nicht zum Patienten wird. Die Fragen stellten Dr. Uwe Sackmann und Martin Dutschek Das Mars-500-Experiment Beim Mars-500-Experiment des russischen Instituts für Biomedizinische Probleme ( ibm p ), der europäischen Weltraumorganisation e sa und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt ( d l r ) werden der Flug zum Mars, die Landung und anschließende Rückkehr zur Erde simuliert. Mit Ausnahme von Schwerelosigkeit und Strahlung werden die Bedingungen im All möglichst real simuliert. Die Crew erlebt Isolation, Verpflegung und Notfälle wie bei einer realen Langzeitmission. Während der 520 Tage dauernden Simulation sind allein rund 100 Versuche in den Bereichen Psychologie und Psychophysiologie, klinische Diagnostik, Physiologie und Mikrobiologie geplant. Mit insgesamt 11 Projekten ist das Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum ( D L R ) am längsten Isolationsversuch der Geschichte beteiligt. 20 weitblick m d k forum 3/10 Body Integrity Identity Disorder Verstümmelt endlich glücklich B e v o r B e r n d H . i n d e n S u p e r m a r k t g e h t , plant er immer eine halbe Stunde Extra-Zeit ein. Denn er muss sich präparieren. Mit geübtem Griff nimmt er sein rechtes Bein in die Hand. Das Klebeband hat er schon parat. Zwei, drei Runden um die Hüfte, dann sitzt der Fuß fest am Gesäß und der Geschäftsmann kann in seine eigens angefertigte Ein-Bein-Hose steigen. Jetzt noch die Krücken und im Spiegel erscheint das perfekte Abbild eines Amputierten. Das ist der Moment, in dem sich ein Glücksgefühl in Bernd H. ausbreitet. Denn was für andere Menschen unvorstellbares Leid bedeutet, ist für ihn das Idealbild seines Körpers. Bernd leidet unter Body Integrity Identity Disorder (biid). Ein selten vorkommendes und noch wenig erforschtes Phänomen, B I I D betrifft meist das seinen Namen im Jahr 2004 von dem New Yorker Psychiater Menschen mit gehobenem Michael First erhielt. AbgesicherBildungsstand te Zahlen zur Häufigkeit von biid gibt es bislang nicht. Die deutsche biid-Homepage hat zzt. rund 150 Mitglieder, Forscher schätzen die Prävalenz weltweit auf mehrere Tausend. Die Betroffenen fühlen sich fremd in ihrem gesunden Körper und wünschen sich die Amputation von einem oder mehreren Gliedmaßen, eine Lähmung oder sogar die Erblindung. Sie nennen sich selbst »Wannebes« – Möchtegerns, abgeleitet aus dem engl. »Want to be« – und mit dem so genannten »Pretending« versuchen sie im Vorfeld ein Gefühl der erwünschten Beeinträchtigung zu erzeugen. So wie Bernd H. sich zum Einbeinigen macht, versuchen andere mit der Benutzung eines Rollstuhls oder einer Prothese so zu tun, als sei die gewünschte Behinderung vorhanden. Ursachen unerforscht Prof. Dr. Erich Kasten vom Institut für Medizinische Psychologie an der Universität zu Lübeck beschäftigt sich seit vielen Jahren mit biid. »Umfangreiche psychologische Tests haben ergeben, dass es bei biidlern keine Korrelationen mit irgendwelchen Psychosen oder Neurosen gibt und die Betroffenen meist geistig und seelisch gesund sind.« Auch Heike S. führt nach außen hin ein ganz normales Leben. Doch die Ingenieurin wünscht sich seit ihrer Kindheit nichts sehnlicher, als zu erblinden. »Es geht mir nicht um das Mitleid der anderen. Ich möchte auf gar keinen Fall, dass mir jemand hilft. Mich reizt die Herausforderung, mit der Behinderung leben zu können. Ich weiß, dass ich das schaffen kann.« 21 weitblick m d k forum 3/10 biid betrifft zumeist Menschen mit einem gehobenen aber von einem Körperteil auf ein anderes wechselte.« Bildungsstand. »Diese Menschen sind intelligent, ehrgeiEin weiterer Aspekt, der sich mit einer neuronalen Dyszig, sportlich und überwiegend männlich Sie sehen Behin- funktion schlecht erklären lässt, ist, dass viele Betroffene derte als ›Helden‹ an, die die extremen Einschränkungen Stümpfe erotisch finden. Nach Daten von Erich Kasten spielt die sexuelle Komponente bei einem Drittel der Bemeistern«, weiß Prof. Erich Kasten. Über die tatsächlichen Ursachen von biid rätseln die fragten gar keine Rolle, bei einem weiteren Drittel eine Fachleute. Auf der Basis der bislang gefundenen Daten untergeordnete und beim letzten Drittel eine erhebliche entwickelte Professor Kasten ein multikausales Model, Rolle. das auf der Theorie beruht, dass sich biid aus drei Komponenten zusammensetzt: dem Wunsch, behindert zu Medizinische Hilfe abgelehnt sein, einer minimalen neurologischen Schädigung und Das Amputieren gesunder Gliedmaßen verstößt gegen einer erotischen Komponente. den hippokratischen Eid, deswegen befinden sich biidler biid wurde zunächst als psychotisch, als Form von Fe- oft in einer für sie ausweglosen Situation. Denn finden tischismus oder Zwangsstörung eingestuft. Das Ergebnis sie keinen Arzt, der die Verstümmlung mit medizinischem der Studie von Prof. First in den usa an 52 Betroffenen Sachverstand durchführt, greifen die Betroffenen in Ex widersprach diesen Annahmen. Die Symptomatik tritt tremfällen irgendwann selbst zur Elektrosäge, schießen schon im Kindesalter auf. Dies unterscheidet sie von sich mit einer Waffe ins Knie, Psychotikern, bei denen eine Selbstamputation akut im legen Gliedmaßen zum AbsterBetroffene streben schizophrenen Schub erfolgt. biidler leiden dagegen ben stundenlang in Trockeneis Aufnahme der Krankheit oft jahrzehntelang unter ihrem Wunsch und sehen ein, oder täuschen Unfälle im Ausin die I C D an dass ihre Begierde anormal ist. Sie sind bemüht, diesen land vor. Sie hoffen, dass biid Wunsch nicht in die Realität umzusetzen. Entsprechend in die internationale Klassifikation der Krankheiten icd aufgenommen wird. Aber auch dann bleibt es sicher wurde das Vorliegen einer Wahnerkrankung verneint. Auch einer körperdysmorphen Störung entsprechen schwierig, Ärzte zu finden, die diese Eingriffe vornehmen. biid-Betroffene nicht, da diejenigen, die eine Amputation erreichen konnten, künftig offenbar zufrieden sind und Heilungschancen ungewiss keinesfalls die Entfernung weiterer Körperteile wünschen. »Es ist bislang kein Fall einer dauerhaften Heilung von iid ohne Amputation bekannt«, erklärt Prof. Kasten. Die meisten der von Erich Kasten untersuchten Betrof- b fenen können den gewünschten Amputationsstumpf »Medikamente haben bis jetzt keinen Nutzen gebracht, exakt fühlen. »Theorien für die Entstehung von biid be außer in Phasen extremer Depression. Serotoninwiedersagen, dass der Betroffene das Körperteil zwar normal aufnahmehemmer haben nach Berichten Betroffener eine bewegen und fühlen kann, es aber mangelhaft in die Verbesserung des seelischen Befindens bewirkt, aber die hirnorganische Gesamtreprä- Sehnsucht nach den Körperveränderungen verstärkt Das Amputieren gesunder sentation des eigenen Körpers und die Hemmungen vor einer Verwirklichung deutlich eingebunden ist. Ein in bild- gemindert.« Psychotherapien können helfen, mit den mit Gliedmaßen verstößt gegen gebenden Verfahren nachweis- b iid verbundenen Belastungen, Schuld- und Scham den hippokratischen Eid barer Hirnschaden liegt je- gefühlen und Unsicherheiten besser umzugehen und das doch nicht vor. Hypothetisch angenommen werden könnte angegriffene Selbstwertgefühl zu verbessern. Die Lübecker Universität plant derzeit eine Therapieeine diffizile Störung im embryonalen oder fötalen Stadium der Entwicklung. Die Betroffenen fühlen sich dadurch studie. »Bevor jemand zum Skalpell greift«, so sagt Erich erst ›komplett‹, wenn das Äußere dem inneren Selbstbild Kasten, »müssen wir wissen, ob und in welchem Ausmaß eine Psychotherapie den Betroffenen helfen kann.