SI 09-2_innen.indd - Psychiatrie Verlag
Transcription
SI 09-2_innen.indd - Psychiatrie Verlag
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 39. Jahrgang Suizid als Nachahmung? U. Gonther Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie R. Schernus Die Forderung tagesklinischer Arbeit C. Maier Ressourcenerhaltung durch Supervision H. C. Eichert Systemische Ansätze im Geflecht von ambulanter und stationärer Behandlung bei Menschen mit Psychosen W. Dillo, A. Baumgarten, S. Steinmüller Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie E. Salzmann Kinder schizophrener Mütter – ein Rückblick auf 14 Jahre Gruppenarbeit und ein Einblick in die Netzwerkarbeit im Landkreis Oberspreewald-Lausitz U. Bürgermeister, A. Jost, S. Fliegner Datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke im Sozialpsychiatrischen Verbund der Region Hannover H. Elgeti Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen A. Meißner Professor Autenrieth erhält einen Verweis des Königs A. Veltin Psychiatrie-Verlag Inhalt Editorial 1 Suizid als Nachahmung? Nirvana – Smells Like Teenspirit Leben und Tod des Rockstars Kurt Cobain Uwe Gonther 2 Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie Renate Schernus 6 Die Forderung tagesklinischer Arbeit Christian Maier 12 Ressourcenerhaltung durch Supervision Hans-Christoph Eichert 17 Systemische Ansätze im Geflecht von ambulanter und stationärer Behandlung bei Menschen mit Psychosen Wolfgang Dillo, Anke Baumgarten und Susanne Steinmüller 24 Kinder schizophrener Mütter – ein Rückblick auf 14 Jahre Gruppenarbeit und ein Einblick in die Netzwerkarbeit im Landkreis Oberspreewald-Lausitz Ute Bürgermeister, Annemarie Jost und Sarah Fliegner 33 Datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke im Sozialpsychiatrischen Verbund der Region Hannover Hermann Elgeti 36 Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen Andreas Meißner 40 Professor Autenrieth erhält einen Verweis des Königs Alexander Veltin 46 Leserbrief 49 Buchbesprechungen Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie Weizsäcker V von (2008) Warum wird man krank? Ein Lesebuch Eckhart Salzmann 28 Schmitt T (2008) Das soziale Gehirn. Eine Einführung in die Neurobiologie für psychosoziale Berufe Bernhard Helmut Schmincke 49 Michael Eink 50 Termine 52 Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 1 Editorial Das Jahr 2009 droht ein Jahr der Wirtschaftskrise zu werden. Selbst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.3.09) war in einem Beitrag des österreichischen Schriftstellers Franz Schuh zu lesen: »Zyklen von Boom und Crash, von Größenwahn und Panik gehören eben zum Betriebssystem des Kapitalismus.« Auch wenn der Beitrag den Titel trug »Jetzt endet das Glück des kleinen Mannes« wurde deutlich, dass mehr auf dem Spiel steht als das Glück. Es drohen nicht nur in der sogenannten Dritten Welt, sondern auch bei uns Arbeitslosigkeit und Armut. Seit es psychiatrische Versorgungsstrukturen gibt, spiegelt deren Qualität aber nicht nur humanitäre Gesinnung einer Gesellschaft, sondern auch meist unmittelbar deren wirtschaftliche Lage wider. Im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise 1928 verschärften sich sozial-darwinistische Positionen und nicht nur von den Nationalsozialisten wurde immer wieder die Frage diskutiert, wie viel finanzielle Mittel für chronisch psychisch Kranke und Behinderte denn in der damaligen Terminologie für »nutzlose Existenzen« verschwendet werden sollten. Nicht zufällig häuften sich Anfang der 30er-Jahre Publikationen zu den Einsparmöglichkeiten in der psychiatrischen Versorgung. »Kann die Versorgung der Geisteskranken billiger gestaltet werden und wie?« (Bratz E., 1932). Einsparvorschläge durch Schaffung »pflegerloser Abteilungen« (Knap K., 1934) wurden von Fachgesellschaften prämiert. Es fällt auf, dass gerade heute in sozialpsychiatrischen Gefilden die Diskussion um die Finanzierung der psychiatrischen Versorgung oft zulasten von Inhalten breiten Raum einnimmt. Natürlich geht es hier in erster Linie um Bemühungen, psychiatrische Versorgungsstrukturen durch Finanzierungsanreize zu verbessern. Aber trotz mancher Fehlentwicklungen sollte nicht übersehen werden, dass sich die Qualität der psychiatrischen Versorgung in Deutschland heute auf einem Niveau bewegt, das es seit Bestehen des Faches noch nicht gegeben hat. Auch in Zeiten der Krisen sollten wir daher alles daran setzen, dass die Mittel, die heute in diesen »Systemen« für die Versorgung psychisch kranker und behinderter Menschen zur Verfügung stehen, erhalten bleiben. Wir hoffen, dass in den nächsten Heften des Infos Raum bleibt für die Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Das vorliegende Heft sollte eigentlich dem Themenschwerpunkt »Suizidalität und suizidales Verhalten« gewidmet sein. Da lediglich der Beitrag von Uwe Gonther zeitgerecht vorlag, der mit seinem Beitrag über den Rockstar Kurt Cobain das psychiatrische Paradigma von der Ansteckungsgefahr des Suizids, den »Werther-Effekt«, mit einer Reihe interessanter Beobachtungen und Überlegungen infrage stellt, nutzen wir die Gelegenheit in einem Mischheft einen bunten Strauß von uns zugesandten Manuskripten an unsere Leser weiterzureichen. Einen eher unbeabsichtigten Schwerpunkt bildet dabei das Thema Salutogenese, mit der Frage, warum ein Mensch Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 gesund bleibt und was wir möglicherweise dazu beitragen können. Die salutogenetische Thematik wird durch Renate Schernus eröffnet. Sie zeichnet die Bemühungen des Soziologen Antonovsky nach, Gesundheit zu entmystifizieren und herauszufinden, welche menschlichen Möglichkeiten erforderlich sind, um trotz schwerster erlittener Traumata dieses Leben doch erstaunlich gut zu bewältigen. Von entscheidender Bedeutung scheint dabei, ähnlich wie im Recovery-Konzept, Sinn und Bedeutung im eigenen Leben zu finden. Christian Maier berichtet von seinen langjährigen Erfahrungen als Supervisor tagesklinischer Arbeit. Er skizziert, wie sich bei den Mitarbeitern der Tagesklinik durch die Auseinandersetzung mit den Patienten gesellschaftliche Spannungen widerspiegeln und im Umgang miteinander niederschlagen. Je intensiver die Kontakte und die Identifikation mit den Konflikten der Patienten, umso wichtiger sei das behutsame wechselseitige Eingehen der Mitarbeiter untereinander und eine sozusagen salutogenetische Grundhaltung. Diesem Ressourcenerhalt durch Supervision ist auch der Beitrag von Hans-Christoph Eichert gewidmet, der mithilfe eines Fragebogenverfahrens Arbeitszufriedenheit und Gesundheitsindikatoren an zwei Messzeitpunkten im Abstand von zehn Monaten miteinander verglichen hat, um Zusammenhänge zwischen diesen Variablen sowie Ressourcen und Selbstwirksamkeit zu ermitteln. Hoffnungen auf Verbesserungen der wahrgenommenen Ressourcen in der Supervisionsgruppe konnten nicht bestätigt werden. Es konnte aber immerhin gezeigt werden, dass es in einigen Ressourcenbereichen nicht zu einer Verschlechterung wie in der Nicht-Supervisionsgruppe kam. Von den Erfahrungen aus der ambulanten Behandlung von Patienten mit chronisch-schizophrenen Verläufen, die im Rahmen der psychiatrischen Poliklinik der Medizinischen Hochschule in Hannover mit einem systemischen Ansatz betreut wurden, handelt der Beitrag von Wolfgang Dillo et al. Auch diesen Autoren geht es um die Mobilisierung salutogenetischer Faktoren, die in der systemischen Arbeit nicht als Technik, sondern als Haltung, die von Wertschätzung, aber auch Humor geprägt sei, zum Ausdruck komme. Das Bemühen um ein »selbstbestimmtes Wohlergehen im Sinne einer Salutogenese« steht im Mittelpunkt von Überlegungen von Eckehard Salzmann, dem es darum geht, das viel zitierte biopsychosoziale Modell des Menschen ernst zu nehmen. Er schlägt dazu die Schaffung integrativer Gesundheitszentren vor, die neben den interdisziplinären Aspekten auch präventive Ansätze mit psychosozialem Schwerpunkt gewährleisten sollten. Interessante Einblicke in die Sichtweise von betroffenen Kindern schizophrener Mütter gibt ein Beitrag von Ute Bürgermeister et al., die im Landkreis Oberspreewald Lausitz auf eine 14-jährige Gruppen- und Netzwerkarbeit zurückblicken 2 Editorial können Die Autorinnen skizzieren ein Gruppenkonzept für die Kinder schizophrener Mütter und plädieren nachdrücklich für eine Weiterentwicklung der Hilfen und eine verbesserte Vernetzung von Sozialpsychiatrie und Jugendhilfe. Die Bedeutung datengeschützter Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke beschreibt Hermann Elgeti im Blick auf sein 20-jähriges Engagement in der Region Hannover. Nur mit einer sorgfältigen, datengestützten Planung und Evaluation sei einerseits ein Missbrauch von Ressourcen von Patienten oder Therapeuten vermeidbar und andererseits ein Minimum an Fortschritt, trotz wachsender Tendenzen zur Rationalisierung und Rationierung von Hilfeleistungen, möglich. Neben der Bereitschaft, die eigene Arbeit selbstbewusst und selbstkritisch auf den Prüfstand zu stellen und gegenüber den Psychiatrieerfahrenen und ihren Angehörigen, den Kostenträgern und der Politik transparent und nachvollziehbar zu machen, plädiert er für eine große Koalition der Beteiligten auf Augenhöhe zur Sicherung der finanziellen Rahmenbedingungen für eine ethisch verantwortbare Gemeindepsychiatrie. Als erfahrener Rentengutachter plädiert Andreas Meißner für eine Frühberentung des Homo sapiens. Das Gutachten wirft Zweifel auf, ob der Homo sapiens grundsätzlich dazu in der Lage ist, die gewaltigen vor ihm liegenden Herausforderungen der ökologischen Krise zu bewältigen. Nach sorgfältiger Beschreibung der Störung und Mängel fällt es ihm zwar schwer, sich auf eine psychiatrische Diagnose festzulegen, der Homo sapiens wird aber für erwerbsunfähig gehalten. Trotz seiner eingeschränkten Einsichts-, Kritik- und Urteilsfähigkeit »mit starken Abwehrmechanismen und fraglich wahnhaften Symptomen« wäre zwar eine rechtliche Betreuung indiziert, allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, wer diese Betreuung übernehmen könnte. Den königlichen Abschluss der Beiträge in diesem Info bilden von Alexander Veltin zusammengestellte psychiatriehistorische Dokumente, die ein eindrucksvolles Bild von der Versorgungssituation psychisch kranker Menschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts widerspiegeln, als sich langsam die Nervenheilkunde als medizinische Disziplin etablierte. Es zeigt sich, dass sich auch damals »Narren und Verwirrte« keiner großen Beliebtheit erfreuten und dass ein gesellschaftlicher Auftrag, hier einer des Königs, notwendig wurde, um die Behandlung eines schwierigen Kranken zu gewährleisten. Aber bereits damals wurde deutlich, dass eine angemessene Fürsorge ohne ökonomische Voraussetzungen nicht anders als heute nur schwer umsetzbar ist. Für die Redaktion Helmut Haselbeck Suizid als Nachahmung? Nirvana – Smells Like Teenspirit Leben und Tod des Rockstars Kurt Cobain Uwe Gonther Das Problem der Nachahmung von Vorbildern durch Suizidenten ist allgemein klinisch bekannt und scheint bei einzelnen »copycat«-Suiziden ebenso wie bei Suizidwellen eine große Bedeutung zu haben. Die genauere Untersuchung des Werther-Effektes wirft einige interessante Fragen auf, unter anderem nach welchen literarischen oder Prominenten-Suiziden tatsächlich statistisch ein Ansteigen von Nachahmungstaten zu verzeichnen war. Was hat dies mit der öffentlichen Darstellung, aber auch mit den von einer solchen Person transportierten Werten zu tun? Die Betrachtung der Biografie des Rockstars Kurt Cobain, seines Suizids und dessen Folgen kann im Hinblick auf psychiatrische Suizidprävention zum Nachdenken anregen und helfen, das Treffen eines angemessenen Tons beim Sprechen über Suizidalität zu erleichtern. Einleitung Der sog. Werther-Effekt, der auf die Wirkung von Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werthers« (1774) rekurriert, ist bis vor Kurzem in der psychiatrischen Fachliteratur weitgehend einhellig als Faktum akzeptiert worden (Schmidtke & Häfner 1998, Ziegler & Hegerl 2002). Der Begriff hat Eingang in die Sprache der Feuilletons gefunden und die Vorstellung einer besonderen Ansteckungsgefahr durch Prominentensuizide wurde die Basis für die internationalen Empfehlungen von Experten für den Umgang der Medien mit dem Thema Suizidalität (siehe zum Beispiel: Preventing Suicide – World Health Organisation 2008). Die Ansteckungsgefahr von Suizidalität, insbesondere diejenige von Prominentensuiziden scheint also bestens belegt und kulturübergreifend wirksam zu sein (Cheng 2008). Dennoch gibt es Befunde, die sich nur schwer in dieses ansonsten stimmige Bild einfügen lassen, wie z. B. die sinkenden Suizidzahlen in der zeitlichen Folge des Suizids von Kurt Cobain (Martin 1997, Jobes 1996, Ystgaard 1997). Doch auch der Werther-Effekt selbst ist hinsichtlich seiner historischen Wurzeln umstritten (Steinberg 2007, Andree 2006). Manches spricht dafür, dass es zwar einzelne Nachahmungen in verschiedenen Ländern Europas gegeben hat, dass aber von einer statistisch relevanten Suizidwelle in der Folge des Romans unter Berücksichtigung der existierenden historischen Daten zu Todesursachen nicht gesprochen werden kann. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Auswirkungen des Todes von Kurt Cobain zu verstehen und dieses Verständnis für den psychiatrischen Alltag und für Initiativen zur Suizidprävention zu nutzen. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Gonther: Suizid als Nachahmung? Wer war Kurt D. Cobain? Kurt Donald Cobain wurde 27 Jahre alt. Er starb 1994 durch Suizid. Man fand den Leichnam drei Tage nach Eintritt des Todes im Zimmer über der Garage seines Wohnhauses in Seattle, USA. Cobain hatte sich durch den Mund in den Kopf geschossen. Wie es dazu gekommen ist und was darauf folgte, soll nun dargestellt werden. (Angaben zur Biografie nach C. R. Cross: »Heavier than Heaven«, Hyperion publisher, USA, 2001.) Der Junge wurde 1967 in Aberdeen in der Nähe von Seattle geboren, wuchs die ersten Jahre bei seinen Eltern auf, wie es heißt, zum Teil im Wohnwagen, dabei waren der Vater, ein Automechaniker und die Mutter als Kassiererin noch nicht einmal am untersten Ende der amerikanischen Gesellschaft angesiedelt. Die Eltern ließen sich scheiden als Kurt sieben Jahre alt war, worunter er nach vielfältigen eigenen Bekundungen und zum Teil auch dargelegt in seinen Liedtexten, Zeit seines Lebens stark gelitten hat. Er fiel in der Schule auf als unruhig, zappelig, nervös und unkonzentriert. ADHS (Aufmerksam-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) wurde diagnostiziert und eine Behandlung mit Methylphenidat früh begonnen. Über die Jahre seiner Entwicklung wurde das Medikament mehrfach ab- und wieder angesetzt. Bereits früh zeigten sich bei dem Jungen besondere kreative Fähigkeiten und eine Neigung zum Einzelgängertum. Im Alter von 14 Jahren erhielt er eine Gitarre geschenkt, auf der er sich selbst das Musizieren beibrachte. Nach eigenen Angaben war er zunächst BeatlesFan und später ein Bewunderer englischer Punkmusik. Kurt Cobain fühlte sich zu Randgruppen und Außenseitern in der Schule hingezogen, verbündete sich mit denjenigen, die von den Meinungsführern als schwul oder behindert beschimpft wurden und wurde selbst häufig verprügelt. Gleichwohl soll er bei den Mädchen in der Schule ausgesprochen beliebt gewesen sein. Er gründete mehrere eigene Bands, reiste einigen Gruppen hinterher und brach kurz vor dem Abschluss die Schule ab. Während dieser Phase war er zeitweise obdachlos und hatte ein intensives religiöses Erweckungserlebnis. Gemeinsam mit zwei Jugendfreunden baute er die Gruppe Nirvana auf und wurde Anfang der 90er-Jahre mit dem zweiten Album »Nevermind« praktisch über Nacht zum weltweit gefeierten Superstar einer neuen Musikrichtung, welche Grunge genannt wird. Sie ist gekennzeichnet durch die rauen Punkrockklänge, welche häufig kontrastieren mit hübschen, fast lieblichen Melodien und verziert sind mit außerordentlich gefühlsbetonten Texten. Diese Texte wurden nicht, wie sonst üblich, in Booklets festgehalten, sondern häufig während der Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Konzerte variiert und wurden nur im Zusammenhang mit der Musik mündlich original überliefert. Die Jugendlichen der sogenannten »Generation X« in den USA und innerhalb weniger Monate weltweit fühlten sich von der schonungslosen Offenheit in diesen Liedern unmittelbar angesprochen. Cobain machte insbesondere vor der Äußerung negativer Gefühle und ambivalenter Regungen keinen Halt. Es gab für ihn keine Tabuthemen. In einigen Liedern ist explizit von Suizid und auch von psychiatrischer Behandlung die Rede. Gleichwohl spricht aus seinen Texten, ebenso wie aus seinen später veröffentlichten Tagebüchern eine christliche, menschenfreundliche, emanzipatorische, demokratische Grundhaltung. Das Lied »Smells like Teen Spirit« wurde zur Hymne der »Lost-Generation«, also derjenigen Jugendlichen, die nach dem Ende des Kalten Krieges keinen Anteil am Boom der globalisierten Finanzmärkte und der wachsenden Computerindustrie hatten. Bezüglich des Liedtextes gibt es ein verbreitetes Missverständnis, denn das Lied handelte ursprünglich von einem bei Teenagern beliebten Deo-Roller namens »Teen Spirit« und nicht etwa von dem Spirit, also dem Geist dieser Jugendlichen. Der Musik-Videoclip zu dem Song sah allerdings aus wie ein Aufruf zur Revolution an amerikanischen Schulen. Kurt Cobain wurde vielfach psychiatrisch behandelt, wie bereits erwähnt schon in der Kindheit, später diagnostizierten Psychiater ein Borderline-Syndrom und bipolare Störung. Auch die Bezeichnung Schizophrenie wurde versucht u. a. im Zusammenhang mit seinen Liedtexten. Sicher ist, dass er über viele Jahre opiatabhängig war, was er selbst mehrfach mündlich und schriftlich bestätigte. Er litt unter chronischen Magenbeschwerden und konsumierte außer Heroin alle für ihn erreichbaren Drogen und kontinuierlich große Mengen Alkohol. Seit seiner Kindheit begleitete ihn ein imaginärer Freund, den er »Boddah« nannte und an den er z. B. auch seinen heute im Internet einsehbaren Abschiedsbrief richtete. Cobain heiratete die einige Jahre ältere Courtney Love, ihrerseits Sängerin in einer Frauenpunkband. Wenig später gebar sie eine Tochter, zu deren Geburt sich Kurt Cobain vornahm, einfach nur noch treu sorgender Familienvater und vor allem abstinent zu sein, was nicht gelang. (Das Mädchen mit Namen Frances Bean Cobain feierte 2008 anlässlich ihres 16. Geburtstages eine sog. Suizidparty, auf der angeblich ein Wettstreit stattfand, wer sich am besten tot stellen könnte.) Kurt Cobain konnte trotz mehrfacher Klinikaufenthalte nicht ohne Drogen leben. Wiederholt brach er Behandlungen ab. Im Frühjahr 1994 beendete er vorzeitig eine geplante Welttournee in Italien, verließ anschließend die kurzfristig besuchte Entgiftungseinrichtung in den USA, wurde dann für mehrere Tage nicht mehr gesehen und schließlich tot in Seattle aufgefunden. In dem Zimmer fand sich ein Brief, in seiner Fangemeinde bekannt unter der Bezeichnung »the note«, in welchem er sich von Frau und Kind und den Fans verabschiedet. Bis heute sind viele Fans der Meinung, dass es sich bei diesem Brief nicht um einen Suizidabschiedsbrief han- 3 4 Gonther: Suizid als Nachahmung? dele, da an keiner Stelle darin vom Tod die Rede sei, sondern nur von Abschied. Es halten sich in diversen Fan-Foren und Büchern Verschwörungstheorien über einen Mord an dem Sänger. Bekannt ist, dass er trotz seiner pazifistischen Gesinnung Zeit seines Lebens ein regelrechter Gunfanatic, also übertriebener Schusswaffenliebhaber war. So besaß er eine große Sammlung von Pistolen und Gewehren und hat auch schon Jahre vor seinem Tod für Fotos mit Waffen im Mund oder an die Schläfe gehalten posiert. Bereits als 14-jähriger Schüler soll er gesagt haben, dass er zunächst Superstar werden wolle, um sich dann auf dem Höhepunkt seines Ruhmes zu suizidieren. Auch präsentierte er in der Schule einen Videofilm unter dem Titel »Kurt Cobain commits bloody suicide«. Der Junge hatte persönliche Suizid-Vorbilder, nämlich einen Großvater und einen Onkel, die sich getötet hatten, worüber jedoch in der Familie nicht gesprochen wurde. Als sein Tod 1994 bekannt wurde, versammelten sich spontan 7000 Jugendliche in Seattle und hielten mit Kerzen und Liedern eine mehrere Tage und Nächte dauernde Totenwache. Die Polizei begleitete die Veranstaltung aufmerksam. Psychologisch und sozialarbeiterisch geschulte Kräfte kamen zum Einsatz. Über Lautsprecher wurde die wütende Reaktion der Witwe Courtney Love auf den Tod ihres Mannes den Fans vorgespielt. Der Text dieser Rede ist seitdem im Internet präsent und viel gelesen. Weltweit gab es ein riesengroßes Medieninteresse an den Vorgängen in Seattle und in Nirvana-Fankreisen andernorts. In den Jahren nach seinem Tod wurde die Verehrung für Kurt Cobain zunächst nicht weniger, sondern wuchs an, sodass er sich noch mehr als zehn Jahre später auf der Liste der am besten verdienenden Toten sehr weit oben befand. Cobain = Anti-Werther-Effekt? Allgemein wurde nun eine Suizidwelle erwartet, wie es sie besonders eindrucksvoll nach dem Selbstmord von Marilyn Monroe aber auch nach anderen Fällen gegeben hatte (Stack 2003). Hinzu kam, dass die Anhängerschaft von Nirvana als äußerst labil und gestört angesehen wurde. Rund um Seattle, in den übrigen USA und Kanada, außerdem in Skandinavien und Australien wurden in der Folgezeit von Suizidforschern mit differenzierten Methoden die Entwicklung der Suizidraten und diejenige der Todesarten beobachtet. Tatsächlich gab es wenige Tage nach Cobains Tod einen sog. »Copycat-Suicide« in Seattle, also eine Imitation dieses Suizids bis hin zur nachgemachten Kleidung. Dies erinnerte an die Fälle von Werther-Fieber mit Tragen der Werther Kluft und Nachahmungssuizid. Es war jedoch 1994 in Seattle ein Einzelfall, ähnlich wie auch der Werther-Effekt als die dramatische Wirkung auf Einzelne, nicht so sehr als statistisch relevantes Phänomen gesehen werden kann. Statistisch gab es bei den Untersuchungen zu den Suizidzahlen nach dem Tod von Kurt Cobain weder einen unmittelbaren noch einen verschobenen Anstieg, insbesondere beachtete man die Auswirkungen auf Jugendliche und junge Männer. Der Amerikaner D. A. Jobes, der Australier G. Martin und M. Ystgaard aus Norwegen konnten eindrucksvoll nachweisen, dass es zu einem Rückgang der Suizidzahlen, insbesondere bei den für kritisch erachteten Bevölkerungsgruppen kam. Sie führten hypothetische Erklärungen an, so etwa, dass es der Polizei und den Kriseninterventionskräften in Seattle sehr früh gelungen sei und die Medien gut mitgespielt hätten, die künstlerischen Errungenschaften Cobains zu würdigen und gleichzeitig die Suizidhandlung nicht zu glorifizieren, sondern vielmehr unter Zuhilfenahme der wütenden Äußerungen der Witwe das Verhalten als negativ darzustellen. Ein Werther/Cobain-Effekt im Sinne einer vermehrten offenen und kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema könnte gerade das Gegenteil einer Nachahmungswelle hervorgerufen haben. So gesehen handelt es sich dabei vor allem um einen neu verstandenen präventiven Effekt, der nicht vergessen lassen darf, dass dennoch einzelne Menschen in suizidaler Verfassung durch Identifikation mit dem berühmten Suizidenten sich selbst einen Todesstoß verpassen. Im Gegensatz zu Werther/Cobain steht die vernebelnde, beschönigende »Schneewittchen« ähnliche Darstellung des Todes von Marilyn Monroe, die offenbar mehr Nachahmungen hervorrief. Suizid als Selbst-Opfer In aktuellen kulturwissenschaftlichen Arbeiten von Cameron 2005 und Kaswell 2007 wird untersucht, inwieweit die Suizidhandlung Cobains so etwas wie einen Stellvertretersuizid darstellen könnte. Dies würde bedeuten, dass der Betreffende nicht als Vorbild wahrgenommen wurde, sondern als jemand, der sich an der Stelle der anderen getötet, in diesem Sinne für sie geopfert hätte. Nebenbei wird dargestellt, dass der in der Folgezeit anwachsende wirtschaftliche Erfolg der Gruppe ohne diesen Suizid sich wahrscheinlich so nicht weiterentwickelt hätte. Letzteres ließe sich interpretieren als ein im ökonomischen Sinne sich für die anderen der Gruppe und seine Familie opfern. Derartige Vorstellungen über Suizid erscheinen aus heutiger Sicht schräg, waren jedoch in der Frühzeit des Christentums durchaus gebräuchlich und sind auch in anderen Religionen bekannt. Im Christentum änderte sich die Einstellung der Kirche zum Suizid erst grundlegend, als es zur Staatsreligion geworden war und in der Folge das Sich-Töten als ein Verbrechen und nicht mehr als möglicher Dienst an der Gemeinschaft betrachtet wurde. Diese Einstellung hielt sich in der katholischen Kirche bis ins 20. Jahrhundert und wurde teilweise von den Rechtsauffassungen der Nationalstaaten übernommen. Als weiterer womöglich sinnvoller und hilfreicher Effekt des Todes von Kurt Cobain sei erwähnt, dass sich eine seiner Cousinen, Beverly Cobain, eine gelernte Psychiatrie-Krankenschwester, seit Kurts Suizid besonders in Suizid-Präventions-Programmen in amerikanischen Schulen engagiert, mit großer Medienaufmerksamkeit. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Gonther: Suizid als Nachahmung? Praktische psychiatrische Konsequenzen Was lässt sich aus dieser Geschichte für die praktische psychiatrische Arbeit lernen? Wie wir hier sehen, kann für den Umgang mit den Medien nicht die einfache Regel gelten, möglichst gar nicht von Suiziden zu berichten. Da es höchst unwahrscheinlich ist, dass es sich bei der Senkung der Suizidraten in Folge des Todes von Kurt Cobain um einen Zufall handelt, muss es eine Erklärung geben. Die oben angedeutete These, dass es sich um ein Selbstopfer für die anderen gehandelt haben könnte, lässt sich nicht beweisen. Die Interventionen der Ordnungskräfte waren höchstwahrscheinlich geschickt und können sich auch über das damals aufkommende Internet in Fan-Kreisen recht gut verbreitet haben. Es erscheint allerdings sehr unwahrscheinlich, dass z. B. die Senkung der Suizidrate in Australien von den sinnvollen Polizei- und Medienaktionen in Seattle direkt beeinflusst werden konnte. Vielmehr sollte ins Blickfeld genommen werden, wie sehr die heftige Reaktion von Courtney Love, die vielen Fans womöglich aus dem Herzen sprach, in dem sie Aggressionen auf den Suizidenten in bis dahin unbekannter offener Weise äußerte, sich entsprechend bremsend auf Nachahmer auswirkte. Gleichzeitig bot sie sich selbst als Aggressionsprojektionsfläche für die verletzten Fans an. Aus dieser Sichtweise erklären sich auch die nach wie vor kursierenden Mord- und Verschwörungstheorien, welche im Wesentlichen alle darauf hinauslaufen, dass Courtney Love gemeinsam mit der CIA diesen Anschlag geschickt als Selbstmord getarnt hätte. Eine weitere Erklärung könnte darin bestehen, dass die Musik und Texte Kurt Cobains gerade seinen als labil betrachteten Anhängern derartig unmittelbar nahekamen, dass sie dadurch vor Suizidnachahmungen geschützt wurden und dies insbesondere unter der aktuellen Belastung durch den Suizid ihres Idols. Bildlich gesprochen hat er ihnen die Heilmethode oder auch das Gegengift, bzw. eine Art Impfung bereits vorab geliefert, vermittels seiner Kunst. Wenn auch Kurt Cobain bei Jugendlichen heute weiterhin hoch im Kurs steht und man auf manch einer psychiatrischen Station auf ihn als Poster und seine Stimme aus dem iPod trifft, so gibt es mittlerweile im Musikgeschäft ganz andere und im Sinne von Gewaltverherrlichung weitaus stärker beunruhigende Phänomene, die zunehmend in Mode kommen. Verglichen damit wirkt Nirvanas »Teen Spirit« altmodisch wie Veilchenduft. Für den Umgang der Medien mit dem Thema Suizid und für die Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Medien in dieser Frage lässt sich aus der Kurt-Cobain-Story manches lernen, was aus psychotherapeutischer Sicht gar nicht sonderlich überrascht: 1. Es ist richtig, auch unangenehme Themen anzusprechen, d. h., auch Suizidgedanken zu thematisieren. Allein dadurch bringt man niemanden um. 2. Es ist noch wichtiger, überhaupt negative und ambivalente Emotionen verbalisieren zu können, um sich zumindest etwas von ihnen distanzieren zu können. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 3. Im Zusammenhang mit Suiziden und insbesondere mit Prominentensuiziden geht es um heftige Aggressionen, auch aufseiten der Hinterbliebenen, in diesem Falle auch der Fans. Dafür sollte Raum in der öffentlichen Darstellung und der Diskussion sein. 4. Im Falle des weltweit beachteten Suizids von Kurt Cobain scheint es gelungen zu sein, einerseits die Art des Todes nicht zu heroisieren und andererseits seine künstlerische Leistung getrennt davon zu würdigen. (Gerade Letzteres wird von manchen psychiatrischen Kollegen in Deutschland, die sich öffentlich zu Kurt Cobain äußern, leider versäumt.) 5. Die vom Nachahmungssuizid gefährdeten, psychisch instabilen Leute, meistens sind dies Jugendliche, sind keine Masse von Lemmingen, die man so oder so in den Tod lenken oder retten könnte. Vielmehr geht es für die Handelnden aus Medien- und Gesundheitsberufen, die individuelle Gemütsverfassung der Betroffenen und Hilfe Suchenden ernst zu nehmen. Dazu kann die Auseinandersetzung mit der Musik und den Texten von Nirvana auch für die Gesundheitsprofis hilfreich sein, um die eventuell Gefährdeten besser zu verstehen. Ob dies dann weitergedacht auch bedeutet, dass es nottut, sich in unserer Zeit mit Menschen verachtend klingender Rap-Lyrik und neuen Medien wie Ego-Shooter-Spielen oder auch Suizidforen im Internet auseinanderzusetzen, fällt mir theoretisch leicht zu bejahen, praktisch konnte ich mich dazu allerdings noch nicht durchringen. Literatur ANDREE M (2007) Wenn Texte töten. Fink, München CHENG TA (2007) The influence of media reporting of the suicide of the celebrity on suicide rates: A population based study – International journal of epidemiology, Vol. 36 CAMERON S (2005) Artist suicide as a public good – Archives of suicide research, Vol. 9 JOBES DA (1996) The Kurt Cobain suicide crisis – Suicide and lifethreatening behaviour, Vol. 26 KASWELL A (2007) The economic art of suicide – Annals of improbable research, Vol. 13 MARTIN G (1997) Did the Death of Kurt Cobain Influence young suicides in Australia – Archives of suicide research, Vol. 3 STACK S (2003) Media coverrage as a risk factor in suicide – Journal of epidemiology and community health, 57 SCHMIDTKE A, HÄFNER A (1986) Die Vermittlung von Selbstmordmotivation – Selbstmordhandlung durch fiktive Modelle, Nervenarzt 57 STEINBERG H (2007) Der Werther-Effekt: Zum historischen Umfeld eines Eponyms – Vortrag beim DGPPN Kongress YSTGAARD M (1997) Suicide among young people – is it contagious? – Norwegian Journal of Suicidology, no. 3 ZIEGLER W, HEGERL U (2002) Der Werther-Effekt. Nervenarzt 73 Anschrift des Verfassers Dr. Uwe Gonther, Klinikum Bremen Ost Züricherstr. 40, 28325 Bremen uwe.gonther@klinikum-bremen-ost.de 5 6 Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie1 Renate Schernus »Glattes Eis, Ein Paradeis Für den, der gut zu tanzen weiß.« Friedrich Nietzsche 1885 Pathogenese, das ist bekanntlich die Lehre von den ursächlichen Bedingungen der Entstehung von Krankheiten. Der Begriff setzt sich zusammen aus dem griechischen Wörtern Pathos für Krankheit und Genesis für Entstehung. Danach ist ein Mensch entweder krank oder gesund. Die pathogenetische Frage nach den Verursachungen von Krankheiten ist äußerst wichtig. Wir alle wollen wissen, was hat mich/sie/ihn krank gemacht. Was ist die Ursache dieses Übels? Liegt es an Bakterien, Viren, funktionellen Störungen, Genen, sozialen Umständen oder woran auch immer? Hätten Ärzte so nicht gefragt, wären unter anderem die Erreger der Grippe, der Syphilis und die Bedeutung der Hygiene für die Entstehung von Krankheiten unentdeckt geblieben. Aber auch komplexe psychotherapeutische Theorien wie die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie oder sogar die Familientherapie verdanken sich der Frage nach der Ursache von Störungen. Mit solchen Theorien haben sich viele von uns bereits ausreichend befasst und sie fruchtbar in ihrer Alltagspraxis angewandt. Warum also jetzt noch über ein weiteres Fremdwort nachdenken – Salutogenese, die Lehre von der Entstehung der Gesundheit? (Griech.: Salus = Heil) Im Allgemeinen können wir doch wohl davon ausgehen, dass jeder weg von der Krankheit und hin zur Gesundheit will, und wer in Gesundheitsberufen tätig ist, will das natürlich auch für seine Patienten oder Klienten. Ist es nicht gleich, von welcher Seite man in den Fluss springt? Vielleicht ist es gleich, von welcher Seite man springt, wenn man aber hineinspringt oder gar fällt, dann ist es nicht gleich, ob man schwimmen kann oder nicht. Das Bild eines reißenden Flusses stammt übrigens von dem Erfinder des Begriffs Salutogenese, Aron Antonovsky. Nach Antonovsky würde ein pathogenetisch ausgerichteter Therapeut versuchen, den mit Stromschnellen und Strudeln Kämpfenden vor dem Ertrinken zu retten, ein Therapeut hingegen, der der Blickrichtung der Salutogenese verpflichtet ist, würde vor allem versuchen, den Menschen das Schwimmen beizubringen. Denn nach Antonovsky gleicht das Leben einem Fluss, in dem wir alle schwimmen, umgeben von allen möglichen unvorhersehbaren und unvermeidlichen Gefährdungen. Schon an diesem Bild lässt sich erkennen, dass die Blickrichtung der Salutogenese die der Pathogenese nicht überflüssig macht. Einem akut vom Ertrinken Bedrohten werde ich nicht zurufen: »Jetzt lernen Sie erst mal schwimmen!