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Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 37. Jahrgang »Gerecht ist anders ...« Auswirkungen der Globalisierung auf psychisch kranke und behinderte Menschen W. Rätz Zeit der Erschöpfung M. Schenk (Österreich) Beseelung und Verwaltung D. Petry (Niederlande) Wie lange hält das Netz für psychisch kranke Menschen? J. Gassmann (Schweiz) Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung S. Pöld-Krämer Ökonomisch kontraproduktive Verteilungen der Wertschöpfung H.-J. Bontrup Psychisch kranke Menschen im Dschungel der Sozialgesetzgebung H. Roelfs, U. Gieselmann Arbeitsrehabilitation auf einem ständig schrumpfenden Arbeitsmarkt – macht das noch Sinn? P. Weber, S. Prins Denken Sie sich die Gesichter doch einfach weg ... Interview Das bedingungslose Grundeinkommen W. Nestle Stimmt unser Arbeitsbegriff noch? K. Groth Warum wir nicht arbeiten »müssen« S. Prins »Alte Texte – neu gelesen« Vita activa oder vom tätigen Leben H. Arendt Psychiatrie-Verlag Inhalt Editorial Sozialrechtsreformen auf Erfolgskurs Silvia Pöld-Krämer 32 1 Themenschwerpunkt: »Gerecht ist anders ...« Auswirkungen der Globalisierung auf psychisch kranke und behinderte Menschen Arbeitsrehabilitation auf einem ständig schrumpfenden Arbeitsmarkt – macht das noch Sinn? Peter Weber im Gespräch mit Sibylle Prins 33 Werner Rätz 2 Denken Sie sich die Gesichter doch einfach weg ... Zeit der Erschöpfung Interview 39 Martin Schenk (Österreich) 4 Beseelung und Verwaltung Das bedingungslose Grundeinkommen Detlef Petry (Niederlande) 6 Wilhelm Nestle 42 Wie lange hält das Netz für psychisch kranke Menschen? Aus: Wer hat Angst vor der freien Zeit? Jürg Gassmann (Schweiz) 12 Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung Silvia Pöld-Krämer 15 Ökonomisch kontraproduktive Verteilung der Wertschöpfung Heinz-J. Bontrup 25 Schön für den Luxuskonsum Sibylle Prins 28 Psychisch kranke Menschen im Dschungel der Sozialgesetzgebung Heinz Roelfs und Ulrike Gieselmann 29 Guillaume Paoli 47 Stimmt unser Arbeitsbegriff noch? Karsten Groth 47 Warum wir nicht arbeiten »müssen« Sibylle Prins 50 Aus: Lasst euch nicht gehen Guillaume Paoli 53 »Alte Texte – neu gelesen« Hannah Arendt Vita activa oder vom tätigen Leben 54 »Wie geht es eigentlich den Sozialpsychiatrischen Diensten in ... Berlin?« Ilse Eichenbrenner, Detlev E. Gagel, Dieter Lehmkuhl 56 Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 1 Editorial »Gerecht ist anders ...« Erst war’s nur ein Arbeitstitel. Dann fanden wir, dass der Titel schlicht und einfach ein elementares Erleben zahlreicher Menschen festhält: Es ging schon mal gerechter zu. Falls diese Behauptung zutrifft, was hat sich verändert und warum? Was sind die Auswirkungen und wie kann und soll es weitergehen? Was ist unsere Rolle dabei? Weil wir überzeugt sind, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, zu den besonders neugierigen, kritischen, gewitzten und aufgeschlossenen Zeitgenossen/innen gehören, konfrontieren wir Sie in diesem Heft zwar wieder einmal nicht mit fertigen Antworten, dafür aber mit einigen Herausforderungen für Fantasie und Nachdenklichkeit. Erstens muten wir Ihnen mit den ersten vier Artikeln zu, über den bundesdeutschen Tellerrand hinaus sozialpolitische Probleme unter globaler (W. Rätz) und europäischer Perspektive wahrzunehmen. (M. Schenk, D. Petry, J. Gassmann). Diese Zumutung ist eigentlich keine, da die Beiträge hierzu alle leicht lesbar sind. Sie sind einerseits informativ und andererseits mit deutlicher Leidenschaftlichkeit geschrieben. Zweitens kann jeder, der genauer verstehen will, was sozial- und wirtschaftspolitisch in Deutschland vorgeht, und der nach sorgfältigen Analysen sucht, sein Wissen durch die dann folgenden Artikel von S. Pöld und H. Bontrup vertiefen. Dies wird einige Konzentration erfordern, lohnt sich aber unbedingt. Drittens haben wir Beiträge aufgenommen, die besonders nah am Erleben von Klienten und Mitarbeitern bleiben. Für Praktiker werden unter diesem Gesichtspunkt vielleicht der Artikel »Psychisch kranke Menschen im Dschungel der Sozialgesetzgebung« von H. Roelfs und U. Gieselmann und das Interview mit einer Werkstattleiterin unter dem vielsagenden Titel »Denken Sie sich die Gesichter doch einfach weg« der beste Einstieg in das Heft sein. Viertens haben wir einen besonderen Schwerpunkt auf das Thema »Arbeit« gelegt. Durch die diesbezüglichen Beiträge aller Autorinnen und Autoren wird mehr als deutlich, dass wir nicht mehr so tun können, als sei der allgemeine Arbeitsmarkt noch ein Arbeitsmarkt für alle, auch wenn von einigen Politikern und manchen Sozial- und Rehabilitationsprofis diese Fiktion aufrechterhalten wird. Die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern wird immer größer. Verlierer sind die, die das System nach hinten rauswirft. Welche sinnvollen Ziele könnte und sollte Rehabilitation psychisch kranker Menschen unter Anerkennung der derzeitigen Arbeitsrealitäten haben? (Dialog zwischen Ergotherapeut P. Weber und S. Prins vom Verein Psychiatrie-Erfahrener Bielefeld) Brauchen wir vielleicht ein ganz anderes Verständnis von Arbeit? (K. Groth). Und warum sollen eigentlich alle arbeiten? (S. Prins) Wäre es vielleicht eine Lösung, die finanzielle Absicherung der Menschen deutlicher und menschenwürdiger von der Erwerbsarbeit abzukoppeln Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 und Voraussetzungen für ein bedingungsloses Grundeinkommen zu schaffen? (W. Nestle) Fünftens lassen wir unter der Rubrik »Alte Texte neu gelesen« die Philosophin Hannah Arendt zu Worte kommen (Textstellen aus»Vita activa«). Arendt weist bereits in den Sechzigerjahren hellsichtig auf die Widersprüche hin, die entstehen, wenn eine Gesellschaft versucht, den Menschheitstraum von der Befreiung durch die Knechtschaft der Arbeit zu verwirklichen und gleichzeitig die Verherrlichung der Arbeit aufrechtzuerhalten. Da man bei den vielen ernsthaften Fragen, kritischen Analysen und angedeuteten Zukunftsperspektiven einigermaßen ins Schwimmen kommen kann, haben wir uns sechstens erlaubt, einige Glossen und Karikaturen einzufügen. Denn Humor ist bekanntlich der Schwimmgürtel auf dem Strom des Lebens. Und siebtens finden alle, die schon darauf warten, auch am Ende dieses Heftes wieder den Beitrag zum Thema: »Wie geht es eigentlich den sozialpsychiatrischen Diensten in ...? Zum Schluss noch eine uns wichtige Anmerkung: Dass wir unter dem Titel »Gerecht ist anders ...« keinen Beitrag zur Lage von psychisch kranken Asylanten/innen, Flüchtlingen und Migranten/innen veröffentlichen, obgleich sie von sozialen Härten ganz besonders betroffen sind, könnte von unverzeihlicher Einseitigkeit und Ungerechtigkeit ihnen gegenüber zeugen, wenn es nicht den Redaktionsbeschluss gäbe, eines der kommenden Hefte dem Thema »Die vergessenen psychisch Kranken« (Arbeitstitel) zu widmen. Für die Redaktion Renate Schernus Peter Weber Sibylle Prins 2 »Gerecht ist anders ...« Auswirkungen der Globalisierung auf psychisch kranke und behinderte Menschen Werner Rätz Informationsstelle Lateinamerika im Koordinierungskreis von attac Deutschland. Arbeitsschwerpunkte: »soziale Sicherungssysteme«/ »genug für alle/bedingungsloses Grundeinkommen«/Gentechnologie Werner Rätz Neoliberale Globalisierung ersetzt zunehmend gesellschaftliche Regulierungen durch Marktsituationen und Konkurrenzabläufe. Ihre Kritik sollte also die Situation von Menschen vorrangig in den Blick nehmen, die absehbar an dieser neuen Herausforderung scheitern müssen. Zumindest was psychisch kranke und behinderte Menschen betrifft, ist das nicht der Fall: Sie sind für die globalisierungskritische Bewegung bisher kein Thema. Gleiches gilt umgekehrt: Die behindertenpolitische Debatte beschäftigt sich höchstens sehr allgemein mit der Globalisierung. Dieser Artikel kennzeichnet deshalb auch eher ein Aufgabenfeld zukünftiger Fragestellungen, als dass er einen erreichten Stand darstellt. Trotz dieses Befundes gibt es eine sofort ins Auge springende Überschneidung: Der Diskurs um »Selbstbestimmung« ist ein zentrales Element beider Themenbereiche. Selbstbestimmung war in der Behindertenpolitik allzu oft noch nur als Ziel, als Wunschvorstellung formulierbar, musste viel mehr erkämpft werden, als dass sie gestaltet werden konnte. Sie ist deshalb klar positiv besetzt. Neoliberale Globalisierung beruft sich ebenfalls durchgängig auf Selbstbestimmung, die hier allerdings oft im Gewand der »Eigenverantwortung« daherkommt. Zwar schaffe, so argumentiert Anne Waldschmidt im Rahmen der Disability Studies, »der Neoliberalismus ... die Voraussetzung für die Selbstbestimmung auch der behinderten Menschen«. Aber, fährt sie fort: »In der fortgeschrittenen Moderne darf man nicht nur selbstbestimmt leben; man muss es sogar ... Autonomie ... ist zur sozialen Verpflichtung geworden.« (Aus Politik und Zeitgeschehen B 08/2003) Im Neoliberalismus geht es um Möglichkeiten, um Angebote auf einem Markt, um die die Einzelnen konkurrieren. Durchsetzen muss man sich schon selbst. Im neuen Abkommen über die Rechte behinderter Menschen sollen dann auch vor allem wirksame Zugänge zu Beratung, Bildung und Vermittlung »ermöglicht«, Beschäftigung, selbstständiges Unternehmertum oder Genossenschaften »gefördert« und »Förderprogramme und Anreize« geschaffen werden. Auch psychisch kranke und behinderte Menschen haben Fähigkeiten und sind in der Lage, sich durchzusetzen. Aber manche und in manchen Situationen sind eben auch bedürftige Menschen, die besondere Bedingungen brauchen, deren Möglichkeiten erst gelebt werden können, wenn ihnen bestimmte Zugänge systematisch und zuverlässig zur Verfügung stehen. »Barrierefreiheit« ist nicht nur eine Anforderung an Gebäude und Wege, sondern auch an Arbeitsmärkte. Davon aber ist ausdrücklich keine Rede mehr. Josef Siegers (Hauptgeschäftsführung der Deutschen Arbeitgeberverbände) sagt, es gehe um den »regulären Arbeitsmarkt und nicht um die ›Perfektionierung institutioneller Sonderregelungen‹«. »Die Beschäftigung Behinderter ist eingebettet in die üblichen betrieblichen Kosten- und Ertragskalküle. Es gibt auf Dauer keine Nischen für Behinderte, sondern nur Arbeitsplätze, deren Arbeitsergebnis höher ist als der Arbeitseinsatz.« Die »Globalisierung der Märkte« böte dafür durch »Rationalisierung« und »weltweit neue Absatzchancen« gute Möglichkeiten. Ausschlaggebend dafür, ob Behinderte diese wahrnehmen könnten, sei »die Qualifikation des einzelnen Arbeitnehmers«. (ZB 1/2000) Die von Siegers angesprochenen konkurrenzfähigen neuen Beschäftigungsmöglichkeiten ergeben sich etwa in der Landwirtschaft, weil »sich Werkstätten durch die zunehmende Globalisierung einem verstärkten Preisdruck ausgesetzt (sahen), sodass die Suche nach Alternativen zur industriellen Fertigung einsetzte«. So heißt es in einer Projektbeschreibung der Forschungsgemeinschaft für biologischen Landbau. Dort wird auch die Erklärung für die Konkurrenzfähigkeit der Behindertenwerkstätten geliefert: »Angesichts des agrarstrukturellen Wandels gaben immer mehr Betriebe ihre Produktionsgebäude und -flächen auf.« Wirtschaftlich nicht mehr einkömmlich leistbare Tätigkeiten, Lohnkonkurrenz in den internationalen Exportmärkten, die Mobilisierung spezieller Fähigkeiten einzelner behinderter Menschen, das sind die gebotenen Beschäftigungsperspektiven. Wer da nichts zu bieten hat, hat ein Problem. Die Werkstätten für Behinderte können etwas davon erzählen. Bei ihnen gibt es eine verstärkte Platznachfrage von Personen, deren bisherige (Über-)Lebenszusammenhänge und Nischen verloren gehen. Ulrich Hiltl von den Werkstätten in Schwandorf nennt vier Gruppen: Menschen mit psychischen Behinderungen; Menschen mit einer Behinderung aus anderen Kulturkreisen; Autisten; Menschen mit Behinderungen aus Unfällen oder Krankheiten wie Schädel-Hirn-Verletzungen, Schlaganfällen, Drogenmissbrauch. Der Zusammenhang mit der Globalisierung ist offensichtlich. Diese führt zu vermehrtem Stress im Arbeitsleben und in der Freizeit; Krankheiten, Unfälle, »Aussteigen« durch Drogen oder psychische Störungen sind eine notwendige Folge. Durch die Verschlechterung der Lebensbedingungen weltweit suchen immer mehr Menschen auch hierzulande eine Zukunft für sich, oft unter illegalen Bedingungen; für diese gilt das Gesagte verstärkt. Und die Vermarktlichung des gesamten Sozialbereichs, speziell des Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Rätz: Auswirkungen der Globalisierung auf psychisch kranke und behinderte Menschen Gesundheitswesens, vernichtet dort Betreuungsmöglichkeiten und Lebensorte, sodass die Herausgefallenen nach Alternativen schauen (müssen). Das wird noch deutlicher, wenn Hiltl darauf hinweist, dass die Nachfragenden immer jünger werden und immer öfter nicht aus den Förderschulen kommen. Behinderte waren auf dem Arbeitsmarkt immer schon Billigarbeitskräfte. Viele ihrer Arbeitsplätze fielen weg, weil sie durch Maschinen ersetzt wurden. Inzwischen aber ist ein weltweiter Konkurrenzkampf darum entstanden, menschliche Arbeit noch billiger anzubieten als diese Maschinenarbeit. Migration und die damit verbundene Rechtlosigkeit, Ausgliedern ganzer Unternehmensteile zu schlechtesten Bedingungen, Wegfall öffentlicher Unterstützung und spezieller Förderprogramme tragen dazu bei. Ausschlaggebend aber ist die Tatsache, dass Arbeitskraft inzwischen weltweit um die niedrigsten Löhne konkurriert. Hiltl nennt Zahlen: Die Lohnstunde kostet in Moskau 0,50 US-$, im Iran 1,20, im Baltikum 2,00, in der Türkei 1,50, in Indien 0,70. Hinzuzufügen wären die Insassen chinesischer Arbeitslager, die praktisch umsonst arbeiten. Das Benchmarking der Firmen, der genaue Vergleich der Kosten und des Ertrags eines Arbeitsplatzes in jeder Beziehung, innerhalb des Unternehmens, im Vergleich zur direkten Konkurrenz, im lokalen Lohngefüge und auf dem Weltmarkt ist selbstverständlicher Teil globalisierter Unternehmenspraxis. Behinderte und kranke Menschen bekommen darin nur eine Chance, wenn sie Kostenvorteile bieten. Oder wenn sie Glück haben, sozusagen in der Lotterie gewinnen. Denn die gehört selbstverständlich auch zum Akzeptanzmanagement dieses Systems. Seine Gnadenlosigkeit könnte sonst zu offensichtlich werden. So kümmert sich die Weltbank zwar nicht um die systematische Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung in den arm gemachten Ländern des Südens, sondern vielmehr darum, dass diese ihren Schuldendienst leisten können. Aber gelegentlich, als Projekt, werden auch mal Arbeitsplätze für Behinderte geschaffen. So geschehen etwa vor drei Jahren, als sich weltweit dreitausend Projekte in einem Wettbewerb anmeldeten, bei dem eine Arbeitsstätte für 250 behinderte Menschen zu gewinnen war. Das Rennen machte eine Gruppe in Addis Abeba, Äthiopien, die öffentliche Toiletten bauen und betreiben will – die Stadtverwaltung hatte sich aus diesem Geschäft zurückgezogen. Hier werden Behindertengruppen nicht nur gegeneinander ausgespielt, sondern die »Erfolgreichen« werden auch noch benutzt, um den Abbau der ohnehin schon desolaten öffentlichen Versorgung zu legitimieren. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die das Projekt konzipiert hat, erwähnt es nicht, aber es ist anzunehmen, dass viele der äthiopischen Betroffenen ihre Behinderung im Krieg erworben haben, der im Rahmen der neoliberalen Wolfsgesellschaft so viele Länder verwüstet. In einem anderen Fall ist bekannt, dass die Beeinträchtigung, an der die Menschen leiden, eine unmittelbare Auswirkung moderner Wirtschaftspraxis ist. In den indischen Baumwollanbaure- Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 gionen wurde in den letzten Jahren verstärkt gentechnisch veränderte Baumwolle angebaut. Saatgut und Spritzmittel sind teuer, die Erträge waren schlecht, die Bauern verschuldeten sich. Die Gläubiger nahmen alles weg, das Geld, das Vieh, die Erträge anderer Pflanzen, alles, was sich zu Geld machen lässt. Die Sorge um die Familie, die Verzweiflung angesichts der Ausweglosigkeit, letztlich auch die Schande, öffentlich bloßgestellt zu sein, wenn sichtbar alles Geldwerte weg ist (in einem dokumentierten Fall wurde die Haustür abmontiert und verkauft), führen zur Selbstaufgabe und zum Selbstmord vieler Bauern, obwohl Selbstmorde bisher in der Region selten und kein Teil der Kultur waren. Wäre es da bloßer Zynismus, die aktuelle Debatte um Sterbehilfe und PatientInnenverfügung (»Ich will so nicht mehr leben!«) als Teil der Bearbeitung der psychischen und tatsächlichen Folgen des Neoliberalismus zu verstehen? Anschrift des Verfassers Werner Rätz Jagdweg 49 53115 Bonn werner.raetz@t-online.de 3 4 »Gerecht ist anders ...« Zeit der Erschöpfung Sozialpolitische Herausforderungen in Österreich Martin Schenk Wir stören. Das haben wir alle gemeinsam, sagt die Vertreterin einer Selbsthilfegruppe von Menschen mit Psychiatrieerfahrung: Wir stören einfach. Weil wir haben ja eine Störung. Die Krankenstandstage wegen psychischer Erkrankungen sind in Österreich um über 70 % seit 1990 gestiegen. Von allen in Österreich verschriebenen Psychopharmaka-Medikamenten machen Antidepressiva mittlerweile fast die Hälfte aus. Die Kosten für Psychopharmaka haben sich bei den Krankenkassen seit 1995 verdoppelt. Von denjenigen, die Antidepressiva beziehen, gehören Erwerbslose zur größten Gruppe. Das Krankheitsrisiko von Armutsbetroffenen insgesamt ist laut österreichischem Sozialbericht doppelt so hoch wie das der Durchschnittsbevölkerung. Und Menschen in psychischen Krisen haben ein hohes Risiko armutsbedingt in die Krankheit zu rutschen oder krankheitsbedingt in die Armut. Menschen mit geringem sozioökonomischen Status weisen in Österreich signifikant höhere Krankenhausaufenthalte aufgrund affektiver Störungen auf als Menschen mit höherem. Ähnliche Unterschiede lassen sich auch für Suchterkrankungen, für Schizophrenie und für Belastungsstörungen beobachten. Überproportional betroffen sind aber auch Menschen in Sozialhilfe und Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen. Dass Krankheit für Tausende zu sozialer Verelendung führt, ist im siebtreichsten Land der Erde inakzeptabel. Was schwächt: Sozioökonomische Dauerbelastung geht unter die Haut Menschen, die psychisch erkranken, haben bei sinkenden Chancen am Arbeitsmarkt, nicht-existenzsichernden Sozialleistungen und häufiger Stigmatisierung ein hohes Risiko, in die Armut zu rutschen. Aber auch der umgekehrte Weg von der Armut in eine schwere psychische Krise ist in der Public Health Forschung »gut« belegt. Chronische sozioökonomische Belastung geht unter die Haut. Denn Leben am Limit macht Stress. An sich ist Stress nichts Schlechtes, er gehört sogar zum täglichen Leben. Stress ist nichts weiter als der Versuch des Körpers, sich in anstrengenden Zeiten an die Situation anzupassen. Wenn aber Entspannung über einen längeren Zeitraum hinweg ausbleibt, wird es gesundheitlich belastend. Dazu kommt die Scham, die eigene Armutssituation zu zeigen. Wenn das eigene Ansehen bedroht ist, fühlen wir Scham. Scham ist bedrohtes Ansehen. Von finanzieller Not Bedrohte versuchen so lange wie möglich die Normalität aufrechtzuerhalten, das Gesicht vor den anderen zu wahren. Das braucht zusätzlich zu den schwierigen Lebensumständen nochmals viel Energie. Die Dauerüberanspruchung der eigenen Ressourcen macht Menschen verletzlicher und schwächt die Widerstandsfähigkeit. So schwinden die persönlichen Ressourcen innen wie auch die sozialen von außen. Die Vulnerabilität, die Verwundbarkeit wird höher. Dazu kommt, dass auch das Nichteintreten erwarteter Ereignisse wie erhoffte Entlastung oder zugesagter Job massiv belastend wirkt und Stress chronifiziert. Die sogenannte Managerkrankheit mit Bluthochdruck und Infarktrisiko tritt bei Armutsbetroffenen dreimal so häufig auf wie bei den Managern selbst. Aber nicht weil die Manager weniger Stress haben, sondern weil sie die Freiheit haben, den Stress zu unterbrechen: mit einem schönen Abendessen oder einer Runde Golf. Sie können sich Erholung wählen, was die anderen nicht können. Den Unterscheid macht die Freiheit. Was stärkt: Freundschaft, Anerkennung, Selbstwirksamkeit Handlungsspielräume zu erweitern und Verwirklichungschancen zu erhöhen, stärkt Menschen, die in Armut leben. Es sind besonders drei Lebensmittel, die stärken: Freundschaft hilft. Anerkennung hilft. Selbstwirksamkeit hilft. Das Gegenteil macht verwundbar: Isolation schwächt, Beschämung schwächt, Ohnmacht schwächt. Wer sozial Benachteiligte zu Sündenböcken macht, wer Leute am Sozialamt bloßstellt, wer Zwangsinstrumente gegen Arbeitssuchende einsetzt, wer mit erobernder Fürsorge Hilfesuchende entmündigt, der vergiftet diese Lebensmittel: Freundschaft bedeutet soziale Netze. Anerkennung heißt Respekt. Selbstwirksamkeit heißt Lebensumstände verändern können. Je ungleicher aber Gesellschaften sind, desto eingeschränkter sind diese Lebensmittel. Es gibt weniger »Inklusion«, das heißt häufiger das Gefühl ausgeschlossen zu sein. Es gibt weniger »Partizipation«, also häufiger das Gefühl, nicht eingreifen zu können. Es gibt weniger »Reziprozität«, also häufiger das Gefühl, sich nicht auf Gegenseitigkeit verlassen zu können. - Mit zunehmendem sozialen Abstieg schwinden die sozialen Netze, Freunde verabschieden sich, soziale Unterstützung wird geringer. Alle Studien weisen darauf hin, dass Menschen am Rand der Gesellschaft sich tendenziell aus allen öffentlichen und politischen Zusammenhängen zurückziehen. Armut isoliert. 48 Prozent der Armen in Österreich verzichten auf Einladungen zu sich nach Hause, aber nur Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Schenk: Zeit der Erschöpfung Martin Schenk Sozialexperte der Diakonie Österreich und Mitbegründer der Österreichischen Armutskonferenz - - 7 Prozent der nichtarmen Bevölkerung. Nur 27 Prozent von Armut Betroffener sind Mitglied in irgendwelchen Vereinen, aber 44 Prozent der Restbevölkerung, sagt uns der Sozialbericht des Sozialministeriums. Ebenfalls schwächend auf die Widerstandsfähigkeit wirkt sich die Fremdbestimmung über die eigene Lebenssituation aus. Kann man selbst noch irgendetwas ausrichten, hat Handeln einen Sinn? Die Erfahrung schwindender Selbstwirksamkeit des eigenen Tuns macht verletzlich. Das sind angesammelte Entmutigungserfahrungen. Mit niedrigem sozialem Status geht ein Mangel an Anerkennung und Belohnung einher. Das gemeinsame Auftreten von hoher Verausgabung und niedriger Belohnung macht krank. Der belastende Alltag am finanziellen Limit bringt keine »Belohnungen« wie besseres Einkommen, Anerkennung, Unterstützung oder sozialen Aufstieg. Eher im Gegenteil, der aktuelle Status droht stets verlustig zu gehen. Eine solche »Gratifikationskrise« wirkt besonders bei Menschen, die arm trotz Erwerbsarbeit sind, die in den Randbelegschaften und in prekären Billigjobs arbeiten. Entlasten Österreich gehört in Europa zu den gut ausgebauten Sozialstaaten. Trotzdem gibt es eine Reihe von neuen Problemen. Prekäre Jobs, Jugendarbeitslosigkeit, mangelnde soziale Aufstiegschancen. Und: Über 100 000 Menschen sind in Österreich nicht krankenversichert, das sind fast zwei Prozent der Wohnbevölkerung. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie geringes Einkommen haben. Zwei Drittel befanden sich zum ersten Mal in dieser Situation, immerhin ein Drittel war schon öfter davon betroffen. Zum Beispiel: Herr Gubitzer hat einen depressiven Schub. In solchen Phasen psychischer Krise versagen seine Fähigkeiten zur Selbstorganisation. Er versäumt den Termin am Arbeitsmarktservice und fällt aus der Krankenversicherung. Im sozialpolitischen Feld gibt es eine ganze Reihe von Benachteiligungen, denen Betroffene ausgesetzt sind. Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen sind zu gesund für die Invaliditätspension, aber zu krank, um Arbeit zu bekommen. Niederschwellige Einrichtungen mit aufsuchenden psychosozialen Diensten um die Ecke finden sich kaum in bedürfnisgerechter Form. Und es gibt viel weniger Rehabilitationsmaßnahmen der Krankenversicherung bei psychischen Erkrankungen als bei physischen Leiden. Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Es fehlt ein Ausbau des sogenannten zweiten bzw. dritten Arbeitsmarktes für Menschen, die das Tempo am »ersten« Arbeitsmarkt nicht halten können. Es gilt ja immer das Alles-oder-Nichts-Gesetz: Voll arbeiten oder gar nicht. Leute mit psychischen Krisen beispielsweise können ganz einfach nicht voll erwerbstätig sein, würden aber trotzdem gerne 15 Stunden arbeiten. Psychosoziale Dienste um die Ecke gibt es zu wenig. Nach stationärem Aufenthalt werden die Betroffenen allzu oft in die Obdachlosigkeit und Einsamkeit entlassen. Da könnte der Ausbau der Delogierungsprävention bei längerem Krankenhausaufenthalt helfen. Oder Tageseinrichtungen ohne Barrieren, nicht beschämend, man kann kommen aber auch wieder gehen. Wohnhäuser, die jederzeit und unbürokratisch aufgesucht werden können. Ein mobiler Krisendienst, der wie ein Notarzt rund um die Uhr und auch zu Feiertagen Menschen in Krisen zu Hause aufsucht. All das würde entlasten. Besonders ist es der ländliche Raum, der da nicht vergessen werden darf. Leben am Limit macht verletzlich. Jetzt ist die Zeit der Erschöpfung. Stress, Stress, Stress. Duck, Druck, Druck. Erfolg, Erfolg, Erfolg. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Jeder ist seines Glückes Schmied. Du kannst gewinnen, wenn du nur willst! Immer lächeln, das macht dich erfolgreich. Die andere Seite: Wenn du es nicht schaffst, bist du selbst schuld. Wenn du keinen Job hast, leistest du nichts. Wenn du einen Job hast, dann musst du mehr leisten, damit du ihn noch morgen hast. Wenn du nicht mehr mitkommst, bist du ein Versager. Wenn du nicht funktionierst, dann störst du. Ich störe einfach, sagt die Erschöpfung. Ich kann nicht mehr. Wir haben eine Störung. Anschrift des Verfassers Martin Schenk Trautsongasse 8 A-1080 Wien www.diakonie.at www.armutskonferenz.at 5 6 »Gerecht ist anders ...« Beseelung und Verwaltung1 Die niederländische Sozialund Rechtspolitik und ihre Auswirkung auf psychisch kranke Bürger und ihre Helfer Detlef Petry Kurzer Rückblick Seit 30 Jahren arbeite ich in Maastricht (Niederlande) als Psychiater in der Rehabilitation ›chronisch psychiatrischer Patienten‹ und ihrer Familien. Dem Thema dieses Beitrags möchte ich mich aus dem Blickwinkel meiner eigenen Erfahrung mit diesen ›Schwächsten‹ innerhalb der Psychiatrie nähern. Als ich hier im Jahr 1978 begann, bestand keinerlei Interesse an dieser Gruppe von Patienten und man war erstaunt, dass ich mich als Psychiater mit ›ausbehandelten Patienten‹ beschäftigen wollte. Es gab damals noch kaum Gesetze und Regeln innerhalb der Psychiatrie. Alles gründete sich auf das Vormundschaftsgesetz aus dem Jahr 1830 und das Psychiatriegesetz aus dem Jahr 1884; eine sehr repressive Ausgangslage. Weil sich niemand für unsere Arbeit interessierte, hatten meine Kollegen und ich in den ersten zehn Jahren eigentlich völlige Freiheit und Zeit, unseren Weg zu suchen, um für diese Menschen im Sinne der Rehabilitation eine völlig andere Richtung einzuschlagen: Ihre Ehre als gleichwertige Menschen und Bürger wiederherzustellen. Mitte der 80er-Jahre begann dann allmählich das Umschlagen von der Bürgerstruktur zur Managementstruktur. Es wurden neue organisatorische Ausbildungen eingeführt, mit dem Ziel, die Psychiatrie auf einer ›wissenschaftlichen Grundlage‹ optimal zu organisieren. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Ende der 80-er-Jahre schien es definitiv bewiesen, dass der ›Kapitalismus‹ gesiegt hatte und dass einer ›neo-liberalen‹ marktwirtschaflichen Reorganisation der Psychiatrie nichts mehr im Wege stand. Alles und jeder wurde gesehen als Teil eines betrieblichen Produktionsprozesses, der so effizient wie möglich in die Praxis umgesetzt werden musste. Die Marktwirtschaft mit ihrem Kern, der Konkurrenz, wurde Leitmotiv. Zunächst begann die Reorganisation innerhalb der Einrichtungen selbst und eine neue technokratische Sprache infiltrierte die normale Menschensprache. Die Manager nahmen das Heft in die Hand. Ihr Anteil in den Organisationen nahm sprunghaft zu. Er beträgt heute in den Organisationen in Kanada und den USA 13,5 % und in Europa sind die Niederlande mit 6 % inzwischen Spitzenreiter. Außerdem fusionierten die Einrichtungen zu größeren Organisationen (›Konzernen‹) und schmückten sich mit neuen Namen, die nichts mit der Psychiatrie zu tun hatten. In den 90er-Jahren beschleunigte sich dieser Prozess der ›Überwölbung‹ (Fritz Bremer) und inzwischen sind wir auch innerhalb der Psychiatrie in einer kapitalistischen Marktwirtschaft gelandet. Die Einführung sozial- und rechtspolitischer Gesetze in den Niederlanden Nach dem 2. Weltkrieg wurden in den Niederlanden schrittweise neue Gesetze vom Parlament beschlossen und eingeführt, die die Lage psychisch kranker Menschen allmählich verbesserten. Ab 1967 bekamen z. B. alle Niederländer mit einer Erkrankung bei nicht versicherbarem Risiko (chronische Krankheiten) eine monatliche Unterstützung von mehr als 1000 Gulden. (Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten) Erst ab 1983 mussten die Patienten für ihren Verbleib und ihre Behandlung einen eigenen Beitrag, abhängig vom Einkommen, bezahlen. Übrig blieb dann für sie ein Taschen- und Kleidergeld von ca. 300 Gulden. Unsere Patienten wurden dadurch natürlich schlagartig weniger reich oder besser gesagt ärmer – ein erstes Zeichen an der Wand? Ab jetzt musste jeder Cent umgedreht werden für den Bedarf des täglichen Lebens: Zigaretten, Getränke, Kleidung, usw. Einen großen Schritt vorwärts bedeutete das Gesetz für die Treuhänder, das 1981 verabschiedet wurde (Onderbewindstelling). Dadurch waren Entmündigungen nicht länger notwendig. Es gab sie nur noch in wenigen Ausnahmefällen. Heute jedoch haben zu viele Patienten einen Treuhänder, weil sie in den letzten 20 Jahren von einer enormen Gesetzes- und Regelflut überspült wurden. Viele Patienten konnten das alles nicht mehr selbst regeln und drohten, wenn sich kein Mensch um ihre Belange kümmerte, darin zu ertrinken. Das Jahrzehnt von 1990 bis 2000 war insbesondere die Zeit, in der die Rechte der Patienten gesetzlich besser geregelt wurden. (1) Zum Beispiel wurden Zwangsbehandlungen abgeschafft. Es gab nur noch freiwillige Behandlung oder Behandlung in einer Notsituation. Der Gesetzgeber ist momentan damit beschäftigt zu prüfen, ob in solchen Fällen nicht Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Petry: Beseelung und Verwaltung wieder der Psychiater eine Behandlung beginnen darf, nach dem sogenannten ›Best-will-Prinzip‹. Auch wird über ambulante Zwangsbehandlung für Patienten, die in der Gemeinde leben, aber z. B. ihre Medikation verweigern, nachgedacht. Von den inhaltlichen Zielen der Soteriabewegung sind wir in den Niederlanden noch weit entfernt. (2) Flankiert durch überwiegend liberale Gesetze zum Beschwerderecht, zu Behandlungsverträgen und zur Mitsprache waren unsere Beziehungen zu Patienten inzwischen geprägt durch Respekt, der Anerkennung von Gleichwertigkeit und einen machtfreien Dialog. Immer erst verhandeln, dann erst, wenn nötig, behandeln. Inzwischen ist der durch die Regelung zum Mitspracherecht (medezeggenschap) 1996 eingeführte »Klientenrat« allerdings hauptsächlich nur noch mit den Papieren und Akten der neuen Regelflut beschäftigt. Für ein echtes Mitspracherecht der Patienten hat er keine Zeit mehr. Die Gesetze, die zwischen 1990 und 2000 eingeführt wurden, gaben unseren Patienten eine neue Rechtspostion. Sie wurden mehr und mehr zu gleichberechtigten Bürgern! Dies prägte unsere Arbeit mit ihnen. Das 1995 eingeführte »persönliche Budget« allerdings, das auch in diese Richtung wirken sollte, kommt in der Psychiatrie nur langsam in Gang, insbesondere bei den schwächeren Patienten, die damit oftmals nicht selbstständig umgehen können und Hilfe nötig haben. Diese Hilfe muss dann bei anderen Personen nachgefragt werden. Außerdem ist das Ganze mit großem bürokratischen Aufwand verbunden. Bis jetzt profitieren hiervon nur sehr selbstständige und mündige Patienten. In der Geistig-Behindertenversorgung und bei Demenzkranken ist dieses persönliche Budget schon weiter verbreitet, da bei ihnen meistens die Familien als Sachwalter auftreten können. Im Rahmen der weitergehenden Marktwirtschaft wurde 2005 auch in der Psychiatrie eine zentrale Indikationsstellung (Centrale Indicatie Zorg) von der Politik angeordnet. Jeder niederländische Staatsbürger muss erst eine Indikation haben, bevor er Hilfe bekommt. Das gilt nur für Langzeitkranke und nicht für Notfälle. Hierbei wird alles mit einem enormen bürokratischen Wasserkopf zentral geregelt und elektronisch festgelegt. Ab 2006 ist jeder Niederländer per Gesetz (Zorgverzekeringswet) verpflichtet, sich für alle Krankheiten in einer Basisversicherung zu versichern. Jeder Bürger muss für diese Basisversicherung jährlich einen gleichen Basistarif von ca. 1100 Euro bezahlen. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit der Zuversicherung (›Privat‹) und die schwächeren Bürger bekommen Zuschläge, wenn ihr Einkommen zu niedrig ist. Die Ausführung dieses Gesetzes liegt nicht mehr in den Händen der klassischen Krankenkassen, sondern wurde an die Versicherungen (Zorgkantoren) delegiert. Hierin befinden sich die fusionierten Krankenkassen. Diese Kantore sitzen im Zentrum der Macht: sie bekommen das Geld und verteilen es dann! Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Inzwischen fusionieren diese Versicherungen bereits zu riesigen Versicherungskonzernen und residieren in postmodernen Versicherungspalästen. Ab jetzt muss erst ›produziert‹ werden und nach Lage der Produktion bekommen die Einrichtungen ihr Geld. Am vorläufigen Ende der Gesetzesflut steht das Gesetz zur gemeindenahen Versorgung (Wet Maatschappelijke Opvang) von 2007. Die bisher zentral geregelte Versorgung wird damit an die Gemeinden delegiert. Die Gemeinde wird verantwortlich für die gesellschaftliche Unterstützung ihrer Bürger. Die Gemeinden müssen dafür sorgen, dass alle ihre Bürger gesellschaflich integriert werden und am Gemeindeleben teilnehmen können. An und für sich ist dies inhaltlich natürlich eine gute Entwicklung, aber den meisten Gemeinden fehlt momentan noch das Know-how, um alle damit verbundenen Aufgaben zu bewältigen.Vor allem auf dem Gebiet der Psychiatrie muss noch viel entwickelt werden. Für die Psychiatrie bedeutet das aber auch, dass sie ihre isolierte Stellung innerhalb einer Gemeinde verlassen muss. Weil das ›Know-how‹ in den Gemeinden sehr unterschiedlich ist, ist es damit noch dem Zufall überlassen, ob man in der Gemeinde, in der man als Bürger gerade wohnt, zu seinem Recht kommt. Das Geld für all diese Aufgaben bekommen die Gemeinden nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel von der Regierung. Weil aber nicht genug Geld da ist, entsteht auch auf Gemeindeniveau die Konkurrenz ums Geld. (3) Die Umsetzung der neuen gesetzlichen Regelungen in die Praxis Bevor ich auf die Umsetzung der neu eingeführten Gesetze eingehen und zeigen werde, welche Folgen sie für psychisch kranke Bürger und ihre professionellen Helfer haben, möchte ich noch kurz den momentanen Stand unserer Rehabilitationsbemühungen in Maastricht nach 30 Jahren Arbeit wiedergeben: Inzwischen wohnen einige hundert Patienten aus unseren früheren Einrichtungen in einer eigenen Wohnung oder in beschützenden Wohneinrichtungen in der Stadt Maastricht und den umliegenden Dörfern. Sie werden bereits seit 20 Jahre in ihrem häuslichen Milieu von uns in allen Lebenslagen begleitet (›Case-manager‹). Nur eine kleine Restgruppe (›harter Kern‹) wohnt noch in schönen Häusern am Rande der Klinik. Das sind Menschen, die durch die Psychiatrie über Jahrzehnte hinweg am meisten vernachlässigt worden sind. Bei ihnen steht das alltägliche Leben völlig im Mittelpunkt und auch sie wurden wieder mehr zu Mitbürgern. Ihre professionellen Begleiter nennen wir inzwischen ›Lebensbegleiter‹, um damit die Zeitperspektive und den Inhalt ihrer Tätigkeit ganz deutlich anzugeben. (4) Mittlerweile arbeiten wir innerhalb der Stadt Maastricht ganz im Sinne der gemeindenahen Psychiatrie. In den vier Stadtteilen der Stadt (Sozialräumen) haben wir jeweils ein Zentrum und von hier aus versorgt ein ambulantes psychiatrisches Team diesen Teil der Stadt – ganz nahe an den Bürgern. 7 8 »Gerecht ist anders« Seit 1990 gibt es in unserer Provinz Limdurg eine Organisation mit dem Namen Horizon, die mit 170 freiwilligen Helfern (Bürgerhelfer) ebenso viele Patienten als Freunde (›maatjes‹) begleitet. (5) Wir haben in Maastricht also inzwischen eine große Zahl professioneller und freiwilliger Helfer, die schon viele Jahre ihre Arbeit mit Leib und Seele tun: mit Beseelung. In Folge des sekundären Prozesses der ›Überwölbung‹ dieses durch professionelle und freiwillige Helfer gestalteten primären Prozesses durch die Marktwirtschaft entsteht immer mehr Kritik an solchen Organisationsmodellen und die Frage nach ihrer Rechtfertigung wird mehr und mehr gestellt. Der ›Großrechner‹, wie es Klaus Nouvertné schon vor Jahren ankündigte, hat uns inzwischen voll im Griff. In unsererm digitale Zeitalter wird der Computer zum alles beherrschenden Apparat des täglichen Lebens. Durch die Zusammenarbeit zwischen dem Staat, der Computer-Branche und den Versicherungen (Zorgkantoren) entsteht ein Machtdreieck: Eine Form von »Staatstherapie«? Für die psychiatrischen Probleme hat man eine Art Katalog (DSM IV) zur Hand genommen. Die Probleme unserer Patienten werden mit den in diesem Katalog beschriebenen Kategorien verglichen und auch entsprechend so klassifiziert. Hieran wird ein speziell für diese Problemklassifikation entwickeltes Protokoll für ihre Behandlung gekoppelt. Derartige universelle Behandlungsprotokolle werden als Lösung für die angemessene Behandlung der Probleme psychisch kranker Menschen angesehen. Der damit verbundene Prozess negiert den sehr persönlichen Gesichtspunkt des Erlebens und Erfahrens der Patienten. Diese technokratische Entwicklung geht an dem eigentliche Kern psychiatrischer Arbeit vorbei: Dem zwischenmenschlichen Kontakt und Dialog. Mitarbeiter werden zu ›Technokraten‹ und sind damit Ausführende dieser uniformierten, aber auch inhaltlich steuernden Kontroll- und Verwaltungsinstrumente. Zur Durchführung dieser Maßnahmen ist das ›Elektronische-Patienten-Dossier‹ (EPD) das Herzstück in diesem Prozess geworden. Auf der einen Seite bietet es die Möglichkeit, unendlich viele Informationen über die Patienten zu speichern – allerdings in technokratischer Sprache. Auf der anderen Seite besteht die große Gefahr, dass sehr persönliche Daten im Sinne des Datenschutzes nicht ausreichend geschützt sind. Im schrillen Kontrast hierzu haben wir in unserer Arbeit gerade angefangen, zusammen mit den Patienten und ihren Familien ein ›Lebensbuch‹ zu schreiben, worin nur Dinge in verständlicher Sprache und nur in gemeinsamer Übereinstimmung hineingeschrieben werden: Ein trialogisches Lebensbuch. Ein weiteres Kernstück der elektronischen Akte ist die ›Diagnose-Behandlungs-Kombination‹: Diese besteht zunächst aus einer reinen ›Produktbeschreibung‹ (Diagnose). Danach wird der Behandlungsprozess beschrieben. Die Kosten werden dann auf der Grundlage der Behandlungsaktivitäten berechnet: Das Geld steuert den Prozess. Nach vielen Jahren der Arbeit mit unseren Patienten haben wir gerade die Entstigmatisierung von dem Stempel einer Diagnose erreicht. Und jetzt müssen wir mit einer Diagnose aus dem DSM IV-Katalog stigmatisieren: Ich persönlich empfinde dies als ›Verrat‹ an meinen Patienten. Meiner Meinung nach ist der DSM-Katalog eine institutionalisierte Form von Patientenhass. Wir müssen täglich unsere Leistung in die elektronische Patienten-Akte eingeben (Agenda), mit einer Kodenummer, die wiederum an einen Geldbetrag gekoppelt ist. Und diese Kodenummern werden von der Versicherung (Zorgkantoor) sehr genau überprüft und erst dann wird bezahlt. Außerdem werden unerwartete Dossierkontrollen von der Versicherung durchgeführt und wenn irgendetwas nicht auf Punkt und Komma stimmt, droht unserer Institution eine Kürzung des Budgets. Aus dem Blickwinkel der Versicherung gesehen sind die Patienten in erster Linie eigentlich keine Patienten mehr, sondern Versicherte. Die Devise lautet: »Die Sorge um Patienten kostet uns Geld und die Kosten müssen niedrig bleiben.