« Bisentspricht.« Eine weitere Ursache könnte eine Schädigung im Be- lang gibt es dazu keine standardisierte Studie. Denkbar reich der temporoparietalen Junktion sein. Hier fließen wäre, mit körperorientierten Therapieverfahren eine Inte sensorische Informationen des Körpers zusammen. Stu- gration des abgelehnten Körperteils in das Gesamtbewusst dien unterstützen die Theorie, dass Veränderungen des sein zu fördern. Möglicherweise lassen sich mit verhaltens Körperschemas eventuell auf eine Dysfunktion dieses therapeutischen Techniken auch Gedanken an die AmpuHirnteils zurückgeführt werden können. tation allmählich ausblenden. »Immerhin«, so sagt Erich Dennoch hält der Prof. Erich Kasten biid nicht für eine Kasten, »haben wir in den letzten Jahren große Fortschritrein neurologisch bedingte Störung. »Bei einer neuro te gemacht. Die meisten biidler sind sehr wissenschaftsnalen, hirnorganischen Dysfunktion müsste sich eine freundlich, da sie sich ihren Drang nach Amputation verminderte Implementierung des jeweiligen Körperteils selbst nicht erklären können und bereit sind mitzuhelfen, eher schräg um den entsprechenden Körperteil wickeln. die Ursachen zu finden.« Der Amputationswunsch richtet sich aber an dem aus, was man üblicherweise als Bild einer unfallbedingten Amputation vor Augen hat. Zudem müsste er sich auch lebenslang auf dasselbe Bein beziehen. WidersprüchBurga Torges ist lich dazu gibt es Fälle, bei denen die Präferenz z. B. für Mitarbeiterin im das zu amputierende Bein von rechts auf links, niemals Fachgebiet Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des mds. b.torges@mds-ev.de 22 weitblick m d k forum 3/10 19-Jährige gründet MS-Stiftung Wie eine Watsche ins Gesicht M i t 1 9 J a h r e n e r h ä l t N a t h a l i e T o d e n h ö f e r die Diagnose multiple Sklerose (MS). Doch anstatt vor der unheil baren Krankheit zu kapitulieren, gründet sie mithilfe ihres Vaters, des ehemaligen Burda-Managers und CDU-Politikers Jürgen Todenhöfer, die Nathalie-Todenhöfer-Stiftung. Sie bietet MS-Patienten Beratung und finanzielle Hilfen an. Startkapital und Geschäftsbeziehungen zur Verfügung stellt. »Die Arbeit der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft ist sehr gut, weil die Betroffenen dort gut beraten werden. Allerdings brauchen Menschen mit ms oft auch finanzielle Hilfe.« Seit 2006 besteht die Nathalie-Todenhöfer-Stiftung. In der Woche melden sich bis zu einhundert Betroffene bei ihr. Die Stiftung berät und hilft bei konkreten Problemen, wie zum Beispiel dem behindertengerechten Umbau eines Badezimmers oder der Finanzierung eines Elektro-Rollstuhls. Krankheit mit 1000 Gesichtern Ursprünglich hatte Nathalie Todenhöfer nach dem Abitur auf einem englischen Internat ein Studium in Mailand geplant. Doch auf dem Weg zur Einschreibung an der italienischen Uni knicken ihr die Beine weg. Zunächst lebt sie normal weiter in Italien. Doch nach einiger Zeit wird sie schwächer und sucht einen Arzt auf, der ihr die Dia gnose stellt: multiple Sklerose. »Mein erster Gedanke war: Okay, ich habe eine Krankheit, nehme Medikamente dagegen und dann geht das schon«, erzählt die mittlerweile 25-Jährige. »Doch an der Reaktion meiner Freunde habe ich erkannt, was die Diagnose für mich bedeutet.« Sie informiert sich über ms im Internet. »Das war ein großer Fehler. Dort schreiben nämlich nur Menschen, denen es richtig schlecht geht. Und so hat man schnell das Gefühl, bald auch im Rollstuhl sitzen zu müssen.« In der Zeit danach durchlebt Nathalie Todenhöfer die ganze Bandbreite der ms: Von Lallen über Taubheit bis hin zu Kraftlosigkeit in den Beinen. Von den Medikamenten bekommt sie starke Kopfschmerzen und muss ihr Studium in Mailand abbrechen. »Ich musste akzeptieren, dass sich mein Leben nun ändert, das war nicht einfach.« Heute geht es Nathalie Todenhöfer verhältnismäßig gut. Mithilfe eines weiteren Medikaments konnte sie ihre Schübe unterdrücken. Zwar wird sie schnell müde und ist schwach auf den Beinen. Ansonsten sieht man der jungen Frau die Krankheit jedoch nicht an. Anlaufstelle für bis zu 100 Betroffene pro Woche Im Kontakt mit anderen ms-Patienten wird Nathalie Todenhöfer deutlich, dass viele körperlich stark eingeschränkt sind und Hilfe benötigen. Deshalb gründet sie eine Stiftung mit der Unterstützung ihres Vaters, der das Nathalie Todenhöfer sieht bei ihrer Arbeit mit anderen Betroffenen fast täglich, wie ihr Leben in einigen Jahren aussehen könnte. So hat sich gleich zu Anfang eine gleichaltrige Frau gemeldet, die von mehreren schwerwiegenden Symptomen betroffen war, starke Schmerzen hatte, blind war und weder reden noch schlucken konnte. »Sie hatte dennoch ihren Lebenswillen nicht verloren«, sagt die Münchnerin. Darüber nachzudenken, was ihr selbst in zehn oder zwanzig Jahren passieren könnte, versucht Nathalie Todenhöfer nicht. »Es bringt ja nichts, der Verlauf der Krankheit ist nicht voraussagbar. Deshalb nennt man ms ja auch die Krankheit mit den 1000 Gesichtern.« Nathalie Todenhöfer hat die Erfüllung in der Arbeit für die Stiftung gefunden. »Manchmal ist es wie eine Watsche ins Gesicht, wenn man sieht, wie schlecht es anderen geht. Dann bin ich dankbar dafür, dass ich noch einigermaßen normal leben kann.« Friederike Geisler Multiple Sklerose – wer ist betroffen? Rund 120 000 Menschen in Deutschland sind von M S betroffen; jährlich werden 2500 neu diagnostiziert. Weltweit sollen es Schätzungen zufolge 2,5 Millionen Menschen sein. Die Erkrankungshäufigkeit steigt mit der geografischen Entfernung vom Äquator. Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer. Die Erkrankung wird in der Regel zwischen dem dreißigsten und dem vierzigsten Lebensjahr festgestellt, seltener tritt sie auch schon im Kindes- und Jugendalter auf. Erstdiagnosen nach dem sechzigsten Lebensjahr sind die Ausnahme. www.nathalie-todenhoefer-stiftung.de 23 gesundheit und pflege m d k forum 3/10 Interview mit Prof. Dr. Jürgen Windeler zu Neuregelungen auf dem Arzneimittelmarkt »Ein kluger Schritt« W e n n d a s A r z n e i m i t t e l m a r k t n e u o r d n u n g s g e s e t z (AMNOG) wie geplant in Kraft tritt, kommen auf das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln neue Aufgaben zu. Über die Reform und die sich daraus ergebenden Herausforderungen sprachen wir mit dem neuen Leiter des IQWiG, Prof. Dr. Jürgen Windeler. MDK Forum Herr Professor indeler, Ihr Start beim iqwig am W 1. September geht mit einem der stärksten regulativen Eingriffe in den Arzneimittelmarkt einher. Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Neuerungen des Gesetzentwurfes zum Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz? Prof. Dr. Jürgen Windeler Es ist zum einen der erste Versuch seit vielen Jahren, nach den sogenannten Transparenzkommissionen für Arzneimittel und den zwei gescheiterten Entwürfen für Positivlisten zu einer systematischen Nutzen bewertung zu kommen – unter vielleicht deutlich besseren Rahmenbedingungen. Und die zweite Neuerung ist die Offenlegung von Studien und die Offenlegung der Ergebnisse. Die Nutzenbewertung ist zwar auf neu zugelassene bzw. in der Zulassung geänderte Arznei mittel beschränkt. Man kann sich aber leicht auch eine entsprechende Bewertung für andere Arzneimittel vorstellen. MDK Forum Kommen wir zur Offenlegung der Studien … Windeler Das ist eine große Errungenschaft und Ergebnis der Diskussion der letzten Jahre. Damit haben wir dann wirklich die Chance, strukturierte und qualitätsgesicherte Informationen über alle laufenden Studienprojekte und deren Schicksal zu erfahren. Das wird Institutionen wie dem iqwig und dem Medizi nischen Dienst die Bewertungen erleichtern, weil sie so an umfassende Informationen zu bestimmten Arzneimitteln kommen können. MDK Forum Wie beurteilen Sie den vorgesehenen Mechanismus zur Preisbildung? Windeler Bemerkenswert am amnog ist doch der vorgesehene Ablauf: Zuerst erfolgt die Bewertung des Nutzens auf Basis der Methoden der evidenzbasierten Medizin und gemessen an patientenrelevanten Kriterien. Dann erst wird über Preise entschieden – und zwar ohne explizite Kosten-Nutzen-Bewertungen. Wo ein Zusatznutzen nicht belegt ist, braucht man auch keine weiteren Preisverhandlungen zu führen. Wo der Zusatznutzen belegt ist, führt man dann eben Preisverhandlungen. Was man dann für die Preisver handlungen zugrunde legt, das würde ich den Verhandlungsparteien überlassen. Ich halte viel von der Entscheidung, einen eher kleinen Schritt, aber eben doch einen deutlichen Schritt zu gehen. MDK Forum Und die Rolle der Kosten-Nutzen-Bewertungen? Windeler Kosten-Nutzen-Bewer tungen sind eine gute Idee, aber die Umsetzung dieser Idee hat bis zum heutigen Tag nicht zu einer einzigen Entscheidung geführt. Denn der Gemeinsame Bundesausschuss (g-ba) hat keine Erfahrungen mit Entscheidungen, die auf Kosten- Nutzen-Bewertungen beruhen. Und die Politik ist auch nicht darauf vorbereitet. Mit dem amnog werden die Kosten-Nutzen-Bewertungen folgerichtig in ihrer Bedeutung zurückgefahren. Sie kommen erst in zweiter Linie zum Einsatz, zum Beispiel dann, wenn bei einem Arzneimittel ein Zusatznutzen festgestellt wird, die Beteiligten sich in den Preisverhandlungen aber nicht einigen können. MDK Forum Geplant ist, dass PharmaHersteller zur Markteinführung eines neuen Medikaments ein Dossier vorlegen, das den Nutzen bzw. Zusatznutzen gegenüber einer Vergleichstherapie belegt. Die Bewertung durch das iqwig soll dann innerhalb von drei Monaten vorliegen. Wie praktikabel ist ein solches Vorgehen? Windeler Ganz entscheidend werden die Anforderungen sein, die inhaltlich, formal und strukturell an das Hersteller-Dossier gestellt werden. Das amnog sieht vor, dass der g-ba in seiner Verfahrensordnung wesentliche Inhalte und Eckpunkte für das Dossier und auch das Verfahren insgesamt beschreiben soll. Der g-ba hat bis Ende Januar 2011 Zeit, diese Anforderungen zu formulieren. Ich gehe davon aus, dass an der Erarbeitung der Verfahrensbeschreibung das iqwig beteiligt wird. Übrigens gibt es erste Äußerungen, dass Hersteller sich aktiv auf die neue Situation einstellen und bereits an Dossiers arbeiten. MDK Forum Können Hersteller wie auch schon in der Vergangenheit negative Studien unter den Tisch fallen lassen? Windeler Die Gefahr besteht – ohne Zweifel. Und wenn das passiert, müssen wir natürlich darauf reagieren. Trotzdem: Das Konzept ist gut und allemal wert, ausprobiert zu werden. Die Nutzenbewertung an sich ist deutlich gestärkt worden. MDK Forum Es scheint so, als ob viele Forderungen der Kassenseite und des iqwig erfüllt seien. Gibt es überhaupt noch etwas, was noch offenbleibt? Windeler Ich bin überzeugt, dass das amnog ein großer und in der Ausgestaltung auch kluger Schritt ist. Natürlich kann man sagen, man möchte zum Beispiel sicherstellen, dass die Hersteller-Dossiers mit der Nutzenbewertung veröffentlicht werden. Hierzu fehlt eine Regelung im amnog. Man kann also noch mehr Transparenz, noch mehr Offenheit über das, was den Nutzen- 24 m d k forum 3/10 gesundheit und pflege bewertungen zugrunde liegt, fordern. Trotzdem: Ich kann mit dem, was jetzt drinsteht, sehr gut leben. Dass das amnog wie jedes andere Gesetz Ausweichstrategien zulässt – entweder bewusst zulässt oder aber offenlässt – das ist einfach so. Man kann das nicht bis zum Exzess regeln. MDK Forum Welche Ausweich strategien sind das? Windeler Vorstellbar ist, dass ein Hersteller einen Zusatznutzen gar nicht erst reklamiert und sich damit einer Nutzenbewertung entzieht. Er erhält dann zwar nur einen Festbetrag, aber niemand bekommt wirklich mit, dass er ein vergleichsweise schlechtes Präparat, mög licherweise sogar schlechter als Vergleichspräparate, auf den Markt gebracht hat. Hiervor bietet das amnog keinen Schutz durch eine systematische Bewertung. Denn: In erster Linie geht es um die Preisgestaltung – und das ist der kleine Haken an der Sache. Der Kern einer Nutzenbewertung ist sehr zu begrüßen, aber es ist nicht so, dass jedes Medikament einer Nutzen bewertung unterzogen wird. Und es ist auch nicht so, dass die Nutzen bewertung über den Marktzugang generell entscheidet, wie man es sich bei dem Begriff der sogenannten vierten Hürde eigentlich vorstellt. Es geht »nur« um die Preisgestaltung danach. Unter diesem Aspekt gibt es bestimmte Ausweichmöglichkeiten, die man im Auge behalten muss. Prof. Dr. Jürgen Windeler MDK Forum Wie schätzen Sie die Umsetzungschancen des amnog ein? Windeler Positivlisten sind bisher immer in letzter Minute gescheitert. Das kann ich auch hier nicht ausschließen. Sie sind an der Auffassung der Länder gescheitert, dass mittelständische Unternehmen von einer Positivliste besonders betroffen sein würden. Anders gesagt: Sie sind gescheitert an dem Interesse der Industrie, das sich die Bundesländer zu eigen gemacht haben. Dies sagt zwar auch etwas über die Produkte dieser Unternehmen, macht im Übrigen aber vor allem die Inter essen der Länder deutlich: Arbeitsplätze. Hier besteht auch zukünftig das Risiko, dass Regelungen verhindert werden, die für die Patienten und das Gesundheitssystem von Vorteil wären. Die Global Player werden sich nach kurzer Zeit damit abfinden, weil sie ein solches Verfahren aus anderen Ländern kennen. MDK Forum Wenn das amnog wie geplant also zum 1. Januar 2011 in Kraft tritt, dann hat das iqwig auf jeden Fall viele und vielfältige neue Aufgaben. Wie stellen Sie sich als neuer iqwig-Chef darauf ein? Windeler Die neuen Aufgaben sind natürlich schon alte Aufgaben des iqwig – allerdings in neuer Aus gestaltung. Die fachliche Kompetenz und die Kompetenz bezogen auf bestimmte Verfahrensabläufe ist also vorhanden. Es wird jetzt die besondere Herausforderung sein, die gesetzlich vorgesehene Bearbei tungszeit von drei Monaten einzuhalten. Zum Vergleich: Die derzeitige Bearbeitungszeit beim iqwig liegt bei 18 Monaten. Aber das amnog nimmt u. a. Anhörungsverfahren aus der vorgesehenen Dreimonatsfrist heraus. Genau diese haben bisher entscheidende zeitliche Ressourcen beim iqwig in Anspruch genommen. Sie werden demnächst vorher und hinterher im Gemeinsamen Bundesausschuss stattfinden. Außerdem: Mit der Verpflichtung der Hersteller, Dossiers vorzulegen, werden andere Arbeitsschritte, die das iqwig bisher selber gemacht hat, auf die Hersteller verlagert. Insofern gibt es gute Chancen, die drei Monate für diese innovativen neu zugelassenen Arzneimittel auch zu realisieren. Klar ist aber schon jetzt: Mit dem derzeitigen Personal, mit den derzeitigen Ressourcen ist das nicht zu realisieren. MDK Forum Drei Monate – das klingt ein wenig nach »quick and dirty«? Windeler Ich glaube nicht. Der Hersteller legt ein Dossier mit den Inhalten vor. An dieses Dossier – und das ist der entscheidende Punkt – sind Anforderungen zu stellen, die dann eine fundierte Bewertung ermöglichen. Auf gar keinen Fall darf man tolerieren, dass Anbieter einem möbelwagenweise Leitz ordner vor die Tür kippen. Außerdem können wir die Bewertung sehr eng an der Zulassung machen und damit zusätzlich zu den Herstellerdossiers auf Zulassungsunterlagen zurückgreifen. Das ist auch im amnog