« Nachdem er jedoch gerettet wurde, kann ich ihm diesen Vorschlag sinnvoller Weise machen. Falls er bereits ein wenig schwimmen kann, ließe sich mit ihm auch über Möglichkeiten, seine Schwimmtechnik zu verbessern, reden. Die Frage nach den Ursachen von Krankheiten oder Störungen, so wichtig sie bleibt, verführt häufig zu einseitigen oder auch schädlichen Antworten. Zum Beispiel kann ein Arzt dabei stehenbleiben, ein Mensch habe deshalb Diabetes bekommen, weil er zu viel Süßes gegessen und sich zu wenig bewegt habe. Die Verordnungen, die sich nur darauf beziehen, werden aber wenig helfen, wenn nicht berücksichtigt wird, welche Geschichte, zum Beispiel von Armut, Arbeitslosigkeit und empfundener Sinnlosigkeit, dahintersteht. Oder: Ein Arzt diagnostiziert bei einer Patientin eine Depression, hält dies für eine fest umrissene Krankheit, verursacht durch eine Stoffwechselstörung des Gehirns und verordnet Antidepressiva. Dass die Frau ein chronisches Schlafdefizit hat, da sie morgens um halb fünf aufsteht, Zeitungen austrägt, hinterher putzen geht, um Mann und Kinder zu ernähren, von ihrem Ehegatten terrorisiert wird und außerdem noch eine pflegebedürftige Mutter betreut, kommt bei diesem Verursachungsmodell nicht in den Blick. Oder: Eine alte Frau beschuldigt zunehmend häufig ihre Hausgenossen, dass sie ihr allerlei stehlen: Knöpfe, Sicherheitsnadeln, Taschentücher und Ähnliches. Sie wird immer misstrauischer und zieht sich zurück. Die Diagnose des Psychiaters ist schnell bei der Hand: »Paranoide« d. h. »wahnhafte Entwicklung«. Genaues Hinsehen macht deutlich, dass die Dame vergisst, wie bei alten Menschen häufig, wo sie was hinlegt. Sie ist eine stolze Natur, sie weiß nicht und will nicht wissen, dass eine der Unbillen, die im Strom des Lebens ab einem bestimmtem Alter aufzutauchen pflegen, die Vergesslichkeit ist. Sie will zunächst einen Sinnzusammenhang, der uns allen ja leichter fällt, als das Erkennen der eigenen Schwäche, nämlich die Beschuldigung von anderen. Hilfe kann hier natürlich nicht die Behandlung einer Paranoia bringen, womöglich noch medikamentös, wodurch das Chaos im Kopf der alten Dame sicher komplett würde, sondern nur das Erkennen und Akzeptieren der Vergesslichkeit. Dafür braucht die alte Frau Begleitung und Unterstützung oder im Bild Antonovskys zu bleiben, dafür braucht sie Schwimmunterricht. Psychologische Theorien, können natürlich ebenfalls durch Verabsolutierung von Ursache-Wirkungszusammenhängen zu groben und schädlichen Einseitigkeiten führen, so zum Beispiel das Konzept der schizophrenogenen Mutter, das in den Anfangsstadien der Kommunikations- und Familienforschung Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Schernus: Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie entstand. Auch zahllose psychosomatische Theoriebildungen neigen zu schädlichen zum Teil abstrusen Verabsolutierungen angeblich psychologisch verursachter Krankheiten, so etwa, wenn als Ursache der Migräne eine Orgasmusstörung angenommen wird, und die Migräneanfälle als Orgasmus im Kopf interpretiert werden. Oder wenn verleugnete Feindseligkeit und Unfähigkeit zu Gefühlsausdruck als Ursache von Krebs postuliert wird. Angeblich stichhaltige Untersuchungen zu solch abstrusen Theorien lassen sich immer finden. Susan Sontag beschreibt in ihrem Buch Krankheit als Metapher wie abhängig vom Zeitgeist solche mit der suggestiven Aura von Wissenschaftlichkeit daher kommenden Beschreibungen von Krankheitsursachen sind. Die veränderte Blick- und Fragerichtung, die Antonovsky einnimmt, beruht übrigens nicht auf einem unangefochtenen Optimismus, etwa als typisch amerikanisches »positive thinking«, nein im Gegenteil. Antonovsky, der jüdischer Abstammung ist, sagt von sich selbst: »2000 Jahre jüdische Geschichte, die ihren Höhepunkt in Auschwitz und Treblinka fand, haben bei mir zu einem tiefen Pessimismus in Bezug auf Menschen geführt. Ich bin überzeugt, dass wir uns alle im gefährlichen Fluss des Lebens befinden und niemals sicher am Ufer stehen.« (7) Das Bild des Flusses ist auch insofern bedeutsam, als Antonovsky nicht der Ansicht ist, man könne die Menschen davor bewahren, überhaupt in den Fluss zu geraten. Das würde im Sinne seiner Metapher bedeuten, einem Menschen vor dem Leben selbst bewahren zu wollen. Zunächst noch einige kurze Angaben zur Person Aaron Antonovskys. Er wurde 1923 in Brooklyn geboren. 1994 starb er in Beer-Sheba/Israel. Seine akademische Ausbildung begann mit einem Studium der Geschichte und Wirtschaft an der Yale Universität. Während des Zweiten Weltkriegs diente er aufseiten der Amerikaner. Nach seinem Militärdienst kam er eher zufällig durch eine Nebenverdiensttätigkeit mit der Medizinsoziologie und der Stressforschung in Kontakt. Dies bestimmte seinen weiteren Weg als Medizinsoziologe. Einige Jahre unterrichtete er am Brooklyn College und wurde ab 1956 zum Leiter der Forschungsabteilung des Anti-Diskriminierungsausschusses des Staates New York berufen. Anschließend war er ein Jahr lang Fulbright Professor für Soziologie an der Universität Teheran. 1960 wanderte er mit seiner Frau Helen, einer Entwicklungspsychologin, nach Israel aus. Dort arbeitete er in Jerusalem am Institut für Sozialmedizin. Unter anderem hatte er Anteil an dem Aufbau einer gemeindeorientierten medizinischen Fakultät an der Ben-Gurion-Universität des Negev. (2) Im Zusammenhang mit Stressforschung standen auch seine Studien zur Multiplen Sklerose, koronaren Herzkrankheiten und zur Verarbeitung der Menopause insbesondere bei Frauen, die die KZ der Nazis überlebt hatten. Die Triebfeder seines Denkens und Forschens war das Fragen. So formulierte er: »Die Frage ist der Durchbruch. Wichtige Fortschritte werden mit der Formulierung neuer Fragen erzielt.« (7) Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Es war vor allem das Staunen über das Wunder des Gesundbleibens eines hohen Anteils von Frauen, die die KZ überlebt hatten, das seine Blickrichtung veränderte und ihn neue Fragen stellen ließ. Wie war es möglich, dass es viele dieser Frauen trotz der durchlittenen, unvorstellbaren Qualen geschafft hatten, ihr Leben neu aufzubauen und liebevoll mit Menschen und konstruktiv mit den Anforderungen des Lebens umzugehen, d. h. ein weitgehend gesundes Leben zu führen? Zunächst versuchte Antonovsky eine Antwort, die noch sehr dem Pathogenese-Konzept vepflichtet war: Menschen, die unter erheblichem Stress erkranken, weisen einen Mangel an Widerstandsressourcen auf. Erst allmählich kommt er zu der Anschauung, dass es angemessener ist, nicht von gesund und krank als strikt voneinander unterschiedener Zustände auszugehen, sondern von einem Kontinuum zwischen gesund und krank. Die Frage lautet jetzt für ihn: Was ist es, was es den Menschen gelingen lässt, sich auf diesem Kontinuum mehr in Richtung Gesundheit zu bewegen? 1979 erscheint sein erstes Buch unter dem Titel Health, Stress and Coping. Gesundheit, Anspannung und Bewältigung. Wobei der englische Begriff Stress, der ursprünglich Druck oder Anspannung bedeutet gänzlich in unseren alltäglichen deutschen Sprachgebrauch übergegangen ist und zu einem Sammelbegriff für alle möglichen Belastungsfaktoren geworden ist. Der Begriff Coping wird, zumindest in den Sozialwissenschaften, auch nicht mehr verdeutscht. Er bezeichnet die Art und Weise, wie jemand Krankheit oder andere Belastungsfaktoren zu bewältigen versucht. Der Begriff des Coping steht im Zentrum von Antonovskys Forschungsinteresse. So formuliert er: »Sollte ich die wichtigste Konsequenz des salutogenetischen Denkens in einem Satz zusammenfassen, so würde ich sagen: Salutogenetisches Denken eröffnet nicht nur den Weg, sondern zwingt uns, unsere Energien für die Formulierung und Weiterentwicklung einer Theorie des Coping einzusetzen.« (2) Auch hinsichtlich der Bedeutung von Stress geht es Antonovsky darum, von einer vornehmlich pathogenetischen Sichtweise wegzukommen. Stressoren seien nicht immer Risikofaktoren, die reduziert oder vermieden werden sollten. Sie haben zunächst einmal, jenseits jeder Wertung, einen funktionalen Charakter. Sie mobilisieren Körper und Seele. Ob ein Stressor gesundheitsfördernd oder gesundheitsschädigend wirkt, hängt von vielerlei Komponenten ab. Zum Beispiel kann ein hohes Maß an Stressoren bei gleichzeitig hohem Ausmaß an sozialer Unterstützung gesundheitsfördernd sein. In der Psychiatrie haben etwa ab den 90er-Jahren unter dem Titel Psychoedukation Rückfallprophylaxeprogramme für an Schizophrenie erkrankte Menschen hohe Konjunktur. In ihnen geht es, eigentlich ganz im Sinne Antonovskys, um das Bemühen, Menschen zu einem besseres Coping zu verhelfen, etwa indem sie auf die ersten noch unspezifischen Anzeichen einer neuen Episode zu achten und die Stressoren zu iden- 7 8 Schernus: Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie tifizieren lernen, die zu Psychosen führen können. Solche Programme sind bisweilen nützlich. Jedoch auch sie stehen in der Gefahr, in eher verdeckter Weise doch wieder überwiegend pathogenetisch orientiert zu sein. So habe ich von Psychiatrie-Erfahrenen gelernt, dass sie bereits der Begriff der Psychoedukation stutzig macht. »Bin ich nicht in Ordnung so wie ich bin, muss ich als erwachsener Mensch erzogen werden?« Alle diese Programme beruhen auf dem Verletzlichkeits-Stressmodell. Sie sind insofern defizitorientiert als vor allem die Verletzlichkeit im Blick ist und nicht so sehr die Stärken und Fähigkeiten. Stress wird in diesen Modellen vor allem als Risikofaktor begriffen. Dass Rückfallprophylaxe und das Bestreben, Krankheit auf Biegen und Brechen zu vermeiden, nicht alles sein können, drückt der Psychiater Karl Jaspers, der von Kindheit an durch schwere Bronchiektasien geplagt war, in einer Weise aus, die Antonovskys Auffassung sehr genau entspricht. Jaspers schreibt: »Methodisch absolut zweckmäßige Lebensführung unter medizinischem Gesichtspunkt war unerlässlich. Aber sie hätte das Leben selber unerfüllt gelassen. ... Die Berührung mit der Welt forderte das Risiko von Krankheitszuständen. Der Kranke braucht die Freiheit, die medizinische Ordnung zu durchbrechen. Für die Krankheit zu leben, hebt das Leben selber auf, lässt es in Isolierung und Erfahrungslosigkeit geraten.« (3) Antonovsky hält eine eher pessimistische Weltsicht durchaus für angezeigt. Er meint, die pathogenetische Orientierung verführe zu der zwar opimistischen, aber wenig realistischen Einstellung, im Leben könne man Stressoren aus dem Wege gehen, wenn man sich nur in Acht nehme oder einem psychoedukativen Programm folge. Er hingegen ist der Meinung: »Die eher pessimistische Salutogenese bringt uns dazu, uns auf das umfassende Problem der aktiven Adaption an eine unweigerlich mit Stressoren angefüllte Umgebung zu konzentrieren.« (2) Vermutlich würde er sich von dem polnischen Aphoristiker Jerzey Lec verstanden fühlen, der einmal formulierte: »Ich bin Optimist. Ich glaube an den erlösenden Einfluss des Pessimismus.« Was aber ist nun Antonovskys Antwort? Wie zu erwarten, beruht sie nicht auf der Erforschung von krank machenden Faktoren, sondern auf der Beschäftigung mit Personen, deren Gemeinsamkeit es ist, dass sie trotz erlittener schwerer Traumata erstaunlich gut zurechtkommen. Das, was diese Personen seiner Meinung nach bis zu einem gewissen Grade alle aufwiesen, war eine Lebenshaltung des Vertrauens und zwar Vertrauen darauf, dass die Ereignisse des Lebens verstehbar, handhabbar und sinnhaft sind. Eine Grundorientierung, die das Vertrauen auf Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit dessen, was mir im Leben auch zustoßen mag beinhaltet, ist das was Antonovsky als Sense of Coherence, als Kohärenzgefühl, beschreibt. Hierbei misst er der Dimension der Sinn- und Bedeutungshaftigkeit das größte Gewicht bei und erkennt darin die Ähnlichkeit seiner Gedanken zur Logotherapie Viktor Frankls. Auch für Frankls Konzeptbildungen spielte übrigens das Konzentrationslager, das er selbst überlebt hatte, eine entscheidende Rolle für seinen späteren therapeutischen Ansatz. Bei beiden ist Sinn nicht misszuverstehen als bloß kognitive Erkenntnis. Sinnsuche ist eher prä-reflexiv zu verstehen und hängt mit dem Bedürfnis nach Hingabe an sinnvolle Aufgaben, mit dem Bedürfnis gebraucht zu werden, mit dem Bedürfnis zu lieben und sich selbst vergessen zu können zusammen. Eine der eindrucksvollsten subjektiven Beschreibungen einer solchen Grundorientierung findet sich wiederum bei Karl Jaspers. Er erzählt, dass sein Gymnasialdirektor beim Abschied von der Schule zu ihm gesagt hätte: »Aus Ihnen kann ja nichts werden, da sie organisch krank sind.« Auch bei Jaspers lässt sich ein salutogenetischer Perspektivwechsel ausmachen. Ihn interessiert nicht das Woher der Krankheit, sondern die Frage, die auch Antonovsky umtreibt: »Woher (kommt) die Kraft aus dem Versagen doch ständig wieder zu sich zu kommen? Woher, wie war es möglich, der Würdelosigkeit der Situationen, des Eindrucks auf die Umwelt in schlechten Zeiten und Stunden, des Sinkens unter das eigene ›Niveau‹ innerlich Herr zu werden? Woher das unreflektierte Vertrauen zu einem ›Sinn‹? Stets ergriff ich die Gegenwärtigkeit ohne viel erwarten zu dürfen. Ich lebte für den Augenblick und bezog ihn doch auf etwas Fernes. ... Ich war für meine Person selten enttäuscht, vielmehr überrascht, was mir von innen und außen vergönnt war. Der klare Verzicht auf das wirklich Unmögliche, ließ einen Spielraum, in dem mehr Chancen lagen, als ich vorher denken konnte.« (3) Soweit, zur Veranschaulichung des Kohärenzgefühls, Karl Jaspers. In den Termini von Antonovsky kann man sagen, dass sich Jaspers dank seines ausgeprägten Kohärenzgefühls auf dem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit weit in Richtung Gesundheit bewegen konnte, obgleich die Symptome seiner Krankheit ihn Zeit seines Lebens weiter plagten. Jaspers benennt als Quellen dieser Kraft schlicht den Schutz und die Geborgenheit, die er als Kind durch seine Eltern erfahren habe und die Liebe zu seiner Frau. Was Gesundheit eigentlich sei, hat Antonovsky nie richtig definiert. Deutlich wird bei ihm lediglich, dass Gesundheit nicht die Abwesenheit von Krankheit, Verletzungen und Behinderungen bedeutet, sondern eine Umgangsweise mit alledem; eine Umgangsweise, die die Wahrung der eigenen Würde beinhaltet. Statt einer Definition von Gesundheit lasse ich in diesem Sinn die schwer krebskranke Schriftstellerin Maxie Wander zu Wort kommen. Sie schreibt: »Es sind keine verlorenen Wochen, es ist mein Leben, das ich möglichst ehrlich und intensiv zu leben habe. Ich habe angefangen, meine verschütteten Quellen freizulegen ... einfach das Nächstliegende tun.« (11). ... Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Schernus: Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie »Mir ist, als hätte ich neue Augen mit einem ruhigen, tieferen, zärtlichen und brennenden Blick! Ich empfinde mich als einen Menschen, der in keiner Weise bemitleidenswert ist, jedenfalls nicht von den Lahmen und Blinden.« (11) An einer anderen Stelle schreibt sie: »Ich darf ein paar Tage Leben probieren! Jeden Tropfen Leben werde ich auskosten, ... aber sicherlich hab ich mehr davon als viele andere Menschen, die nicht wissen, was Leben eigentlich ist.« (11) »Was soll ich mit dieser Krankheit machen?«, schreibt sie in ihrem letzten Brief, bevor sie nach einem langen Leiden stirbt. Genau diese Frage, so einfach sie sich anhören mag, ist es, um die es geht. Dies scheint unsere menschliche Möglichkeit zu sein, die Wirklichkeit, so wie sie uns im Fluss des Lebens begegnet, zuzulassen, auch in ihren verletzenden und kränkenden Aspekten. Wir können sie als Herausforderung begreifen und erkennen, dass wir zwar zu weiten Teilen nicht die äußere Gestalt unseres Geschicks bestimmen können, aber die Art, wie wir ihm begegnen. Das salutogenetische Paradigma, so formuliert es die Psychologin Alexa Franke, mache es möglich, den Tod mit einzubeziehen. »Im pathogenetischen Paradigma geht es um die Beseitigung von Krankheit und Leid, der Tod wird ausgespart. Im salutogenetischen Modell jedoch wird nicht nur akzeptiert, dass niemand von uns trockenen Fußes am Ufer des Lebensflusses stehenbleiben kann, sondern auch dass wir alle im Fluss sind und mit ihm ans Ende kommen. Der Tod ist damit nicht letztes Versagen von Reparaturmöglichkeiten, sondern Bestandteil des Lebens.« (5) Es gibt übrigens zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu der Frage, mit welchen als krank geltenden klassischen diagnostischen Kriterien, das Kohärenzgefühl korreliert. Werden Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl weniger krank? Korreliert es also mit dem was gemeinhin unter Gesundheit verstanden wird? Hier zeigte sich nun, dass Personen mit unterschiedlichen organischen Erkrankungen durchaus kein niedrigeres Kohärenzgefühl hatten als Gesunde. Ganz andere Befunde gab es allerdings bei seelischen Erkrankungen. »In zahlreichen Studien wurde ein enger Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit respektive Krankheit und dem SOC (Kohärenzgefühl) festgestellt.« (5) Nun könnte man an dieser Stelle sagen. Das ist ja banal. Das wussten wir auch schon vor den ganzen komplizierten Untersuchungen, dass eine seelische Erkrankung den Lebenssinn verdunkeln, die Sinne verwirren, Kontinuitäten unterbrechen und das Selbstwertgefühl sowie den Glauben an die eigene Kraft erheblich unterwandern kann. Wichtiger als das Feststellen von Korrelationen scheint mir an Antonovskys Ansatz das Loslassen einer auf Defizite und Symptome fixierten Haltung. Dies nun ist ganz besonders wichtig bei seelischen Erkrankungen, denn sie unterliegen zusätzlich zu ihrer subjektiven Komponente gesellschaftlichen Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Vorurteilen, die Genesung sehr erschweren bis unmöglich machen können. Susan Sontag formuliert einmal: »Jede Krankheit, die man als Geheimnis behandelt und heftig genug fürchtet, wird als im moralischen, wenn nicht wörtlichen Sinne ansteckend empfunden. ... Schon dem bloßen Namen solcher Krankheiten wird magische Macht zugeschrieben.« (9) Sontag beschreibt dies in Bezug auf Krebs. Ich glaube auf seelische Erkrankungen zum Beispiel auf den Namen Schizophrenie trifft dies noch mehr zu. Die konsequente Verfolgung der Frage, was einen Menschen ein wenig weiter auf dem Kontinuum in Richtung Gesundheit bewegen kann, ist gerade auf dem von Tabus, Ängsten und Heilungs-Resignation gekennzeichneten Gebiet der seelischen Erkrankungen besonders wichtig. Wenn ich Krankheit lediglich als zu bekämpfende Panne ansehe, und sie nicht aus der Kontinuität einer Lebensgeschichte heraus zu verstehen suche, werde ich womöglich die Integrität der Person selbst bekämpfen, anstatt ihr zu helfen, ihre ganz persönlichen, einmaligen Möglichkeiten des Umgangs mit ihrem Schicksal zu finden. In der Psychiatrie steht Antonovsky allerdings mit seinen Impulsen zu einer veränderten Blickrichtung keineswegs alleine da. Etwa zur gleichen Zeit wie sein Buch Health, Stress and Coping wurden mehrere große Langzeitstudien zum Verlauf der Schizophrenie veröffentlicht, die Studien von Manfred Bleuler (1972) und Ciompi und Müller (19769) sogar etwas früher. Diese Arbeiten haben wesentlich dazu beigetragen, mit dem Mythos der Unheilbarkeit der schizophrenen Psychosen aufzuräumen. Aus ihnen ergaben sich wichtige Hinweise darauf, dass es weder die Diagnosen noch die Symptome sind, aus denen man die Prognose der Krankheit vorhersagen kann, sondern in hohem Maße die sozialen Umstände, die vor der Erkrankung bestanden und/ oder die im Zusammenhang mit der Krankheit entstehen, dass ferner auch die positiven Erwartungen nahestehender Personen höher mit einem positiven Ausgang der Erkrankung korreliert sind als die Diagnosen. Spätere Studien zum Beispiel die von Richard Warner (1998) ergaben unter anderem Hinweise darauf, dass es Zusammenhänge zwischen Wirtschaftskrisen und schlechten Verlaufsdaten gibt. Alles das trug dazu bei, sich mehr darauf zu konzentrieren, wie Gesundheit unterstützt und erhalten werden kann, als darauf, Defizite genau zu katalogisieren und Patienten schlechte Prognosen zu stellen, die wie selbst erfüllende Prophezeiungen wirken und die Betroffenen entmutigen. Konzepte des sog. Empowerment (Ermutigung, insbesondere zu den eigenen Kräften zur Selbsthilfe und zur Selbstbestimmung) und des sog. Recovery (Heilung, Wiederherstellung) wurden in der Psychiatrie zu neuen Devisen. Während Antonovsky mit seinem Salutogenese- Konzept stark auf Forschung ausgerichtet war, sind diese neuen Ansätze für die Psychiatrie insofern wichtig, als sie mehr auf praktische Anwendung hin orientiert sind. 9 10 Schernus: Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie Dass sich etwa seit 1990 immer stärker salutogenetisch orientierte Konzepte im Umgang mit psychisch kranken Menschen Geltung verschaffen, verdankt sich zum großen Teil der Erstarkung der Selbsthilfebewegungen in der Psychiatrie. Noch in den 80er-Jahren hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass Menschen, die an Psychosen oder an Borderline erkrankt waren oder auch die sogenannten Stimmenhörer sich selbst organisieren, untereinander stützen, Vorträge halten, Bücher schreiben, Fortbildungen auch für Professionelle durchführen und für ihre Rechte eintreten können. In Bielefeld zum Beispiel bieten Mitglieder des Vereins PsychiatrieErfahrene unter anderem Beratung für ebenfalls Betroffene an und sie gehen in Schulen, um dort durch Erfahrungsberichte und Informationen an der Überwindung von Vorurteilen mitzuwirken. Den Prozess, der hinführt zu dem Mut, die eigenen Möglichkeiten und Gestaltungsspielräume zu nutzen, bezeichnet man als Empowerment. Gleicherweise bedeutet Empowerment, auf professionelles Handeln bezogen, die Ermutigung zu eben dieser Haltung. Im Sinne Antonovskys lässt sich auch sagen, die Betroffenen entdecken Sinn und Bedeutung in ihrem Leben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlieren die verwirrende und ängstigende Unverständlichkeit und erweisen sich als interpretierbar. Krankengeschichten wandeln sich zu erzählbaren Lebensgeschichten. Das eigene Befinden ist, zumindest in Grenzen, durch die Betroffenen selbst beeinflussbar. Die Abhängigkeit von Diagnosen und Behandlungsvorschlägen von Ärzten und Therapeuten aller Art wird geringer. Damit wären in etwas anderen Worten die drei Säulen des Kohärenzgefühls nach Antonovsky beschrieben. Schaut man sich das Konzept des Recovery, ein ursprünglich in den USA entwickeltes Rehabilitationskonzept, das im Augenblick in der deutschen Sozialpsychiatrie wie eine Neuentdeckung begrüßt wird, etwas näher an, merkt man sofort die Verwandschaft zu Antonovsky. Als wesentliche Elemente des Recoverykonzepts werden z. B. beschrieben: 1. Hoffnung 2. eine positive Identität gewinnen 3. sich von der psychiatrischen Etikettierung lösen 4. Symptome beeinflussen 5. ein Unterstützungssystem aufbauen 6. Sinn und Bedeutung im Leben gewinnen (6) Sehr schöne Beispiele für eben solche heilsamen und heilenden Prozesse aus dem deutschen Sprachraum finden sich in dem von der psychiatrie-erfahrenen Autorin Sibylle Prins herausgegebenen kleinen Buch Vom Glück – Wege aus psychischen Krisen. (8) In diesem beschreiben 26 psychiatrie-erfahrene Menschen, was ihnen ihrer Meinung nach im Laufe ihres Lebens zu neuen Wendungen, zu neuer Kraft oder zur Aussöhnung mit bleibenden Schwierigkeiten oder Behinderungen verholfen habe. Bei manchen haben Medikamente unterstützend gewirkt, bei manchen auch Psychotherapie, bei den meisten jedoch waren es Ereignisse, die sich im Strom des Lebens ergaben wie zum Beispiel wichtige menschliche Begegnungen, Änderungen der Wohnverhältnisse, sportliche Aktivitäten, Engagement in Selbsthilfegruppen, passende Arbeit oder andere sinnerfüllende soziale oder künstlerische Tätigkeiten, bisweilen auch religiöse Erfahrungen oder Meditation. So schreibt zum Beispiel Trudi N.: »Ich bin ... immer wieder ziemlich fassungslos darüber, dass mein neues Leben, Er-Leben einem Riesensammelsurium von schicksalhaften Begegnungen zu verdanken ist, von Glück. ... Dass ich aus dieser ganz furchtbaren Krise herausgekommen bin, ist wirklich eine Verkettung von allen möglichen Umständen. Wo aus unglücklichen Umständen glückliche geworden sind.« (8) Dass Psychotherapie in diesen Erfahrungsberichten zwar eine gewisse Rolle, aber keine Hauptrolle spielt, ist in unserem Zusammenhang insofern interessant, als Antonovsky der Ansicht war, dass die Stärke des Kohärenzgefühl vor allem durch »einschneidende, langfristige lebensverändernde Ereignisse« beeinflussbar sei. »Psychotherapie schien ihm weder langfristig noch einschneidend genug, solche Veränderungen zu bewirken.« (5) Noch etwas ist mir wichtig. Ich knüpfe dafür noch einmal bei Trudi N. an. Sie formuliert: »Ich hatte einfach viel Glück und ich bin hochgradig dankbar dafür – das macht auch demütig. Aber ich habe so viele Menschen gesehen, die davon nicht einen Hauch hatten, die ein ziemliches Desaster erleben müssen.« (8) In diesen Sätzen steckt die Frage: Was ist mit denen, deren Schwimmkünste nicht ausreichen, um im Strom des Lebens mit den Stromschnellen fertig zu werden? Die in Gegenden verschlagen werden, in denen ihnen nicht so viel Glück zustößt wie Trudi N.? Hier scheint eine Gefahr auf, die es bei allen auf Gesundheit, aktive Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gerichteten Konzepten zu berücksichtigen gilt. Die Gefahr, dass Selbstverantwortung und Selbstbestimmung zur Pflicht gemacht werden, dass jeder seines Glückes Schmied zu sein hat. Dabei wird dann vernachlässigt, dass es nicht nur darauf ankommen kann, alle Menschen zu Topschwimmern zu machen, sondern auch erheblich darauf, Flussläufe so zu gestalten, dass es auch unsportlichen Schwimmern oder solchen, die auf Schwimmwesten angewiesen sind, möglich ist durchzukommen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass manche Menschen mit dem selber Schwimmen so schlechte Erfahrungen gemacht haben, dass sie auf alles, was optimistisch und hemdsärmelig als ziel- und erfolgsorientiertes Schwimmtraining daher kommt, allergisch reagieren. Häufig ist es gerade der bewusste Verzicht auf solche Trainingsversuche, der dazu beiträgt, einem Menschen die Möglichkeit zu geben, von sich aus die zu ihm passenden Bewegungsformen und für ihn nützlichen Hilfsmittel zu finden. Wer sich lange aus welchen Gründen auch immer – als Nichtschwimmer definieren musste, für den kann es eine Frage der Selbstachtung sein, bei diesem Thema nicht gleich nachzugeben. Eine Voraussetzung dafür, Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Schernus: Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie andere zum Schwimmen zu ermutigen ist es, selbst mit ins Wasser zu steigen, um sich über Kälte, Untiefen, gefährliche Quallen oder was sonst noch so an gefährlichen Lebewesen im Fluss schwimmt zu orientieren. Wer sich als Schwimmlehrer betätigen will, muss viel Zeit und Geduld mitbringen und auch akzeptieren können, dass mancher sich mit bloßem Plantschen im Fluss und viel Herumliegen am Ufer begnügen möchte. Denn wie schon Immanuel Kant 1783 in einem Brief an Moses Mendelson feststellte: »Jeder Mensch hat seine besondere Art gesund zu sein, an der er ohne Gefahr nichts ändern darf.« (10) Außerdem ist es für manche Menschen viel besser, wenn sie nicht im Hauptstrom mitschwimmen müssen, sondern sich auf verschlungenen Seitenarmen langsam in ihrem ganz eigenen Tempo fortbewegen können. Es ist wichtig, sie darin zu ermutigen, dass sie auch auf diese, ihre eigene Weise ankommen können und so vielleicht viel mehr von den Schönheiten der Landschaft mitbekommen. Auch von einigen gut ausgestatteten Rettungsboten sollten wir uns meiner Meinung nicht ganz verabschieden. Nun will ich aber diese Fluss- und Schwimmmetaphern verlassen und etwas ziemlich Banales zum Schluss sagen. Salutogenese, Empowerment, Recovery – solche und ähnliche Worte klingen sehr Respekt einflößend. Das macht vielleicht nichts, denn dadurch wird man neugierig und fragt sich, was mag an Geheimnissen dahinter stecken. Beschäftigt man sich damit, lassen sich gewendete Sichtweisen, neue Anstöße, Ideen, Handlungsimpulse gewinnen. Irgendwann jedoch entdecken wir auch, dass das Wichtigste bei alledem etwas ist, das wir eigentlich immer schon wissen, und das uns dennoch im Alltag, auch und gerade im Alltag der helfenden Berufe, immer wieder verloren zu gehen droht. Dieses Wichtigste ist die Erkenntnis, dass das was uns selbst und den Menschen, die wir lieben, guttut, was wir unseren Verwandten und Freunden wünschen, dass dies allen Menschen guttut, seien sie nun körperlich oder psychisch krank. Es lohnt sich, solche Neuentdeckungen des Selbstverständlichen immer wieder als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie zu nutzen. Allerdings sind wir durch diese sehr allgemeine Erkenntnis nicht von der Aufmerksamkeit für Differenzen entlastet, für Unterschiede zwischen meiner Geschichte und deiner Geschichte, zwischen meiner sozialen Herkunft und der deinigen, zwischen meiner Begabung und deiner Begabung, zwischen meinen Gebrechen und deinen Gebrechen, zwischen meiner Physiologie und deiner Physiologie. Jede Person in ihrer Besonderheit wahrnehmen können und unseren Umgang von dieser Besonderheit bestimmen lassen – das muss dazukommen. Anmerkung 1 Leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 29.02.08 beim Institut für Kirche und Gesellschaft Iserlohn – Haus Villigst Schwerte Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Literatur 1 AMERING M, SCHMOLKE M (2007) Recovery – Das Ende der Unheilbarkeit. Bonn 2 ANTONOVSKY A (1997) Salutogenese –Zur Emystifizierung der Gesundheit. Tübingen, S. 13 ff., 27, 30 3 CERMAK I (1991) Klagelied und Freudenhymne – Begegnungen mit der Krankheit in Selbstzeugnissen schöpferischer Menschen. Frankfurt/Berlin, S. 52 ff. 4 FRANKL VE (1994) Logotherapie und Existenzanalyse., München 5 FRANKE A (1997) Zum Stand der konzeptionellen und empirischen Entwicklung des Salutogeneskonzepts. In ANTONOVSKY A Salutogenese –Zur Emystifizierung der Gesundheit. Tübingen, S. 181, 182, 190 6 KNUF A (2007) Vom demoralisierenden Pessimismus zum vernünftigen Optimismus – Eine Annäherung an das Recovery-Konzept. www.beratung-und-fortbildung.de 7 LAMPRECHT F, JOHNEN R (Hg.) (1994) Salutogenese – ein neues Konzept in der Psychosomatik. Frankfurt, S. 63, 64 8 PRINS S (2003) Vom Glück – Wege aus psychischen Krisen. Bonn, S. 7 9 Sontag, S (1996) Krankheit als Metapher. Frankfurt, S. 7, 8 10 THOMA D (2000) Zweitausend zierliche Zitate. München 11 WANDER M (1981) Leben wär‘ eine prima Alternative – Tagebuchaufzeichnungen und Briefe. Darmstadt, S. 58, 33, 41) Anschrift der Verfasserin Renate Schernus Bohnenbachweg 15 33617 Bielefeld www.renate-schernus.kultursrver-nrw.de 11 12 Die Forderung tagesklinischer Arbeit Christian Maier Denkt man als Supervisor laut über die eigene Tätigkeit nach, besteht zunächst das Problem der Diskretion, der beruflichen Schweigepflicht, in einem Maße, das die diesbezügliche Problematik in einer Einzelpraxis weit übersteigt, hat man nicht nur Patienten, sondern auch Mitarbeiter und zudem meist auch noch eine klinische Institution zu schützen. Wie kann man das lösen? Vielleicht nach Art eines Aufsatzes in guter psychiatrischer Tradition, heißt: so konsequent am Thema vorbeischreiben, dass sich kein Leser irgendetwas Konkretes vorstellen kann, oder auch, das Thema so gezielt verfehlen, dass gerade noch im Umkehrschluss eine Ahnung von dem aufkommen könnte, worum es dem Autor geht. Schon lange hatte ich mir vorgenommen, über die Forderung tagesklinischer Arbeit zu schreiben, ein Vorhaben, das zu verwirklichen ein rundes Jubiläum einer tagesklinischen Einrichtung, in der ich Supervisor bin, den Ausschlag gab. Meine Absicht ist es, etwas über die Belastungen tagesklinischer Arbeit mitzuteilen, Belastungen persönlicher, emotionaler Art, die keinen Mitarbeiter ausnehmen, weil sie tagesklinischer Arbeit prinzipiell eigen sind. Die Perspektive aus der dies geschieht, bleibt die des Supervisors, eine Funktion, in der ich schon in verschiedenen tagesklinischen Einrichtungen tätig war und immer noch bin. Ein Supervisor ist eine Person mit einer Ausbildung, die er auf der Basis eines Berufs in irgendeinem psychosozialen Feld erworben hat und der – von außen kommend – in regelmäßigen Abständen in eine Einrichtung wie die Tagesklinik kommt, um dort Supervision anzubieten. Aber was ist Supervision? Jedenfalls nicht das, wofür ein schizophrener Patient in Bern es hielt, als ich ihm auf seine Frage hin sagte, wohin wir, das Team der Station und ich, gerade gingen: »Zur Supervision«, wiederholte er, »ihr habt es gut, ihr häns guat«, sagte er in breitem Berndütsch, »I wart schon seit Jahra auf eine Vision, die wirklich super isch!