« Es ist traurig, aber wahr: Ihr Leitmotiv ist ›Sorge muss Schadensbegrenzung sein‹. (6) Zur Verteidigung der Leitung und des Managements unserer Einrichtung muss ich sagen, dass auch sie unter dem Druck dieser Veränderungen stehen: Wenn wir die Leistung nicht erreichen, gehen wir bankrott. Und hinzufügen möchte ich, dass unsere Klinikleitung und das Management sich sehr bewusst sind, welcher enorme Druck dadurch auf uns professionelle Helfer ausgeübt wird. Auch sie teilen unser ethisch-moralisches Dilemma. (7) Aber wir müssen täglich damit weiterleben: auf der einen Seite eine gute Versorgung bieten, so wie wir das schon jahrelang machen und gewöhnt sind, und auf der anderen Seite uns dem täglichen Leistungszwang beugen! Ein schwieriger Spagat, sowohl ethisch, menschlich als auch hinsichtlich des Verantwortungsgefühls für unsere gesamte Institution. Durch intensive tägliche Übung beherrschen wir die Technik des Großrechners schon besser, aber durch diese Aktivitäten am Computer verlieren wir täglich kostbare Stunden am Patienten. Die Antwort der Institutionen, die ja jetzt auf dem Psychiatriemarkt als ›Anbieter‹ im Konkurrenzkampf um das Geld des Zorgkantores mit dingen müssen, ist das ›Prozessmanagement‹. Je effektiver und billiger sie ihr ›Produkt‹ beim ›Unternehmer‹ Versicherung anbieten, umso eher nehmen sie einen der vorderen Plätze in der Reihe der Anbieter ein, wenn es um die Verteilung des Geldes geht. Das Wichtigste ist, dass man als Institution ein staatlich geprüftes Zertifikat (›Gütesiegel‹) für sein ›Produkt‹ hat. Alle Teile eines Produktes unterliegen in bestimmten zeitlichen Abständen intern einer zirkulären Kontrolle, um sicherzugehen, dass das ›Produkt‹ qualitativ gut Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Petry: Beseelung und Verwaltung ist und dass bei niedrigen ›Produktionskosten‹ die geforderte ›Produktion‹ auch erreicht wird. Hierbei ist der Druck auf die professionellen Helfer am deutlichsten spürbar. Dazu wurden für die verschiedenen Helfer die sogenannten Normzeiten eingeführt; Zeiten in denen die Dauer des Kontakts mit den Patienten exakt vorschrieben wird. So beträgt die Normzeit für einen Psychiater, der ja am teuersten ist, nur noch zehn Minuten pro Patientenkontakt. Wenn eine längere Kontaktzeit notwendig ist, muss der Psychiater die Patienten ›an billigere Helfer (Krankenpfleger und Sozialarbeiter), weiterreichen‹. Diese dürfen dann einen Kontakt von 30 bis 45 Minuten wahrnehmen. Der Psychiater wird so wieder zu einem ›klassischen Spezialisten‹, der eigentlich nur noch die Diagnose festzustellen und die darauf folgende Behandlung, meistens Medikamente, festzulegen hat. Somit wird in unserem multiprofessionellen Team die Hierarchie, die wir schon lange abgeschafft und vergessen hatten, durch die Hintertür wieder eingeführt. In unserer langjährigen gemeinsamen Team-Praxis behandelten wir uns untereinander mit viel Respekt für die Professionalität des anderen, aber auch für seine menschlichen Qualitäten. Dieses Teamgefüge, das eine Arbeit mit den ›schwächeren Patienten‹ über viele Jahre hinweg und nicht selten ›lebenslänglich‹, überhaupt erst ermöglichte, wird durch diese ›Re-Hierarchisierung‹ untergraben. Das Verhältnis der Teammitglieder untereinander wird somit rationeller und weniger relationell. Früher machte ich mit Patienten Ausflüge in die Umgebung, zu ihrem Geburtsort oder zu den Eltern, und das ›kostete‹ viel Zeit, manchmal einen ganzen Tag nur für einen Patienten (›Rehistorisierung‹). Das dürfte, ja muss jetzt wohl zu Ende gehen. Ein weiteres, beinahe unglaubliches Bespiel möchte ich aus einer Einrichtung für Demenzkranke beschreiben: Ein Helfer und sein jeweiliger Patient haben beide ein Band um ihren Hals hängen, woran eine elektronische Karte (›Smartcard‹) befestigt ist. Sobald sie zu einem Gespräch oder einer pflegerischen Handlung in Kontakt treten, müssen beide erst diese Karte in einen dafür konstruierten Apparat stecken, der die gemeinsame ›Kontaktzeit‹ bis auf die Minute exakt registriert. Zwischenmenschliche Kontakte im Minutentakt. Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Zusammengefasst kann man sagen, dass durch dieses Prozessmanagement mit seinen zirkulären Kontrollen nur die sekundären Prozesse der ›Überwölbung‹ auf ›Qualität‹ kontrolliert werden. Und das wird Qualitätsmanagement genannt. (8) Bei diesem ›Qualitätsmanagement‹ wird die Qualität des primären Prozesses, der zwischenmenschlichen Beziehung zwischen Patienten und Helfern überhaupt nicht erfasst, geschweige denn untersucht oder gemessen. In dieser Zeit, in der die psychiatrische Forschung vor allem auf ›Evidence-Based‹ fundierte Untersuchungsobjekte gerichtet ist, steht die qualitative, anthropologische Forschung nicht im Rampenlicht. Dabei lieferten zaghafte Versuche in dieser Richtung in den letzten Jahren gerade für unsere Patienten fundamentale Ergebnisse.2 (9) Folgen und Auswirkungen für psychisch kranke Bürger und ihre Helfer In erster Linie ist der beschriebene Prozess ein fremdbestimmender Angriff auf die »Beseelung« der Helfer. Eine durch jahrelange Erfahrung gewachsene Praxis der Helfer wird von diesem Rationalisierungsprozess überwölbt und gleichzeitig untergraben. Die Helfer fühlen sich nicht mehr ernst genommen und sie werden in ihrer Berufsehre angegriffen. Die Folge ist eine allgemeine Verfremdung. Man erlebt sich nicht mehr als Teil seiner eigenen Organisation, die das gemeinschaftliches Ziel einer guten Versorgung der Patienten verfolgen sollte. Es entsteht Misstrauen und Abwehr und man fühlt sich an seinem Arbeitsplatz nicht mehr sicher. Als Helfer wird man hauptsächlich nach der erbrachten Produktion und nicht mehr nach der inhaltlichen Qualität der Versorgungspraxis beurteilt. Die Folgen für den Arbeitsalltag sehen in etwa so aus: Am Morgen und vor allem am Abend jeden Tages sitzen wir am Computer und es gibt weniger Zeit für unsere Patienten. Oft muss man die Türe schließen, um für den Computer Ruhe zu haben. Oder wenn ein Patient ins Zimmer kommt, sitzen wir mit dem Gesicht zum Computer und mit dem Rücken zum Patienten: Ende des Dialogs? Früher saß ich nicht am Computer, sondern am Frühstückstisch der Patienten! Damals hatte ich noch Zeit, mit ihnen Ausflüge zu machen. Diese Zeiten sind seit der Einführung von Normzeiten und elektronischer Akte vorbei. Eine Entmenschlichung mit unabsehbaren Folgen für das Vertrauen zwischen dem Helfer und dem Patienten. Ein Patient, den ich schon seit 30 Jahren kenne, fragte mich vor kurzem: bist du verrückt geworden oder ich? Als ich so am Computer saß, und er den großen Stapel Akten auf meinem Schreibtisch sah, sagte er: »Komm, wir verbrennen den Stapel Papier auf dem Scheiterhaufen von Jeanne d’Arc und hauen einfach ab. Nur weg hier!« Er nimmt haarfein wahr, wie auch ich unter all dem leide und er will mich solidarisch aus meiner Zwangsjacke befreien: eine umgekehrte Welt in der Psychiatrie! Früher haben wir doch die Patienten in eine Zwangsjacke gesteckt? 9 10 »Gerecht ist anders« Auch die Sprache zwischen uns hat sich verändert. Früher sprachen wir gemeinsam eine für beide Seiten verständliche Menschensprache, weil wir von einer jahrenlangen gemeinsamen Lebenserfahrung ausgehen konnten. Jetzt schleicht sich durch den beschriebenen technokratrischen Prozess eine Fremdsprache in unser tägliches Leben ein. Wenn ich von dem Lebensproblem eines Patienten rede, muss ich jetzt wieder eine Diagnose benutzen. Durch jahrelange gemeinsame Arbeit hatten wir versucht, dieses Lebensproblem zu verstehen und in einem gemeinschaflichen Prozess daran zu arbeiten. Jetzt muss ich Lebensprobleme durch eine erneute Stigmatisierung fremdbestimmen lassen – eine weitere Verfremdung. Früher sagten wir, dass der Patient verwirrt spricht. Jetzt hat der Patient den Eindruck, dass ich verwirrt spreche. Wiederum eine Umkehrung. Grundsätzlich kann man feststellen: Der Prozess der Überwölbung ist über die Köpfe der Patienten hinweggerollt, ohne dass sie daran überhaupt beteiligt wurden: Eine wahre Fremdbestimmung? Während dieses Prozesses entstanden immer neue Regeln und Vorschriften, mit denen die Patienten überflutet wurden: unsere schwächeren Mitbürger sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr! Hierdurch haben sie natürlich wieder mehr Unterstützung nötig (siehe auch die große Zunahme der Treuhänder) und sie geraten hinsichtlich Selbstständigkeit und Selbstwertgefühl schwer unter Druck. Sie verstehen die Welt nicht mehr und verstehen einfach nicht, warum das alles so laufen muss. ›Wir gingen doch bisher normal miteinander um?‹ Finanziell wurden unsere Patienten von ›reichen Patienten‹ aus den 60er-Jahren zu armen Patienten heute. Durch den Zwang, ab 1983 einen eigenen Beitrag zur AWBZ zu zahlen, begann dieser Prozess der Verarmung. Seitdem haben sie nur noch Taschen- und Kleidungsgeld von ca. 250 Euro im Monat. Davon müssen sie die Bedürfnisse des täglichen Lebens bezahlen. Wenn man bedenkt, dass eine Packung Zigaretten inzwischen 5 Euro kostet, kann man sich vorstellen, was übrig bleibt. Die Folge ist, dass sie sich nur billige Tabakwaren von minderwertiger Qualität kaufen können und ihre Kleider im Laden für gebrauchte Kleider (›Secondhandshop‹). Dann müssen sie obendrein noch die Wäschereikosten für ihre Kleider selber bezahlen. Das kostet auch wieder 50 Euro im Monat. Seit 2006 müssen die Patienten eine eigene Steuerklärung ausfüllen und auch dabei haben sie natürlich wiederum Hilfe nötig. Welcher ›normale‹ Mensch kann heutzutage noch seine Steuerklärung selbst machen! Seit kurzem kommt hinzu, dass die Steuererklärung nur noch elektronisch ausgefüllt werden darf. Ferner wurden die Patienten in ihren Mobilität gravierend eingeschränkt. Ihre Fahrtkosten in die Stadt müssen sie jetzt selbst bezahlen. Um jede Busfahrkarte muss gerungen werden! Die Versichrung vergütet nur noch Liegend-Transporte zum Krankenhaus, wenn man ernstlich krank oder schon halb tot ist. Vom Sozial- und Arbeitsministerium (Gesetz über Arbeit, Einkommen und Arbeitsfähigkeit) wurden alle Langszeitarbeitslosen in den letzten Jahren erneut auf ihre Arbeitstauglichkeit überprüft, mit der Frage, ob sie nicht wieder in den allgemeinen Produktionsprozess eingegliedert werden könnten. So auch unsere schwachen Mitbürger, von denen viele noch nie in ihrem Leben gearbeitet haben. Allein schon die Angst und die Unruhe, die diese Überprüfung bei den Patienten verursachte, ist nicht zu unterschätzen. Selbst die Schwächsten unter uns werden im marktwirtschaftlichem Denken neben einem Dasein als ›Produkt‹ jetzt auch als mögliche Produzenten gesehen. Der Schwächste darf eigentlich nicht länger einfach ein Patient sein, der unsere Liebe und Zuneigung verdient, nein: Auch er ist ein potienzieller Faktor in der allgemeinen Marktwirtschaft geworden! (10). Für schöne und entspannende Aktivitäten ist überhaupt kein Geld mehr da. Die Welt unserer Patienten wird immer kälter, kahler und ärmer. Letztendlich kommt durch das Gesetz zur gemeindenahen Psychiatrie der Konkurrenzkampf erst richtig in Gang: immer mehr ›Anbieter‹, auch von außerhalb der Psychiatrie ›dingen‹ mit im Konkurrenzkampf. So ist zum Bespiel die häusliche Pflege, die bisher nur durch professionelle Helfer angeboten werden durfte, für den Markt freigegeben. Ab jetzt kann jeder beliebige Putzbetrieb ›mitdingen‹, um Geld von der Gemeinde zu bekommen. Wie können weniger robuste Menschen an diesem Kampf überhaupt noch teilnehmen? Natürlich können sie das alleine nicht. Auch hierbei haben sie wiederum Hilfe nötig – so werden sie immer hilfloser und unselbstständiger. Das Motto der Gemeinde ist: »Die Bürger sind in erster Linie für sich selbst verantwortlich, dann kommt erst noch die Familie und dann erst die Gemeinde.« Aber viele Bürger mit psychischen Problemen sind dazu nicht in der Lage. Dies muss den Verantwortlichen in den meisten Gemeinden erst noch bewusst werden. Zusammenfassung: Der Konflikt zwischen Einführung und Umsetzung der Gesetze In der Gesetzgebung waren und sind die Niederlande sehr progressiv und führend in Europa. Das gilt eigentlich auch für die Basisversicherung und das Gesetz zur gemeindenahen Psychiatrie. Aber durch den Prozess der Vermarktwirtschaftlichung und auch durch die sogenannte Kostenexplosion im Gesundheitswesen kommt es zu ersten Einbrüchen bei dieser progressiven und sozialen Gesetzgebung und zu einer deutlichen Aushöhlung des Auffangnetzes für psychisch kranke Bürger. Zum einen wird die progressive Gesetzgebung schleichend untergraben, zum anderen steht die Ausführung der Gesetze in schrillem Kontrast zu ihrer eigentlichen Intention. Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Petry: Beseelung und Verwaltung Wie in ganz West-Europa und den USA gelten immer mehr die Methoden einer freien Marktwirtschaft: Der Patient wird gesehen als ein Versicherter, ein Produkt und als ein möglicher Produzent. Die Verwaltung der Beseelung: auf dem Wege zur Entseelung Inzwischen wissen wir, dass die Zucht des Marktes sehr groteske Formen annehmen kann. Wir bekommen es mit einem Managementapparat zu tun, welcher einen immer größeren Anteil an dem Budget einer Institution bekommt und sich immer neue Pläne, Protokolle und Kontrollinstrumente ausdenkt, um die Organisation in ›Bewegung‹ zu halten, oder besser gesagt, sie auf Trapp zu halten und zu bringen.3 Das Management ist auf Expansion gerichtet, Eroberung des Marktes mit immer besseren ›Produkten‹ (Diagnosen), strategisch handeln, das Image mit immer neuen Slogans und leuchtenden Logos und immer flitzenderer Reklame verbessern, sogar schon im Fernsehen. Letztendlich ist am Markt jeder ständig auf der Jagd nach neuen Produkten (neue Diagnosen). Inzwischen laufen immer mehr professionelle Helfer mit tiefgehenden Frustationen und einer enormen Wut im Bauch in der Psychiatrie herum, weil ihnen praktisch ihre Berufung weggenommen worden ist und ihre Berufsehre obendrein. (12) Durch die neo-liberale Regierung in den Niederlanden ist in den lezten Jahren die Marktwirtschaft auch in der Psychiatrie von oben herab durchgedrückt worden, ohne dass das gesellschaftliche Mittelfeld, in unserem Falle die Psychiatrie, in einen gleichwertigen Dialog einbezogen worden ist und ohne dass bei der Umsetzung von Gesetzen auf angemessene Langsamkeit geachtet worden ist. Es wäre angebracht gewesen, bei der Ausführung von Gesetzen darauf zu achten, wem sie dienen sollen. Das hätte mehr Bescheidenheit und vor allem Mitgefühl mit den Schwächsten der Gesellschaft erfordert. Auch die professionellen Helfer, die eine jahrenlange Lebenspraxis in ihren Berufen und breite menschliche Erfahrungen aufweisen, sind bis ins Herz getroffen. Sie, für die ihr Beruf bisher vor allem mit sehr persönlichen Beziehungen und individuellen Menschen zu tun hatte, werden durch Vermarktlichung und Machtprozess auf gehorsame ›Prozessoren‹ reduziert, die abstrakte Richtlinien und Modelle ausführen müssen, um mit mehr Effizienz für mehr ›Output‹ zu sorgen. Und wie sieht es denn jetzt mit der Ehre unserer Patienten aus? Vor vielen Jahren sind viele professionelle Helfer angetreten, um ihre Ehre als Bürger wiederherzustellen: Rehabilitation. Gerät ihre Ehre durch die technokratische Überwölbung nicht erneut in Gefahr? In früheren Jahren waren sie Opfer einer kustodialen Psychiatrie. Jetzt drohen sie Opfer einer tech- Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Detlef Petry, Psychiater Psychatrisches Zentrum »Vijverdal« nokratischen Marktideologie in der Psychiatrie zu werden, innerhalb derer sie keinerlei eigene Rolle spielen können.Von einer wirklichen Mitsprache der Patienten kann, wie schon gesagt, in diesem sie überrollenden Prozess, keine Rede mehr sein. Sie sind diesem Konkurrenzkampf nicht gewachsen, sie können nicht ›mitdingen‹ und sie können nicht produzieren. Sie sind selbst zu einem ›Produkt‹ geworden! Was sie in diesen Zeiten wirklich benötigen ist unsere Solidarität, unsere Zuneigung, unsere Nähe und unsere Liebe. Letztendlich finde ich hierfür keine anderen Worte als: Es handelt sich um ein moralisches Vergehen! Dieses Vergehen raubt der Welt ihre Beseelung und verdirbt das Verhältnis von Menschen untereinander. Die Kultur ist anzusehen als eine Welt von Lebenspraxen (Lehrer, Polizisten, helfende Berufe usw.), in denen Menschen sich formen und bilden können, wo sie selbstständig und mit Ehre ihren Beruf ausüben können, und wo sie sich verantwortlich fühlen für das Gemeinwohl. Gegenwärtig haben wir es mit einem Kulturverlust zu tun und es ist eine Frage der Ehre, eine Antwort auf diesen Kulturverlust zu suchen. (13) Zum Schluss möchte ich den vorsichtigen Versuch einer solchen Antwort wagen: Die zwischenmenschlichen Beziehungen von Patienten, ihren Familien und ihren professionellen Helfern (›Triade‹) in ihrem oftmals jahrlang dauernden trialogischem Prozess sollten das wirkliche Kernstück (›Herz‹) jeder psychiatrischen Arbeit sein. Wie auch immer die Arbeit organisiert wird, sie sollte diesen Lebenspraxen dienen, denn gerade dies und nur dies, ist eine sehr solide und dauerhafte Grundlage für eine gesunde ›Kultur‹ psychiatrischer Arbeit. So können psychiatrische Dienste zu menschlichen und die Ehre jedes Menschen respektierenden Keimzellen werden, in denen die Psychiatrie weiter humanisiert und nicht technokratisiert wird. Anmerkungen 1 Hinweis der Redaktion: Eine Langfassung dieses Beitrags, ein Kurzüberblick über die niederländische Sozialgesetzgebung im Hinblick auf psychisch kranke Menschen, eine Zusammenstellung der sprachlichen Veränderungen in der sozialen Arbeit sowie Quellennachweise können beim Autor angefordert werden. 2 Ab 2007 hat unser Arbeitsprojekt der Rehabilitation für ein qualitatives Forschungsprojekt zur Untersuchung unserer langährigen 11 »Gerecht ist anders ...« 12 Praxis in Maastricht 200 000 Euro an Forschungsgeldern bekommen. Dieses Forschungsprojekt steht unter dem Titel: ›Ungleiche Bürger‹: Relationelle Bürgerschaft. Hierbei soll qualitativ untersucht werden, welchen Effekt gerade die zwischenmenschlichen Beziehungen am Heilungsprozess haben. Ein erster Lichtblick oder ein wirklicher Durchbruch? Die Zeit wird es lehren! 3 Kürzlich nannte das jemand in den Niederlanden, in einem Vergleich zur Viehzucht, eine ›Intensive Menschenzucht‹. (11) Soziale Sicherheit in der Schweiz: Wie lange hält das Netz für psychisch kranke Menschen? Jürg Gassmann Anschrift des Verfassers Detlef Petry Psychatrisches Zentrum »Vijverdal« Postfach 88 NL-6200 AB Maastricht d.petry@Vijverdal.nl Die Schweiz verfügt über ein differenziertes Netz der sozialen Sicherheit. Häufig auftretende und gesellschaftlich anerkannte Risiken sind durch eine Reihe von Sozialversicherungen gedeckt. Auch psychisch kranke und behinderte Menschen kommen in den Genuss verschiedener Leistungen, die ihre Integration fördern und ihnen ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Zwar kann auf die einzelnen Leistungen nicht eingegangen werden, im Sinne eines Überblickes sind jedoch wenigstens die bedeutendsten Sozialwerke des Bundes zu nennen (mit dem Jahr des Inkrafttretens der entsprechenden Bundesgesetze in Klammer): - Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV (1948) - Invalidenversicherung IV (1960) - Unfallversicherung (1984) - Berufliche Vorsorge (1985) - Arbeitslosenversicherung (1983) - Krankenversicherung (1996) - Erwerbsersatz bei Mutterschaft (2005) Da die Rentenleistungen für die Deckung der Lebenshaltungskosten im Alter und bei Invalidität nicht ausreichen, wurden 1996 außerdem Ergänzungsleistungen eingeführt. Es handelt sich dabei um versicherungsähnliche Leistungen, die dazu dienen, die Renteneinkommen der Versicherten nach dem Bedarfsprinzip bis zum sozialen Existenzminimum aufzustocken. Beim Eintritt eines nicht versicherten sozialen Risikos kommt subsidiär – im Sinne eines letzten Auffangnetzes – die Sozialhilfe zum Zuge. Die Zuständigkeit für die Sozialhilfe liegt bei den Kantonen, wobei die Leistungen in der Regel von den Gemeinden ausgerichtet werden. Das historisch gewachsene System der sozialen Sicherheit verfügt bis heute insgesamt über einen guten Ruf und eine hohe Akzeptanz bei der Schweizer Bevölkerung. Doch es stehen große Bewährungsproben bevor, bei denen sich erst zeigen wird, wie weit die Solidarität mit sozial schwächeren Menschen reicht. Krankenversicherung: Spardruck steigt Ein Politikum ersten Ranges, das die Interessen von psychisch kranken Menschen direkt tangiert, ist die Explosion der Kosten im Gesundheitswesen. Die Krankenversicherung – sie ist für die gesamte Wohnbevölkerung obligatorisch – wird über Kopfprämien finanziert. Die Prämien steigen Jahr für Jahr in der Größenordnung von 5 % an, was vor allem für mittelständische Familien, die keine Prämienverbilligungen Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Gassmann: Soziale Sicherheit in der Schweiz: Wie lange hält das Netz für psychisch kranke Menschen? Jürg Gassmann Zentralsekretär Stiftung Pro Mente Sana geltend machen können, eine große Belastung darstellt. Der Spardruck nimmt zu, und es ist zu befürchten, dass chronisch kranke und vor allem psychisch behinderte Menschen ihn mehr zu spüren bekommen werden als andere Gruppen von Patientinnen und Patienten. Als Beispiel dafür mag die neue Regelung für die Vergütung von Psychotherapien dienen, die am 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist. Zuvor haben die Krankenversicherungen bei Psychotherapien bis zu 60 Sitzungen ohne größere Kontrollen Kostenvergütungen geleistet. Nunmehr müssen die Leistungserbringer dem Vertrauensarzt der Kasse bereits nach sechs Sitzungen eine Meldung mit Diagnose und weiteren sensiblen Angaben unterbreiten, wenn die Therapie länger als zehn Sitzungen dauern wird. Das neue Verfahren führte schon kurz nach dessen Einführung zu einzelnen Therapieabbrüchen. Patientinnen und Patienten fürchten zu Recht, dass der Datenschutz in Bezug auf die hochsensiblen Daten, die im Meldeverfahren erhoben werden, nicht gewährleistet ist. Vor einigen Tagen wurde öffentlich, dass bei einzelnen Krankenversicherungen nicht nur die Vertrauensärzte – wie gesetzlich vorgesehen –, sondern gleich mehrere hundert Kassenmitarbeiterinnen Zugriff auf die Daten haben. Missbrauchspolemik in der Invalidenversicherung In einer tiefen Krise steckt zurzeit aber vor allem die Invalidenversicherung. Dieser Versicherungszweig schreibt seit Jahren rote Zahlen: Das jährliche Defizit beträgt ca. 1,6 Milliarden Franken, die kumulierten Schulden sind auf über 9 Milliarden Franken angewachsen. Die Ursache für diese defizitäre Entwicklung liegt einerseits in der massiven Zunahme der Zahl der Bezieherinnen von IV-Renten: ihr Anteil an der aktiven Bevölkerung hat in den vergangenen zehn Jahren von 3,7 % (1996) auf 5,4 % (2006) zugenommen. Andererseits hinkt die Finanzierung der Versicherung der Entwicklung der Rentenzahlen weit hinterher. Die Mehrheit des Parlamentes zeigt zwar Einsicht in die Notwendigkeit einer Zusatzfinanzierung. Diese ist aber bislang aufgrund parteipolitischer Querelen über deren Ausgestaltung gescheitert. Da die IV-Renten infolge psychischer Krankheiten mit einem Anteil von beinahe 40 % aller Neurenten stark überproportional zugenommen haben, setzen nun die politischen Maßnahmen vorwiegend bei dieser Zielgruppe an. Die Gründe für die massive Zunahme der IV-Renten aufgrund Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 psychischer Ursachen sind vielfältig. Neben demografischen Entwicklungen, der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft sowie einer gewissen Entstigmatisierung psychischer Krankheiten haben unseres Erachtens vor allem konjunkturelle Entwicklungen und die bekannten strukturellen Veränderungen der Arbeitswelt dazu geführt, dass eine zunehmende Zahl von psychisch beeinträchtigten Menschen invalidisiert wurde. Im aktuellen sozialpolitischen Diskurs werden diese strukturellen Zusammenhänge jedoch weitgehend ausgeblendet. Vielmehr besteht die Tendenz, die Ursachen für diese Entwicklung im (Fehl)Verhalten der Versicherten zu sehen. Das gesellschaftliche Problem wird damit stark individualisiert. Als Meinungsmacherin profiliert sich die rechtsbürgerliche Schweizerische Volkspartei. Sie hat den Stein im Jahr 2003 mit dem Begriff der »Scheininvaliden« ins Rollen gebracht und stellt die Entwicklung der Rentenzahlen hauptsächlich als Folge von Missbrauch der Versicherung dar. Gemäß SVPPolitikern wird die IV dabei von »Tausenden Sozial-Abzockern geplündert und ruiniert« (Neue Zürcher Zeitung vom 27. März 2007). Als Maßnahme zur Sanierung strebt die Partei unter anderem eine »Einschränkung der Rentenberechtigung vor allem im unklar definierten psychischen Bereich« (NZZ vom 27.3.07) an. Diese populistische Argumentation, die bei weiten Bevölkerungsteilen verfängt, hat zur Folge, dass Versicherungsmissbrauch und psychische Krankheiten zunehmend in einen Topf geworfen werden. Viele psychisch behinderte Menschen schämen sich deshalb heute, über ihre IV-Rente zu reden, was ihre soziale Integration zusätzlich erschwert. Revision der IV: Tatsächliche Integration oder Etikettenschwindel? Um der defizitären Entwicklung der Invalidenversicherung entgegenzutreten, haben die eidgenössischen Räte im Herbst 2006 die 5. IVG-Revision verabschiedet. Da einige Organisationen erfolgreich das Referendum dagegen ergriffen haben, wird es am 17. Juni 2007 zu einer Volksabstimmung über die Vorlage kommen. Angesichts der politischen Kräfteverhältnisse wäre es allerdings eine große Überraschung, wenn die Vorlage in der Abstimmung abgelehnt würde. Im Falle einer Annahme durch das Volk wird die Revision am 1. Januar 2008 in Kraft treten. Die Revision hat das Ziel, die Zahl der IV-Neurenten massiv zu senken. Zu diesem Zweck soll der bereits bestehende Grundsatz »Eingliederung vor Rente« verstärkt werden. Zudem sollen gewisse Einsparungen erzielt werden, unter anderem durch Leistungskürzungen bei der Rente von Frühbehinderten und durch die Verlagerung der Finanzierung von medizinischen Maßnahmen in die Krankenversicherung. Die für den Vollzug zuständigen IV-Stellen haben in der Vergangenheit die Eingliederung von psychisch kranken Menschen zu wenig gefördert. Darüber besteht Einigkeit. Umstritten ist demgegenüber, ob die vorgesehenen Maßnahmen 13 14 »Gerecht ist anders« daran Wesentliches zu ändern vermögen oder ob es sich eher um Etikettenschwindel handelt: - Mit einem System der Früherfassung können zukünftig Arbeitnehmer bereits nach einer kurzen Dauer der Arbeitsunfähigkeit – voraussichtlich werden es vier Wochen sein – bei den IV-Stellen gemeldet werden. Meldeberechtigt sind Arbeitgeber, verschiedene Versicherungen, Angehörige und behandelnde Ärztinnen. Im Rahmen der Früherfassung sollen die Weichen vor allem im Hinblick auf die Erhaltung von bestehenden Arbeitsplätzen richtig gestellt werden. Die Früherfassung ist umstritten, weil die Meldung auch ohne Zustimmung der Versicherten erfolgen kann. Die Eingliederungsmotivation der Betroffenen ist für den Erfolg aller Bemühungen von zentraler Bedeutung. Es stellt sich deshalb in der Tat die Frage, ob die als Disziplinierungsinstrument konzipierte Früherfassung eingliederungswirksam sein kann. - Nach der Früherfassung können Maßnahmen der Frühintervention und später dann Integrationsmaßnahmen getroffen werden: Konkret geht es um die Finanzierung von Ausbildungskursen, Arbeitsvermittlung, sozialberufliche Rehabilitation und um Beschäftigungsmaßnahmen. Der IV stehen damit Unterstützungsmöglichkeiten für psychisch beeinträchtigte Personen zur Verfügung, die bislang im Leistungskatalog gefehlt haben. - Sodann soll die Mitwirkungspflicht der Versicherten erheblich verschärft werden. Durch die neuen Regelungen sind ihnen alle Maßnahmen zumutbar, die mit dem Gesundheitszustand vereinbar sind. Für Versicherte, die nicht mitwirken, werden neue Sanktionen eingeführt, die ohne vorgängige Mahnung ausgesprochen werden können und zu erheblichen Leistungskürzungen führen können. Es muss befürchtet werden, dass viele psychisch kranke Menschen, die aufgrund ihres Krankheitsbildes gar nicht in der Lage sind mitzuwirken, Opfer dieser Sanktionen werden. Die Übersicht über die Neuerungen zeigt: sie setzen praktisch ausschließlich auf der individuellen Ebene, beim Versicherten an. Es liegt an ihm, sich für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Die Arbeitgeber bleiben demgegenüber frei, ob sie ihre soziale Verantwortung wahrnehmen oder nicht. Im Gegensatz zu Deutschland und anderen europäischen Staaten gibt es in der Schweiz keine Quote, die Unternehmen dazu verpflichtet, behinderte Menschen einzustellen. Somit ist die Gefahr groß, dass die Eingliederung in eine Sackgasse mündet, weil am Ende der Zugang in die Arbeitswelt trotz aller Eingliederungsbemühungen verschlossen bleibt. Die weitere Entwicklung zeichnet sich bereits heute ab: Eine zunehmende Zahl von psychisch beeinträchtigten Menschen wird als arbeitsfähig eingestuft, ohne über tatsächliche Erwerbschancen zu verfügen. Wird ihnen der Zugang zur Invalidenversicherung verwehrt, sind viele von ihnen fortan auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesen. Die Lasten werden auf diese Weise vom Bund auf die Kantone und Gemeinden verschoben, den psychisch behinderten Menschen droht ein sozialer Abstieg. Zu hoffen bleibt, dass die Sozialhilfe als unterstes Netz der sozialen Sicherheit den neuen Belastungen standhält. Anschrift des Verfassers Jürg Gassmann Stiftung Pro Mente Sana Hardturmstr. 261 Postfach CH-8031 Zürich Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 »Gerecht ist anders ...« 15 Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung – Zur Krise und Neugestaltung unseres Sozialstaats 1 Silvia Pöld-Krämer Die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Krise des Sozialstaats Seit mit der rot-grünen Bundesregierung ab 1998 der lange schon diskutierte »Umbau« des Sozialstaats nachhaltig vorangetrieben wurde und durch die Gesundheitsreform 2003 sowie durch »Hartz IV« 2004/2005 klare Konturen erhielt, wird die Diskussion über die Frage, was in unserem Land unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen und wie sie zu bewahren bzw. herzustellen ist, mit neuer Schärfe geführt. An dieser Debatte beteiligen sich Kirchen2 und Politik(er/innen)3, Wissenschaft4 und sozial-politisch engagierte Akteursgruppen5. Mit anderen Worten: Soziale Gerechtigkeit ist Thema in unserer Gesellschaft. Deutschland ist laut seiner Verfassung6 ein sozialer Staat. Dieser Sozialstaat sorgt über seine Sozialleistungsgesetze bzw. durch die Sozialleistungsbehörden für eine Verteilung des gesellschaftlichen Einkommens und der gesellschaftlichen Ressourcen an wirtschaftlich oder durch besondere Notlagen (Krankheit, Behinderung, Pflegebedarf usw.) benachteiligte Bevölkerungsgruppen, die auf solidarische Hilfe in Form von staatlicher Vorsorge und Fürsorge angewiesen sind.7 Insofern ist allgemein unbestritten, dass die Frage nach sozialer Gerechtigkeit in unserem Land auch eine Anfrage an seine sozialen Sicherungssysteme enthält. Deren Situation stellt sich seit Jahren angespannt dar. Auch wenn seit Ende 2006 die Haushaltslage von Bund, Ländern und Gemeinden durch unerwartete Steuereinnahmen erstmals wieder entspannter wirkt, lösen sich die Probleme mit Blick auf die Sozialen Sicherungssysteme damit keineswegs auf. - Die gesetzliche Rentenversicherung ist seit Jahren in einer finanziellen Krise. Im Juli 2005 spitzte sich die Situation so zu, dass ihr als Soforthilfe vorzeitig Bundeszuschussmittel gezahlt wurden8 und zudem durch eine Gesetzesänderung seit 2006 die Sozialversicherungsbeiträge von den Unternehmen statt in der Mitte des Folgemonats schon am Ende des Vormonats zu zahlen sind.9 Im März 2007 stimmte der Bundesrat der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre zu, wobei in der Gesetzesbegründung ein deutlicher Zusammenhang mit der künftig zu erwartenden finanziellen Ausstattung der Rentenversicherung angesichts eines zahlenmäßig und zeitlich zunehmenden Leistungsbezuges von Rentenberechtigten hergestellt wird.10 - Die gesetzlichen Krankenkassen hatten zwar infolge des Gesundheitsreformgesetzes 2004 Mehreinnahmen in Höhe von ca. 4 Mrd. Euro. Diese dienten aber nur dem Abbau Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 von Schulden, welche sich nach Angaben des BMGS zum 31.12.2004 immer noch auf rd. 2 Mrd. Euro beliefen.11 Inzwischen wurde nach langem politischen Streit eine weitere Gesundheitsreform vereinbart, die in Stufen beginnend ab dem 1.4.07 in Kraft tritt.12 In ihrer ablehnenden Stellungnahme zum Entwurf dieses Gesetzes verweisen die Spitzenverbände der gesetzlichen Kassen auf ein zum Ende der Legislaturperiode zu erwartendes Defizit von 13 bis 16 Mrd. Euro und damit verbundene zwingende Beitragssatzsteigerungen.13 - Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, besser bekannt unter dem Namen »Hartz IV«, brachte der Bundesagentur für Arbeit negative Schlagzeilen wegen der Mehrausgaben in Milliardenhöhe, die mit diesem System für Bund und Kommunen unvorhergesehen anfielen.14 Inzwischen sind die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gesenkt worden und seit Neuestem verzeichnet die Bundesagentur für Arbeit Milliardenüberschüsse.15 Bis Ende 2006 gab es aber noch ein monatelanges Tauziehen zwischen Bund und Ländern um die Höhe des Mietzuschusses für ALG II-Bezieher, weil die Kommunen sich durch diesen Kostenanteil über Gebühr belastet sahen.16 Die Kommunen beriefen sich auf steigende Zahlen von Sozialhilfeempfängern17 und entsprechende Kosten18. Nimmt man hinzu, dass im März 2007 die offizielle Zahl der Arbeitsuchenden bei rund 4,1 Mio. liegt, stellt sich die Absicherung von Beschäftigung und notwendigem Lebensunterhalt mit Blick auf die staatlichen Sicherungssysteme weiterhin problematisch dar. Grundsätzlich kann man im Hinblick auf unsere Gesellschaft nicht von »Armut« sprechen. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht vom März 200519 stellt fest, dass Deutschland ein reiches Land ist, welches trotz höherer Arbeitslosigkeit neben Dänemark und Schweden zu den EU-Ländern mit der niedrigsten Armutsrisikoquote und mit nur geringer Armut gehört. Derselbe Bericht stellt aber auch fest, dass die Schere zwischen Reich und Arm in unserer Gesellschaft zunehmend auseinander klafft – es gibt immer mehr Superreiche unter uns, aber noch viel schneller wächst die Zahl der Bedürftigen, insbesondere der von Fürsorge abhängigen Kinder und Jugendlichen. Auch im Hinblick auf unseren Sozialstaat und seine finanziellen Probleme kann man nicht einfach von »Armut« sprechen. Zwar liegt Deutschland mit einem Anteil der Sozialschutzleistungen am Bruttoinlandsprodukt (Sozialschutzquote)20 16 »Gerecht ist anders« von 30,2 Prozent über dem europäischen Durchschnitt von 2821. Aber das könnte auch ein Indiz für einen gewissen Wohlstand sein – wenn nämlich feststellbar wäre, dass den hohen Ausgaben auch hohe »Gewinne« gegenüberstünden. Solche »Gewinne« könnte man an einem leistungsstarken Gesundheitssystem, an der Abnahme oder gar dem Verschwinden von Altersarmut und an einer armutsfesten Absicherung von Erwerbslosigkeit festmachen. Zu unserem Gesundheitssystem stellt z. B. das Kieler Institut für Gesundheits-System-Forschung (IGSF) in einer viel beachteten Studie22 fest, dass es im internationalen Vergleich umfassend, preiswert und überdurchschnittlich effizient ist.23 Hinsichtlich der Altersarmut in Deutschland weist die Sozialhilfequote für die über 65-Jährigen im Jahr 2003 ein Absinken auf 0,7 aus24, 25. Die öffentliche Zustimmung zum Sozialstaat ist in Deutschland dennoch im Schwinden begriffen. Die Kritik entzündete sich bereits Mitte der Achtzigerjahre am Problem der Arbeitslosigkeit, dem man seitdem zur Sicherung des Standortes Deutschland einerseits mit einer Entlastung der Arbeitgeber von Lohnnebenkosten begegnen wollte und will;26 andererseits möchte man durch Entlastung von Unternehmenssteuern den Standort attraktiv machen.27 Dabei gibt es kontroverse Feststellungen zu der Frage, ob Deutschland bereits jetzt als »Niedrigsteuerland«28 anzusehen ist oder im Gegenteil noch überdurchschnittliche Steuersätze erhebt.29 Jede nachhaltige Veränderung der Lohnnebenkosten bzw. der Sozialversicherungsbeiträge berührt die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Sozialversicherungsträger, die Verringerung der Steuereinnahmen hat Auswirkungen auf die Mittel, welche für Fürsorgeleistungen der öffentlichen Hand zur Verfügung stehen. Der Sozialstaat wird also schlanker. Das ist auch gewollt. Teilweise geht es beim Schlagwort vom »Umbau des Sozialstaats« ziemlich unverblümt um die Behauptung, dass der Sozialstaat das eigentliche Problem unserer Gesellschaft sei und daher weniger umzubauen als abzubauen sei. So erklärt z. B. Degen die künftige Sozialkultur vorrangig zu einer Kultur der Selbstsorge und sieht soziale Gerechtigkeit verwirklicht, wo sich der Einzelne »für sich selbst ... und ... für die, die ihm am nächsten sind« einsetzt.30 Deutlich formuliert es auch Steingart: »Die Verbindungsstelle zwischen denen, die arbeiten und denen, die nicht mehr arbeiten, ist der Sozialstaat, ein komplexes Gebilde, das eine Vielzahl von Leistungssystemen unterhält. Die ziehen vom Kraftzentrum der Volkswirtschaft jene Energie ab, die für die Erledigung der sozialen Aufgaben gebraucht werden.«31 Der Sozialstaat selbst soll es also sein, der die »Erledigung sozialer Aufgaben« verhindert. Die Suche nach gesellschaftlichem Konsenses mit Blick auf den Sozialstaat Dass die Debatte um die Zukunft unseres Sozialstaates nicht wertfrei geführt wird, ist sicher richtig. Denn der Sozialstaat selbst beruft sich für seine Existenz und seine Aufgaben schließlich auch auf Werte. So besagt § 1 des ersten Sozialgesetzbuchs, dass die Sozialleistungen mit dem Ziel der »Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit« gestaltet sein sollen. Gerechtigkeit ist unbestreitbar ein ethischer Wert. Und in den vergangenen Jahren ist gerade mit Blick auf unseren Sozialstaat viel darum gestritten worden, welche Art von Gerechtigkeit wir in ihm verwirklicht sehen wollen. Eine Verteilungsgerechtigkeit, die sicherstellt, dass Güter und Ressourcen der Gemeinschaft zuverlässig die erreichen, die bedürftig sind? Eine Leistungsgerechtigkeit, die Anreize schafft zur Leistung und diese belohnt? Eine Chancen- und Beteiligungsgerechtigkeit, die allen – ob leistungsstark oder schwach – vergleichbar gute Ausgangsbedingungen für die Teilnahme am Kampf um gesellschaftliche Güter und Ressourcen gewährleistet?32 Die beiden christlichen Kirchen haben zu diesen Fragen natürlich auch Position bezogen.33 Diese Stellungnahmen sind durchaus lesenswert, insofern sie eine Idee von den (gewandelten) kirchlichen Wertvorstellungen mit Blick auf Werte wie Nächstenliebe und Solidarität mit den Armen zeigen. Derzeit befindet sich unsere Gesellschaft in einem Stadium, in dem über Wertfragen wie die nach sozialer Gerechtigkeit der Diskurs zu führen und ein Konsens herzustellen ist. Die Aktion Mensch startete im März 2006 gemeinsam mit einer beeindruckenden Anzahl großer und kleiner Kooperationspartner aus Wohlfahrts- und Fachverbänden, Selbsthilfegruppen und weiteren Initiativen das Gesellschafter-Projekt »DieGesellschafter.de« mit der Frage: »In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?«. Alle Bürgerinnen und Bürger sind damit zur Beteiligung in vielfältiger Form (Diskussionsbeiträge, Aktionen, Mitgesellschafter usw.) aufgefordert. 