so angedacht. Wünschenswert wäre auch der Zugriff auf europäische Zulassungsbehörden. Und natürlich hat bis zu dieser Nutzenbewertung die Erprobung dieses Medikamentes noch in einem vergleichsweise engen Feld stattgefunden. Das heißt, der Hersteller hat noch einen guten Überblick. Alles zusammen sind dies, glaube ich, gute Voraussetzungen, dass das »quick« gehen kann – und dieses »quick« muss nicht »dirty« sein! MDK Forum Wo wollen Sie im iqwig weitere Schwerpunkte setzen? Windeler In Deutschland unter ziehen wir Arzneimittel einer sehr weitreichenden Bewertung in verschiedenen Dimensionen. In anderen Bereichen schauen wir nur oberflächlich oder gar nicht hin! Das gilt zum Beispiel für Diagnostik oder bestimmte Medizinprodukte, aber auch für Operationsverfahren oder für Psychotherapien. Ich werbe explizit im Interesse der Patienten dafür, dass auch in anderen Bereichen die Prinzipien der Nutzenbewertung eingeführt und ernst genommen werden! Dieses Institut macht mehr und soll mehr machen als nur Arzneimittelprüfung. Das Gespräch führte Christiane Grote gesundheit und pflege m d k forum 3/10 Arztbewertung im Internet: Check your Doc! Im I n t e r n e t g i b t e s z u n e h m e n d P o r t a l e , auf denen Patienten ihren Arzt oder ihre Ärztin bewerten können. Doch wie steht es um die Qualität dieser Internetangebote selbst, was können sie leisten und wie aussagekräftig sind die Bewertungen? Diese und weitere Fragen hat der Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement der Universität Erlangen-Nürnberg untersucht. Dr. Martin Emmert gehörte dem Studienteam an und berichtet hier über die Ergebnisse. Arztbewertung im Internet? Ein Thema, von dem man noch vor einiger Zeit gedacht hätte, so etwas würde es nicht geben. Wohl auch ein Indiz dafür, dass der »Halbgott in Weiß« zunehmend kritischer betrachtet wird. Dass durchaus erhebliche Unterschiede in der medizinischen Leistungsfähigkeit der Ärzteschaft bestehen, bestreiten ja nicht einmal Mediziner selbst. Daher ist das Bemühen um mehr Transparenz durchaus zu begrüßen. Für den Patienten soll es einfacher werden, einen guten Arzt zu finden, und die Ärzte selber sollen zu einer besseren Leistungserbringung motiviert werden. Da bislang wenige Untersuchungen zu dem Thema vorhanden sind, wird im Folgenden ein kurzer Überblick über relevante Fragestellungen gegeben. Derzeit dürfte es in Deutschland etwa zwanzig Arztbewertungsportale geben. In unserer 2009 veröffentlichten Studie »Arzt-Bewertungsportale im Internet: Eine qualitative Betrachtung«, haben wir 15 Portale identifiziert. Seitdem sind neue Portale hinzugekommen, erste Übernah- men fanden statt und erst kürzlich hat das Pionierportal Helpster seine inhaltliche Ausrichtung geändert. Auch wenn auf einigen Portalen einige wenige Ärzte bereits eine hohe Anzahl an Bewertungen aufweisen, so ist für die große Mehrheit erst eine bzw. noch keine Bewertung vorhanden. Damit weisen die Portale einen eingeschränkten Nutzen für Patienten auf, die nach Bewertungen für ihren Arzt suchen. Können Portale tatsächlich Qualität identifizieren? Da die Definition eines »guten Arztes« sehr kontrovers diskutiert wird, haben wir untersucht, inwieweit Arzt bewertungsportale dabei helfen können, eine gute Arzt praxis zu finden. Dafür wurden die einzelnen – unterschiedlich umfangreichen – Fragenkataloge der Portale mit 11 Kriterien abgeglichen, die das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (äzq) zum Erkennen einer guten Arztpraxis aufgestellt hat. Hat ein Portal ein Kriterium voll erfüllt, bekam es dafür in unserer Untersuchung 25 26 m d k forum 3/10 gesundheit und pflege zwei Punkte, maximal konnten 22 Punkte erreicht wer- Ernährung hören und nicht wenige Ärzte klagen über Paden. Das Ergebnis fiel überwiegend ernüchternd aus. Das tienten, die bereits bei den ersten Schluckbeschwerden mit zehn Punkten am besten bewertete Portal von Med- ein Antibiotikum verschrieben haben möchten. Fällt die führer deckte die Qualitätskriterien des äzq zu 45,5% ab, Entscheidung des Arztes dann nicht so aus wie vom Patiden zweitbesten Wert erzielte das Portal von Docinsider enten gewünscht, wenn auch vom medizinischen Stand(32%) mit sieben Punkten. punkt gerechtfertigt, kann dies zu Unzufriedenheit fühDie meisten Portale fokussierten sich dabei auf ähn ren, die sich auf einem Portal negativ widerspiegeln könnliche Aspekte, wie die respektvolle Behandlung durch te. Und das, obwohl es genau andersherum sein müsste. den Arzt bzw. das Praxispersonal oder die Erreichbarkeit des Arztes und der Arztpraxis. Ob ein Patient Hinweise auf Welchen Nutzen haben Mediziner weiterführende Informationsquellen und Beratungsange und Patienten von Bewertungen? bote erhält, wurde hingegen auf keinem Portal themati- Wie sollte man nun mit den Ergebnissen der Portale umsiert. Einige Portalbetreiber (z. B. Medführer, Docinsider) gehen? Mediziner sollten die Bewegung auf keinen Fall haben inzwischen ihren Fragenkatalog in diese Richtung unterschätzen. Sie können die Ergebnisse als kostenloses überarbeitet. Feedback nehmen, um die eigene Freundlichkeit oder die Die erreichten Punkte ergeben sich neben der inhalt des Praxispersonals zu überprüfen. Des Weiteren sollte lichen Ausgestaltung auch aus der Anzahl der Fragen. das Stichwort »Selektives Kontrahieren« durch KrankenJe nach Portal beantwortet der Bewerter zwischen vier kassen in diesem Zusammenhang genannt werden. Nicht (Helpster) und dreißig (Medführer) Fragestellungen. Da- ganz unmöglich, dass die Patientenmeinung in Zukunft bei nimmt der Abdeckungsgrad zwar mit einer steigen- eine gewisse Rolle bei der Ausden Anzahl von Fragen zu, der zusätzliche Gewinn mit wahl der Leistungserbringer spie- Auf die Qualifikation eines zunehmender Anzahl der Fragestellungen allerdings ab. len könnte. Für gkv-Versicherte Arztes kann man über die So erreichte beispielsweise Medführer die ermittelten könnte künftig der Nachteil be- Bewertung nicht schließen zehn Punkte durch insgesamt dreißig Fragestellungen, stehen, dass privat Versicherte Docinsider die ermittelten sieben Punkte mit 13 Frage- zunehmend die gut bewerteten Ärzte aufsuchen werden stellungen. und so die zur Verfügung stehende Zeit für die BehandEine Herausforderung liegt auch in der richtigen lung gkv-Versicherter zurückgehen könnte. Patienten Anzahl von Fragen. Patienten füllen umso unwahrschein sollten die Portale nicht als ein abschließendes Informalicher einen Bewertungsbogen aus, je länger dieser ist. tionsmedium betrachten. Derzeit machen die Portale es Wohl auch deshalb werden inzwischen auf einigen Porta- nicht überflüssig, sich auch weiterhin bei Freunden und len zwei Fragenkataloge angeboten, eine Kurz- und eine Bekannten umzuhören, Beratungsstellen aufzusuchen Langversion. Schmähkritik etc. findet man auf den Porta- bzw. den eigenen Arzt zu fragen. Um das in Zukunft leisten len kaum, spezielle Suchfilter sind hierfür von den Portal- zu können, ist noch ein erheblicher Kraftakt vonnöten. betreibern installiert worden. Ob die aok diesen mit ihrem kürzlich ins Leben ge rufenen »Arztnavigator« leisten wird, kann derzeit noch nicht beantwortet werden. Positiv anzumerken ist, dass Manipulation ist möglich Ein Manko vieler Portale ist ihre Manipulationsanfällig- die Bewertungen für einen Arzt erst ab einer gewissen keit. Aufgrund der im Internet gängigen Registrierung Mindestanzahl freigeschaltet werden. Und auch wenn beper E-Mail-Adresse ist es für geübte Internet-Nutzer kein reits erste Meldungen über Fehlbewertungen erschienen Hindernis, mehrere Bewertungen sind, so ist aufgrund der personalisierten Registrierung Die meisten Portale für einen Arzt abzugeben. Gerade von einer geringeren Manipulationsgefahr auszugehen. deswegen sollten Bewertungen fragen nur die Patienten erst ab einer gewissen Mindestan Werden die Bewertungsportale überhaupt genutzt? zufriedenheit ab zahl freigegeben werden. Je höher Trotz intensiven Marketings der Betreiber nutzen laut dabei die Anzahl der Bewertungen, desto geringer ist die einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung Wahrscheinlichkeit, dass mögliche Falschmeldungen ins nur 2% der Bevölkerung die Portale. Von den restlichen Gewicht fallen. 