« Ich habe ihm die folgende trockene Definition erspart: Supervision definiert sich durch das Dreieck Mitarbeiter, Arbeitsauftrag und Institution und hat als Aufgabe, das Zusammenwirken dieser drei Faktoren zu untersuchen und aus dem gewonnenen Verständnis Handlungskonsequenzen zu erarbeiten, die den Patienten, den Mitarbeitern und der Institution zugutekommen (s. a. Pühl 1998). Methoden der Supervision gibt es viele, meine ist die angewandte Psychoanalyse. Was das heißt, will ich demonstrieren an einer Episode, die ich für den geeigneten Einstieg in mein Thema ›die Forderung tagesklinischer Arbeit‹ halte. Die Episode fand im ersten Jahr des Bestehens der Tagesklinik statt. Ich kam wie gewöhnlich eines Mittwochs in den Raum für das Pflegeteam, ein Zimmer, das auch als Aufenthaltsraum, Besprechungsraum, Raucherzimmer und Küche genutzt wurde, ein paar Minuten zu früh, sodass es gerade noch für einen Kaffee reichte, setzte mich an den Tisch, belangloser Smalltalk, bis jemand aus dem Team sich an mich wandte, um mir – anscheinend völlig aus dem Zusammenhang gerissen, hatte man sich untereinander doch noch um anscheinend nebensächliche Belange der Tagesklinik gekümmert – der Mitarbeiter wandte sich also an mich, um mir einen Witz zu erzählen, was mich sofort hellhörig machte. Dieses Teammitglied beging eine grobe Unvorsichtigkeit, hätte er doch wissen müssen, dass ein Psychoanalytiker eine solche Vorlage nicht ungenutzt lässt. Leider muss ich den Witz wiedergeben – leider deshalb, weil ich Witze nicht gut erinnere, ich es dieses Mal aber tun muss, damit der Leser meine Gedankengänge nachvollziehen kann, mögen sie ihm auch noch so verschroben vorkommen. Für den Psychoanalytiker ist der Witz deshalb von Interesse, weil sich darüber Unbewusstes kundtut. Darin ist der Witz ein Verwandter des Traums. Der unbewusste Gedanke, der nicht wahrgenommen werden darf, also verdrängt wurde, aber weiterhin nach Bewusstwerdung drängt, kann erst nach entsprechender Verarbeitung in veränderter Form, damit unkenntlich gemacht, in Gestalt des Witzes wieder auftauchen. Jetzt der Witz – es lässt sich nicht länger vermeiden, auch wenn mit der Pointe irgendetwas nicht stimmen kann, wahrscheinlich habe ich etwas für den Witz Wesentliches vergessen und nur das mir Wichtige behalten, nur das, was ich zur Interpretation brauchte. Also jetzt wirklich der Witz, den man mir im Team erzählte: »Jesus hängt am Kreuz und jammert, was das Zeug hält, wegen der Schmerzen natürlich. Petrus, der sich gerade umgesehen hatte, ruft ihm hastig zu: ›Jesus, reiß dich zusammen, Touristen kommen!‹.« Für einen Psychoanalytiker ist es von Vorteil, wenn er leicht paranoid veranlagt ist, geht es ihm dann doch leicht von der Hand, etwas von dem, was andere sagen, auf sich zu beziehen. Der Tourist ist jemand, der sich etwas Fremdes anschaut, es aus Neugier und vielleicht sogar zur eigenen Erbauung besichtigt, eine ganz klare Rollenbeschreibung, die auf den von außen kommenden Supervisor gemünzt war. Dann war der Witz folglich als Warnung gemeint – aber wer sollte gewarnt werden und wovor? Der Warner ist bekannt – im Witz ist es Petrus, in der Raucherstube der Witzerzähler, der Mitarbeiter der Tagesklinik, der dann auch noch – welch Luxus für die Interpretation – den Vornamen Peter trug. Warum musste vor dem Supervisor gewarnt werden und worauf bezog sich die Warnung, tja und wer sollte überhaupt gewarnt werden? Viele Wahlmöglichkeiten ließ der Witz nicht: es sollte nicht gejammert werden, wegen der Schmerzen, dem Kreuz, das man täglich zu tragen auf sich genommen hatte, man wollte das professionelle Bild des Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Maier: Die Forderung tagesklinischer Arbeit gelassenen Helfers nicht beschädigen. Jesus vertrat also das gesamte Team der noch jungen Tagesklinik. Die vollständige Übersetzung der Botschaft des Witzes lautet demnach: ›He Leute, reißt euch zusammen, lasst euch ja nicht einfallen, vor dem Supervisor zu jammern, der soll nicht merken, dass wir auf dem Zahnfleisch gehen.‹ Identifikationen mit einem großen Heiler oder gar unbewusstes messianisches Sendungsbewusstsein sind in der Psychiatrie nicht selten. Kernberg, der wohl einflussreichste klinische Psychotherapeut der letzten Jahrzehnte, spricht nicht von ungefähr vom »heiligen Therapeuten«, der in seinem Beruf das Motto lebt, frei nach Matthäus 12: ›Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid‹, und der darüber immer wieder in Überforderungssituationen landet, die ihn so aushöhlen, dass er in seiner Haltung irgendwann schließlich einbricht. Dass passte nun aber eigentlich gar nicht auf die infrage stehenden Mitarbeiter, ich muss aber zugeben, dass ich damals dazu neigte, den Witz doch auf ein überzogen interpretiertes Rollenverständnis als Helfer zu beziehen, weil mir da meine Erfahrungen, auch aus der Kenntnis anderer tagesklinischer Einrichtungen, noch nicht zur Verfügung standen. Seitdem hat sich mein Verständnis, was die speziellen Anforderungen tagesklinischer Arbeit angeht, gewandelt, ein Verständnis, zu dem ich einen Hinweis, wenn auch einen verschlüsselten, bereits in der Witzepisode hätte auffinden können. Es gibt nämlich eine – so wie ich es heute erst verstehen kann – ganz spezifische Anforderung, die sich auf die interpersonale Dynamik in einem Team einer Tagesklinik niederschlägt, in einem charakteristischen Phänomen des Miteinanders. Um diese spezifische Forderung geht es in meinen Ausführungen, für deren Darstellung ich einen Umweg über eine Schilderung aus der klinischen Arbeit benötige, um den Unterschied beider Behandlungsmodelle herauszuarbeiten. Ich wähle ein vollklinisches Setting aus, wo eine Behandlung mit Psychopharmaka keine Rolle spielte, bei der es ein einziges Behandlungsmittel gab – die therapeutische Beziehung, das menschliche Band zwischen Patient und Betreuern. Dass die therapeutische Beziehung mit das wesentlichste Medium einer Behandlung von seelischen Erkrankungen ist, gehört zu dem Basiswissen zahlloser sozialpsychiatrischer Einrichtungen und gehört auch zu den grundlegenden Überzeugungen der tagesklinischen Einrichtungen, in denen ich als Supervisor tätig war und bin. Es ist eine der vielen Verrücktheiten in der Psychiatrie, dass die Grundannahme, die therapeutische Beziehung sei ein bedeutender Faktor in der psychiatrischen Behandlung, von den Mitarbeitern, die mit den Patienten unmittelbar arbeiten, vertreten und gelebt wird, während mit zunehmendem Abstand vom Patientenkontakt diese Erfahrung immer mehr »vergessen« wird, schlussendlich so gründlich, dass sie als Wissensstoff in den Lehrbüchern der Psychiatrie kaum noch auftaucht. Je seltener der Patientenkontakt, umso geringer Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 das Ansehen der therapeutischen Beziehung und umso größer die Entwertung der direkten Arbeit mit den Patienten. Um eine spezifische Herausforderung tagesklinischer Arbeit zur Darstellung zu bringen, wird der Umweg, den ich dem Leser zumuten werde, doch recht beachtlich sein. Das klinische Modell, das ich zum Vergleich mit der tagesklinischen Arbeit heranziehe, ist die »Soteria« in Bern, eine milieutherapeutische Einrichtung, die ich über Jahre als Oberarzt geleitet habe, ein Modellprojekt, in dem junge Schizophrene allein beziehungstherapeutisch behandelt wurden, geleitet von dem Gedanken ihres Gründers Luc Ciompi, der die Behandlung von schizophrenen Patienten in der Soteria mit dem Eingehen einer Mutter auf ihr aus einem Albtraum erwachtes und danach immer noch verstörtes Kind verglich. Entgegen der Erwartung der an diesem Forschungsprojekt Beteiligten erwies es sich nicht als die schwierigste Aufgabe, die floride Psychose zurückzudrängen, sondern die Wiedereingliederung am sozialen Ort der Patienten, verbunden mit der Ablösung von der Soteria und den Betreuern, diese Schritte stellten die höchste Hürde dar. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: eine junge Patientin, ich nenne sie hier Verena, s’Vreni, wie es auf Berndütsch heißt, s’Vreni hatte sich nach anfänglichem Sträuben sehr auf die Beziehung zu den Betreuern eingelassen hatte, und es fiel ihr dann recht schwer, die entscheidenden Schritte weg von den Betreuern zu tun, was ihr aber dann doch zusehends gelang, nachdem sie sich eine Ratte zugelegt hatte, die sie ständig an ihrem Körper trug und die in ihren weiten Kleidern verschwand und da und dort, am Kragen oder an den Ärmeln oder auch an anderen Orten, überraschend auftauchte, ein merkwürdiges Tier, das dazu beitrug, dass auch wir im Betreuerteam als Erste eine etwas deutlicher markierte emotionale Distanz zu Vreni einnahmen, allein schon deshalb, weil sich der eine oder andere vor der Ratte ekelte. Es war ganz offensichtlich, dass für Vreni die Ratte eine ähnliche Funktion hatte wie ein Stofftier, beispielsweise ein Teddy für ein Kind, das sich darüber über das Alleinsein und die Trennung von der Mutter hinwegtröstet. Objekte, die eine solche Funktion übernehmen können, nennt man Übergangsobjekte, eine Bezeichnung, die auf den englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker R. D. Winnicott zurückgeht. Für Vreni war also Omega, so hieß die Ratte, ein solches Übergangsobjekt, das aber dann doch nicht hinreichend stützend für eine weitergehende Autonomie war, was wir daran erkannten, dass Vreni die Soteria erst dann verließ, als sie eine kleine Wohnung fand, die der Soteria schräg gegenüber lag und von der aus sie ohne Schwierigkeit in unser gemeinsames Esszimmer blicken konnte. Rückblickend war zu erkennen, dass das Konzept der Soteria aufgegangen war, psychotische Ängste über eine stützende betreuerische Begleitung aufzufangen, dass wir aber unterschätzt hatten, welch große Bedeutung die Betreuer und auch das Haus als Symbol für die Gemeinschaft gerade dann bekamen, wenn dieses Konzept tatsächlich funktionierte – der Patient muss- 13 14 Maier: Die Forderung tagesklinischer Arbeit te sich schließlich wieder aus diesem Beziehungsgeflecht lösen, als Entwicklungsschritt die Neuauflage einer frühen lebensgeschichtlichen Erfahrung, die mit großen Ängsten und schmerzlichen Gefühlen verbunden ist, aber auch mit der Chance auf eine tief greifende korrigierende emotionale Erfahrung – Trennung als Aufgabe und Entwicklungsmöglichkeit. Warum trennt man sich? Schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, die erlebnismäßigen Voraussetzungen einer Trennung kurz und bündig darzustellen, diese hochkomplexe emotionale Gemengenlage auf einen Nenner zu bringen, jedoch ist der Versuch einer verallgemeinernden Darstellung für die Zwecke dieses Aufsatzes unumgänglich. Am ehesten passt, dass derjenige, der sich trennt, in einer bestimmten Beziehungskonstellation nicht mehr die Zufriedenheit findet (oder nicht mehr zu finden meint), die er für sich als notwendig erachtet. Oder auch: man trennt sich, erstens wenn eine Beziehung in ihren Gesamtbedingungen, ihrer Konstellation oder eine identifizierbare Lebenssituation als unbefriedigend erlebt wird, über eine geraume Zeit hin, bis schließlich die Hoffnung erlischt, die wesentlichen Bedingungen könnten sich doch noch zum Besseren wenden, oder zweitens, man trennt sich dann, wenn das, was man in einer Beziehung erhält, mit zu viel Schmerz und dem Auf-sich-Nehmen von Unlust erkauft werden muss. Trennungswünsche treten also dann auf, wenn man das, was man in einer Beziehung oder einer Lebenssituation erhofft hat, nicht mehr zu finden hofft, wenn man realisiert, dass man einer Täuschung aufgesessen war oder ist, man wird »ent-täuscht« und die Anerkennung der Enttäuschungen ruft die Trennungswünsche wach. Was aber hindert einen, sich zu trennen? Die Angst, man könnte etwas ganz Wichtiges verlieren, einen nahestehenden Menschen beispielsweise oder etwas anderes Bedeutsames, z. B. die soziale Stellung, und wäre dann – in der einen oder anderen Weise – auf sich alleine gestellt. Trennungsangst war es auch, die Vreni bedrängte, ihr zu schaffen machte, eine Angst, die sie auch mittels Omega in Zaum zu halten und zu bewältigen versuchte, auch darüber, dass sie sich ihrer Fortschritte immer sicherer wurde, eine Angst, die aber noch lange Zeit weiterhin so stark war, dass sie den Blickkontakt mit der Soteria benötigte. Die Fähigkeit, sich zu trennen, hängt folglich damit zusammen, inwieweit die Angst, alleine zu sein und aus einer bedeutsamen Beziehungserfahrung ausgeschlossen zu sein, ertragen werden kann. Dieses Beispiel aus ferner Zeit zeigt, wie sehr sich lebensgeschichtlich frühe Ängste und ehemals kindliche Gefühle auch in den Beziehungen zu Mitarbeitern einer psychiatrischen Einrichtung und eben auch zu der Einrichtung als solcher entfalten – Letzteres gerade dann, wenn die emotionale Abhängigkeit zu einem Menschen als überaus Angst machend erfahrend wird. Das Haus mit seinen Bewohnern, Betreuer wie Patienten, die gesamte Soteria also, war zu einem Übergangsobjekt geworden und hatte diese Funktion auch noch, nachdem Vreni die Einrichtung verlassen hatte. Das Beziehungsmuster folgt auch hier dem Modell der kindlichen Entwicklung: Einerseits hatte die Soteria – und das war von Anfang an Konzept gewesen – eine mütterlich beruhigende Funktion, andererseits war eine erfolgreiche Behandlung der schizophrenen Psychosen nur zu erreichen, wenn es gelang, die Fähigkeiten der Patienten zu verbessern, sich zu trennen, ausgeschlossen zu sein, oder für sich alleine zu sein, und nicht zuletzt: für sich zu sorgen. Es ging also darum, Eigenständigkeit auf den unterschiedlichsten seelischen Funktionsebenen zu verbessern. Die Ausbildung dieser psychischen Fähigkeiten ist entwicklungspsychologisch späteren Phasen der menschlichen Entwicklung zuzurechnen – also eindeutig später zu orten als das von Ciompi konzipierte Modell für die Soteria, das darauf beruht, dass der Patient sich gleichsam in die Arme einer von einem wohlwollenden Team vertretenen Einrichtung fallen lassen kann und sich ihr vertrauensvoll überlässt, während aktive Bestrebungen, die auf Eigenständigkeit abzielen, zurückgestellt werden. Im Unterschied dazu ist Trennung nur unter der Voraussetzung möglich, dass sich die intrapsychische Autonomie entfalten kann, dass es zu einer Abgrenzung und zu einer Abwendung des Subjekts kommt – entwicklungspsychologisch, in der frühen Kindheit, zu einer Loslösung von der Mutter, später, in der zweiten entwicklungspsychologischen Chance der Adoleszenz, zu deren Ende hin, zu einer schrittweisen Ablösung von der Familie, und unter den Bedingungen psychiatrischer oder auch psychotherapeutischer Behandlungen, zu einer Abwendung von der Institution. Aber diese Formen von Trennung, die entwicklungspsychologischen und die therapeutischen, folgen nicht einem linearen Modell, sondern sie resultieren aus komplexen Vorgängen von Differenzierung, Distanzierung, Wiederannäherung, erneuter Abwendung und so fort, ein zwischen diesen Bewegungen oszillierender Prozess, der gekennzeichnet ist durch Ängste, hohe Ambivalenz, Trennungskämpfe, sich hochschaukelnde Aggressionen bis hin zu schier unerträglicher Feindseligkeit – Eltern mit Erfahrung aus den trotzigen Autonomiekämpfen kleiner wie adoleszenter Kinder werden das bestätigen, ebenso Mitarbeiter psychiatrischer Institutionen, und gerade die Mitarbeiter tagesklinischer Einrichtungen, denn dort in der Tagesklinik spielt sich täglich ab, was Entwicklungspsychologen für die frühe menschliche Entwicklung beschrieben haben: »Es ist eine zwiespältige Erfahrung von enormer Tragweite für die Entwicklung, wenn das Kind beweist, dass es ohne die Mutter und doch nicht ohne sie zurechtkommt, und die Mutter beweist, dass sie es allein laufen lassen kann und doch nicht kann.« (Anthony 1971, in Mahler et al. 1975, S. 263) Für den Patienten einer Tagesklinik besteht dann diese ganz besondere Situation des Angewiesen-Seins auf eine psychiatrische Institution, verbunden mit dem Anspruch, den größten Teil eines Tages dann doch alleine zu meistern, diese ganz spezielle Behandlungskonstellation schafft eine höchst schwierige affektive Gemengenlage, in denen Abhängigkeitswün- Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Maier: Die Forderung tagesklinischer Arbeit sche mit Verlustängsten einerseits mit Ansprüchen, die den Selbstwert stabilisierende Eigenständigkeit einfordern und Ängste vor Abhängigkeit und Fremdkontrolle andererseits derart aufeinanderprallen, dass die daraus ergebende erhöhte Ambivalenzspannung sich regelhaft Ausdruck verschafft in untergründigem Ressentiment und Entwertungen den Behandlern gegenüber, gelegentlich sogar in offener Ablehnung oder auch Feindseligkeit. Konflikte um Abhängigkeit und Autonomie werden in einem tagesklinischen Setting ständig aktualisiert, weil sie über den täglichen Wechsel von Annäherung, Sich-Einlassen auf und Vertiefung von Beziehungen – zu Betreuern wie Mitpatienten – sowie Trennung und Verlassenwerden immer wieder eine entsprechende Bühne und damit die Gelegenheit zur Neuauflage finden. Inhaltlich dominieren deshalb in der Supervision Themen um Verlust, Trennung und Autonomie sowohl bei den Patienten wie in den Teamgesprächen, und damit natürlich die daraus sich ergebenden Probleme, denn es liegt auf der Hand: wer Angst vor Trennung und Verlust hat, dem fällt es schwer, Grenzen zu ziehen. Um die ganz speziellen Anforderungen darzustellen, die sich für die Menschen ergeben, die in einer tagesklinischen Einrichtung arbeiten, werde ich ein letztes Mal nach Bern zurückkehren. Dem damaligen Konzept entsprechend lebte jeder Betreuer jeweils 48 Stunden am Stück mit den Patienten zusammen in der Soteria. Wenn die Betreuer nach zwei Tagen Dienst nach Hause gingen, zu Fuß den nicht allzu langen Weg von der Soteria zum Hauptbahnhof zurücklegten, kam ihnen nicht selten dieser Weg, die Strecke, die Häuser, ja sogar die Menschen verändert vor, so als wäre das Bern, in das sie wieder eintraten, nicht mehr das gleiche wie noch zwei Tage zuvor. Dieses Erleben von Entfremdung, das sich meist am Bahnhof verflüchtigte, ist ein psychopathologisches Phänomen, genannt Derealisation, das bekanntermaßen während einer Psychose auftreten kann und das hier eine wesentliche Facette der Beziehungsarbeit in der Soteria aufdeckte: die Betreuer hatten, indem sie sich mit ihrer ganzen Person auf die psychotischen Patienten eingelassen hatten, tatsächlich, so wie von Ciompi gefordert, die unerträglichen Gefühlsinhalte, die den Patienten in die Psychose trieben, in sich aufgenommen, gleichsam aufgesogen, und diese psychosenahen Gefühlserlebnisse tauchten auf, wenn bei einem Betreuer die Entspannung eintrat, auf dem Weg in die Stadt, was dann möglich war, weil er die Patienten in der Obhut seiner Kollegen wusste. Über seelischen Kanäle, die noch auf keiner psychiatrischen Landkarte eingetragen sind, weiße Flecken unseres Wissens über die Möglichkeiten menschlicher Seelen zu kommunizieren und sich auszutauschen, verläuft all das, was man in der Psychiatrie Beziehungsarbeit und darüber hinaus Psychotherapie nennt, alles professionelle Behandlungsmethoden, die aber nicht ohne Auswirkung auf die Behandler und deren Gesundheit bleiben. Aus meiner Supervisionstätigkeit mit in eigener Praxis tätigen Psychiatern, Psychotherapeuten und Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Psychoanalytikern weiß ich, dass nicht wenige der Kollegen psychosomatisch oder anderweitig seelisch erkranken, und zwar in einem Kontext, der die Schlussfolgerung nahelegt, ihre berufliche Tätigkeit, die intensive Arbeit mit den Patienten sei zu einem nicht geringen Anteil daran beteiligt – ein Sachverhalt, der meines Erachtens zu einer längst fälligen Diskussion nötigt, die aber in institutionellem Rahmen wegen versicherungs- und arbeitsrechtlicher Konsequenzen wahrscheinlich noch stärker tabuisiert ist. Tagesklinik bedeutet für Patienten wie Betreuer tagtägliches Aufeinanderzugehen und Sich-wieder-Trennen. In dieser Inszenierung von ständig wechselnder Nähe und Distanz liegt die besondere Forderung, gleicht tagesklinische Arbeit einem Tanz auf glattem Parkett – mit zahlreichen kritischen Stellen. Je gefährdeter nämlich die innerseelische Autonomie eines Patienten ist, je größer seine Angst vor Abhängigkeit, umso stärker neigt ein solcher Patient dazu, das Abwesende, all das, was sich außerhalb, oder besser noch fernab der Tagesklinik befindet, als gut und ideal zu erleben, während Abwertung und Ressentiment den anwesenden Betreuern vorbehalten bleiben, eine Modus des Agierens und Erlebens, das Verlust- und Trennungsängste unter Kontrolle zu halten vermag. Selbst wenn sie nicht auf die Betreuer gerichtet werden, so touchieren die aus Autonomie-Abhängigkeits- oder Rivalitätskonflikten herrührenden aggressiven Spannungen die Mitarbeiter. Hinzu kommt der Ärger, der Enttäuschungen, vermeintlichen oder tatsächlichen, entstammt, die Patienten in der Tagesklinik erleben. Die größte Enttäuschung ist die, dass die Patienten in der Tagesklinik, wie in jeder anderen Therapie auch, nicht das bekommen, was sie dem eigenen Erleben nach dringend bräuchten – im besten Falle erhalten sie nämlich nur ein gute Therapie, aber nicht das, was ihnen das Leben vorenthält oder genommen hat. Der psychiatrische Mitarbeiter einer Tagesklinik befindet sich also in einem ständigen Spannungsfeld, in dem die aus vielfältigen Quellen stammenden Ängste und aggressiven Regungen eine ständige untergründige Strömung bilden, eine Gegebenheit, die sich im Stil des Umgangs miteinander niederschlägt, was sich auch in der Supervision immer wieder aufs neue zeigt: als Konsequenz darauf, als Reaktion auf das aggressive Spannungsfeld, gehen Mitarbeiter einer Tagesklinik besonders vorsichtig miteinander um, versichern sich ständig ihrer gegenseitigen Loyalität, und das in einem noch stärkeren Maße, als es sonst schon in psychiatrischen Einrichtungen üblich ist. Mir ist dieser Sachverhalt, der Hintergrund von Schwierigkeiten, wie beispielsweise untereinander Kritik zu üben und konsequenterweise auch einmal das Wagnis eines Konflikts zu riskieren, erst nach mehreren Jahren Erfahrung an verschiedenen tagesklinischen Einrichtungen aufgegangen. Bis dahin hatte ich mir dieses Phänomen, die fast schon obligatorische aggressive Hemmung der in der Psychiatrie Tätigen als Anpassungsvorgang erklärt, als Identifizierung mit der Rolle des Helfers, und auch über eine Selektion durch die Wahl des Berufs: nur wer andere Menschen verstehen und 15 16 Maier: Die Forderung tagesklinischer Arbeit sich in sie einfühlen will, wählt die Psychiatrie, Menschen also, die das Miteinander dem Konkurrenzkampf vorziehen, oft schon deshalb, weil es ihnen nicht liegt, die Ellenbogen einzusetzen, Voraussetzungen, die, was ökonomischen Erfolg oder Karriere angeht, meist wenig günstig sind. Aber auch unter den Mitarbeitern in einer psychiatrischen Klinik gibt es, was die Verarbeitung von Aggressionen betrifft, deutliche Unterschiede, die sich überspitzt wie folgt formulieren lassen: Je weiter entfernt ein Mitarbeiter von der direkten psychiatrischen Arbeit ist, je seltener seine Kontakte mit Patienten sind, umso geringer ist seine Neigung zur Zurückhaltung, was die äußere Konfliktbereitschaft angeht. In dieser Verteilung schlägt sich nicht nur ein Selektionsvorgang nieder, sondern sie ist auch Ausdruck einer der therapeutischen Tätigkeit immanenten Notwendigkeit: wenn man zwangsläufig, um beim Patienten Fortschritte zu ermöglichen, dessen Spannungen – zumindest partiell – teilt, so ist es umso wichtiger, dass man sich im Team untereinander schont und sich nicht zu viel an emotionalen Belastungen zumutet. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich begriffen hatte, wie sehr gerade die tagesklinische Arbeit auf das behutsame wechselseitige Eingehen ihrer Mitarbeiter angewiesen ist. All das hatte der Erzähler des Jesus-Touristen-Witzes bereits erkannt, wahrscheinlich ohne von dieser Kenntnis gewusst zu haben, spricht der Witz doch vom Leiden, das man auf sich nimmt, letztlich also vom Insich-Aufnehmen der seelischen Anspannungen anderer, eine Aufgabe, manchmal vielleicht sogar ein Kreuz, das einem die tagesklinische Arbeit aufbürdet – und wer wollte klagen oder hätte gar die Zeit dazu? Selbstverständlich karikiert die Bildersprache des Witzes die Last der Verantwortung, die damals, kurz nach dem Start der Tagesklinik, von den Mitarbeitern noch akzentuierter gespürt wurde, war ihnen doch der Vergleich mit der vollstationären Arbeitsbelastung noch viel präsenter, damit auch die Erinnerung an ein unbeschwerteres Verlassen des Arbeitsplatzes, ganz ähnlich den Betreuern der Soteria, während in der Tagesklinik die Mitarbeiter das Vertrauen haben müssen, oft mit Sorgen und Bangen vermischt, ob der Patient am nächsten Tag wieder erscheinen werde, ohne dass etwas Besorgniserregendes, vielleicht gar noch Schlimmeres, passierte – man lässt in der Tagesklinik den Patienten nach Hause gehen, nicht selten im Bewusstsein, dass der Patient bei Weitem noch nicht die Fähigkeit erworben hat, für sich alleine zu sein. Die Konstellation des Ausgeschlossenseins und die damit einhergehenden Gefühlserlebnisse von Hilflosigkeit und Ohnmacht erfassen nun die Mitarbeiter und der optimale Funktionslevel des Teams vermeidet Überängstlichkeit und Sorglosigkeit, um die Trennungsproblematik nicht weiter anzufachen, insgesamt ein abgestimmtes seelisches Funktionieren innerhalb eines menschlichen Netzwerks, dessen Basis das Team darstellt, komplexe Vorgänge, die über Verinnerlichungsprozesse dazu führen, dass ein Patient nun seinerseits Ausgeschlossensein, Trennung und Verlust besser ertragen kann. Wenn ständig von Trennung, Verlust, Ausgeschlossensein und Autonomie die Rede ist, und von der Fähigkeit, alleine zu sein, mag man sich fragen, ob hier nicht vielleicht eine Überbewertung dieser seelischen Erfahrensmodi stattfinde. Sicher, wenn wir den Blick über unsere westlichen Gesellschaften hinaus richten, beispielsweise auf traditionsgeleitete Kulturen in Asien und Afrika, die wir aus eurozentristischer Sicht als primitiver einschätzen, gesellschaftliche Gebilde, die sich dadurch auszeichnen, dass die Sozialisation dort mit der Trennungsangst des kleinen Kindes viel stärker arbeitet oder gleichsam damit spielt, um den Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, was für bäuerliche Gesellschaften durchaus sinnvoll ist, während in den Industriestaaten die Vereinzelung der Individuen deshalb so wichtig ist, weil die Autonomie des Einzelnen die Voraussetzung für besser und freier verschiebbare Arbeitskräfte darstellt. Weil also die industrielle Gesellschaft die autonome Entwicklung ihrer Mitglieder fordert, kommt den seelischen Prozessen um Trennung und Verlusten in therapeutischen Bezügen so große Bedeutung zu, zumal in einer durchschnittlichen Industriestadt in Deutschland, mit einer Arbeitslosenquote, die deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt. Nun muss ich doch nochmals, allerdings ganz kurz nur, thematisch in die Schweiz zurückgehen: Als ich vor über 30 Jahren meine erste Assistenzarztstelle in Graubünden antrat, gab es in der gesamten Schweiz etwas über 9000 Arbeitslose, und dementsprechend spielte das Thema Arbeitslosigkeit während der Zeitspanne von 13 Jahren in der Schweiz so gut wie keine Rolle. Nicht nur die sozialen Bedingungen waren verschieden, auch die psychiatrischen Krankheitsbilder haben sich seither verändert – die Schizophrenen waren anders, es gab noch typische Katatonien und Hebephrenien, und zwar trotz der damals üblichen Hochdosierungsmode der Psychopharmaka, Bulimien waren selten, Borderline-Störung war als Diagnose unbekannt, und ich wurde in einer Klinikkonferenz zurechtgewiesen, als ich diesbezügliche diagnostische Überlegungen mit dem damals gerade erschienenen Buch gleichen Namens von Kernberg begründete. Damals gab es also die Diagnose nicht, aber es gab, so glaube ich inzwischen, auch wirklich weniger Borderline-Patienten. Den Ritterschlag der Psychiatrie, die erste und einzige professionelle Ohrfeige, gab mir eine alte Dame aus Davos, zu der ich mich hinunterbeugte, nachdem sie mich begrüßte hatte mit »Ah, der Herr Pfarrer ist auch wieder da!« Allgemein waren sonst aggressive Spannungen, vor allem solche gegen Mitarbeiter, und Gewalt in den Kliniken kaum ein Thema. Wie verschieden sind doch die Probleme der Patienten heutiger Tageskliniken, wie häufig, ja nahezu regelmäßig, haben diese Patienten Verluste erlitten, Trennungen, und wie oft spielt dabei doch das Thema Arbeitslosigkeit oder die Angst davor eine beherrschende Rolle. Sicher haben die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte die Konflikte um Verlusterfahrungen und Ausgeschlossensein in einem nicht Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 17 überschätzbarem Maße erhöht, und deshalb halte ich es nicht für übertrieben zu behaupten, dass die Tagesklinik und ihre Mitarbeiter an einer Nahtstelle gesellschaftlicher Spannungen tätig sind. Ressourcenerhaltung durch Supervision Hans-Christoph Eichert Literatur Vor dem Hintergrund eines stress- und ressourcentheoretischen MAHLER M, PINE F, BERGMAN A (1975) The psychological birth of Modells wurde im Rahmen einer Studie mit zwei Messzeitpunkten the human infant. Basis Books, New York. untersucht, ob bei TeilnehmerInnen von Supervision Verbesserun- PÜHL H (1998) Team-Supervision. Vandenhoeck & Ruprecht, Göt- gen bei wahrgenommenen professionellen, sozialen und materiellen tingen Ressourcen und deren Nutzbarkeit zu beobachten sind, und ob diese supervisionsformspezifisch unterschiedlich sind. Darüber hinaus wurde Anschrift des Verfassers untersucht, ob Veränderungen bei den wahrgenommenen Ressourcen Dr. med. Christian Maier mit Veränderungen bei wahrgenommener Kontrolle und Selbstwirk- Gerhard-von-Are-Str. 4 – 6 samkeit sowie Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren kor- 53111 Bonn reliert sind. Die Untersuchung wurde an MitarbeiternInnen (N = 451) in der stationären Psychiatrie an zwei Messzeitpunkten im Abstand von zehn Monaten durchgeführt. Während die Zusammenhänge zwischen Ressourcen, Kontrolle/Selbstwirksamkeit sowie Arbeitszufriedenheitsund Gesundheitsindikatoren weitgehend bestätigt werden konnten, konnten die meisten Hypothesen, die sich auf Verbesserungen von wahrgenommenen Ressourcen in den Supervisionsgruppen beziehen, nicht bestätigt werden. Die Untersuchungsergebnisse legen aber mögliche kompensatorische Effekte nahe. Es konnte gezeigt werden, dass es in einigen Ressourcenbereichen nur in der Nicht-Supervisionsgruppe zu Verschlechterungen gekommen ist, obwohl sich die Bewertung der Arbeitsbedingungen in allen Gruppen verschlechterte. Möglicherweise muss man von verschiedenen »Effektstufen« von Supervision ausgehen. Demnach sind zunächst kurzfristige Effekte bei »daily hassels« vorrangig, die langfristig zur Stabilisierung von Ressourcen beitragen. Einleitung Gerade in Zusammenhang mit der zunehmenden Verknappung personeller und finanzieller Ressourcen (vgl. Boessenecker et al. 2000, Eichert 2003 d) kommt Supervision, wie sie in der ambulanten und stationären Psychiatrie ohnehin schon seit Jahren ein fast selbstverständlicher Teil der Arbeit ist, eine zunehmende Bedeutung zu. Mit der Vielzahl ihrer möglichen Funktionen (emotionale Entlastung, prozessorientierte Beratung, Fortbildungsfunktion, Optimierung von Kooperationsstrukturen, vgl. Petzold 1998, Holloway 1998) wächst aber gleichzeitig die Gefahr ihrer Überfrachtung mit unrealistischen Erwartungen. Bisweilen droht Supervision zu einem Feigenblatt zu werden, mit dem organisatorischer Mängel kaschiert werden sollen, die eigentlich an anderer Stelle und durch andere Maßnahmen (Verbesserung der finanziellen bzw. personellen Situation) behoben werden müssten. Angesichts der sich verändernden Rahmenbedingungen ergibt sich für die Supervisionspraxis wie auch für die Supervisionsforschung die Notwendigkeit der konzeptuellen Differenzierung und Weiterentwicklung. Nach dem aktuellen Forschungsstand kann man zwar davon ausgehen, dass Supervision arbeitsfeldübergreifend von den Supervisanden als hilfreich erlebt wird (vgl. Petzold et al. 2003, Gottfried et al. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 18 Eichert: Ressourcenerhaltung durch Supervision 2003, Eichert 2005). Kritisch anzumerken ist aber zu weiten Teilen der bisherigen Supervisionsforschung ihre weitgehende Theorielosigkeit sowie ihre Fixierung auf die Untersuchung wahrgenommener Supervisionseffekte im Rahmen einfacher Querschnittsdesigns. Beides wird der Komplexität des Gegenstandes »Supervision« nicht gerecht. Vielmehr muss die Frage lauten: Welche Supervisionsart kann unter welchen Bedingungen in welchen Bereichen zu welchen Veränderungen oder Effekten beitragen? Vor dem Hintergrund einer Untersuchung zur Supervision in der ambulanten Psychiatrie (Eichert 2005) wurde in der vorliegenden Untersuchung die Frage untersucht, ob unterschiedliche Supervisionsformen zu spezifischen Effekten auf die wahrgenommenen berufsrelevanten Ressourcen (professionelle, soziale und materielle Ressourcen) beitragen und ob solche Effekte in Zusammenhang stehen mit Veränderungen bei Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren. Im Gegensatz zur Vorläuferuntersuchung sollte diese Frage anhand eines Designs mit mehreren Messzeitpunkten untersucht werden. Damit stand nicht die Frage nach wahrgenommenen Veränderungen durch Supervision im Zentrum, sondern die Frage, ob Veränderungen bei den wahrgenommenen Ressourcen zwischen zwei Messzeitpunkten zu verzeichnen sind und ob diese supervisionsartspezifisch unterschiedlich sind. Stress, Ressourcen und Supervision Den allgemeinen theoretischen Hintergrund der Untersuchung bilden stress- und ressourcentheoretische Überlegungen (Lazarus 1978, Hobfoll 1988, Antonovsky 1991). Das transaktionale Stressmodell von Lazarus in seiner revidierten Form definiert Stress als »jedes Ereignis, in dem innere oder äußere Anforderungen (oder beide) die Anpassungsfähigkeit eines Individuums, eines sozialen Systems oder eines organischen Systems beanspruchen oder übersteigen« (Lazarus & Launier 1981, 226). Im Rahmen des primary appraisal (nach Schwarzer 2000: Situationsmodell) wird die Bedeutsamkeit jeder Person-Umwelt-Transaktion überprüft und hinsichtlich der Kategorien irrelevant, positiv oder stressrelevant eingestuft. Stressrelevante Bewertungen werden weiter differenziert nach den Kategorien Schädigung/Verlust, Bedrohung und Herausforderung. In Zusammenhang mit der vorliegenden Fragestellung geht es in erster Linie um Anforderungen und Belastungen aus der Arbeitssituation. Das secondary appraisal (nach Schwarzer 2000: Selbstmodell) dient der Bewertung der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten und der Auswahl einer Bewältigungsstrategie. Das Selbstmodell ist damit eng verbunden mit der Wahrnehmung und Bewertung der zur Verfügung stehenden relevanten Ressourcen. Ressourcen sind materielle oder mentale eigene oder fremde Mittel, die einer Person zur Verfügung stehen und die bei der Bewältigung von Anforderungen eingesetzt werden können. (Eichert 2005, 288) Ihre Bedeutung ist kontext-, bereichsund erfahrungsspezifisch unterschiedlich. In dem hier untersuchten Bereich der beruflichen Belastungen bei Beschäftigten in der stationären Psychiatrie sind neben personalen und materiellen insbesondere professionelle Ressourcen (Fachkompetenz, Feldkompetenz, Sicherheit, Wahrnehmungsfähigkeit, berufliche Fertigkeiten, Handlungsund Entscheidungsmöglichkeiten, Abgrenzungsfähigkeit und Einfühlungsvermögen) und soziale Ressourcen (Information, praktische und emotionale Unterstützung durch Kollegen und Vorgesetzte) und ihre Nutzbarkeit bedeutsam (vgl. hierzu Gottfried et al. 2003, Eichert 2005). Vom Ausmaß der wahrgenommenen Ressourcen und ihrer Nutzbarkeit ist das Ausmaß der wahrgenommenen Kontrolle und Selbstwirksamkeit gegenüber Belastungen abhängig, was sich wiederum über das jeweilige Bewältigungsverhalten auf Arbeitszufriedenheit und Gesundheit auswirkt: Ein hohes Maß an Belastungen aus der Arbeitssituation kann bei einem gleichzeitig geringen Maß an Ressourcen zu Beeinträchtigungen von Arbeitszufriedenheit und Gesundheit beitragen (siehe Abbildung 1). Die Grundannahmen des Modells in Bezug auf den Einfluss von Supervision auf den Stressprozess lauten: - Supervision kann den Stressprozess durch die Verbesserung der professionellen, sozialen und materiellen Ressourcen und ihrer Nutzbarkeit beeinflussen. - Je nach Supervisionsart können unterschiedliche Ressourcenbereiche beeinflusst werden. Während (Berufs-)Gruppensupervision eher mit Veränderungen der professionellen Ressourcen einhergeht, geht Teamsupervision eher mit Veränderungen der sozialen Ressourcen einher. - Verbesserungen der Ressourcen und ihre Nutzbarkeit sind mit höherer Kontrolle und Selbstwirksamkeit gegenüber Belastungen aus der Arbeitssituation verbunden. - Verbesserungen von Kontrolle und Selbstwirksamkeit gegenüber Belastungen aus der Arbeitssituation sind mit geringerer Belastetheit höherer Arbeitszufriedenheit und besserer Gesundheit verbunden. Untersuchungshypothesen Vor dem Hintergrund des Modells wurden folgende Hypothesengruppen formuliert, die im Rahmen der Studie untersucht wurden. 1. Supervisionsteilnehmer schätzen ihre berufsrelevanten Ressourcen und deren Nutzbarkeit nach zehn Monaten Supervisionsteilnahme besser ein als vorher. 2. Bei Teilnehmern von Gruppensupervision ist die Vortest/ Nachtest-Differenz bei den wahrgenommenen professionellen Ressourcen und deren Nutzbarkeit größer als bei den wahrgenommenen sozialen Ressourcen und deren Nutzbarkeit. 3. Bei Teilnehmern von Gruppensupervision ist die Vortest/ Nachtest-Differenz bei den wahrgenommenen professionellen Ressourcen und deren Nutzbarkeit größer als bei Teilnehmern von Teamsupervision. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Eichert: Ressourcenerhaltung durch Supervision Abb. 1: Modell der Untersuchung 4. Bei Teilnehmern von Teamsupervision ist die Vortest/Nachtest-Differenz bei den wahrgenommenen sozialen Ressourcen und deren Nutzbarkeit größer als bei den wahrgenommenen professionellen Ressourcen und deren Nutzbarkeit. 5. Bei Teilnehmern von Teamsupervision ist die Vortest/ Nachtest-Differenz der wahrgenommenen sozialen Ressourcen und deren Nutzbarkeit größer als bei Teilnehmern von Gruppensupervision. 6. Veränderungen bei den wahrgenommenen Ressourcen und deren Nutzbarkeit korrelieren positiv mit Veränderungen der wahrgenommenen Kontrolle und Selbstwirksamkeit gegenüber beruflichen Belastungen. 7. Veränderungen bei der wahrgenommenen Kontrolle und Selbstwirksamkeit gegenüber beruflichen Belastungen korrelieren positiv mit Veränderungen bei der Einschätzung der gesundheitlichen Situation und der Arbeitszufriedenheit. Untersuchungsmethodik Die Untersuchung wurde als Fragebogenuntersuchung von Supervisanden und Mitarbeitern im stationären psychiatrischen Bereich an zwei Messzeitpunkten durchgeführt. Die erste Befragung wurde von März bis Dezember 2006 durchgeführt, die zweite Befragung folgte nach jeweils zehn Monaten. Die Datenerhebungsphase war mit dem Rücklauf der letzten Fragebögen im November 2007 abgeschlossen. Untersucht wurden drei Gruppen, die zwischen den Messzeitpunkten an Gruppensupervision, Teamsupervision bzw. nicht an Supervision (Kontrollgruppe) teilnahmen (siehe Abbildung 2): Als abhängige Variablen wurden an beiden Messzeitpunkten die wahrgenommene (Nutzbarkeit) professioneller Ressourcen, wahrgenommene (Nutzbarkeit) soziale Ressourcen, wahrgenommene (Nutzbarkeit) materielle Ressourcen, wahrgenommene Kontrolle, wahrgenommene Selbstwirksamkeit, Arbeitszufriedenheit, sowie Belastetheits- und Gesundheitsindikatoren erhoben. Zusätzlich wurden Personen- und Ar- Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Abb. 2: Untersuchungsdesign beitsplatzvariablen sowie die Einschätzung der Arbeitsbedingungen erhoben. Als Erhebungsinstrument diente ein Fragebogen, der auf einem von dem Autor für eine Vorläuferuntersuchung im Bereich der ambulanten Psychiatrie entwickelten Fragebogen basiert (Eichert 2005) und in den die Beschwerdenliste nach Zerssen (1976) sowie der Kurzfragebogen zur Arbeitsanalyse KFZA (Prümper et al. 1995) integriert waren. Die Untersuchungsstichprobe setzte sich letztlich aus insgesamt 451 Personen aus 17 Einrichtungen und Kliniken in Deutschland und in der Schweiz zusammen, von denen 147 Personen an beiden Befragungen teilnahmen. 213 Personen beteiligten sich nur an Befragung 1,91 Personen beteiligten sich nur an Befragung 2. Ergebnisse der Untersuchung Stichprobe – Arbeitssituation – Supervision Merkmale der Befragten. Die Untersuchungsteilnehmer waren überwiegend weiblich, das Durchschnittsalter betrug knapp 41 Jahre. Sie kamen zumeist aus medizinischen Berufen i. e. S., 19 20 Eichert: Ressourcenerhaltung durch Supervision wobei die Pflegeberufe mit einem Anteil von über 70 % dominierten. Ein hoher Anteil lebte in festen Partnerschaften, knapp über 40 % hatten ein oder mehrere Kinder, nur wenige Probanden waren alleinerziehend. Die meisten Probanden hatten mittlere bis höhere Schulabschlüsse, bei den Berufsabschlüssen dominierten die Ausbildungsberufe. Merkmale der Arbeitssituation. Die Teilnehmer der Untersuchung arbeiteten überwiegend in größeren Einrichtungen. Bei den Arbeitsbereichen wurde die Allgemeine Psychiatrie am häufigsten genannt, andere Arbeitsbereiche spielten eine kleinere Rolle. Mit durchschnittlich zwölf Jahren war die Dauer der Betriebszugehörigkeit relativ hoch, was für die Psychiatrie nicht untypisch ist. Etwa ein Viertel der Probanden waren leitende Mitarbeiter, die durchschnittliche Teamgröße betrug zwölf Personen. Wochenstundenanzahl und Überstundenanzahl bewegten sich mit durchschnittlich 36 bzw. 1,3 Stunden in einem relativ normalen Ausmaß. Supervisionsmerkmale. Diejenigen, die zwischen beiden Messzeitpunkten an Supervision teilgenommen haben, haben durchschnittlich an sechs Sitzungen teilgenommen. Meist dauerte eine Sitzung 90 Minuten, als Sitzungsfrequenz wurde überwiegend ein monatlicher Anstand genannt, allerdings war der Anteil derjenigen, die eine geringere Frequenz angaben, mit über 30 % relativ hoch. Zum Zeitpunkt der Befragung dauerte der Supervisionsprozess bei mehr als der Hälfte der Supervisionsteilnehmer bereits länger als ein Jahr an. Von den Supervisionsthemen bewerteten die Probanden insbesondere die Themen Arbeit mit Klienten und Zusammenarbeit und Konflikte im Team als bedeutsam. über alle Gruppen. Allerdings zeigten sich auch deutliche Unterschiede zwischen der Nicht-Supervisionsgruppe und den Supervisionsgruppen: Bei der Nicht-Supervisionsgruppe kam es in allen Ressourcenbereichen – insbesondere aber in den Bereichen professionelle Ressourcen, Nutzbarkeit professionelle Ressourcen und Nutzbarkeit soziale Ressourcen – zu einem Rückgang der Werte vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt, während bei beiden Supervisionsgruppen kaum Veränderungen zwischen beiden Messzeitpunkten zu verzeichnen waren. Gibt es Hinweise für supervisionsformspezifische Effekte? Keine signifikanten Unterschiede erbrachte auch der Vergleich der Skalendifferenzen von professionellen Ressourcen und sozialen Ressourcen bzw. Nutzbarkeit professioneller Ressourcen und Nutzbarkeit sozialer Ressourcen innerhalb jeder Supervisionsgruppe. Lediglich bei dem Item Nutzbarkeit praktische Unterstützung Vorgesetzte zeigte sich ein Interaktionseffekt: Der Wert in der Teamsupervisionsgruppe stieg an bei gleichzeitigem Rückgang in der Gruppensupervisionsgruppe. Zusammenfassend zeigen die folgenden Grafiken die Mittelwerte der Ressourcenskalen der verschiedenen Untersuchungsgruppen im Zeitverlauf: Hypothesenbezogene Ergebnisse Bei der hypothesenbezogenen Auswertung wurden die Daten daraufhin untersucht, ob sich die Ressourcenbewertungen zwischen beiden Messzeitpunkten verändert haben und ob Unterschiede zwischen den Untersuchungsgruppen bzw. innerhalb der Untersuchungsgruppen zwischen unterschiedlichen Ressourcenbereichen feststellbar sind. Darüber hinaus wurden die Daten auf Zusammenhänge zwischen Veränderungen von Ressourcen, Kontrolle/Selbstwirksamkeit sowie Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren hin untersucht. Außerdem wurden Unterschiede zwischen Veränderungen und wahrgenommenen Veränderungen sowie mögliche Einflüsse von Veränderungen der Arbeitsbedingungen in den Blick genommen. In die Auswertung wurden nur solche Personen einbezogen, bei denen für beide Messzeitpunkte komplette Datensätze vorlagen (N = 126). Gibt es Hinweise für Supervisionseffekte auf Ressourcen? In den Auswertungen zeigte sich weder bei den RessourcenSkalen noch bei der Analyse der Einzelitems ein Anstieg der Ressourcenbewertungen zwischen den Messzeitpunkten. Es zeigte sich im Gegenteil insgesamt ein signifikanter Rückgang in den Bereichen professionelle Ressourcen, Nutzbarkeit professionelle Ressourcen und Nutzbarkeit soziale Ressourcen Abb. 3: Veränderungen professionelle Ressourcen Abb. 4: Veränderungen Nutzbarkeit professionelle Ressourcen Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Eichert: Ressourcenerhaltung durch Supervision Abb. 5: Veränderungen soziale Ressourcen Abb. 6: Veränderungen Nutzbarkeit soziale Ressourcen Abb. 7: Veränderungen materielle Ressourcen Abb. 8: Veränderungen Nutzbarkeit materielle Ressourcen Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Gibt es Zusammenhänge zwischen Ressourcenveränderungen und Veränderungen von Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren? Die korrelationsstatistische Auswertung der Zusammenhänge zwischen den Ressourcendifferenzen einerseits und den Vortest-Nachtestdifferenzen bei den Items Kontrolle und Selbstwirksamkeit andererseits erbrachte durchweg signifikant positive Korrelationen, wenn auch auf niedrigem Niveau. Offensichtlich sind Veränderungen bei den Ressourcen und ihrer Nutzbarkeit mit Veränderungen bei der wahrgenommenen Kontrolle und Selbstwirksamkeit einhergegangen. Auch die Korrelationen zwischen Veränderungen bei Kontrolle und allen Indikatoren für Arbeitszufriedenheit und Gesundheit waren durchgängig signifikant. Zwischen Veränderungen der wahrgenommenen Selbstwirksamkeit und Veränderungen bei Arbeitszufriedenheit, allg. Gesundheitszustand, Nachgedanken sowie Veränderungen bei psychosomatischen Beschwerden zeigten sich ebenfalls signifikante Zusammenhänge. Somit scheinen Veränderungen bei der Einschätzung von Kontrolle und Selbstwirksamkeit mit Veränderungen bei den Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren einherzugehen. Gibt es Unterschiede zwischen wahrgenommenen Veränderungen und gemessenen Veränderungen? Bei den in der zweiten Erhebung erfragten wahrgenommenen Veränderungen von Ressourcen und deren Nutzbarkeit zeigten sich interessanterweise bei fast allen Items positive Mittelwerte (also eine wahrgenommene Verbesserung), obwohl bei allen Items ein Rückgang der gemessenen Bewertung beim zweiten Messzeitpunkt zu verzeichnen war. Die Korrelationsanalyse von gemessenen Veränderungen und wahrgenommenen Veränderungen erbrachte zudem überwiegend signifikant positive Zusammenhänge. Sowohl signifikante Korrelationen zwischen wahrgenommenen und gemessenen Veränderungen als auch signifikante Unterschiede zwischen den Mittelwerten zeigten sich bei den Items Nutzbarkeit Feldkompetenz (RESS04), Sicherheit (RESS05), berufliche Fertigkeiten (RESS09), Nutzbarkeit berufliche Fertigkeiten (RESS10) und Nutzbarkeit Abgrenzungsfähigkeit (RESS14) (siehe Abbildung 9): Offensichtlich besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen Veränderungen bei der Einschätzung von Ressourcen und wahrgenommenen Veränderungen der Ressourcen, wobei Letztere – insbesondere in Bezug auf die professionellen Ressourcen und deren Nutzbarkeit – positiver zu sein scheinen als die gemessenen Veränderungen. Welche Rolle spielen sich verändernde Arbeitsbedingungen? Bei den KFZA-Skalen zur Erfassung der Arbeitsbedingungen zeigte sich, dass über die Zeit hinweg der Wert für quantitative Anforderungen in allen Gruppen angestiegen ist. Gleichzeitig sanken die Werte für Handlungsspielraum, Information Mitarbeiter und betriebliche Leistungen zwischen den Messzeitpunkten. Offensichtlich bewerten die Probanden aller Gruppen ihre Arbeitssituation nach zehn Monaten schlechter: 21 22 Eichert: Ressourcenerhaltung durch Supervision Abb. 9: Signifikante Unterschiede und signifikante Korrelationen wahrgenommene Ressourcenveränderungen und gemessene Ressourcenveränderungen Abb. 10: Veränderungen quantitative Anforderungen Abb. 11: Veränderungen Handlungsspielraum Zusammenfassend kann man folgende wesentlichen Ergebnisse festhalten: 1. Die auf die Supervision bezogenen Hypothesen konnten überwiegend nicht bestätigt werden. Es konnten weder allgemein noch supervisionsartspezifisch eine bessere Bewertung berufsrelevanter Ressourcen und deren Nutzbarkeit nach zehn Monaten Supervisionsteilnahme festgestellt werden. 2. Die Ressourcenbewertung ging allerdings nur in der NichtSupervisionsgruppe nach zehn Monaten zurück. In den Supervisionsgruppen ist sie dagegen unverändert geblieben. 3. Die Hypothesen bezüglich der angenommenen Zusammenhänge zwischen Veränderungen bei den Ressourcen und deren Nutzbarkeit und Veränderungen bei wahrgenommener Kontrolle und Selbstwirksamkeit sowie zwischen Veränderungen bei wahrgenommener Kontrolle und Selbstwirksamkeit und Veränderungen bei den Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren konnten dagegen überwiegend bestätigt werden. Veränderungen bei den berufsrelevanten Ressourcen korrelieren positiv mit Veränderungen bei Kontrolle und Selbstwirksamkeit, die wiederum positiv korreliert sind mit Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren. 4. Insbesondere im Bereich der professionellen Ressourcen zeigte sich, dass die wahrgenommenen Veränderungen durchweg signifikant höher waren als die gemessenen Veränderungen der Ressourcenbewertung. 5. In allen Untersuchungsgruppen hat sich die Einschätzung der Arbeitsbedingungen zwischen beiden Messzeitpunkten signifikant verschlechtert. Diskussion der Ergebnisse Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass sich in den Supervisionsgruppen die Ressourcenbewertung entgegen der Erwartung zwischen beiden Messzeitpunkten weder allgemein noch supervisionsformspezifisch verbessert hat. Die Zusammenhänge zwischen Ressourcen, Kontrolle/Selbstwirksamkeit und Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren konnten zwar bestätigt werden, die Supervision hat demnach aber keinen Einfluss i. S. einer Verbesserung gehabt. Dieses Ergebnis steht zunächst im Widerspruch zu den Ergebnissen anderer Untersuchungen, die positive Supervisionseffekte bzw. Supervisionsnutzen in verschiedenen Bereichen gefunden haben (vgl. Gottfried et al. 2003, Eichert 2005). Berücksichtigt man aber die Tatsache, dass auch in der vorliegenden Untersuchung die wahrgenommenen Ressourcenveränderungen teils deutlich positiver waren als die Veränderungen der gemessenen Ressourceneinschätzungen zwischen den Messzeitpunkten, so wird deutlich, dass für die unterschiedlichen Ergebnisse wohl die unterschiedlichen Untersuchungsdesigns verantwortlich sind. In Querschnittsstudien, bei denen in der Regel nach wahrgenommenen Veränderungen gefragt wird, wird offensichtlich eine Tendenz zur »positiven Abweichung« wirksam: Möglicherweise wird die Wirkung von Supervision überschätzt. Weiter ist für die Interpretation der Ergebnisse bedeutsam, dass in der Nicht-Supervisionsgruppe die Werte in allen Ressourcenbereichen vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt zurückgingen, während sich in den beiden Supervisionsgruppen die Werte kaum oder wenig veränderten. Dies trifft insbesondere auf die Skalen professionelle Ressourcen, Nutzbarkeit professionelle Ressourcen und Nutzbarkeit soziale Ressourcen zu. Gleichzeitig zeigte sich in allen Untersuchungsgruppen eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (Anstieg der Quantitativen Arbeitsbelastung, Rückgang des Handlungsspielraums). Dies deutet darauf hin, dass Supervision zwar Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Eichert: Ressourcenerhaltung durch Supervision nicht mit Ressourcenverbesserungen verbunden ist, aber trotzdem präventive bzw. kompensatorische Effekte haben kann. In diesem Sinne hätte sie eine ressourcenerhaltende Funktion bei sich verschlechternden Arbeitsbedingungen. Für die Supervisionspraxis bedeuten die Ergebnisse, dass man möglicherweise von verschiedenen »Effekt-Stufen« von Supervision ausgehen muss. Positive Supervisionseffekte sind zunächst weniger im Bereich langfristiger Veränderungen als vielmehr im kurzfristigen Bereich zu finden, wenn z. B. in einer Fallbesprechung eine neue Perspektive auf komplexe Problemzusammenhänge eines Patienten eröffnet werden konnte oder wenn Probleme im Team geklärt werden konnten, die die Zusammenarbeit massiv behindert haben. Solche gelungenen Supervisionssitzungen verändern die Arbeitssituation zwar nicht grundsätzlich, sind aber möglicherweise kurzfristig sehr entlastend. In gewisser Weise spiegelt sich dies auch in der Bewertung der Supervisionsthemen wider, denn hier wurden vor allem die Themenkreise Arbeit mit Klienten und Zusammenarbeit und Konflikte im Team als wichtig bewertet. Wo aber im Rahmen von langfristiger Supervision die Möglichkeit besteht, solche beruflichen »daily hassles« (i. S. Lazarus & Folkman 1989) regelmäßig zu bearbeiten und zu klären, scheinen auch langfristige Ressourcen-Effekte möglich zu sein. Supervision scheint dann eine stabilisierende Funktion einnehmen zu können, indem sie der Beschädigung professioneller und sozialer Ressourcen durch ungeklärte Probleme und Konflikte vorbeugt. Vermittelt durch die Zusammenhänge von Ressourcen und Kontrolle/Selbstwirksamkeit könnte sie dann auch einen positiven Einfluss auf Arbeitszufriedenheit und gesundheitliches Wohlbefinden haben. HOBFOLL SE (1988) The ecology of stress. New York: Hemisphere HOLLOWAY E (1998) Supervision in psychosozialen Feldern. Ein praxisbezogener Supervisionsansatz. Paderborn: Junfermann LAZARUS RS, FOLKMAN S (1989) Hassels and Uplift Scales. Palo Alto, CA: Consulting Psychologists Press LAZARUS RS, LAUNIER R (1978) Stress related transactions between persons and environment. In: PERVIN LA, LEWIS M (Hg.) Perspectives in interactional psychology. New York: Plenum 1978, 287 – 327 LaZARUS RS, LAUNIER R (1981) Stressbezogene Transaktionen zwischen Person und Umwelt. In: NITSCH JR (Hg.) Stress. Theorien, Untersuchungen, Maßnahmen. Bern, Stuttgart, Wien: Huber, 1981, 213 – 260 NITSCH JR (Hg.) (1981) Stress. Theorien, Untersuchungen, Maßnahmen. Bern, Stuttgart, Wien: Huber PETZOLD HG (1998) Integrative Supervision, Metaconsulting & Organisationsentwicklung. Modelle und Methoden reflexiver Praxis. Ein Handbuch. Paderborn: Junfermann PETZOLD HG, SCHIGL B, FISCHER M, HÖFNER C (2003) Supervision auf dem Prüfstand. Opladen: Leske und Budrich PRÜMPER J, HARTMANNSGRUBER K, FRESE M (1995) KFZA – KurzFragebogen zur Arbeitsanalyse. In: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 39 (3), 125 – 132 SCHWARZER R (2000) Stress, Angst und Handlungsregulation. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer ZERSSEN D VON (1976) Die Beschwerden-Liste. Manual. Weinheim: Beltz Test Gesellschaft Anschrift des Verfassers Dr. Hans-Christoph Eichert Mozartstraße 34 Literatur 53115 Bonn ANTONOVSKY A (1991) Health, Stress and Coping. San Francisco: h.eichert@web.de Jossey-Bass Publishers BOESENECKER K-H, TRUBE A, WOHLFAHRT N (Hg.) (2000) Privatisierung im Sozialsektor: Rahmenbedingungen, Verlaufsformen und Probleme der Ausgliederung sozialer Dienste. Münster: Votum EICHERT H-C (2003 d) Privatisierung sozialer Dienstleistungen und Supervision. Düsseldorf/Hückeswagen: FPI-Publikationen, SUPERvISION: Theorie – Praxis – Forschung. Eine interdisziplinäre Internet-Zeitschrift – 14/2003, S. 1 – 19. http://www.fpi-publikationen. de/supervision/Eichert-Privatisierung-Supervision-14-2003.htm EICHERT H-C (2005) Entwicklung beruflicher Ressourcen durch Supervision – Eine Untersuchung im ambulanten psychiatrischen Bereich. In: Gruppendynamik und Organisationsberatung, 36 (3), 285 – 302 EICHERT H-C (2008) Supervision und Ressourcenentwicklung. Eine Untersuchung zur Supervision in der stationären Psychiatrie. urn: nbn:de:hbz:38-24053. Köln: KUPS http://kups.ub.uni-koeln.de/ volltexte/2008/2405/ GOTTFRIED K, PETITJEAN S, PETZOLD HG (2003) Supervision in der Psychiatrie. Eine Multicenterstudie (Schweiz). In: PETZOLD HG, SCHIGL B, FISCHER M, HÖFNER C: Supervision auf dem Prüfstand. Opladen: Leske und Budrich, 2003, 229 – 334 Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 23 24 Systemische Ansätze im Geflecht von ambulanter und stationärer Behandlung bei Menschen mit Psychosen Wolfgang Dillo, Anke Baumgarten und Susanne Steinmüller Zum Einsatz systemischer Verfahren in der Psychosentherapie Beschäftigt man sich mit den verschiedenen Möglichkeiten, die Schizophrenie zu behandeln auf wissenschaftlicher Ebene, lässt sich ein Phänomen erkennen, dass offensichtlich das Denken in unserer derzeitigen Wissenschaftskultur bestimmt. Es findet sich eine kaum überschaubare Menge an Literatur zur Pathogenese der Erkrankung, also zur Frage, warum jemand krank wird, aber kaum Literatur zur Salutogenese – also zur Frage, warum ein Mensch gesund bleibt. Interessant sind die Arbeiten von Tienari et al., der in Langzeitstudien das Schicksal von adoptierten Kindern untersucht hat, die aufgrund einer schizophrenen Erkrankung ihrer leiblichen Eltern ein erhöhtes Erkrankungsrisiko aufweisen. Möglicherweise ohne es zu beabsichtigen, macht diese Arbeit sehr eindrucksvoll Aussagen zu salutogenetischen Faktoren der Psychose (Tienari et al. 2004). Diese Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass »genetisch belastete« Kinder ein erhöhtes Risiko haben, an einer Schizophrenie zu erkranken in Abhängigkeit davon, ob in der Familie, in der sie aufwachsen, gesunde Strukturen herrschen oder nicht. Mit anderen Worten, wenn ein Kind mit erkrankten Eltern das Glück hat, in einer intakten Familie aufzuwachsen, ist das Risiko für das Kind, krank zu werden, kaum höher als in der Normalbevölkerung. Hat das Kind aber das Pech, in einer Familie mit gestörten Strukturen aufzuwachsen, ist das Risiko so hoch wie bei nicht adoptierten Kindern. Hieraus lässt sich also eindeutig folgern, dass intakte familiäre Strukturen gesundheitserhaltend in Bezug auf die Schizophrenie sind. Zur Beurteilung der familiären Strukturen wurde eine Skala mit insgesamt 27 Items benutzt, die unter anderem das Konfliktverhalten innerhalb der Familie, die Intensität von Affekten und die hierarchischen Strukturen bewertet. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, bei der Behandlung von schizophrenen Patienten eine Atmosphäre zu schaffen, in der der Patient diese Strukturen im positiven Sinne erfährt. Das Konzept besteht darin, dass die Behandlung gemeinsam von einer Therapeutin und einem Therapeuten durchgeführt wird, sodass der Patient die Möglichkeit hat, sich in der Übertragung wie in einer Familie zu fühlen. Der Rahmen wird durch den Patienten mitbestimmt. Es finden sowohl Einzelgespräche als auch Gespräche mit beiden Therapeuten statt. Der Patient kann Familienangehörige nach Wunsch in die Therapie mit einbeziehen. Familiengespräche können ergänzend zu den ambulanten Einzelgesprächen erfolgen; ebenso ist es denkbar, dass die Gespräche ausschließlich mit allen Beteiligten geführt werden. Beide Therapeuten sind für den Patienten ansprechbar. Die Praxis zeigt, dass die Patienten die Therapeuten für »unterschiedliche Zwecke« nutzen. Ein Patient wendet sich beispielsweise immer an den Therapeuten, wenn er eine Krankschreibung für die Werkstatt benötigt. Für Probleme in der Werkstatt spricht er jedoch immer die Therapeutin an. Auch zu beobachten ist, dass manche Patienten anfangen, zwischen den Therapeuten zu »spalten«, indem sie sich zum Beispiel bei einem Therapeuten zuverlässig an Absprachen halten, während sie bei dem anderen Termine unentschuldigt ausfallen lassen, oder bei einem Konflikt den Therapeuten unterschiedliche, zum Teil widersprechende Informationen zukommen lassen. Im Therapiegespräch mit beiden Therapeuten, dem Patienten und eventuell auch Angehörigen findet das Gespräch nicht nur zwischen dem Therapeuten und dem Patienten statt. Häufiger ergeben sich auch Situationen, in denen die Therapeuten miteinander reden, auch über die Anwesenden, und diese nur zuhören. Auch wechselnde Koalitionen sind möglich, so kann der Patient mit einem Therapeuten gemeinsam eine Meinung gegenüber dem anderen Therapeuten vertreten. Wichtig ist uns bei all diesen Variationen, dass eine wohlwollende wertschätzende Atmosphäre herrscht. Aggressive Affekte sind genauso erlaubt wie Freude und Zuneigung und immer wieder gibt es auch Gelegenheit zu lachen. Ein weiterer Grund für diese Art des familientherapeutischen Setting liegt in der Vermutung, dass Psychosen häufig zu einem Zeitpunkt beginnen, an dem die Betroffenen den Schutz der Familie verlassen und außerfamiliäre Kontexte an Bedeutung gewinnen, sei es beruflicher Art, sei es, dass sie auf der Beziehungsebene sexuelle Erfahrung machen oder auch den Umgang mit Drogen erlernen (Retzer 2004, S. 95). In dem beschriebenen Rahmen ist es den Betroffenen möglich, Sicherheit zu finden, ohne regressives Verhalten entwickeln zu müssen. Neben der Behandlung im Therapeutenpaar beruht die Arbeit auf Grundeinstellungen, wie sie im systemischen Arbeiten zur Anwendung kommen. Gemeint sind zunächst nicht bestimmte Fragetechniken, sondern eine prinzipielle Einstellung zu der Erkrankung und dem Therapieziel. Systemisches Arbeiten ist keine Technik, sondern eine Haltung. Im Weiteren soll keine Placebo-kontrollierte Studie vorgestellt, sondern der Frage nachgegangen werden, wie sich systemische Ansätze hilfreich in die bestehende psychiatrische Versorgung integrieren lassen. Wir berichten über die Erfahrungen aus der ambulanten Behandlung von inzwischen zehn Patienten mit chronischen schizophrenen Verläufen im Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Dillo, Baumgarten, Steinmüller: Systemische Ansätze im Geflecht von ambulanter und stationärer Behandlung bei Menschen mit Psychosen Rahmen unserer psychiatrischen Poliklinik. Anhand von zwei Falldarstellungen wird die Thematik praxisorientiert illustriert. Zunächst werden jedoch einige Grundhaltungen des systemisch orientierten Arbeitens skizziert. Ein wesentliches Element des systemischen Kommunikationsverhaltens ist die Neutralität. Sie lässt sich in drei Bereiche unterteilen (Retzer 2004, S. 51): 1. Soziale Neutralität: Sich neutral in den Beziehungen zu dem Patienten und seinen Angehörigen zeigen, keine Parteinahme, Einladungen zu Koalitionen nicht annehmen (Ausnahme: Gewaltsituationen!). 2. Konstruktneutralität: Einladungen zur positiven oder negativen Bewertung von Sichtweisen, Erklärungen, Bewertungen, Lebensentwürfen und Weltbildern nicht annehmen. 