34 Dies schafft eine denkbar niedrige Schwelle für den Eintritt in Diskurs und gemeinsames Engagement in den vielfältigsten gesellschaftlichen Zusammenhängen und erscheint als ein gelungener Ansatz, um Beteiligung herzustellen. Denn die Auseinandersetzung um das gesamtgesellschaftliche Verständnis von sozialer Gerechtigkeit und deren Verwirklichung in unserem Sozialstaat darf sich nicht vorrangig auf wirtschaftli- Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Pöld-Krämer: Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung che Daten – reale, vermutete oder erwartete – konzentrieren, wie es bisher weitgehend der Fall war. Es muss darum gehen, welche Ziele mit dem Sozialstaat verfolgt werden und wie viel Einzelne und Gruppen in der Gesellschaft bereit sind, dafür aufzubringen – in Geld, Zeit oder sonstigen Ressourcen. Die Forderung nach einer »Kultur des Enthusiasmus für den Konsens«35 ist berechtigt. Denn unsere Gesellschaft befindet sich in einem komplexen Spaltungsprozess. Dieser wird eben nicht mehr mit so einfachen Gegensätzen wie »oben/unten«, »reich/arm« beschrieben. Spätestens seit der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung »Gesellschaft im Reformprozess«36 ist der Begriff des »Prekariats« zum Allgemeingut geworden. Er zeigt an, dass die gesellschaftliche Exclusion heute prinzipiell allen gesellschaftlichen Gruppierungen als Möglichkeit vor Augen steht. Das hat weitreichende Folgen. Denn sowohl das Vertrauen in den Rückhalt der eigenen sozialen Herkunftsgruppe wie auch der Anreiz (insbesondere für Menschen aus Unterschichtsgruppen), mit eigenen Mitteln und öffentlicher Unterstützung in andere/höhere soziale Gruppen um- bzw. aufzusteigen, ist dadurch infrage gestellt. Nolte stellt fest, dass der Sozialstaat derzeit höchstens noch eine Minimalloyalität sichert, sodass sich die Inanspruchnahme von Sozialleistungen und die gleichzeitige Indifferenz, ja Ablehnung gegenüber dem System, das diese Leistungen generiert, nicht mehr ausschließen.37 Sieht unsere Gesellschaft diesem Spaltungs- und Abspaltungsprozess weiter zu, ist der Sozialstaat als grundlegende Dimension unserer Gesellschaftsordnung auch dann nicht zu retten, wenn er wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt. Die Bedeutung von Arbeit(slosigkeit) mit Blick auf den Sozialstaat Ein gesellschaftlicher Konsens setzt die Vergewisserung über einvernehmlich geteilte wie über im Streit befindliche Grundannahmen unseres Sozialstaats voraus. Da Armut in unserem Land zu einem großen Teil auf das Fehlen von Erwerbsarbeit zurückgeht und der Mangel an Erwerbsarbeit immer wieder mit den zu hohen Folgekosten des Sozialsystems begründet wird, muss man sich hierzu positionieren. Dass die Lohnnebenkosten für das Problem der wachsenden Arbeitslosigkeit in Deutschland allenfalls noch marginal eine Rolle spielen, müsste inzwischen eigentlich jedem klar sein. Als Telekom im November 2005 den Abbau von rund 30 000 Stellen ankündigte, geschah dies nach ihrem eigenen Bekunden keineswegs wegen der Sozialabgaben, sondern wegen der sich ändernden Wettbewerbsbedingungen und dem Wechsel der Bürger vom Festnetz auf das Handy. Mitarbeiter wurden in diesem Bereich schlicht nicht mehr gebraucht. Aber selbst wenn ein Unternehmen wirtschaftlich gut dastünde und nach der Auftragslage jede/n Mitarbeiter/ in gut brauchen könnte, besteht dennoch die Möglichkeit, dass es – das hat uns Mannesmann/Vodafone eindrücklich gezeigt – einfach noch besser dastehen könnte, wenn im Rahmen von Fusionen tausende Arbeitsplätze überflüssig Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 gemacht würden. Außerdem sind die Arbeitsplätze, über die ein Unternehmen seine Produktion betreibt und seine Gewinne erzielt, ggf. am kostengünstigsten in Indien oder in China zu unterhalten. Arbeitsbedingungen wie in diesen Ländern – jenseits von Tarifverträgen und gesetzlichen Mindeststandards – können und sollen in Deutschland bisher nicht hergestellt werden. Die aktuelle Auseinandersetzung um die gesetzliche Festlegung von Mindestlöhnen macht allerdings den Zwiespalt deutlich, mit dem seine Befürworter umgehen müssen: Angesichts eines zunehmend globalisierten Arbeitsmarktes können Mindestlohnbestimmungen mit dem Ziel der Einkommenssicherung gerade zu Einkommensabsenkungen auf eben diese Mindestlohnhöhe führen. Dem ist auch nicht dadurch abzuhelfen, dass die Mindestgrenzen entsprechend höher angesetzt werden, denn als zu üppig empfundene Forderungen sind nicht konsensfähig und verschärfen zudem ggf. noch die schlechte Ausgangslage der eigenen Zielgruppe gegenüber denjenigen, die ihre Arbeitskraft günstiger anbieten. Der Sozialstaat ist nicht die Ursache dieser Probleme und kann sie auch nicht lösen, obwohl er auch darauf reagieren muss. Diese Unterscheidung muss gesellschaftlicher Konsens sein, damit die Problembekämpfung nicht an der falschen Stelle stattfindet. Wird unterschieden zwischen den Problemen des Arbeitsmarktes und den Folgewirkungen auf den Sozialstaat, so wird schnell nachvollziehbar, dass das mit »Hartz IV« eingeführte Prinzip des »Förderns und Forderns« in der im Sozialgesetzbuch II erhaltenen Ausformung ins Leere geht und die Sicht auf die tatsächlichen Probleme gefährlich verstellt. Die Agenda 2010, mit der die Regierung 2003 den unabweisbaren Umbau des Sozialstaats vorantreiben wollte, bezeichnet als Prämisse der öffentlichen Fürsorge im Rahmen von »Hartz IV« das Prinzip des »Förderns und Forderns«. Das Recht auf Fürsorgeleistungen, also auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe, wird davon abhängig gemacht, dass die betroffenen Leistungsempfänger jede erdenkbare Anstrengung unternehmen, um ihren finanziellen Hilfebedarf zu verringern.38 Selbst die, die unter ökonomischen Gesichtspunkten zu Arbeitsleistungen nicht in der Lage sind und als »nicht Erwerbsfähige« in die Sozialhilfe fallen, sollen wenn irgend möglich wenigstens kleine bezahlte Tätigkeiten übernehmen.39 In der Regierungserklärung vom 14.03.03 vor dem Deutschen Bundestag formulierte Bundeskanzler Schröder es so: »Niemandem ... wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.«40 Die zentrale Forderung von »Hartz IV« besteht darin, dass die Transferleistungsempfänger wenigstens im Rahmen ihrer Möglichkeiten produktiv sein sollen und sei es im Rahmen gemeinnütziger Tätigkeiten als sog. »1-Euro-Jobber«. Wer diesbezüglich keine erheblichen Anstrengungen unternimmt bzw. sich als »Arbeitsuchender« ständig dazu bereithält, dem wird das Recht auf soziale Unterstützung entzogen. Das ist inzwischen Gesetzesrealität. 17 18 »Gerecht ist anders« Silvia Pöld-Krämer Professorin für Arbeits- und Sozialrecht Im alten Bundessozialhilfegesetz klang das noch anders. Danach war es die Aufgabe der Sozialhilfe, dem Leistungsempfänger ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht und ihn zu befähigen, möglichst unabhängig von der öffentlichen Fürsorge zu leben.41 Arbeit war hier eine, aber keineswegs die einzige Möglichkeit zur Zielerreichung. Man mag dem entgegenhalten, dass 1961, dem Geburtsjahr des BSHG, die Arbeitslosigkeit kein gesellschaftliches Problem in Deutschland war. Ist die alte Zielsetzung des BHSG damit heute für unseren Sozialstaat nicht mehr leistbar oder wünschenswert? Das tragende Grundprinzip unseres Sozialstaats ist das sog. Solidarprinzip. Das sehen auch die Verfechter des neuen Denkansatzes des »Forderns und Fördern« so. Was versteht man unter dem Solidarprinzip? Im Sozialwort der Kirchen von 199742 heißt es: »Solidarität meint die Tatsache menschlicher Verbundenheit und mitmenschlicher Schicksalsgemeinschaft. ... In ihm schlägt sich die Einsicht nieder, dass in der Gesellschaft ›alle in einem Boot‹ sitzen. ... Aufgabe der ... Gemeinschaft ist es, die Verantwortung der Einzelnen zu ermöglichen und zu fördern. ... Solidarität stellt Augenhöhe her. Sie sieht zwischen den Gliedern der Gemeinschaft eine wechselseitige Verbindung auch im Sinn einer wechselseitigen Abhängigkeit.« Oskar von Nell-Breuning, der die katholische Soziallehre im letzten Jahrhundert ganz maßgeblich mit entwickelt hat, bezeichnet das Solidarprinzip als Bau- und Entwick- lungsgesetz der menschlichen Gemeinschaft. Solidarität ist damit eine Frage unserer Natur.43 Sie dient allen Beteiligten. Damit ist eine Sichtweise wie diejenige der Agenda 2010 nicht vereinbar. Das Prinzip des Förderns und Forderns vermittelt nämlich eine andere, sehr spezifische Sichtweise auf die Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft derer, die geben und derer, die nehmen. Die geben, sind die »Produktiven«, denn sie stellen durch ihre Arbeit und die daran anknüpfenden Sozialabgaben zugleich Werte für den Markt und für den Sozialstaat – in Form der Transferleistungen – her. Die Nehmenden, die »Transferleistungsempfänger«, sind die »Unproduktiven«. Sie erscheinen in doppelter Weise als Klotz am Bein des arbeitenden Bevölkerungsteils. Denn sie nehmen nicht an der Werteproduktion teil und ziehen zugleich Ressourcen ab. Inzwischen, im Jahr 3 von »Hartz IV«, wird immer offensichtlicher, dass die gesetzliche Fixierung auf Erwerbstätigkeit und Erwerbsfähigkeit als Prüfstein der im arbeitsfähigen Alter befindlichen, wirtschaftlich bedürftigen Bevölkerungsgruppen in die Irre führt. Denn ein nicht unerheblicher Anteil vor allem der langzeitarbeitslosen »Arbeitsuchenden« ist faktisch wegen gesundheitlicher, intellektueller und/oder sozialer Einschränkungen nicht vermittelbar. Das belastet die Arbeit der Fachkräfte in den Arbeitsagenturen, Sozialberatungsstellen und bei den sozialen Einrichtungen bzw. Diensten und verursacht nicht selten bei den Hilfesuchenden Verwirrung hinsichtlich der eigenen Leistungseinschätzung, verbunden mit Schuldzuweisungen und Sanktionen durch die Arbeitsagenturen, wenn »zumutbare« Arbeit »verweigert« wird. Inzwischen zeigen Vorschläge wie die von Arbeitsminister Müntefering und Wirtschaftsminister Glos, die beide – mit unterschiedlichen Modellen44 – eine Integration von Langzeitarbeitslosen und Geringverdienern über staatlich subventionierte Kombilöhne herbeiführen wollen, dass auf politischer Ebene sehr wohl die Grenzen einer Integration der im arbeitsfähigen Alter be- Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Pöld-Krämer: Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung findlichen deutschen Gesamtbevölkerung erkannt werden. Nur: Man will ihnen begegnen, indem man die Erwerbspflicht strenger denn je gesetzlich verankert und sanktionierbar macht. Sozialstaat ohne Vollbeschäftigung Versicherungspflichtige Arbeit kann nicht mehr als Dreh- und Angelpunkt des Sozialstaats und unserer Gesellschaft gesehen werden. Diese Erkenntnis ist derzeit nicht leicht zu vertreten, da im Gefolge der boomenden Wirtschaft auch die Arbeitslosenzahlen (leicht) zurückgehen und mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden.45 Der Streit um Mindestlöhne, Kombilöhne und nicht zuletzt die nach wie vor bestehende Zahl von mehr als 4 Mio. Arbeitsuchenden macht aber deutlich, dass auch ein Zuwachs neuer Stellen nicht mit der Erwartung von Vollbeschäftigung im bisher verstandenen Sinne verbunden werden darf. Denn Vollbeschäftigung verbindet die Politik in ihren öffentlichen Äußerungen46 und die Mehrheit der Bevölkerung noch immer mit der Erwartung eines auskömmlichen, d. h. den Lebensunterhalt verlässlich sicherstellenden Einkommens. Diese Erwartung hat keine realistische Grundlage mehr.47 Das Prinzip Fördern und Fordern muss dieser Erkenntnis angepasst werden. Man kann sagen, dass die Arbeit inzwischen nicht mehr Grundlage des Sozialstaats ist, sondern ihm nach dem derzeitigen Verständnis ihrer Funktion zum Hindernis wird. Das macht einen Paradigmenwechsel nötig. Lohnarbeit ist seit eh und je ein Ausgangspunkt für das Eintreten in die gesetzlichen Sozialversicherungszweige gewesen. Dadurch finanziert sie einen erheblichen Teil unseres Sozialstaates. Lang andauernde Arbeitslosigkeit wird somit nicht nur für die Betroffenen, sondern bei hoher bzw. lang anhaltender Arbeitslosigkeit auch für den Sozialstaat zum finanziellen Problem. Da aber die Art von Arbeit, die den Sozialstaat bisher finanzierte, nicht bzw. in zu geringem Maß angeboten wird, muss sich der Sozialstaat von ihr verabschieden, seine Finanzierungsgrundlagen neu ordnen und seine Leistungsziele entsprechend justieren. Wie wäre die Neuordnung der sozialstaatlichen Finanzierungsgrundlagen denkbar? Für einen Modellentwurf ist hier nicht der Platz. Zunächst nur so viel: Anknüpfungspunkt für die Sozialabgaben war bisher die versicherungspflichtige Beschäftigung. Daneben finanzieren wir alle aus unseren Steuern den Sozialstaat. Ob die Aufrechterhaltung dieser zweifachen Finanzierungsbasis eigentlich auf ewig gerechtfertig ist, kann man hinterfragen. Zur Zeit der Implementierung der Sozialversicherungszweige ging es darum, der arbeitenden Bevölkerung die Möglichkeit zu verschaffen, die Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Krankheit und Erwerbsunfähigkeit dergestalt abzusichern, dass bis zur Bewältigung der Krise der Lebensstandard halbwegs gesichert und der Absturz in die Fürsorge vermeidbar war. Von der Fürsorge zu leben bedeutete mit dem Existenzminimum zu leben. Heute stehen die gesetzlichen Sozialversicherungen – außer der ohnehin etwas atypischen Unfallversicherung – nicht mehr für eine Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Standardsicherung ein. Allen voran hat sich die Arbeitslosenversicherung mit der Verkürzung des Arbeitslosengeldes auf eine zwölfmonatige Bezugsdauer von der Idee getrennt, dass die Versicherten dauerhaft oder wenigstens für einen nennenswerten Zeitraum einen Lebensstandard deutlich oberhalb der Sozialhilfe erwarten dürfen. Wenn aber das Lebensrisiko Arbeitslosigkeit nicht mehr abgesichert ist und vielleicht auch nicht abgesichert werden kann, ist dann eine Arbeitslosenversicherung eigentlich noch die richtige Antwort des Sozialstaats auf das Problem der Arbeitslosigkeit? Dass der Sozialstaat uns nicht mehr angemessen gegen das Lebensrisiko Arbeitslosigkeit absichern kann, ist offensichtlich. Also sollte er dies als Ziel aufgeben. Dass der Sozialstaat sich nicht mehr über Erwerbsarbeit als Finanzquelle nachhaltig finanzieren kann, scheint ebenfalls offensichtlich. Also muss er sich einen neuen Anknüpfungspunkt suchen. Dafür kommen Einkommen und Vermögen der natürlichen und juristischen Personen unserer Gemeinschaft in Betracht. Arbeitseinkommen kann dabei eine Einkommensart sein, Zinsen und Erträge eine andere, Einkommen aus Vermögen (z. B. Zinsen) oder Vermögensveräußerungen (z. B. Unternehmensveräußerungen) eine weitere usw. Sozialversicherung und soziale Fürsorge würden so vermutlich noch näher zusammenrücken als bisher schon. Wäre das ein Schaden? Gewonnen würde dafür vielleicht ein Stück Freiheit von der völligen Fixierung auf das »Problem Arbeit«. Sinn und Zweck der Solidargemeinschaft muss es sein, jedem Einzelnen unter uns und damit uns allen als Gemeinschaft ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Arbeit zum Zweck des Selbsterhaltes reicht als verbindendes Ziel einer kleinen wie einer großen Gemeinschaft nicht aus. Und Arbeit durch die Gestaltung der Lebensbedingungen für Teile der Bevölkerung zum Selbstzweck – Leben, um zu arbeiten – zu machen, ist menschenverachtend. So entsteht eine Atmosphäre von Misstrauen, Abwehr und Abwertung gegenüber Sozialleistungsbeziehern, verbunden mit der Angst um den eigenen Arbeitsplatz. Dies muss in unserer Gesellschaft immer wieder öffentlich kritisiert werden. Dies ist nicht nur, aber wegen ihres Selbstverständnisses auch eine Aufgabe der Kirchen, der christlichen Verbände und Wohlfahrtsorganisationen. Wer zulässt, dass die Werteordnung unserer Gesellschaft derart verkürzt und verkrümmt wird wie derzeit, der trägt dafür auch Mitverantwortung. Zu den Grenzen von Eigenverantwortung auf dem Hintergrund von Solidarität Ob wir es schaffen, uns von unserer Fixierung auf Erwerbsarbeit als Finanzierungsgrundlage unseres Sozialstaats zu lösen, steht dahin. Selbst wenn es gelingt, kann und darf dies nur in einem langjährigen allmählichen Umsteuerungsprozess geschehen. In der Zwischenzeit ist darauf zu achten, dass die Richtung stimmt, in welche sich der Sozialstaat entwickelt. Bisher bezieht sich die sozialpolitische Diskussion um die Neuordnung der sozialstaatlichen Finanzierungsgrundlagen 19 20 »Gerecht ist anders« noch auf die einzelnen Zweige der sozialen Sicherungssysteme. Dadurch könnte man den Eindruck bekommen, dass es um jeweils ganz verschiedene Denkansätze geht, wenn z. B. in der Krankenversicherung über »Bürgerversicherung versus Gesundheitsprämie« oder im Hinblick auf die Alterssicherung über »Generationenvertrag versus Kapitalversicherung« gestritten wird. Zunächst einmal liegt aber bei all diesen Streitigkeiten die Frage zugrunde, ob ein Lebensrisiko wie Krankheit oder Alter, das jedes Glied unserer Gemeinschaft grundsätzlich treffen kann, eher solidarisch oder in individueller Eigenverantwortung abgesichert werden sollte. Unsere Sozialversicherungszweige stellen die bisherige gesellschaftliche Lösung einer solidarischen Absicherung dar. Allerdings war dies immer nur eine Teillösung. Obwohl z. B. die Kranken- und noch mehr die Pflegeversicherung quasi als Volksversicherung fungieren, indem sie rd. 90 % der Bevölkerung erfassen, werden gerade wirtschaftlich besonders gut situierte Bürger und Bürgerinnen in dieser Solidargemeinschaft nicht mit einbezogen: Die Beamten und die sog. »Besserverdienenden« sind neben den Selbstständigen von der Versicherungs- und Mitfinanzierungspflicht ausgenommen. Angesichts dieser Situation gibt es insbesondere aus den Reihen der SPD-Politiker/innen die Forderung, durch Einbeziehung der bisher ausgesparten Bevölkerungsteile das Solidarprinzip auszuweiten. Auf der anderen Seite wird vertreten, dass die gesetzlich verordnete Solidarität der Versicherten an ihre Grenzen gestoßen sei und ergänzt, wenn nicht ersetzt werden müsse durch private Vorsorge im Hinblick auf die allgemeinen Lebensrisiken. Damit hätten die Einzelnen auch die Entscheidungsfreiheit, ob, und inwieweit, sie ein Lebensrisiko hinnehmen oder absichern wollen. Bei der Betrachtung der solidarischen Absicherung von Lebensrisiken gibt es einen weiteren Aspekt zu beachten. Dies zeigt sich vor allem bei der Kranken- und Pflegeversicherung. Um die Finanzen der Versicherungen nicht zu sehr zu strapazieren, wird die Belastung der Versicherten mit einem Teil der durch Krankheit oder Pflegbedarf verursachten Kosten für gerechtfertigt erklärt. Denn nicht jede kleine Krankheit und nicht jede pflegerische Unterstützung im Kontext von Krankheit, Alter und Behinderung muss gleich als »Lebensrisiko« durch eine ganze Versichertengemeinschaft abgedeckt werden. In der Krankenversicherung hat das in den letzten Jahren zu einem wachsenden Katalog von Leistungen geführt, die von der Versorgungspflicht der Kassen ausgenommen sind oder zu denen der Versicherte eine Zuzahlung leisten muss. In der Pflegeversicherung wurde das Pflegerisiko von vornherein als etwas angesehen, mit dem der Betroffene und seine Angehörigen grundsätzlich allein fertig werden müssen. Nur da, wo der Pflegebedarf so erheblich ist, dass der Einzelne die Belastung nicht schultern kann, wird er durch einen Zuschuss der Pflegekasse unterstützt. Wer damit seinen Bedarf nicht decken kann, muss auf Sozialhilfe zurückgreifen. Es erscheint prinzipiell richtig, dass der Gesetzgeber die Frage nach Solidarität oder Eigenverantwortung in dieser doppelten Weise stellt. Solidarität kann überflüssig sein – wenn nämlich der Betroffene sich selbst helfen kann. Und Solidarität kann überfordert sein – wenn nämlich das abzusichernde Risiko größer ist als die Mittel, die der Solidargemeinschaft zur Verfügung stehen. Grundsätzlich muss man sich im Hinblick auf unseren Sozialstaat aber klar machen, dass darin das Modell der Eigenverantwortung bzgl. der Absicherung allgemeiner Lebensrisiken nur begrenzt tragfähig ist. Würde man Ernst machen mit der Eigenverantwortung bei der Absicherung des Krankheitsrisikos, dann müsste es z. B. möglich sein, dass ein Kranker, der weder versichert ist noch über ausreichende Barmittel verfügt, tatsächlich unbehandelt bleibt und seine Gesundheit oder gar sein Leben riskiert. Das ist bei uns – Gott sei Dank – nicht denkbar. Man kann hier rechtlich argumentieren und auf unsere Verfassung48 verweisen, die es dem Staat nicht erlaubt, einzelne seiner Bürger im Fall von Krankheit, Behinderung oder Pflegebedarf oder bei finanzieller Bedürftigkeit infolge Arbeitslosigkeit oder Altersarmut ganz ohne Hilfe zu lassen. Aber auch ohne rechtliche Absicherung ließe sich in Deutschland eine völlige staatliche Abständigkeit gegenüber Not leidenden Bürgern und Bürgerinnen politisch nicht halten. Da dies so ist, muss anerkannt werden, dass unsere Gesellschaft letztlich immer für die solidarische Absicherung der einzelnen Mitglieder einsteht. Wer die Solidargemeinschaft braucht, weil es mit der »Eigenvorsorge« nicht geklappt hat, der findet sie in der staatlichen Fürsorge jederzeit vor, ganz unabhängig von einem gegebenenfalls vorwerfbaren Eigenverschulden. Auch die, die sich unter Berufung auf »Eigenvorsorge« der Solidargemeinschaft entziehen, bleiben als Hilfeberechtigte ein Teil von ihr. Um es gleich klarzustellen: Das ist auch richtig so. Wer würde ernsthaft wollen, dass Kranke oder Bedürftige aus welchen Gründen auch immer ohne die nötige Hilfe bleiben? Wird allerdings über Eigenverantwortung hinsichtlich sozialer Risiken debattiert, ist die Frage angebracht, ob damit nicht möglicherweise nur den Gutverdienenden die Solidarität mit den Gering- oder Nichtverdienenden erspart werden soll in der Gewissheit, dass für den Fall der Fälle die vordem abgelehnte Solidargemeinschaft sehr wohl für die Betroffenen einspringt. Eigenverantwortung und Solidarität am Beispiel der Gesundheitsversorgung Bezogen auf die Reform der Krankenversicherung bedeuten diese Überlegungen, dass die Einnahmenseite der Versicherung erweitert werden muss, um den Faktor Erwerbsarbeit zu marginalisieren und eine umfassende solidarische Absicherung tatsächlich herzustellen. In diese Richtung geht z. B. die Idee einer »Bürgerversicherung« unter Einbeziehung neuer Zielgruppen wie der Beamten und Besserverdienenden sowie der Heranziehung aller Einkommensarten bei der Beitragsberechnung. Der mit der GKV-WSG49 eingeführte Gesundheitsfond – der erst ab 2009 Realität werden soll – könnte noch im Sinne solcher Zielsetzungen ausgerichtet werden. Die Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Pöld-Krämer: Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung jetzt schon in Kraft getretene erweiterte gesetzliche Versicherungspflicht50, welche die Medien irreführend auch z. T. als »Bürgerversicherung« titulieren, hat damit nichts zu tun. Die Regelung will lediglich wirtschaftlich ungesicherte Personen, insbesondere Selbstständige und Rentner, vor dem Herausfallen aus dem Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung bewahren. Was den Leistungsumfang der Krankenkassen angeht, ist die Unterscheidung zwischen »Wellness«- bzw. zum allgemeinen Lebensunterhalt gehörenden Gesundheitsleistungen (wie Hautcreme, Zahnseide etc.) und krankheitsbedingt erforderlicher medizinischer Hilfe sicher sinnvoll und nötig. Die Gesundheitsreform 2003 und die entsprechende Angleichung der sozialhilfefinanzierten Krankenhilfe51 ist über dies Ziel weit hinausgeschossen. Soziale Gerechtigkeit findet hier in der Weise statt, dass Reich wie Arm Praxisgebühren, Zuzahlungsbeträge und vor allem die von der Leistungspflicht ausgeschlossenen Arzneimittel aus eigener Tasche finanzieren müssen.52 Zwar wurden Zahnersatz und Krankengeld nicht aus der Leistungspflicht der Kassen ausgegliedert; stattdessen fällt »nur« ein zusätzlicher Versicherungsbeitrag an. Die Versorgung mit Sehhilfen für erwachsene Bürger und Bürgerinnen ist dagegen – mit Ausnahme von Extremfällen – gänzlich entfallen.53 Wegen der Krankenhilfeangleichung werden bedürftige Frauen nicht einmal mehr mit der Pille versorgt; nur Abtreibungen bekommen sie im Bedarfsfall noch auf Staatskosten. Brille, Pille und Zahnersatz sind keine »Wellness-« oder »Zusatzleistungen«. Sie sind allerdings bei entsprechendem Einkommen ohne Weiteres bezahlbar und dann nach dem oben dargestellten Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität kein Fall für die Solidargemeinschaft. Im Hinblick auf Fürsorgeempfänger und Menschen mit vergleichbar niedrigem Einkommen verlangt das Solidarprinzip, welches der gesetzlichen Krankenversicherung immer noch zugrunde liegt, die Wiedereinführung wirtschaftlicher Härteklauseln, damit eine umfassende und kostenfreie Krankenversorgung der bedürftigen kranken und behinderten Bürger und Bürgerinnen erneut sichergestellt wird. Eigenverantwortung und Solidarität am Beispiel der Altersvorsorge Was die Rentenversicherung betrifft, so muss auch hier die Marginalisierung von Erwerbsarbeit und die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens das Versicherungsziel sein. Ähnlich wie bei der Krankenversicherung müssten demnach alle Bürger mit allen Einkommensarten in die Versicherung einbezogen sein. Und auch in einem weiteren Punkt müssen wir die Rentenversicherung den Strukturen der Krankenversicherung anpassen: Einzahlen muss jede/r nach seinem oder ihrem wirtschaftlichem Vermögen, aber als Auszahlung sollten alle eine einheitliche Rente erhalten. Dies ist nicht zu verwechseln mit einer »Grundrente«, die sich ihrer Grundidee nach zwingend an der bloßen Existenzsicherung ausrichtet. Das wäre nichts anderes als Altersarmut auf Rentenbasis. Die Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Aufgabe der Rentenversicherung kann andererseits nicht in der Sicherung des jeweiligen Lebensstandards ihrer ehemaligen Beitragszahler bestehen. Interessanterweise schätzen dies offenbar schon viele Bürger und Bürgerinnen – entgegen der geltenden Rechtslage – genau so ein. Untersuchungen haben ergeben, dass es immer noch eine hohe Zustimmung bei Jung und Alt zum sog »Generationenvertrag« gibt, also zur Finanzierung der Altersrenten durch die jeweils nachgewachsene und in Arbeit stehende Generation, während gleichzeitig wenig Vertrauen der Jüngeren besteht, dass sie im Alter eine ihren Einzahlungen halbwegs entsprechende Rente erhalten werden. 54 Tatsächlich sorgt unser derzeitiges Rentensystem dafür, dass wir ihm nicht trauen können. Der Generationenvertrag, auf den es sich beruft, ist nämlich seiner Grundidee nach nichts anderes als ein System der Umverteilung: Weil die Jungen für die Alten gesorgt haben, werden sie auch selbst im Alter von ihren Nachkommen versorgt. Dieses System will jeder Generation die Angst vor einem Leben in Altersarmut nehmen. Eine solche Umverteilung zwischen den Generationen nimmt unser Rentensystem aber letztlich gar nicht vor. Die Rentenzahlung richtet sich derzeit danach, wie viel und wie lange man in die Versicherung eingezahlt hat. Damit funktioniert sie eigentlich nicht viel anders als eine private Kapitalversicherung: Was ich einzahle, will ich später auch wiederhaben – am besten mit Zins und Zinseszins. Bei einer privaten Kapitalversicherung trage ich allerdings das Risiko, dass meine Geldanlage durch Börsenprobleme, Inflation oder ähnliche nicht vorhersehbare Risiken des Kapitalmarktes wertlos wird. Dies Risiko ist uns Deutschen offenbar bewusst und wir wollen es nicht eingehen. Man kann das an den öffentlichen Klagerufen der Politik und Ökonomie über die geringe Akzeptanz der privaten Alterssicherung bei uns ablesen. Es ist offenbar so, dass wir es mit denen halten, die wie seinerzeit Oskar von Nell-Breuning die Idee einer privaten Alterssicherung für Unsinn halten. Zu ihnen gehört auch Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der in einem Beitrag für die ZEIT55 darauf hinwies, dass in einem privaten wie einem staatlichen Altersvorsorgesystem die Renten immer nur aus dem finanziert werden können, was die nächste Generation aktuell erwirtschaftet. Wer dies anerkennt, muss sich von dem Gedanken einer beitragsentsprechenden Rente verabschieden und zwar möglichst bald. Genau so, wie die eben verabschiedete Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre56 grundsätzlich zu bejahen ist. Die Verlängerung der Lebenszeit muss wenigstens ein Stück weit aufgefangen werden durch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Das ist ein Gebot der Generationengerechtigkeit, damit die (immer weniger werdenden) Jüngeren in der Gesellschaft die (immer mehr werdenden) Älteren nicht über Gebühr solidarisch unterstützen müssen. Dass dies zu erheblichen Problemen angesichts eines Arbeitsmarktes führen wird, der Arbeitsuchende spätestens ab 50 Jahren weitgehend ausgrenzt und überdies für die älteren Beschäftigten noch in keiner Weise angemessene Konzepte für alterns- bzw. alterungsgerechte Beschäftigungsverhältnisse 21 22 »Gerecht ist anders« entwickelt hat, soll nicht übersehen, aber an dieser Stelle auch nicht vertieft werden.57 Mit einer längeren Erwerbsphase und einer gesetzliche Rente, welche sich tendenziell an den aktuellen Einnahmen der Versicherung statt an den eigenen Beitragseinzahlungen orientiert, kann Eigenvorsorge dann noch in Form eines »et on« betrieben werden. Zur Veranschaulichung sei auf den Vergleich mit einem Menü zurückgegriffen: Der Hauptgang wird solidarisch bezahlt, den Nachtisch kann man auf eigene Kosten kaufen.58 Und wenn man das Geld für den Nachtisch nicht hat, ist es auch nicht so schlimm. Eigenverantwortung und Solidarität am Beispiel des täglichen Lebensbedarfs Was schließlich die Absicherung des Lebensunterhaltes mit und ohne Erwerbsarbeit angeht, so gibt es schon lange die Forderung nach einem steuerfinanzierten armutsfesten Bürgergeld. Derzeit wird die Diskussion darüber vielfach unter dem Begriff »bedingungsloses Grundeinkommen« geführt. Über dessen Ausgestaltung und Höhe wird man noch viel diskutieren müssen. Am schwierigsten wird der Spagat sein, den die systematische Integration von Erwerbsarbeit erfordert. Erwerbsarbeit sollte in einer Solidargemeinschaft als ein produktiver Beitrag Anerkennung finden. Aber der zeitweise oder dauerhafte Verlust von Arbeit darf nicht zu Ausgrenzung und Chancenlosigkeit führen. Wie kann es gelingen, dass Erwerbsarbeit selbst unter herausfordernden und anstrengenden Bedingungen auch dann noch attraktiv bleibt, wenn ein Leben ohne diese Arbeit weder eine materielle noch eine soziale Bedrohung darstellt? Den bisherigen, sehr kontroversen Beiträgen zum bedingungslosen Grundeinkommen ist noch kein überzeugendes Modell zu entnehmen.59 Aber auch wenn der Weg noch offen ist, kommt als Ziel nur in Betracht, dass in unserer Solidargemeinschaft ein menschenwürdiges Leben mit und ohne Arbeit gesichert ist, und dass Ansehen und gesellschaftliche Teilhabe an der Person und nicht am Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Arbeitsplatzes anknüpfen. Ein Mittel dazu, diese Ziele zu verwirklichen, besteht in sozialen Netzwerken wie Familie, Nachbarschaften, Gemeinden und Gemeinschaften unterschiedlichster Interessengruppen. Soziale Netzwerke bieten sehr wirkungsvoll Möglichkeiten, einerseits produktive Beiträge jenseits der herkömmlichen Erwerbsarbeit einbringen zu können und andererseits für den Bedarfsfall auch eine Versorgungssituation herzustellen, die mehr als nur das für ein menschenwürdiges Leben Auskömmliche bietet. Die Familie im althergebrachten Sinn ist dafür ein ganz gutes Beispiel. Hier mischten sich Erwerbsund Reproduktionsarbeit. Und beide hatten in den Augen der Familienmitglieder eine gleichwertige Bedeutung. Alle zusammen schafften sie neben der finanziellen Lebensbasis einen sozialen Zusammenhalt, der im Ergebnis auch eine Art geldwerten Vorteil darstellte. Denn stabile soziale Beziehungen bieten nun einmal auf ihre Weise auch Schutz vor den Wechselfällen des Lebens. Eine Untersuchung von Blinkert/Klie hat z. B. ergeben, dass in stabilen sozialen Netzwerken die Angehörigenpflege sicher gestellt ist – mit und ohne finanzielle Hilfen wie dem Pflegegeld. Instabile soziale Beziehungsgefüge dagegen führen zu nicht gesicherten Pflegesituationen – ebenfalls unabhängig von Ansprüchen auf finanzielle Hilfen.60 Soziale Netzwerke können und sollen nicht mehr wie früher anstelle unserer sozialen Sicherungssysteme für Notlagen ihrer Mitglieder einstehen. Es geht hier auch nicht um bürgerschaftliches Engagement, welches eher im Hinblick auf die Übernahme sozialer Aufgaben thematisiert wird denn im Hinblick auf wechselseitige soziale Beziehungspflege. Soziale Netzwerke werden – wenn sie gelingen sollen – in unserer Gesellschaft ihren Tribut fordern, z. B. indem die Mitglieder des Netzwerkes weit weniger flexibel verfügbar sind als derzeit in der Arbeitswelt gefordert. Aber soziale Netzwerke brächten auch einen individuellen wie gesamtgesellschaftlichen Gewinn. Denn auf der Basis verlässlicher sozialer Sicherungsleistungen können soziale Netzwerke einen Rahmen bieten, der für die Beteiligten mit sozialen und mittelbar auch mit finanziellen Vorteilen verbunden ist. Um noch einmal ein Bild zur Veranschaulichung zu nehmen: Wenn die soziale Absicherung des Einzelnen im Umfang einer Grundrente den Kaffee darstellt, dann können soziale Netzwerke Milch und Zucker sein, die für sich genommen weder nach Masse noch nach Kosten Bedeutung haben. Für den Genuss des Getränks haben sie aber eine erhebliche Bedeutung. Anmerkungen 1 Es handelt sich um die leicht überarbeitete und aktualisierte Fassung eines am 09.11.2005 gehaltenen Vortrages anlässlich der Hauptversammlung des Verbandes Evangelischer Diakonen und Diakoninnengemeinschaften in Deutschland (VEDD). Der besseren Lesbarkeit wegen wird die weibliche neben der männlichen Form nicht durchgehend benutzt. 2 Wort der Ev. Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover/Bonn 1996; Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischöfe, Das Soziale neu denken, 2003; Rat der EKD, Gerechte Teilhabe, Denkschrift zur Armut in Deutschland, Gütersloh 2006 3 Auf Antrag der Koalitionsfraktion erhielt die Bundesregierung 2000 erstmals den Auftrag zur regelmäßigen Erstellung von Armuts- und Reichtumsberichten mit dem Ziel, soziale Gerechtigkeit in der Politik zu stärken, zum 2. Armuts- und Reichtumsberichts 2005, S. 15, s. auch Fn 19; BLÜM, N., Gerechtigkeit – eine Kritik des Homo oeconomicus, Freiburg 2006; LAFONTAINE, O., Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft, Berlin 2006; HÖHLER, G., Jenseits der Gier. Vom Luxus des Teilens, Berlin 2007 4 Zum Beispiel HORSTER, D. (Hrsg.), Sozialstaat und Gerechtigkeit Göttingen 2005, GRÖTZINGER, G./MASCHKE, M./OFFE, C., Die Teilhabegesellschaft. Modell eines neuen Wohlfahrtsstaats, Frankfurt a. M. 2006 Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Pöld-Krämer: Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung 5 Zum Beispiel HEBEL, St./KESSLER, W. (Hrsg.), Zukunft sozial: tungskosten/weitere Ausgaben zu verstehen, Quelle: Bundesmi- Wegweiser zu mehr Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2004; HART- nisterium für Arbeit und Sozialordnung, Sozialkompass in Europa WIG, I./SPENGLER, T. (Hrsg.), Die große Entsolidarisierung, Kurs- 2007, Bonn 2006, S. 18, 19. buch Nr. 157, Berlin 2004; Social Watch Deutschland, Kein Geld für die Armen, Report 2006 6 Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG 7 Zum Konzept des Sozialstaats und den Merkmalen seines wohlfahrtsstaatlichen Arrangements s. KAUFMANN, F.-X., Herausforderungen des Sozialstaats, Frankfurt a. M. 1997, S. 21 ff. 8 Tagesspiegel online v. 28.07.05 unter: www.tagesspiegel.de/ 21 Bezogen auf die EU-25, Quelle Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Fn. 20, S. 16. 22 BESKE, F./DRABINSKI, U./GOLBACH, Leistungskatalog des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich. Eine Analyse von 14 Ländern, Kiel 2005. 23 Pressemittelung des IGSF v. 31.08.05 URL (30.03.07) www. igsf.de/Band104-lang.pdf politik/index.asp?ran=on&url=http://archiv.tagesspiegel.de/ar- 24 2. Armuts- und Reichtumsbericht, Fn 3 und 19, S. 60 chiv/28.07.2005/1958359.asp 25 Dass 2005 noch 630 000 Personen Grundsicherung im Alter und 9 S. § 23 SGB IV i. d. F. des zum 1.1.2006 in Kraft getretenen bei Erwerbsminderung bezogen, Fn 17, erklärt sich wesentlich Gesetzes zur Änderung des Vierten und Sechsten Buches Sozi- daraus, dass zu den Leistungsbeziehern nicht nur die über 65-Jäh- algesetzbuch (»Rentenentlastungsgesetz«). 10 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz BTDrs. 16/3794 11 Mitteilung des BMGs unter: www.die-gesundheitsreform.de/presse/pressemitteilung/pdf/2005_2/pmnr_103-GKV1-Quartal.pdf 12 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG), BT-Drs. 16/3100 13 Gemeinsame Stellungnahme der Spitzenverbände vom 06.11.06 rigen, sondern auch die unter 65-jährigen volljährigen Menschen gehören, die behinderungsbedingt erwerbsunfähig sind. 26 S. Koalitionsvereinbarung 1998, II Arbeit, S. 10; Koalitionsvereinbarung 2005, S. 21 27 Das Kabinett hat am 14.3.08 den Entwurf für eine Unternehmenssteuerreform 2008 verabschiedet, um die Unternehmenssteuerbelastung auf 29,83 % abzusenken, Quelle: Berlin Kontor Online URL (30.03.07) www.aok-bv.de/politik/reformwerkstatt/re- Press Service URL (30.03.07) www.berlinkontor.de/14.03.2007/ form2006/index_08721.html kabinett-beschliesst-2983-unternehmenssteuer.html 14 S. dazu Der Spiegel, 43/2005, Alltägliche Selbstbedienung, S. 24, 25, K. RUDZIO, Betrug und Irrtum, in: Die Zeit Nr. 44 v. 27.10.05, S. 23, J. VIERING, Rechenkunststücke mit Hartz IV, SZ v. 29.10.05, S. 8 15 S. Süddeutsche Zeitung Nr. 71 v. 26.03.07, S. 5, Geldsegen weckt Begehrlichkeiten. Laut diesem Artikel werden für 2007 zwischen 10 und 15 Mrd. Euro Überschuss erwartet. 16 Zur Vorgeschichte und zum Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des Finanzausgleichsgesetzes vom 28 OECD Revenue Statistics 1965-2005 Abb. 13110 zit. von Jahnke unter URL www.jjahnke.net/steuern.html 29 So die KPMG-Studie »Steuersätze 2006 im internationalen Vergleich«, Pressemitteilung v. 18.04.06 URL (30.03.07) www. presseportal.de/story.htx?nr=811734. 30 DEGEN , J., Mehr Freiheit, in: Sozialwirtschaft 1/2007, S. 11, 12. 31 STEINGART, G., Deutschland. Der Abstieg eines Superstars, München 2005, S. 116, 117. 22.12.2006, BGBl. I S. 3376 v. 28.12.2006, URL (30.03.07) 32 S. dazu HORSTER Fn 4 www.aus-portal.de/aktuell/gesetze/01/index_8279.htm. 33 Fn 2 17 Tatsächlich stieg die Anzahl der Empfänger/innen von Grundsi- 34 www.diegesellschafter.de cherung im Alter und bei Erwerbsminderung bis Ende 2005 im 35 STEINFELD, Th., wir wollen alle gut sein, SZ v. 21.09.05 Vergleich zum Vorjahr um fast 20 % auf rund 630 000 Personen, 36 Gesellschaft im Reformprozess, Ergebnisse einer Erhebung der während die Anzahl der Bezieher/innen von Hilfe zum Lebensun- TNS Infratest Sozialforschung Berlin 2006, 94, download über terhalt außerhalb von Einrichtungen nach vorläufiger Erschätzung des statistischen Bundesamtes Ende 2005 sich auf rund 81 000 Personen belief. Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland, URL www.destatis.de/presse/deutsch/sach/pm08.htm. 18 In einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, URL www.harald-thome.de 37 NOLTE, P., Generation ReformJenseits der blockierten Republik, München 2004, S. 70, 71 38 S. vor allem §§ 1 – 3, 31 SGB II 39 S. § 11 Abs. 3 SGB XII 21.11.2006, nennt das Geschäftsführende Präsidialmitglied des 40 URL www.unser-parlament.de Link Reden und Dokumente Deutschen Städte- und Gemeindebundes Dr. Landsberg die Zahl 41 § 1 BSHG; das BSHG trat mit dem 31.12.2004 außer Kraft. von 630 000 Beziehern von Grundsicherung im Alter und bei 42 Fn 2 S. 47 – 49 Erwerbsminderung URL (30.03.07) www.dstgb.de Link Pres- 43 Von NELL-BREUNING, O., Baugesetze der Gesellschaft, Freiburg/ semeldungen; hinzu kommen noch die Bezieher/innen von Hilfe zum Lebensunterhalt in der Sozialhilfe, sodass die Gesamtzahl der Sozialhilfebezieher/innen sich entsprechend erhöht. 