98% haben nur 11% von den Portalen überhaupt Kenntnis Auf den meisten Portalen wird ausschließlich die Pati- genommen. Die Bereitschaft, eine Bewertung abzugeben, entenzufriedenheit abgefragt, vereinzelt noch Angaben um andere bei der Arztsuche zu unterstützen, ist aber zu Wartezeiten, Verkehrsanbindung etc. gemacht. Diese vorhanden. Auch in der nahen Zukunft wird die Qualität Informationsbasis ist zu gering, um aussagekräftige Rück eines Arztes auf keinem der Portale präsentiert. Aber es s chlüsse auf die Qualität eines Arztes zu ziehen. Angaben werden Bemühungen folgen, um die Informationsbreite zu Fort- und Weiterbildungen von Arzt- und Praxisper für die interessierte Bevölkerung zu erweitern. Damit sonal, qm-Systemen, Spezialisierungen und auch wissen- kann zumindest die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, schaftliche Beiträge wären von Interesse. Das würde auch an einen guten Arzt zu gelangen. dazu beitragen, die sog. Soft Skills eines Arztes nicht überzubewerten. Nicht jeder Raucher wird gerne ermahnt, Dr. rer. pol. Martin Emmert, mit dem Rauchen aufzuhören, nicht jeder Übergewichtige Dipl.-Kfm. Lehrstuhl für will den Hinweis auf mehr Sport und eine gesündere Gesundheitsmanagement Uni Nürnberg-Erlangen. martin.emmert@wiso. uni-erlangen.de gesundheit und pflege m d k forum 3/10 27 Patientenrechte In Österreich geht das ganz praktisch W ä h r e n d i n D e u t s c h l a n d die politischen Parteien seit Jahren um ein Patientenrechtegesetz rangeln, haben unsere Nachbarn in Österreich seit über zehn Jahren eine pragmatische Lösung gefunden, um Patientinnen und Patienten schneller zu ihrem Recht kommen zu lassen: außergerichtliche Patientenanwaltschaften helfen im Streitfall. Insgesamt neun Patientenanwaltschaften gibt es bei unseren südlichen Nachbarn. Es sind unabhängige und weisungsfreie Serviceeinrichtungen zur Sicherung der Rechte und Interessen von Patienten sowie – in einigen Bundesländern – von pflegebedürftigen Menschen. In den meisten Bundesländern erstreckt sich ihre Arbeit auf die Spitäler. Über die Zuständigkeit entscheidet der Sitz der Gesundheitseinrichtung und nicht der Wohnort des Patienten. Wer Hilfe bei Missständen, Mängeln und Streitfällen benötigt, kann sich kostenlos an die Patientenanwaltschaften wenden. Sie versuchen, zum Beispiel bei Behandlungsfehlern, vor Einschaltung der Schiedsstellen und Gerichte den Streit beizulegen. »Das ›außergerichtliche Fehlermanagement‹ hat nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Einrichtungen große Vorteile«, erklärt Dr. Gerald Bachinger, Leiter der Niederösterreichischen Patienten- und Pflegeanwaltschaft. »Der Konflikt wird schnell und unbürokratisch aufgearbeitet, es gibt kein Kostenrisiko für die Parteien und aussichts Außergerichtliches lose Gerichtsprozesse können im Fehlermanagement dient Patienten und Einrichtungen Vorfeld vermieden werden.« Obwohl sich die Patientenanwaltschaften als Sprachrohr für die Patienten verstehen, sind sie nicht berechtigt, Vertretungen vor Gericht zu übernehmen. »Die Konfliktparteien müssen sich darauf verlassen können, dass wir nach bestem Wissen und Gewissen vorgehen und uns ausschließlich nach fachlichen Gesichtspunkten orientieren«, ergänzt Bachinger. Die zumeist von Juristen geleiteten Patientenanwaltschaften kooperieren in einer bundesweiten Arbeitsgemeinschaft. Dr. Gerald Bachinger Zusammenarbeit gesetzlich geregelt Gesetzlich geregelt ist auch, dass die Krankenhäuser mit den Patientenanwaltschaften zusammenarbeiten müssen. Das schließt die Herausgabe von Behandlungsunterlagen und eine dazugehörige Stellungnahme mit ein. Etwa 70% aller Beschwerden haben keine Aussicht auf erfolgreiche haftungsrechtliche Weiterverfolgung. »Bei offensichtlichen Behandlungsfehlern treten wir gleich an die Haftpflichtversicherungen heran, bei zweifelhaften Fällen besteht Das Rechtsverständnis in die Möglichkeit, Gutachten einzu- Deutschland erstickt holen bzw. die Schiedsstellen zu pragmatische Lösungen befassen. Die Versicherer wissen inzwischen, dass unsere Forderungen angemessen sind«, sagt Bachinger. »Etwa 90% der Fälle, denen wir nachgehen, können außergerichtlich abgeschlossen werden.« Auf dem Weg zu einem Patientenrechtegesetz in Deutschland Die schwarz-gelbe Regierung hat im Koalitionsvertrag vorgesehen, die Patientenrechte in einem eigenen Patientenschutzgesetz zu bündeln, das in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten am Gesundheitswesen erarbeitet werden soll. Patientenrechte betreffen viele Bereiche des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient – angefangen bei der Einsicht von Behandlungsunterlagen bis hin zur juristischen Bewertung bei Behandlungsfehlern. Die Rechte der Patienten sind hierzulande in unterschiedlichen Gesetzen verankert, wie zum Beispiel im Haftungsrecht, im ärztlichen Berufsrecht, im Arzneimittelrecht und im Krankenversicherungsrecht. Patientenrechte sind bisher eher durch Interpretationen der Rechtspraxis, insbesondere durch Rechtsprechung, ent standen. Seit Jahren machen sich in Deutschland verschiedene Interessengruppen wie z. B. Verbraucherschützer oder Patienten organisationen für ein Patientenrechtegesetz stark. Im August 2009 kündigte die damalige Justizministerin Brigitte Zypries ( S P D ) erneut ein Patientenrechtegesetz an, damit Betroffene ihre Ansprüche gegen Ärzte einfacher verfolgen können. Die Arbeitsgruppe Patientenrechtegesetz der S P D -Bundestagsfraktion hat im Mai Eckpunkte für ein Gesetz beschlossen, das Rechte und Pflichten von Patientinnen und Patienten sowie Leistungserbringern ausdrücklich regelt und zusammenfasst. 28 m d k forum 3/10 gesundheit und pflege Zu Bachingers Team gehören unter anderem ein Arzt und ein Krankenpfleger. Benötigen sie zusätzliche medizinische oder pflegefachliche Expertise, stehen einigen Patientenanwaltschaften auch Budgets für externe Gutachter zur Verfügung. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit beträgt sechs bis neun Monate und kann bei komplizierten Fällen auch bis zu 15 Monate dauern. Entschädigungsfonds zahlt unbürokratisch Was in Deutschland noch Zukunftsmusik ist, hat sich in Österreich seit vielen Jahren bewährt: der Entschädigungsfonds. Wenn die Haftung fraglich ist, kann der Entschädigungsfonds einen gewissen finanziellen Ausgleich schaffen. Dafür fließen von den 10 € täglicher Krankenhauszuzahlung des Patienten 0,73 € in den Fonds. »Sinn des Fonds ist nicht die Entlastung der Haftpflichtversicherungen«, erklärt Bachinger. Wenn später doch noch die Haftpflicht eintritt, muss der Patient die Summe an den Fonds zurückzahlen. Über die Zahlungen aus dem Fonds entscheidet eine fünfköpfige unabhängige Kommission, in der unter anderem ein Richter und ein Arzt vertreten sind. In Niederösterreich ist die maximale Entschädigungssumme mit 150 000 € relativ hoch. In anderen Bundesländern kann sie weit darunterliegen. »Wegen der hochgradigen Einzelfallorientierung und den großen Entscheidungsspielräumen der Entschädigungsfonds halte ich ein derartiges Vorgehen in Deutschland für schwer durchführbar«, sagt Bachinger. Vorbeugen statt zahlen Neben der Regulierung von Beschwerden liegt Bachinger besonders der präventive Ansatz am Herzen. »Viele Patien ten kommen zu uns, weil sie nicht wollen, dass anderen Patienten Ähnliches passiert.