3. Veränderungsneutralität: Sich neutral gegenüber dem Problem und der Lösung zeigen. Die Therapeuten sind sowohl Anwalt der Veränderung als auch der Ambivalenz. Es muss den Betroffenen ermöglicht werden, ohne Gesichtsverlust und Scham auf bekannte Verhaltensmuster zurückgreifen zu können. Bleibt der Therapeut neutral, wird er nicht zum Mitspieler im Patientensystem, eröffnet sich die Möglichkeit, wertschätzend mit den bisher gewählten Lösungsmöglichkeiten umzugehen (jeder hat gute Gründe für sein Verhalten). Diese Wertschätzung wirkt sich unmittelbar auf die Atmosphäre aus, in der eine Behandlung stattfindet. Die Neutralität erhöht die Chance, verändernd wirken zu können. Die Atmosphäre, in der eine Behandlung stattfindet, bestimmt maßgeblich, ob die Betroffenen von unserer Behandlung profitieren können. Eine wertschätzende Sprache und Wortwahl ist von besonderer Bedeutung, da sie unter anderem die Leistung des Patienten anerkennt, sich mit seiner Erkrankung zu arrangieren. Ein Verhalten des Patienten, das einem scheinbaren Fortschritt in der Therapie zuwiderläuft, wird häufig als Abwehr interpretiert, mit der Folge, dass der Therapeut diese Abwehr zu durchbrechen versucht. Wertschätzend ist es möglich, die Abwehr als eine Leistung anzuerkennen, bei der der Patient intuitiv spürt, dass er sich schützen muss und hierfür funktionierende Strategien entwickelt hat. Die neutrale Haltung des Therapeuten lässt den Patienten selbst entscheiden, ob der Zeitpunkt bereits gekommen ist, zu dem er auf diesen Schutz verzichten kann, oder nicht. Neben einer wertschätzenden Sprache sollte die gewählte Sprache eine Atmosphäre erzeugen, die fest definierte Zustände aufweicht und verflüssigt. Auf die Frage, was der Grund für einen Behandlungswunsch sei, antworten viele Patienten spontan: »Ich bin schizophren«, womit sie signalisieren, dass sie sich mittlerweile mit ihrer Erkrankung identifizieren. Im Gegenzug lässt sich signalisieren, dass man das Gefühl hat, das Gegenüber leide zur Zeit noch an Symptomen, wie sie bei einer Schizophrenie vorkommen oder die Person zeige schizophrenes Verhalten. Im Gesundheitswesen ist man es gewohnt, vorwiegend in Form von Störungsbildern zu denken. Dieses Denken ist sinn- Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 voll als Grundlage zur Weiterentwicklung von Forschung und Therapie (von Schlippe & Schweitzer 2006, S.12). Die systemische Therapie bietet eine andere Sicht auf die Erkrankung, sie versteht Gesundheitsstörungen als Teil schwieriger Lebenslagen und zwischenmenschlicher Beziehungen. So kann eine Erkrankung – ein Symptom – als ein Lösungsversuch eines ansonsten unlösbaren Problems verstanden werden. Trifft dieses Verständnis beim Patienten auf Resonanz, wird es ihm möglich, sich der Erkrankung nicht mehr ohnmächtig gegenüber zu sehen und aktiv anderen Lösungsmöglichkeiten auf die Spur zu kommen. Chronisch erkrankte Patienten sind es häufig gewohnt, von ihrer Krankheit zu erzählen, und wenn sie schon öfter Kontakt mit psychiatrischen Einrichtungen hatten, sind sie oft in der Lage, eigene Theorien über ihre Erkrankungsursachen zu entwickeln. Meistens stehen sie aber recht hilflos vor der Frage, wie dieses Wissen zur Lösung ihres Problems beitragen könnte. Das Diskutieren eines Problems und dessen Analyse scheint eine Faszination auszulösen, der man nur allzu leicht verfällt, ohne dass dadurch konstruktive Lösungsansätze entstehen. In der systemischen Behandlung wird daher konsequent versucht, sich der Analyse der Lösung zuzuwenden und der Problemanalyse nur wenig Raum zu geben (von Schlippe & Schweitzer 1996, S. 108). Systeme existieren nicht an sich, sondern sind vor allem eine Beobachterleistung, das heißt, der Therapeut muss verantwortungsvoll entscheiden, wie eng oder wie weit er schaut. Jeder Mensch bewegt sich in einem Beziehungsgeflecht sozialer Systeme. Systeme haben ein »Innen« und ein »Außen« (von Schlippe & Schweitzer 1996, S. 54). Menschen entwickeln innerhalb eines Systems eine innere Ordnung, sodass das Verhalten von einem inneren Regelsystem geleitet wird. Handlungen von Systemmitgliedern bedingen sich wechselseitig. In dem Gefüge der Wechselwirkungen hat jede Handlung auch eine Auswirkung auf das Gesamtsystem und eine Rückwirkung auf den Handelnden selbst. Systemisch betrachtet ist ein Problem die Folge einer Verkettung von Umständen in dem Beziehungsgeflecht. Wird beobachtet, das »etwas nicht in Ordnung ist«, verengt sich die kollektive Aufmerksamkeit darauf. Ein Problem kann so Inhalt und Mittelpunkt von Beziehungen werden und auch Schuldzuweisungen zur Folge haben. In Systemen kann ein Verhalten entstehen, das ein Problem stabilisiert, sodass keine Lösungen mehr gefunden werden. Ziel der systemischen Herangehensweise ist, den Handlungsspielraum der Betroffenen wieder zu erhöhen, etwas Erstarrtes wieder zu verflüssigen. Führt man Gespräche als Therapeutenpaar, bietet sich eine weitere systemische Methode an, das sogenannte »Tratschen in Anwesenheit«. Im Beisein der Betroffenen findet die Kommunikation – wie eingangs erwähnt – nicht nur zwischen Therapeuten und Betroffenen statt, sondern es besteht auch die Möglichkeit, dass sich die Therapeuten miteinander unterhalten. Davon ausgehend, dass sich die Patienten viele Gedanken darüber machen, was die Therapeuten über 25 26 Dillo, Baumgarten, Steinmüller: Systemische Ansätze im Geflecht von ambulanter und stationärer Behandlung bei Menschen mit Psychosen sie denken, werden sie an deren Gedanken beteiligt. Diese Transparenz verhilft dem Patienten zu mehr Sicherheit, weil er darüber informiert wird, wie sein Verhalten vom Gegenüber aufgenommen wird. Hilfreich ist diese Methode auch, wenn deutlich wird, dass der Patient noch nicht in der Lage ist, seine eigenen Gefühle auszudrücken. Diese können, als Hypothese formuliert, zur Sprache gebracht werden, ohne den Patienten direkt zu konfrontieren. Voraussetzung ist, dass dies in einer wertschätzenden Sprache geschieht. So wird es für den Patienten leichter, das Gesagte, das er für sich passend empfindet, anzunehmen. Genauso gut kann er das Gehörte ablehnen, ohne deswegen in eine Konfrontation mit den Therapeuten zu geraten. Kasuistik 1 (Herr L., 29 Jahre) Vorgeschichte: Erstmalig wird Herr L. im Alter von 16 Jahren stationär in die Kinder- und Jugendpsychiatrie wegen einer akuten psychotischen Symptomatik aufgenommen. Die Behandlung mit verschiedenen Neuroleptika ist zunächst wenig erfolgreich. Die Entlassung erfolgt nach zwölf Monaten, wobei zum Entlassungszeitpunkt keine Symptomfreiheit erreicht ist. In den folgenden Jahren kommt es zu weiteren stationären Aufenthalten. 2005 erkrankt die Mutter schwer und verstirbt ein halbes Jahr später an der Krebserkrankung. In diesem Zusammenhang kommt es bei Herrn L. erneut zu einer schweren Psychose. Nach fast einjährigem Aufenthalt wird uns der Patient von der Rehabilitationsstation in unserem Haus zugewiesen. Der Patient lebte bis dahin mit seinem Vater, der sich während der gesamten Zeit intensiv und fürsorglich kümmerte, in einem Haushalt. Herr L. stabilisierte sich während der stationären Behandlung nur sehr langsam. Bei Entlassung war er noch erheblich beeinträchtigt von psychotischem Erleben. Zu der empfohlenen Aufnahme in ein psychiatrisches Wohnheim konnte er sich nicht entschließen, ließ sich jedoch auf eine Anmeldung in einer Tagesstätte ein und wurde in den Haushalt des Vaters entlassen. Es bestand die deutliche Sorge der Station, dass Herr L. bald wieder stationär aufgenommen werden müsse. Der Patient nahm zu Beginn engmaschig wöchentliche Einzelgespräche wahr, die eine medikamentöse Behandlung integrieren. Darüber hinaus erfolgten seither zwei- bis dreimal im Quartal gemeinsame Gespräche mit Sohn und Vater. Rasch bildete sich die Hypothese ab, dass sich Sohn und Vater nach dem Tod der Mutter in Beziehungsmustern verhalten und kommunizieren, in der jede Veränderung von einem sich unmittelbar auf den anderen auswirken muss. Auch wenn es den Vater natürlich freute, stellte ein Symptomrückgang beim Sohn zeitgleich eine Bedrohung für den Vater dar. Je selbstständiger der Sohn wurde, umso weniger benötigte er die Unterstützung des Vaters, der sich dadurch wieder mehr seiner eigenen Trauer um die Ehefrau und den Lücken in seinem Leben stellten musste. Zugleich geriet der Sohn dadurch in Loyalitätskonflikte. So mag es auch zu verstehen sein, dass der Vater den Sohn in den ersten Monaten täglich mit dem Auto zur Tagesstätte fuhr. Der Sohn nahm dies gern an, blieb u. a. dadurch jedoch in einer unselbstständigen Haltung. Die neutrale Sicht auf die Erkrankung war für Sohn und Vater zunächst irritierend. Ihre Erwartungshaltung, dass die Therapie weiter darauf ausgerichtet sei, den Sohn zu mehr Selbstständigkeit zu verhelfen und einen Auszug aus dem elterlichen Haushalt herbeizuführen, erfüllte sich nicht, löste große Verwirrung aus und führte fast zum Therapieabbruch. Obwohl der Vater es nicht wünschte, erwartete er dennoch, dass die Therapeuten darauf aus waren, den Sohn zu einem Umzug in ein psychiatrisches Wohnheim zu bewegen. In den folgenden Sitzungen erfolgte dann eine »Auftragsklärung«. Dass die Behandlung nicht das unmittelbare Ziel hat, die Psychose zu beseitigen, war für Vater und Sohn zunächst befremdlich. Es gelang ihnen aber, die Psychose als eine Möglichkeit zu verstehen, mit den Belastungen und der noch nicht verarbeiteten Trauer umzugehen. Gleichzeitig half Herrn L. der Gedanke, der Psychose nicht ausgeliefert zu sein, sondern mitbestimmen zu können, aus seiner inneren Isolation und stärkte ihn darin, wieder mehr zu sprechen. In der Anfangssituation war Herr L. einsilbig, konnte kaum einen eigenen Wunsch formulieren und war meist darum bemüht, es seinem Gegenüber recht zu machen. Menschen, die an einer Psychose erkranken, sind mit inneren Prozessen beschäftigt und fallen häufig aus einer vernünftigen Kommunikation heraus. Es wird mehr über sie, als mit ihnen gesprochen. In der Folge wird auch stellvertretend für sie gehandelt. Eine Strategie ist auch das Schweigen oder Verschweigen. Wenn der Patient nicht als Opfer, sondern als aktiver Mitgestalter dieses Exkommunkationsverfahrens (Retzer 2004, S. 96) verstanden wird, ist bereits ein erster Schritt getan, den Prozess aufzuhalten oder rückgängig zu machen. Ausgiebiges Sprechen mit dem Patienten im Beisein der Angehörigen, die Beharrlichkeit, ihn nicht zu rasch aus der Kommunikation zu entlassen und ihn gar zur Kommunikation zu verführen, trägt erheblich zur Wiedereinführung in die Kommunikation bei. Hilfreich ist es, das Gesagte nicht zu schnell und einfühlend zu verstehen, sondern ihm respektvoll zu begegnen, indem auch das Nicht-Verstehen mitgeteilt wird. Der Vater sprach in Gegenwart des Sohnes meist über ihn (Exkommunikation), nicht mit ihm. Mit dem zunehmenden Sprechen erlebte Herr L. sich wieder eigenständiger und übernahm damit mehr Verantwortung für sich selbst. Eine weitere Möglichkeit, die Wiedereinführung in die Kommunikation zu begünstigen, ist es, den Patienten zu einer Metakommunikation einzuladen. Indem gefragt wird: »Meinen Sie, wir sind Ihrem Ziel schon nähergekommen?« oder »Läuft das Gespräch in eine nützliche Richtung?«, wird der Betroffene Mitgestalter des Behandlungsprozesses. Nach eineinhalb Jahren ambulanter Therapie lässt sich ein kontinuierlicher Aufwärtstrend beobachten. Seit ca. einem Jahr sind keine wahnhaften Symptome mehr zu erkennen. Herr L. kann seine wahnhaften Ideen mittlerweile selbst reflektieren und berichtet manchmal, Gedanken zu haben, die Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Dillo, Baumgarten, Steinmüller: Systemische Ansätze im Geflecht von ambulanter und stationärer Behandlung bei Menschen mit Psychosen »wie früher seien«, wie auch zum Todestag der Mutter. Die Gedanken verschwanden, als er den Tag aktiv mit seinem Vater gestaltete. In den Familiengesprächen erhielt der Vater Raum, sich über eigene Aktivitäten unabhängig vom Sohn Gedanken zu machen. So erhielt Herr L. die »Erlaubnis« des Vaters, wieder selbstbestimmter zu werden. Inzwischen ist er wesentlich aktiver und selbstständiger geworden. Regelmäßig trainiert er nun in einem Tischtennisverein und nimmt an Punktspielen teil. Zurzeit macht er sich konkrete und realistische Gedanken über seine berufliche Zukunft. In den Gesprächen findet er eine zunehmend sicherere Position gegenüber dem Vater, ohne dabei das innige Verhältnis zu gefährden. Die Dosis der neuroleptischen Medikation konnte deutlich reduziert werden. Kasuistik 2 (Herr A. 29 Jahre) Familienanamnese: Herr A. ist das dritte von vier Kindern. Er hat einen Zwillingsbruder. Die Eltern ließen sich nach einer langjährig konfliktreichen Ehe scheiden, als Herr A. 18 Jahre alt war. Zu dieser Zeit erkrankte seine jüngere Schwester im Alter von 16 Jahren an einer schizophrenen Psychose. Herr A. sagt über sich, er sei ca. mit 18 Jahren in seiner Entwicklung stehen geblieben und habe nur mit Mühe das Abitur geschafft. Danach habe er sich vom Leben und dem Erwachsenwerden überfordert gefühlt. Er ging zum Studium in eine andere Stadt, brach aber nach sechs Semestern ab und kehrte nach Hannover zurück. Er wohnte im Haus der Großmutter und begann ein weiteres Studium sowie eine Ausbildung. Beides brach er ab. Er zog sich sozial zurück und konnte seinen Tag nicht mehr strukturieren. Zur Mutter bestand kein Kontakt. Er spielte nachts exzessiv am PC, zeigte sich ansonsten aber antriebslos und lag später nur noch im Bett. Von Juli 2006 bis März 2007 wurde er mit kurzer Unterbrechung vollstationär in drei psychiatrischen Kliniken behandelt. Die Diagnosen reichten von schwerer depressiver Episode über eine Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und ängstlich-vermeidenden Zügen bis zu einer Schizophrenia simplex. Sowohl Neuroleptika (Solian) als auch Antidepressiva (Cipralex und Trevilor) wurden mit nur mäßigem Erfolg eingesetzt. In der ambulanten Nachsorge erwies sich der Kontakt anfangs als sehr schwierig. Herr A. nahm kaum Blickkontakt auf, konnte wenig von sich mitteilen, war hochgradig antriebsarm, hatte keine Ideen zu seiner Zukunft und war mit der Aussicht, von Sozialhilfe zu leben, zufrieden. Die Neutralität der Therapeuten bezüglich dieser Vorstellung war für ihn offensichtlich überraschend, aber auch entlastend, insbesondere deswegen, weil vom Vater, der sich fürsorglich um den Sohn kümmerte, deutlich der Wunsch vorgetragen wurde, dass der Sohn einen Beruf erlernen müsse. Wir bildeten vorab einige Hypothesen: Die Mutter wirkte in allen Schilderungen abwesend, ausgeklammert. Könnte Herr A. junior mit ihr identifiziert sein, da er über viele Jahre zur Mutter hielt, während die Geschwister in der Pubertät selbstständig wurden und die elterliche Beziehung innerlich schon getrennt war? Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Bedeutet Selbstständigkeit nicht Verlassenwerden? Das aktuelle Verhalten von Herrn A. junior wirkte passiv-aggressiv und ermöglichte ihm so zugleich Abhängigkeit (Versorgung und Beziehung zum Vater) und Autonomie (Verweigern aller wohlmeinenden Ratschläge, machtvolle Position). Will er den Vater strafen für die Trennung? Der Sinn dieses Bindungsmusters könnte in der Lösung eines ansonsten unlösbaren Loyalitätskonfliktes liegen. Im ersten Gespräch war zu beobachten, dass Herrn A. senior sehr an einer Zukunftsperspektive für seinen Sohn lag. Alle seine Ideen scheiterten aber an der Passivität von Herrn A. junior. Entspannung brachte die Wertschätzung des Vaters in seiner großen Sorge um den Sohn und sein Engagement für dessen Wohlergehen. Das bestehende Muster beschrieben wir als Machtkampf: Je mehr Druck und gute Ratschläge, desto mehr Gegendruck in Form von Verweigerung. Der Preis ist für beide Seiten hoch: Der Vater reibt sich auf, und der Sohn opfert seine Entwicklungsmöglichkeiten, um nicht nach Vaters Willen zu agieren, selbst dann nicht, wenn diese Vorschläge sinnvoll sind. In der Folge berichtet Herr A. junior, dass er viel aktiver geworden sei, viel Fahrrad fahre und 10 kg abgenommen habe. Einige Monate später nahm er Kontakt zu seiner Mutter auf. Und in den Gesprächen tauchten neben der Abgrenzung gegenüber den Bewertungen durch die Familie neue Themen auf: der Wunsch nach Freundschaften und einer Freundin, zugleich Unzufriedenheit und Langeweile. Letztere wurden immer wieder gewürdigt als wichtige Voraussetzung für eine Veränderung. In einem zweiten Familiengespräch wird durch die Aussage des Sohnes: »Ich brauche aber Druck!« die Einladung zur Verstrickung deutlich. Lebhaft wurde das Gespräch, als wir mit Umdeutungen experimentierten. Mal angenommen, der Sohn sei nicht krank, sondern einfach ein wenig faul, wie würde sich der Vater dann verhalten? Wenig später berichtet Herr A., er habe ein WG-Zimmer gefunden und sein Vater helfe beim Umzug. Anschließend nimmt er zwei geringfügige Jobs an. Ein Veränderungsprozess ist offensichtlich in Gang gekommen, eindrucksvoll sind die Veränderungen besonders nach den Familiengesprächen. Sie bestätigen die Annahme, dass die Lösung im System liegt und sich durch Neugier, Geduld und Humor aufspüren lässt. Und selbst für Nichtveränderung kann es gute Gründe geben. Schlussbemerkungen Die Frage, ob und wie sich Systemische Therapie in die psychiatrische Versorgung sinnvoll integrieren lässt, wird durch die bisher durchweg positiven Erfahrungen aus der Praxis beantwortet. Begreift man den systemischen Ansatz als Ergänzung zur bestehenden ambulanten und stationären Arbeit, eröffnen sich neue Aspekte, die insbesondere hilfreich für die Behandlung von Menschen mit Psychosen sind. Die Erfahrungen zeigen, dass die oben skizzierte systemische Haltung sehr wohl auch mit anderen Interventionen verknüpfbar ist, 27 28 ohne dass eine der Behandlungsmethoden einen Gesichtsverlust erleiden muss. Auch eine begleitende medikamentöse Behandlung hat in diesem Rahmen Bestand. Ein Mehraufwand durch die vordergründig luxuriös erscheinende Arbeit zu zweit ist aus unserer Sicht nicht gegeben. Veränderungsprozesse werden rascher in Gang gesetzt und haben mehr Bestand, da sie von den Betroffenen selbst getragen sind. Veränderungen passieren zudem in der Regel nicht in den Gesprächen, sondern zwischen den Gesprächen. So liegen die Abstände der Termine bei mindestens vier Wochen, manchmal auch deutlich länger. Abstände und Häufigkeit von Familiengesprächen in einer ambulanten Behandlung richten sich selbstverständlich nach dem Einzelfall. Bei manchen Patienten, wie im ersten dargestellten Fall, ist es sinnvoll, zusätzlich zu Einzelterminen Familiengespräche anzubieten, bei anderen werden die Gespräche nur gemeinsam geführt, auch einmalige ergänzende Familiengespräche sind denkbar. Die Atmosphäre, in der die Gespräche stattfinden, ist neben der wertschätzenden Stimmung auch von Humor geprägt. Das Klima wird leichter und Schritte zu Veränderungen damit auch. Darüber hinaus macht die systemische Arbeit zu zweit viel Freude, was sich den Patienten natürlich deutlich vermittelt. Zudem ist es ausgesprochen hilfreich, das eigene Handeln zu überprüfen und sich damit selbst ständig in einer Entwicklung zu befinden. »Es kann viel Spaß machen, das Gewusste infrage zu stellen, das kaum Gedachte zum Thema zu machen.« (von Schlippe & Schweitzer 1996, S. 116) Literatur RETZER A (2004) Systemische Familientherapie der Psychosen. Hogrefe RETZER A (1996) Familie und Psychose. Urban & Fischer RETZER A (1996) Die Behandlung psychotischen Verhaltens. CarlAuer-Systeme SCHLIPPE A VON, SCHWEITZER J (1996) Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Vandenhoeck & Ruprecht Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie Eckhart Salzmann Vor dem Hintergrund einer fachlichen, exemplarisch an sozialpsychiatrischen Entwicklungen orientierten Standortbestimmung der modernen Medizin wird das Konzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) vorgestellt. IGZ sollen nicht nur therapeutisch, sondern auch präventiv arbeiten und kollegial geleitet werden in Teamarbeit von Spezialisten für die biologischen, psychischen und sozialen Aspekte der Gesundheit und der Krankheiten des Menschen. Dessen möglichst selbstbestimmtes Wohlergehen im Sinne einer Salutogenese – nicht nur seine ökonomisch oder anders definierte Leistungsfähigkeit – soll im Vordergrund stehen. Mögliche Konsequenzen des Modells werden diskutiert. Einführung »Es reicht nicht, in Festvorträgen und Sonntagsreden von ganzheitlicher Sichtweise zu sprechen oder von Verlagerung der Schwerpunkte von der technischen zur Sprechmedizin durch die Veränderung von Gebührenordnungen oder so zu tun, als wären die wirklichen Probleme, mit denen wir es zu tun haben, solche von Kostenexplosion, Rationalisierung oder Rationierung. Die wirklichen Probleme sind Verständigungsprobleme zwischen Arzt, Patient und Gesellschaft, sind Auswüchse der Babylonisierung der Medizin (...).« Der Sozialpsychiater Asmus Finzen hat 2001 diese Worte geprägt, die Anlass sein sollen, nach den Ursprüngen und vor allem den Zielen der Entwicklung einer zunehmend ganzheitlich orientierten Medizin im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu fragen. SCHLIPPE A VON, SCHWEITZER J (2006) Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Vandenhoeck & Ruprecht SCHWEITZER J, NICOLAI E, HIRSCHENBERGER N (2005) Wenn Krankenhäuser Stimmen hören. Vandenhoeck & Ruprecht SIMON FB (2008) Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Carl-Auer SIMON F, RECH-SIMON C (2002) Zirkuläres Fragen. Carl-Auer-Systeme TINARI P et al. (2004) Genotype-environment interaction. British Journal of Psychiatry Anschrift für die Autoren Dr. Wolfgang Dillo Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover Historische Entwicklung der Konzepte der Medizin Die heutige Stellung und Bedeutung der Medizin lässt sich nur vor dem Hintergrund ihrer rasanten Entwicklung mit Beginn im 19. Jahrhundert aufgrund der damals neuen, bis heute dominierenden biologisch-naturwissenschaftlichen Methodik verstehen. Die Behandlung sogenannter körperlicher Krankheiten gelang mithilfe dieser Herangehensweise so gut wie zuvor mit keiner anderen Methode. Folgerichtig behauptete Sigmund Freud um die darauffolgende Jahrhundertwende, auch die Psyche, ihre unbewussten Anteile und deren Störungen von Krankheitswert ebenfalls wissenschaftlich verstehen und behandeln zu können. Er gab dabei eine quasi-naturwissenschaftliche Exaktheit vor. Zu Recht wurde später diese damalige Form der Tiefenpsychologie für diesen Etikettenschwindel kritisiert, und es entstand aus der philosophischen Richtung des Behaviourismus die radikale Gegenbewegung, die in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts zur Verhaltens- Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Salzmann: Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie therapie führte, die ursprünglich die nur subjektiv erlebbaren Inhalte der Psyche mit Skinner als Blackbox ausklammerte, da sie sich definitionsgemäß der naturwissenschaftlichen, operationalisierbaren Betrachtung entziehen. Es ist jedoch, wie an anderer Stelle eingehend dargestellt (Salzmann 2005), davon auszugehen, dass die menschliche Psyche sich nicht hinreichend erklären und verstehen lässt, wenn man sie auf die naturwissenschaftlich verstehbaren Aspekte der Hirnfunktion reduziert. Deren Kenntnis ist zwar wichtig für das Verständnis sozusagen der Funktionsgrundlagen, aber das subjektive Erleben ist damit nicht wirklich begreifbar – so wie zum Verständnis eines Bildes die Kenntnis der zur Entstehung führenden Maltechnik wichtig, aber nicht ausreichend ist. Analog wäre es nicht sinnvoll, die Psyche modellhaft entweder nur als biologisch bedingt oder nur als nicht biologisch bedingt anzusehen. Entsprechend ist der oben angerissene Methodenstreit auch im Bereich der Psychotherapie dann sinnlos, wenn er zu einseitiger Bevorzugung oder Ablehnung einer Methode führen würde. Darüber hinaus lässt sich aber Psychotherapie nicht ohne unzulässige Einseitigkeit begreifen, wenn man neben der biologischen und der psychischen nicht auch die soziale Dimension des Menschen berücksichtigt. Genauer gesagt: Keine dieser drei Dimensionen ist wirklich verstehbar ohne die Kenntnis der anderen, und keine lässt sich zwingend aus den anderen herleiten. Jede bedarf eigener methodischer Zugangsweisen, die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern sich gegenseitig befruchten können. Ein interessantes aktuelles Beispiel hierfür ist die Chaostheorie, die beispielsweise der Osnabrücker Psychologe Kriz (2004) von den Naturwissenschaften über das Verständnis soziologischer Prozesse auf die Psychotherapie übertragen hat. Das starre Festhalten am Denken in biologistischen Gesetzmäßigkeiten, so zeigt er, führt individuell zur Festigung neurotischer Strukturen und gesellschaftlich zur Festigung hierarchisch-kontrollierender Strukturen anstelle einer Selbstorganisation in größtmöglicher Selbstbestimmung. Das bio-psycho-soziale Modell des Menschen Aber zurück zur Grundfrage nach den Dimensionen des Menschseins: Der Mensch wird spätestens seit Engel (1977) modellhaft als bio-psycho-soziales Wesen angesehen. Die soziale Dimension ist, historisch gesehen, sicher noch später in das Bewusstsein der Vertreter der klassischen Medizin Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 gerückt und wird bis heute noch weniger als die psychische Dimension berücksichtigt. Diese Überlegungen sollen andererseits nicht bedeuten, dass es etwa alleinige Aufgabe der Medizin sein könnte, die verschiedenen Dimensionen in der persönlichen Zuwendung zum Menschen erschöpfend abzudecken. Für jede Dimension muss es Spezialisten geben. Dies darf aber nicht zur künstlichen Aufteilung des Menschen in seine Anteile führen, sodass ein ganzheitlicher Zugang nicht mehr möglich ist. Das zumindest grundlegende Verständnis aller Dimensionen des Menschseins sollte daher für alle sozialen Berufe Voraussetzung sein. Praktische Beispiele Diese Gedanken sollen an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Es gibt heute keinen Zweifel mehr, dass zahlreiche sogenannte körperliche Krankheiten wesentliche psychische und soziale Ursachen haben. Selbst die Entwicklung von malignen Krebserkrankungen sowie von Infektionen wird über Mechanismen, die Gegenstand der Psychoimmunologie sind, beeinflusst. Der Effekt sozialer Faktoren auf somatische Krankheiten ist weniger gut belegt, es gibt aber doch diverse Untersuchungen, die auf diese Zusammenhänge hinweisen und unter anderem auch den geschlechtsspezifischen Unterschied in der Lebenserwartung zumindest zu einem gewissen Teil erklären (Luy 2002). Die psychischen und sozialen Folgen körperlicher Erkrankungen und Behinderungen zu thematisieren, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Die Entstehung psychischer Störungen von Krankheitswert kann vielfältige Ursachen im Bereich der biologischen Körperfunktionen haben, wie zum Beispiel Depressionen und Ängste durch Schilddrüsenfehlfunktionen hervorgerufen werden können. Besonders interessant sind aber die vielfältigen Wechselwirkungen, mit denen psychische und soziale Dekompensationen einander bedingen. Hierzu soll ein Fallbeispiel skizziert werden, das an anderer Stelle ausführlich beschrieben ist (Salzmann 2006). Eine junge Frau mit einer leichten geistigen Behinderung, die wegen einer schizoaffektiven Psychose mit kombinierter, auch neuroleptischer Dauermedikation behandelt wurde, entwickelte bei unveränderter Therapie scheinbar unvermittelt eine Gangstörung, die sie zu invalidisieren drohte. Die Gangstörung wurde von der heilpädagogischen Betreuungsumgebung zurückgeführt auf die Medikation. Diese Vermutung erwies sich nach ärztlicher Untersuchung als falsch, die in diesem Fall zu erwartenden extrapyramidalmotorischen Symptome lagen nicht vor. Auch handelte es sich offenbar nicht um eine manieristische Gangstörung, wie sie im Rahmen katatoner Psychosen auftreten kann. So lag die Vermutung einer neurotisch bedingten, psychogenen Gangstörung nahe, die auch durch das aufmerksamkeitsabhängige Fluktuieren der Störung gestützt wurde. Andere, 29 30 Salzmann: Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie nicht körperbezogene neurotische Symptome, die bei dieser Frau erkennbar waren, ließen sich – trotz fremdanamnestischer Hinweise auf eine enge, aber unzuverlässige Mutterbindung – im Übrigen nur schwer psychodynamisch erklären, da sowohl die Intelligenzminderung als auch die psychotische Instabilität der Persönlichkeitsstruktur aufdeckende Gespräche erschwerten. Neu oder verstärkt aufgetretene neurotische Symptome sind aber nur durch einen Reaktualisierungsanlass erklärbar, der den zugrunde liegenden frühkindlichen Konflikt erneut symptomhaft werden lässt. Dieser Anlass lag offenbar in diesem Fall, wie so häufig, im sozialen Bereich. Wenige Wochen zuvor war die junge Frau ausgeschult worden, eine Werkstattaufnahme war wegen des Ausmaßes der Behinderungen nicht möglich und ein Platz in der Tagesförderstätte nicht absehbar. Dieses Problem und seine Bedeutung für die junge Frau fiel nach Ausschluss der anderen möglichen Ursachen im interdisziplinären Gespräch auf, und der leitende Sozialarbeiter sagte dieser Frau daraufhin trotz größter organisatorischer Schwierigkeiten eine Aufnahme in der Tagesförderstätte zu. Zugleich wurden einfache begleitende Gespräche geführt, in denen die verkörperlichte Angst, ohne soziale Perspektive nicht mehr alleine durchs Leben gehen zu können, verbalisiert werden konnte; außerdem gelang es in der heilpädagogischen Betreuung, der Gangstörung weniger und den gesunden Ressourcen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dies sowie die verlässliche soziale Perspektive und zusätzliche nonverbale, die Kreativität und damit das Selbstwertgefühl stärkende Therapieverfahren haben noch vor Aufnahme in die Tagesförderstätte zum vollständigen Verschwinden der psychogenen, eigentlich »psycho-soziogenen« Gangstörung geführt, die unter der Tagesförderung und den multidimensionalen Therapieansätzen in den seither vergangenen zwei Jahren nicht mehr aufgetreten ist, während es in dieser Zeit zu einer anhaltenden Besserung der gesamten psychischen Befindlichkeit gekommen ist. An diesem Beispiel werden verschiedene Aspekte deutlich: soziale Verhältnisse können krank machen – und sie können gesund machen. Das Verständnis der körperlichen und psychischen Verhältnisse ist dabei ebenso wichtig. Die Vulnerabilität, also die Verletzbarkeit, ist individuell unterschiedlich – auch hier spielen nach dem heute allgemein akzeptierten Vulnerabilitäts-Stress-Modell alle drei genannten Ebenen eine Rolle (Übersicht hierzu bei Bäuml 1994). Die Gestaltung sozialer Verhältnisse muss die sozialpsychiatrischen Erkenntnisse berücksichtigen. Beispielsweise kann in der individuellen Konstellation Überforderung ebenso schädlich sein wie Unterforderung – in diesem Fall war Werkstattarbeit schädlich, Tagesförderung nützlich, und es war die äußere Vorgabe einer sozialen Perspektive ebenso hilfreich wie die Berücksichtigung der erforderlichen individuellen Wünsche und Notwendigkeiten, etwa hinsichtlich verschiedener Abgrenzungshilfen und -möglichkeiten, welche die Tagesförderstätte im Gegensatz zur Werkstatt bietet. – Zahlreiche Psychosen und Neurosen werden ohne das Verständnis der zugrunde liegenden Psychodynamik nur unvollständig begriffen. Häufig ist ein durch frühkindliche prägende Konstellationen fixierter innerer Autonomie-/Abhängigkeitskonflikt von Bedeutung. Details hierzu sind in der bereits zitierten Monografie über Psychotherapie angegeben (Salzmann 2005). Kurz gesagt, resultiert aus diesem inneren Konflikt eine oft zum Teil unbewusste, existenzielle Angst vor Selbstständigkeit, daraus folgt die ebenso unbewusste Suche abhängiger Bindungen, die aber den schwächenden Kreislauf der Ambivalenz weiter fixieren. Dieses Verständnis der Psyche ist Voraussetzung für die wichtige sozialarbeiterische, ja sozialtherapeutische Begleitung der Betroffenen und die Beziehungsgestaltung. Ziel muss, wie Elisabeth StindlNemec (2001) in Anlehnung an Heinz von Foerster dies herausgearbeitet hat, die Ermutigung zu Entscheidungen sein, die möglichst viel Spielraum eröffnen – ohne allerdings zugleich weder einerseits die Ängste vor der Autonomie zu ignorieren, noch andererseits die oft nicht sinnvolle und gar nicht bewusst erlebte eigene Suche abhängiger Sozialstrukturen der Betroffenen auch noch unnötig zu fördern (Salzmann 2005). Nicht ohne Grund hat sich bei Menschen mit schizophrenen Psychosen in zahlreichen Untersuchungen gezeigt, dass das Rückfallrisiko ganz erheblich stieg, wenn viele Emotionen in der sozialen Umgebung der Betroffenen zum Ausdruck gebracht wurden – und zwar gleichgültig, ob diese Emotionen kritisch-feindseliger oder positiv-empathischer Natur war (Übersicht bei Eikelmann 1998). Dem hieraus entwickelten sogenannten Expressed Emotions (EE)Konzept zufolge muss also das soziale Milieu freundlich-distanziert sein und die Entwicklung größtmöglicher äußerer und vor allem innerer Selbstständigkeit fördern. Ohne das Verständnis solcher psychosozialer Zusammenhänge jedoch, die hier nur angerissen werden können, werden weder psycho- noch soziotherapeutische Ansätze auf Dauer erfolgreich sein. Und Sozialarbeit auf dieser Ebene, so hat es beispielsweise Andreas Knoll (2000) postuliert, muss Sozialtherapie sein. Zahlreiche weitere, sehr interessante Beispiele hierzu finden sich in dem Lehrbuch über »Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der Psychiatrie« (2001) von Bosshard, Ebert und Lazarus. Im Idealfall, auch das zeigt das hier genannte Beispiel zumindest indirekt, kann durch geeignete Maßnahmen, etwa im sozialen Bereich, aber bereits die Entstehung einer psychischen, psychosomatischen oder psychosozialen Störung von Krankheitswert präventiv verhindert werden. Nicht nur in Deutschland, das durch die fürchterlichen Irrwege der Sozial- und Rassenhygiene des sogenannten Dritten Reiches besonders belastet ist, auch wenn diese sich der Tradition vor allem der biologischen, weniger der soziologischen Wissenschaften bedienten, ist dieser Aspekt erst sehr spät einigermaßen angemessen beachtet worden. 