19 URL (30.03.07) www.sozialpolitik-aktuell.de/docs/Lebenslagen %20in%20Deutschland_Bericht.pdf Basel/Wien 1990, S. 22 ff. 44 S. zum von Müntefering favorisierten Modell Bofinger IZA, DIW Berlin, Beschäftigungs- und finanzpolitische Auswirkungen des Konzepts von Bofinger und Walwei, IZA Research Report No 1, Februar 2007, URL www.iza.org/files/IZA-Gutachten_Kombi- 20 Darunter sind hier die Gesamteinnahmen/-ausgaben für soziale lohn.pdf und zum von Glos verfolgten Modell IZA, Untersuchung Sicherung, bestehend aus direkten Sozialleistungen plus Verwal- der beschäftigungs- und finanzpolitischen Auswirkungen eines Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 23 24 »Gerecht ist anders« Konzepts für existenzsichernde Beschäftigung des Bundesminis- 56 Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demographi- teriums für Wirtschaft, März 2007, URL www.iza.org/index_ht sche Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen ml?lang=de&mainframe=http%3A//www.iza.org/de/webcontent/ der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpas- news/index_html&topSelect=news sungsgesetz), BT-Drs. 16/4372 45 »Mehr Arbeitsplätze in DAX-Konzernen«, Süddeutsche Zeitung Nr. 68 v. 22.03.07, S. 19 46 »Wer arbeitet, soll nicht arm sein«, Süddeutsche Zeitung Nr. 72 v. 27.03.07, S. 6 57 S. dazu EBERT et al. Fn 47 58 Als anschauliches Beispiel könnte man auch auf den Cappuccino verweisen, dessen Kaffeebrühe für die solidarische Sicherung und dessen Rahm für die Eigenvorsorge stünde; der Begriff ist aber 47 EBERT, A./KISTLER, E./STAUDINGER, Th., Rente mit 67 – Proble- bereits politisch besetzt und in spezifischer Weise gefüllt, s. JU- me am Arbeitsmarkt, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 4-5/2007, Beschlüsse zur Sozialpolitik v. 11.05.2004 und die Stellungnahme S. 25, 27 m. w. N. zum dreisäuligen »Cappuccinomodell« unter: www.dachaueriz. 48 Gebot des Schutzes der Menschenwürde aus Art. 1 GG. 49 Das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG), BT-Drs. 16/3950, tritt vom 1.4.07 an bis 2011 stufenweise in Kraft. 50 § 5 Abs. 1 Nr. 13 n. F. 51 §§ 48 ff. SGB XII, § 264 SGB V 52 §§ 34, 61, 62 SGB V de/html/modules.php?name=IZ_Nachrichten&func=showArtic le&id=761. 59 Zum Stand der Debatte zwischen Reiner Roth und Ronald Blaschke s. labournet.de Germany URL www.labournet.de/diskussion/ arbeit/existenz/linkskritik.html. 60 BLINKERT, B/KLIE, Th., Pflege im sozialen Wandel, Hannover 1999, S. 181 53 § 31 SGB V 54 DALLINGER , U., Generationengerechtigkeit – Wahrnehmung Anschrift der Verfasserin in der Bevölkerung, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 8/2005, Silvia Pöld-Krämer S. 29 – 37 FH Bielefeld – FB 4 55 Die Zeit Nr. 32 v. 04.08.05, S. 9 Jakobusstr. 3 33604 Bielefeld Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 »Gerecht ist anders ...« Ökonomisch kontraproduktive Verteilungen der Wertschöpfung 25 Heinz-J. Bontrup Dipl.-Ökonom, Dipl.-Betriebswirt, Professor für Wirtschaftswissenschaft Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik Heinz-J. Bontrup Entscheidend für einen weitgehend krisenfreien Marktprozess ist die Verteilungsfrage der jährlich generierten Wertschöpfung, die auch als »Wert der Arbeit« bezeichnet werden kann. Dieser Wert zerfällt in die geleisteten Lohn- und Gehaltszahlungen sowie in Form von Gewinn, Zinsen und verausgabten Mietund Pachtzahlungen. Durch die Besteuerung dieser Wertschöpfung ist der Staat u. a. in der Lage, einen Sozialstaat zu finanzieren. Was passiert nun aber, wenn sich erstens die Wertschöpfung immer mehr in Richtung einer Umverteilung zu den Gewinn- und Vermögenseinkünften bewegt und zweitens der Staat durch Steuern und Abgaben zusätzlich immer mehr den »Faktor« Arbeit und damit die Löhne und Gehälter belastet sowie die Unternehmensgewinne und Vermögenseinkünfte entlastet? In der Wirtschaftswissenschaft konkurrieren zur Beantwortung dieser Fragen zwei theoretische Ansätze miteinander. Da ist zum einen die neoklassische/neoliberale Theorie, auch Angebotstheorie genannt, die zur Bekämpfung der seit Mitte der 1970er-Jahren bestehenden Massenarbeitslosigkeit auf den Markt, auf Wettbewerb, und eine Zurückdrängung des Sozialstaates pocht. Die Löhne und Lohnnebenkosten müssten gesenkt, der Sozialstaat beschnitten und die Gewinne und Vermögenseinkommen erhöht werden. Dann würden die Unternehmen auch investieren und es käme zu mehr Beschäftigung. Dieser marktradikalen Sicht steht die keynesianische Theorie gegenüber. Demnach gibt es unter kapitalistischen Markt- und Wettbewerbsbedingungen keinen krisenfreien Mechanismus, der automatisch für eine vollbeschäftigte Wirtschaft sorgt. Einzelwirtschaftliches – auch rationales – Handeln impliziere per se kein gesamtwirtschaftlich positives Ergebnis. Ohne staatliche Interventionen in den Marktprozess seien allenfalls suboptimale Ergebnisse möglich. Ob durch Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörungen oder durch die Verteilungen der primären Markt- und Wettbewerbsergebnisse, immer käme es nur zu einer unzureichenden volkswirtschaftlichen Wohlfahrtsentwicklung. Was ist nun aber richtig? Dies soll im Folgenden empirisch anhand der Verteilung der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung in Deutschland untersucht und darstellt werden. Sinkende Löhne und Gehälter bei steigenden Gewinnen und Vermögenseinkünften Schaut man sich die funktionale Verteilung der gesamtwirtschaftlich geschaffenen Wertschöpfung an, so wird überdeutlich, dass es zu einer Umverteilung zur Profitquote (Gewinne, Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Zinsen, Miet- und Pachteinkünfte) in Deutschland gekommen ist. Im langfristigen Trend ist die um den Anteil der Selbstständigen bereinigte gesamtwirtschaftliche Brutto-Lohnquote, die im Jahr 1974 seit Gründung der Bundesrepublik mit 75,2 v. H. ihren Höhepunkt erreicht hatte, bis 2005 um 6,2 Prozentpunkte auf 69,0 v. H. zurückgegangen. Immer höhere Arbeitslosigkeit – seit der Wiedervereinigung gab es einen Anstieg um 87 v. H. – sowie prekäre Beschäftigung, Niedriglohn-Jobs und ausbleibende Reallohnsteigerungen prägen das gesamtwirtschaftliche Bild. So ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten allein von 2000 bis 2005 um 1,7 Millionen Personen zurückgegangen, während die 400-Euro-Jobs im selben Zeitraum um 670 000 zugelegt haben. Konnten die nominalen Nettolöhne und -gehälter zwischen 1991 und 2005 jahresdurchschnittlich noch um 1,7v. H. steigen, so gingen die Reallöhne und -gehälter um 0,3 v. H. zurück, obwohl das Volkseinkommen im selben Zeitraum jahresdurchschnittlich um 2,6 v. H. zulegte. Besonders extrem waren die gesamtwirtschaftlichen Umverteilungswerte nach dem Börsenabsturz und dem Zusammenbruch der sogenannten New Economy im Jahr 2001. Von 2001 bis 2005 zeigt sich hier insgesamt, trotz des konjunkturellen Einbruchs, ein Anstieg des Volkseinkommens – also der zur Verfügung stehenden gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung – um 160 Mrd. Euro (vgl. Tab. 1). Um diese Summe ist Deutschland während dieses Zeitraums insgesamt reicher geworden. Jahresdurchschnittlich entsprach dies einer Wachstumsrate von 2 v. H. Von diesem Reichtum entfallen aber auf Unternehmens- und Vermögenseinkommen 131,1 Mrd. Euro, dies entspricht einer Quote von fast 82 v. H. Auf die Arbeitnehmerentgelte der gut 34 Millionen abhängig Beschäftigten kamen aber lediglich nur 28,9 Mrd. Euro oder eine Quote von 18 v. H. des Volkseinkommens. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik sind im Jahr 2005 die Arbeitnehmerentgelte sogar nominal um 5,6 Mrd. Euro gesunken, was bedeutet, dass die Unternehmens- und Vermögenseinkommen stärker zugenommen haben als das gesamte Volkseinkommen. Nur was wurde – einmal unabhängig von den sozialen Verwerfungen, von der Zunahme der Armuts- und Reichtumsschere – damit erreicht? Selbst bei einer unterstellten konstanten gesamtwirtschaftlichen Sparquote nichts anderes als ein Rückgang der binnenwirtschaftlichen Konsumgüter- und Investitionsgüternachfrage. Diesen Rückgang konnte auch die äußerst erfolgreiche Auslandsnachfrage – die aber nur nach Abzug der Importe etwa 5 26 »Gerecht ist anders« Tab. 1: Zunahme des Volkseinkommens und seine Verteilung Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit Volkseinkommen Arbeitnehmerentgelt Unternehmens- und Vermögens- Reales Wirtschaftswachstum Registrierte Arbeitslosigkeit einkommen 2001 2002 2003 2004 2005 Gesamt in Mrd. € in v. H. in Mrd. € in v. H. 36,4 20,3 18,8 58,3 26,2 160,0 2,4 1,3 1,2 3,6 1,6 2,0 20,6 8,1 2,4 3,4 -5,6 28,9 1,9 0,7 0,2 0,3 -0,5 0,5 in Mrd. € 15,8 12,2 16,4 54,9 31,8 131,1 in v. H. in v. H. in Tsd. in v. H. 3,7 2,8 3,6 11,7 6,1 5,5 1,2 0,0 -0,2 1,2 0,9 0,9 3.852 4.060 4.376 4.381 4.863 -1,0 5,4 7,8 0,1 11,0 4,6 * Prognose. Quelle: Statistisches Bundesamt 2005, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, eigene Berechungen v. H. der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ausmacht – nicht kompensieren. Im Gesamtergebnis kam es zu einer verheerenden Wachstumsschwäche und zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit. So stieg das reale Bruttoinlandsprodukt von 2001 bis 2005 lediglich um jahresdurchschnittlich 0,9 v. H. bei einem gleichzeitigen jahresdurchschnittlichen Anstieg der registrierten Arbeitslosenzahlen um 4,6 v. H. Immer mehr disproportional verteiltes Vermögen Das nur schwache Wirtschaftswachstum, Massenarbeitslosigkeit und die Umverteilung zur Profitquote haben aber noch eine zweite wesentliche Wirkung gehabt. Eine zunehmende disproportionale Verteilung der Geldvermögensbestände. Aus Einkommen entsteht durch Ersparnis ein Vermögensbestand und aus diesem wiederum Einkommen. Dazu ist ein Blick auf das private Netto-Geldvermögen in Deutschland zu werfen, das mittlerweile auf über 2,5 Billionen € angewachsen ist (4 Billionen € Brutto-Geldvermögen minus Schulden von rund 1,5 Billionen €). Auf die reichsten 10 Prozent der privaten Haushalte entfällt dabei fast die Hälfte des gesamten NettoGeldvermögens. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext, dass ohne die Schulden des Staates und der Unternehmen die Geldvermögensbestände der privaten Haushalte nicht möglich wären. Wenn in einer Volkswirtschaft niemand bereit ist, sich zu verschulden, kann auch niemand Geldvermögen bilden und Zinsen erhalten. Insofern impliziert eine Staatsverschuldung bzw. bedeuten staatliche Defizite nichts anderes, als dass die übrigen Teilnehmer des Wirtschaftslebens einen exakt gleich großen Überschuss besitzen. Die Summe aller Schulden ist notwendigerweise immer genauso groß wie die Summe aller Guthaben (Vermögen). Wenn die Schulden wachsen, wachsen die Guthaben im Gleichschritt mit. Genauso wenig belasten wir mit unseren Staatsschulden automatisch unsere Kinder. Denn die Kinder, die unsere Schulden erben, erben auch unser Vermögen. Man kann bei der Staatsverschuldung nicht immer nur in populistischer Manier die Schuldenseite verachten, oder wie die Bundeskanzlerin Merkel von einem »Sanierungsfall Deutschland« reden, und die Vermögensseite unterschlagen, die dann aber isoliert betrachtet, von vielen bewundert wird (s. Tab. 2). Ein Blick in die gesamtwirtschaftliche Vermögensbildung und Finanzierungsrechnung Deutschlands seit der Wiedervereinigung zeigt diesen Zusammenhang. Von 1991 bis 2005 betrug der kumulierte Überschuss der privaten Haushalte in Deutschland gut 1263 Mrd. €. Neben den privaten Haushalten erzielten nur die finanziellen Sektoren (Banken und Versicherungen) noch einen Überschuss in Höhe von fast 160 Mrd. €. Dem standen exakt gleich große kumulierte Defizite bei den Produktionsunternehmen in Höhe von knapp 564 Mrd. € und Kapitalabflüsse ins Ausland von fast 84 Mrd. € sowie kumulierte Staatsschulden von über 775 Mrd. € gegenüber (siehe Tab. 2). Aufgrund der Wiedervereinigung war Deutschland bis 2001 auf Kapitalzuflüsse zur Finanzierung der gesamten Sachvermögensbildung angewiesen, d. h. die gesamtwirtschaftliche Ersparnis reichte nicht zur Finanzierung der Investitionen aus. Dies dokumentierte sich auch in einer negativen Leistungsbilanz. Seit 2002 kommt es dagegen wieder zu einem Kapitalexport. Die gesamtwirtschaftliche Ersparnis übersteigt seitdem bei weitem die Sachvermögensbildung in Deutschland und die Leistungsbilanz ist positiv. Die deutsche Wirtschaft investiert verstärkt Finanzierungsmittel im Ausland. Der Staat erhöhte noch die Umverteilung Wenn vor diesem Hintergrund Staatsverschuldung und private Geldvermögensbildung zwei Seiten einer Medaille sind, dann kann Politik nicht weiter privaten Reichtum pflegen und sich Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Bontrup: Ökonomisch kontraproduktive Verteilungen der Wertschöpfung Tab. 2: Finanzierungskreislauf der deutschen Wirtschaft nach Sektoren – in Mrd. € Private Haushalte* 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 20001) 2001 2002 2003 2004 2005 Kumuliert Jahresdurchschnitt 76,4 79,0 72,4 51,8 56,8 61,7 62,8 66,1 69,4 75,4 97,3 101,8 125,1 131,3 136,6 1.263,9 84,3 Produktionsunternehmen** Finanzielle Sektoren*** -66,9 -61,1 -42,3 -46,6 -30,2 -14,8 -26,8 -34,0 -70,3 -137,1 -41,4 5,8 -12,5 10,2 4,1 -563,9 -37,6 11,2 10,0 11,7 13,9 8,3 3,2 6,0 -4,7 6,2 8,0 2,1 19,8 19,6 22,1 22,3 159,7 10,6 Ausland (+) = Kapitalzufluss 23,1 12,3 9,8 22,8 23,9 12,4 8,6 15,3 24,0 26,6 1,6 -47,8 -45,6 -82,4 -88,5 -83,9 -5,6 Staat Finanzierungsdefizit -43,8 -40,2 -51,6 -41,9 -58,8 -62,5 -50,6 -42,7 -29,3 27,1 -59,6 -79,6 -86,6 -81,2 -74,5 -775,8 -51,7 * Inkl. Einzelunternehmen; ** Kapital- und Personengesellschaften; *** Banken und Versicherungen, 1) Im Jahr 2000 einschl. der Verkäufe von UMTS-Lizenzen, Quelle: Deutsche Bundesbank: Ergebnisse der gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung für Deutschland 1991 bis 2004, Frankfurt a.M. 2005, S. 17 und S. 23, sowie Monatsbericht Juni 2006, S. 17. dafür öffentliche Armut einhandeln, sondern es ist eine adäquate Besteuerung der privaten Überschüsse bzw. Gewinne und Vermögen überfällig. Hierauf wird von der Politik aber seit langem nicht nur verzichtet, sondern die Überschüsse wurden noch durch eine einseitige staatliche Umverteilungspolitik bei den Steuern und Sozialabgaben zugunsten der Unternehmen und Vermögenden erhöht. Dies zeigt die Entwicklung der Netto-Lohnquote, die aussagt, wie viel nach der staatlichen Intervention von den primären Markteinkommen noch übrig bleibt. Seit 1991 ging die Netto-Lohnquote im wiedervereinten Deutschland bezogen auf das Volkseinkommen um 4,4 Prozentpunkte von 40,3 v. H. auf 35,9 v. H. im Jahr 2005 zurück, während das Kaufkraftpotenzial der Netto-Gewinnund Vermögenseinkommen um 3,4 Prozentpunkte von 25,0 v. H. im Jahr 1991 auf 28,4 v. H. im Jahr 2005 anstieg. Konjunktur- und wachstumspolitisch fatal ist dabei, dass die Kaufkraftpotenziale der beiden Einkommensquoten asymmetrisch wirksam werden. Die mikroökonomisch mit tendenziell hohen privaten Einkommen verbundenen Gewinn- und Vermögenseinkommen weisen auch große, nicht nachfragewirksame Sparneigungen auf; die hohe nachfragewirksame Konsumneigung, die tendenziell mit Lohneinkommen verbunden ist, kann sich jedoch wegen mikroökonomisch stagnierender, ja sinkender Einkommen nicht entfalten. So zeigt sich dann auch die Umverteilung in einer hohen gesamtwirtschaftlichen Sparquote. Die Sparquote, die zwischen 1991 und 2000 noch von 12,9 v. H. auf 9,2 v. H. zurückgegangen war, stieg seitdem wieder bis auf 10,6 v. H. im Jahr 2005 an. Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Umsetzung der »E-N-A-Formel« tut Not Damit steht der Befund fest: Die Neoklassik, die neoliberale Theorie, irrt. Die »G-I-B Formel«, gib mit heute mehr Gewinn, so kommt es morgen zu mehr Investitionen und übermorgen zu mehr Beschäftigung, geht unter kapitalistischen Verhältnissen einer markt- und wettbewerbsgetriebenen Wirtschaft nicht auf. Die Formel (Theorie) vernachlässigt völlig die Nachfrageseite von Märkten, sie ist einseitig angebotsorientiert. Sie erkennt nicht einmal den Doppelcharakter von Arbeitkosten. Zwar handelt es sich hierbei einerseits um Kosten, hinter denen immer auch eine Leistung steht, andererseits aber auch um Einkommen. Senke ich nun die Arbeitskosten, so senke ich damit auch die Einkommen und automatisch verschlechtern sich die Absatzbedingungen der Unternehmen. Gelingt es diesen immer schlechter ihre laufende Produktion abzusetzen, werden auch bei steigenden Gewinnen keine arbeitsplatzschaffenden Investitionen getätigt. Die versprochenen Beschäftigungseffekte bleiben aus. Sofern das Geld von den Unternehmen nicht sofort auf die Finanzmärkte fließt und dort unter anderem in Private Equity- und Hedge-Fonds sein Unwesen treibt, wird es allenfalls für Rationalisierungsmaßnahmen verwendet – dann allerdings mit weiteren negativen Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte. Hier hilft auch das außenwirtschaftliche Ventil nichts, wie die zuvor aufgezeigten empirischen Daten deutlich gemacht haben. Der Kaufkraftausfall durch die Umverteilung zur Profitquote schlägt negativ zu stark auf die gesamtwirtschaftliche Binnennachfrage durch, als dass hier die aus dem Ausland zufließende Kaufkraft dies kompensieren könnte. Richtig wäre dagegen eine keynesianische Therapie mit antizyklischen Staatsausgaben. Statt der »G-I-B-Formel« müsste es außerdem zur wirtschaftspolitischen Umsetzung 27 Glosse 28 der »E-N-A-Formel« kommen. Einkommenssteigerungen der abhängig Beschäftigten gemäß der Produktivitätsrate plus der Inflationsrate führen zu mehr Nachfrage bei den Unternehmen und diese zu Erweiterungsinvestitionen und einer Erhöhung der Arbeitsplätze. Hiervon profitiert letztlich auch der Staat in Form von höheren Steuereinnahmen und Abgaben, sodass es auch nicht zu einer Beschneidung des Sozialen in der Gesellschaft kommen muss. Schön für den Luxuskonsum Schon wegen des Farbfotos fällt mein Blick auf einen groß aufgemachten Artikel in meiner Tageszeitung. Es geht darin um »luxuriöse Designermode für Kinder«. Also nicht jene Designermarken, die sich Anschrift des Verfassers heutzutage auch der Durchschnittsverdiener schon leisten kann, son- Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup dern wirklich die gehobene Klasse. Und gehobene Preise! Berichtet Fachhochschule Gelsenkirchen wird von strahlenden Augen neun- und zwölfjähriger Mädchen bei Neidenburger Str. 43 der Anprobe, zufriedenen Müttern, die »das Gute, was wir uns selbst 45877 Gelsenkirchen gönnen, auch an unsere Kinder weitergeben wollen« und einer selbst- e-mail: bontrup@fh-gelsenkirchen.de verständlich ebenfalls zufriedenen Besitzerin eines entsprechenden Kindermodengeschäftes in der Nobel-Einkaufsstraße. Es handelt sich bei unserer Stadt übrigens nicht um eine bekannte Modemetropole, sondern um ein mittelgroßes »Provinzoberzentrum«. Deshalb, so bedauert die Geschäftsinhaberin, könne man das in Florenz angebotene Nerzjäckchen für Babys zum Preis von 2000 � hier auch nicht los werden. Was aber anscheinend »geht«, ist ein Mädchen-Volantrock für 469 �. Die Frage, ob die Sachen nicht sehr bald zu klein sind, wird weggewischt mit dem Argument, auch Erwachsene wechselten ihre Garderobe oft nach einer Saison (alle Erwachsenen?). Was mich störte, war nicht die Tatsache, dass es solche Kindermode zu diesen Preisen gibt. Einkommensunterschiede und Konsumunterschiede wird es immer geben. Gestört hat mich die völlig unhinterfragte, fröhliche Darstellung, das wirklich scham-lose Zurschaustellen. Denn diese Zeitung ist die größte Lokalzeitung vor Ort. Sie wird – sofern diese Menschen sich das finanziell leisten können – auch von vielen Arbeitslosen, Hartz IV-Empfängern – wer weiß, vielleicht sogar von psychisch erkrankten Menschen – gelesen. Diese sehen natürlich sofort, dass ein vorgestelltes Kleidchen für eine Achtjährige so viel kostet, wie ihnen »das Amt« monatlich zum Leben zur Verfügung stellt; ein Kleidchen, das vielleicht dreimal angezogen wird, weil das Kind danach schon wieder herausgewachsen ist. Solche Leser/innen, oft regelmäßige Gäste bei der »Tafel« oder in Kleiderkammern, müssen sich dann noch das Zitat der Unternehmensberatung Roland Berger (ausgerechnet!) gefallen lassen: »Der Luxuskonsum boomt.« Schön für den Luxuskonsum. Leser/innen, die daran nicht teilnehmen können, fangen in ihrem von Geldsorgen zermarterten Hirn vielleicht an, nach alten Vokabeln zu suchen. Wie hieß das noch mal schnell – »Umverteilung«? Sibylle Prins Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 »Gerecht ist anders ...« 29 Psychisch kranke Menschen im Dschungel der Sozialgesetzgebung Notizen aus der Praxis der unabhängigen Beratungsstelle des Vereins »Widerspruch e. V.« in Bielefeld Heinz Roelfs und Ulrike Gieselmann Der Verein Widerspruch e. V. – Sozialberatung bietet seit 1986 kostenlose Beratung und Unterstützung für Menschen an, die auf Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitsuchende (ALG II) oder auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes angewiesen sind. Das Beratungsangebot des Vereins wird auch von Personen in Anspruch genommen, die eine psychische Grunderkrankung haben. Diese Personen sind oft durch eine langjährige Therapieerfahrung geprägt und haben für sich individuelle Methoden erarbeitet, die ihnen das Leben in einer Nische der Gesellschaft ermöglichen. Sie stehen dem psychiatrischen Hilfesystem nicht selten skeptisch gegenüber oder empfinden es als bedrohlich. Der niederschwellige Zugang zum Beratungsangebot von Widerspruch e. V. macht es gerade für diese Personengruppe attraktiv. Die Ratsuchenden müssen nicht damit rechnen, in irgendeiner Form hinterfragt zu werden oder sich rechtfertigen zu müssen. Um die Beratungsarbeit zu erleichtern, hat der Verein »Widerspruch e. V.« einen Leitfaden mit dem Titel »Wie sichere ich meinen Lebensunterhalt? – Grundsicherung für Arbeitssuchende, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung« herausgegeben. Bei dem Leitfaden handelt es sich um einen ausführlichen und verständlich geschriebenen Ratgeber für Betroffene, der auch vielen MitarbeiterInnen von Beratungsstellen und Sozialverwaltung als Beratungsgrundlage dient. Der Leitfaden ist zu beziehen über widerspruchev@web.de oder über den Buchhandel ISBN 3-86039-012-0, 1. Auflage, Stand 1. Juli 2005 nebst Ergänzungsblatt, Stand 1. August 2006, 213 Seiten, broschiert, Bezugspreis: 7,50 € (gegf. zzgl. 1,20 Versandkosten). Bekanntlich ist die deutsche Sozialpolitik der letzten Jahre durch eine Verknappung der finanziellen Ressourcen geprägt. Mit Ablauf des Jahres 2004 wurden in diesem Kontext die bisherige Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe im Sozialgesetzbuch II (SGB II) zusammengefasst und das Bundessozialhilfegesetz durch das SGB XII ersetzt. Fortan können bedürftige Personen oder Familien, die »ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen beschaffen können« fast identische Sozialleistungen nach drei verschiedenen Gesetzen bekommen: wenn sie als erwerbsfähig gelten,1 erhalten sie die Grundsicherung für Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Arbeitssuchende (ALG II nach SGB II – besser bekannt als »Hartz IV«), wenn sie dauerhaft nicht erwerbsfähig sind, gibt es die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach SGB XII und für diejenigen, die weder das eine noch das andere sind, gibt es die (alte) Sozialhilfe nach dem (neuen) SGB XII. Die Folge dieser weitreichenden Gesetzesänderungen, die für etwa 8 Millionen Betroffene zeitgleich zum 1.1.2005 in Kraft traten, war ein für alle Beteiligten nicht mehr überschaubares Chaos: in den Behörden abstürzende Computer, nicht erreichbare Sachbearbeiter, überforderte Amts- und Abteilungsleiter und lange Schlagen verzweifelter Betroffener. Die massenhaft fehlerhaften Bescheide und unklaren Gesetzesvorgaben haben zwischenzeitlich zu einer Prozesslawine vor den Sozialgerichten und auch schon zu mehreren Gesetzesänderungen geführt – die Verantwortlichen sprechen in diesem Zusammenhang beschönigend von einem »lernenden Gesetz«. Ist diese Situation schon für »normale« Betroffene nur schwer auszuhalten, so wirkt sie sich bei psychisch Kranken, die erfahrungsgemäß mehr als andere auf stabile und überschaubare äußere Verhältnisse angewiesen sind, nicht selten katastrophal aus. Um dies zu verdeutlichen, beschreiben wir im Folgenden exemplarisch den Fall einer psychisch kranken Frau, der sich so oder so ähnlich, in jeder deutschen Kommune hätte ereignen können. Frau Y. ist etwa 40 Jahre alt, Mutter einer Tochter und hat, bis ihre psychische Erkrankung zum Ausbruch kam, den Beruf einer Krankenschwester ausgeübt. Sie sucht seit etwa 2004 regelmäßig unsere Sozialberatung auf. Damals lebte sie gemeinsam mit ihrer Tochter von Sozialhilfe. Ende 2004 wurde Frau Y. vom Sozialamt mitgeteilt, dass sie ab dem 1.1.2005 keine Sozialhilfe mehr erhalten würde und gleichzeitig wurde sie aufgefordert, bei der neuen Behörde »Arbeitplus« einen Antrag auf Arbeitslosengeld II (ALG II) zu stellen.2 Dieser Aufforderung kam Frau Y. trotz des hohen bürokratischen Aufwandes mit unserer Hilfe nach, da sie ansonsten befürchten musste, dass sie Anfang 2005 kein Geld mehr bekommen würde. Ab dem 1.1.2005 bezogen Frau Y. und ihre im Dezember 30 »Gerecht ist anders« Ulrike Gieselmann Widerspruch e. V. Heinz Roelfs Widerspruch e. V. 1986 geborenen Tochter – damals noch Schülerin am Gymnasium – also ALG II. Ihnen beiden wurde jeweils eine monatliche Regelleistung von 345 € für Alleinstehende bewilligt, denn da die Tochter bereits volljährig war, bildeten die beiden keine Bedarfsgemeinschaft. Die Situation wurde für Frau Y. allerdings prekär, als die für sie zuständige Fallmanagerin nach fünf Monaten begann, Anforderungen bezüglich Arbeitssuche an sie zu stellen und ihr mit Sanktionen drohte. Diese waren – mit unserer Unterstützung – durch mehrfache Krankschreibungen abwendbar, doch es wurde deutlich, dass Frau Y. aufgrund ihrer Erkrankung nicht als erwerbsfähig im Sinne des Gesetzes gelten konnte. So wurde sie denn vom Amt aufgefordert, erneut einen Antrag auf Sozialhilfe zu stellen, denn als dauerhaft erwerbsunfähig galt sie noch nicht. Seit Mitte 2005 bezog Frau Y. wieder Sozialhilfe, während ihre Tochter weiterhin ALG II erhielt. Frau Y. war entsetzt, als das Sozialamt ihr mitteilte, dass von nun an ihre Tochter der Haushaltsvorstand sei. Ihre Tochter erhielt die volle Regelleistung in Höhe von 345 €, während Frau Y. nur noch 276 € als Haushaltsangehörige, also 69 € weniger, zugebilligt wurden. Widerspruch und Klage gegen diese zweifelhafte Gesetzesauslegung wurden ihr nahegelegt, hätten sie jedoch überfordert. Als nach Beendigung ihrer Schulzeit die Bewerbung ihrer Tochter bei einer Computerfirma erfolgreich war, freute sich Frau Y. zunächst sehr. Aber ihre Freude war nur von kurzer Dauer, denn das Einkommen ihrer Tochter von etwa 1600 € netto monatlich hatte zur Folge, dass Frau Y. den Anspruch auf Sozialhilfe verlor: Das Sozialamt teilte ihr mit, dass ihre Tochter fortan in der Lage und verpflichtet sei, sie von ihrem Einkommen zu unterhalten. Auch um ihr eine – wenn auch geringfügige – finanzielle Unabhängigkeit von ihrer Tochter zu ermöglichen, wurde in der Folgezeit mit ihr gemeinsam die Beantragung einer Erwerbsunfähigkeitsrente in die Wege geleitet. Dies war kein leichter Schritt für Frau Y., denn bis dahin hatte sie darauf gehofft, dass ihre Erkrankung vorübergehender Natur sein könnte. Um ihre sich weiter verschlechternde psychische Situation aufzufangen, wurde gleichzeitig eine ambulante psychiatrische Betreuung beantragt. Knapp ein Jahr später, im Juli 2006, wurde die Tochter von Frau Y. arbeitslos und bezog wieder ALG II. Frau Y. war zwischenzeitlich als dauerhaft erwerbsunfähig anerkannt worden und erhielt ergänzend zu einer kleinen Erwerbsunfähigkeits- rente die Grundsicherung für Erwerbsgeminderte nach SGB XII. Zum 1.1.2006 war das SGB II dahingehend verändert worden, dass Betroffene, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nur noch Anspruch auf einen reduzierten Regelsatz haben. Deshalb wurde nun beiden, also Mutter und Tochter, lediglich ein Regelsatz von 276 € bewilligt. Dadurch waren also noch einmal 69 € weniger als zuvor in der Haushaltskasse. Rechtmäßigerweise standen Frau Y. als Haushaltsvorstand 345 € zu, doch es bedurfte zunächst wieder der Intervention beim Sozialamt, um diesen Anspruch mithilfe eines Widerspruches durchzusetzen.3 Frau Y. suchte Ende 2006 die Beratung erneut auf. Vor einigen Wochen war ihre Tochter aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Durch ihre Krankheit und die permanent unklare finanzielle Situation kam es häufig zu Konflikten. Ihre Tochter sah sich dem Zusammenleben mit ihrer Mutter nicht länger gewachsen. Sie hat ein Studium aufgenommen und erhält nun BAföG-Leistungen. Darum wurde Frau Y. nunmehr vom Sozialamt aufgefordert, in eine kleinere, für sie angemessene Wohnung umzuziehen. Um ihre Bemühungen zu belegen, sollte sie sich binnen eines Monats bei neun Wohnungsanbietern registrieren und dies auf einer Liste per Stempelabdruck bestätigen lassen. Gemäß den Richtlinien der Stadt Bielefeld wurden Frau Y. für den Umzug 100 € für Umzugskosten zugebilligt. Davon sollte sie Umzugshelfer und Leihwagen bezahlen. Für die Kosten der Renovierung der alten und der neuen Wohnung könne sie keine extra Leistungen bekommen, da diese aus dem laufenden Regelsatz von 345 € anzusparen seien, teilte man ihr mit.4 Frau Y. erklärte, momentan sehr krank zu sein. Die ambulante psychiatrische Betreuung hatte sie aufgegeben, denn die Sozialarbeiterin, zu der sie eine gute Beziehung aufgebaut hatte, musste wegen einer Verschlechterung der Refinanzierung des Ambulanten Dienstes ihren Arbeitsplatz wechseln. Den darauf folgenden ständigen Wechsel ihrer Betreuerinnen konnte Frau Y. nicht aushalten und hatte den Betreuungsvertrag gekündigt. Nun verbrachte Frau Y. manchmal ganze Tage in ihrem Bett. Sie berichtete, dass sie in der Vergangenheit bereits zweimal umgezogen sei und sie erzählte von den Wohnungen, die sie bereits bewohnt hatte. Damals hatte sie das Problem, dass das Sozialamt die Umzugskosten nicht tragen wollte, weil der Umzug aus Sicht des Amtes nicht notwendig war. Jetzt, wo sie endlich einen für sich sicheren Ort gefunden hatte, würde sie aufgefordert, wieder auszuziehen. Das war für Frau Y. nicht einsichtig. Außerdem fühlte sie sich beim Umgang mit dem Grundsicherungsamt inzwischen gänzlich überfordert. Die für sie zuständige Sachbearbeiterin empfand sie als unfreundlich, bevormundend und abweisend. Sie erkläre ihr gar nichts und versuche immer, sie wegzuschicken. In der folgenden Woche erschien Frau Y. nicht zum vereinbarten Beratungsgespräch. Stattdessen erfuhren wir durch den Anruf einer Sozialarbeiterin der zuständigen psychiatrischen Klinik, dass sich Frau Y. dort in Behandlung begeben hatte. Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Roelfs und Gieselmann: Psychisch kranke Menschen im Dschungel der Sozialgesetzgebung Die Sozialarbeiterin berichtete, dass sich die Lage von Frau Y. noch weiter verschärft hatte, weil ihre Grundsicherung während des Klinikaufenthaltes eingestellt worden war. Das Amt hatte dies damit begründet, dass ihr in der Klinik wegen »häuslicher Ersparnis« nur ein gekürzter Regelsatz zustehe, denn sie erhalte dort ja täglich drei kostenlose Mahlzeiten. Weil die Rente von Frau Y. hoch genug sei, stünde ihr während ihres Klinikaufenthaltes keine Grundsicherungsleistung zu.5 Die Umzugsaufforderung des Amtes wurde durch den Klinikaufenthalt gegenstandslos, denn Frau Y. ist ein Umzug wegen ihrer Erkrankung nicht zumutbar. Wäre die Sachbearbeiterin von Frau Y. ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Beratung und Unterstützung der Leistungsberechtigten6 nachgekommen, so hätte die Eskalation der Situation sicher vermieden werden können. Gerade, wenn es um ein so existenzielles Thema wie Wohnen geht, hätte die für Frau Y. zuständige Sachbearbeiterin, der ihre persönliche Situation ja bekannt war, die Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten ausschöpfen und von einem Wohnungswechsel absehen müssen. Es kann sicherlich diskutiert werden, wo die Grenzen der Informationspflicht nach dem SGB liegen. Betroffene müssen aber die Möglichkeit bekommen, im Rahmen des geltenden Rechts ihre Schwierigkeiten überwinden zu können. Im Fall von Frau Y. war der Beratungs- und Unterstützungsbedarf offensichtlich. Sie hat sich die notwendige Hilfe zunächst von unserer Beratungsstelle holen können: Nachdem ihre Situation dann eskaliert ist, muss nunmehr ein anderer Leistungsträger – nämlich die Krankenkasse – die daraus resultierenden Folgekosten erbringen. Es würde aber zu kurz greifen, die Ursache der beschriebenen Problematik (nur) bei den Sachbearbeitern der zuständigen Ämter zu suchen. Ursache ist neben den eingangs genannten organisatorischen und zeitlichen Problemen vielmehr ein systemimmanenter Widerspruch. Einerseits haben die Ämter den gesetzlichen Auftrag, die Hilfesuchenden zu beraten und zu unterstützen, andererseits haben sie den politischen Auftrag, öffentliche Gelder einzusparen und – angeblichen7 – Sozialleistungsmissbrauch zu verhindern. Beide Aspekte schließen sich aber gegenseitig aus: Um dem Anspruch auf Beratung und Unterstützung gerecht zu werden, ist die Schaffung von Verständnis und Vertrauen nötig. Um dem Anspruch nach Kontrolle gerecht zu werden, ist es erforderlich, den Anliegen der Betroffenen mit Skepsis und Misstrauen zu begegnen. Dieser Widerspruch ist nicht neu. Er wurde aber durch den mit Einführung von »Hartz IV« vollzogenen Paradigmenwechsel eklatant verschärft: Aufgabe des Bundessozialhilfegesetzes war und ist es, den Leistungsberechtigten ein Leben in Würde zu ermöglichen, Aufgabe von »Hartz IV« ist es (nur noch), dazu beizutragen, dass die Hilfebedürftigen »ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten können«.8 Keine Vorgabe der neuen Sozialleistungsgesetze hat sich nach unserer Erfahrung im Amtsalltag schneller durchgesetzt als Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 dieser Wertewandel – mit gravierenden Folgen für diejenigen, die aufgrund verschiedenster Handicaps diesem neuen »Ziel« der Leistungsgewährung nicht gerecht werden können. Anmerkungen 1 Als erwerbsfähig gilt gemäß § 8 SGB II, wer nicht aufgrund von Krankheit oder Behinderung länger als sechs Monate außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. 2 Diese Aufforderungen wurden ohne Prüfung der Erwerbsfähigkeit an alle Sozialhilfeberechtigten versandt, weil sich die Kommunen davon die Kostensenkung bei der (kommunalen) Sozialhilfe versprachen – die Kosten des ALG II trägt zu einem großen Teil der Bund. 3 Auf solche falschen Berechnungen treffen wir sehr häufig bei Familien, bei denen zwei verschiedene Ämter Sozialleistungen erbringen. Offenbar weiß da oftmals ein Amt nicht, was das andere tut. 4 Viele Sozialgerichte sind anderer Auffassung: Wohnungsrenovierungen sind nicht aus der Regelleistung zu zahlen, sondern als Teil der Kosten der Unterkunft vom Amt gesondert zu erbringen – vgl. u. a. Beschluss des LSG Niedersachen-Bremen vom 11.09.06, Az. L 9 AS 409/06 ER 5 Nach Rechtsauffassung der Grundsicherungsämter kann der maßgebliche Regelsatz gemäß § 28 (1) SGB XII gekürzt werden, »wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist«. Diese Auffassung ist rechtlich äußerst umstritten: durch die Pauschalierung der Regelleistung auf 345 € entfällt die Möglichkeit, den Regelsatz bei zusätzlichen Bedarfen (z. B. Bekleidung und Hygieneartikel für einen Krankenhausaufenthalt) heraufzusetzen ebenso wie die Möglichkeit, den Regelsatz bei »anderweitiger Bedarfsdeckung« herabzusetzen. 6 Siehe § 14 und § 15 SGB I: »Die Auskunftspflicht erstreckt sich auf die Benennung der ... zuständigen Leistungsträger sowie auf alle Sachund Rechtsfragen, die für die Auskunftssuchenden von Bedeutung sein können ... Die Auskunftsstellen sind verpflichtet ... mit dem Ziel zusammenzuarbeiten, eine möglichst umfassende Auskunftserteilung ... sicherzustellen.« Auch die §§ 10 und 11 SGB XII formulieren den Anspruch der Leistungsberechtigten auf Beratung und Unterstützung. 7 Vgl. Pressemitteilung der BA vom Juni 2006 zum Datenabgleich. Danach liegt die Zahl der Fälle, bei der Sozialleistungsmissbrauch vermutet werden kann, bei unter 2 % der durch Datenabgleich überprüften Fälle. 8 Siehe die §§ 1 des Bundessozialhilfegesetzes (SGB XII) und der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II). Anschrift der Verfasser Heinz Roelfs Ulrike Gieselmann Widerspruch e.V. – Sozialberatung Rolandstr. 16 33615 Bielefeld 31 32 Glosse Sozialrechtsreformen auf Erfolgskurs Der lange geforderte »Umbau des Sozialstaats« scheint in Deutschland ler, mit der Agenda 2010 werde innerhalb der ersten drei Jahre die endlich in Gang gekommen zu sein. Insbesondere der Gesetzgeber hat Arbeitslosenzahl halbiert. Als die Arbeitslosenquote im Jahr 1 nach dabei ordentlich Fahrt aufgenommen. Die Sozialgesetzbücher befinden Hartz IV gleich blieb bzw. zwischendurch mal leicht anstieg, war die sich in ständiger Um- und Neugestaltung, egal ob Gesundheitsbereich, öffentliche Reaktion unisono enttäuscht und verbittert. Der Kanzler Altersvorsorge oder »Arbeitslosengeld II« bzw. Sozialhilfe. Das löst erzwang einen vorzeitigen Regierungswechsel. Jetzt, im Jahr 3 nach bei den Sozialrechts-Profis aus Wissenschaft und Praxis wachsenden Hartz, boomt die Wirtschaft und die Arbeitslosenzahlen gehen leicht Unmut aus: Die Gesetze seien mit »heißer Nadel« gestrickt, in sich und zurück. Ob hier mehr als ein zeitlicher Zusammenhang besteht, wird untereinander widersprüchlich und jedes »Bereinigungsgesetz« führe nicht gefragt. Vielmehr verbreiten die Medien eine Euphorie, als sei nur zu neuen, noch schlimmeren Unsinnigkeiten, ja zu einer sich selbst die Arbeitslosenzahl inzwischen tatsächlich halbiert. Nur zur Erinne- überholenden Gesetzgebung und Gesetzesreform (die Verabschiedung rung: Die Arbeitslosenzahl betrug im Dezember 2004 rd. 4,5 Mio., der neuen Gesundheitsreform in Gestalt des GKV-WSG wurde z. B. dann kurzzeitig rd. 5 Mio. und im Dezember 2006 wieder gut 4 Mio. verbunden mit der Ankündigung von ersten Änderungsregelungen Arbeitslose. Was beweist das? Dass sich alles um die Analysten und »im Omnibusverfahren«).Auch könnten die Verlage den aktualisierten nicht um die Arbeitslosen dreht. Nachdruck der Sozialgesetze angesichts dieser Turbo-Umwälzungen Und was – aus Sicht der Analysten – wäre zum Stand der Sozial- nicht mehr sicherstellen, weswegen natürlich auch die juristische Se- gesetzgebung zu sagen? Die Erwartung, dass ein Sozialgesetz bür- kundärliteratur (Kommentare, wissenschaftliche Beiträge u. Ä.) schon gerfreundlich und eindeutig formuliert, logisch strukturiert und ver- vor ihrer Drucklegung hoffnungslos veraltet sei. Das Gleiche gelte für waltungstechnisch effektiv umsetzbar ist, hat (leider) niemand. Der die Rechtsprechung in diesem Bereich. Diese explodiere einerseits Gesetzgeber hat diese Einschätzung mit seinen Aktivitäten in den (man bestaune unter www.tacheles-sozialhilfe.de die zur eigenstän- letzten Jahren vielfach bestätigt. Die Sozialgesetzgebung kann also digen Bibliothek ausartende Urteilssammlung zum SGB II-»Hartz IV«). noch im Prozess ihrer Selbstauflösung die Erwartungen der Analysten Andererseits sei sie bis zum Erlass eines klärenden höchstrichterlichen nur positiv enttäuschen. Diese prophezeien seit mindestens fünfzehn Urteils wiederum längst durch eine neue Rechtslage überholt. Die Jahren ohnehin den Super-GAU des gesamten sozialen Sicherungssys- Entwicklung einer verlässlichen Verwaltungspraxis sei unter solchen tems. Dabei ist ihr Blick fest und ausschließlich auf die finanzielle Lage Umständen gar nicht erst zu erwarten. der Sozialleistungsträger gerichtet. Den Umbau der Sozialgesetze misst Von derlei Maßstäben für die Bewertung »gut« oder »schlecht« ge- man bei uns vor allem an den wirtschaftlichen Auswirkungen. Dass machter Gesetze und ihrer Wirkung muss man sich lösen. Solche – neben dem Rückgang der Arbeitslosenzahlen – die Bundesagentur Qualitätsvorstellungen sind von gestern. Heute gilt die Frage: Entspricht für Arbeit unvorhergesehen Milliardenüberschüsse »erwirtschaftet«, das, was geschieht, den Erwartungen? Allerdings geht es nicht um lässt das Sozialgesetzbuch II gut dastehen. Der Erfolg der Gesund- die in der Sozialen Arbeit seit einiger Zeit diskutierte diffuse »Kun- heitsreform wird an Defiziten oder Überschüssen der Krankenkassen denzufriedenheit«, von der keiner weiß, wem sie gilt und wie man sie und vielleicht noch an steigenden oder sinkenden Beiträgen der Ver- misst. In Politik und Wirtschaft, Kultur und Sport orientiert man sich sicherten gemessen; eine deutliche Verbesserung der Versorgungs- längst an der »leading-group« der Analysten (nicht zu verwechseln landschaft wird nicht erwartet und muss demnach nicht eintreten. mit den Analytikern!). Die geben vor, woran Personen, Produkte oder Auch der Erwartungshorizont für die Pflegeversicherungsreform ist Prozesse zu messen sind: Nämlich an den zuvor öffentlich formulier- mit dem Stichwort »Finanzierbarkeit« hinreichend umrissen. Diese ten Erwartungen und daran, ob diese jeweils erfüllt, enttäuscht oder »Latte« kann der Gesetzgeber schaffen, wenn er die Ausweitung und übertroffen werden. Beispiel Börse: Ein aktiennotiertes Unternehmen Einschränkung von Leistungen entsprechend austariert. Und was die macht im Geschäftsjahr X eine satte Rendite von 23 %. Statt Freude Rentenreform angeht, sind die Analysten begeistert, denn ihre düs- gibt es lange Gesichter. Denn die Analysten hatten für diese Firma teren Vorhersagen wurden weit unterboten – es gibt sie immer noch, eine Rendite von 25 % vorhergesagt. Bleibt das tatsächliche Ergebnis die Rente (zumindest bis zur nächsten Reform). Es steht also gut um hinter der Vorhersage zurück, ist Depression die Folge. Beispiel Sport: unsere Sozialgesetzgebung – aus Sicht der Analysten. Für das Leichtathletik-Fest in Zürich kündigt der Läufer X an, einen neuen Weltrekord über 10 000 Meter aufzustellen. Er bleibt aber am Silvia Pöld-Krämer Ende zwei Zehntel Sekunden unter der selbst gesetzten Marke. Frust auf der ganzen Linie – der neue Weltrekord wurde nicht erreicht. Wenn umgekehrt bei den olympischen Winterspielen der Vertreter aus Äthiopien im Skispringen startet und nicht Letzter, sondern Vorletzter wird, sind alle aus dem Häuschen. Auch für die Politik ist längst nicht mehr entscheidend, ob sie gut, sondern ob sie erwartungsgerecht ist. Beispielsweise behaupteten Peter Hartz und der Bundeskanz- Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 »Gerecht ist anders ...