« Deswegen trifft sich der Jurist regelmäßig mit den Qualitätsmanagern der Kranken häuser, um über »Lernpotenziale« aus abgeschlossenen Fällen zu berichten und zu diskutieren. »Mein Ziel ist es, dass es erst gar nicht zum Fehler kommt.« Bachinger würde das System der Patientenanwaltschaften durchaus auch für Deutschland empfehlen. Das setze allerdings ein kulturell anderes juristisches Verständnis voraus. »Ich kann mir vorstellen, dass das Rechtsverständnis in Deutschland oft pragmatische Lösungen zum Wohl des Patienten im Keim erstickt.« Martin Dutschek und Dr. Uwe Sackmann Interview mit dem Patientenbeauftragten Wolfgang Zöller Vor amerikanischen Verhältnissen schützen S e i t 2 0 0 4 g i b t e s e i n e n P a t i e n t e n b e a u f t r a g t e n der Bundesregierung in Deutschland, der für die Belange der Patientinnen und Patienten zuständig ist. 2009 hat Wolfgang Zöller (CSU-MdB) dieses Amt übernommen. Zöller plant bis Ende des Jahres einen Entwurf für ein Patientenrechtegesetz vorzulegen. Wir befragten ihn zu Inhalten. MDK Forum Herr Zöller, was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Punkte, die ein Patientenrechte gesetz enthalten müsste? Wolfgang Zöller Die derzeit zersplitterte, unklare und selbst für Juristen schwer zu überblickende Rechtslage macht es den Patientinnen und Patienten schwer, ihre Ansprüche durchzusetzen. Deshalb muss Klarheit darüber hergestellt werden, welche Rechte und Pflichten sich für die Beteiligten z. B. aus dem Behandlungsvertrag ergeben. Wichtig wird auch die Stärkung der Rechte gegenüber Leistungserbringern, eine bessere Information des Patienten und eine Implementierung von Risiko- und Fehlermelde- systemen sein. Zudem muss die Position der Opfer von Behandlungsfehlern gestärkt werden. MDK Forum Wie kann ein Patientenrechtegesetz dazu beitragen, dass in Zukunft weniger Fehler passieren? Wolfgang Zöller Wir benötigen eine wesentlich bessere Fehlerprävention und Fehlervermeidungskultur. Fehler müssen nicht erst selbst gemacht werden, um aus ihnen zu lernen. Hierfür sind mehr Infor mationen über die Schwachstellen in Behandlungsabläufen notwendig. Deshalb möchte ich flächendeckende Risikomanagement- und Fehler meldesysteme im ambulanten und stationären Bereich implemen tieren. MDK Forum Die spd spricht sich für eine Beweislastumkehr bei schweren Behandlungsfehlern aus. Wieso sind Sie dagegen? Wolfgang Zöller 29 gesundheit und pflege m d k forum 3/10 Wolfgang Zöller Eine allgemeine Umkehr der Beweislast könnte dazu führen, dass Patienten bestimmte Behandlungen nicht mehr angeboten oder Fehler vertuscht werden. Zudem steht zu befürchten, dass die Haftungsprämien für die Ärzte in die Höhe getrieben werden und dann hier bald amerikanische Verhältnisse herrschen würden, in denen für die Absicherung gegen Klagen mehr Geld ausgegeben werden muss als für die Behandlung der Patienten. Nicht ausschließen möchte ich jedoch eine Beweislastverlagerung auf den Arzt in gravierenden Fällen, zum Beispiel, wenn die Herausgabe von Dokumenten verweigert wurde. MDK Forum Sie erhalten tagtäglich viele E-Mails von Patienten, die sich nicht ordnungsgemäß behandelt fühlen. Was sind die häufigsten Fragestellungen, die an Sie heran getragen werden? Wolfgang Zöller Die an mich gerichteten Anliegen der Patientinnen und Patienten erfassen alle Bereiche des Gesundheitswesens, wie z. B. den Verdacht eines Behandlungsfehlers, die Ablehnung bestimmter Maßnahmen durch die Krankenkasse oder den Austausch von Arzneimitteln in der Apotheke. Patientinnen und Patienten, die sich an mich wenden, bekommen kurzfristig eine verständliche Antwort. Dabei wollen mein Team und ich den Menschen einen Weg aufzeigen, wie sie zu ihrem Recht kommen können. Die Fragen stellte Friederike Geisler Junge Pflegebedürftige im Heim: Tanztee ist nicht angesagt J ü n g e r e P f l e g e b e d ü r f t i g e müssen anders versorgt werden und haben andere Interessen als Ältere. Darauf gehen immer mehr Pflegeheime mittlerweile mit speziellen Angeboten ein. Die Pflege von »jüngeren« Bewohnern stellt das Personal jedoch vor ganz neue Herausforderungen: Der Umzug in ein Pflegeheim ist besonders für Menschen zwischen 30 und 60 Jahren eine große Belastung. Für diese Gruppe spielt häufig die psychosoziale Betreuung eine große Rolle. Stefan Richter ist großer Musik-Fan. In seinem Zimmer wir den 49-jährigen Single-Motorradfahrer mit Eltern, die stapeln sich cds von Bruce Springsteen bis Bob Dylan. selbst im pflegebedürftigen Alter sind. Wenn der einen Wie das typische Zimmer eines Pflegeheimes sieht es Unfall hat, kommt er in ein normales Alten-Pflegeheim. nicht aus. Aber es ist auch kein typisches Pflegeheim. Der Vielleicht ist er durch den Unfall nur körperlich eingeim April 2010 eröffnete Bereich »Young Care« des Hauses schränkt, bekommt sonst aber noch alles mit und lebt Florali im niedersächsischen Bad Nenndorf richtet sich dann mit teilweise Achtzig- bis Neunzigjährigen demen an Pflegebedürftige im Alter von vierzig bis sechzig Jah- tiell Erkrankten zusammen.« ren. Er ist von dem Rest der Einrichtung getrennt, so dass die Bewohner mittleren Alters unter sich sein können. Viele gängige Aufgaben der Altenpflege entfallen Die Idee dazu kam Heimleiterin Angela Linder, als eine »Young Care« bietet zehn vollstationäre Plätze. Sieben Miterst 39-jährige Bewohnerin in das Pflegeheim aufgenom- arbeiter kümmern sich dort um die bisher acht Bewohner. men wurde. Die Frau litt an der Erbkrankheit Huntington, Fünf von ihnen haben Huntington, zwei multiple Sklerobei der die Betroffenen ab einer bestimmten Phase ihren se (ms). Im Gegensatz zu »normalen« Altenpflegeheimen Körper nicht mehr richtig kon steht hier nicht die Pflege, sondern eher die psycho lteren soziale Betreuung im Vordergrund. Die gängigen AufgaJüngere und ältere Menschen trollieren können. »Die ä Bewohner haben ganz skep- ben in der Altenpflege, wie die Kontrolle der Hautfalten verarbeiten Pflege bedürftigkeit unterschiedlich tisch reagiert. Wenn beim Es- oder die Positionsveränderung, fallen hier meist weg, weil sen etwas danebengegangen ist, die Bewohner noch junge Haut haben bzw. sich selbst bekamen Sprüche wie ›Iss doch vernünftig‹«, berichtet Lin- wegen können. »Im ›Young Care‹-Bereich ist es wichtiger, der. »Sie konnten nicht verstehen, dass eine so junge Frau dass die Bewohner feste Ansprechpartner haben, die sich so krank sein kann. Das kennen sie nur von Menschen in um sie kümmern. Das ist für die Mitarbeiter eine ganz anihrem Alter.« Angela Linder und ihre Kollegen beschlos- dere Herausforderung«, berichtet Pflegerin Uta Behrenssen daraufhin, sich dieser Gruppe anzunehmen. »Nehmen Henning. »Wir haben zum Beispiel einen Bewohner, der 30 gesundheit und pflege m d k forum 3/10 früher als Jurist gearbeitet hat und seinen Job wegen der Krankheit aufgeben musste. Das hat er bis heute noch nicht verkraftet und lässt uns das jeden Tag spüren.