1987 formulierte Antonovsky sein Konzept der Salutogenese als Gegenstück zu der in der Medizin bislang im Vordergrund des Interesses stehenden Pathogenese (deutsche Übersetzung 1997). Der Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Salzmann: Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie Mensch wird demzufolge modellhaft in einem Kontinuum mit den zwei Polen krank und gesund gedacht. Konsequenzen Aus diesen Überlegungen ergeben sich folgende Konsequenzen: Sowohl therapeutische als auch präventive, also gesundheitsfördernde Maßnahmen sollten als zusammengehörig begriffen werden – und dies auf allen Ebenen, also ebenso geltend für biologische, psychische wie soziale Maßnahmen. Soweit Spezialisierungen existieren, sind zur Realisierbarkeit ganzheitlicher Konzepte die Voraussetzungen für kooperative Teamarbeit zu schaffen. Das bedeutet zunächst eine profunde Ausbildung, etwa im Studium einer der genannten Spezialrichtungen, in dem auch das Spezialwissen der anderen Richtungen möglichst umfassend vermittelt werden muss. In der späteren Praxis bedeutet dies, dass sowohl bei den Leistungs-, also Kostenträgern als auch bei den Leistungserbringern die organisatorisch-strukturellen scharfen Trennungen zwischen Prävention, ambulanter und stationärer Krankenbehandlung, Rehabilitation und Eingliederungshilfe bzw. Maßnahmen zur sozialen Teilhabe, etwa auch bei Arbeitslosigkeit, aufgehoben werden müssen. Erste Ansätze in diese Richtung sind beispielsweise in den Sozialpädiatrischen Zentren erkennbar, in denen die Vergütung nicht nur ärztliche, sondern auch pädagogische und sozialarbeiterische Leistungen ermöglicht. In psychiatrischen Kassenarztpraxen ist die Kooperation mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern weiterhin sehr erschwert und zudem die Indikationsstellung unsinnigerweise einseitig den Ärztinnen und Ärzten zugeordnet. Sozialarbeit muss als Disziplin nicht nur im Sinne einer Soziotherapie wirklich anerkannt werden, sondern gerade auch bei der präventiven Gestaltung sozialer Milieus. Warum werden Betriebe in Deutschland gezwungen, ihre Arbeitsbedingungen unter arbeitsmedizinischen, aber nicht wirklich unter psychosozialen Aspekten überprüfen zu lassen? Warum müssen erst in dramatischem Umfang chronische psychische Störungen auftreten, bis die Idee entsteht, die für Deutschland der Sozialpsychiater Eikelmann (2005) nach den amerikanischen »Supported Employment«- oder »Individual Placement and Support«-Konzepten adaptiert hat, der zufolge die wechselseitige Anpassung von Arbeitsmilieu und Arbeitnehmer durch einen persönlichen Job Coach vor Ort verbessert werden soll? Vorerst eine Utopie, aber im Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen künftig mithilfe des Persönlichen Budgets realisierbar, das gemäß § 17 SGB IX spätestens ab 2008 gilt. Allerdings fehlt beim Konzept des Persönlichen Budgets wiederum weitgehend die interprofessionelle psychologische und psychiatrische Begleitung. Immer noch erfolgt – trotz Vorgabe eines bereichsübergreifenden Vorgehens – die Trennung der verschiedenen Fachgebiete. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Integrative Gesundheitszentren (IGZ) Die Zukunft sollte Zentren gehören, die Integrative Gesundheitszentren (IGZ) genannt werden könnten, die nicht nur therapeutisch, sondern auch präventiv arbeiten und die kollegial geleitet werden in Teamarbeit von Spezialisten für die biologischen, psychischen und sozialen Aspekte der Gesundheit und der Krankheiten des Menschen. Dessen möglichst selbstbestimmtes Wohlergehen – und übrigens nicht nur seine ökonomisch oder anders definierte Leistungsfähigkeit – sollte im Vordergrund stehen. Dafür müssen in allen Gesellschaftsbereichen fachkompetent die bio-psycho-sozialen Voraussetzungen geschaffen werden – nach Möglichkeit, bevor es zum individuellen oder gar kollektiven Verlust des Gleichgewichts der Dimensionen des Menschseins kommt. Dieses Konzept ist nicht zu verwechseln mit denen der Integrierten Versorgung gemäß § 140 SGB V oder der Medizinischen Versorgungszentren, die zwar der fachübergreifenden, aber doch im Wesentlichen nur der ärztlich ausgerichteten und nur der Krankenversorgung beziehungsweise der Vorbeugung unmittelbar drohender Krankheiten dienen. Das Konzept Integrativer Gesundheitszentren mit ganzheitlichem, bio-psycho-sozialem und insbesondere auch umfassend präventivem Ansatz geht weit darüber hinaus. Es wird insofern möglicherweise an den traditionell starren strukturellen Grenzen der verschiedenen Organisationsformen im Gesundheitswesen scheitern. Andererseits sollte das Konzept für sachorientierte Fachleute eine so große immanente Überzeugungskraft besitzen, dass Veränderungsangebote gerade auch dann akzeptabel erscheinen sollten, wenn dadurch die Arbeit jedes Einzelnen in diesem Gesundheitswesen sinnhafter und befriedigender wird und zugleich die Sicherheit der eigenen Arbeitsverhältnisse durch die erforderlichen Umstrukturierungen nicht über Gebühr beeinträchtigt wird. Als Argumente gegen dieses Konzept der IGZ werden weiterhin – wie immer im Gesundheitswesen – die Kosten genannt werden. Psycho- und Soziotherapie werden vielfach ohnehin lediglich als Kostenfaktor empfunden, die sekundären Kostenersparnisse durch diese Verfahren oder durch Prävention in diesen Bereichen sind im Wesentlichen bislang nur indirekt erfassbar. Besonders wenig ist, wie auch der WHO-Report über »Psychische Gesundheit und Arbeitsleben« von 2005 feststellt, der Einfluss der psychosozialen Arbeitsbedingungen auf die psychische Gesundheit untersucht. Andererseits ist etwa durch neueste Daten der DAK bekannt, dass die Häufigkeit psychischer Störungen mit konsekutiver Arbeitsunfähigkeit, die im Übrigen insgesamt abnahm, dramatisch zunimmt: seit 1997 um 70 %. Die Gesamtkosten für durch Stress am Arbeitsplatz verursachte psychische Gesundheitsprobleme und ihre Folgen belaufen sich nach Angaben von 2002, die in dem erwähnten WHO-Report zusammengefasst werden, für den Bereich der Europäischen Union geschätzt auf 265 Milliarden Euro pro Jahr, das sind 3 – 4 % des Bruttosozialprodukts. Wenn man dann noch zur Kenntnis nimmt, dass entgegen allen pauschalen Angaben über eine Kostenexplosion im 31 32 Salzmann: Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie Gesundheitswesen die Ausgaben für Gesundheit sowohl der GKV als auch die Gesamtausgaben bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt über beinahe drei Jahrzehnte hinweg konstant geblieben sind, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundeswirtschaftsministers 2001 festgestellt hat und das Statistische Bundesamt (2005) auch für die Zeit danach bestätigt, dann wird deutlich, dass Kosten für psychosoziale Prävention wahrscheinlich weder unangemessen noch fehlinvestiert wären. Das »Totschlagargument« gegenüber psychosozialen Ansätzen jedoch ist die Forderung eines sicheren Wirksamkeitsnachweises. Wer sich mit Psychotherapeuten und Sozialarbeitern unterhält, wird feststellen, dass diese kein wesentliches Bedürfnis nach derartigen wissenschaftlichen Nachweisen verspüren, jedenfalls nicht zur pauschalen Legitimation ihrer Tätigkeit – und dies nicht, weil sie ihre Arbeit nicht infrage stellen würden, sondern weil sie deren grundsätzliche Wirksamkeit täglich erleben, sozusagen unmittelbar evidenzbasiert. Es ist aber das Diktat des, wie dargestellt, übermächtigen naturwissenschaftlich-medizinischen Denkansatzes, Ursache und Wirkung isolieren und kontrollieren zu wollen. In komplexen Systemen wie dem der Psyche oder eines sozialen Miteinanders ist dies eben oft nicht möglich – und trotzdem macht es Sinn, sich mit solchen Ursachen und Wirkungen, vor allem auch den Wechselwirkungen zu beschäftigen, sie mit ihnen angemessenen Methoden zu erforschen und dann in bestmöglicher, individuell angepasster Form zu nutzen. Auf diese dringend erforderliche Akzeptanz einer solchen Methodenvielfalt hat insbesondere der bereits zitierte Asmus Finzen wiederholt hingewiesen (2001). DEUTSCHES INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSFORSCHUNG (2001) Wirt- schaftliche Aspekte der Märkte für Gesundheitsdienstleistungen. DIW, Berlin EIKELMANN B (1998) Sozialpsychiatrisches Basiswissen: Grundlagen und Praxis. 2. Auflage. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart EIKELMANN B (2005) Integration psychisch Kranker. Ziel ist die Teilnahme am »wirklichen« Leben. Deutsches Ärzteblatt16: A1104A1110 ENGEL GL (1977) The need for a new medical model: A challenge for biomedicine. Science 196: 129 – 136. FINZEN A (2001) Sozialpsychiatrie zwischen Medizin und Sozialwissenschaften – Eine Bestandsaufnahme. In: WOLLSCHLÄGER M Sozialpsychiatrie. Entwicklungen – Kontroversen – Perspektiven. dgvt-Verlag, Tübingen KNOLL A (2000) Sozialarbeit in der Psychiatrie. Von der Fürsorge zur Sozialtherapie. Band 8 der Reihe: BELARDI N (Hg.) Focus Soziale Arbeit. Leske + Budrich, Opladen KRIZ J (2004) Lebenswelten im Umbruch – Zwischen Chaos und Ordnung. Picus Verlag, Wien LUY M (2002) Warum Frauen länger leben – Erkenntnisse aus einem Vergleich von Kloster- und Allgemeinbevölkerung. Materialien zur Bevölkerungswissenschaft 106. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Wiesbaden SALZMANN E (2005) Psychotherapie – Wege zur inneren Selbständigkeit. Band 7 der Reihe: MAIR H, EIKELMANN B, REKER T (Hg.): Sozialpsychiatrie und Psychosoziale Versorgung. LIT Verlag, Münster SALZMANN E (2006) Angst- und Zwangsstörungen, Belastungs-, dissoziative und somatoforme Störungen. In: Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Ein Arbeits- und Praxisbuch. Hrsg. SCHANZE C, Schattauer Verlag, Stuttgart, im Druck Zusammenfassung Aus den hier dargestellten Gründen darf die traditionell einseitig naturwissenschaftliche Denkweise einer veralteten Medizin nicht dazu führen, dass therapeutische und präventive Ansätze mit psychosozialem Schwerpunkt unterbewertet werden. Sowohl in die Entwicklung eigener Forschungsansätze und -methoden als auch in die interdisziplinäre Ausbildung und insbesondere in die praktische Umsetzung psychosozialer, salutogenetischer Aspekte im Rahmen Integrativer Gesundheitszentren muss investiert werden. Der ökonomische Erfolg dieser Maßnahmen wird vielleicht indirekt messbar werden, aber dies kann paradoxerweise nur gelingen, wenn naturwissenschaftliche und ökonomische Gesetzmäßigkeiten nicht mehr als allein bestimmende Faktoren des Wohlergehens des Menschen verstanden werden. STINDL-NEMEC E (2001) Wieder dabei. Systemische Sozialarbeit in der gemeindenahen Psychiatrie. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg WHO – Europäische Ministerielle WHO-Konferenz Psychische Gesundheit (2005) Psychische Gesundheit und Arbeitsleben. WHO, Helsinki Anschrift des Verfassers Dr. med. Eckhart Salzmann Rehabilitations- und Präventionszentrum Bad Bocklet Frankenstr. 36 97708 Bad Bocklet Literatur ANTONOVSKY A (1997) Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. dgvt-Verlag, Tübingen BÄUML J (1994) Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Ein Ratgeber für Patienten und Angehörige. Springer-Verlag, Berlin BOSSARD M, EBERT U, LAZARUS H (2001) Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der Psychiatrie. Lehrbuch. Psychiatrie-Verlag, Bonn Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 33 Kinder schizophrener Mütter – ein Rückblick auf 14 Jahre Gruppenarbeit und ein Einblick in die Netzwerkarbeit im Landkreis Oberspreewald-Lausitz Ute Bürgermeister, Annemarie Jost und Sarah Fliegner Wir hatten an dieser Stelle bereits einmal über das Gruppenkonzept für Kinder schizophrener Mütter in Senftenberg berichtet (Bürgermeister & Jost 2000) und möchten nun einerseits die Entwicklung einer jungen Frau darstellen, die viele Jahre an der Gruppenarbeit teilgenommen hat, und andererseits die Impulse aufzeigen, die aus der Gruppenarbeit heraus für die Weiterentwicklung der Hilfen und die bessere Vernetzung zwischen Sozialpsychiatrie und Jugendhilfe entstanden sind. Die Sichtweise einer Betroffenen Zunächst soll Sarah zu Wort kommen: Mein Name ist Sarah, und als ich 15 Jahre alt war, habe ich im Gerichtsgebäude in Senftenberg vor meiner Mutter gestanden und ihr gesagt, dass ich niemals zu ihr ziehen würde, dass sie mit ihrem Verhalten mein Leben und das meines Bruders zerstört und sie mich vollkommen verlieren wird, wenn sie uns noch einmal vor ein Familiengericht zerrt. Eine eher ungewöhnliche Situation, die mich damals fast um den Verstand gebracht und innerlich zerrissen hat. Heute bin ich 18, und mit der Erinnerung an diesen Tag laufen mir immer noch die Tränen über mein Gesicht. Wie konnte mir so etwas bloß passieren? Meine Zensuren waren schon immer sehr gut. Auf Zeugnissen nur Einsen und Zweien ohne stundenlanges Lernen oder Üben. Für die älteren Mitschüler hatte ich kein Interesse und mit Freunden keinen Streit. Wieso stand ausgerechnet ich in diesem Gerichtsgebäude? Den Hauptgrund stellte wohl meine Mutter dar. Seit mein kleiner Bruder geboren wurde (ich war zu diesem Zeitpunkt dreieinhalb), ist sie psychisch krank. Das hieß für ihren Freund – und meinen Wunschvater – Gerd ständige Krankenhausbesuche, neue Einweisungen, Rückfälle, manisch-depressive sowie schizophrene Anfälle und ständige Angst vor der nächsten Krise. Für meinen Bruder und mich bedeutete es viel Zeit bei Oma Ilse, bei seiner Tagesmutter, im Krankenhaus oder einfach zu Hause ohne Mutti. Mein Leben war vielleicht etwas anders als das meiner Mitschüler, aber eigentlich für ein Kind ziemlich normal. Mit Gerds Tod vor elf Jahren sollte sich allerdings alles schlagartig ändern. Bevor ich mich versah, stand meine leicht verwirrte Mutter in meinem Zimmer und packte meine Sachen. »Wir ziehen um!« Zu erwähnen wäre vielleicht noch, dass wir bis zu diesem Zeitpunkt bei Gerds Mutter im oberen Stockwerk gewohnt hatten. Plötzlich Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 fand ich mich in einer 3-Zimmer-Neubauwohnung wieder. Neues Zimmer, neue Nachbarn, neue Aufgaben und neue Familienangehörige! Mit einem Alter von sieben Jahren habe ich mir die ganzen Männer nicht gemerkt, bis auf einen. Er war öfter da und nach neun Monaten wussten dann auch alle warum. Ich bekam ein Schwesterchen – Jennifer – und meine Mutter den nächsten Einbruch. Nach wochenlangem, unregelmäßigem Wechsel von Heul- und Schreikrämpfen, Shopping- und Kneipentouren war es unserem männlichen Gast zu viel und er verschwand, ohne einen Gedanken an seine kleine Jennifer zu verschwenden. Und an mich! Da stand ich nun mit einem schreienden, kleinen Bündel im Arm, einem nervenden kleinen Bruder und meiner total verwirrten Mutter. Heute weiß ich, dass solche Zustände nicht normal sind – mit acht Jahren wusste ich das allerdings nicht. Schon damals habe ich ab und zu die Kindergruppe besucht und kannte Ute Bürgermeister, die mir damals als Einzige einen Rettungsring zuwarf und mit deren Hilfe ich aus diesem Schlamassel wieder herauskam. Ungefähr ein Jahr später wohnte ich mit meinem Bruder Christopher wieder bei Oma Ilse und meine Mutti war in psychiatrischer Betreuung, der sie sich damals leider entzog und für kurze Zeit komplett verschwand, nur um Monate später von einem Dorf in der Nähe von Magdeburg anzurufen. Sie hatte jemanden kennengelernt, es ging ihr gut und er kümmerte sich um sie und brachte sie regelmäßig in eine psychiatrische Klinik. Neben dem Verlust unserer Mutter hatten mein Bruder und ich auch den Verlust unserer kleinen Schwester zu verkraften. Sie war an einem Kindstod gestorben, während ich im Ferienlager war. Ich glaube diesen Schmerz konnte ich bis heute nicht richtig verarbeiten aber ich fange nach jahrelangem Verdrängen endlich an damit zu leben. Ich glaube meine Mutter hat Jennifer vergessen. Wir standen nie zusammen an ihrem kleinen Grab. Vielleicht ist bereits vor zehn Jahren etwas in mir zerbrochen, das mir mit 15 die Gewissheit geben konnte, nie wieder mit dieser Frau zusammenleben zu können – sie nur noch »Mutter« zu nennen, weil sie mir das Leben schenkte. Alles andere in mir hat sie zerstört. Möglicherweise weil sie nicht anders konnte, weil ihr nicht geholfen wurde oder weil sie sich nicht helfen lassen wollte. 34 Bürgermeister, Jost, Fliegner: Kinder schizophrener Mütter – ein Rückblick auf 14 Jahre Gruppenarbeit und ein Einblick in die Netzwerkarbeit im Landkreis Oberspreewald-Lausitz Egal warum ich es damals sagte, aber ich wollte sie nie wiedersehen, wenn sie uns noch einmal vor ein Gericht zerrt – wenn sie meine Oma noch einmal angreifen würde, meinen Bruder noch einmal so verstören würde oder uns noch ein einziges Mal mit Gewalt zwingen würde, zu ihr zu kommen. In einem halben Jahr werde ich mein Abitur schreiben. In der Schule bin ich eine von vielen. Eine ganz normale Schülerin mit guten Zensuren. Doch eigentlich weiß ich, dass ich nicht normal bin. Ich lebe bei der Oma meines Halbbruders Christopher. Ich kenne meinen leiblichen Vater nicht und werde ihm auch nie begegnen, weil er vor 14 Jahren gestorben ist. Ich muss meine Halbschwester auf dem Friedhof besuchen und habe nichts als ein Foto als Erinnerung. Ich kann anderen zuhören und ihnen bei Problemen beistehen, aber selbst nicht über meine reden. Ich bin unfähig, feste Bindungen einzugehen, aus Angst wieder verlassen zu werden. Und ich kann nicht über meine Vergangenheit sprechen, ohne in Tränen auszubrechen. Ich weiß, dass so etwas nicht normal ist! Und ich weiß, wie weh es tut, so zu leben! Aber ich habe gelernt, mich zu lieben und meinen Weg zu gehen. Ich habe gelernt, dass ich nicht für meine Mutter verantwortlich bin. Ich habe gelernt, dass ich nicht allein damit bin. Und ich habe gelernt zu weinen, wenn ich traurig bin und zu fragen, wenn ich Hilfe brauche. Es ist nicht leicht, so etwas zu erlernen und zu verstehen. Es dauert viel Zeit, Kraft, Tränen, Überwindung und extrem viel Unterstützung, die mir Ute und die Gruppe jetzt schon über zehn Jahre geben. Mein Lebenslauf ist zwar kein typischer für Kinder psychisch kranker Eltern, aber am Ende fühlen wir uns alle gleich: alleingelassen, verantwortlich für andere, isoliert, von niemandem verstanden und dazu verpflichtet, unsere Tränen zu verstecken. Die seelische Belastung für ein Kind ist unglaublich groß, wenn ein Elternteil psychisch erkrankt, und Kinder sind nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Sie stecken ein, damit alles wieder gut wird. Damit Mami aufhört zu weinen, damit Papi aufhört zu schreien, damit die Nachbarn aufhören zu fragen und damit alles wieder so wird wie früher. Anmerkungen der Gruppenleiterin Sarahs Ausführungen machen betroffen. Kinder, die mit wenigstens einem psychisch kranken Elternteil in einem dysfunktionalen Familiensystem leben, übernehmen viele Rollen: zum Beispiel als Partner, insbesondere wenn der Vater die Familie verlassen hat, oder als Mutterersatz gegenüber den jüngeren Geschwistern; sie übernehmen Aufgaben im Haushalt und verstecken die eigenen Überforderungsgefühle. Das Umfeld wird nur sehr begrenzt auf ihre Situation aufmerksam. Sarah ist inzwischen eine junge Frau, wird wie viele andere Mädchen der Gruppe irgendwann eigene Kinder haben. Die Gruppenarbeit konnte sie dabei unterstützen herauszufinden, was sie für ihren eigenen Weg braucht und wie sie sich von ihrer Mutter abgrenzen und ohne Schuldgefühle ihren eigenen Weg gehen kann. Es ist immer wieder ein Balanceakt, das dysfunktionale Familiensystem für die Kinder und Jugendlichen der Gruppe verständlich zu machen, verdeckte und offene Konflikte anzuschauen und zugleich Ressourcen herauszuarbeiten. Es gilt, den Mädchen und Jungen die Schwere der Verantwortung zu nehmen, und ihnen in den Familien die Möglichkeit zu geben, sich als junge Erwachsene zu verabschieden, dabei Trauer und Angst zuzulassen, den eigenen Weg zu finden und Schuldgefühle zu bewältigen. Nicht selten sind die psychisch kranken Mütter bereits selbst mit einer psychisch kranken Mutter aufgewachsen. Diese Mütter hätten sich ebenso in ihrer Kindheit für ihre Gefühle und Sorgen Ansprechpartner gewünscht. In der systemischen Arbeit begegnet man immer wieder Eltern, die ihre Kinder erziehen, die zugleich noch heute die Schwere der Verantwortung für die psychische Erkrankung ihrer eigenen Mutter auf ihren Schultern tragen und ein ständiges Gefühlschaos durchleben. Nicht selten erleben sie gleichzeitig Schwierigkeiten in der Bindung zu ihren Partnern. Die Arbeit mit der gesamten Familie wurde in den letzten Jahren durch meine familientherapeutische Ausbildung intensiviert. Hierdurch entstanden weitere Chancen für alle Beteiligten: die psychisch kranke Mutter, den erwachsenen Angehörigen und die Kinder als kleine Angehörige, eine Kette von Schuldgefühlen, Angst, Wut, Hass und Trauer auf allen Ebenen zu durchbrechen und Ressourcen für jeden Einzelnen herauszuarbeiten, um so eigene Lösungen zu finden. Die Weiterentwicklung der Gruppenarbeit und ihre Ausstrahlung im Netzwerk der Hilfen Seit nunmehr 14 Jahren werden im Sozialpsychiatrischen Dienst des Oberspreewald-Lausitzkreises die Kinder als »kleine Angehörige« ernst genommen und mithilfe eines resilienzstärkenden Gruppenangebotes unterstützt, das einmal im Monat stattfindet und zeitweilig in zwei Untergruppen für jüngere Kinder und Jugendliche aufgesplittet wird. Etwa einmal im Jahr findet eine gemeinsame Fahrt mit Übernachtung in Zelten statt. Das Gruppenangebot für die Kinder ist vernetzt mit Angehörigengruppen für Erwachsene und Betroffenengruppen. Bei Bedarf finden zusätzlich Einzel- und Familiengespräche statt. Seit Beginn haben 56 Kinder und Jugendliche an dem über die gesamte Zeitspanne von der gleichen Person – Frau Bürgermeister – geleiteten Gruppenangebot teilgenommen. Von diesen 56 Kindern haben sich – unseren Erkenntnissen zu Folge – fünf vorübergehend in stationäre und zwei in ambulante psychiatrische Behandlung begeben. Vier Kinder wurden zeitweilig in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe betreut. In diesem Zusammenhang ist deutlich geworden, wie wichtig es ist, die Maßnahmen der Jugendhilfe gut auf die Bedürfnisse Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Bürgermeister, Jost, Fliegner: Kinder schizophrener Mütter – ein Rückblick auf 14 Jahre Gruppenarbeit und ein Einblick in die Netzwerkarbeit im Landkreis Oberspreewald-Lausitz von Kindern schizophrener Mütter abzustimmen. Zu diesem Zweck haben wir einerseits spezielle Fortbildungsveranstaltungen in Jugendhilfeeinrichtungen durchgeführt und seit drei Jahren im Landkreis Oberspreewald-Lausitz einen etwa jährlich stattfindenden Erfahrungsaustausch mit Fachkräften der Jugendhilfe, Experten aus ambulanten und stationären sozialpsychiatrischen Einrichtungen (Sozialpsychiatrischer Dienst, niedergelassene Psychiater, Fachkräften aus der psychiatrischen Abteilung und der Kinderstation des Krankenhauses, Sozialarbeiter komplementärer Dienste), Kostenträgern und Mitgliedern der Fachhochschule etabliert. Die Teilnahme der Kostenträger (Jugendhilfe und Eingliederungshilfe) erleichtert es, für betroffene Familien flexible Lösungen bei der Vernetzung von Eingliederungshilfen für die Mütter und Hilfen zur Erziehung für die Kinder zu entwickeln. Bewährt hat sich im Oberspreewald-Lausitz-Kreis – bei guter Zuständigkeitsklärung zwischen den beiden Fachkräften – das ambulant betreute Wohnen der Mutter über Leistungen der Eingliederungshilfe in Kombination mit einer Unterstützung der Kinder durch eine Sozialpädagogische Familienhilfe. Mit der besseren Abstimmung der Hilfeplanungsprozesse der Kinder- und Jugendhilfe einerseits und der Eingliederungshilfe andererseits befasst sich derzeit auch das rheinland-pfälzische Projekt »Kinder psychisch kranker Eltern: Prävention und Kooperation von Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie«. In Rheinland-Pfalz geht es – ebenso wie bei uns – u. a. um die Frage, wie die unterschiedlichen Professionen bei Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Aufträge zu einem »gemeinsamen« Fallverständnis von der Familie kommen können und wie man gemeinsam die Hilfen an den Bedürfnissen der Familie ausrichten kann (Internetquelle 1). Kinder, die durch lange Krankenhausbehandlungen der Mutter in einer Heimeinrichtung oder in anderen Familien untergebracht werden, erleben Trennungssituationen. Wer kann diesen Kindern bei der Verarbeitung des Verlusterlebens und dem Trauerbedürfnis Unterstützung geben? Um herauszufinden, welche stabilen Bindungen hier außerhalb Kernfamilie als Ressource genutzt werden können, kann auch ein Notfallplan wichtige Hinweise geben (vgl. Homeier 2006, Beeck 2008 Internetquelle 2). Wir haben diesbezüglich einen eigenen Notfallpan entwickelt, der beispielsweise die besonderen Gewohnheiten der Kinder, ihre wichtigsten Kontaktpersonen, Wünsche bei notwendiger Fremdunterbringung und die Bedeutung ihrer Haustiere enthält. Inzwischen wurden 32 Notfallpläne mit betroffenen Familien erstellt. Ein Exemplar befindet sich in der Regel bei der Kontaktperson und Gruppenleiterin der Kindergruppe im Sozialpsychiatrischen Dienst, eines bei den Familien zu Hause und eines – falls gewünscht – bei anderen Helfern. Bisher wurden fünf Notfallpläne im Jugendamt hinterlegt. Ziel ist die Selbsthilfe vor der Amtshilfe in den Familien zu fördern. Insbesondere bei jüngeren Kindern ist die Aufnahme der Kinder als Begleitkinder bei einem stationären Krankenhausauf- Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 enthalt der Mütter in Betracht zu ziehen. Die nahe gelegene Asklepios-Fachklinik in Lübben (damals noch Landesklinik Lübben) hatte 2003 damit begonnen, Mütter und Kinder gemeinsam aufzunehmen; eine Sozialarbeiterin der Klinik unterstützt die Mütter mithilfe des Marte-meo-Ansatzes bei der Beziehungsgestaltung zu ihren Kindern. Bis 2008 konnten in dieser Klinik – unseren Recherchen zu Folge – 21 Mütter mit ihren bis 3-jährigen Kindern dort aufgenommen werden, wobei der Bedarf noch höher liegt. Derzeit gibt es Überlegungen, auch in der Tagesklinik des Klinikums Niederlausitz in Kooperation mit der Kinderstation oder der Jugendhilfe in Senftenberg eine gemeinsame Betreuung von Müttern und ihren kleinen Kindern zu ermöglichen. Hier gibt es immer wieder Hürden zu überwinden, die dadurch entstehen, dass unterschiedliche Kostenträger zuständig sind; jedoch hilft das Klima der Kooperation, das im Arbeitskreis entstanden ist, manche Hürde zu überspringen. Das bereits erwähnte rheinland-pfälzische Projekt entwickelt bezüglich der Krankenhausaufnahme psychisch kranker Eltern derzeit ein Frageraster zur Sensibilisierung für die Aspekte, die die Kinder der Patienten betreffen (Internetquelle 1), denn es ist durchaus nicht selbstverständlich, dass sich das Behandlungsteam einer Klinik in der nötigen Differenziertheit mit den Folgen für die Kinder auseinandersetzt. Generell spielen bisher die Kinder der Klienten auch in den Instrumenten der integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplanung nur eine sehr marginale Rolle. Wir möchten mit diesem Artikel Mut machen hinzuschauen, hinzuhören, zu unterstützen, und dabei Familien mit einem psychisch kranken Elternteil nicht losgelöst, sondern nur im Zusammenhang mit allen andern Mitgliedern der Familie zu betrachten und hierbei Ressourcen im Umfeld gezielt zu aktivieren. Literatur BÜRGERMEISTER U, JOST A (2000) Kinder schizophrener Mütter. Sozialpsychiatrische Informationen 30 (2) S. 3 – 7 HOMEIER S (2006) Sonnige Traurigtage. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag Internetquellen: Internetquelle 1: Projektkonzeption »Kinder psychisch kranker Eltern: Prävention und Kooperation von Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie«, Teil 3 des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz e. V. in Kooperation mit dem Deutschen Jugendinstitut in München, http://www.ism-mainz.de/admin/upload/ File/KpkrE_Projektkonzeption%20Phase%203.pdf Internetquelle 2: Beeck, S: www.netz-und-boden.de Anschrift für die Verfasserinnen Prof. Dr. Annemarie Jost Fachhochschule Lausitz Lipezker Str. 47 03048 Cottbus 35 36 Datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke im Sozialpsychiatrischen Verbund der Region Hannover Hermann Elgeti Sozialpsychiatrisches Handeln heißt Dialogfähigkeit und Kontextbezug Die Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke verkommt zu einer Art von Technokratie, wenn der Gehalt dessen, was geplant und evaluiert werden soll, in den Hintergrund gerät. Wie könnten der Gehalt und die Grundhaltung sozialpsychiatrischen Handelns bestimmt werden? Nach meinem Verständnis ist es die Kunst, auf diejenigen zuzugehen und ihnen auch nachzugehen, die wegen Art und Ausmaß ihrer psychischen und sozialen Probleme besonders gefährdet sind, im gesellschaftlichen Abseits zu landen. Dort sieht sie nämlich sonst keiner mehr, der ihnen helfen könnte oder wollte, und oft genug sind solche Menschen dann nicht mehr in der Lage, sich ohne Weiteres helfen zu lassen. Unser widersprüchlicher Auftrag zwischen Hilfe und Kontrolle sollte uns nicht zurückschrecken lassen vor dem Gedanken an Hilfen und Schutzmaßnahmen gegen den Willen des Betroffenen, trotz der inneren Zerreißproben, die das bei uns verursacht. Sozialpsychiatrisches Handeln beinhaltet die Fähigkeit zur Aufnahme eines respektvollen Dialogs auf fremdem Terrain, ohne die Vertrautheit der uns gewohnten Umgangsregeln, fern der herrschenden Normen und Standards. Wir müssen uns immer wieder auf einen anderen Kontext einstellen, wenn wir diagnostisch und therapeutisch tätig werden, angemessene Hilfen planen und diese auf ihre Notwendigkeit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit überprüfen. Um dem einzelnen Hilfsbedürftigen gerecht zu werden, müssen wir einkalkulieren, dass sein Hilfebedarf abhängig ist von den Besonderheiten seiner Lebensgeschichte, seiner aktuellen Notlage und seinen Zukunftserwartungen. Neben der Fähigkeit zum Dialog mit dem Betroffenen unter erschwerten Bedingungen müssen wir auch seine Umwelt in den Blick nehmen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei seine Angehörigen und Freunde, Nachbarn und Kollegen, ihre kulturelle Einbindung, ihre Hilfsmöglichkeiten und Toleranzgrenzen. Wichtig sind aber auch die Kontakte im Netzwerk der professionellen sozialen und medizinischen Dienste in der Region, an die wir bei entsprechender Indikation weiter vermitteln oder mit denen wir bei komplexem Hilfebedarf gemeinsam tätig werden wollen. Und nicht zuletzt sollten wir die für psychisch Kranke wichtigen Gesetze kennen, um dort zu beraten und zu unterstützen, wo es Konflikte geben könnte bei der Leistungsgewährung oder bei Regelverletzungen. Die Qualität sozialpsychiatrischer Dienstleistungen hängt also sehr von ihrem Kontextbezug ab, bei der Aufnahme eines therapeutischen Dialogs ebenso wie bei der Analyse seines Lebensumfelds. Daher gilt in der Sozialpsychiatrie auch ein besonderes Versorgungsprinzip: Dezentralisierung und Integration unserer Hilfen in einem überschaubaren Einzugsgebiet (sprich: Versorgungssektor) haben Vorrang vor der sonst so eingängigen Tendenz zur Spezialisierung an einem zentralen Ort mit den oft langen Anfahrtswegen. Gemeindepsychiatrie braucht regionale Koordinationsgremien Ich habe diese Bemerkungen zur sozialpsychiatrischen Grundhaltung an den Anfang gestellt, weil sie der Bezugspunkt für unsere Bemühungen in der Region Hannover um eine datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen bildet. Die Geschichte dieser Bemühungen reicht in das Jahr 1966 zurück, als Karl Peter Kisker den psychiatrischen Lehrstuhl an der neu gegründeten Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) übernahm. Kisker und auch Erich Wulff als Leiter der 1974 zusätzlich eingerichteten Abteilung Sozialpsychiatrie stammten aus der phänomenologisch-anthropologischen Linie der psychiatrischen Wissenschaft und machten sich mit dieser Grundhaltung an die Reformarbeit. Die MHH hatte zunächst noch gar keine eigenen Gebäude für ihre Lehre, Forschung und Krankenversorgung, und so war man auf die Gastfreundschaft einheimischer Kliniken angewiesen. Die psychiatrische Arbeit an der MHH begann auf zwei Stationen in Landeskrankenhaus Wunstorf, bald darauf wurde eine Poliklinik im Stadtgebiet neu eingerichtet. 1967 wurde der Verein zur Förderung seelisch Behinderter e. V. gegründet, der sofort für die soziale Rehabilitation chronisch psychisch kranker Patienten ein erstes Wohnheim eröffnete. Als Erich Wulff 1974 seinen Dienst antrat, gab es schon dezentrale Beratungsstellen des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpDi) in jedem Sektor von Stadt und Landkreis Hannover, zuzüglich einer zentralen Beratungsstelle für psychisch kranke Kinder und Jugendliche. Die beiden Gesundheitsämter, die vier Kliniken und weitere gemeindepsychiatrische Dienste im Großraum trafen sich monatlich zu einem Koordinierungsgespräch, aus dem der jetzige Arbeitskreis Gemeindepsychiatrie hervorging. 1977 verabredete man einvernehmlich die Einzugsgebiete von Kliniken und Beratungsstellen und legte Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Elgeti: Datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke im Sozialpsychiatrischen Verbund der Region Hannover sie in einem Straßenverzeichnis genau fest. Vieles wurde hier bereits ausprobiert, als 1975 die Psychiatrie-Enquete mit ihren Reformempfehlungen veröffentlicht wurde. 