« 33 Arbeitsrehabilitation auf einem ständig schrumpfenden Arbeitsmarkt – macht das noch Sinn? Ergotherapeut Peter Weber (Hannover) Sibylle Prins: Ich möchte unser Gespräch mit der Schilderung eines typischen »Rehafalles« eröffnen: Herr Müller ist 31 Jahre alt, hatte ursprünglich ein Studium der Elektrotechnik angefangen. Aufgrund einer heftigen Psychose, die mit einem längeren Klinikaufenthalt verbunden war und einem gescheiterten Versuch, das Studium wieder aufzunehmen, brach er dieses schließlich ab. Er versuchte dann, eine Stelle im technischen Bereich zu finden. Zweimal fand er auch eine Arbeitsstelle, verlor sie jedoch bald wieder, da es zu neuen psychischen Krisen kam. Vor einem dreiviertel Jahr begann er eine Rehabilitationsmaßnahme in einem BTZ (BeruflichesTrainingszentrum). Wie steht es nun deiner Meinung nach mit seinen Aussichten nach dieser Maßnahme einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden? Peter Weber: Das ist unter den gegebenen Arbeitsmarktbedingungen eine schwierige Frage. Die Perspektive einer Arbeitsaufnahme bewegt sich heutzutage in einem Konfliktfeld zwischen der abschließenden Begutachtung durch die inzwischen hochprofessionellen Reha-Einrichtungen und der realen Arbeitsmarktsituation. Um zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich kurz Herrn Müllers möglichen Weg in einem BTZ nachzeichnen: Im Rahmen des Trainings im BTZ hat er unterschiedliche Bereiche durchlaufen. Am Anfang gab es eine Beratung, bei der eine schriftliche Empfehlung und Vereinbarung zu einer Förderung von Herrn Müller im BTZ formuliert wurde. Es folgte die Klärung seiner früheren beruflichen Kompetenzen. Die weiteren konkreten Zielperspektiven für die kommenden Phasen im BTZ wurden festgelegt. Herr Müller war dann bspw. im kaufmännischen Arbeitstrainingsbereich tätig und konnte zunehmend besser mit dem Arbeitsanforderungen umgehen, er wurde immer sicherer. In Übungs- und Kurseinheiten eingebunden konnte er neue berufsspezifische Fertigkeiten erwerben und alte auffrischen. Die externen Trainings und Praktika in berufsfeldbezogenen Betrieben forderten von ihm, eine angemessene Arbeitnehmerrolle aufzubauen und seine sozialen Kompetenzen am Arbeitsplatz z. B. im Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten auszubauen. Zusätzlich wurden weitergehende berufsspezifische Kompetenzen vermittelt. In allen Bereichen hat Herr Müller gute Erfolge zu verzeichnen. Zurzeit ist Herr Müller im Rahmen der direkten Vorbereitung einer Arbeitsaufnahme in den entsprechenden Trainingsgruppen im BTZ integriert. Fazit: Nach all diesen Ergebnissen bescheinigt das BTZ Herrn Müller im Hinblick auf die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit aktuell eine gute Arbeits- und Vermittlungsfähigkeit. Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 im Gespräch mit Sibylle Prins vom Verein Psychiatrie-Erfahrener (Bielefeld) Sibylle Prins: Nun gut, aber was heißt das jetzt? Welchen Wert hat dieses Ergebnis heutzutage noch? Peter Weber: In der Tat muss das zweite vom BTZ als erreicht dargestellte und bewertete Ziel, die Vermittlungsfähigkeit, angesichts einer völlig veränderten Arbeitsrealität neu bewertet werden. Seit Beginn der modernen Arbeitsrehabilitation psychisch kranker Menschen vor ca. 20 Jahren sind für die Entwicklung der Rehabilitationskonzepte die, vor allem von Christiane Haerlin 1985 formulierten Grundsätze: Arbeitstraining muss realitätsnah sein und keine Arbeitsrehabilitation ohne Perspektive danach maßgebend. Angesichts der aktuellen Arbeitsmarktsituation scheinen sich diese Grundsätze in den heutigen Arbeitszusammenhängen anders darzustellen, als sie es ursprünglich taten. Sibylle Prins: Das finde ich auch. Vermittlungsfähigkeit in sozialversicherungspflichtige Arbeit und die Begriffe »Perspektive« und »Realitätsnähe« müssen neu definiert werden. Peter Weber: Wie sieht die Perspektive »Arbeit« heute aus? Aktuell bewegt sich die Arbeitslosenzahl um die 4,2 Mill. Wir haben mit den Hartz IV-Gesetzen inzwischen ein radikal verändertes Sozialsystem bekommen, das die Schere zwischen denen, die sozialversicherungspflichtige Arbeit haben und denen, die keine haben, brutal deutlich macht. Zusätzlich ist der Geldfluss der Psychiatriereform versiegt – es wird eher wieder genommen, statt gegeben. Von daher spiegeln die aktuellen Arbeitslosenzahlen und die aktuelle Situation im Sozial- und Gesundheitswesen auch die aktuellen Chancen wider, einen Arbeitsplatz zu finden. Von den Politikern ist das Thema Vollbeschäftigung, wenn auch Bestandteil des Koalitionsvertrages, kaum noch zu hören. Sibylle Prins: Das kennt man ja. Peter Weber: Genau – die Diskussion hat sich seit der Ära Kohl kaum verändert: politisch argumentiert wird mit konjunkturellen Strategien, während die strukturelle Situation am Arbeitsmarkt dem entgegen läuft. Die neoliberale G-I-B- 34 »Gerecht ist anders« Formel = »Gebt mir mehr Gewinn, so kommt es morgen zu mehr Investitionen und danach zu mehr Beschäftigung«, ist eine Mär oder »Lebenslüge« wie man inzwischen sogar aus den Parteispitzen der CDU hört. (Siehe dazu den Beitrag von Bontrup in diesem Heft.) Die hoch entwickelten Wirtschaftssysteme der reichen Industriestaaten sind offensichtlich an einem Punkt angekommen, an dem sie ab sofort und für die weitere Zukunft erstens mit weniger Menschen und mit weniger Arbeitszeit auskommen werden und zweitens, wenn denn Menschen gebraucht werden, die Arbeit immer dorthin verlagern werden, wo diese Arbeitskraft billig zu haben ist. Neben diesen erklärenden mehr übergreifenden Analysen zur Perspektive auf dem Arbeitmarkt, gewinnen Rationalisierungsprozesse über zunehmende Automatisierung und zunehmende Digitalisierung, an Bedeutung. Bestehende Automatisierungskapazitäten, bzw. -potenziale werden immer mehr ausgeschöpft. Die aktuell heftig diskutierte »Perspektive« der Regierungskoalition mit Minijobs, Mindestlöhnen und Kombilöhnen neue Arbeit zu schaffen, bietet, aus der Nähe betrachtet, keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, wie wir sie alle kennen. Es geht um neue Konstrukte, die allenfalls Arbeitsplätze schaffen, die weniger kosten, weniger Einkommen bringen und dabei mehr Arbeitszeit und meist schlechte soziale Absicherung bedeuten. Wie schneiden psychisch erkrankte Menschen in diesem Konkurrenzkampf ab? Wie sieht das bei euch in Bielefeld aus? Sibylle Prins: Zunächst ein Versuch, die Situation zu erfassen: Für eine kleine, überschaubare Gruppe, nämlich die etwa 70 Mitglieder des Vereins Psychiatrie-Erfahrener Bielefeld e. V. stellt sich die Situation wie folgt dar: von den 70 Personen haben vier einen Arbeitsplatz auf dem 1. Arbeitsmarkt, der geeignet ist, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Davon ist eine Person freiberuflich tätig, zwei weitere haben Teilzeitstellen, die aber ausreichend entlohnt werden. Ferner haben ca. sechs Personen neben ihrer Rente oder anderem Transfereinkommen einen Arbeitsplatz auf dem 1. Arbeitsmarkt, der nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausreicht, also sog. Minijobs (400-€-Jobs) etc. Eingerechnet wurden darin auch illegale Beschäftigungen wie etwa Putzstellen oder Kinderbetreuung. Etwa zwölf Mitglieder arbeiten in der WfbM oder in speziellen Zuverdienstprojekten für psychisch kranke Menschen. Einige, ca. drei bis sechs Personen, fallen unter die Rubrik »Sonstiges« (Ausbildung, Praktikum, 1-€-Jobs, Zuverdienst durch Honorarverträge). Alle anderen sind vollkommen beschäftigungslos! Und dabei muss man noch berücksichtigen, dass in einer Organisation wie der unseren eine gewisse »Auslese nach oben« stattfindet, nicht von uns gewollt, aber dadurch bedingt, dass die Mitgliedschaft im Verein ein Mindestmaß an Eigeninitiative, Bewusstheit über die eigene Lage und politisches Interesse voraussetzt. Peter Weber: Das zeigt letztendlich wieder einmal, dass sich die Arbeitssuche für Psychiatrieerfahrene nicht einfach gestaltet. Welche Erfahrungen kannst du dazu schildern? Sibylle Prins: Psychische Erkrankung ist ganz generell, aber besonders auf dem Arbeitsmarkt, immer noch einer hohen Stigmatisierung ausgesetzt. Manchmal denke ich, professionelle Reha-Mitarbeiter könnten das aus dem Blick verlieren. Es ist einfach eine völlig andere Situation, ob ein Mitarbeiter einer bekannten Rehabilitationseinrichtung einen ihm bekannten Ansprechpartner in einer Firma anruft, um mit ihm über eine Praktikumsstelle oder eine Eingliederungsmaßnahme zu verhandeln, oder ob ein Psychiatrieerfahrener allein auf »freier Wildbahn« auf Bewerbungstour geht. Arbeitgeber haben nun mal Vorbehalte gegen psychisch vorbelastete Arbeitnehmer. Selbst die Betriebe, denen, aus welchen Gründen auch immer, daran gelegen ist, die Schwerbehindertenquote Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Weber und Prins: Arbeitsrehabilitation auf einem ständig schrumpfenden Arbeitsmarkt – macht das noch Sinn? zu erfüllen, stellen lieber körperlich behinderte Menschen ein, deren Verbände sogar manchmal damit werben, dass die von ihnen Vertretenen genauso leistungsfähig und belastbar seien wie nicht behinderte Arbeitnehmer. Die Krux ist, dass psychiatrieerfahrene Bewerber dies eben oft nicht von sich sagen können. Und ein Weiteres: Psychische Krisen und Erkrankungen führen oft dazu, dass man sein ganzes Leben von Grund auf neu denken, neu gestalten und organisieren, quasi ein ganz neues Lebenskonzept schreiben muss. Neben den Zeiten, die man mit Warten verbringt, also Warten auf einen Reha- oder Praktikumsplatz oder auf die Antwort einer Bewerbung, braucht dieses Unterfangen, das völlig aus dem Gleis geratene Leben in eine neue Fahrbahn zu bringen, oft viel Zeit. Meist kann man da nicht in Wochen oder Monaten denken. Zum einen vergrößert die Zeit, die man einfach braucht, bis man sich umorientiert hat, die Lücken im Lebenslauf. Zum anderen muss aber auch diese Zeit gestaltet, gefüllt werden. Solche »Leerzeiten« würde es im Leben von Psychiatrieerfahrenen wahrscheinlich auch dann geben, wenn wir Vollbeschäftigung und optimale Eingliederungsbedingungen hätten. Frage: Wie gehen wir mit diesen Zeiten um? Ignorieren wir sie? Peter Weber: Deine Ausführungen bieten einen passenden Übergang zum zweiten Grundsatz rehabilitativer Arbeit, der Realitätsnähe. In diesem Zusammenhang stellen sich die Fragen: Wie sieht sie heute aus, die Arbeitsrealität? Mit was muss man als Arbeitnehmer heute im Arbeitsalltag rechnen? Wo liegen die Anforderungen? Dabei kommen vor allem drei Merkmale in den Blick: die Arbeitszeit, die Arbeitsstrukturen/-anforderungen und das Krankheitsverhalten am Arbeitsplatz. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung hat in seinem Bericht zu den wirtschaftlichen Entwicklungen für 2005/2006 sehr deutlich Öffnungsklauseln und eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit und die Einführung von Arbeitszeitkonten im Hinblick auf die Tarifverträge gefordert. Damit können die Betriebe flexibler mit dem Faktor Arbeitszeit umgehen. Für den einzelnen Beschäftigten bedeutet dies einerseits die Freiheit, sich z. B. Freiräume durch zeitlich begrenzte Mehrarbeit zu schaffen, andererseits wachsen aber damit auch die Verfügbarkeit und die Anforderung an Flexibilität. Freizeit wird nur noch eingeschränkt planbar. Ein weiterer Aspekt sind die in den Betriebsabläufen anfallenden nicht unerheblichen Überstunden. Zwar sind bezahlte Überstunden deutlich zurückgegangen, gleichzeitig ist aber die Anzahl der unbezahlten Überstunden gestiegen. Welche Erfahrungen hast du während deiner Arbeitstätigkeiten mit der vorgeschriebenen Arbeitszeit gemacht? Sibylle Prins: Auch an meinem ehemaligen Arbeitsplatz sind inzwischen die Arbeitszeiten von 38,5 auf 40 Stunden erhöht worden. Ich hatte fast die ganzen Jahre »Vollzeit« gearbeitet, d. h. außer freitags, einen Arbeitstag von 8,25 Std. täglich. Das war natürlich viel zu viel, aber mein Arbeitgeber erlaubte mir zunächst keine Reduzierung. Als es dann das neue Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Teilzeitgesetz gab, reduzierte ich auf sechs Stunden täglich, insgesamt also 30 Std. Ich hatte inzwischen auch weitere Klinikaufenthalte hinter mir. Ich merkte aber, dass selbst sechs Studen täglich noch zu viel für mich waren. Hinzu kamen Tage, an denen ich zwar zur Arbeit erschien, es mir aber oft so schlecht ging, dass meine Anwesenheit fast meine einzige Leistung war. Den verlangten verlässlichen Leistungspegel konnte ich somit nicht aufbringen. Eine weitere Reduzierung der Arbeitszeit war aber nicht möglich, da sonst mein Gehalt nicht mehr ausgereicht hätte. Ich saß also in der Zwickmühle. Eine besser bezahlte Teilzeitstelle zu finden, war mir auch nicht möglich. Es waren also nicht die fachlichen oder intellektuellen Anforderungen, von denen ich überfordert war, sondern die Bedingungen, unter denen die Arbeit stattfand, mit denen ich zunehmend mehr Schwierigkeiten hatte. Ein Problem war auch, dass ich zwar die Arbeitszeiten »irgendwie«, mit Hängen und Würgen durchhielt, für private oder gar Freizeitaktivitäten aber keine Kraft mehr übrig war, ich die gesamte freie Zeit nur noch zur Erholung und Ausruhen benötigte. Peter Weber: Dabei wird Arbeitsrealität nicht nur von veränderten Arbeitszeiten geprägt. Auch Arbeitsstrukturen und Arbeitsanforderungen sind zunehmend komplexer gestaltet und erfordern eine größere Flexibilität. So resultiert die Notwendigkeit der Flexibilisierung heute nicht zuerst aus technologischen Neuerungen, sondern aus neuen wirtschaftlichen Konzepten des Marketings. Heute gilt selbst in Verwaltungen die »Kundenorientierung« und schon sie bedeutet Flexibilisierung. Jeder Arbeitsablauf wird daran gemessen, ob er im Sinne des Marketings den Bedürfnissen der Kunden entspricht. In diesem Sinn werden Arbeitsabläufe und Produktionsprozesse fortwährend »optimiert«. Diese neue Haltung hat Auswirkungen in ausnahmslos jedem Bereich der Arbeitswelt. Zusätzlich wird immer mehr eine geografische Flexibilität Voraussetzung für einen sicheren Arbeitsplatz. So ist für international tätige Konzerne ein geografischer Arbeitsplatzwechsel bei Umstrukturierungsmaßnahmen bis in die unteren Gehaltsgruppen eine gängige Praxis. Ebenso wird es bei der Arbeitsplatzsuche mittelfristig nicht mehr gehen, sich nur auf die Heimatregion zu beschränken. Komplexitätszunahmen in den Arbeitsprozessen leiten sich häufig von der oben beschriebenen höheren Anforderung an Flexibilität ab. Der Druck flexiblere operative Ebenen zu schaffen, erfordert automatisch Lösungsstrukturen, die weniger den bisherigen linearen Handlungsmustern folgen dürfen, sondern sich umfassender und reflektierter in zirkulären Mustern bewegen. Das heißt, es geht immer mehr um Arbeitssysteme, die keinen längerfristig gültigen Grundregeln unterliegen, sondern die sich immer wieder neu bestimmen, verorten und die logischerweise immer häufiger zu veränderten Arbeitsabläufen führen. Entsprechend greifen Marketingstrategien nur noch kurzfristig, müssen kurzfristig überprüft, modifiziert und umgesetzt werden, sodass in der 35 36 »Gerecht ist anders« konkreten Arbeitsdurchführung, am Ende des Weges eine sich manchmal komplett anders darstellende Arbeitsrealität präsentiert. Wie ist nun unter diesen Umständen die Teilhabe an Arbeit für Psychiatrie-Erfahrene realisierbar? Sibylle Prins: An meinem letzten Arbeitsplatz habe ich zwölf Jahre gearbeitet. Anfangs war es das, was man einen »ruhigen Job« nennt. Für meinen Geschmack schon zu ruhig, manchmal war nicht genug zu tun. Das hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert. In den letzten Jahren kam man mit der Arbeit überhaupt nicht mehr nach – es wurde aber kein neues Personal eingestellt, sondern der Arbeitgeber schaute eher, wo sich noch Arbeitsstellen einsparen ließen. Zusammen mit meiner sowieso schon unregelmäßigen Leistungskurve habe ich das nur dadurch einigermaßen kompensieren können, dass ich sehr gut darin wurde, die wichtigen von den unwichtigen Arbeiten unterscheiden zu können, und mich auf die Aufgaben zu konzentrieren, die wirklich termingebunden erledigt werden mussten. Hinzu kam, dass die Verantwortung enorm anstieg. Zudem hat sich die Form der Arbeit verändert – durch die vielseitige und vielfältige Nutzung von Computern und der Digitalisierung in vielen Arbeitsbereichen sind viele Tätigkeiten weggefallen oder in ihrem Wert erheblich gemindert. Umgang mit Informationstechnologie ist in vielen Berufen heute ein Muss, die Vielfalt möglicher Betätigungsformen hat abgenommen. Du hast bereits die erhöhten und andersartigen Schlüsselqualifikationen für den ersten Arbeitsmarkt genannt, wie Flexibilität auf allen Ebenen, bei gleichzeitiger Kontinuität des Leistungsniveaus, Belastbarkeit, Fähigkeit, in komplexen und sich rasch ändernden Bedingungen und Abläufen zurechtzufinden, erhöhte sozioemotionale Kompetenz, usw. Das Problem liegt nun darin, dass die besonderen Beeinträchtigungen von Psychiatrieerfahrenen ja meist nicht ihre körperlichen und auch eher selten ihre intellektuellen Fähigkeiten betreffen, sondern gerade jene, auf die es in der heutigen Arbeitswelt am meisten ankommt. Sagen wir es ruhig so: Druck aushalten und mit Druck umgehen zu können. Ich habe den Eindruck, dass die psychische und soziale Belastung an den Arbeitsplätzen immer mehr ansteigt. Wie siehst du das? Peter Weber: Das finde ich auch, der Druck, am eigenen Arbeitsplatz zu bestehen, ist unter den oben beschriebenen Anforderungen an Flexibilität und Komplexität und vor dem Hintergrund der knapp gewordenen Arbeitsplätze extrem gestiegen. Daraus lassen sich meiner Erfahrung nach zwei Auswirkungen auf die soziale Situation am Arbeitsplatz ableiten. Erstens wird bei bestehendem Arbeitsplatz solidarisches Handeln letztendlich den wirtschaftlichen Ansprüchen der Firma und eigenökonomischen Überlegungen unterliegen. Und zweitens wird jemand der sich auf einen Arbeitsplatz bewirbt, neben den instrumentellen Anforderungen sich noch mehr als früher auf die gestiegenen sozioemotionalen Anforderungen einstellen müssen. Hier geht es um den Bereich der meiner Erfahrung nach für Psy- chiatrieerfahrene die größte Bedeutung hat. Kannst du das bestätigen? Sibylle Prins: Was die sozioemotionalen Kompetenzen angeht nehme ich die Anforderungen, die in dieser Hinsicht gestellt werden, als widersprüchlich wahr: da soll man teamfähig sein, sich in den Zusammenhang von Kollegen, Vorgesetzten und Kunden gut einfügen und bewegen können, gleichzeitig wird eine unwahrscheinlich hohe Selbstständigkeit und eine gute Durchsetzungsfähigkeit verlangt – also eher was für Einzelgänger. Man soll so feinfühlig sein, dass man in der Atmosphäre des Betriebes mitschwingt, man soll ausgleichend wirken – gleichzeitig soll man so robust sein, dass einem von dem vielen Spannungen, Brüchen, Widersprüchlichkeiten, die im zwischenmenschlichen Miteinander nun mal auftreten, gar nichts unter die Haut geht oder einen gar umhaut. Als ich bei meinem letzten Arbeitsplatz einstieg, hatte ich Glück: das Betriebsklima dort war echt gut, jedenfalls für mich – in meiner unmittelbaren Nähe gab es keine Intrigen, Eifersüchteleien oder Ähnliches unter den Kolleginnen, die Vorgesetzten waren eher unterstützend als Druck machend und die gesamte Haltung dort war zwar etwas distanziert, aber sachlich und freundlich, auch fehlertolerant. Ich begriff in dieser Zeit auch, dass für mich so ein Faktor wie »gutes Betriebsklima« viel wichtiger ist als die Frage, ob mir die Arbeit nun besonders gut gefällt, oder ich ein hohes Gehalt bekomme. Leider kann man diesen sozialen Faktor »Betriebsklima« vor der Arbeitsaufnahme nicht einschätzen oder abfragen. Ich würde nicht pauschal sagen, dass psychiatrieerfahrene Menschen von vornherein schlechtere soziale Kompetenzen als andere haben. Meine Erfahrungen aus dem Miteinander und der Zusammenarbeit in unserem Selbsthilfeverein sprechen deutlich eine andere Sprache. Aber manchmal brauchen sie besondere Bedingungen. Ich will aber die Ursachen dafür, wenn es auf der Beziehungsebene im Beruf nicht klappt, nicht einseitig auf die Psychiatrieerfahrenen abschieben. Es gibt jede Menge Arbeitsplätze – leider nicht nur auf dem Bau –, wo wirklich raue oder zumindest sehr unangenehme Sitten herrschen. Ich habe Bedingungen erlebt, da glich das Zwischenmenschliche eher einem Kriegsschauplatz als einem Arbeitsplatz. Damit haben ja sogenannte »gesunde« Menschen oft schon große Probleme. Peter Weber: Die Krankenstände sinken nach den Statistiken der Krankenkassen immer weiter. Zugleich werden die Deutschen offensichtlich immer öfter aus psychischen Gründen krankgeschrieben. Ist dir diese Entwicklung bekannt? Welche Bedeutung hat sie für psychiatrieerfahrene Menschen? Sibylle Prins: Wenn ein großer Teil der Krankheitstage auf psychische Beschwerden zurückzuführen ist, handelt es sich ja in der Mehrheit um Menschen, die keine intensive psychiatrische Behandlung, Betreuung, Rehabilitation erfahren und oft noch keine sehr schwerwiegende psychiatrische Diagnose erhalten haben. Wie wirkt sich aber das geschilderte Arbeitsleben auf diejenigen Menschen aus, die schon eine schwere psychische Erkrankung hinter sich haben? Es wird Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Weber und Prins: Arbeitsrehabilitation auf einem ständig schrumpfenden Arbeitsmarkt – macht das noch Sinn? oft gesagt, dass Arbeit sich besonders bei Menschen mit psychischen Problemen stabilisierend und gesundheitsfördernd auswirkt. Ob das aber auch für alle Arbeitsplätze, für die gesamte heutige Arbeitswelt gilt? Andererseits ist es erwiesen, dass Arbeitslosigkeit krank macht. Da kann man sich fast fragen, was schlimmer ist – die krankmachende Arbeitslosigkeit oder ein krankmachender Arbeitsplatz? Zurück zur Rehabilitation: Können denn deiner Meinung nach die Reha-Einrichtungen in der Begleitung ihrer Klienten unter diesen Bedingungen noch gegensteuern? Peter Weber: Gegensteuern wäre letztendlich nur möglich, wenn die Trainingsbedingungen der neuen Realität entsprechend gestaltet würden. Damit stellt sich aber auch sofort die Frage, ob dann noch die Reha-Teilnehmer, von denen wir heute sprechen, einen Zugang in die Reha-Maßnahmen finden würden. Auch die stärkere Einbeziehung von flankierenden Hilfen und Unterstützungssystemen werden unter diesen Bedingungen die Chancen, psychiatrieerfahrene Menschen in sozialversicherungspflichtige Arbeit zu bringen, nicht vergrößern. Die Reha-Einrichtungen sind meiner Meinung nach inzwischen längst von den aktuellen Arbeitsweltveränderungen beeinflusst. Als Reha-Erfolg gilt schon seit Mitte der 90erJahre nach Vorgabe der Leistungs- und Kostenträger die tatsächliche Vermittlung in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis, statt der bis dahin gültigen Vermittlungsfähigkeit. Dieser Paradigmenwechsel musste in den Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation bspw. Einfluss auf die Zugangsund Aufnahmevoraussetzungen haben. Das heißt innerhalb der Reha-Verläufe muss frühzeitiger entschieden werden, wie und wo es weiter geht. Damit verbunden steigt die Vermittlung in die niedrigschwelligen Arbeitsbereiche des zweiten Arbeitsmarktes. Dass diese Entscheidungsfindung nicht von der aktuellen Arbeitsmarktsituation beeinflusst wird, ist kaum denkbar. Bei deiner Frage, wie die Reha-Einrichtungen gegensteuern können, muss auch darüber nachgedacht werden, welche Auswirkungen sich damit verbinden, wenn man als Reha-Mitarbeiter einen Arbeitsplatz hat, bei dem der primäre Arbeitsauftrag lautet, Menschen mit Beeinträchtigungen für einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten bzw. zu trainieren, den es aber kaum noch gibt? Das ist eine fatale Situation und wirft eine moralisch-ethische Frage auf, die aber nicht primär von den Reha-Mitarbeitern beantwortet werden muss, sondern von den Kosten- und Leistungsträgern und Reha-Politikern, die diese Situation von außen am Laufen halten. »Der Kontext vor dem sich die Rehabilitationsprozesse abspielen, hat sich verändert.« Was heißt das also? Die Rehabilitationskonzepte sind theoretisch fundiert, methodisch effektiv. Sie sind über die Jahre Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 immer weiterentwickelt worden und haben sich bewährt. Aber – was sich verändert hat, ist der Kontext, vor dem sich die Rehabilitationsprozesse abspielen. Dieser neuen Realität und den damit verbundenen Perspektiven für die Rehabilitanden muss Rechnung getragen werden. Wenn das nicht geschieht, wird Rehabilitation sich immer auf der Ebene der individuellen Trainingssituation und der individuellen Trainingsergebnisse abspielen, ohne den Blick auf eine mögliche Perspektive, d. h. der Trainingserfolg rückt alleine in den Fokus ohne Berücksichtigung der weiterführenden Wege. Letztendlich geht es um eine neue Definition dessen, was wir in unserer Gesellschaft als Arbeit verstehen. Mal weg von den Rehabilitationsgeschehen und -strukturen. Du hast ja für dich längst eine Alternative gefunden. Wie sieht diese aus? Sibylle Prins: Anfangs waren Alternativen natürlich auch für mich nicht denkbar. Da musste es unbedingt eine Tätigkeit auf dem 1. Arbeitsmarkt sein. Auch wenn das immer schwieriger für mich wurde. Im Laufe der Zeit habe ich aber Menschen, die ganz andere Lebensmodelle lebten, näher »In den Rehabilitationsprozessen rückt der Trainingserfolg alleine in den Fokus ohne Berücksichtigung der weiterführenden Wege.« kennengelernt, und unter bestimmten Bedingungen waren diese Menschen mit ihrem jeweiligen Lebensmodell auch sehr zufrieden, manchmal sogar besser dran als vorher. So wurden auch für mich andere Lebensmodelle denkbar und mitunter attraktiv. Für viele Psychiatrieerfahrene ist eine Frühverrentung eine Katastrophe. Für mich aber bedeutete es eine große Erleichterung und machte den Weg frei für ein meinen Bedürfnissen und Fähigkeiten besser angepasstes Leben. Ein wichtiges Standbein sind meine Aktivitäten in der Psychiatrieerfahrenen-Selbsthilfe. Das ist ein auch für manchen anderen gangbarer Weg. Ich bin Vorsitzende eines Selbsthilfevereins, das bedeutet viel Mitgliederkontakte, Mitgliederpflege, Vorbereitung und Koordination, etwa von Vorstandssitzungen oder Projekten, Gremienarbeit, und so weiter. Was in einem halbwegs aktiven Verein halt so anfällt. In diesem Bereich kann ich vieles verwirklichen, was ich gern beruflich getan hätte, mir aber aufgrund der Erkrankung verwehrt blieb. Mit einigen wichtigen Unterschieden zur Arbeitswelt: niemand zählt meine Fehltage, Tage, an denen es mir zu schlecht geht, um etwas zu machen. Es wird keine gleich bleibende tägliche Arbeitszeit oder Arbeitsleistung von mir verlangt. Trotzdem habe ich eine Aufgabe, das Gefühl, mich sinnvoll und sozial eingebunden zu betätigen. Die Selbsthilfe bietet heute ein viel breiteres und vielfältigeres Spektrum an Betätigungsmöglichkeiten, als ich soeben aufgezählt habe – in dem von dir herausgegebenen Buch »Tätigsein« habe ich versucht, dieses Spektrum zu beschreiben. Ich denke, es ist wichtig, mehr und unterschiedlichere Lebensmodelle als nur das des geregelten, versicherungspflichtigen dauerhaften Vollarbeitsplatzes als gleichwertig anzuerkennen. Es ist ferner wichtig, die 37 38 »Gerecht ist anders« Bedingungen herzustellen und zu unterstützen, damit solche anderen Lebensmodelle auch ohne allzu belastende Schwierigkeiten verwirklicht werden können. Und die Betroffenen müssen darin unterstützt und begleitet werden, das für sie jeweils passende Lebensmodell auch zu finden, zu akzeptieren, zu gestalten oder Unterstützung dafür zu suchen. Abschließende Thesen: - These 1 Es ist davon auszugehen, dass die aktuelle und die zukünftige Arbeitsmarktsituation nur noch eine eingeschränkte Anzahl von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen vorhalten wird. In der Konkurrenz des freien Arbeitsmarktes werden psychiatrieerfahrene Menschen erst In den Rehabilitationseinrichtungen muss innerhalb der Teams und mit den Rehabilitanden offener und vermehrt darüber geredet werden, welche Perspektiven der Arbeitsmarkt noch hergibt. - sekundär oder tertiär diese Plätze erreichen können. Es ist auch davon auszugehen, dass aufgrund der Veränderung der direkten Arbeitsstrukturen, das neue Anforderungsniveau nur von wenigen psychiatrieerfahrenen Menschen erreicht und gehalten werden kann. Von daher ist es notwendig, dass in den Rehabilitationseinrichtungen innerhalb der Teams und aufgrund ihrer ethisch-moralischen Verpflichtung auch mit den Rehabilitanden offener und vermehrt darüber geredet wird, welche Perspektiven in Bezug auf Erwerbsarbeit der Arbeitsmarkt noch hergibt. Die Leitungen der Rehabilitationseinrichtungen sollten sich in der Pflicht sehen (auch im eigenen beruflichen Interesse), mit den Kostenund Leistungsträgern über neue Zielbestimmungen, die sich an den zukünftigen Arbeitsmarktbedingungen (z. B. in Richtung Minijob, Mindestlohn-Arbeitsverhältnisse und Kombilohn) anpassen, zu sprechen. These 2 Es ist auch dann noch davon auszugehen, dass für viele psychiatrieerfahrene Menschen niedrigschwelligere Arbeitsplätze notwendig sein werden. Auf der sich derzeit abzeichnenden »Einbahnstraße« in Richtung WfbM, müssen dringend andere Wege oder Straßen gebaut bzw. bestehende ausgebaut werden. In diesem Sinne muss z. B. Freiwilligenarbeit, Zuverdienst aller Art, Selbsthilfearbeit anerkannt und entsprechend entlohnt werden. Hierzu gehört auch unbedingt eine Stärkung der Position der Integrationsfirmen. Die Bestrebungen, einen dritten Arbeitsmarkt aufzubauen, sind sicher ein gutes Zeichen in diese Richtung. Die Leitungen der Rehabilitationseinrichtungen sollten sich in der Pflicht sehen, mit den Kostenund Leistungsträgern über neue Zielbestimmungen, die sich an den zukünftigen Arbeitsmarktbedingungen anpassen, zu sprechen. - These 3 Es ist darauf zu achten, dass niedrigschwellige Arbeitsplätze von denen besetzt werden, für die sie vorgesehen waren. Mit dem Wegbrechen von hochschwelligen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen, kommt es häufig zu einer Umverteilung von oben nach unten. In Ermangelung des sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatzes werden Zuverdienstarbeitsplätze beispielsweise von »erfolgreichen Reha-Absolventen« besetzt, obwohl sie eigentlich für Leistungsschwächere gedacht waren. Die Effizienzkontrolle dieser neuen Wege in Richtung niedrigschwelliger Arbeitsplätze muss sich an der Nützlichkeit für die Schwächsten orientieren. - - - These 4 Auch wenn das Angebot an niedrigschwelligen Arbeitsplätzen sich nicht so schnell entwickeln wird, ist es mit Blick auf den derzeitigen Kostendruck im Gesundheitswesen unbedingt diskussionswürdig, dass sich krankenkassenfinanziert zunehmend ergotherapeutische ambulante Behandlungstrukturen entwickeln, in denen über Langzeit- und Kombirezeptierungen tagesstrukturierende Maßnahmen angeboten werden. Dies umso mehr, weil eine Teilnahme über die Rezeptgrundlage, immer gekoppelt ist mit der Vorgabe krank sein zu müssen. Alternativ müssen von den Krankenkassen unabhängige Finanzierungskonstrukte entstehen, die eine sinnvolle tagesstrukturierende Betätigung ermöglichen. Hier wäre z. B. zu überlegen, ob Tagesstätten oder Kontaktstellen Angebote vorhalten und vermitteln, die auch stundenweise honoriert werden können. Dabei sollten solche Angebote bevorzugt werden, die die psychiatrische Subkultur verlassen und gemeinwesenorientiert sind. These 5 Es muss eine gesamtgesellschaftliche Diskussion in Gang kommen, in der die Bedeutung von Arbeit, im Jahodaschen Sinne, eine neue, auf die aktuellen arbeitsmarktpolitischen Grundlagen bezogene, Bestimmung erfährt. Dabei ist eine Grundvoraussetzung die finanzielle Absicherung der Menschen deutlicher und menschenwürdiger von der Erwerbsarbeit abzukoppeln. Die Gegenüberstellung Erwerbsarbeit – Eigenarbeit muss korrigiert werden bspw. im Sinne von Erwerbsarbeit – Gemeinwesenarbeit. Dazu ist es notwendig, dass offen über die Situation gesprochen wird, dass die entstehenden Systeme ein menschenwürdiges Grundeinkommen beinhalten, das aber gesellschaftlich akzeptiert und anerkannt werden muss. These 6 Trotz der großen Veränderungen des Arbeitsmarktes sollte die Möglichkeit der Integration von Menschen mit psychischen Einschränkungen nicht ausgeschlossen bleiben. Unverzichtbar ist dabei die Zusammenarbeit und/oder Auseinandersetzung mit denjenigen psychiatrieerfahrenen Menschen, die neben ihren persönlichen Problemen noch Interesse für die politische Dimension ihrer Lage aufbringen können. Das werden vielleicht nur wenige sein, aber es gibt sie, auf jeden Fall in den Landes- und Bundesverbänden Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 »Gerecht ist anders ...« Die finanzielle Absicherung der Menschen muss deutlicher und menschenwürdiger von der Erwerbsarbeit abgekoppelt werden. der Psychiatrieerfahrenen. Es ist ein rehapolitischer und psychiatriepolitischer Diskurs notwendig, der Bedingungen der Vorbereitung und der Perspektiven des Rehabilitationsprozesses in den Blick nimmt. Sowohl Leitungs- wie auch Basismitarbeiter/innen in diesem Bereich sind aufgefordert, den sozialpolitischen Horizont, der ihre Arbeit bestimmt, zu erkunden, zu diskutieren und nach Möglichkeiten zu suchen, ihn, wo möglich, zu beeinflussen. Nur, wenn die Bemühungen, psychiatrieerfahrenen Menschen eine Perspektive zu geben, die gesellschaftliche Realität, in der diese Bemühungen stattfinden, aktiv einbeziehen, kann verhindert werden, dass sie individuell oder konzeptionell ins Leere laufen. Anschrift der Verfasser Sibylle Prins Peter Weber Herman-Nohl-Schule/BFS Ergotherapie Regionales Kompetenzzentrum Hildesheim Steuerwalderstr. 