« »Irgendwann möchte ich in meine Wohnung zurück« Auch Heike Grunwald hat ihre Krankheit noch nicht akzeptiert. Die frühere Speditions-Angestellte leidet seit Jahren unter ms und musste ihre Wohnung verlassen, weil sie allein nicht mehr zurechtgekommen ist. Den Aufenthalt im Heim betrachtet sie jedoch als eine Übergangslösung. »Bisher habe ich mich damit noch nicht abgefunden, irgendwann möchte ich wieder in meine Wohnung zurück«, sagt Heike Grunwald entschlossen. Das Konzept von »Young Care« gefällt der 54-Jährigen gut – mit älteren Bewohnern zusammenzuleben, könne sie sich nicht vorstellen. »Ich komme mit älteren Menschen gut klar, manchmal sogar besser als mit Jüngeren. Aber auf die Dauer wäre das keine gute Lösung.« Oberstes Ziel: die Alltagsrealität abbilden Die Diplom-Pflegewirtin und Autorin Margarete Stöcker hat sich sowohl in ihrem Studium als auch in einer eige- nen Einrichtung mit dem Thema »junge Pflegebedürftige« beschäftigt. Sie betont die Wichtigkeit einer psychosozialen Betreuung: »Der Ältere ›altert‹ in seine Pflegebedürftigkeit. Der Jüngere wird mitten aus dem Leben gerissen und muss sich erst einmal mit der Frage auseinandersetzen: ›Wie gehe ich mit dieser Situation um, die ich mir eigentlich für einen späteren Zeitpunkt gedacht habe?‹« Eine strikte Trennung zwischen Alt und Jung hält Stöcker nicht in jedem Fall für sinnvoll. »Wir haben ja heute sowohl den Achtzigjährigen, der tagtäglich im Internet unterwegs ist, genauso wie den Zwanzigjährigen, der sich gar nicht dafür interessiert«, sagt die Heilpraktikerin für Psychotherapie. »Das oberste Ziel der Pflegeeinrichtung sollte Bei jüngeren Pflegebedürf es sein, die ›Normalität des All- tigen sollte der Schwerpunkt tags‹ abzubilden, so dass man auf Rehabilitation liegen sein Leben – mit den neuen Einschränkungen – weiterleben kann.« Besonders bei jün geren Pflegebedürftigen sollte der Schwerpunkt auf die Rehabilitation gelegt werden, so dass sie die Möglichkeit haben, ihre verlorenen Fähigkeiten – zumindest teilweise – wiederzuerlangen. »Hier stellt sich die Frage: ›Wie kann gesundheit und pflege m d k forum 3/10 ich den Pflegebedürftigen darin stabilisieren, mit den ihm gebliebenen oder wiedererlangten Fähigkeiten umgehen zu können?‹« Flachbildfernseher und Spaghetti Bolognese Im Haus Florali versuchen die Mitarbeiter sowohl in der Einrichtung als auch in der Betreuung auf die Interessen der »jüngeren Generation« einzugehen. So sind die Zimmer und der Aufenthaltsraum mit Flachbild-Fernsehern ausgestattet, und auch die Möblierung und Dekoration der Räume ist sehr modern gehalten. »Der Unterschied zwischen Jung und Alt beginnt ja schon beim Essen. Sehr beliebt ist in dem neuen Bereich Spaghetti Bolognese. Damit kann eine achtzigjährige Bewohnerin nicht viel anfangen. Sie bevorzugt Kartoffeln«, sagt Heimleiterin Angela Linder. Auch die Aktivitäten werden an die Vorlieben der Jüngeren angepasst. So helfen die Betreuer den Bewohnern beim Schminken und gehen mit ihnen zu Rockkonzerten. »Man muss sich einfach immer fragen: Was würde ich wollen, wenn ich auf einmal pflegebedürftig wäre?«, sagt Uta Behrens-Henning. »Natürlich sind sie nicht mehr komplett selbstständig, aber sie erhalten bei uns eine neue Selbstständigkeit. Wenn sie noch laufen können, läuft man »Was würde ich selbst mit ihnen, wenn sie noch sprewollen, wenn ich pflege chen können, spricht man.« bedürftig wäre?« Wer im mittleren Alter pflegebedürftig wird, hat mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen wie z. B. ein Siebzigjähriger. Dieser hat vielleicht noch einen Partner oder Kinder, die sich um ihn kümmern können. Jüngere dagegen haben womöglich selbst Kinder, um die sie sich kümmern müssen, und der Partner ist voll berufstätig. »Bei einer fortgeschrittenen Pflegebedürftigkeit bleibt dann oft keine andere Möglichkeit«, sagt Linder. Weg von der klassischen Altenpflege Auch im Altenheim St. Josefshaus im westfälischen Rheine gibt es seit dem Frühjahr 2009 eine Abteilung speziell für Jüngere. 16 Pflegebedürftige im Alter von 27 bis 55 Jahren wohnen dort mittlerweile. Auch sie leiden vorwiegend unter Huntington oder multipler Sklerose. Der Start des Wohnbereichs »Junge Pflege« in Rheine war etwas holprig. »Der Bedarf war da, das haben wir in unserem Haus schon vorher gemerkt«, berichtet die Einrichtungsleiterin Jutta Herking. »Wir mussten uns auf diese neue Zielgruppe jedoch komplett neu einstellen. Das hat mit der klassischen Altenpflege überhaupt nichts zu tun.« Einmal im Monat nehmen die Mitarbeiter an einer Supervision durch eine externe Fachkraft teil. Im Gegensatz zur klassischen Altenpflege, die stark mit körperlicher Anstrengung verbunden ist, stellt die Arbeit in der Jungen Pflege vor allem eine psychische Belastung dar. »Allein die Tatsache, dass die Bewohner häufig so alt sind wie die Pflegekräfte selber, ist schon eine Herausforderung. Hinzu kommt, dass jüngere Bewohner sich oft noch überhaupt nicht abgefunden haben mit der Tatsache, dass sie Hilfe brauchen. Das macht die Pflege nicht unbedingt einfacher«, so Jutta Herking. Die »Junge Pflege« Rheine hält für ihre Bewohner ein breites Angebot an altersgemäßen Aktivitäten bereit wie Grillabende, Kinobesuche oder Kochgruppen. »Auch die Familien der Bewohner engagieren sich sehr stark in der Gestaltung der Aktivitäten.« Trotz Startschwierigkeiten bereut Jutta Herking die Einrichtung des Wohnbereichs speziell für jüngere Pflegebedürftige nicht. So berichtet sie von einem Bewohner, der unter Huntington leidet und zuvor in der Altenpflege mit achtzig- oder neunzigjährigen Bewohnern zusammen lebte. »Zuletzt hatte er kaum mehr ein Wort gesprochen und sich sehr zurückgezogen. In der ›Jungen Pflege‹ blühte er komplett auf und freut sich, mit Gleichaltrigen reden zu können.« Friederike Geisler Jüngere Pflegebedürftige Als »jünger« werden Pflegebedürftige üblicherweise bezeichnet, wenn sie zwischen 30 und 60 Jahre alt sind. Das betrifft in Deutschland 0,5% dieser Altersgruppe, also rund 115 000 Frauen und 130 000 Männer. In stationären Pflegeeinrichtungen werden ca. 30 000 Frauen und 40 000 Männer versorgt. Pflegebedürftig werden Menschen dieser Altersgruppen häufig aufgrund von Unfällen, neuro logischen oder onkologischen Erkrankungen. Damit unterscheidet sich nicht nur ihr somatischer Pflegebedarf grundlegend von dem betagter und hochbetagter Menschen, sondern sie haben auch andere Erwartungen an die Lebens- und Pflegesituation: Sie wünschen sich einen stärker individualisierten Tagesablauf; Themen wie Liebe und Sexualität nehmen einen höheren Stellenwert ein. l l i t e rat ur t i p p Margarete Stöcker: Spezialisierung stationärer Pflegeeinrichtungen – Konzept entwicklung im Rahmen von E F Q M zur Versorgung von jüngeren pflegebedürftigen Menschen. Diplomarbeit 2006 www.junge-pflege-rheine.de www.florali-zu-bad-nenndorf.de 31 32 die politische kolumne m d k forum 3/10 Prämie durch die Hintertür N a c h d e r S o mm e r p a u s e g e h t K a n z l e r i n A n g e l a M e r k e l in die Offensive: Schluss mit Zwietracht und Kakofonie in der schwarz-gelben Koalition. Konkrete Entscheidungen sollen jetzt endlich auf den Tisch. Doch bei der Gesundheit könnte es trotz offizieller Einigung noch ein holpriger Weg werden. Zu viele Fragen sind noch offen. Nein, wie ein Verlierer wollte Gesundheitsminister Philipp Rösler auf keinen Fall aussehen. Selbstbewusst trat der fdp-Politiker Anfang Juli vor die Kameras in Berlin. In der Aktentasche sein vierseitiges EckpunktePapier. Überschrift: Für ein gerechtes, soziales, stabiles, wettbewerbliches und transparentes Gesundheitssystem. So sperrig wie der Titel fielen auch seine Ausführungen aus. Vielleicht war es Strategie, um davon abzulenken, dass es sich bei dem Gesundheits-Kompromiss bei weitem nicht um die versprochene Jahrhundert-Reform handelt. Was hatten fdp und csu um die Gesundheitsreform gestritten! Mal beschimpfte man sich als »Gurkentruppe« oder bescheinigte dem Gegner das Auftreten einer Wildsau. Doch wer hat letztendlich gewonnen – csu-Chef Horst Seehofer oder fdp-Hoffnungsträger Rösler? Na türlich sehen sich beide als Sieger. Seehofer beteuert unentwegt, dass nur durch sein beherztes Eingreifen die Kopfpauschale in letzter Sekunde Der Gesundheitskompromiss: verhindert wurde. Und Rösler? von einer Jahrhundertr eform Der 37-Jährige blieb bei der Pressekonferenz in Berlin ganz kühl weit entfernt und zitierte zum Schluss sogar Altkanzler Helmut Kohl (cdu): »Entscheidend ist letztendlich, was hinten rauskommt.