162 31137 Hildesheim info@pwweber.de Denken Sie sich die Gesichter doch einfach weg ... Interview mit einer Werkstattleiterin Vorbemerkung: Ich bin nach Z. gefahren und warte jetzt auf die Diplom-Sozialarbeiterin Frau Apenbrink.1 Das sehr moderne, großzügig mit viel Glas hergerichtete Werkstattgebäude beeindruckt mich. Ich habe meine Befangenheit noch nicht ganz abgeschüttelt, als Frau A. eintritt. Sie wirkt auf mich sofort sympathisch. Der kesse, kurze Haarschnitt steht ihr ebenso wie die abgewetzten Jeans und das bunt geringelte T-Shirt. Alter? Vielleicht Mitte Vierzig. Sie strahlt Herzlichkeit und Wärme aus. Ich hatte mir auf der Herfahrt im Zug eher eine leicht magersüchtige, moderne Managerin mit schwarzem Aktenköfferchen und adrettem Kostüm vorgestellt. Die sind verpflichtet zum »positive thinking« – hatte ich mir gedacht – und mir vorgenommen, das Interview entsprechend zu beginnen. Ob das noch passt? Egal, nach der Begrüßungszeremonie muss ich anfangen. Info: Was hat sich in den letzten Jahren in Ihrer Abteilung von den Rahmenbedingungen her verbessert? Frau A.: Verbessert (lange Pause und Lachen) – da muss ich stark nachdenken. Gut für uns alle ist jedenfalls, dass ich durch langjährige Mitarbeit in dieser Einrichtung alle Traditionen und Schlupflöcher kenne, über viele Kontakte verfüge. Ich glaube, dass es mir gelungen ist, ein gutes Arbeitsklima zu erhalten, aber verbessert hat es sich nicht. Hm – verbessert hat sich vielleicht, dass ich sehr selbstständig arbeiten kann. Das ist der Vorteil von dem Nachteil, dass die Geschäftsführung dauernd wechselt. Na ja, und die Gebäude, die haben sich auch verbessert. Vielleicht lässt sich auch positiv verbuchen, dass wir vernetzter arbeiten mit anderen Projekten und Betrieben. Die Kehrseite ist, dass die Komplexität gewachsen ist und die Abläufe immer schneller werden. Das ist nur durch Routine zu bewältigen. Die Anzahl der Kontakte ist zwar wesentlich höher geworden – wegen notwendiger Absprachen und Abstimmungen –, sie sind aber längst nicht mehr so intensiv, darunter leidet dann die Qualität auch ehemals guter und tiefer Beziehungen. Vernetzung bedeutet ja nicht automatisch gute Prozesse. Info: Könnten Sie das noch etwas näher beschreiben? Frau A.: Früher gab es einfache Strukturen und eindeutige Zuständigkeiten. Entscheidungen konnten gut vorbereitet werden und waren hinsichtlich ihrer Konsequenzen durchschaubar. Jetzt gibt es extrem viele Schnittstellen. Man überlegt dauernd – durchaus mit einem gewissen Misstrauen – wen muss ich mit einbeziehen, wen lasse ich lieber aus. Aber 1 Pseudonym Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 39 40 »Gerecht ist anders« letztlich kann man die beeinflussenden Faktoren nicht mehr durchschauen. – Da fällt mir noch eine Verbesserung ein: Die Beschäftigten – ich meine die Menschen mit Behinderungen – vertreten inzwischen ihre Interessen viel selbstbewusster. Das ist für diejenigen, die viel gesundes Potenzial mitbringen, sehr förderlich. Wer sich engagieren will und kann, hat viel mehr Möglichkeiten als früher. Da wirkt die Werkstättenmitwirkungsverordnung positiv. Dass die berufliche Bildung mehr Gewicht bekommen hat, finde ich ebenfalls positiv. Allerdings hat das auch zwei Seiten. Jedenfalls da, wo wie bei uns schon ein hoher Level bestand. Jetzt soll es mehr Verbindlichkeit geben, Rahmenbildungspläne und so was. Das ist aber begleitet von mehr Standardisierung und Gleichmacherei. Die Menschen, auf die sich das alles beziehen soll, geraten paradoxer Weise dadurch eher ins Hintertreffen – wegen der vielen Zeit, die für ausführliche Dokumentation einzusetzen ist und die dann für ein persönliches Gespräch fehlt. Der größte Teil der bei uns Beschäftigten wird viel zu wenig begleitet, weil keine Zeit da ist. Die knappe Zeit gleicht einem zu kurzen Hemd, mit dem man im Schnee steht. Man zieht an allen Ecken, aber es langt nicht mehr, um richtig zu wärmen. Dadurch, dass auf das alte, gut laufende System ein neues draufgepfropft wurde, kriegen wir es kaum mehr gebacken. Es ist schwierig, das zu integrieren ohne was kaputt zu machen. Die Dokumentationsanforderungen drängen sich in den Vordergrund: beantragen, bereinigen, erklären, auseinandersetzen, Schnittstellenbearbeiten, Tausend Gremien. Info: Haben die Dokumentationsanforderungen nur negative Effekte? Frau A.: Keineswegs. – Man kann mit den Klienten darüber gut ins Gespräch kommen, aber der Dokumentationswust und die tausend Absprachen fressen dann die Zeit weg für normale, alltägliche Beziehungen und sich daraus ergebende Hilfestellungen. Immer weniger Personal soll immer mehr für immer weniger Geld leisten. Das hat auch mit dem Qualitätsmanagement zu tun. Es ist ja gut, sich ständig zu überlegen, was man an den Arbeitsabläufen verbessern kann. Allerdings wie es durchgeführt wird, die Wege die dabei beschritten werden, finde ich oft fragwürdig. Info: Wie hoch würden Sie den prozentualen Anteil derjenigen Beschäftigten einschätzen, die von den neuen Konzepten voraussichtlich profitieren werden? Frau A.: Etwa zwanzig Prozent würde ich grob schätzen. Darin sind aber auch schon Leute, die unter anderen Arbeitsmarktbedingungen gar nicht erst in einer geschützten Werkstatt sein müssten. Info: Könnte jemand, der den Betrieb nicht so gut kennt wie Sie, den derzeitigen Anforderungen gerecht werden? Frau A.: (selbstsicher und energisch) Das halte ich für ausgeschlossen. Das geht nur, weil ganz viel Routine und ganz viel Kenntnisse von einigen Jahren Arbeit da sind, nicht nur bei mir. Die erfahrenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirken stabilisierend in all der Hektik. Allerdings für mich entstehen daraus auch Probleme. Je mehr du die Menschen kennst und von ihren Ängsten weißt, desto behutsamer gehst du mit ihnen um. Die Neuen in der Geschäftsführung z. B., die kennen die Menschen nicht, die können deshalb eher von den Zahlen her denken. Info: Könnten Sie dafür ein Beispiel geben? Frau A.: Wir hatten mal jemand in der GF, der ohne mit der Wimper zu zucken, Stellen streichen wollte. Als ich ihm sagte, so geht das nicht und aus welchen menschlichen Gründen nicht, antwortete er: Sie machen es sich viel zu schwer. Denken Sie sich die Gesichter doch einfach weg. Ich glaube, er war der Meinung, dass emotionale Intelligenz für das Leitungsgeschäft eher hinderlich ist. Info: Welche Eigenschaften braucht eine Leiterin oder ein Leiter Ihrer Meinung nach? Frau A.: Leiten erfordert ein sehr hohes Maß an Kommunikation nach allen möglichen Seiten und dafür ist emotionale Intelligenz unabdingbar. In den letzten Jahren ist auch zunehmend mehr Mut notwendig, sozusagen Mut in unbekannten Gewässern zu navigieren. Info: Machen die vielen Veränderungen nicht auch Angst? Frau A.: Ich habe keine Angst vor Veränderungen, aber ich bin kritisch gegen Einseitigkeiten. Deshalb schätze ich auch die Traditionalisten hier im Betrieb, die machen es mir zwar nicht leichter, ich bin oft anderer Meinung, aber sie sind ein wichtiger Faktor, um die Balance zu halten. Stromlinienförmige Mitarbeiter finde ich langweilig. Bei den Mitarbeitern war mir immer eine respektvolle Haltung den behinderten und beeinträchtigten Menschen gegenüber das Wichtigste. Und was die Wertschätzung im Umgang mit Menschen betrifft, da treffe ich mich mit den Traditionalisten. Ich bin zwar nicht christlich geprägt, aber es geht mir um den Menschen, gleich ob behinderter oder nicht behinderter Mitarbeiter. Info: Besitzen Ihre jetzigen Chefs emotionale Intelligenz? Frau A.: (lacht) Man kommt sich gar nicht mehr so nah, um das überhaupt feststellen zu können. Na ja – die wächst nicht mit der Hierarchieebene. Außerdem kommen die Geschäftsführer nicht mehr aus sozialen Bereichen. Inhaltlich ist die GF auf mich angewiesen. Dass eine qualitativ gute Arbeit eher zu schaffen ist, wenn die Mitarbeiter sich wohl fühlen und motiviert sind, übersehen sie gern. Hinsichtlich der behinderten Mitarbeiter habe ich oft Schwierigkeiten, ihnen deutlich zu machen, welche Wichtigkeit Beziehung und eine ausreichend dichte Begleitung hat, dass genau das mit Qualität zu tun hat. Info: Wenn die Personalsituation nicht so eng wäre, könnten Sie dann den Neuerungen mehr abgewinnen? Frau A.: (sehr lebhaft) Ja, ja – wenn die Personalsituation besser wäre, dann könnte man die Sachen, die von der Intention her vernünftig sind, besser akzeptieren. Diese Lückenhaftigkeit, zu der man im Augenblick verdammt ist, ist fatal. Du kannst gerade mal die schwierigste Situation bearbeiten und die anderen Probleme liegen lassen, bis sie auch schwierig geworden sind. Mitarbeiter fehlen uns an allen Ecken und Enden. Alles andere haben wir: Räume, Fachlichkeit, Lo- Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Interview: Denken Sie sich die Gesichter doch einfach weg ... gistik, Lkw. Viele Veränderungsnotwendigkeiten kommen aus dem Willen zum Einsparen und nicht von zielführenden Konzepten her. Da heißt es: Hast du Plus oder Minus erwirtschaftet? Was ist nächstes Jahr zu erwarten? Nullrunde – Tarife steigen – Schere geht weiter auseinander. Da hat man die Wahl. Entweder löst man Bereiche auf, setzt Teams anders zusammen oder erschließt neue Tätigkeitsfelder. Info: Macht Not nicht auch erfinderisch? Frau A.: Wir wären auch kreativ, wenn keine Not bestände. Ich glaube, dass man eher dann kreativ wird, wenn man gut besetzt ist. Zum Beispiel sind ad hoc Gespräche nicht mehr möglich. Die sind aber gerade für neue Ideen förderlich. Info: Wie würden Sie über die Jahre hinweg Ihre Motivationsoder Arbeitslustkurve einschätzen – in welchen Jahren gab es Höhepunkte, in welchen Tiefpunkte? Frau A.: Ich habe und hatte immer eine hohe Motivation. Es gab mal ein paar Jahre, da habe ich tatsächlich in der Zeitung nach anderen Stellen gesucht. Da war eine Geschäftsführung dran, die vieles kaputt gemacht hat, und mit der ich im ständigen Streit lag. Aber schließlich musste sie gehen. Inzwischen ist es für mich fast schon nachrangig, wer in der Geschäftsführung ist. Gut waren die Zeiten, in denen vonseiten der GF noch mehr Zeit zur Verständigung da war. Dann kamen, so etwa um das Jahr 2000, verschärftes Controlling und rabiate Reduzierungen. Da ging es mir schlecht. Ich habe stark überlegt, ob ich das aushalte. Ich arbeite ja mit vielen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schon jahrelang zusammen und da lasse ich mich natürlich von ihren Ängsten und den realen Härten berühren. In Zeiten, in denen ich unzufrieden bin, denke ich auch so Sachen wie: andere in der freien Wirtschaft verdienen für eine vergleichbare Tätigkeit das Dreifache. Ich muss schließlich als Alleinverdienerin eine Familie ernähren. Info: Wie schätzen Sie Ihre Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten in der Arbeit ein? Frau A.: In dem Spielraum, der ökonomisch für mich vorhanden ist, relativ hoch. Wie ich die gegebenen Ressourcen verwende, ist innerhalb eines vereinbarten Rahmens meine Sache. Das ist es auch, was meine Motivation noch erhält. Allerdings haben sich auch diese Spielräume verkleinert. Zum Beispiel Mitarbeiter kann ich nur noch bedingt aussuchen, da es nur noch wenige Neueinstellungen gibt und Versetzungen zunehmend von betrieblichen Notwendigkeiten beeinflusst werden. Aber in das, was von meiner Seite nicht zu verändern ist, setze ich keine Energien. Info: Worin liegen für Sie die größten Schwierigkeiten? Frau A.: Absolut schlecht ist, dass man zu wenig Zeit für Zwischenmenschliches hat. Ich nehme sie mir, aber mit schlechtem Gewissen. Um mit den Menschen so umzugehen, wie ich es für richtig halte, beute ich mich ständig selbst aus. Das ist in der normalen Arbeitszeit nicht zu schaffen. Ich habe mich aber bewusst dafür entschieden. Sonst würde mir die Arbeit keinen Spaß mehr machen. – Was ist schwierig? Ein ständiges Thema ist das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit. Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Hier eine Balance zu finden ist für Gruppenleitungen noch schwieriger als für mich. Die sind näher dran, sowohl an den Kollegen als auch an den Beschäftigten. Sie werden zerrieben zwischen den Anforderungen an Schnelligkeit und dem Gefühl, dass sie den Beschäftigten nicht gerecht werden. Verschlechtert hat sich, dass auf den hierarchisch gleichen Ebenen alle viel vereinzelter arbeiten. Es gibt dadurch mehr Konkurrenz untereinander. Info: Ist das von der Geschäftsführung so gewollt? Frau A.: Die macht sich zumindest öffentlich keine Gedanken darum. Info: Warum gibt es Ihrer Meinung nach vonseiten der Mitarbeiterschaft aus den Sozialberufen nicht mehr Widerstand? Frau A.: Weil wir alle Rädchen im Getriebe sind, weil wir so gut gelernt haben, empathisch zu sein, für alles Verständnis zu haben. Weil wir gelernt haben, vom Individuum her zu denken. Verstehen und Verhandeln, das ist unsere Sache, nicht Auflehnen. Vielleicht müsste man Kostenträgern bestimmte Haltungen deutlicher machen, sich Verbündete suchen. Habe ich lange versucht. Unter den neuen Abteilungsleitungen habe ich keine Verbündeten gefunden. Die kommen schon mit einer neuen Kultur, die vielleicht kompatibler mit den Anforderungen ist. Ich weiß nicht, was sie denken. Ich begegne ihnen nicht. Ich kann sie nicht kennenlernen. Jeder schaut auf seine eigenen Ziele. Ein Schulterschluss ist dadurch sehr schwierig. Und außerdem, wie soll man in Widerstand gehen, wenn es keine klaren Feindbilder gibt? Die Chefs erlebe ich auch als Getriebene, getrieben von maximaler Arbeitsbelastung, von Gesetzen, Kostenträgern, von ehrgeizigen Zielvereinbarungen. Die haben wenig Spielraum und sind froh, wenn man sie nicht mit zusätzlicher Arbeit belästigt. Spannend ist, dass jeder sich für ein Opfer der Verhältnisse hält. An welcher Stelle sind wir Täter, wo sind wir Opfer? Jede Ebene hat ihre nachvollziehbaren Gründe, ihre Entschuldigungen. Wo liegt die Verantwortung? Wer oder was macht es so schlimm? Sind es die Politiker, sind es die Kommunen mit den leeren Kassen? Irgendwann landet man bei der Globalisierung. Ich frage mich natürlich auch, wie lange mache ich was mit. Wenn Entscheidungen getroffen werden, die ich falsch finde, äußere ich meinen Unmut auch schriftlich, um festzuhalten, dass ich dagegen war. Manchmal ändert das zwar nichts, aber dann kann ich morgens besser in den Spiegel sehen. Info: Was ärgert Sie am meisten? Frau A.: Dass versucht wird, alles gleich zu machen, die Vielfalt von Möglichkeiten durch Checklisten einzufangen. Das häufig so etwas wie eine Pseudoeinbeziehung zu beobachten ist, die keinerlei oder nur wenig Auswirkungen auf Entscheidungen hat. Ärgerlich ist auch, dass Strukturen top down verändert werden. Die springen oben schnell auf Außenreize an. Die eine Strukturveränderung ist noch nicht abgeschlossen, die Auswirkungen sind noch nicht bekannt und schon kommt die nächste. Wenn das oft passiert, tut man gut daran, die Prozesse, wo immer möglich, zu verlangsamen. 41 »Gerecht ist anders ...« 42 Ich persönlich arbeite selbst schnell, aber ich weiß, dass die Bereiche mehr Zeit brauchen. Es laufen ständig gleichzeitig viele Prozesse und dabei hat man den Eindruck, dass kaum etwas entschieden wird. Info: Wieso? Ich denke, es wird sehr viel entschieden? Frau A.: Es wird dauernd etwas entschieden, aber gleichzeitig hat man das Gefühl, nichts wird richtig entschieden, da es sich nicht um strategisch durchdachte inhaltliche Entscheidungen handelt. Info: Wo liegen die Ursachen? Frau A.: Ich weiß nicht, wer der Treiber ist in diesem Spiel. Ich weiß nicht, wem ich das anlasten soll. Wenn ich wüsste, wie es gespielt wird, wäre ich in der Politik und würde es ändern. Wenn ich nicht auch einen gewissen Lustgewinn aus der Beobachtung all dieser interessanten Phänomene ziehen würde, würde ich vielleicht verzweifeln. Ich gehe dabei irgendwie auf die Metaebene. Info: Wie wird es Ihrer Meinung nach weitergehen? Frau A.: Gute Frage, habe ich mich auch schon oft gefragt. In fünf bis sieben Jahren wird es sein wie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Immer mehr Automatisierung, immer mehr Technisierung, immer weniger Zeit für zwischenmenschliches Miteinander. Immer weniger Fachkräfte, immer weniger bezahlte Arbeit. Parallel dazu werden immer mehr Menschen mit Behinderungen ambulant betreut werden. Ich bin sehr für die ambulante Betreuung, aber sie muss auch stattfinden. Es wird viel von Eigenverantwortung geredet, aber wir entdecken schlicht Vernachlässigung. Für uns ist es jedoch unmöglich, die Personalkürzungen im ambulanten Bereich mit aufzufangen. Die neuen Konzepte z. B. »virtuelle Werkstatt« usw. finde ich hochinteressant, aber wenn es so weitergeht wie bisher, werden die wirklich Unterstützungsbedürftigen, besonders die sogenannten Systemsprenger, rausfallen. Ich befürchte, dass es immer schwieriger werden wird, demokratische Prozesse zu organisieren. Wirkliche Einbeziehung wird schon deshalb immer schwieriger, weil Demokratie Zeit braucht. Demokratie heißt für mich auch: Umgang mit Vielfalt. Man versucht aber heute, alles gleich zu machen, alles durchzustrukturieren. Mir kommt das so vor, als seien alle sehr desorientiert und sehnen sich nach Sicherheit, die durch Überstrukturierung hergestellt werden soll. Genau aus diesem Grunde finden manche Kollegen diese Vorgehensweisen auch gut. Man kann sich an vorgegebenen Ordnungsschemata und Standards festhalten. Info: Wie verträgt sich dazu der Anspruch besonders individuell und passgenau vorzugehen? Frau A.: Nicht besonders gut, schon wegen der mangelnden personellen Ressourcen kommen doch oft nur 08/15Geschichten dabei heraus. Info: Frau Apenbrink, vielen Dank, dass Sie den Sozialpsychiatrischen Informationen so großzügig einen Teil ihrer knappen Zeit gewidmet haben. Das Interview führte Renate Schernus. Das bedingungslose Grundeinkommen Wilhelm Nestle Was versteht man unter einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE)? Das »Deutsche Netzwerk Grundeinkommen« nennt vier Kriterien: 1. Existenzsichernd 2. Individueller Rechtsanspruch. Es soll also beispielsweise unabhängig davon gezahlt werden, was mein Lebenspartner verdient 3. Keine Bedürftigkeitsprüfung. Deshalb erhält es jede(r) – gleichgültig wie viel Geld ihm/ihr zur Verfügung steht 4. Kein Zwang zur Arbeit1 Ohne jede Vorbedingung bekommt jede und jeder einen monatlichen Grundbetrag ausbezahlt, der ihr bzw. ihm ein Leben in Würde ermöglicht. Über die Höhe gibt es unterschiedliche Vorstellungen von 600 bis 1500 €. Das unterscheidet sich grundsätzlich von dem, was gegenwärtig Existenzsicherung genannt wird. Sozialhilfe oder Hartz IV lassen zwar niemanden verhungern und sorgen auch sonst für elementare Bedürfnisse. Beim BGE geht es aber um mehr als um das bloße Überleben. Es soll die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Für die Vertreter(innen) dieser Idee gehört es zur Menschenwürde, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten – und auch Tätigkeit bzw. Arbeitsplatz frei wählen zu können. Deshalb ist BGE ein Menschenrecht und an keine Bedingung gebunden. BGE zielt also in die entgegengesetzte Richtung als gegenwärtige Existenzsicherung. Es will den Einzelnen instand setzen, sein Leben selbst zu bestimmen. Sozialhilfe oder Hartz IV sichern zwar das Überleben. Sie stigmatisieren aber die Empfänger. Und sie werden bewusst so unattraktiv gehalten, dass die Bezieher »motiviert« werden, Arbeit anzunehmen, egal, wie sie gestaltet ist.2 Die Frage der Finanzierung soll hier nur angesprochen werden. Der Modus wird von dem Gesellschaftsmodell abhängen, auf das wir dann zusteuern.3 Evident ist: Von der Geldmenge her, die um den Globus schwirrt, wäre die Finanzierung kein Problem. Eben so offensichtlich ist, dass die Finanzierung eines echten BGEs einen Wandel in der Verteilung des Reichtums voraussetzen würde. Und ich denke, dass die Einführung des BGEs nicht ohne gleichzeitige Reform unserer Wirtschaft in Richtung nachhaltiger Umgang mit der Natur eingeführt werden sollte. Was spricht für ein BGE? »Es ist wirklich genug für alle da!« heißt der Slogan, mit dem die Arbeitsgruppe »Genug für alle« von Attac für ein BGE wirbt.4 Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist es nicht mehr notwendig, dass die Mehrheit der Menschen Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 43 Wilhelm Nestle Attac Tübingen arbeiten muss, um das materielle Leben zu gewährleisten. Im Gegenteil, es sind immer weniger, die im Produktionsprozess tätig sind. Die Kehrseite: Immer mehr werden arbeitslos, viele ohne Chance, im Arbeitsprozess wieder Fuß fassen zu können. Unsere Politiker haben aber aus dieser Entwicklung keine Konsequenzen gezogen und versuchen mit Zuckerbrot und Peitsche Hartz IV-Empfänger in Arbeitsplätze zu treiben, die es nicht gibt. Das hat in manchen Arbeitsagenturen zu menschenunwürdigen Praktiken geführt.5 Genau so unangemessen ist die Forderung, Hartz IV-Empfänger sollten zu Arbeiten verdonnert werden, die sonst niemand tun will.6 Angesichts dieser Entwicklung erscheint das BGE als der einzige Ausweg, um die Menschenwürde in unserer fortgeschrittenen Industriewelt zu retten. Was spricht dagegen? Für Menschen, die nichts anderes kennen als unsere gängige Erwerbsarbeit, erscheint das BGE als der Umsturz aller Werte. 1. »Wer arbeitet dann noch?« wird gefragt. Die Produktion der Dinge, die wir zum Leben brauchen, wird zusammenbrechen. 2. Es ist ungerecht, dass die, die arbeiten, auch noch für den Lebensunterhalt der »Faulenzer« aufkommen müssen. 3. Warum sollen Reiche ein BGE erhalten? 4. Man befürchtet einen »Kombilohneffekt«. Wer ein BGE bezieht, könnte bereit sein, für einen geringen Lohn zu arbeiten, da seine Existenz ja gesichert ist. Das könnten Arbeitgeber ausnützen? 5. Von der linken Seite kommt der Einwand, dass mit einem BGE, für das keine Gegenleistung erbracht werden muss, die Menschen »ruhig gestellt« würden. Die Regierung bräuchte sich nicht mehr darum kümmern, dass sie Arbeit finden, und die Kapitalisten könnten noch ungehinderter ihren zerstörerischen Wirtschaftkurs verfolgen.7 Analyse Menschenbild Die gängige Erwerbsphilosophie geht davon aus, dass die meisten Menschen von Natur aus am liebsten faulenzen und deshalb zur Arbeit gezwungen werden müssen. Das geschieht heute durch die Angewiesenheit auf erworbenen Lohn. Spiegelbildlich findet sich bei Verfechtern des BGEs oft ein idealistisches Menschenbild. Es sei in der Natur des Menschen angelegt, zum Wohle der Menschheit tätig, zumindest aber kreativ zu sein. Ist die »Natur« des Menschen so eindeutig vorgegeben? Sie erscheint mir eher als ein sehr komplexes System. Was der Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Einzelne denkt, fühlt, sich wünscht, hängt – auch – von seinem sozialen Umfeld ab. Und dieses ist einem geschichtlichen Wandel unterworfen, was ein Blick in die Geschichte zeigt. Die Natur des Menschen – einzeln und kollektiv – ist unserem Ökosystem vergleichbar. Eine unübersehbare Fülle von Faktoren wirken gegenseitig aufeinander. Deshalb ist sehr schwer vorhersehbar, wie sich ein Eingriff an einer Stelle auswirkt. Und die Einführung eines BGE wäre zweifellos kein geringer Eingriff. Das relativiert alle Prognosen, enthebt uns freilich nicht, uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Unser bewusstes Wollen und Abmühen ist ein wichtiger Faktor in diesem System und will verantwortet sein. Wir können gar nicht anders, als unser soziales System auch aktiv zu gestalten, und wir tun es ja auch, seit es menschliche Kultur gibt. Was zurzeit durch die neoliberalen Akteure geschieht, greift in brutalster Weise in unser soziales System ein – ohne Rücksicht auf das, was die menschliche Natur braucht. Blindlings werden menschliche Bindungen und Grundlagen zerstört. Auch das (ver)formt die menschliche »Natur«. Historische Analyse unserer Situation »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.« Dieser viel zitierte Satz aus der Bibel8 entspricht den Produktionsbedingungen der vorindustriellen Zeit. Der größte Teil der Bevölkerung musste in der Landwirtschaft arbeiten, damit alle zu essen hatten. Die Industrialisierung brachte eine Verschiebung. Während die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft abnahm, wurden immer mehr Menschen gebraucht, um die Industriegüter für den steigenden Lebensstandard herzustellen. Es wurde deshalb immer noch als Notwendigkeit für das Leben empfunden, dass alle, die konnten, arbeiteten. Von der Notwendigkeit zu unterscheiden ist der Zwang, den Menschen über Menschen ausüben. Er prägt die Geschichte in vielfältigen Formen. Oft wurde er mit der Notwendigkeit legitimiert. Häufig führte er aber auch zu ungerechter Verteilung des erwirtschafteten Reichtums. Die politische Entwicklung des Abendlandes hin zur Demokratie hat schließlich dazu geführt, dass Zwangsherrschaft von Menschen über Menschen für unvereinbar mit der Menschenwürde erklärt wurde. Damit war theoretisch der Zwang aus der Arbeitsorganisation verbannt. Verpflichtung ist nur noch über Gesetze möglich, die – im Prinzip – von allen mündigen Gliedern eines Gemeinwesens beschlossen sind. 44 »Gerecht ist anders« Allerdings blieb die Eigentumsfrage von dieser Entwicklung weitgehend ausgeklammert. Marx hat ins Bewusstsein gebracht, dass die Besitzer von Produktionsmitteln faktisch über gewaltige Zwangsmechanismen verfügen.9 Gleichzeitig leuchtete bei ihm zum ersten Mal die Perspektive auf, dass die Menschen immer weniger arbeiten müssen, um zu essen – vorausgesetzt, der erarbeitete Reichtum wird gerecht verteilt. Legendär ist die Marx’sche Vision, dass es reicht, wenn jeder zwei Stunden in der Woche arbeitet, damit genug für alle da ist. Diese Utopie blieb im real existierenden Sozialismus ein ferner Traum. Die Bürger in seinem Einflussbereich waren alle gezwungen zu arbeiten, um essen zu können. Das mussten die Bürger der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg auch. Aber sie taten es erfolgreicher. Sie bekamen für ihre Arbeit mehr Lohn und sie konnten sich vor allem mehr und Besseres dafür kaufen. Zwar verblieb immer noch ein beträchtlicher Teil des Mehrwertes bei den Arbeitgebern. Aber das störte die Arbeitnehmer vergleichsweise wenig. Es ging ihnen immer besser – besser als es früheren Generationen je gegangen war. Für den steigenden Lebensstandard vom Auto bis zum Farbfernseher wurden alle Hände gebraucht – ja man holte sich noch zusätzlich Arbeitskräfte aus anderen Ländern. So blieb im Bewusstsein der Bundesbürger der Zusammenhang unhinterfragt: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« Dem Zwang, für das nötige Geld zu arbeiten, entsprach eine Notwendigkeit – wollte man am Wirtschaftswunder teilnehmen. Dieses Weltbild herrscht immer noch in unseren Köpfen. Und wer es infrage stellt, löst erst einmal eine reflexhafte Angst aus: Ich komme zu kurz, wenn ich für andere mit arbeiten soll. So haben Unternehmer und Politiker ein leichtes Spiel, die Bürger(innen) auf die Regel einzuschwören: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.« Das galt schon immer und wird als Naturgesetz empfunden. Die zugrunde liegende Fiktion, dass dem Zwang zur Arbeit eine existenzielle Notwendigkeit entspreche, wird aber immer unrealistischer. Es wird nur noch eine Minderheit gebraucht, um lebensnotwendige Güter zu erzeugen. Und die wird eben deshalb immer erpressbarer, weil immer weniger gebraucht werden. Die Leistung, die ich heute für mein Geld erbringe, dient zum überwiegenden Teil nicht dem Leben, sondern dem shareholder value, der sinnlosen Geldvermehrung. Je sinnloser aber der Arbeitszwang wird, umso menschenunwürdiger wirkt er sich aus. Da ist nur noch nackter sinnloser Zwang. Wer hier im Namen von Freiheit und Selbstverantwortung durch Maßregelungen à la Hartz IV Menschen in aussichtlose oder sinnlose Arbeitsperspektiven treiben will, pervertiert das Wort Freiheit und verhöhnt die Arbeitslosen wie die Arbeitenden. Angesichts dieser Entwicklung kann man eigentlich nicht anders als zu fordern: Schafft endlich den Arbeitszwang und die Bedürftigkeitsprüfung ab, sonst steuert unsere Gesellschaft in die Unmenschlichkeit. Ich würde allerdings weiter fragen: Ist damit, dass heute wenig Menschen mühelos die nötigen Güter für alle herstellen können, die Not aus dem Leben verschwunden? Die Frage stellen, heißt sie zu verneinen. Die Zerstörung unseres Planeten, Bildungsnotstand, die Verhältnisse in unseren Pflegeheimen, das Wachsen der Armut wären nur einige Stichworte, die zeigen, wie sehr es an notwendender Arbeit von Menschen für Menschen und für die Umwelt fehlt. Aber unser gegenwärtiges System ist offensichtlich nicht in der Lage, auf diese Nöte angemessen zu reagieren. Die Wirtschaft häuft maßlosen finanziellen Reichtum an. Gleichzeitig bleibt das Notwendige liegen, weil dafür kein oder viel zu wenig Geld zur Verfügung steht.10 Das BGE als ein Element einer neuen Gesellschaftsordnung Die Einführung eines BGE wäre ein Schritt, die sinnlose Zwangswirtschaft zu beenden. Dass sich damit auch alle andere Not wenden würde, glaube ich nicht, auch nicht, wenn das BGE »erkämpft« wäre.11 Die Alptraumvision des selbstzufriedenen Bürgers, den nur sein eigenes privates Glück kümmert, liegt nicht außerhalb des Denkbaren. Wie können die eigentlich notwendigen Tätigkeiten in den Blick gerückt werden und zwar für alle Menschen einschließlich der Politiker und der Verantwortlichen in der Wirtschaft? Mir scheint, dass das Menschenbild vieler Ideologen des BGEs an einer Einseitigkeit leidet. Ihr Interesse konzentriert sich auf die Freiheit des Menschen. Er muss vom unwürdigen Arbeitszwang befreit werden. Deshalb fordern sie eine gerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Und zweifellos ist das Gefühl, frei entscheiden zu können, konstitutiv dafür, dass ein Mensch Sinn in seinem Leben spürt. Aber das ist nur ein Pol. Damit Spannung ins Leben kommt, braucht es als Gegenpol das Bewusstsein, an der Gestaltung des gemeinsamen Lebens beteiligt zu sein. Für den Sinn im Leben ist es auch wichtig, Not zu spüren, und gebraucht zu werden, um sie abzuwenden. Bei denen, die heute für einen Arbeitszwang eintreten, schwingt vielleicht eine Ahnung dieses Zusammenhangs mit. Allerdings sind die Zwangsmaßnahmen nach Hartz IV absolut kontraproduktiv, um in den Menschen Verantwortung für das Gemeinwesen zu wecken. Im Gegenteil, sie entfremden die Menschen der Gesellschaft und vermitteln nichts weniger als das Gefühl eines sinnvollen Lebens. Der »Kampf« um ein BGE muss meines Erachtens gleichzeitig ein Kampf um demokratische Mitbestimmung sein und zwar in allen Bereichen – einschließlich der Wirtschaft. Alle Menschen müssen einbezogen sein in die Verantwortung für das Gemeinwesen, für Schaffung und Erhaltung menschenwürdiger Verhältnisse, für einen partnerschaftlichen Umgang mit der Natur. Und die Frage, wie wir uns dazu motivieren, unsere Verantwortung wahrzunehmen, beantwortet sich – glaube ich – nicht immer von allein. Da ist unsere Fantasie gefragt.12 Das BGE würde dafür einen Raum eröffnen. Aber diesen Lebensraum müssen wir gestalten. Lassen wir unsere Fantasie walten, um Modelle zu finden, in denen der materielle Druck, Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Nestle: Das bedingungslose Grundeinkommen vor allem der Druck, für Geld etwas zu leisten, an Bedeutung immer mehr abnimmt und die Freude, am Gestaltungsprozess der Gesellschaft beteiligt zu sein, immer wichtiger wird. BGE, das für solche Tätigkeiten Raum schafft, erscheint mir da der menschlichen »Natur« mehr zu entsprechen. 11 »Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist dann ein Beitrag zu der anderen Welt, die von der globalisierungskritischen Bewegung Anmerkungen für möglich gehalten wird, wenn es erkämpft wird. Wird es ge- 1 www.grundeinkommen.info/ währt aus Mitleid mit den Armen oder aus Kalkül, um sie ruhig 2 Dieter Althaus (CDU), Ministerpräsident in Thüringen, hat ein zu stellen, wird es zur Befreiung der Menschen von ungerechten Modell vorgestellt, das viel diskutiert wird. Von 800 € werden Verhältnissen nicht viel beitragen.« AttacBasistext 17 Rätz/Pater- 200 € für Krankenversicherung abgezogen. Die verbleibenden noga/Steinbach: Grundeinkommen: bedingungslos 79 600 € entsprechen ungefähr dem, was gegenwärtig Hartz IV- 12 Michael Opielka blickt in diese Richtung, wenn er schreibt: »In der Empfängern ausbezahlt wird. Für eine Teilhabe am Leben unserer Kombination gibt es auch überhaupt keine Alternative als beides: Gesellschaft ist das zu wenig. Faktisch (und wohl auch beabsich- ein Recht auf Einkommen und ein Recht auf Arbeit. Ich würde tigt) bedeutet es immer noch fast einen Zwang, bezahlte Arbeit immer beides fordern. Das ist auch naheliegend, denn die Leute zu suchen. wollen beides. Sie wollen am gesellschaftlichen Arbeitskörper teil- 3 Werner Rätz hat für mich einleuchtend dargelegt, dass man sich haben, der eine vielleicht mehr, der andere weniger. Damit gibt es erst dann auf ein Finanzierungsmodell festlegen kann, wenn die natürlich auch eine gewisse Verpflichtung. Aber die Verpflichtung gesellschaftspolitischen Voraussetzungen absehbar sind. Siehe muss immer freiheitlich sein. Verpflichtung kann nicht bedeuten, sein Artikel: »Für ein bedingungsloses Grundeinkommen sind dass man die Leute verknechtet wie im BSHG. Das ist unwür- Finanzierungsmodelle unvermeidlich, aber schädlich!« auf der dig.« (Gespräch mit Michael Opielka »Arbeitet man wirklich für Attac Homepage unter dem Link »Genug für alle«. sich selbst?« in Hans-Peter Krebs und Harald Rein (Hrsg.) Exis- 4 »Ein garantiertes Einkommen, das im Zeitalter des wirtschaft- tenzgeld – Kontroversen und Positionen 1. Aufl. 2000; Münster: lichen Überflusses möglich wird, könnte zum ersten Mal den Westfälisches Dampfboot S. 201) »Freiheitliche Verpflichtung«, Menschen von der Drohung des Hungertods befreien und ihn dieser Begriff ist so logisch wie ein weißer Rappe. Aber diese auf diese Weise von wirtschaftlicher Bedrohung wahrhaft frei und Paradoxie drückt genau aus, worum es geht: Wir brauchen ein unabhängig machen«, schreibt Erich Fromm schon 1966. Gesamt- BGE als Menschenrecht und wir brauchen Menschen, die sich ausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt für das gemeinsame Leben verantwortlich fühlen. und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 310 5 Die Erfahrungen bei den einzelnen Ämtern sind sehr verschieden. Anschrift des Verfassers Ich habe mit Teilnehmer(innen) eines Kurses gesprochen, zu Wilhelm Nestle dem sie als Hartz IV-Empfänger(innen) verpflichtet wurden. Sie Attac Tübingen fühlten sich regelrecht demoralisiert. Es wurde ihnen das Gefühl Untere Schillerstr. 4 vermittelt, dass sie selbst an ihrer Arbeitslosigkeit schuld seien, 72076 Tübingen da sie sich nicht gut genug »verkaufen« würden und sei es als nidulus@web.de Animierdame in einschlägigen Lokalen. 6 1-Euro-Jobs werden zum Teil durchaus als sinnvolle, erfüllende Tätigkeit erlebt. Sie sind aber zeitlich begrenzt und erfüllen selten ihren eigentlichen Zweck, Menschen wieder ins Arbeitsleben zu integrieren. 7 Mit »Brot und Spielen« sind schon im alten Rom die Massen darüber hinweggetäuscht worden, dass sie von jedem Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaft ausgeschlossen waren. 8 2. Thessalonischer 3,10 9 Ein Aussiedler, der bis in die 70er-Jahre in der Sowjetunion gelebt hatte, sagte zu mir: »Ich war in einem Arbeitslager gewesen. Aber ich habe vor dem Natschalnik nie solche Angst gehabt, wie jetzt vor meinem Arbeitgeber, der mich rausschmeißen kann.« 10 Es wird auch die Forderung erhoben, alle notwendigen Tätigkeiten vom Haushalt über die Pflege alter Menschen bis zur Kindererziehung zu bezahlen. Es ist sicher nötig, dass z. B. dem Pflegebereich – stationär und vor allem ambulant – mehr Aufmerksamkeit und mehr Geld zugewendet wird. Ebenso besteht im Angebot für Kindertagesstätten ein Nachholbedarf. Ich halte es aber für ein verhängnisvolles Ziel, möglichst alles, was Menschen füreinander tun, zu bezahlen. Da wird alles zur Ware. Ein Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 45 46 Glosse Aus: Wer hat Angst vor der freien Zeit?1 Guillaume Paoli Es könnte ein Märchen sein: Einst ging den Bauern von Eurodorf die In einer solchen Debatte fühle ich mich etwas deplatziert. Die glück- Arbeit aus. Saat und Ernte erledigten sich von alleine und die Speicher lichen Arbeitslosen haben kein Zukunftsmodell zu bieten; besser ge- füllten sich ohne ihr Zutun an. Doch statt sich zu freuen und ihr neues sagt, sie verzichten auf vorgefertigte Denkgebäude, in denen sich die Dasein zu genießen, wurden die Bauern sehr traurig, nicht mehr ackern Menschen erwartungsgemäß wohl oder übel niederlassen werden. zu können. Verzweifelt baten sie den weißbärtigen Weisen vom Dorf Uns geht es darum, unsere Gegenwart neu zu bewerten und mög- um Rat. »Alles kommt auf die Definition an«, antwortete er. »Wenn lichst zu ändern. Zu der Frage »Was tun?« kann ich nur vorschlagen: es keine Arbeit im bisherigen Sinne mehr gibt, dann braucht ihr nur Erstmal aufhören, mit den Wölfen zu heulen, um die Gedanken von all jene kleinen Tätigkeiten, die ihr bislang einfach so ausübtet, für der Wirtschaftspropaganda freizumachen. Als gesamtgesellschaftlich Arbeit zu erklären. Dann wird jeder seinen Arbeitsstolz wiederge- relevant betrachte ich nur die Vorstellung, einen freien Raum zu schaf- winnen (und außerdem kostet es den Gutsherrn keinen Pfennig).« fen, in dem alle möglichen Handlungen und Experimente ermöglicht Und so taten sie. Wenn ein Bauer zum Beispiel nach wie vor seinen werden können. Um sich »verwirklichen« zu können – was das auch Nachbarn besuchte, stellte er nun eine Rechnung aus und bekam immer heißen soll – brauchen manche eine Arbeitsstruktur, andere eine kleine Belohnung für seine »Dienstleistung«. Durch die allgegen- eher Dilettantismus und Muße. Schließlich darf man auch diejenigen wärtige Rechnerei wurde zwar das Alltagsleben erheblich erschwert, nicht vergessen, die einfach eine Pause brauchen und in Ruhe gelassen doch konnten alle wieder behaupten, sie arbeiteten. Und wenn sie werden möchten. Also werde ich mich hier darauf beschränken, von nicht vor Langeweile gestorben sind, dann leben sie noch heute. In der Gegenwart ausgehend negative Bemerkungen zu den gängigen Ermangelung von Arbeitsbeschaffung hat heute die Arbeitsbenamung Zukunftsvorstellungen der Arbeit zu machen. Meiner Meinung nach Konjunktur. Eine Tagung zur »Zukunft der Arbeit« gleicht einer Orgie wird das Positive nicht von Spezialisten, sondern von sozialen Bewe- der Definitionen. Nebst der knapp gewordenen Erwerbsarbeit werden gungen, Bürgerinitiativen oder Sowjets bestimmt werden können uns (so die Tagungsmappe) »schillernde Begriffe« wie »New Work«, – oder auch nicht. »bürgerschaftliches Engagement«, »Bürgerarbeit« und »informelle Arbeit« serviert. Wenn ich ein Buch lese, wird mir nun erklärt, ich Anmerkung leiste »Eigenarbeit« (was ich zusätzlich davon habe, ist mir nicht klar 1 Auszug aus einem Tagungsbeitrag (»Zur Zukunft der Arbeit«) bei geworden). Sogar Monstren wie »Beziehungsarbeit« bleiben uns nicht der Heinrich-Böll-Stiftung 1998 – Fassung nach: www.dieglueck- erspart (so tolerant ich auch bin, ich würde keine Beziehungsarbeiterin lichenarbeitslosen.de/schriften als Freundin schätzen!). Möge sich Heinrich Böll, Verfasser einer »Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral«, in seinem Grab umdrehen: Seine Erben sind arbeitswahnsinnig geworden! Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 »Gerecht ist anders ...« 47 Stimmt unser Arbeitsbegriff noch? Karsten Groth »Nein« ließe sich schlechthin auf die Frage im Titel dieses Beitrags antworten. Die sozioökonomischen Verhältnisse der modernen Gesellschaften haben sich derart verändert, dass unser Arbeitsbegriff nicht mehr stimmt. Denn er ist historisch in kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen verankert, wie sie heute für uns nicht mehr gelten. Auch eignet er sich nicht dafür, und darum soll es in diesem Heft ja immerhin gehen, die Gerechtigkeit unter den Menschen zu vergrößern. Dafür waren allerdings auch in früheren Zeiten die jeweils gültigen Arbeitsbegriffe nicht zuständig. Ausgehend von einem Arbeitsgebriff, wie er heute gemeinhin genutzt und begriffen wird und wie er gesellschaftlichen Zielvorstellungen und Vereinbarungen sowie arbeits- und sozialrechtlicher Gesetzgebung zugrunde liegt, will ich im Folgenden versuchen, einige Veränderungen an der Begrifflichkeit von Arbeit vorzuschlagen. Auch auf die Gefahr hin, dass dieses Unterfangen ein wenig anmaßend wirken könnte angesichts eines gesellschaftlichen Begriffsbildungsprozesses dieses gewaltigen Ausmaßes. Aber vielleicht können diese Anstöße ja dazu anregen, die eigene Reha-, Integrationsoder auch sozio- und psychotherapeutische Praxis einmal in diesem Sinne zu überprüfen und gegebenenfalls ein wenig anzupassen. In einem Beitrag über Stress als Plage des 21. Jahrhunderts (GEO, Heft 3, 2002) schreibt Ines Possemeyer: «Die Grundlage unserer Existenz ist die Arbeitswelt. Von Kindheit an werden wir erzogen und ausgebildet, später in der Arbeitswelt zu bestehen. Der Beruf ist zentraler Schlüssel zu sozialem Status und wirtschaftlichem Wohlstand. Er bestimmt unsere Möglichkeiten, uns selbst zu verwirklichen und weiterzuentwickeln.« Und schon im 19. Jahrhundert kritisiert der Wirtschaftstheoretiker Friedrich List den Produktivitätsbegriff Adam Smith’: »Wer Schweine erzieht«, sagt er, »ist ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.« Damit ist relativ überschaubar und treffend beschrieben, was wir in den industrialisierten (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaften unter Arbeit verstehen. Denn nichts anderes will der Arbeitsbegriff: beschreiben, was wir auf Basis gesellschaftlicher Vereinbarungen und Übereinkünfte als – zu bezahlende – (Erwerbs-)Arbeit zu verstehen haben. Unter dem Dach eines solchen Arbeitsbegriffs können sich die Leitbilder, an denen sich die Akteure bei der Ausführung ihrer Arbeit orientieren, natürlich verändern. Sie orientieren sich an den politisch-ökonomischen Bedingungen und finden aktuell ihren Ausdruck in der Erosion des sog. Normalarbeitsverhältnisses mit festen Arbeitsorten, Arbeitszeiten und Arbeitszuschnitten wie der Trennung in Kopf- und ausführende Handarbeit. Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Stattdessen werden die aktuellen Leitbilder der Arbeit geprägt von neuen Anforderungen und erhöhten Ansprüchen an Zeitsouveränität, Flexibilität, Komplexität, Qualität und Innovationskraft. Aber auch das neue Leitbild der Arbeit ist bei weitem nicht eindimensional, längst gibt es wieder Tendenzen in die Gegenrichtung und zu beobachtende Beharrungskräfte (Schumann 2003). Was in der Debatte über diese Veränderungen meist übersehen wird, ist, dass sie sowohl Verlierer als auch Gewinner hervorbringen. Das vergessen wir manchmal, wenn wir es im Umfeld der Gemeindepsychiatrie – zumindest bei oberflächlicher Betrachtung – meist mit den Verlierern zu tun haben. Wenn wir es denn unter dem Stichwort der Globalisierung tatsächlich mit tiefgreifenden epochalen gesellschaftlichen Veränderungen zu tun haben, dann darf es auch nicht wundern, wenn sich dabei unser Verständnis von dem, was wir als Arbeit bezeichnen, mit verändert. Das ist auch nicht wirklich neu, denn schon immer hat sich der Begriff, den sich die Menschen von der Arbeit machten, historisch in einem dialektischen Veränderungsprozess den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst. »Arbeit, soweit sie notwendig ist, ist nicht frei; gleichwohl bleibt sie notwendige Voraussetzung aller Freiheit.« Dies weiß bereits Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), und er markiert mit dieser Auffassung die Geburtsstunde der begrifflichen Verdoppelung des Arbeitsverständnisses. Mit dieser Verdoppelung 48 »Gerecht ist anders« Karsten Groth Dipl.-Psych. Universitätsklinikum HamburgEppendorf sind im Altertum das Reich der Freiheit und das Reich der Notwendigkeit begründet und die dafür jeweils vorgesehenen Arbeiten fein säuberlich aufgeteilt. Die körperliche Arbeit, die Landwirtschaft, das Herstellen des Handwerks und alle Tätigkeiten für Lohn gelten als notwendige und unfreie Arbeiten. Sie sind den Unfreien und Sklaven vorbehalten und werden als mit Mühe verbunden und fremdbestimmt verachtet. Der Zweck der Tätigkeiten aus dem Reich der Freiheit hingegen findet sich aus sich selbst heraus und ist nicht mehr aus der Notwendigkeit heraus von außen gesetzt. Der Genuss gehört dazu, die Politik und die Wissenschaft. Aber als die wirklich reine Tätigkeit bleibt im Reich der Freiheit nur die betrachtende, die Philosophie. Denn »sie [hat] keinen anderen Zweck als sich selbst« (Hund 1990). Prägend für das Mittelalter wird später eine christliche Arbeitsauffassung werden, die im Wesentlichen in einer Aufwertung der handwerklichen und körperlichen Arbeit besteht. Der Dualismus von freiheitlicher und notwendiger Tätigkeit wird dabei jedoch aufrechterhalten: »Seiner Natur nach ... treibt und lenkt das beschauliche Leben auch das tätige Leben; denn die höhere Vernunft, die der Beschauung zugeordnet ist, wird mit der niederen, die der Tätigkeit zugeordnet ist, verglichen wie der Mann zur Frau, die durch den Mann zu lenken ist.