« Beitragserhöhung soll Milliarden-Lücke im Gesundheitsfonds schließen Was aber ist das Ergebnis der Reform? Zunächst besteht das Paket aus drei Teilen: Beitragserhöhung, Zusatzbeiträge und Sparmaßnahmen. Für die Anhebung des bundesweit einheitlichen Beitragssatzes von 14,9 auf 15,5% hätte sich die Koalition nicht fast ein Jahr streiten müssen. Ein bisschen an der Beitragsschraube drehen – das ist nicht besonders einfallsreich. Schwarz-Gelb blieb jedoch keine andere Wahl. Angesichts der drohenden ElfMilliarden-Lücke im Gesundheitsfonds im nächsten Jahr musste die Regierung rasch handeln. Ansonsten hätten spätestens 2011 reihenweise Krankenkassen Insolvenz angemeldet. Um die Katastrophe abzuwenden, war die Koalition sogar bereit, ihren eigenen Koalitionsvertrag zu brechen. So steigt entgegen der Abmachung der Arbeit geberbeitrag. Versicherte sollen medizinischen Fortschritt und demografischen Wandel künftig allein bezahlen künftig allein bezahlen. Stichwort Zusatzbeiträge: Die bisher gültige Obergrenze von 1% des Brutto-Verdienstes fällt. »Die Kassen können künftig den Zusatzbeitrag völlig frei wählen«, erklärte Rösler. Damit erhielten die Versicherungen die Finanzautonomie zurück. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit – denn der bundesweit einheitliche Beitragssatz bleibt bestehen. 50 € Zusatzbeitrag in 2015? Die neuen Zusatzbeiträge sind das innovativste und zugleich umstrittenste Element der Reform. Ihre wahre Wirkung wird Röslers Mini-Prämie erst in ein paar Jahren entfalten, wenn die Zusatzbeiträge bei 30, 40 oder sogar 50 € im Monat liegen. Wann diese Werte erreicht werden – darüber streiten Experten. Günter Neubauer, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomik in München, rechnet bereits 2015 mit einer Extra-Gebühr von 50 € im Monat. »Wenn die Kosten im Gesundheitswesen weiter so anwachsen wie bisher, dann müsste der Zusatzbeitrag im Schnitt jedes Jahr um 10 € steigen«, sagte Neubauer. Bei einem geringen Verdienst könnte der Zusatzbeitrag also schon bald den regulären Kassenbeitrag übersteigen. Röslers belächelte Mini-Prämie hätte sich dann als Kopfpauschale entpuppt. Um Rentner und Geringverdiener nicht übermäßig zu belasten, ist ein komplizierter Sozialausgleich geplant. Dazu berechnet das Bundesversicherungsamt (bva) jedes Jahr einen durchschnittlichen Zusatzbeitrag, der zur Finanzierung der wachsenden Ausgaben nötig ist. Die sogenannte Überforderungsklausel greift, wenn der vom bva errechnete Zusatzbeitrag 2% des beitragspflichtigen Einkommens überschreitet. Ein Beispiel: Das bva kommt auf einen durchschnittlichen Zusatzbeitrag von 16 € im Monat. Wer weniger als 800 € brutto im Monat verdient, erhält also staatliche Hilfe. So weit die Theorie – in der Praxis gibt es allerdings noch viele offene Fragen: Wer wickelt den Sozialausgleich ab? Arbeitgeber oder Krankenkassen? Muss ein Antrag auf Sozialausgleich gestellt werden oder wird ein automatisiertes Verfahren eingeführt? Wer kontrolliert, dass es keinen Missbrauch gibt? Hinter vorgehaltener Hand räumen Gesundheitsexperten der Koalition ein, dass es bei der Ausgestaltung des Sozialausgleichs noch gewaltige Schwierigkeiten gibt. Mancher geht sogar davon aus, dass der Sozialausgleich nicht pünktlich zum 1. Januar 2011 starten kann. Die Unternehmen haben dennoch keinen Grund zu klagen. Nach Röslers Willen ist es die letzte BeitragsanheSchäuble und Rentner sind Verlierer bung. Die Kosten für den medizinischen Fortschritt und Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer der Reform? Zu den demografischen Wandel müssen die Versicherten den Leidtragenden gehören vor allem Rentner. Während die politische kolumne m d k forum 3/10 Arbeitnehmer höhere Kassenbeiträge und Zusatzbeiträge von der Steuer absetzen können, nützt dies den Ruheständlern wenig: Sie zahlen meist keine Steuern. Berechnungen des Bundes der Steuerzahler zeigen, dass manch Gutverdiener deutlich weniger belastet wird als auf den ersten Blick erwartet. »Wer als Single 3750 € brutto im Monat verdient, zahlt künftig pro Jahr 135 € mehr Kassenbeitrag«, erklärte Olaf Schulemann vom Bund der Steuerzahler. Durch den positiven Steuereffekt reduziere sich die Mehrbelastung auf etwa 80 €, so Schulemann. Verlierer der Reform ist also auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (cdu). Massiver Ärger droht Schwarz-Gelb beim dritten Teil der Reform – den geplanten Einsparungen. Allein 2011 sind Einschnitte von rund 3,5 Milliarden Euro vorgesehen. Den größten Anteil soll die Pharmaindustrie leisten. Aber auch Krankenkassen, Kliniken Hausärzte auf Krawall und Ärzte müssen kräftig sparen. Nicht alle werden die Kürzungen gebürstet widerstandslos schlucken. Einen kleinen Vorgeschmack auf das, was auf die Koalition zukommen könnte, lieferte der zweitägige Streik der bayerischen Hausärzte Ende August. Bereits zuvor hatte der Deutsche Hausärzteverband mit Horrorszenarien bundes weit für Aufsehen gesorgt. Wenn die Vergütung bei den Hausarztverträgen mit den Kassen eingeschränkt werde, würde »ein Landkreis nach dem anderen zusammenbrechen«, weil keine jungen Ärzte mehr nachkämen, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hausärzteverbandes, Eberhard Mehl. »Und diese Entscheidung wird viele Menschenleben kosten.« Reform auf wackeligen Beinen Massive Proteste der Lobbyisten, offene Detailfragen und Rangeleien mit dem Koalitionspartner – keine Gesundheitsreform der letzten Jahre ging geräuschlos über die Bühne. Und doch ist diesmal einiges anders: Kein Regierungsbündnis galt bereits ein Jahr nach der Wahl als so zerstritten wie diese schwarz-gelbe Koalition. Was heißt das für die Reform? Als Schwarz-Rot im Streit zwischen Bürgerversicherung und Kopfpauschale Mitte 2006 den Gesundheitsfonds ersann, waren weder Krankenkassen noch Experten begeistert. Doch allen war rasch klar: Widerstand ist zwecklos, die neue zentrale Geldsammelstelle kommt. Dafür standen zwei mächtige Frauen: Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (spd). Heute will keiner eine Prognose wagen, ob die Regierung die geplante Reform mit kräftig steigenden Zusatzbeiträgen wirklich konsequent umsetzt. Was passiert, wenn erstmals bei Rentnern der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, um den ausstehenden Zusatzbeitrag einzutreiben – und die Boulevardmedien groß darüber berichten? Gut möglich, dass das letzte Wort bei dieser Reform noch nicht gesprochen ist. Steffen Habit ist Wirtschaftsredakteur beim Münchner Merkur. I M P RESSU M MDK Forum. Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung Herausgegeben vom Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. 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