« (Thomas v. Aquin, 1225 – 1274) Die höhere Vernunft, die dem Reich der Freiheit zuzuordnen ist, bleibt dabei weitestgehend dem Klerus und dem Adel vorbehalten. In seinem Feldzug gegen das satte Leben von Klerus und Adel gelingt es dann erst Martin Luther (1483 – 1546) ein neues Arbeitsverständnis zu kreieren, welches die Arbeit aus dem Reich der Notwendigkeit aufwertet und sie mit Würde versieht. Dieses, weit in unser heutiges Bewusstsein hineinreichende Arbeitsverständnis bedeutet dann auch, über das Notwendige hinaus zu arbeiten und nicht durch Arbeit nur die Reproduktion sicherzustellen. Zur Christenpflicht wird die Arbeit durch das Bürgertum der Neuzeit erhoben. Woraus die frühe Arbeiterbewegung dann auch schnell ein Recht auf Arbeit ableitet. Dieses Verständnis des Arbeitsbegriffs erlebt seine Höhepunkte während des ungeheuren Wirtschaftsaufschwungs in den Nachkriegsjahren mit seiner Vollbeschäftigung bis in die 70er-Jahre. Wir finden das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Ar- beitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und hören auch 1997 noch von beiden großen Kirchen, dass das Menschenrecht auf Arbeit aus christlicher Sicht unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde ist. Wir hören aber auch, z. B. 1982 im Club of Rome, dass die Arbeit ihren Charakter als zentrale Lebensäußerung und als Grundbedürfnis des Menschen verlieren wird (Strasser 1999). Auf diesem historischen Hintergrund und geprägt von der Ausformung dieses Arbeitsverständnisses durch Taylorismus und Fordismus beschränken wir unseren heutigen Arbeitsbegriff – inzwischen wohl auf der ganzen Welt und unter mal mehr, mal weniger sozial abgefederten kapitalistischen Wirtschaftsbedingungen – auf Erwerbsarbeit bei hoher Effektivität und Funktionalität unter im Wesentlichen entfremdeten Arbeitsbedingungen. Rastloses Produzieren, fortschreitendes zivilisatorisches und kulturelles Schaffen, Wachstum, Fortschritt und Eigentumakkumulation, das sind die Werte, die dieses Arbeitsverständnis begleiten (Rosenau 2005). Dieser Arbeitsbegriff gerät jedoch angesichts der sozioökonomischen Entwicklungen unserer modernen (Erwerbsarbeits-) Gesellschaften an seine Grenzen. Denn er bildet nur noch ab, was lediglich für einen Teil dieser Gesellschaften gilt. »Es geht nicht an«, so Oskar Negt 2003 auf einer Tagung zur Zukunft der Arbeit, »dass sich manche totlangweilen während andere sich totarbeiten.« Doch ob wir Arbeit haben oder nicht, ob wir uns als arbeitslos begreifen oder nicht, das entscheidet sich eben nicht nur an dem Vorhandensein oder der Abwesenheit von möglicher Erwerbsarbeit, sondern auch an der Begrifflichkeit, mit der wir Arbeit belegen und an dem, was wir als Arbeit beschreiben und definieren. Es sei hier noch einmal erwähnt: Der Gesellschaft geht eben nicht die Arbeit aus, es ist ausreichend Arbeit vorhanden, um die gesamte erwerbsfähige Bevölkerung an Arbeit teilhaben zu lassen. Ungeklärt bleibt hingegen das Verteilungsproblem von Arbeit und – bedeutsam in unserem Zusammenhang – das Problem der Bewertung, Definition und Entlohnung von Arbeit: Ist es Arbeit, wenn ich meiner Tochter ein Bett baue, meinen alten Vater pflege oder mich ehrenamtlich in einem Entwicklungsprojekt engagiere? Ist das Aufziehen von Kindern (bezahlfähige) Arbeit, ist die Eigenarbeit Arbeit und ist es Arbeit, wenn ich im Internet nach stundenlangem Suchen ein – natürlich besonders preiswertes – Ticket gebucht habe, die ehemalige Reisebürokauffrau aus dem Büro um die Ecke dafür aber in ihrem Schrebergarten Kartoffeln anpflanzt? Dörner und Feischen beklagten schon während der Gütersloher Fortbildungswoche 1994, dass die im Zuge der Industrialisierung zerstörte anthropologische Einheit von produzierendem und sozialem Handeln keine tragfähige neue Solidaritätsform zwischen Starken und Schwachen in einer nachindustriellen Gesellschaft mehr zulasse. Sie entwarfen eine zweite Wiedervereinigung ganz eigener Art: Die Wiedervereinigung zwischen produzierendem und sozialem Tun im Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Groth: Stimmt unser Arbeitsbegriff noch? Rahmen eines Arbeitsmarktes für alle. »Es muss keine Utopie mehr sein«, schreiben sie, »dass die Betriebe der Zukunft sich (...) die Behinderten, die Langzeitarbeitslosen und die bisher als unproduktiv Ausgegrenzten ihrer Region und das für [sie] aufgebrachte Geld aufteilen, die Solidarität durch Vereinheitlichung von produktivem und sozialem Tun wieder tragfähig machen, womit dann nur noch ein Arbeitsmarkt für alle existieren wird.« (Dörner/Feischen 1995) Die Nordelbische Frauensynode spricht sich in einem Positionspapier zur Neubewertung von Arbeit (Febr. 2007) dafür aus, dass die bisher unbezahlte familiär geleistete Erziehungsund Pflege-Tätigkeit (Care-Tätigkeit) zukünftig zu bezahlen sei. Und sie hat dafür Leitlinien entwickelt, in denen deutlich wird, wie hier in der Verbindung mit der Gleichstellungspolitik der Zukunft der Arbeit zu Leibe gerückt werden soll. Care-Tätigkeit ist Arbeit, sie soll der Erwerbsarbeit durch Bezahlung angeglichen werden. Folglich leiten sich aus ihr auch Ansprüche auf Sozialversicherung ab, die Abhängigkeit der Erziehenden und Pflegenden von dem konventionell erwerbstätigen Partner wird vermindert. Mit dem Care-Geld wird es sowohl Frauen als auch Männern ermöglicht, Beruf und Familie zeitlich nacheinander oder auch nebeneinander zu vereinbaren. Die Finanzierung, so die Autorinnen, wird ermöglicht durch die Umschichtung und Konzentration von bisher direkten (Elterngeld, Kindergeld) und indirekten (Steuersparnisse) Familienleistungen. Es wird also konkret in der Debatte um die Erweiterung des Arbeitsbegriffs. Ich will hier abschließend auf einige Vorschläge zurückgreifen, wie sie Hartmut Rosenau, Professor am Institut für systematische Theologie der Universität Kiel, in einem Vortrag über den Wert der Arbeit und die Würde des Menschen formuliert hat. Er schlägt vor, im Sinne eines biblisch-reformatorischen Menschenbildes ein Recht auf Arbeit grundgesetzlich als eine Staatszielbestimmung zu formulieren. Nicht als einklagbare Garantie von Arbeitsplätzen, aber um dem Bestehen und der Wahrnehmung einer besonderen Verantwortung des Staates für eine menschengerechte Arbeitspolitik angemessen Ausdruck zu verleihen. Es wäre spannend zu beobachten, welche Auswirkungen eine solche Gesetzesgrundlage auf die HartzIV-Gesetzgebung haben würde. Ein reformatorisches Menschenbild impliziert dann auch das Aufgeben der Orientierung an einem mittlerweile ohnehin ad absurdum geführten, fortschrittsoptimistischen Ideal grenzenlosen und permanenten Wirtschaftswachstums. Und damit dann wohl auch – in den Kontexten der beruflichen Integration Erkrankter und Behinderter – ein Aufgeben der fatalen alleinigen Orientierung an den Arbeitsplätzen des sog. allgemeinen Arbeitsmarktes. Wenn dieser allgemeine Arbeitsmarkt denn nicht ein Arbeitsmarkt für alle ist. Die Schaffung, Erhaltung und Verteilung von Arbeit, so Rosenau, hätte sich dann vornehmlich am Erhalt der Schöpfung und am Dienst für den Nächsten zu orientieren. Daneben klagt Rosenau die humane Gestaltung der konkreten Arbeitsverhältnisse sowie die Stärkung der Rechte arbeitender Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Menschen auf verantwortliche Mitbestimmung gegenüber den Kapitaleignern ein. Wir benötigen einen Einstellungswechsel in der Einschätzung von Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit: weg vom Leistungsfanatismus und Erfolgsfetischismus, hin zur Wiederentdeckung der Muße und des Spiels im Sinne eines Ausdrucks von Lebensqualität. Wir benötigen einen grundsätzlichen Einstellungswandel in der Wahrnehmung von arbeitenden und nichtarbeitenden Menschen. Da wären wir dann bei einer ganz konkreten Veränderung des Arbeitsbegriffs. Auch im Sinne Hannah Arendts, die ja schon 1967 beklagte, dass die Arbeit die einzige Tätigkeit sei, auf die sich die moderne Arbeitsgesellschaft noch verstehe. Was eigentlich kein Problem wäre, wenn die Menschheit mit dem Beginn der Neuzeit nicht damit begonnen hätte, alle Tätigkeiten, die anthropologisch auch den Grundbedingungen menschlicher Existenz entsprechen, aus dem öffentlichen Leben zu entfernen und dem Arbeitsbegriff einer Arbeitsund Konsumgesellschaft unterzuordnen: die anschauende Kontemplation, die Muße, das Denken, das über die Produktion von Konsumgütern hinausgehende Herstellen von zum überdauernden Gebrauch bestimmter Produkte und das öffentliche Handeln (Arendt 1967). Aus therapeutischen und pädagogischen Gründen war es schon immer sinnvoll und nützlich, sich gegenüber den Integrationszielen und Rehabilitationswünschen der Patienten, Klienten und Rehabilitanden wertschätzend neutral zu verhalten. Auf dem Hintergrund eines hier entworfenen erweiterten Arbeitsbegriffs, der auch viele andere Elemente gesellschaftlich nützlicher Tätigkeiten außerhalb der klassischen Erwerbsarbeit einbezieht, ist es nun allemal angebracht, sowohl wertschätzende Neutralität als auch dirigistisch und helferisch Zurückhaltung gegenüber einer ganzen Palette möglicher – auch eigenwilliger – Integrationsziele walten zu lassen. Und endlich auch den Mut aufzubringen, diese unterschiedlichen Lebensentwürfe und Rehabilitationsziele konzeptionell in bestehende Reha-Systeme einzubinden sowie administrativ zu unterstützen, zu fördern und damit ihre Umsetzung und Verwirklichung überhaupt erst zu ermöglichen. Die Möglichkeit der existenziell gut abgesicherten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ohne den Zwang zur Teilhabe an klassischer Erwerbsarbeit wird dafür, vielleicht ja auch im Sinne eines bedingungslosen Grundeinkommens, Voraussetzung sein. Literatur ARENDT, H. (1967): Vita Aktiva. München. Piper Verlag DÖRNER, K., K. FEISCHEN (1995): Ein Arbeitsmarkt für alle. In: DÖRNER, K. (Hrsg.)(1995): Jeder Mensch will notwendig sein. Gütersloh. Verlag Jakob van Hoddis GROTH , K. (2006): Kontexte beruflicher Integration. In: Kerbe 3/2006 HUND, W. D. (1990): Stichwort Arbeit. Heilbronn. Distel Verlag NEGT, O. (2003): Arbeit und menschliche Würde. Vortrag. Forum Rehabilitation 2003. Hamburg 49 »Gerecht ist anders ...« 50 POSSEMEYER, I. (2002): Stress – Wie meistern wir die schöne neue Arbeitswelt? GEO 3/2002 Rosenau, H. (2005): Ora et labora – Über den Wert der Arbeit und die Würde des Menschen. Vortrag. Flensburg am 25.04.2005 SCHUMANN, M. (2003): Widersprüchliches zu den Entwicklungsten- Warum wir nicht arbeiten »müssen« Sibylle Prins denzen der Arbeit. Vortrag. Heidelberg am 21.03.2003 STRASSER, J. (1999): Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Zürich. Pendo Verlag Anschrift des Verfassers Karsten Groth Diese furchtbare Tatkraft rührt nur davon her, dass man nichts zu tun hat. Innerlich meine ich. Robert Musil Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Zentrum für Psychosoziale Medizin Martinistr. 52 20246 Hamburg Ein Vortragstitel, dessen Urheber ich nicht mehr ermitteln kann, lautete: »Das Leben ist eine fortwährende Ablenkung«. Wovon aber lenken wir uns ab mit unserer pausenlosen Betriebsamkeit? Was hätten wir zu tun, wenn wir wirklich »innerlich« etwas zu tun hätten? Vielleicht würden wir als Erstes darauf schauen, ob denn die Arbeiten, die wir ausführen, alle so notwendig und sinnvoll sind, wie wir behaupten – ob sich der ganze Einsatz an menschlicher Energie dafür im echten Sinne lohnt. Wie viele von den Produkten, die täglich hergestellt werden, sind ökologisch, friedenspolitisch, sozial, global gesehen eher schädlich als nützlich? Welche wichtigen Arbeiten bleiben unerledigt, weil sie nicht über die gängige Erwerbsarbeit finanziert werden (wollen oder können)? Sind Papierbackförmchen ein nützliches, notwendiges Produkt? Oder die Montage von Möbelfüßen für Billigmöbel, deren größter Teil nach der entsprechenden Rabattaktion in der Schrottpresse landet? Dieses aber sind Arbeiten, die in Werkstätten für Behinderte ausgeführt werden. In einem Novembermonat durften die Beschäftigten einer Zuverdienstfirma für psychisch Kranke eines diakonischen Trägers Hundekuchen in Hunde-Adventskalender einfüllen. Zum einen stanken die verwendeten Materialien bestialisch, die Beschäftigten klagten über Atemwegsreizungen, Kopfschmerzen, den unerträglichen Geruch. Und: Hunde-Adventskalender – also eigentlich eine Pervertierung des Adventsgedankens – bei einem diakonischen Träger? Ist das nötig? Vor allem aber: fühlen sich die Menschen durch eine solche Arbeit wirklich gebraucht, nützlich, »notwendig«? Oder ist diese Überhöhung der Arbeit mit psychologischen oder philosophischen Argumenten in Wirklichkeit Schönrednerei, um die allgemeine Ratlosigkeit zu übertünchen? In der Psychiatrie wird dann immer mit der Notwendigkeit der »Tagesstruktur« argumentiert. Deren Wert will ich auch gar nicht abstreiten. Nur: diese Tagesstruktur ist ein künstlicher Begriff, ein Ersatz, ein Notbehelf – bei manchen sog. tagesstrukturierenden Maßnahmen scheint es wirklich nur um die Struktur an sich, ein inhaltsleeres, nacktes Gerüst zu gehen, bei dem es eigentlich gleichgültig ist, wie und womit es gefüllt wird. Frage an den/die Leser/in: Wie sieht denn Ihre »Tagesstrukur« aus? Ergibt sie sich nicht quasi zwangsläufig aus von Ihnen als sinnvoll und notwendig erlebten Lebensbezügen? Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Prins: Warum wir nicht arbeiten »müssen« Wir betonen einseitig den Wert der »Vita activa«. Wo bleibt aber der andere, notwendige Gegenpol, die vita contemplativa? Die alte Benediktiner-Regel lautet ja bekanntermaßen »ora et labora«. Wir haben dieses »Bete und Arbeite« der Einfachheit halber auf »Arbeite!« (mit Ausrufungszeichen) verkürzt. Was uns entgeht, wenn wir den anderen Pol, die Passivität, das kontemplative Element, die Muße, die innere Betrachtung nicht mehr leben, nicht mehr kultivieren, wird uns gar nicht bewusst. Spätestens wenn uns eine schwere Krankheit ereilt, wir bettlägerig, pflegebedürftig werden oder uns aus anderen Gründen nicht mehr verlässlich auf den aktiven Pol stützen können, rächt sich das. Ich höre da einen Aufschrei: gerade psychisch erkrankte Menschen könne man ja nicht sich selbst, ihren negativen Gedanken, ihrer Grübelsucht (oder anderen Süchten), dem Nichtstun und dem Alleinsein überlassen. Dazu ein kleiner Ausflug: auch ich neige zu ausschweifenden Grübeleien. Dazu kommt noch, dass ich eigentlich aus der Pause heraus lebe, mein Tätigsein nur eine Unterbrechung einer (endlich erlangten) fortwährenden Pause ist. Dieses Thema, das intensive gedankliche Kreisen um irgendwelche Angelegenheiten, mochte ich jedoch nicht den Psychiater/ innen vortragen, aus Angst, das könne nun auch noch pathologisiert werden. Wohl bereitete es mir natürlich die üblichen Schwierigkeiten in meinem Alltag, insbesondere im Arbeitsleben. Aus dem Arbeitsleben wurde ich mittlerweile befreit, und es ergab sich eine paradoxe Situation: dadurch, dass ich nun das Glück hatte, »hauptberuflich« als Autorin tätig sein zu können, gehört das Herumsitzen und Träumen, Nachdenken, seinen Gedanken nachhängen, ja, auch das nicht so salonfähige und auf den ersten Blick »unergiebige« Grübeln plötzlich anerkanntermaßen zu meinem »Berufsbild«. Niemand macht mir mehr einen Vorwurf daraus, dass ich damit so viel Zeit verplempere, niemand versucht mehr, mich zu mehr Tätigsein anzutreiben – höchstens ich selbst –, sondern alle Welt versucht mich davor zu schützen, »nicht so viel zu arbeiten« – was für eine ironische und merkwürdige Verkehrung! Und was für ein unwahrscheinliches Glück, einen zu meinen Neigungen passenden Lebensrahmen gefunden zu haben! Den meisten Psychiatrie-Erfahrenen bleibt das leider versagt. Müssen wir wirklich alle arbeiten? Die Betonung liegt auf »alle«. Schon immer haben Gesellschaften es sich geleistet. Mitglieder zu unterhalten, die nicht in direktem Sinne an der volkswirtschaftlichen Produktivität teilhatten, nicht zur Überlebenssicherung im materiellen Sinne beitrugen. Dazu konnten alte und kranke Menschen gehören, aber auch Künstler, Gelehrte, Priester, Schamanen. Meine Mutter gehörte noch zu der Generation von Frauen, die sich ihre Berufstätigkeit gegen den Widerstand des Ehemannes erkämpfen musste. Der Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 massive Ausschluss der Frauen vom Erwerbsleben ist oder war natürlich eine Ungerechtigkeit, ein patriarchalisches Unterdückungsmoment und gleichzeitig eine massive Missachtung des sog. »reproduktiven Bereichs« als »keine richtige Arbeit«. Trotzdem zeigt sie auch an, dass die Gesellschaft es sich leisten konnte, einen Großteil der erwerbsfähigen erwachsenen Bevölkerung nicht an der Erwerbsarbeit teilhaben zu lassen und sozusagen »auszuhalten«. Was aber die Missachtung des reproduktiven Bereichs angeht: dieser setzt sich m. E. heute noch genauso fort, trotz Elterngeld und evtl. Betreuungsgeld. Kinder machen ja auch dann noch Arbeit, wenn sie älter als drei Jahre sind. Um auf die Psychiatrie-Erfahrenen zurückzukommen: es muss doch einmal offen gesagt werden dürfen, dass manche von ihnen mit eben diesem Bereich (der in den letzten Jahrzehnten auch komplizierter und anspruchsvoller geworden ist) – Haushalt, Arztbesuche, Behördengänge usw. – einfach schon vollständig ausgelastet sind, ja, man manchmal froh sein darf, wenn sie diese Aufgaben überhaupt einigermaßen bewältigen können. Daneben gibt es in diesem Bereich solche wirklich an die Nieren gehenden Schicksale zu erleben, dass man den betreffenden Menschen eigentlich nur wünschen kann, noch ein paar schöne Momente in ihrem Leben erleben zu dürfen, ohne ihnen nun noch besondere Verpflichtungen irgendwelcher Art auferlegen zu wollen. Bei den Diskussionen, ob (Erwerbs-)Arbeit bzw. die Pflicht zur Arbeit eine psychische Notwendigkeit ist, wird mit zwei gegensätzlichen Menschenbildern argumentiert: das optimistische geht davon aus, dass Menschen »von Natur aus« neugierig, kreativ, auf andere ausgerichtet seien und es einen fast naturhaften Drang gäbe, sich entsprechende Beschäftigung freiwillig zu suchen. Das andere, pessimistische Bild geht davon aus, dass Menschen ohne die Verpflichtung zur Arbeit in Lethargie, Apathie, Suchtverhalten, Asozialität, usw. verfallen würden. Letzteres Bild scheint sich im psychiatrischen Bereich zu bestätigen ...? Mir kommt da ein alter Arbeitslosenwitz mit doppelter Pointe in den Sinn: »Mein Sohn, der arbeitslose, hat jetzt endlich was gefunden – er fängt mit dem Meditieren an.« »Oh, das ist ja immerhin besser als den ganzen Tag herumsitzen und nichts tun.« Die erste Pointe liegt an der Oberfläche und besteht darin, dass Meditieren, wenn man es rein vom Äußerlichen her beschreibt, eben dies ist: herumsitzen und nichts tun. Die tieferliegende »Pointe« liegt aber darin, dass Meditation als eine Art »qualifiziertes Nichtstun« angesehen wird. Wo aber kann man dieses qualifizierte Nichtstun heutzutage lernen – außer eben in jenen Meditationskursen, die nicht jedermanns Sache sind und auch nicht für jeden zugänglich. Wo wird es gelehrt: in der Schule? In Familien? Anderswo? Autodidaktisch? Und da auch ein Meditierender nicht pausenlos meditieren kann, lehren Meditationslehrer außer der Versenkung auch immer die Tätigkeit – die Benediktiner sind nicht die Einzigen mit jenem Doppelgebot – wo kann man lernen, außerhalb der regulären Erwerbsarbeit sich sinnvolle, erfüllende, möglicherweise sogar sozial nützliche Betätigungen selbst zu suchen und aufrechtzuerhalten? Sicher, 51 52 »Gerecht ist anders« es gibt da einige Naturtalente – aber darauf kann man nicht setzen. Wie können Menschen die für sich passende Nische suchen, finden, gestalten, wie können sie die notwendigen Rahmenbedingungen herstellen oder wo werden sie bereitgestellt? Hinzu kommt noch ein gesellschaftlicher Aspekt: es ist schon vielfach festgestellt worden, dass es früher ein Merkmal der Elite, z. B. des Adels, gewesen sei, von der Arbeitspflicht befreit zu sein und möglichst viel freie Zeit zur Verfügung zu haben, während das einfache Volk (oder die Sklaven) bis zum buchstäblichen Umfallen schuften musste. Und dass es heute ein Kennzeichen von Elite sei, einen 16-Stunden-Tag zu haben, während diejenigen, die keine Arbeit hätten und unter einem Zuviel an freier Zeit litten, die Ausgegrenzten und Unterprivilegierten seien. Was bei aller Verwunderung über diese Verkehrung oft vergessen wird: es ist ein Unterschied, ob diese Entpflichtung und Muße stattfindet vor einem Hintergrund von persönlichem materiellem Wohlstand, Gesundheit, guter Bildung und dem Vorhandensein eines guten sozialen Netzes, oder ob man arm, krank, wenig gebildet und isoliert ist – dann nämlich wird die »freie« Zeit wirklich zur »leeren« Zeit, und alle befürchteten Folgen treten ein. Ein weiterer Punkt: Peter Sloterdijk hat mal beschrieben, dass es durch die Aufklärung dazu gekommen sei, dass das Christentum plötzlich einer Betrachtung »von außen«, durch Andersdenkende ausgesetzt gewesen sei. Und dass diese Außenbeobachtung ungeheuer wichtig gewesen sei, letztendlich ja der Religion auch gut bekäme. Psychiater und psychiatrische Mitarbeiter/innen sind so sehr gewohnt, »objektive« Beobachtungs- und Beurteilungskriterien für psychisch erkrankte Menschen aufzustellen, dass sie sich manchmal ungeheuer schwer tun, die Innensicht, die subjektive Sicht der Betroffenen überhaupt zur Kenntnis und ernst zu nehmen. Da scheint man das also für wichtig zu halten. Ich meine: auch unsere Arbeitswütig- und Gläubigkeit bedarf dringend einer Außenbeobachtung! Wie viel Schaden richten wir nicht auch durch unsere Arbeiterei an, manches bliebe besser ungetan – als praktisches Beispiel sei hier die bürokratische Aufblähung mancher Hilfeverfahren genannt, die selbst gute und unterstützenswerte Ideen und Anfänge in einem Wust von Vorschriften und Verfahrensregeln untergehen lässt. Die Kritik, die kritische Betrachtung der Arbeitsgesellschaft, wenn sie denn von Randständigen – u. a. auch psychisch erkrankten Menschen – geleistet wird, wird sie oft als »irrelevantes Gefasel« abgetan. Oder es wird ihnen geantwortet: »Das geht halt nicht anders.« Geht es nicht anders? Ein letzter Punkt: Ein Problem, das in der Psychiatrie manchmal sichtbar wird, deutlicher aber dort hervortritt, wo es um sehr schwer körperliche oder geistig behinderte Menschen geht. Menschen, die nicht (mehr) oder von Geburt an nicht in der Lage sind, in irgendeiner, auch nicht in einer krampfhaft sozialpädagogisch herbeigezwungenen Art, an unserem volkswirtschaftlichen Produktivitätsrausch teilzunehmen. Da meint man also, in Legitimationsnot zu geraten. Denn wie sollen diese Menschen sich und ihr Leben als wertvoll, nützlich, usw. empfinden bzw. von anderen so wahrgenommen werden? Was ist ihre Rolle, ihr Beitrag in unserem Zusammenleben? Das Stichwort heißt hier: Zusammenleben. Persönliche Nähe zu diesen Menschen macht diese Frage nämlich unmöglich. Aber einigen scheinen die persönlichen, emotionalen, zwischenmenschlichen Bindungen als Argument nicht zu genügen. Denen möchte ich antworten: Es könnte auch sein, dass der »Beitrag« jener Menschen genau darin liegt: uns andere zur Übernahme von Verantwortung, zur Sorge, auch zur Fürsorge zu bewegen. Unsere Geduld, unsere Tragfähigkeit, unseren Einfallsreichtum anzuspornen. Uns ein Bild für die Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit und Irrtumsanfälligkeit aller Menschen zu geben. Und für die Schönheit menschlichen Lebens inmitten aller Unvollkommenheit. Fredi Saal, ein schwer körperbehinderter Autor, hat sich auch mit diesem Problem auseinandergesetzt – aus eigener Betroffenheit, denn nach einigen Versuchen musste er die Eingliederung in irgendeine Form von Arbeitsleben aufgeben. Neben einigen anderen Überlegungen und Vorschlägen stach für mich eine Idee besonders heraus: das Spielen zu kultivieren. Natürlich kein suchterzeugendes Glücksspiel, kein monotones Skatspielen, auch nicht diese unsägliche Brettspielbegeisterung oder gar die virtuellen Welten der Computerspiele. Sondern – so wie ich ihn verstanden habe – das Spiel als die (gemeinsame und freie, durchaus auch lustbetonte) Entfaltung der vorhandenen, der besten Kräfte jedes Menschen. Somit wäre weder der Arbeitende noch der Meditierende die höchste Entwicklungsstufe des Menschen, sondern der Spielende. Dies aber wäre vielleicht doch etwas für alle. Nicht immer, aber immer öfter. Literatur Robert MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg, 1978/1988 Fredi SAAL, Warum sollte ich jemand anderes sein wollen? Erfahrungen eines Behinderten. Neumünster, 2002 Peter SLOTERDIJK (Hg.) Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker – gesammelt von Martin Buber, München 1993 Anschrift der Verfasserin Sibylle Prins Verein Psychiatrie-Erfahrener Bielefeld e.V. Postfach 10 29 62 33529 Bielefeld vpe-bielefeld@t-online.de www.vpe-bielefeld.de Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Glosse 53 Aus: Lasst euch nicht gehen1 Guillaume Paoli Taktik des Nicht-Tuns (Variation 1) Anmerkung Irrtümlich wird heute kämpferischer Geist mit Stumpfheit, Hektik und 1 Auszug aus einem Beitrag zu »Kapitalismus und Depression« hysterischem Geschrei verbunden. Dagegen sprechen die jahrhunder- Volksbühne, Berlin, 29.03.01 (Fassung nach: www.dieglueckli- tealten Weisheiten der Kampfkunst. Nur wer äußerst sanft ist, kann chenarbeitslosen.de/schriften die nötige Härte erzeugen. Nur wer sich im Gegner vollständig aufzulösen vermag, kennt dessen Schwäche und kann ihn entsprechend zerschlagen. Gelassenheit macht unerschütterlich. Zum Beispiel beruht die Taktik der chinesischen Kampfart Neijia, der »inneren Richtung«, ausschließlich auf zwei Prinzipien: dem Nicht-Tun und der Ausnutzung der Fehler des Gegners. »Das Nicht-Tun«, so Lie-Zi, »hat keine Kenntnisse, es hat keine Fähigkeiten, doch es gibt nichts, was es nicht wüsste, und es gibt nichts, was es nicht könnte.« Eines Tages kamen einige glückliche Arbeitslose auf eine Wiese inmitten der Großstadt. Sie legten sich auf Liegestühle nieder und beobachteten den umhertobenden Beschäftigungswahn ihrer Zeitgenossen. Es war eine ausgezeichnete Beobachtungsstelle. Bald kamen Schaulustige und Neugierige auf sie zu, und fanden das, was sie nicht taten, gut war. Sie legten sich mit nieder und genossen die Sonne und den mitgebrachten Sekt. Es kamen aber auch andere, die ebenfalls behaupteten, die glücklichen Arbeitslosen wären toll, doch um sogleich deren Ruhe mit obszönen Angeboten zu stören. »Wollt ihr nicht an einem Marsch für die Vollbeschäftigung teilnehmen?«, fragten die einen. »Wir möchten Sie gern für unsere Fernsehshow gewinnen«, meinten die anderen. Enttäuscht nahmen sie die Antwort entgegen: »Wir bleiben liegen.« Ein Aktivist, der gekommen war, um seine Sympathie zu verkünden, wollte partout wissen, was für eine Zukunftsvision, welchen Gesellschaftsentwurf die glücklichen Arbeitslosen hatten. Zukunft? Begegnung mit n– süchtigen Kliente are eine unvermeidb zum Herausforderung deln gemeinsamen Han Vision? Entwurf? Er stieß auf völlige Verständnislosigkeit. »Ihr seid mir zu unpolitisch«, ärgerte er sich. »Ihr habt keinen Mut, die Umstände zu bekämpfen.« »Aber wir kämpfen doch die ganze Zeit«, erwiderte ein Liegender, der die Augen gerade aufgemacht hatte. »Wir warten den Gegner ab.« »So, so, ihr wartet«, spottete der Aktivist, »und was passiert dann, wenn der Gegner kommt?« »Dann wird er angreifen und wir werden ihn vorbeilassen, wie werden ausweichen und ausweichen, bis er sein Gleichgewicht verliert und in Fachtagung am 12. September 2007 in Köln Verwaltungsgebäude des Landschaftsverbands Rheinland Hermann-Pünder-Str. 1 50663 Köln die Position gerät, in der wir ihn mit minimalem Aufwand, geschickt und graziös neutralisieren können.« »So’n Eso-Quatsch«, empörte sich der Aktivist und er lief fort. Währenddessen machte die Nachricht, dass sich Untertanen öffentlich zum Nicht-Tun bekannt hatten, immer mehr Wellen. Bald erreichte sie den Palast der Sozialdemokraten. Voller Sorgen schickten sie einen Mandarin an Ort und Stelle, um die Sache zu untersuchen. Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Programm und Anmeldung: DGSP-Geschäftsstelle Zeltinger Str. 9, 50969 Köln Tel.: 0221/51 10 02 Fax: 0221/52 99 03 E-Mail: dgsp@netcologne.de 54 »Alte Texte – neu gelesen« Auszüge aus Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben* Vorbemerkung: Die Rubrik »Alte Texte neu gelesen« ist geeignet, uns Bescheidenheit zu lehren. Fast alle uns hochmodern erscheinenden Gedanken sind bereits lange vor uns gedacht worden, oft fundierter als wir sie in unserer auf pragmatische, schnelle Antworten fixierten Zeit zu denken im Stande sind. Hannah Arendt setzte sich bereits 1958 in ihren Ausführungen zu den menschlichen Grundtätigkeiten »Arbeiten, Handeln und Herstellen« mit dem möglichen Ende der Arbeitsgesellschaft auseinander. Unter anderem stellt sie das hohe Ethos der Arbeitsgesellschaft, dem wir uns auch gegenwärtig noch kaum entziehen können, in seinen historischen Entwicklungszusammenhang. Wir haben Textstellen ausgewählt, in denen Arendt auf die Widersprüche hinweist, die für eine Gesellschaft entstehen, die den Menschheitstraum von der Befreiung durch die Knechtschaft der Arbeit verwirklichen und gleichzeitig die Verherrlichung der Arbeit aufrechterhalten will. Renate Schernus »Die Neuzeit hat im 17. Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln. Die Erfüllung des uralten Traums trifft wie in der Erfüllung von Märchenwünschen auf eine Konstellation, in der der erträumte Segen sich als Fluch auswirkt. Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Arbeitsgesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um deretwillen die Befreiung sich lohnen würde. (...) Was uns bevorsteht ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein.« (S. 12/13) »Richtet man das Augenmerk einzig auf die Ereignisse, die an der Schwelle der Neuzeit stehen, ... so ist die Umstülpung von Theorie und Praxis, bzw. die Ausmerzung der Kontemplation aus der Reihe der sinnvollen menschlichen Vermögen, nahezu eine Selbstverständlichkeit. Ebenso selbstverständlich scheint, dass diese Umstülpung Homo faber, das Herstellen und Fabrizieren, und nicht den handelnden Menschen oder das Animal laborans auf die höchste Stufe menschlicher Möglichkeiten hob. Und diese Selbstverständlichkeiten scheinen sich auf den ersten Blick voll zu bestätigen. Unter den hervorragenden Merkmalen der Neuzeit von ihren Anfangsstadien bis in die Welt noch, in der wir leben, lassen sich überall die typischen Verhaltungsweisen von Homo faber nachweisen: die Tendenz, alles Vorfindliche und Gegebene als Mittel zu be- handeln; das große Vertrauen in Werkzeuge und die Hochschätzung der Produktivität im Sinne des Hervorbringens künstlicher Gegenstände; die Verabsolutierung der ZweckMittel-Kategorie und die Überzeugung, dass das Prinzip des Nutzens alle Probleme lösen und alle menschlichen Motive erklären kann; die souveräne Meisterschaft, für die alles Gegebene sofort Material wird und die gesamte Natur sich ausnimmt wie ›ein ungeheuer großes Stück Stoff, aus dem wir herausschneiden können, was wir wollen, um es wieder zusammenzuschneidern, wie wir wollen‹; die Gleichsetzung von Klugheit mit Scharfsinn oder Findigkeit und die Verachtung für alles Denken, das nicht einfach abzielt auf ›die Fabrizierung von künstlichen Gegenständen, vor allem von Werkzeugen, mit denen man Werkzeuge produzieren kann, um die Fabrikation weiterhin bis ins Unendliche zu variieren‹; schließlich die Selbstverständlichkeit, mit der Handeln und Herstellen identifiziert werden, bzw. mit der alles Handeln im Sinne eines Herstellens verstanden wird. Es würde zu weit führen, diesen Dingen im Einzelnen nachzugehen, und es ist auch nicht nötig; man kann sie leicht an den Grundüberzeugungen der Naturwissenschaften ablesen, die selbst heute noch meinen, sie schafften nur Ordnung in der ›bloßen Ungeordnetheit‹, dem ›wilden Durcheinander Natur‹, weil sie in ihrer Begriffssprache die älteren Vorstellungen von Harmonie und Einfachheit durch die Modelle und Muster ersetzt haben, die Homo faber für sein Herstellen benötigt. Man kann sie natürlich ebenso gut an den Grundsätzen der klassischen politischen Ökonomie ablesen, deren höchstes Ideal Produktivität und deren Vorurteil gegen nicht unmittelbar produktive Tätigkeiten selbst Marx noch dazu gebracht hat, den doch so selbstverständlichen Anspruch auf Gerechtigkeit für die Arbeiterklasse im Namen ihrer ›Produktivität‹ zu erheben, bzw. die Arbeit im Sinne einer herstellenden Tätigkeit umzudeuten. Am ausgeprägtesten findet man sie in den pragmatischen Strömungen der neuzeitlichen Philosophie, die zu der kartesischen, allgemeinen Weltentfremdung das Nützlichkeitsprinzip fügte, das die englische Philosophie seit dem siebzehnten und die französische seit dem achtzehnten Jahrhundert so entscheidend beherrscht, dass man sich hier oft gar nicht mehr vorstellen kann, dass Menschen in ihrem Verhalten durch anderes motiviert sein können als durch Interessen. Ganz allgemein gesprochen, kann man wohl sagen, dass die älteste Überzeugung von Homo faber, nämlich dass der Mensch das Maß aller Dinge ist, innerhalb der Neuzeit den Rang eines von aller Welt akzeptierten Gemeinplatzes erreichte. Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben Was einer Erklärung bedarf, ist nicht die moderne Wertschätzung von Homo faber, sondern die Tatsache, dass diese Wertschätzung nicht noch allgemeiner war und vor allem sich nicht länger durchgesetzt hat, dass auf sie vielmehr verhältnismäßig schnell die Verherrlichung der Arbeit gefolgt ist.« (S. 389/390) »Die uralte Verachtung des Sklaven, der lediglich der Notdurft des Lebens diente und sich dem Zwang eines Herrn unterwarf, weil er selbst um jeden Preis am Leben bleiben wollte, konnte sich in einer christlichen Welt unmöglich halten. Denn der Christ konnte nicht gut mit Plato meinen, der Sklave habe seine sklavische Seele bereits dadurch bewiesen, dass er sich nicht das Leben genommen habe, als das Schicksal der Sklaverei ihn traf; für ihn war die Erhaltung des eigenen Lebens unter allen Umständen und Bedingungen zu einer heiligen Pflicht geworden, und der Selbstmord galt als ein schwereres Verbrechen als der Mord. Nicht dem Mörder, aber dem Selbstmörder wird das christliche Begräbnis verweigert. Dies aber hat nicht das geringste mit der modernen Verherrlichung der Arbeit zu tun, von der sich im Neuen Testament und in der gesamten christlichen Tradition vor der Neuzeit keine Spur findet, wie sehr sich auch moderne Interpreten bemüht haben, sie in die Texte hineinzulesen. Paulus war nun wahrlich kein ›Apostel der Arbeit‹, wie man gemeint hat, und die wenigen Stellen, auf die sich diese Behauptung zu stützen versucht, wenden sich an Faulpelze, die ›anderer Leute Brot essen‹, oder ermahnen zur Arbeit, auf ›dass ihr stille seid und euch um eure eigenen Angelegenheiten kümmert‹ (...) Liest man die Quellen ohne moderne Vorurteile; so bleibt erstaunlich, wie selten die Kirchenväter auf den doch so naheliegenden Gedanken kamen, die Arbeit als Strafe für die Erbsünde zu erklären und sich in diesem Sinn auf das Pauluswort ›Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‹ zu berufen. Aber Thomas folgt nicht dem Alten oder dem Neuen Testament, sondern Aristoteles, wenn er erklärt, dass nur ›die Notwendigkeit zur körperlichen Arbeit zwinge‹. Auch für ihn ist die Arbeit eine Natureinrichtung, die Art und Weise, durch die die Natur das Menschengeschlecht am Leben erhält, und hieraus folgert er, dass es keineswegs eine Pflicht aller Menschen sei, im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot zu essen, sondern dass man nur arbeiten solle wenn man sich wirklich anders nicht mehr zu helfen weiß.« ... »Trotz seines Glaubens an die Heiligkeit des Lebens, das unter allen Umständen und mit allen Mitteln erhalten werden musste, konnte das Christentum schon darum keine eigentliche Arbeitsphilosophie entwickeln, weil es an dem unbedingten Primat der Vita contemplativa gegenüber allen Tätigkeiten der Vita activa immer festgehalten hat: ›Vita contemplativa simpliciter melior est quam vita activa‹ ›das Leben der Kontemplation ist ohne Einschränkungen besser als ein tätiges Leben‹ – und was immer die Verdienste des tätigen Lebens sein mögen, die der Kontemplation sind ›wirksamer und mächtiger‹. Dies nun war sicher nicht die Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Meinung Jesu, sondern offenbar die Folge des mächtigen Einflusses griechischer Philosophie auf das scholastische Denken.« ... »Die einzige Tätigkeit, zu der die Predigt Jesu die Hörer anhält, ist das Handeln, und das einzige menschliche Vermögen, das in ihrem Mittelpunkt steht, ist der Glaube, der Wunder wirkt.« (S. 403 – 405) »Erst als die Vita activa ihre Ausrichtung auf die Vita contemplativa verlor, konnte sie sich als tätiges Leben voll entfalten; und nur weil dies tätige Leben ausschließlich auf Leben als solches ausgerichtet war, konnte der biologische Lebensprozess selbst, der aktive Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, wie er sich in der Arbeit verwirklicht, so ungeheuer intensiviert werden, dass seine wuchernde Fruchtbarkeit schließlich die Welt selbst und die produktiven Vermögen, denen sie ihre Entstehung dankt, in ihrer Eigenständigkeit bedroht.« (S. 407) Anmerkung * 1. Auflage unter dem Titel »The Human Condition«, Chicago 1958, 11. Auflage, München 1999 55 56 Wie geht’s eigentlich den Sozialpsychiatrischen Diensten in ... Berlin? Wie geht es eigentlich den Sozialpsychiatrischen Diensten in Berlin? Ilse Eichenbrenner, Detlev E. Gagel, Dieter Lehmkuhl Historische Entwicklung Die Sozialpsychiatrischen Dienste (kurz: SpDs) in Berlin blicken auf eine lange Tradition zurück. Die ursprünglich sog. Fürsorgestellen für Nerven- und Gemütskranke ohne eigenständige Leitung wurden im Jahr 1967 personell deutlich aufgestockt und erhielten ihre jetzige Struktur, Aufgabenzuweisung und Personalausstattung. Sie sind als eigenständige Dienststellen unter fachärztlicher Leitung Teil der kommunalen Gesundheitsämter und multiprofessionell besetzt (leider ohne Pflegepersonal). Ursprünglich sahen die Personalbemessungsgrundlagen je einen Sozialarbeiter/20 000 Einwohner und je einen Arzt/80 000 Einwohner vor, später kamen zusätzlich je ein Arzt und ein Psychologe pro Dienststelle hinzu. Die SpDs haben im Vergleich zu denen anderer Bundesländer einen recht umfassenden Versorgungsauftrag und eine entsprechende Ausstattung. Sie sind zuständig für erwachsene psychisch Kranke einschließlich suchtkranker, psychisch alterskranker und geistig behinderter Menschen. Alkohol- und Drogenberatung wird ausschließlich in freier Trägerschaft durchgeführt. Die Abgrenzung in der Zuständigkeit zwischen SpD und Suchtberatungsstellen erfolgt im Allgemeinen nach Kriterien der Motivation, Chronizität und Depravation der Suchtkranken. Die drei größten Diagnosengruppen in den SpDs sind Psychosekranke, Suchtkranke und psychisch Alterskranke (in dieser Reihenfolge). Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass nach dem Berliner PsychKG für Zwangseinweisungen nur das Gesundheitsamt (d. h. der SpD) – und nicht das Ordnungsamt – zuständig ist, und das Vormundschaftsgericht nur auf dessen Antrag unterbringt, auch wenn sich der Patient schon in der Klinik befindet. Die Doppelfunktion von Hilfe und sozialer Kontrolle war immer schon Teil der Arbeit und des Selbstverständnisses der Berliner SpDs, wurde offensiv vertreten und extern wie intern für sinnvoll gehalten. Eine entscheidende Veränderung erfolgte 1990: Nach der Wende wurde diese Struktur auf den Ostteil der Stadt übertragen. Die dortigen Polikliniken wurden in SpDs umgewandelt, wobei deren Behandlungsfunktion auf die niedergelassenen Ärzte bzw. Psychiatrischen Institutsambulanzen überging. Zur Angleichung der Verhältnisse im Ost- und Westteil der Stadt fand ein intensiver Erfahrungsaustausch mit Hospitationen untereinander (meist der Ostkolleg/-innen in den Westbezirken) statt. Ein aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive wünschenswerter Systemvergleich zwischen östlicher Poliklinik und westlichem SpD erfolgte nicht. (West-)Berlin hat bereits in den 80er-/90er-Jahren die Regionalisierung der Versorgung konsequent umgesetzt. Inzwischen sind die großen psychiatrischen Fachkrankenhäuser weitgehend aufgelöst bzw. übernehmen nur noch die Pflichtversorgung im jeweiligen Bezirk. Dem von der Senatsverwaltung nach der Wende geplanten massiven Abbau psychiatrischer Betten (zwischen 1993 und 2001 wurde der Bettenbestand ohne Maßregelvollzug von ursprünglich 5429 Betten auf derzeit ca. 0,7 Betten/1000 Einwohner nahezu halbiert) folgte parallel der Aufbau komplementärer Angebote in annähernd gleichem Umfang. Mit dessen Ausdifferenzierung hat sich die Arbeit der SpDs drastisch verändert: Weniger die persönliche Begleitung der Klienten, sondern Screening, Behandlungs-und Rehabilitationsplanung verbunden mit einer starken Zunahme der Begutachtungsaufträge prägen den Alltag in Richtung eines Betreuungsmanagements. So sind die Sozialarbeiter/-innen inzwischen fast ausschließlich mit der Prüfung von Hauspflege in Form von Excel-Tabellen und Betreutem Wohnen u. a. Eingliederungshilfen mittels des Berliner Behandlungs- und Rehabilitationsplanes (BBRP seit 2000) beschäftigt. 2001 wurden ursprünglich 23 Bezirke in zwölf (Fusions-)Bezirke zusammengelegt, wobei »West-Fusionen« (z. B. SteglitzZehlendorf), »Ostfusionen« (z. B. Treptow-Köpenick), Mischfusionen (z. B. Friedrichshain-Kreuzberg) und Bezirke ohne Fusion (z. B. Reinickendorf) entstanden. Entsprechend gibt es derzeit zwölf SpDs. Deren Zusammenlegung ist in den einzelnen Bezirken unterschiedlich verlaufen. Seitens der Politik ist unter vordergründigen »Kostenaspekten« eine Tendenz zur räumlichen und organisatorischen Zentralisierung festzustellen, die im Widerspruch zu fachlichen Erfordernissen steht (Kieznähe und kürzere Wegezeiten durch dezentrale Strukturen). Psychiatrische Notfall- und Krisenversorgung Die SpDs sind während der üblichen Bürozeiten (Montag bis Freitag von 8.00 bis 16.00 Uhr) sowie in einer bürgerfreundlichen Spätsprechstunde (Donnerstag bis 18.00 Uhr) erreichbar. In einzelnen Bezirken waren ab 1983 unterschiedliche regionale Krisendienste entstanden. Das Psychiatrie-Entwicklungsprogramm (PEP) verlangte 1996: »Die psychiatrische Krisen- und Notfallversorgung in Berlin ist insbesondere auch unter dem Aspekt des massiven Ausbaus der betreuten Wohnformen als Ersatz für die Kapazitätsrücknahme im stationären Bereich flächendeckend zu gestalten. Sie ist dabei nicht als zusätzliche Versorgungsinstitution zu etablieren, sondern im verbindlichen Zusammenwirken aller am regionalen Versorgungssystem Beteiligten zu entwickeln.« Das PEP empfahl weiter, lediglich einem Anbieter diese Aufgabe berlinweit zu Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Eichenbrenner, Gagel, Lehmkuhl: Wie geht es eigentlich den Sozialpsychiatrischen Diensten in Berlin? übertragen. Die verschiedenen Träger der bestehenden Krisendienste schlossen sich deshalb in einer GbR als »Berliner Krisendienst« für die flächendeckende ambulante Krisenversorgung zusammen. Seit 1999 wird in insgesamt sechs Regionen mit neun Standorten die Zeit von 16.00 Uhr bis 24.00 Uhr abgedeckt. Darüber hinaus ist der zentrale Standort in Mitte rund um die Uhr besetzt (tagsüber ist jedoch der SpD für Krisenintervention zuständig). Neben festen Mitarbeiter/innen und einem fachärztlichen Hintergrunddienst sorgen zahlreiche Honorarkräfte, die hauptberuflich in der psychosozialen Versorgung tätig sind, darunter auch Mitarbeiter/-innen der SpDs, für eine Vernetzung von SpD und Berliner Krisendienst. Andererseits ist eine gewisse, nicht nur atmosphärische Konkurrenzsituation zwischen beiden Einrichtungen spürbar. So erfolgt die Dokumentation im Berliner Krisendienst nicht (mehr) personenbezogen, was Übergaben von Krisenfällen erschwert; auch die in die Diskussion gebrachte Frage, ob der Berliner Krisendienst mit den Hoheitsrechten nach PsychKG beliehen werden sollte, irritierte die Szene. Aktuelle Entwicklungen Kostenleistungsrechnung (KLR) Ende der 90er-Jahre wurde mit der Berliner Verwaltungsreform in der gesamten Verwaltung eine Kostenleistungsrechnung eingeführt. Diese Verbetriebswirtschaftlichung öffentlicher Aufgaben bestimmt den Alltag professionellen Handelns zunehmend (s. u.) und erscheint als dominierendes Element der ursprünglich mehrdimensional angelegten Reform. Nach elf (!) Überarbeitungen werden nun folgende kostenrelevante Produkte nach dem jeweiligen Medianwert budgetiert: - alle Leistungen der Basisbetreuung im Zusammenhang mit psychosozialer Beratung, Betreuung und Hilfevermittlung (einmal pro »Fall« pro Jahr als sog. »Fallpauschale« abrechenbar); zusätzlich als Sonderleistungen: - jede Krisenintervention und - jede Begutachtung (differenziert nach den Leistungsempfängern Bezirks- und Senatsverwaltung sowie externe Kostenträger). Zur Illustration ein paar Zahlen und Fakten in der Tabelle auf der nächsten Seite. Die einzelnen Produkte haben einen unterschiedlichen Grad an Revisionssicherheit. Trotz der eindeutigen Definition einer Krise als »sofortigem fachlichen Interventionsbedarf, spätestens innerhalb von 24 Stunden« kommt es gerade bei diesem Produkt zu starken Abweichungen (siehe Tabelle und unten). Berliner Fallsteuerung Seit Anfang 2004 gibt es ein Träger-Budget in der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Menschen, das jeweils für drei Jahre mit der zuständigen Senatsverwaltung in der »Kommission 75« ausgehandelt wird. Es wird den Trägern über die Laufzeit im bisherigen Umfang garantiert, darf/soll jedoch nicht überschritten werden. Es gibt ihnen somit Pla- Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 nungssicherheit, dem Senat »sichert« es die Begrenzung der Kosten. Dieser Senat erwartet im Gegenzug von den Trägern die Abdeckung aller Bedarfslagen (Pflichtversorgung), ermöglich ihnen dafür auch eine Flexibilisierung der Hilfen (z. B. Fallzahlausweitung bei Ausdünnung der Hilfen). Mitte 2004 wurde auf zwölf Hilfebedarfsgruppen mit für alle Träger einheitlichen Vergütungsätzen umgestellt. Die Überwachung der Budgets mithilfe eines Budgetprogramms obliegt den bezirklichen Psychiatriekoordinatoren. Vergleichbar den Hilfeplankonferenzen ist in jedem Bezirk ein sog. Steuerungsgremium Psychiatrie (SGP) installiert. Dies regelt die Verteilung der Hilfesuchenden in das komplementäre Hilfesystem. Der jeweilige SpD bereitet das SGP durch individuelle Hilfekonferenzen, Begutachtung und tw. Erstellung des BBRP vor und nimmt dort regelhaft teil. Insbesondere aber begleitet er kritisch sowohl die Auswahl des Leistungstyps als auch Qualität und Quantität der vorgeschlagenen Betreuung in der Sitzung bzw. den vorgelagerten Hilfekonferenzen. Seit 2006 torpediert ein neues Steuerungsmodell durch die Einführung eines Fallmanagements im Sozialamt die mühsam errungenen Strukturen. Die bisherigen Sachbearbeiter/-innen der Eingliederungshilfe wurden umfassend geschult und haben nun einen klaren Spar-Auftrag. Was bedeutet das? Laut AV-Eingliederungshilfe führen sie nach Bekanntwerden eines Hilfebedarfs ein Assessment durch, an dem der SpD zu beteiligen ist. Kritisch anzumerken ist, dass durch die Einführung dieses administrativen Fallmanagements eine doppelte Struktur entsteht. Oblag bislang den SpDs aufgrund ihrer Fachkompetenz als psychiatrisch-klinischem Fallmanagement meist de facto die Entscheidung über Art und Umfang der Eingliederungsmaßnahmen, so wird mit der neuen Regelung das Verhältnis anders gewichtet. Die Fachkompetenz wird relativiert und eine Bürokratieebene mit zusätzlichem Personal und erhöhtem Abstimmungs-, Dokumentations- und Koordinierungsaufwand etabliert. Der Gedanke drängt sich auf, dass nicht nur die steigenden Kosten der Eingliederungshilfe zur Einführung des Fallmanagements führten, sondern die Sozialämter mit deren Funktionsverlust durch Einführung des SGB II auch nach neuen Betätigungsfeldern suchten. Kernaufgaben nach dem Gesundheitsdienstreformgesetz Am 1. Juli 2006 trat das Gesundheitsdienstreformgesetz (GDG) in Kraft. Wesentliches Ziel neben einer auf Pflichtund Gewährleistungsaufgaben fußenden Versorgungsphilosophie ist eine Vereinheitlichung der bislang heterogenen Struktur des öffentlichen Gesundheitsdienstes in den einzelnen Bezirken. Nach einer intensiven Diskussion innerhalb der SpDs im Rahmen dieser Reform gingen nachfolgende – die Praxis schon seit Jahren bestimmende – Kernaufgaben in ein Leitbild der SpDs ein: - Notfallpsychiatrische Versorgung und Krisenintervention einschließlich der Unterbringung nach dem Berliner PsychKG als hoheitliche Aufgabe 57 58 Eichenbrenner, Gagel, Lehmkuhl: Wie geht es eigentlich den Sozialpsychiatrischen Diensten in Berlin? n (berlinweit) min/max (pro Bezirk) Stückkosten Median Psychosoziale Betreuung und Hilfevermittlung Krisenintervention Begutachtung für Bezirksverwaltung Begutachtung für Hauptverwaltung - 40 959 10 877 31 126 6676 2041 – 6238 391 – 1286 1286 – 5013 259 – 1140 Einleitung, Organisation, Koordinierung und Vermittlung vielfältiger Hilfen - Begleitende Betreuung und Behandlung von Betroffenen und sozialem Umfeld - Information und Beratung - Begutachtung bei Eingliederungsmaßnahmen nach dem SGB XII und fakultativ im Rahmen des Betreuungsrechts im BGB Den SpDs wurden ihre Pflichtaufgaben also belassen, wenngleich sie nicht mehr als eigenständige Beratungsstellen, sondern zukünftig im Fachbereich »Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitshilfe für Erwachsene« mit den Beratungsstellen für Behinderte zusammengefasst werden sollen. Im Gesetzestext heißt es: »Der öffentliche Gesundheitsdienst nimmt sozialpsychiatrische gemeindebezogene Aufgaben nach Maßgabe des Gesetzes für psychisch Kranke und des Betreuungsgesetzes wahr. Er wirkt an der Planung, Qualitätssicherung und Weiterentwicklung des gemeindepsychiatrischen Versorgungsstruktur mit, insbesondere durch Beratung und Betreuung von psychisch kranken und abhängigkeitskranken Menschen sowie von auf Grund solcher Erkrankungen behinderter Menschen einschließlich derer, die durch eine solche Krankheit gefährdet oder bedroht sind, und stellt die Behandlung sicher. Er trifft die notwendigen Maßnahmen der Unterbringung nach dem Gesetz für psychisch Kranke.« (Gesundheitsdienstreformgesetz vom 25. Mai 2006) Dabei machen die personenzentrierte Hilfeplanung sowie die Begutachtung von komplementären Hilfen und Hilfen zur Pflege mit einem erheblichen Koordinierungs- und Dokumentationsaufwand inzwischen den Hauptteil der Arbeit aus. Dieser Funktionswandel ebenso wie die Notwendigkeit, sich aufwendig abzustimmen und nicht mehr die alleinige Entscheidungskompetenz zu haben, hat bei einem Teil der Mitarbeiter, die lieber unmittelbar patientenbezogen arbeiten wollen, zu Frustrationen geführt. Als personelle Mindestausstattung wurde festgelegt: auf je 100 000 Einwohner ab 18 Jahren sollen in den SpDs 2,4 Ärzt/ -innen, 4,8 Sozialarbeiter/-innen, 0,6 Psycholog/innen und 2,0 Verwaltungsangestellte tätig sein. Diese Mindestausstattung, die eher durch die Haushaltslage oder wirtschaftspolitische Ideologien (Reduzierung und Outsourcing öffentlicher Aufgaben), denn durch fachliche Erfordernisse bestimmt wird, entspricht in etwa der Festschreibung der Planstellen auf dem gegenwärtigen Niveau nach deutlicher Absenkung in den vorausgegangenen Jahren. Die personelle Ausstattung der einzelnen SpDs folgte bisher der historischen Entwicklung und der unterschiedlichen Prioritätensetzung der Bezirke und weniger einer am Bedarf und der Sozialstruktur der Bezirke 277 € 204 € 197 € 315 € min/max (pro Bezirk) n/1000 Einwohner (min/max) 228 – 342 € 150 – 240 € 170 – 264 € 188 – 495 € 1,45 (1,09 – 2,33) 0,38 (0,19 – 0,53) 1,10 (0,64 – 1,87) 2,36 (1,40 – 5,22) orientierten rationalen Gesundheitsplanung. So haben gutbürgerliche Bezirke eine vergleichsweise gute Personalausstattung, während soziale Problembezirke tw. deutlich unter der Mindestausstattung liegen. Zusammenarbeit der SpDs untereinander Die SpDs treffen sich vierteljährlich bei der Senatsverwaltung für Gesundheit zu einem Informationsaustausch. Außerdem hat sich seit ca. 1997 die sog. Montagsrunde mit monatlichen Treffen etabliert, in der die meisten SpDs vertreten sind. Sie dient neben dem Informationsaustausch der gemeinsamen Abstimmung der Handlungsfelder (z. B. Standard- und Leitbilddiskussion), der inhaltlichen Positionierung und Einflussnahme zu aktuellen Themen und Veränderungen sowie der Formulierung von fairen und transparenten Regeln im Umgang mit der KLR. Ursprünglich geplant als Ort grundlegender Reflexion der Praxis jenseits der Alltagshektik wurde dieses Treffen bald von der Klärung aktueller Entwicklungen und dem Alltagsgeschäft bestimmt. Daher veranstalten die SpDs seit 2004 jährlich einen eineinhalbtägigen Workshop mit externer Moderation, um Raum für gezielte Reflexionen und fachlicher Konzeptentwicklung (z. B. Öffentlichkeitsarbeit) zu schaffen. Diese Treffen und der Workshop sind sehr hilfreich in Hinblick auf die Herausbildung einer gemeinsamen Philosophie und Stärkung des eigenen Selbstverständnisses in der Aufgabenwahrnehmung und -erfüllung. Glosse: Bericht aus dem Alltag eines SpDs Auch in der Berliner Verwaltung hat das »New Public Management« zugeschlagen. Es werden Zielvereinbarungen abgeschlossen, GenderBudget-Analysen in Auftrag gegeben, und der Kunde mit seinen Wünschen steht im Zentrum der Transparenz. Es gibt Mentoren-Runden, Controller und KLR-Beauftragte. Auch der SpD erbringt Produkte, die ihm seine »Kunden« natürlich aus der Hand reißen. Keinen Kunden gelüstet nach einer Zwangseinweisung oder danach, beim SpD gemeldet zu werden. Sei’s drum! Welche Produkte erbringen wir tatsächlich? Zunächst wurde vor allem das Produkt »Psychosoziale Beratung« gestrichelt. Aber was genau ist eine Beratung? Natürlich gibt es dazu Definitionen und Produktblätter. Später wurden die verschiedenen Beratungsleistungen in einer Fallpauschale (siehe oben) zusammengefasst. Der Median wird errechnet, in manchen Bezirken ist das Produkt zu teuer (siehe Tabelle). Zug um Zug wurden die Mittelzuweisungen an die Bezirke umgestellt, orientieren sich nun an der KLR. Wessen Produkte zu teuer sind, der erhält weniger Geld. Mit weniger Geld kann er weniger Personal finanzieren. Mit weniger Personal kann er weniger Produkte erbringen: Also erhält er weniger Geld ... Nein, es ist nicht originell! Die Vorgesetzten monieren und drängen nachdrücklich, doch ein paar (hundert?) Striche mehr zu machen. Wer kann schon die Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Anz_ScherBrem_86,5*243 26.04.2007 15:05 Uhr Seite 1 Eichenbrenner, Gagel, Lehmkuhl: Wie geht es eigentlich den Sozialpsychiatrischen Diensten in Berlin? Anzahl der Beratungen kontrollieren? Alle stricheln mehr, schließlich wird in Berlin eine astronomische Anzahl an Beratungen erbracht. Revisionssichere Produkte müssen her, allerdings ist inzwischen der Personalbestand in einigen Bezirken schon gewaltig geschrumpft. Seit der Einführung der Fallpauschalen ist es egal, ob man einmal oder 365-mal im Jahr mit einem Klienten zu tun hat. Zu jedem Strich gibt es einen Vermerk und eine Akte, revisionssicher! Es werden Gutachten und Krisen gezählt, denn beides scheint überprüfbar. Denkste! Was sind Krisen? Krisen sind Meldungen, die akute Hausbesuche oder Kriseninterventionen (auch am Telefon) auslösen. Kriseninterventionen am Telefon? Geht es nicht jedem schlecht, der bei uns anruft? Wer zu wenig Krisen strichelt, erhält einen Rüffel vom Vorgesetzten. Wie gehabt. Es wird ein direkter Bezug hergestellt zwischen aktuellem Personalnotstand und Krisenstrichliste nach dem Motto: »Wenn Sie nicht mehr Krisen machen, dann können wir die nächste freiwerdende Stelle auch nicht mehr besetzen.« Keiner von uns kann kontrollieren, ob wir wirklich zu wenig Striche machen oder ein Opfer der Sparzwänge des ganzen Bezirksamts sind. (Dabei entfällt ca. die Hälfte unserer »Produktkosten« auf die sog. Regiekosten, d. h. werden gar nicht durch uns selbst veranlasst, sondern von oben oder über Dritte her auf uns »heruntergebrochen«). Wundern Sie sich bitte nicht über unsere Gesprächstechnik, falls Sie einmal beim Sozialpsychiatrischen Dienst anrufen sollten. Ohne Name, Geburtsdatum und Adresse läuft bei uns gar nichts (eine Fallpauschale) und wir hören Ihnen aufmerksam und empathisch zu (eine Krise). Hausbesuch, Beratung der Angehörigen usw. sind leider nicht drin, es sei denn, wir erfahren etwas mehr über Ihre fünf Kinder und drei Geschwister (acht Fallpauschalen, x Krisen). Ganz Berlin führt plötzlich Krisengespräche, und beim Hausbesuch notiert die Sozialarbeiterin die Namen aller Nachbarn auf den Klingelschildern. Flexibel, kreativ und innovativ soll er sein, der Arbeitsnehmer der Zukunft im SpD! Ein anderer Zynismus greift derzeit Raum: Die im Rahmen des neuen GDG vereinbarten Stellenkontingente werden unterlaufen, weil zwar Stellenausschreibungen genehmigt werden, aber nur »intern«, d. h. über eine Ausschreibung im Berliner Amtsblatt. Das bedeutet, dass eine Stellenbesetzung in dem einen Bezirk zwangsläufig zum Stellenabbau im anderen Bezirk führt. Diese Abwerbung von Kolleg/-innen, auch als »Stellenkannibalismus« bezeichnet, stiftet eher Unfrieden als Kooperation zwischen den Bezirken. Natürlich sind auch »Außeneinstellungen« möglich, bislang aber nur befristet und nur nach Genehmigung durch die Finanzverwaltung. Und die lässt auf sich warten: Es wird ein »Einstellungskorridor« nach rein monetären Gesichtspunkten (Stellenabbau ist das Ziel) festgelegt, der zu Qualitätseinbußen in der Fachlichkeit und zum allmählichen Ausbluten der Gesundheitsämter allgemein und der SpDs im Speziellen führt. Anschrift für die Verfasser Ilse Eichenbrenner Kantsrr. 36 10625 Berlin Ilseichen@aol.com Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 59 60 Leserbrief zu »Wie geht es eigentlich ohne sozialpsychiatrische Dienste im Saarland«? Beitrag von Dr. Martin Kaiser, SHG Klinik Merzig, Ausgabe 2/07 in »Sozialpsychiatrische Informationen« In obigem Beitrag zeichnet Herr Dr. Kaiser ein recht »rosiges« Bild der psychiatrischen Versorgung, insbesondere chronisch psychisch kranker Menschen, im Saarland und kommt zu dem Schluss, dass man aufgrund dessen auf »Sozialpsychiatrische Dienste« verzichten könne. Diesen Optimismus kann ich als Mitarbeiter eines sozialpsychiatrischen Vereins im Landkreis Saarlouis (210 000 Menschen) keineswegs teilen und hätte mir im Gegenteil immer gewünscht, dass solche ambulant-aufsuchenden Dienste flächendeckend installiert würden. Der einzige vorhandene ambulant-aufsuchende Dienst im Kreis Homburg wird seine Tätigkeit sogar einstellen müssen. Die klinische Sektorisierung mit der Zuständigkeit klinischer Abteilungen für die einzelnen Landkreise ist natürlich ein begrüßenswerter Schritt gewesen. Jedoch ist der entsprechende parallel zu leistende Schritt des Ausbaues ambulanter Strukturen in sozialpsychiatrischen außerklinischen Setting bis heute nicht geschehen. Komplementäre Wohneinrichtungen, auch Tagesstätten, gab es vereinzelt auch schon vor der Dezentralisierung der psychiatrischen Kliniken. Der Ausbau komplementärer Strukturen erfolgte aber nicht in »erforderlichem« Maße – wie Herr Dr. Kaiser meint –, sondern höchst unterschiedlich in den einzelnen Landkreisen: Zum Teil entstanden neue Großeinrichtungen des »Intensiv betreuten Wohnens« in ländlicher Struktur, aber auch gemeindefern. Zum anderen Teil versuchten – meist kleinere – Träger, den Aufbau bedarfsgerechter komplementärer und ambulanter Strukturen voranzutreiben, sodass es über die Landkreise hinweg sehr unterschiedliche Einrichtungen im Bereich des intensiv betreuten Wohnens gab, was die jeweilige Größe betrifft. Hinzu kam im Saarland auch, dass man sich von politischer Seite schwer tat, in neuen kleineren Trägern echte Alternativen zu etablierten Wohlfahrtskonzernen zu sehen, was in der Folge eher zu einer Zersplitterung von Zuständigkeiten einzelner Trägern führte, die Hausmacht der bestehenden Wohlfahrtskonzerne eher stärkte und dadurch auch die Konkurrenz untereinander verstärkte anstatt die Kooperation. Diese Spaltung zwischen »großen und kleinen« Anbietern findet bis heute ihre Fortsetzung in der Vorstellung des Landes, bis zum Jahre 2012 35 % der Heimplätze insgesamt im Land abzubauen und dies gleichmäßig bei jedem einzelnen Träger. Da ein entsprechender Aufbau ambulanter Strukturen mittelfristig im Verhältnis 1 : 1 umgesetzt werden soll (d. h.: ein ambulanter Platz pro abgebautem stationärem Platz), droht kleineren Trägern schlichtweg das »Aus«, was auch die Zerstörung von geschaffenen Lebenswelten für chronisch psychisch kranke Menschen zur Folge hätte. Vonseiten des Landes wird argumentiert, langfristig sei im Saarland die demografische Entwicklung rückläufig. Das mag sein, aber man muss auch diese Entwicklung landkreisbezogen betrachten, und hier verläuft sie nicht einheitlich. Dazu kommt, dass unsere Wohneinrichtungen im Landkreis Saarlouis noch nie mit so vielen Anfragen wie jetzt konfrontiert wurden. Es mag auch sein, dass die psychiatrischen Kliniken im Saarland ein Eigenleben führen, sicher haben auch sie keinen Mangel an Beschäftigung, im Gegenteil, jedoch spielt sich das Leben der chronisch psychisch kranken Menschen meist außerhalb der Klinik ab, und es gilt, ihre konkrete Lebensbedingungen zu betrachten und ggf. zu verbessern, um Klinikeinweisungen zu vermeiden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es eine Population chronisch psychisch Kranker gibt, die sich seit dem ersten »Run« aus den psychiatrischen Krankenhäuser im Saarland (seit ca. 20 Jahren) in komplementären Wohneinrichtungen befinden, und deren Stabilität in hohem Maße von einem konstanten Betreuungs- und Beschäftigungsniveau außerhalb der Klinik abhängt. Es gilt, diesen Menschen ihre Lebenswelt, ihr stabilisierendes Milieu zu erhalten und auch diese den sich verändernden Lebensbedingungen anzupassen (Alter, Demenz). Eine neue Generation psychisch kranker Menschen kommt auf uns zu, wo es gilt, bei diesen viel stärker präventiv und ambulant zu arbeiten, als dies bisher möglich war. Aber reichen die bisherigen Strukturen und Maßnahmen im Saarland letztlich aus, um eine 2. Generation und folgende vor dem gleichen Schicksal wie Erstgenannte zu bewahren? Ich bezweifle dies: Statt einer Dezentralisierung und Steuerung in gemeindepsychiatrischen Verbünden in den Landkreisen ist eine landeszentrale Steuerung der Belegung in die Wohnheime vorgesehen. Verbindliche Hilfeplankonferenzen werden zumindest im Moment als unnötig angesehen. Wie soll eine bedarfsgerechte ambulante Versorgung auf dieser Basis erfolgen können? Diese Psychiatriereform läuft Gefahr, eine vielleicht bereits bestehende 2-Klassengesellschaft der psychiatrischen Versorgung noch zu verstärken. Aber sind wir es nicht schon längst gewöhnt, mit der Verelendung von Lebensbedingungen von Millionen Menschen in unserem Land zu leben? Ich hoffe, dass sich wenigstens die Psychiatrieerfahrenen und die Angehörigen aufmachen, um sich einzubringen. Es geht um ihre Interessen. gez. Jürgen Kiefer, Dipl.-Psychologe Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 61 Buchbesprechung PRINS, S (2006) Seitenwechsel. Psychiatrieerfahrene Professionelle erzählen. Paranus Verlag, Neumünster, 192 Seiten, 16,80 Euro Sibylle Prins knüpft an das von ihr herausgegebene Buch »Wege zum Glück« an, mit dem sie begonnen hatte, sich der Heterogenität der Menschen zu stellen, die ihren ganz persönlichen Weg aus den psychischen Krisen gefunden haben. Auch das Buch »Seitenwechsel« gibt einen Einblick in die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten psychoseerfahrener Menschen. Von der Oberärztin (M. Osterfeld) bis zum Tätigen in Sachen Psychiatrieerfahrung (J. Daszkowski) reicht das Spektrum der Lebensführung ganz verschiedener Menschen, die teilweise mehrfach die Seiten zwischen Profitum und Patientendasein wechseln mussten. Fast alle der Befragten – das Buch ist in Interviewform gehalten – geben an, wie wichtig ihnen die eigene Krisenerfahrung bei der Arbeit mit Klienten ist und dass Empathie und Verständnis für andere, Toleranz und Zuwendung mit aus dieser Erfahrung gespeist werden. Niemand der Interviewten macht sich selbst zum Maßstab für andere, keiner meint, den Heilsweg für alle gefunden zu haben, was sich sicher aus der Beidseitigkeit der Erfahrungen ergibt. Sibylle Prins lenkt die Befragungen mit so viel Geschick, dass ein spannendes Buch daraus geworden ist, das versucht und dem es auch gelingt, die manchmal so tiefen Gräben zwischen Psychiatrieerfahrenen und Professionellen zu überwinden. Es sind durchweg sympathische Menschen, die Rede und Antwort stehen, schon allein dadurch, dass niemand sich anmaßt, ein Patenrezept zu haben, was sonst bei Psychiatrieerfahrenen oft recht unbescheiden daherkommt. Kein Interview gleicht dem anderen, wie kein Mensch dem anderen gleicht und dennoch jeder zu der großen Menschheitsfamilie gehört. Arnhild Köpcke Langenhagen Termine Vom 5. bis 7. Juli 2007 findet der 8. Interdisziplinäre Kongress für Suchtmedizin in München statt. Weitere Informationen und Anmeldung: mic – management information center GmbH, 86895 Landsberg, Tel. 08191/125-479, Fax 08191/125-600, info@m-i-c.de, www.m-i-c.de 110. Jubiläum der Mitteldeutschen Psychiatrietage. Thema: Biogenese und Psychogenese. Referenten (u. a.): Kay Redfield Jamison, Jules Angst, Nick Craddock und Tim Crow. Ort: Georg-Friedrich-Händel-Halle, Salzgrafenplatz 1, 06108 Halle. Zeit: Freitag, den 21.9.2007 bis Samstag, den 22.9.2007. Anmeldungen unter www.psychiatrietagehalle2007.de. Kontakt: Dr. Dörthe Röttig, Tel. 0345-557-4569, psychiatrietagehalle2007@medizin.uni-halle.de Das 64. Psychotherapie-Seminar findet vom 23. bis 28. September 2007 zum Thema »Alkoholismus und Familie« in Freudenstadt statt. Veranstalter: Psychotherapie-Seminar Freudenstadt e. V., Wissenschaftl. Leitung und Organisation: Prof. Dr. H. Schneider, Karl-von-Hahn-Str. 120, 72250 Freudenstadt, Tel. 07441/542399, Fax 07441/542504, www. pt-seminar-freudenstadt.de Vom 19. bis 21. Oktober 2007 findet in Hall in Tirol eine Tagung zum Thema »Der suizidale Jugendliche« statt. Tagungssekretariat: Psychiatrisches Krankenhaus des Landes Tirol, Brigitte Durda, Thurnfeldgasse 14, A-6060 Hall in Tirol, Tel. +43 (0)5223 5082031, brigitte.durda@tilak.at Aachener Sozialpsychiatrischer Fortbildungstag 2007: »Zwischen den Stühlen: Junge psychisch kranke Menschen zwischen Pädagogik und Behandlung«, 24. Oktober 2007 im Aachen. Weitere Informationen: Aachener Verein zur Förderung psychisch Kranker und Behinderter e. V., Heinz-Josef Brendt, Albert-Maas-Str. 2 – 4, 52078 Aachen, Tel. 0241/59075, Fax 0241/575051, aachenerverein. zfpkranker@t-online.de Am 19. und 20. November 2007 findet im Kongress Palais Kassel – Stadthalle die Jahrestagung der Aktion Psychisch Kranke e. V. statt. Thema: Individuelle Wege ins Arbeitsleben. Im Mittelpunkt stehen die Entwicklung und Ergebnisse des Projekts »Teilhabe an Arbeit und Beschäftigung für psychisch Kranke – Entwicklung regionaler, integrierter und personenzentrierter Hilfesysteme«. Weitere Information: Aktion Psychisch Kranke e. V., Oppelner Str. 130, 53119 Bonn, Tel. 0228/676740, Fax 0228/676742, E-Mail: apk@psychiatrie.de, Homepage: www.psychiatrie.de/apk oder www.apk-ev.de Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 62 Termine »Europa ver-rückt die Perspektiven!« Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP) e. V. 01. – 03. November 2007 Tagungsort: Fachhochschule München Fakultät Sozialwesen Mit dem Zusammenschluss der Binnenmärkte und der Gemeinschaftswährung Euro sind die einzelnen Länder der Europäischen Union bereits hochgradig miteinander verschmolzen. Welche Folgen ergeben sich aus dieser rasanten Verschmelzung möglicherweise für den Bereich des Sozialen und insbesondere für die (Sozial)Psychiatrie? Im Jahr 2005 veröffentlichte die europäische Kommission ein Grünbuch mit dem Titel: »Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern – Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union«. Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation WHO ergaben das ca. 27 %(!) der Bürger der EU mindestens einmal in ihrem Leben unter psychischen Störungen litten. In ihrem Grünbuch kommt die EU zum Schluss den sozialen, wirtschaftlichen und strukturellen Auswirkungen der psychischen Gesundheit ihrer Bürger größere Bedeutung beizumessen. Der Belastung Betroffener, der ihrer Angehörigen und der der gesamten Gesellschaft sowie der Wahrung der Menschenrechte soll damit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auf der Jahrestagung der DGSP sollen in diesem Jahr namhafte Experten zu Wort kommen, die die Bearbeitung der Themen Gesundheit und Soziales auf europäischer Ebene maßgeblich mit begleitet haben. Zusammen mit nationalen Experten und dem Publikum sollen mögliche Antworten gefunden und dem lokal und regional denkenden Akteur verständlich gemacht werden. Darüber hinaus werden bereits existierende und gut funktionierende europäische »best practice«-Projekte vorgestellt. Auch die Situation der psychiatrischen Versorgung in Osteuropa und die der MigrantInnen in Deutschland werden Thema sein. Wo bieten sich hier Kooperationsmöglichkeiten aus deutscher Sicht? Ferner werden in Schwerpunktforen mit teils internationalen Gästen Themen wie Arbeit und psychische Gesundheit, Gender, Trialog, Zwangsbehandlung, Migration, Versorgungsforschung, europäische Geschichte und psychische Gesundheit sowie die Auswirkungen der europäisierten Hochschullandschaft auf die einschlägigen Berufsgruppen diskutiert werden. Stets im europäischen Kontext! Der letzte Tag der Tagung steht unter dem Vorzeichen Ausblick und Visionen auf ein Europa mit möglicherweise verrückten Perspektiven. Wir freuen uns nach 18 Jahren wieder einmal eine Jahrestagung der DGSP in der bayerischen Landeshauptstadt München ausrichten zu können! Die Tagung wird in Kooperation mit der Fachhochschule München und der Projekteverein gGmbH ausgerichtet. Für die Vorbereitungsgruppe: Thomas Meinhart Elektronische Abonnements und Zeitschriftenbeiträge als PDF-Datei - Online-Abonnements Die Sozialpsychiatrischen Informationen können Sie auch als E-Zeitschrift beziehen. Sie erhalten als Abonnent(in) der elektronischen Ausgabe etwa 14 Tage vor Erscheinen der Druckausgabe per Mail ein PDF mit dem vollständigen Inhalt der jeweiligen Ausgabe inkl. Buchbesprechungen und Terminen. Sie können das PDF ausdrucken und Textpassagen kopieren, verpflichten sich aber, die Dateien lediglich auf einem Computer bzw. Datenträger zu speichern und nicht weiter zu verbreiten. Das elektronische Abonnement ist unabhängig vom Abonnement der Printausgabe. - Einzelartikel Alle Artikel können Sie ab Ausgabe 1/2000 auch einzeln als PDF-Datei beziehen. Ein Artikel als PDF-Datei kostet 3,00 Euro. Die Bezahlung erfolgt über Bankeinzug, wenn Sie nicht ausdrücklich eine Rechnung wünschen (ab 12,- Euro Rechnungsbetrag). Sie können das PDF ausdrucken und Textpassagen kopieren, verpflichten sich aber, die Dateien lediglich auf einem Computer bzw. Datenträger zu speichern und nicht weiter zu verbreiten. Weitere Einzelheiten und eine Bestellmöglichkeit finden sie im Internet: www.verlag.psychiatrie.de/zeitschriften/ Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 Psychiatrieverlag 1.9. 07.08.2006 18:32 Uhr Seite 1 63 Für Psychotherapieausbildung und Prüfungsvorbereitung! W. Hiller, E. Leibing, F. Leichsenring, S. K. D. Sulz (Hrsg.) Band 1: Wissenschaftliche Grundlagen der Psychotherapie (Hrsg.: Wolfgang Hiller, Eric Leibing, Falk Leichsenring, Serge K. D. Sulz) Spezialisierte Wissenschaftler vermitteln gut verständlich und konkret die notwendigen psychologischen und neurobiologischen Grundlagen – umfassend und fundiert Band 2: Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapie (Hrsg.: Falk Leichsenring) Dieser Vertiefungsband bietet vollständig Theorie und Praxis der Behandlung mit Berücksichtigung der Therapieforschung und des aktuell gültigen State of the Art. Band 3: Verhaltenstherapie (Hrsg.: Eric Leibing, Wolfgang Hiller, Serge K. D. Sulz) Das Vertiefungsfach Verhaltenstherapie wird in allen relevanten Interventions- und Störungsbereichen so dargestellt, wie es eine qualifizierte Arbeit mit Patienten erfordert. Bestellen Sie jetzt noch zum Subskriptionspreis! Alle drei Bände € 189,– (später € 210,–), Einzeln € 67,– (später € 74,–) Band 4 • Fritz Mattejat (Hrsg.) Verhaltenstherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien • Bibl. Nr. 16425 Band 5 • Hans Hopf, Eberhard Windaus (Hrsg.) Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie • Bibl. Nr. 16430 • Dezember 2006 Bd. 4 oder Bd. 5 € 77,– (später € 84,–) Alle 5 Bände € 319,– (später € 350,–) CIP-Medien • Nymphenburger Str. 185 • 80634 München • Tel. 089-13079321 Fax 089-132 133 • Email: cipmedien@aol.com • www.cip-medien.com Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 M E D I E N WWW.CIP-MEDIEN.COM Lehrbuch der Psychotherapie ������ ���� 64 �������������������������������������� ������������������������������������������ ���������������������������������������� ��������������������������������������� ������������������������������������� �������������������������������� ������������������������������� �������������������������������������� ������������������������������������ ������������������������� ����������������������� ���������������� ������������������� ������������������� ����������������������������������� ���������������� �������������������������������� ����������������� ������� ��������� ������������� ���������������� ���������������������� ����������������� ���������� ������������������������ ������������������������������������������������� ���������������������������������������������� ������������������������������������������������� ���������������������������������������������� ������������������������������������������ ���������� ���������������� ����������������������������� ����������������� ������������������������������� ����������������������������� ������������������������������� �������������������������������� ��������������������� ������������������������ ������������ ������������������������������� ���������������� ������������������������ ���������������������� ������������������������� ���������������� ���������������������� ����������������� ������������������� �������������������� �������������������������������� ����������������� ���������������������������������� ��������������������������� ������������������������������������ ��������������������������������� ������������������������������������ ���������������������� �������������� ���������� �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ Sozialpsychiatrische Informationen 3/2007 ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ������������������������������������������������������������������������������������������������� Hinweise für Autoren Sozialpsychiatrische Informationen Lassen Sie sich durch die nachfolgenden Vorschläge und Hinweise auf keinen Fall davon abhalten, auch zukünftig spontan der Redaktion unverlangt Manuskripte einzusenden, selbst dann nicht, wenn sie den folgenden Punkten nicht entsprechen sollten: 1. Manuskripte sollten nach Möglichkeit weniger als 26.000 Zeichen beinhalten. Bitte senden Sie neben dem Ausdruck auch die dazugehörige Datei per E-Mail oder auf Diskette an die Redaktionsadresse. 2. Eine kurze Zusammenfassung bis zu 20 Zeilen sollte vom Autor dem Artikel vorangestellt werden. 3. Zur besseren Übersicht und höheren Akzeptanz des Manuskripts trägt eine gute Gliederung (Zwischentitel, ohne Nummerierung) bei. 4. Wenn Zitate unumgänglich sind, sollten diese am Ende des Artikels und bei den entsprechenden Literaturhinweisen aufgelistet werden. 5. Die Redaktion verpflichtet sich, dem Autor eine schnelle Rückmeldung darüber zu geben, dass sein Manuskript eingetroffen ist und in welcher Zeit er eine definitive Nachricht über die Annahme erhalten wird. Deshalb geht die Redaktion davon aus, dass die Autoren die Manuskripte nicht gleichzeitig anderen Zeitschriften anbieten. 6. Nach Annahme wird das Manuskript im nächsten thematisch passenden Heft erscheinen. 7. Die Autoren erhalten nach Möglichkeit ein PDF ihrer Arbeit aufbereitet als Sonderdruck (bitte E-Mail angeben). Auf Wunsch versenden wir bis zu zehn Sonderdrucke ihrer Arbeit kostenlos als Printversion. Weitere Sonderdrucke liefert der Verlag gegen Berechnung eines Kostenanteils von 0,05 € pro Seite. gegründet 1971 ISSN 0171 - 4538 Postvertriebsnr. G 07569 Redaktion: Michael Eink, Hannover Hermann Elgeti, Hannover Helmut Haselbeck, Bremen Gunther Kruse, Langenhagen Sibylle Prins, Bielefeld Renate Schernus, Bielefeld Ulla Schmalz, Düsseldorf Ralf Seidel, Mönchengladbach Peter Weber, Hildesheim Dyrk Zedlick, Glauchau Redaktionsanschrift: Frau Gabriele Witte, Klinik f. Psychiatrie u. Psychotherapie – Institutsambulanz, Rohdehof 5, 30853 Langenhagen Tel. 0511/73 00 590, Fax: 0511/73 00 518 E-mail: si@psychiatrie.de Verlag: Psychiatrie-Verlag gGmbH, Thomas-Mann-Str. 49a, 53111 Bonn, Tel. 0228/725 34 0, Fax 0228/725 34 20 www.psychiatrie.de/verlag, E-Mail: verlag@psychiatrie.de Erscheinungsweise: Januar, April, Juli, Oktober Abonnement: jährlich 30,- Euro einschl. Porto, Ausland 35,- Euro. Das Abonnement gilt jeweils für ein Jahr. Es verlängert sich automatisch, wenn es nicht bis zum 30.9. des laufenden Jahres schriftlich gekündigt wird. Bestellungen nimmt der Verlag entgegen. Studentenabo: 22,- Euro, Ausland 27,- Euro inkl. Porto Einzelpreis: 9,90 Euro E-Paper: www.verlag.psychiatrie.de/zeitschriften Satz: Psychiatrie-Verlag, Bonn Layoutkonzept: I. Bielejec, Mainz Druck: Ostfriesische Beschäftigungs- und Wohnstätten GmbH, Emden Die nächsten Schwerpunktthemen* »Wissenschaftliche Praxis versus Erkenntnisinteresse?« (Heft 4/2007) »Kritische Pharmakologie« (Heft 2/2008) »Organisationsentwicklung« (Heft 3/2008) »Die vergessenen psychisch Kranken« (Heft 4/2008) *Diese Themenplanung kann sich aufgrund aktueller Entwicklungen verändern Bestellschein Ich möchte Sozialpsychiatrische Informationen Ich bestelle folgende Einzelausgabe(n) der ab Heft . . . . abonnieren. Das Jahresabo mit vier Aus- Sozialpsychiatrischen Informationen für jeweils 9,90 Euro gaben kostet incl. Porto 30,- Euro (Ausland 35,- Euro). Menge/Ausgabe/Jahrgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich studiere bis voraussichtlich . . . . . . . und bestelle ein ............................................. ............................................. Studentenabo für 22,- Euro (Ausland 27,- Euro). Die Studienbescheinigung liegt bei. Bitte einsenden an: Psychiatrie-Verlag Thomas-Mann-Str. 49a 53111 Bonn Ich bitte um Zusendung eines Probeexemplars. Ihre Anschrift: Name ............................................................................ Straße ............................................................................ Ort ................................................................................ Datum/ Unterschrift ....................................................... PsychiaterSein »Die Zukunft wird einen gewandelten Typ des Psychiaters sehen und brauchen: weniger geheimnisumwittert, weniger selbstherrlich und mit ihren Patienten vermittelnd.« (1971) Karl Peter Kisker (1926 - 1997) war einer der wichtigsten Praktiker und zugleich Theoretiker der deutschen Psychiatrie. Als Lehrstuhlinhaber an der Medizinischen Hochschule Hannover prägte er die Psychiatriereform der 70er und 80er Jahre entscheidend. In seinem psychiatrischen Denken und Handeln seiner Zeit weit voraus, beherrschte er den Spagat zwischen praktischer Psychiatrie in der Institution und unmittelbarem, individuellem Begleiten des psychisch kranken Menschen. Seine Schriften vermitteln, was im Spannungsfeld von gesellschaftlich-politischen Zwängen und einem humanistischen Menschenbild PsychiaterSein bedeutet. ��������������� ���������������� Wielant Machleidt, Torsten Passie, Dieter Spazier (Hg.) PsychiaterSein Karl Peter Kisker – Auswahl seiner Schriften ISBN 978-3-88414-428-2 380 Seiten, 29.90 Euro/52.20 sFr www.psychiatrie-verlag.de