1980 übernahm die MHH per Vertrag mit der Stadt Hannover für ihr Einzugsgebiet die Funktion eines SpDi nach dem Niedersächsischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke von 1978 (NdsPsychKG). Dieses Gesetz wurde 1997 novelliert, und bei dieser Gelegenheit erhielten die Kommunen in § 8 NPsychKG die neue Aufgabe, einen Sozialpsychiatrischen Verbund (SpV) zu gründen, in dem alle Anbieter von Hilfen für psychisch Kranke zur Mitarbeit eingeladen sind. Die Einrichtungsträger werden aufgefordert, dem Verbund neu geplante oder geänderte Hilfsangebote anzuzeigen. Die regionale Koordination und Planung der gemeindepsychiatrischen Versorgung in der Stadt und im Landkreis Hannover wurde anlässlich des neuen NPsychKG reorganisiert. Dazu wurde eine Konzeption erstellt und eine formelle Vereinbarung zwischen den beiden Kommunen getroffen, die mit der Bildung der Region Hannover im Jahre 2001 von dieser übernommen wurde. Dem gemeinsamen Sozialpsychiatrischen Verbund wurden vier Zielperspektiven vorangestellt, die an der eingangs erläuterten Grundhaltung ausgerichtet sind. Ein klein gehaltener Fachbeirat steht dem Dezernenten zur Seite, der Arbeitskreis Gemeindepsychiatrie bildet die monatlich tagende Vollversammlung des Verbundes, seine Fachgruppen bearbeiten spezielle Themen. Sektor-Arbeitsgemeinschaften koordinieren die dezentralen Hilfsangebote in den inzwischen elf Sektoren einer Region, die mit ihren knapp 1,2 Mio. Einwohnern größer als das Saarland ist. Eine Geschäftsstelle mit einem Psychiatriekoordinator, als Stabsstelle der Leitung des Sozialpsychiatrischen Dienstes zugeordnet, unterstützt die Arbeit der Gremien organisatorisch. Die Selbsthilfeinitiativen der Psychiatrie-Erfahrenen und ihrer Angehörigen wirken seit Anfang der 90er- bzw. Ende der 80er-Jahre in den Gremien mit und spielen hier seitdem eine nicht zu überschätzende konstruktive Rolle. Die Zahl der stimmberechtigten Mitglieder des Verbundes liegt inzwischen bei 64 mit über 180 verschiedenen Hilfsangeboten. Die Beteiligung an den Gremiensitzungen ist rege, die Diskussionen werden offen geführt, sind aber entsprechend der Vorgaben des NPsychKG auf Konsensbildung angelegt. Das fördert die Beteiligungsmöglichkeit interessierter Personen und Einrichtungen, erschwert, verzögert oder verhindert andererseits gelegentlich eine klare Positionierung in Streitfragen. Planung geht nicht ohne aussagekräftige und vergleichbare Daten 2003 veröffentlichte Clemens Cording sein wichtiges Plädoyer für ein neues Paradigma zur Qualitätssicherung in der Psychiatrie.1 Er fordert statt der betriebswirtschaftlichen Optimierung einzelner Institutionen eine gesamtgesellschaftliche Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Perspektive. Als Qualitätskriterien sollen gelten die individuellen Langzeitergebnisse über alle beteiligten Institutionen hinweg und die Versorgungsqualität definierter Regionen. Die zu ergreifenden Maßnahmen müssen nach ihrer Kosteneffektivität priorisiert werden, ihre Implementierung schrittweise, zielorientiert und koordiniert erfolgen. Notwendig sind dazu entsprechende politisch-administrative Rahmenbedingungen. Gesundheitsberichterstattung im Allgemeinen und Psychiatrieberichterstattung im Besonderen sind in Deutschland unterentwickelt. Die vorhandenen Ansätze sind in der Regel mangels Aktualisierung, Aussagekraft und Vergleichbarkeit für Planungszwecke nicht zu gebrauchen. Jeder kennt inzwischen die Bestandteile einer Qualitätsentwicklung komplexer Organisationen, und jeder weiß, dass Ergebnisse messbar sein müssen, um den Erfolg geplanter Maßnahmen überprüfen zu können. Situationsanalyse, Politikformulierung, Umsetzung und Ergebnismessung bilden einen fortlaufenden Zirkelprozess, in dem Soll-Bestimmungen und Messungen des IstZustandes gleichermaßen ihren Platz haben. Laut § 9 des NPsychKG soll der SpDi der Kommune im Benehmen mit dem Verbund einen Sozialpsychiatrischen Plan aufstellen und regelmäßig fortschreiben. Da nun Planung auf verlässliche Datenerhebung angewiesen ist, wurde in der Konzeption des Verbundes der Region Hannover auch eine regionale Psychiatrieberichterstattung vorgesehen. In drei Schritten wurden statistische Jahresberichte der Einrichtungsträger nach einheitlichem Muster eingeführt. Die Daten eines Berichtsjahres sollen bis zum 31. März des Folgejahres bei der Geschäftsstelle abgegeben, innerhalb von drei Monaten ausgewertet und dann den Einrichtungen und Gremien des Verbundes zwecks Interpretation zur Verfügung gestellt werden. Ein zusammenfassender Auswertungsbericht erscheint regelmäßig zum Jahresende im Sozialpsychiatrischen Plan.2 Dieser Plan umfasste in den letzten Jahren etwa 100 Seiten und enthält neben Stellungnahmen des Dezernenten, der Leitung des SpDi und der Selbsthilfe-Initiativen Beiträge zu einem wechselnden Schwerpunktthema, zur Tätigkeit der Gremien und auch einen Sonderteil Hilfen für psychisch kranke Kinder und Jugendliche. Die Beteiligung an der Datenerhebung ist noch unbefriedigend, aber ein Anfang ist gemacht.3 Ein langer Atem ist auch hier Voraussetzung für den Erfolg. Immerhin verfügen wir für die Berichtsjahre 2001, 2004 und 2006 über recht vollständige Angaben zu allen Hilfsangeboten mit ihren Platzzahlen und Kostensätzen, mit Umfang und Qualifikation des dort eingesetzten Personals (Datenblätter A und B). Seit der Einführung der anonymisierten Basis- und Leistungsdokumentation (Datenblatt C) für das Berichtsjahr 2001 hat die Beteiligung hier kontinuierlich zugenommen. So lagen für das Berichtsjahr 2007 immerhin knapp 9000 Datensätze zur Auswertung vor. Eine gute Aussagekraft hat inzwischen die Auswertung für die Angebotsformen des Sozialpsychiatrischen Dienstes, der Suchtberatungsstellen, Tagesstätten 37 38 Elgeti: Datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke im Sozialpsychiatrischen Verbund der Region Hannover und des ambulant betreuten Wohnens, während die großen Klinik- und Heimträger sich gerade hier noch nicht in die Karten gucken lassen. Neben den Primärdaten der Leistungserbringer auf den Datenblättern A – C bekommen wir Daten der Gebietskörperschaften aus ihrer kleinräumigen Jahresstatistik. Wir erhalten für jeden Sektor die Einwohnerzahl, differenziert nach den Altersgruppen unter 18 Jahren, zwischen 18 und unter 65 Jahren sowie ab 65 Jahren, zusätzlich die Zahl der Arbeitslosen und die Gebietsfläche der Sektoren in Hektar. Mit einem eigens entwickelten EDV-Auswertungsprogramm berechnen wir aus diesen Daten insgesamt 28 Kennzahlen, die automatisch und bezogen auf die jeweiligen Adressaten in Auswertungstabellen zusammengestellt werden. So werden Längsschnitt- und Querschnittvergleiche für Hilfsangebote und ihre Patientengruppen möglich, aber auch zusammengefasst für Patientengruppen aus bestimmten Sektoren und für Hilfsangebote einzelner Angebotsformen. Die Prävention von Langzeithospitalisationen ist ein lohnendes Ziel Nun möchte ich von einem Versuch berichten, eine ganze Versorgungsregion für eine gemeinsame Zielvereinbarung zu gewinnen, wobei aussagekräftige und vergleichbare Daten eine wichtige Rolle im Soll-Ist-Vergleich spielen. Dazu will ich zunächst von einer lange zurückliegenden Begebenheit berichten, die mich früh davon überzeugte, dass wir gute quantitative Daten brauchen, um qualitative Verbesserungen im Sinne unserer sozialpsychiatrischen Grundsätze zu erreichen und abzusichern. Ich war 1986 bereits als Assistenzarzt in der Sozialpsychiatrischen Poliklinik tätig, als ein älterer Kollege in unserem Team um Datenmaterial für seine Habilitation nachsuchte.4 Seine These, dass der psychiatrische Hausbesuch ein kritikwürdiger Eingriff in die Privatsphäre des Betroffenen sei, vergleichbar mit der Injektion einer DepotSpritze, rief meinen Protest hervor und schuf die Motivation für eine kleine Gegenuntersuchung.5 Wir konnten zeigen, dass unsere Interventionen sich weniger an der klinischen Diagnose unserer Patienten ausrichten als an ihrer sozialen Ausgrenzung und mangelnden Mobilität. Der kurze Fragebogen, den ich damals für eine Beantwortung durch die Bezugstherapeuten entwickelt hatte, enthielt im Prinzip bereits die Merkmale des psychosozialen Risikoscores, mit dem wir später Risikogruppen für Langzeithospitalisationen abschätzen lernten. In einer groß angelegten Studie im Auftrag des Landesfachbeirates Psychiatrie Niedersachsen hatten wir für den Zehnjahres-Zeitraum 1987 bis 1996 alle chronisch psychisch Kranken unseres Versorgungssektors mit allgemeinpsychiatrischen Diagnosen erfasst.6 Einschlusskriterien waren mindestens zwei Kontakte zu einem der hier zuständigen institutionsbezogenen Dienste (die Klinik und die Poliklinik, zwei Wohnheime und eine Werkstatt) im Abstand von wenigstens zwei Jahren sowie ein Alter unter 65 Jahren bei Erstkontakt. Von den 313 Patienten der Untersuchungsgruppe hatten 68 % eine Erstdiagnose aus dem schizophrenen Formenkreis (F2 nach ICD-10), und diese waren zu einem relativ höheren Prozentsatz Männer (44 % gegenüber 26 % bei anderen Erstdiagnosen). Eine Langzeithospitalisation innerhalb des Zehnjahres-Zeitraums wiesen 28 % der 213 schizophren erkrankten Patienten auf, während es bei den 100 Patienten mit anderen Diagnosen lediglich 8 % davon betroffen waren. Langzeithospitalisation haben wir definiert als summierte Aufenthaltsdauer von mindestens 365 Tagen in der Klinik oder vier Quartalen im Heim innerhalb von zwei Jahren. Unter den 213 schizophren erkrankten Patienten waren Männer mit einem Ersterkrankungsalter von unter 25 Jahren besonders häufig von einer Langzeithospitalisation betroffen. Das beim – oft lange zurückliegenden – Erstkontakt in einer der untersuchten Einrichtungen errechnete psychosoziale Risiko, gemessen als Summenscore von sechs Merkmalen einer normalen Basisdokumentation, hatte eine gute Aussagekraft in Bezug auf eine solche Langzeithospitalisation. Einige weitere Ergebnisse aus späteren Untersuchungen bestätigten die aus der Forschung und der Alltagspraxis vertraute Vermutung, dass junge Männer mit einer funktionellen Psychose eine Hochrisikogruppe für einen ungünstigen Verlauf der Erkrankung darstellen. Bei den Bewohnern von zwei therapeutischen Wohnheimen, die im Jahre 2001 von der Psychiatrischen Institutsambulanz unserer Poliklinik mit behandelt wurden, betrug der Anteil psychosekranker Männer mit einem Ersterkrankungsalter von unter 25 Jahren 32 %. Bei der Evaluation der Planung von Eingliederungshilfen in der Region Hannover zeigte sich, dass in 57 % der Hilfeplanverfahren im Berichtsjahr 2001 Männer betroffen waren, die zudem ein deutlich höheres psychosoziales Risiko aufwiesen als Frauen.7 Von insgesamt 570 Hilfeplanverfahren in diesem Jahr waren 287 Neuplanungen (ohne Empfehlungen für eine WfbM), und bei der Empfehlung stationärer oder kombiniert ambulant-teilstationärer Eingliederungshilfen waren hier Männer sogar zu 69 % betroffen. Die Diskrepanz zwischen einem hohen Anteil von Männern bei Neuplanungen und niedrigeren Werten bei der Fortschreibung laufender Maßnahmen deutet darauf hin, dass Männer empfohlene Eingliederungshilfen häufiger vorzeitig beenden. Die Ergebnisse dieser regional angelegten Studien führten zur Beleuchtung des hier angedeuteten Problems mit den Daten der regionalen Psychiatrieberichterstattung, wie wir sie in der Region Hannover eingeführt haben. Dabei ließ sich zeigen, dass die kleine Gruppe von Männern mit einer funktionellen Psychose im Alter unter 25 Jahren eine vergleichsweise geringere Kontinuität außerklinischer Betreuung aufwies. Sehr hoch dagegen war bei dieser Gruppe der Anteil von Klinikbehandlungen im Berichtsjahr. Dieser schon im Jahre 2001 bei Einführung des Datenblattes C sichtbare Befund bestätigte sich in seiner Tendenz auch bei allmählichem Anstieg der Zahl abgegebener Datenblätter in den Folgejahren. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Elgeti: Datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke im Sozialpsychiatrischen Verbund der Region Hannover Zusammenfassend besteht das Problem darin, dass bei psychosekranken jungen Männern die Erkrankung häufig chronisch verläuft und einen komplexen Hilfebedarf erzeugt. Abbruch von Hilfemaßnahmen, Suchtmittelmissbrauch und dissoziale Verhaltensweisen erschweren die notwendige kontinuierliche sozialpsychiatrische Behandlung und Betreuung. Hoch ist das Risiko für Vereinsamung, für Arbeits- und Wohnungslosigkeit, für Selbst- oder Fremdgefährdung, langfristige Klinik- und Heimaufenthalte. Als Lösungsansatz haben wir den Mitgliedern des Sozialpsychiatrischen Verbundes 2004 den Abschluss einer regionalen Zielvereinbarung vorgeschlagen, die bei dieser eng umgrenzten Patientengruppe zu einer Verbesserung der Kontinuität außerklinischer Betreuung führen soll. Dazu sollen die psychiatrischen Dienste und Einrichtungen den SpDi benachrichtigen, wenn ein psychosekranker Mann unter 25 Jahren die Betreuung beendet oder abgebrochen hat, ohne dass die weitere Versorgung trotz entsprechender Notwendigkeit gesichert ist. Daraufhin wird ein Mitarbeiter des SpDi bestimmt, der für den Betroffenen und seine Bezugspersonen langfristig ansprechbar ist und dafür sorgt, dass er ihn nicht aus den Augen verliert. Die Diskussionen der letzten zwei Jahre in den Gremien des Verbundes haben mir gezeigt, wie gewöhnungsbedürftig ein solcher Ansatz zur Qualitätsentwicklung für alle noch ist. Die Vollversammlung des SpV hat sich im Jahre 2006 hinter diesen Vorschlag gestellt, aber für die Umsetzung der Vereinbarung ist bis jetzt noch nicht viel passiert. Vier zentrale Fragen sind in solchen regionalen Zielvereinbarungen zu beantworten: Was soll wann erreicht sein? Wie soll der Erfolg gemessen werden? Wie soll das Ziel erreicht werden? Wer ist verantwortlich? Bei allen noch zu lösenden Problemen ist doch immerhin die Messbarkeit des Erfolgs mit den Daten der regionalen Psychiatrieberichterstattung ohne zusätzlichen Aufwand gegeben. Wir können Jahr für Jahr feststellen, ob sich die geringere Kontinuität der außerklinischen Betreuung und der höhere Anteil stationär Behandelter bei unserer Zielgruppe den Werten des Durchschnitts aller Patienten mit funktionellen Psychosen angleichen oder nicht. In dieser Hinsicht hat es in den letzten drei Berichtsjahren 2005 bis 2007 keine Angleichung der Differenzen gegeben. Angesichts zunehmender Tendenzen zur Rationalisierung und Rationierung von Hilfeleistungen für psychisch Kranke wird es einerseits immer schwieriger, andererseits immer notwendiger, Fortschritte in der von mir skizzierten Richtung zu erzielen. Auch hier sollten wir aufmerksam gegenüber den Widersprüchlichkeiten unseres Handelns bleiben. Missbrauch von Ressourcen durch Patienten oder Therapeuten muss bekämpft werden, aber Misstrauen bedroht das so wichtige Vertrauen und Selbstvertrauen, eine um sich greifende Kontrolle engt die Spielräume aller ein. Die Qualität der Versorgung muss gesichert werden, aber eine Standardisierung von Behandlungs- und Rehabilitationsprogrammen verkennt die Besonderheiten des Einzelnen, bevorzugt die durchschnittlich Kranken und entmachtet Patienten wie Therapeuten.8 Kosten müssen eingespart werden, aber die Verknappung der Mittel trifft zuerst und am härtesten die am schwersten beeinträchtigten Kranken ohne soziale Unterstützung, die sich selbst nicht helfen und die sich auch nicht wehren können. So bleibt mir am Schluss nur die Empfehlung, den Chancen und Risiken einer datengestützten Planung und Evaluation gleichermaßen ins Auge zu schauen und sich nicht vorzeitig abzuwenden, weil einem die Thematik ungewohnt oder unbehaglich ist. Die finanziellen Rahmenbedingungen für eine ethisch verantwortbare Gemeindepsychiatrie werden sich so schnell nicht wieder verbessern. Wir tun deshalb gut daran, unsere Arbeit selbstbewusst und selbstkritisch auf den Prüfstand zu stellen, sie gegenüber den Psychiatrie-Erfahrenen und ihren Angehörigen, den Kostenträgern und der Politik transparent und nachvollziehbar zu machen. Wenn wir mit den genannten Partnern nicht zu einer großen Koalition auf Augenhöhe kommen, kriecht die Schnecke des gemeindepsychiatrischen Fortschritts garantiert rückwärts. Anmerkungen 1 CORDING C (2003) Plädoyer für ein neues Paradigma psychiatrischer Qualitätssicherung. Psychiatrische Praxis; 225 – 229 2 Region Hannover: Sozialpsychiatrischer Pläne 2007 und 2008 als Download unter: www.hannover.de/de/gesundheit_soziales/beratung/gesundheitsberatung/beratung/gpsych/verbund/index.html 3 ELGETI H (2007) Die Wege zur regionalen Psychiatrieberichterstat- Der Fortschritt ist eine Schnecke, die auch rückwärts kriechen kann Ich wollte in einem größeren Zusammenhang darstellen, was ich unter einer datengestützten Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke verstehe. Dabei habe ich mich auf ein über 20-jähriges Engagement in der Region Hannover bezogen und an einem Beispiel dargestellt, wie wir Schritt um Schritt versuchen, auf diesem Weg voranzukommen. Die technischen Möglichkeiten haben in dieser Zeit rasant zugenommen, die Widerstände gegen Transparenz im Leistungsgeschehen der gemeindepsychiatrischen Versorgung haben sich allerdings nach meinem Eindruck kaum verringert. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 tung sind lang. Ein Werkstattbericht aus Hannover über die Jahre 1997 – 2007. In: ELGETI H (Hg.) Psychiatrie in Niedersachsen Jahrbuch 2008. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 132 – 47 4 STOFFELS H, KRUSE G (1996) Der psychiatrische Hausbesuch: Hilfe oder Überfall? Bonn: Psychiatrie-Verlag 5 ELGETI H, HARTMANN U (1988) Soziale Ausgrenzung, psychiatrische Diagnose und Behandlungsform. Fundamenta Psychiatrica 2 (4): 208 – 301 6 ELGETI H, BARTUSCH S, BASTIAAN P, STEFFEN H (2001) Sind Langzeithospitalisationen bei chronisch psychisch Kranken vermeidbar? Ein Beitrag zur Evaluation gemeindepsychiatrischer Versorgungsbedingungen. Sozialpsychiatrische Informationen 31 (Sonderheft): 51 – 58 39 40 7 ELGETI H (2004) Evaluation der Planung von Eingliederungshilfen. Gesundheitswesen 2004; 66: 812 – 815 8 SCHERNUS R et al. (2004) Soltauer Impulse – Zu Sozialpolitik und Ethik am Beispiel psychiatrischer Arbeitsfelder. Soziale Psychiatrie Heft 3; 34 – 36 Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen Andreas Meißner Anschrift des Verfassers Dr. Hermann Elgeti Medizinische Hochschule Hannover Sozialpsychiatrische Poliklinik Podbielskistraße 158 30177 Hannover elgeti.hermann@mh-hannover.de Angesichts der zunehmenden Folgen der ökologischen Krise, der Energie- und Rohstoffverknappung sowie der bisher nicht nachhaltigen Lebensweise der Menschheit insbesondere in den Industriestaaten lässt sich die Forderung nach einem weniger umweltschädlichen Verhalten insbesondere der Bürger in unseren Breiten ableiten. Weniger Energie und Materie verbrauchende Arbeit im klassischen Sinn ist daher dringend geboten. Vor zunehmenden ökologischen Problemen – vor allem dem Klimawandel, aber auch der Rohstoffverknappung, der Artenvernichtung und anderen bedenklichen Veränderungen mit daraus resultierenden Komplikationen – wird von Fachautoren vielfach gewarnt (1). Im Kontrast dazu fallen die bisher noch geringen Änderungen der Verhaltensweisen vor allem der Menschen in den westlichen Industriestaaten auf. Diese Diskrepanz ist auch von psychologischem bzw. psychiatrischem Interesse. Psychologische Hemmnisse der Bewältigung der ökologischen Krise konnten bereits erkannt werden (2), evolutionsbiologische Aspekte kommen hinzu (3). Generell, aber auch speziell aus psychiatrischer Sicht stellt sich zugespitzt die Frage, ob der Homo sapiens grundsätzlich dazu in der Lage ist, die gewaltigen vor ihm liegenden Herausforderungen zu bewältigen. So wird von Experten in erster Linie eine nachhaltige Lebensweise und dabei eine Werteveränderung gefordert, was enorme Folgen auch für die Alltagsgestaltung hätte. Immer deutlicher wird erkennbar, dass durch Arbeit und Produktion, die weiterhin in unseren Breiten einen zentralen Stellenwert einnehmen, aus ökologischer Sicht häufig mehr Schaden als Nutzen verursacht wird (4), beispielsweise durch die beschleunigte Rohstoffumwandlung in Produkte, die dann letztlich als Abfall enden, des Weiteren durch die dabei erfolgende Energietransformation mit Verbrauch von Energieträgern, und durch in diesem Zusammenhang vermehrte ökologisch schädliche Mobilität. Mehr Energie und Materie sparende Muße, weniger Arbeit, Mobilität und Hektik: diese auch psychiatrisch und psychotherapeutisch immer wieder im Zentrum stehenden Veränderungsziele erscheinen jetzt unter ganz anderen Gesichtspunkten zwingend notwendig. So wird Homo sapiens sich zurücknehmen müssen, um die eigenen Lebensgrundlagen zu erhalten und sich nicht gesundheitlich sowie hinsichtlich seiner Existenz überhaupt zu gefährden. Eine Arbeitszeitreduktion tut also not. In nicht immer ganz ernst zu nehmender Zuspitzung wird daher über ihn von einem erfahrenen Rentengutachter das folgende Rentengutachten erstellt. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Meißner: Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen Ökologisch-psychiatrisches Gutachten Betrifft: Herrn und Frau Homo sapiens. Alter: Geschätzt auf bis zu zwei Millionen Jahre Wohnhaft: Global, in unterschiedlicher Dichte verbreitet, hier speziell: In den westlichen Industrieländern. Anlass der Begutachtung Das Gutachten wird nicht auf Veranlassung des Probanden erstellt, vielmehr im Gegenteil auf Initiative des Biosystems Erde als ökologischer Kostenträger mit dem Anliegen, den Probanden ggf. auch gegen seinen Willen einer frühzeitigen Berentung zuzuführen, da dieser durch zunehmende Erwerbstätigkeit und anderweitig fragwürdige Beschäftigung im steigenden Maße sich als fremdgefährdend und auch letztlich selbstgefährdend erweist. So ist von ihm geplant, die wöchentliche Arbeitszeit weiter noch auf deutlich über 40 Stunden zu erhöhen, zusätzlich Urlaubstage zu kürzen, Überstunden zu absolvieren und somit insgesamt seine wirtschaftlichen Aktivitäten weiter zu verstärken; zu befürchten sind eine fortgesetzte Ausbeutung von an sich bereits zu Ende gehenden Rohstoffen mit noch mehr daraus erfolgender Herstellung von Abfällen, dabei sowie auch durch andere ökologische Probleme sich häufende Konflikte, zunehmende Hungerkrisen sowie das Aussterben weiterer Tierarten. Eigene Untersuchungen Aktuelle Situation Der hier untersuchte in den Industriestaaten lebende Homo sapiens selbst klagt über zunehmenden Zeitdruck, Stresssymptome wie Schlafstörungen, innere Unruhe, schwankenden Blutdruck, Magenbeschwerden, selten auftretende, dann aber quälende Selbstzweifel sowie in den letzten Jahrzehnten zunehmend aufkommende Somatisierungstendenzen vor allem in den Stütz- und Bewegungsapparat. Hinsichtlich seiner Lebenssituation ist in Erfahrung zu bringen, dass zunehmend Veränderungen auftreten, an denen der Proband ursächlich nicht unbeteiligt war. Anzugeben sind eine zunehmende Erwärmung, eine Verknappung von Rohstoffen und Trinkwasser, das Aussterben anderer auf Erden lebender Spezies, die Verunreinigung von Boden und Gewässern sowie weitere bedrohliche Entwicklungen. Im Alltag belasten ihn unter anderem weite Arbeitswege, Hektik, komplizierte zwischenmenschliche Beziehungen, zu Ruhe und Reflexion komme er nur selten. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Biografische Anamnese Hierüber sind nur wenige genaue Angaben in Erfahrung zu bringen. Während einer offensichtlich lange, ca. zwei Millionen Jahre, anhaltenden, stetigen und ruhigen Entwicklungsphase zeigten sich, abgesehen von teilweise widrigen äußeren Lebensumständen, keine besonderen Auffälligkeiten. Wanderungsbewegungen aus der afrikanischen Savanne in viele Regionen dieser Welt wurden größtenteils erfolgreich bewältigt. Auffällig ist ein Entwicklungsschritt vor ca. 130 00 Jahren mit Übergang vom nomadenhaften Jäger- und Sammlerdasein zu Ackerbau und Sesshaftigkeit mit dadurch geringerer Mobilität und zunehmender körperlicher Schonung, dies dann beschleunigt durch eine zunehmende Entwicklung von Gebrauchsgegenständen, insbesondere dann bei Verwendung neuer Energieträger als Lebensgrundlagen, die auffälligerweise in immer rascherer Folge gewechselt bzw. ergänzt werden mussten: erst von Holz zur Kohle vor etwa 700 Jahren, dann zum Öl vor etwa 150 Jahren und vor wenigen Jahrzehnten zur Atomkraft. Zu dieser immer rascheren Abfolge kam dann auch eine zunehmende äußere Unruhe im Leben des Homo sapiens hinzu nach der langen und stabilen vorherigen Phase, dabei wurden auch wiederholte Änderungen der Lebensanschauungen und Glaubensbezüge vollzogen. Soziale Situation Überwiegend erwerbstätig, zum kleineren Teil arbeitslos, zumeist in Kleinfamilie lebend in einer Mietwohnung, häufig jedoch auch in Wohneigentum. Zunehmende Verschuldung. Tendenz immer instabiler werdender sozialer Beziehungen mit häufigeren Scheidungen und Trennungen, zunehmendem Single-Dasein und geringerem Interesse an früher sinnstiftenden Institutionen wie Kirche, Vereinen und Parteien. Aufgrund geringeren Nachwuchses und längerer Lebenserwartung zunehmende Überalterung. Freizeitinteressen vorwiegend aus Fernsehen sowie aus Reisen bestehend. Somatische Anamnese Im Rahmen seiner evolutionären Entwicklung enorme Zunahme des Hirnvolumens mit noch starker Wirksamkeit der tiefer gelegenen älteren Hirnanteile. Insbesondere in den letzten Jahrhunderten auffällig zunehmende Lebenserwartung, weniger jedoch durch die in den letzten 50 Jahren zunehmende Hightech- und Apparatemedizin, sondern vielmehr durch abnehmende Säuglingssterblichkeit, verbesserte Hygiene und Infektionsbekämpfung, des Weiteren jetzt eher vom Einkommen abhängiger Gesundheitsstatus. Zunehmende Zivilisationskrankheiten mit Übergewicht, erhöhtem Cholesterin, Herz-Kreislauferkrankungen und Knochen- sowie Gelenksleiden bei Fehlernährung und mangelnder Bewegung. Medikamenteneinnahme: Umfangreiche Palette möglicher Medikamente, teilweise jedoch kaum wirksam. Begehrt sind insbesondere Beruhigungs- und Schlafmittel. Häufig Einnahme von blutdruck- und cholesterinsenkenden Mitteln nötig. 41 42 Meißner: Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen Vegetative Anamnese Der Appetit ist sehr gut, insbesondere im Zusammenhang mit den über die Jahrtausende hinweg veränderten Ernährungsgewohnheiten. Hinsichtlich des Schlafes werden zunehmende Ein- und Durchschlafstörungen beklagt. Miktion und Stuhlgang sind zumeist unauffällig. Häufiger Nikotinkonsum sowie insgesamt steigender Alkoholkonsum (vor allem in der jungen Generation des Homo sapiens) mit gewohnheitsmäßigem und ritualisiertem Konsum werden angegeben, jedoch oft auch mit Abusus und Abhängigkeit. Zum kleineren Teil Drogenkonsum. Psychiatrische Anamnese Bisher keine konsequente psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung, kein Suizidversuch in der Vorgeschichte, jedoch wiederholt in der Geschichte in größerem Umfang autodestruktive Handlungen mit vor allem im letzten Jahrhundert millionenfachen Todesfällen sowie auch jetzt selbstschädigende Handlungen ohne direkte suizidale Absicht, jedoch mit unbewusster Inkaufnahme eines tödlichen Ausgangs seines Daseins. Körperlicher und psychischer Befund Zumeist adipös. Auf den genaueren körperlichen Untersuchungsbefund kann angesichts der Fragestellung an dieser Stelle verzichtet werden. Psychisch zeigt sich der bewusstseinsklare und orientierte Proband von zumeist mäßiger, vereinzelt guter Intelligenz und eingeschränkter Bildung. Gröbere kognitive Einschränkungen in Hinblick auf Konzentration, Aufmerksamkeit, Auffassung und Konzentration sind nicht erkennbar. Im formalen Denken ist er geordnet, inhaltlich jedoch deutlich eingeengt auf einen Einkommens- und Wohlstandszuwachs, auf Wirtschaftswachstum und Karriereplanung. Diesbezüglich sind auch die Wertvorstellungen und Glaubensbezüge des Probanden ausgerichtet. Dabei zeigt sich eine nahezu schon wahnhafte Symptomatik im Sinne einer unkorrigierbaren Überzeugtheit von dem Nutzen weiteren technologischen Fortschritts und steigendem Wirtschaftswachstums, fast schon einem religiösen Wahn entsprechend mit hoher Heilserwartung. Sinnestäuschungen im engeren Sinne liegen nicht vor, jedoch Wahrnehmungsstörungen im weiteren Sinne dahingehend, dass etliche letztlich auch bedrohliche Veränderungen seiner Lebenssituation von ihm kaum wahrgenommen werden. Ich-Störungen bestehen dahingehend, dass er ungemein beeinflussbar ist von zumeist reißerisch berichtenden Medien oder fraglichen Experten. In der Grundstimmung gibt er sich ausgeglichen bis heiter, hierbei jedoch eine tieferliegende depressive Symptomatik dissimulierend (kaschierend). Insbesondere unter Verwendung von Ablenkungsstrategien mittels Fernsehen, Alkohol, Reisen, Musik und anderen kulturellen Einrichtungen gute affektive Auslenkbarkeit. Bei jedoch nur vereinzelt auftretender Wahrnehmung der realen Situation dann auftreten- de Panikattacken bzw. auch hysterieforme Reaktionen mit Tendenz zur Übertreibung, dies jedoch in sehr geringem Umfang. Weit überwiegend sind psychodynamisch gesehen Abwehrmechanismen wie Verdrängung sowie Projektion erkennbar, Letztere dahingehend, dass andere für die missliche Situation verantwortlich gemacht werden (Politiker, Manager, andere Länder etc.). Eigene Anteile dabei werden verleugnet. In diesem Zusammenhang sind narzisstische Persönlichkeitsanteile erkennbar mit inadäquaten Größenideen von sich selbst und leichter Kränkbarkeit bei Konfrontation damit. Zudem zeigen sich autodestruktive Tendenzen in Hinblick auf die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen sowie im Umgang untereinander, des Weiteren fremdgefährdende Tendenzen mit kaum vorhandener Rücksichtnahme auf arme Erdenmitbewohner sowie mit Vernichtung anderer Spezies. In der Persönlichkeitsstruktur zeigen sich abhängige Tendenzen mit nahezu blindem Vertrauen auf einen »letzten Retter«, der dann die Lösung für die verschiedenen Probleme bringen solle, ob dies nun ein Gott, Politiker oder andere wesentliche Bezugspersonen jeweils sind. Zudem bestehen (roh)stoffgebundene Abhängigkeiten. Eine vegetative Symptomatik besteht im Hinblick auf eine deutliche Appetitsteigerung, Fehlernährung und die beschriebenen Schlafstörungen. Wiederholt werden Somatisierungstendenzen, insbesondere bezogen auf den Stütz- und Bewegungsapparat, teilweise jedoch auch bezogen auf Gastrointestinaltrakt und Herz-Kreislaufbereich angegeben. Diagnose Aus psychiatrischer Sicht besteht eine komplexe psychiatrische Gesundheitsstörung mit depressiven Anteilen, autodestruktiven Tendenzen, narzisstischen und dependenten Persönlichkeitsanteilen sowie Somatisierungstendenzen vor allem bezogen auf den Stütz- und Bewegungsapparat. Beurteilung Es stellte sich vor der Proband im fortgeschrittenem Lebensalter im von ihm nicht erwünschten Rentenverfahren. Im Rahmen der jetzt durchgeführten psychiatrischen Betrachtung stellt sich ein komplex-psychiatrisches Krankheitsbild dar. Mehrere Differenzialdiagnosen waren genauer zu untersuchen. Letztlich steht eine vielfache psychiatrische Komorbidität im Vordergrund, ohne dass eine einzelne Störung eindeutig herausragt. Differenzialdiagnostische Erwägungen Etwas deutlicher akzentuiert ist gegenwärtig erkennbar die Suchterkrankung des Homo sapiens mit (roh)stoffgebundener Abhängigkeit und jetzt deutlich erkennbaren Entzugserscheinungen bei zu Ende gehenden Ressourcen, etwa im Bereich der Energieträger. Hierbei werden auch dissoziale Tendenzen zumindest diskret erkennbar bei den Bemühungen, sich nun die restlichen noch zur Verfügung stehenden (Energie-) Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Meißner: Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen Substanzen anzueignen mit teilweise kriegerischen Tendenzen unter den hierbei Konkurrierenden sowie gegenüber den Rohstoffe Besitzenden. Eine Schizophrenie im engeren Sinne kann ausgeschlossen werden, wenngleich ein gewisses »schizophrenes« Verhalten durchaus erkennbar ist bei zwar vorhandenem Wissen über den Zustand der Lebensgrundlagen, gleichzeitig jedoch dem diametral widersprechendem Verhalten. Suizidalität besteht somit nicht direkt, erkennbar sind jedoch selbstschädigende Handlungen mit Inkaufnahme eigener Vernichtung oder tödlichen Verletzungen bzw. Inkaufnahme desgleichen bei anderen. Dies zeigt sich beispielsweise in der bisher auf deutschen Autobahnen unbegrenzten Raserei, jedoch auch im Verhalten des Homo sapiens insgesamt mit Vernichtung und erhöhtem Verbrauch der eigenen Lebensgrundlagen und dadurch eintretender Verknappung von Rohstoffen wie auch von Trinkwasser. Neben den autodestruktiven Handlungen sind hier auch fremdaggressive Tendenzen erkennbar, da der Proband für den eigenen Wohlstand gerne das Leiden und die Armut des Homo sapiens in anderen Landstrichen sowie das Aussterben anderer Spezies in Kauf nimmt. Eine hysterieforme Störung kann ausgeschlossen werden, da nur vereinzelt entsprechende Überreaktionen auf die bestehende aktuelle Situation erkennbar sind, insgesamt jedoch eher eine ausgesprochene psychomotorische Ruhe hinsichtlich der aktuellen Situation besteht, die für sich betrachtet schon fast wieder als auffällig zu bezeichnen ist und im Kontrast steht zur äußeren Mobilitätsunruhe und Zeitnothektik. In diesem Zusammenhang ist auch auf einen parathymen Affekt hinzuweisen mit zumeist zur Schau getragener fröhlicher Heiterkeit, wobei jedoch dahinter eine dissimulierte depressive Störung erkennbar ist und eine affektive Auslenkbarkeit zumeist auf Ablenkungsstrategien durch entsprechende Konsumbetäubung (Fernsehen, Reisen, Alkohol, etc.) beruht. Eine wahnhafte Störung kann nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, da Homo sapiens unbeirrbar und unkorrigierbar an Überzeugungen festhält, die letztlich zu seiner eigenen Schädigung beitragen, so etwa am Glauben an ein unbegrenztes und möglichst weiter zu steigerndes Wirtschaftswachstum, des Weiteren in Hinblick auf die Annahme offenbar unbegrenzt vorhandener Ressourcen und Lebensgrundlagen. Leistungsempfehlung auf Grundlage der bisherigen Therapieversuche und der Prognose Vielfache, in erster Linie mahnende Therapieversuche durch eine Fülle entsprechender Literatur sind bisher erfolglos verlaufen. Auch zeigte sich der Proband bisher kaum in der Lage, aus früheren Katastrophensituationen – hier wären beispielsweise zu nennen Weltkriege oder größere Atomunglücke – zu lernen, entsprechende Konsequenzen zu ziehen und das Verhalten zu ändern. Dahingehend ist auch die Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Probanden infrage zu stellen. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 In Anbetracht der weit überwiegenden Behandlungsresistenz ist die Prognose als außerordentlich ungünstig zu betrachten. Insbesondere von einer Intensivierung der bisherigen vor allem warnenden und aufklärerischen Behandlungsmaßnamen ist kein durchgreifender Therapieerfolg zu erwarten. In Hinblick auf das komplex-psychiatrische vielfältige Krankheitsbild mit erheblicher Komorbidität, auch in somatischer Hinsicht, die bisherige Erfolglosigkeit vielfacher Behandlungsversuche, die gegebene Therapieresistenz, die bestehenden funktionellen Einschränkungen, insbesondere in Hinblick auf die beschränkte Einsichts- und Urteilsfähigkeit und wahnhafte Symptomatik, den eher gesteigerten Antrieb und die nun im fortgeschrittenen Alter aufgetretene alltagsbezogene psychomotorische Unruhe mit Hektik und vielfacher Mobilität ist dringend zu einer allenfalls halbtägigen Erwerbstätigkeit zu raten, da nahezu jegliche Erwerbstätigkeit mit einer Verstärkung dieser psychomotorischen Mobilitätsunruhe einerseits und der narzisstischen Größenideen und wahnhaften Überzeugung eines anhaltenden Wirtschaftswachstums andererseits verbunden ist, zudem hierbei auch Rohstoffe fortgesetzt umgewandelt werden, die schließlich nach kurzer Zeit wieder als Müll oder Abgase anfallen. Eine vorgezogene Berentung wird daher dringend angeraten. Dem Probanden wird jedoch empfohlen, die dann zur Verfügung stehende Freizeit zur Förderung der Wahrnehmung seiner eigentlichen inneren Bedürfnisse und Interessen zu verwenden, bewusst den Müßiggang zu pflegen, da er hierdurch am wenigsten Schaden für die Umwelt anrichten kann, seine sozialen Beziehungen zu pflegen durch Kontakte, Unterhaltung, Spiele, gemeinsame Wanderungen oder gegenseitige Unterstützung in Notlagen, was ebenso weniger umweltschädlich ist und zudem zu einer gesteigerten eigenen Befriedigung führen dürfte. Therapieempfehlung Zur Förderung dieser Verhaltensänderungen ist dringend anzuraten die Durchführung einer Psychotherapie, die existenzielle Angelegenheiten behandelt (5). Hierdurch könnte es dem Probanden gelingen, sich mit seiner eigenen Todesangst auseinanderzusetzen, die von ihm konsequent und vehement verdrängt wird. Es sollte ihm dadurch langsam und behutsam möglich werden, die eigene Endlichkeit zu erkennen, auch die Endlichkeit der eigenen Kultur und diese nicht weiter zu leugnen, um dadurch das selbstschädigende Verhalten abstellen zu können, paradoxerweise diese eigene Endlichkeit durch Vernichtung der eigenen Lebensgrundlagen beschleunigt zu erreichen. Auch im sonstigen Krankheitsverhalten leugnet er bisher das eigene Sterben, bewegt sich zu wenig, ernährt sich falsch und nimmt viele Risiken im Alltag in Kauf; all dies ist gesundheitsschädigend und bringt ihn dadurch eigentlich dem eigenen Tod näher. Hier wirken sich ungünstig die Abhängigkeitstendenzen des Probanden aus. Im Gesundheitsverhalten wird die Hoffnung auf den »letzten Retter« erkennbar, der den Gesundheitsscha- 43 44 Meißner: Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen den reparieren soll, mit einer zunehmenden, aber wenig Erfolg bringenden Besuchsfrequenz bei Ärzten und dadurch erheblicher Verteuerung des Gesundheitswesens; insgesamt besteht, was die Zukunft des Homo sapiens betrifft, seine Hoffnung auf den letzten Retter dahingehend, dass ein Gott oder zumindest irgendein Politiker oder technische Experten die Probleme schon lösen würden, was jedoch äußerst unwahrscheinlich erscheint, da auch die Politiker als Teil der Spezies Homo sapiens an den selben Störungen leiden und technische Neuerungen zumeist selbst wieder erhebliche neue Probleme aufwerfen. Vielleicht könnte er durch die Therapie wieder selbst verantwortlich werden im Sinne eines Selbstmanagements, sodass er dies nicht in die Hände von Autoritäten abgeben muss. Schließlich könnte ihm durch diese therapeutischen Schritte erfahrbar werden, dass der Verzicht auf die Mobilitätshektik, auf die Karriereerwerbstätigkeit, auf den wahnhaften Wohlstandsglauben und andere narzisstische Attribute keineswegs einen Verzicht oder eine Reise zurück in die Lebensumstände seiner frühkindlichen Entwicklung (»Steinzeit«) bedeutet, sondern vielmehr einen erheblichen Gewinn dahingehend darstellt, dass er zufriedener leben kann, selbstbewusster, entschlossener und unabhängiger, mehr Ruhe findet und eine tiefere, in sich ruhende Stabilität sowie wieder Zeit und Muße findet für befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen. Die Kreativität des Probanden, sein Leben anders zu gestalten, ist durch die Therapie zu fördern. Insgesamt dürfte es aber auch um eine Änderung des Wertesystems gehen, hierfür ist zunächst eine vorsichtige Bewusstwerdung der Situation nötig, die Bearbeitung der dabei entstehenden panikartigen oder hysterieformen Reaktionen bzw. die Bearbeitung der zumeist hartnäckigen Abwehrstrategien. Ein stärkerer sozialer Abstieg durch eine geringere Erwerbstätigkeit muss Homo sapiens nicht befürchten, da durch dann vermehrte Schonung der Umwelt hier weniger Kosten anfallen und zudem durch das in der Freizeit entstehende verstärkte soziale Miteinander wiederum neue Quellen der Zufriedenheit und auch gegenseitigen materiellen Unterstützung entstehen können. Dringend muss jedoch vor oberflächlichen Heilsbringern mit vermeintlich schnellen und einfachen Lösungen gewarnt werden, wie sie derzeit wieder vermehrt auftreten. Diese »Ärzte«, ob im Gesundheitswesen oder in der Politik, mit oberflächlichen Untersuchungen und der Tendenz, auf Apparate und Technik zu setzen, die gleichzeitig aber häufig autoritär das Bedürfnis des Probanden nach Übernehmen der Verantwortung ausnützen, dürften dem Probanden nicht entscheidend zu seiner Genesung verhelfen. Vielmehr ist einer weiteren Verstärkung der sprechenden Medizin sowie des Konsens suchenden Diskurses der Vorzug zu geben, da diese für sich betrachtet wiederum weniger Müll erzeugen und kaum umweltschädlich sind, andererseits jedoch entscheidend zur Besserung des Gesundheitszustandes beitragen können. In Hinblick auf die Somatisierungstendenzen des Probanden im Stütz- und Bewegungsapparat wird ebenso angeraten, in der nunmehr vermehrt zur Verfügung stehenden Freizeit wieder verstärkt muskuläre Arbeit einzusetzen, etwa im landwirtschaftlichen Bereich, was einerseits durch geringeren Gebrauch von Maschinen die Abhängigkeit von hierfür nötigen Rohstoffen wie Stahl, Metall oder Öl vermindert, andererseits eine Unabhängigkeit von großen Nahrungsmittelindustrien gewährleistet und schließlich der krank machenden Muskelatrophie, wie sie sich in den letzten Jahrtausenden entwickelt hat, wieder gegenläufig ist. Abgeraten wird bei den zumeist psychogenen Schmerzen im Stütz- und Bewegungsapparat von einer übermäßigen Schonung, wie sie jedoch zumeist derzeit betrieben wird. Durch die vermehrte, anfänglich vorsichtig zu steigernde muskuläre Betätigung, werden sich mittelfristig auch die Schlafstörungen deutlich bessern, das Übergewicht vermindern und sich bessere Ernährungsgewohnheiten einstellen durch Verwendung wieder mehr direkt vor Ort erzeugter landwirtschaftlicher Nahrungsmittel statt industrieller Fastfood-Produkte. Wenngleich gutachterlich normalerweise nicht von Interesse, ist an dieser Stelle doch darauf hinzuweisen, dass es nahezu unmöglich sein dürfte, unter der betroffenen Spezies Mensch einen entsprechenden Therapeuten zu finden, der die umfangreiche Psychotherapie vornehmen könnte. Öffentliche therapeutisch wirksame Vorbilder sind zumindest gegenwärtig nicht zu erkennen und waren auch in den letzten Jahrzehnten nur rar vorhanden. Somit kann aktuell nur zu entsprechend orientierten Selbsthilfegruppen, zu Entspannungsverfahren, Meditation und anderen Ruhe sowie den Zugang zum Ich fördernden Verfahren geraten werden. Psychodynamische Erwägungen Psychodynamisch ist noch hinzuweisen auf einen Abhängigkeits-/Unabhängigkeitskonflikt, der die neurotisch geprägten depressiven Anteile, die zumeist nicht so gerne wahrgenommen und daher dissimuliert werden, aufrechterhält. So besteht einerseits ein gestörtes emotionales Verhältnis zur als mütterlich wahrgenommenen Erde. Der Proband ist von dieser überaus stark abhängig, da er seine Nahrungsmittel und andere Lebensgrundlagen von ihr bezieht, er versucht jedoch andererseits, sich von ihr unabhängig zu machen, sie sozusagen in den Griff zu bekommen und sich ihrer zu bemächtigen. Ähnlich stellt sich dies im Verhältnis zur eher als Vater wahrgenommenen göttlichen Instanz dar, zu der gelegentlich ein übermäßig starkes inneres Abhängigkeitsverhältnis besteht, verbunden etwa mit wöchentlichen Kirchenbesuchen oder anderen entsprechenden religiösen Aktivitäten, teilweise aber auch mit fanatischen Tendenzen. Zum anderen jedoch bestehen starke Bestrebungen, sich von ihm unabhängig zu machen, ohne sich jedoch entscheidend von dem angeblich von ihm gegebenen Auftrag, sich die Erde untertan zu machen, zu lösen. Hier liegt offensichtlich auch ein Elternkonflikt vor, der sich erschwerend auf die Entwicklung des Probanden ausgewirkt hat. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Meißner: Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen Auch hier könnte die therapeutische Reflexion dahin führen, eine klarere eigenständige Position zu beziehen, nicht mehr auf diesen letzten, jedoch nicht vorhandenen religiösen Retter zu hoffen, dadurch dann vermehrt die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und dabei jedoch wieder zurückzufinden zu einem besseren emotionalen Verhältnis zur Mutter, von der er sich doch in den letzten Jahrhunderten stark entfremdet hat. Hierfür wird es jedoch nicht genügen, sich bei Autobahnfahrten der am Rand stehenden Bäume sowie des Strandes am Ziel etwa einer Urlaubsfahrt zu erfreuen. Es ist schon eine tiefergehende Neuentwicklung der emotionalen Bindung erforderlich. Zusammenfassende Beurteilung Aus psychiatrischer Sicht bestehen bei dem Probanden, dem Homo sapiens, seit kurzer Zeit – in Anbetracht seines bisherigen langen Lebens – die beschriebenen Gesundheitsstörungen. Er ist daher nur als vermindert erwerbsfähig zu betrachten. In seinem eigenen Interesse sollte daher eine vorzeitige Berentung erfolgen und die tägliche Dauer der Erwerbstätigkeit deutlich reduziert werden. Die Prognose ist insgesamt als äußerst ungünstig anzusehen, eine entscheidende Besserung des Gesundheitszustandes erscheint unwahrscheinlich, erhebliche globale Umwälzungen mit nötig werdenden Anpassungen und ggf. eintretender erheblicher Reduktion seiner Populationsdichte sind zu befürchten. Dennoch sollte jeglicher Behandlungsversuch, allein schon der Form halber, zur Aufrechterhaltung von Würde und Selbstachtung unternommen werden, eine resignativ-passive Haltung ist zu vermeiden. Anzuraten ist theoretisch die Durchführung einer umfassenden Psychotherapie wie oben näher beschrieben, zunächst mangels zur Verfügung stehender, den ökologischen Kontext einbeziehender Therapeuten jedoch die Durchführung anderer das Selbstmanagement fördernder Verfahren. In Hinblick auf die eingeschränkte Einsichts-, Kritik- und Urteilsfähigkeit, die starken Abwehrmechanismen und wahnhaften Symptome wäre eine vormundschaftlich verordnete Betreuung zwar dringend notwendig, jedoch ist nicht erkennbar, wer die Betreuung übernehmen sollte. Untersuchungen auf anderem Fachgebiet sind nicht notwendig, da die psychischen Störungen im Vordergrund stehen. Dem Probanden bleibt es abschließend zu wünschen, dass er in die Lage kommt, seine eigene persönliche Endlichkeit, die Endlichkeit seiner Spezies und seiner Kultur zu erkennen, anzunehmen, und das ihm zur Verfügung stehende Leben sinnvoll und nicht selbst- bzw. fremdschädigend zu nutzen. Der Gutachter wird, da selbst auch als Teil der Menschenspezies von der beschriebenen Pathologie betroffen, ebenso seine eigenen therapeutischen Anstrengungen intensivieren. Literatur 1 MEADOWS DH, MEADOWS D, RANDERS J (2004) The Limits to Growth: The 30-Year Update. Chelsea: Green Pub Co 2 MEIßNER A (2008) Sinn und Verantwortung im Zeichen der ökologischen Krise. Neurotransmitter 2008; 6: 13 – 21 3 MEYER A (2008) Artgenossen sind selten Genossen. Handelsblatt 10.01.2008 JUNKER T (2006) Evolution. München: Beck 2006 4 SCHÜTZE C (2003) Das Grundgesetz vom Niedergang. Arbeit ruiniert die Welt. München: Hanser 5 YALOM I (2005) Existentielle Psychotherapie, 5. Auflage. Köln: Ed. Humanistische Psychologie Anschrift des Verfassers Dr. Andreas Meißner Tegernseer Landstr. 49 81541 München Die TRÄGER gGmbH ist eine gemeinnützige Organisation, die verschiedene Hilfen für psychisch kranke und suchtkranke Menschen in Berlin-Reinickendorf anbietet. Zur Unterstützung der Bereichsleiterin suchen wir zum nächstmöglichen Zeitpunkt für die Fachanleitung der Mitarbeiter/innen in der Betreuung psychisch kranker Menschen eine/n Psychologen/Psychologin Erforderlich sind Erfahrungen in der Behandlung und Begleitung von psychisch kranken Menschen, auch mit starken Beeinträchtigungen, in ihrem häuslichen Umfeld. Wir erwarten Freude an der Anleitung von Mitarbeitern/innen, Flexibilität, die Gestaltung von verschiedenen Besprechungen im Träger und im Verbund sowie die aktive Umsetzung unseres gemeindepsychiatrischen Arbeitsansatzes. Eine systemische Orientierung und eine Qualifikation zur/zum Psychologischen Psychotherapeutin/en wären von Vorteil. Wir bieten ein attraktives Arbeitsfeld im Gemeindepsychiatrischen Verbund des Bezirks Reinickendorf, vielfältige Fortbildungsmöglichkeiten und eine Vergütung in Anlehnung an den BAT. D� %. Ihre vollständige Bewerbung richten Sie bitte bis zum 15.05.09 an die Träger gGmbH, Alt-Reinickendorf 45, 13407 Berlin. Bitte fügen Sie den Unterlagen Rückporto bei. Weitere Informationen erhalten Sie unter www.traeger-berlin.de oder durch den Geschäftsführer, Herrn Rosemann, unter der Telefon-Nr. 030/4963076. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 45 46 Professor Autenrieth erhält einen Verweis des Königs Alexander Veltin Vom Aufenthalt des Hajum Abraham, der sich Felix Garrin nannte, im Clinicum Tübingen handelt nur ein kleines Aktenkonvolut, das im Archiv der Eberhard Karls Universität unter dem Zeichen 68/18 inventarisiert ist. Dennoch vermittelt sein Inhalt ein eindrucksvolles Bild von der Aufnahme und Behandlung eines jüdischen Landeskindes, die der König, Friedrich I., höchstselbst unter dem 7.5.1811 befohlen hatte. Dazu erfährt man Wissenswertes über das Verhältnis des Clinicumsvorstehers, Professor Dr. J. H. F. Autenrieth, zur Obrigkeit, seinen Umgang mit psychisch Kranken und den Stand ihrer Versorgung im Land. – Die Geschichte beginnt mit einer Aktennotiz: Ich gestehe, dass ich es so satt habe, Verwirrte aufzunehmen ... und es hat mich schon genug gereut, überhaupt für Narren eine Einrichtung getroffen zu haben, sie sind die allerbeschwerlichsten Kranken, und dazu ist nun die Aufmunterung der höheren Behörden noch zu rechnen, die alle freywillig übernommenen Bemühungen ohne den mindesten Dank für Schuldigkeit, und es noch für eine Gnade halten, dass man sich bemühen darf, schrieb Autenrieth Ende April 1811 an den Kanzler der Universität Ch. F. Schnurrer. Anlass gegeben zu dieser bitteren Klage hatte der Auftrag der Königlichen Regierung Stuttgart vom 10.4.1811 an die Vorsteher des Tübinger Clinicums, sich in möglichster Bälde zu äußern, ob der wahnkranke Felix Garrin, jüdischen Glaubens, aus dem Oberamt Crailsheim aufgenommen werden könne und mit welchen Kosten man zu rechnen habe. Unter dem 24.4.1811 war die umgehende Beantwortung der Anfrage angemahnt worden mit dem Vermerk, die Sache leide keinen längeren Verzug. Seinen unverhohlen geäußerten Ärger über die Order der Regierung, nach eigenen Worten verantwortlich für deren zögerliche Bearbeitung, begründete Autenrieth dem Kanzler gegenüber mit seiner Sorge um den unverhältnismäßig großen organisatorischen und finanziellen Aufwand, der bei der Aufnahme eines Juden in Hinblick auf dessen Verpflegung gemäß den religiösen Speisegesetzen zu gewärtigen sei, sehr zum Nachteil anderer dringlicher Verpflichtungen des Clinicums. Bei diesen betriebswirtschaftlichen Erwägungen dürfte er darauf angespielt haben, dass sein Haus, in dem bevorzugt mittellose Patienten behandelt wurden, in jenen Jahren wegen unzureichender Etatmittelzuweisungen wiederholt in eine finanzielle Schieflage geraten war. Der Kanzler überließ in seiner Antwort vom 30.4.1811 wegen mangelnder eigener Kompetenz in der Beurteilung des Falles alles Weitere den beiden Kollegen im Vorsteheramt, Autenrieth und Froriep, bat aber darum, den gewünschten Bericht kurzfristig zu erstatten. Dem entsprach Autenrieth noch am gleichen Tage und stellte dem Kanzler eine Abschrift seines Schreibens an den König zu unter dem Hinweis, dass Professor Froriep zwar informiert sei, er ihn aber, weil zu einer Operation nach Herrenberg unterwegs, nicht mehr habe konsultieren können. In dem Bericht nun verweist Autenrieth zunächst darauf, dass man bei der Einrichtung des klinischen Institutes Aufnahmemöglichkeiten für Irre vorgesehen habe, die die Unterbringung eines, höchstens zweier nicht gefährlicher Kranke zur gleichen Zeit gestatte, weil nach Euer Königlichen Majestät Allerhöchster Absicht das Clinicum Unterrichts-Anstalt sein soll, also für möglichst vielartig Kranke eingerichtet werden musste, und aus eben dem Grunde der Lehrer der inneren Heilkunde am Clinicum nicht im Stande ist, auf eine Art von Kranken, bei seinen vielen übrigen Geschäften als Professor an der Universität, alle seine freye Zeit zu wenden; unter allen Kranken aber Gemüthskranke die meiste auf Umgang mit ihnen zu verwendende Zeit erfordern, wenn die ohnehin nicht große Hoffnung ihrer Heilung erfüllt werden soll. Detailreich schildert Autenrieth dann die in der Aktennotiz an den Kanzler erwähnten ökonomischen Konsequenzen für den Klinikbetrieb, die mit der Aufnahme eines Kranken jüdischer Religionszugehörigkeit verbunden seien: Die Anstellung einer Person jüdischen Geschlechts als Küchenhilfe, Anschaffung eigenen Geschirrs, Beschaffung eines Teiles der benötigten Viktualien, insonderheit des Fleisches, im benachbarten Dorf Wankheim, da in Tübingen. keine Juden ansässig seien. (Im eine Wegstunde von Tübingen entfernten Wankheim, bis 1805 in reichsritterschaftlichem Besitz, lebten zahlreiche Juden.) Selbst ein vom Rabbiner erteilter Dispens, wie in Krankheitsfällen üblich, könne das Problem nicht mildern, da der Dispens sich nur auf die eigentlichen medizinischen Verordnungen und nicht auf die Regeln der gewöhnlichen Ernährungs- und Lebensweise erstrecke. Zudem zeige die Erfahrung im Clinicum, welchen nachteiligen Gemütseindruck ein Verstoß gegen die Religionsgesetze selbst auf ganz verwirrte Juden habe, umso mehr würde das bei einem Unglücklichen der Fall sein, der nur gemütskrank, also kein völlig Wahnsinniger sei, und sich dazu verfolgt glaube. Das Clinicum könne für einen einzelnen Hebräer keine Einrichtung treffen, für deren Kosten vier bis fünf Kranke anderer Religionszugehörigkeit zu unterhalten wären. Falls Garrin nicht in der Lage sei, aus eigenem Vermögen alles Notwendige zu bestreiten, könne das Clinicum ihm nicht helfen. Ohnehin sei der einzige Platz für Irre derzeit mit einer Gemütskranken aus dem Maulbronner Amt besetzt. Autenrieth schließt die Frage an, damit die Möglichkeit eines Ausweges aus dem aufgezeigten Dilemma eröffnend, ob nicht der Unglückliche in der schon erwähnten halbjüdischen Commune Wankheim ein geeignetes Unterkommen finden könne. Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Veltin: Professor Autenrieth erhält einen Verweis des Königs Die benötigten Arzneien würde der Kranke unentgeltlich vom Clinicum erhalten, die moralische Behandlung würde er selbst übernehmen, wegen der räumlichen Entfernung allerdings nur mittelbar durch Anleitung der Personen, denen der Kranke anvertraut sei. Im folgenden letzten Absatz seines Schreibens schlägt Autenrieth den Bogen von den Unterbringungsproblemen des aktuellen Falles zu den grundsätzlichen Defiziten der stationären Versorgung psychisch Kranker im Land. Er erinnert daran, dass er schon im Jahre 1807 unter Hinweis auf die geringe Platzkapazität des Tübinger Clinicums und die Unzulänglichkeit des Tollhauses zu Ludwigsburg in der Zeitschrift »Versuche für die praktische Heilkunde aus den klinischen Anstalten von Tübingen« den Vorschlag gemacht habe, in allen größeren Gemeinden der Oberämtern wohlfeile Einrichtungen für Verwirrte nach Art der im Clinicum vorhandenen zu treffen und die Aufgabe der Behandlung der Kranken wegen des großen Aufwandes auf möglichst viele Ärzte zu verteilen. Nur so sei es möglich, dem Missstand abzuhelfen, dass das Clinicum nur eine kleine Anzahl der im Königreich lebenden Verwirrten aufnehmen könne. Die Argumente, mit denen sich Autenrieth gegen die Aufnahme des Hajum Abraham wehrte, überzeugten nicht. Mit Königlichem Reskript vom 7.5.1811 an die Vorsteher der Clinici Tübingen, ausgefertigt durch das Königl. O.Regierung.O.Policei- Department, wurde angeordnet, dass der Kranke in das Tübinger Clinicum aufgenommen und der Aufsicht und Leitung Professor Autenrieths übergeben werden solle mit der Weisung, für die weitere zweckmäßige Behandlung dieses unglücklichen Juden Anordnung zu treffen. Nach Hinweis auf die schon erfolgte Verständigung des Landvogtei-Amtes Ellwangen wegen der Reise des Kranken nach Tübingen und auf das beigefügte ärztliche Gutachten schließt der Erlass mit dem Satz: Daran geschieht Unser Königlicher Wille und Wir bleiben euch in Gnaden gewogen. Der zweite Teil der Schlussformel dürfte in diesem Fall nicht unbedingt den Intentionen des Königs entsprochen haben, obwohl Autenrieth bei seinem Landesherrn durchaus in Ansehen stand. Denn unter dem 8.5.1811 wurde ihm auf Befehl des Königs die Abschrift einer Note des Ministeriums des Innern übersandt, in der es heißt, dass seine Königliche Majestät zu befehlen geruht habe, ihm einen Verweis zu erteilen. Da die Note des Innenministers vom 5. Mai 1811, gerichtet an das K. Ministerium der Geistl. Angelegenheiten, überdies auf die Hintergründe des Einweisungsverfahrens eingeht, sei sie in voller Länge wiedergegeben: Schon seit Januar d.J. sind seine Königliche Majestät von einem gemüthskranken Juden Hajum Abraham von Sauerbronnen, Oberamts Crailsheim, der sich den Namen Felix Garrin beigelegt hat, mit mehreren Bittschriften behelligt worden, und der Unterzeichnete hatte den Auftrag, über die Besorgung dieses Unglücklichen Bericht zu erstatten. Es sind daher unter andern auch die Vorsteher des Clinici in Tübingen um ihre Erklärung aufgefordert worden, ob sich derselbe nicht Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 zur Aufnahme in diese Anstalt qualifizierte, allein sie äußerten unter Anführung ihrer Gründe, daß solches mit großen Schwierigkeiten verbunden wäre. Seine Königliche Majestät haben jedoch per Rescriptum vom 4 t. huj: zu befehlen geruht, daß dieser Jude in dem Clinico zu Tübingen aufgenommen werden, und der Professor Autenrieth einen Verweis erhalten solle, daß er ihn nicht gleich aufgenommen habe, wonach der Minister des Innern und der Cultminister das Weitere zu besorgen haben. Der Unterzeichnete hat die Ehre, das K. Ministerium der Geistl. Angelegenheiten hiervon mit dem Anfügen zu benachrichtigen, dass die K. Oberregierung beauftragt sei, wegen der Aufnahme des Kranken in jenes Institut das Erforderliche zu veranlassen. Hajum Abraham litt nach dem auch aus heutiger Sicht sachkundigen Gutachten des Dr. Horlacher, das dem Landvogtei-Amt Ellwangen am 18.1.1811 erstattet und dem Königl. Erlass vom 7.5.1811 beigefügt worden war, an einem Beeinträchtigungswahn, der sich auf einen ausgedehnten Personenkreis bezog; Verfolgungsbefürchtungen, die sich zu nächtlichen Unruheständen steigerten, ließen ihn in Scheunen und Heuschobern Unterschlupf suchen, Vergiftungsideen führten zu mangelnder Nahrungsaufnahme. Dennoch verhielt er sich, wie ausdrücklich erwähnt wird, tagsüber ruhig und gesittet ohne aggressive Reaktionen gegen seine Umgebung. Ein geordnetes Verhalten wurde Hajum Abraham auch von behördlicher Seite attestiert. Das Oberamt Crailsheim stellte ihm, einem Dekret der Landvogtei am Kocher vom 10.5.1811 folgend, unter dem 16.5.1811 einen Passierschein aus, in dem die Oberämter Ellwangen, Aalen, Gmünd, Göppingen, Kirchheim, Nürtingen ersucht wurden, ihn auf seiner Reise nach Tübingen als einen ganz unverdächtigen Menschen passieren zu lassen. Über den Aufenthalt des Kranken im Tübinger Clinicum geben nur einige wenige Schriftstücke Auskunft, sodass sich die weitere Fallgeschichte nur lückenhaft rekonstruieren lässt. Immerhin erfährt man, dass Professor Autenrieth noch vor dem Eintreffen seines Patienten den im hohenzollerschen Hechingen amtierenden Oberlandrabbiner L. Aach1 um Rat angegangen haben muss, da dieser sich in einem Brief vom 16. Mai 1811 dahingehend äußerte, Hajum Abraham dürfe bei Inanspruchnahme neuen Koch-, Essgeschirrs und Bestecks Mehlspeisen, Garten- und Feldfrüchte, Reis, Grütze, Milch und Butter, sowie Fische, die Schuppen und Flossen haben, kochen und essen, Fleisch nur, wenn beim Juden gekauft; trinken möge er alles, was die ärztliche Vorschrift erlaube. Die Königliche Regierung blieb mit Autenrieth im Gespräch. Am 18.9.1811 stellte das Department des Innern unter Bezug auf eine Anfrage vom 9. Juli 1811 die Fortsetzung der bisherigen Behandlung des Unglücklichen in sein Ermessen und fügte hinzu, im Einvernehmen mit dem Oberamte sei jedoch dafür zu sorgen, dass die Torwärter Tübingens und andere die Torwache versehende Personen Gelegenheit erhielten, Garrin und sein Äußeres kennenzulernen, dass bei 47 48 Veltin: Professor Autenrieth erhält einen Verweis des Königs geöffneten Toren auf ihn und auf den Weg, den er einschlüge, Acht gegeben werden könne. Besonders aber sei ihm auf eine schickliche doch ernsthafte Weise zu bedeuten, dass er sich nicht unterstehen solle, S. Königliche Majestät mit Bittschriften und anderen Eingaben ferner zu behelligen. Sollte er einmal entweichen, sei das Oberamt Crailsheim umgehend zu verständigen, damit, wenn er in seiner Heimat angetroffen würde, für glimpfliche Aufsicht gesorgt und das weitere Vorgehen mit der Sektion der inneren Administration abgesprochen werden könne. Die Besorgnisse der Regierung müssen bald gegenstandslos geworden sein. Denn auf den 21.10.1811 ist der Entwurf eines Schriftsatzes datiert, in dem Autenrieth unter Berufung auf einen von der K. Sektion der Innern Administration erhaltenen Befehl sich um Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche für seinen Patienten an nicht näher charakterisierte Behördenleiter wendete. In dem Schriftsatz heißt es: Der in Frage stehende Hebräer ist noch in den 30. Jahren, ehemals stand er in einem großen Handelshause in Gotenburg in Schweden als Commis und Rechnungsführer, hierauf war er Lehrer der französischen Sprache auf der schwedischen Universität Lund. Eine unglückliche Liebe verwirrte seine Einbildungskraft. Jahrelang glaubte er bei Nacht verfolgt und ermordet zu werden, den Tag über hielt er zuletzt seine nächtlichen Träumereyen für Wahrheit. Er schweifte umher von Crailsheim bis Greifswald und wieder zurück. Als sein Geburtsort dem Staate Sr. Majestät einverleibt wurde (im Jahre 1810), bestürmte er auch Se. Majestät mit Bittschriften um Schutz. Unser allergnädigster Monarch stellte ihn durch Allerhöchsten Befehl im clinischen Institute in Tübingen unter meine spezielle Aufsicht und ich hatte von Zeit zu Zeit alleruntertänigst Bericht über den Unglücklichen zu erstatten. Es gelang nach vielen ernsthaften Versuchen innerhalb des verflossenen Sommers den Kranken so völlig wiederherzustellen, daß er zwar bey Nacht noch schwer träumt, die Träume aber als solche erkennt, und völlig Herr seiner Vernunft und seiner wirklich vorzüglichen Talente den Tag über schon lange ist. Er schreibt sehr geläufig und gut französisch, er kennt englisch und italienisch, ist ein sehr guter Rechner, auch versteht er die doppelte kaufmännische Buchhaltung. Sein moralisches Betragen und seine Grundsätze waren sogar während seiner Verwirrung untadelhaft, und sind so vollkommen geblieben, seitdem er wieder seiner Herr ist. Arm ist er vollkommen und diese Armuth, die der Grund seines Unglückes enthielt, hat wohl auch vieles dazu beygetragen, es zu unterhalten bis das clinische Institut für seine Bedürfnisse sorgte. Autenrieth bittet dann die Adressaten, sich bei den Kaufleuten und Fabrikanten ihres Distriktes nach einer Anstellungsmöglichkeit für den Patienten umzuhören nicht ohne zu erwähnen, dass dieser Sr. Majestät selbst für seine Rettung aus dem tiefsten Elend dankt. Im letzten Aktenstück, das dem Fall zuzuordnen ist, wurde Professor Dr. Autenrieth durch einen Erlass des Departments des Innern vom 10.6.1812 davon in Kenntnis gesetzt, der König habe Hajum Abraham von Sauerbronnen, genannt Felix Garrin, erlaubt, sich für ein Jahr nach Frankreich zu begeben; die Ausfertigung der erforderlichen Passes sei bereits veranlasst. Es gibt Grund zu der Vermutung, dass sich der Wiederhergestellte gegen die Rückkehr in sein Heimatdorf Sauerbronnen gewehrt hat, in der die Mutter und drei Brüder lebten. Im Sommer 1811 war ihm nämlich von Autenrieth offenbar schon einmal nahegelegt worden, er möge sich mit seiner Unterstützung über die Kreisbehörde Ellwangen um eine Arbeitsstelle bemühen. Diesen Vorschlag hatte er am 29. Juni 1811 in einem Brief an seinen Arzt entschieden abgelehnt unter Hinweis auf die ihm in seinem Heimatkreis widerfahrenen schrecklichen Handlungen und Vorfälle und zum Ausdruck gebracht, dass er die Ausstellung eines Reisepasses durch die Regierung in Stuttgart erwarte. Am Ende alles gut? Hajum Abraham/Felix Garrin, nach dem Urteil seines Arztes ein gebildeter und charaktervoller Mann, war wieder Herr seiner selbst. Ob in der Fremde die Erinnerungen an die Schrecken seines Wahnerlebens geschwunden sind, wie von ihm wohl erhofft, muss dahingestellt bleiben. Der König, der sich des Schutzsuchenden angenommen, war durch die erfolgreiche Behandlung der Sorge um den recht hartnäckigen Bittsteller enthoben, und dürfte nicht allzu schweren Herzen seinem Untertan die Reise nach Frankreich erlaubt haben. Und Autenrieth? Er hat seinen Patienten die Verärgerung über die ihm unwillkommene Zuweisung nicht spüren lassen. Dafür spricht schon allein die Umsicht, mit der er sich um dessen religiösen Verpflichtungen, materiellen Bedürfnisse und Zukunftsgestaltung kümmerte. Auch haben ihn die im Eingangszitat und auch anderen Orts beklagten Lasten an Mühe und Zeit, die die Behandlung psychisch Kranker mit sich bringe, nicht daran gehindert, diese Arbeit in dem beschränkten Rahmen fortzusetzen, die ihm die Fülle seiner Aufgaben als Arzt, Lehrer und Kanzler ließ. Anmerkung 1 Herrn Otto Werner aus Hechingen habe ich für seine Hilfe bei der Identifizierung des Oberlandrabbiners L. Aach zu danken. Anschrift des Verfassers Dr. med. A. Veltin Dürrstr. 15 72070 Tübingen Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 49 Leserbrief Vorbemerkung Da das Info-Heft zum Thema »Gewalt« ohne einen Beitrag aus Betroffenensicht erstellt wurde, freuen wir uns besonders über unten stehenden Leserbrief, der eine Zwangsmaßnahme aus der Sicht einer psychiatrieerfahrenen Zeugin schildert. Vielleicht regt er diejenigen, die Zwangsmaßnahmen anordnen oder durchführen noch einmal an, sich mehr und immer wieder mit der Sicht und dem Erleben der von diesen Maßnahmen Betroffenen oder auch außenstehenden Beobachter/-innen zu befassen. Und natürlich dazu, wie es die Leserbriefschreiberin vormacht, sich über Alternativen im Umgang mit Menschen, die sehr unruhig oder aggressiv sind, Gedanken zu machen. Der Redaktion ist bewusst, dass dies nach wie vor ein dringendes Anliegen psychiatrieerfahrener Menschen ist. (Siehe auch Sozialpsychiatrische Informationen 2/2003 dort Beitrag von M. Kleinsorge: »Und bist Du nicht willig ...») Sibylle Prins Gewalt und die Anwendung von Zwangsmaßnahmen sind für die in der Psychiatrie Tätigen wie auch für die Patienten erschütternde, einschneidende Erlebnisse und hinterlassen auf beiden Seiten einen bitteren Nachgeschmack. Ich selbst wurde (als Patientin) Zeugin folgender Situation: Eine junge, zierliche Frau wurde vollkommen verängstigt, aufgelöst und um Beherrschung ringend eingeliefert. Sie hatte anscheinend etwas Schlimmes erlebt und wollte reden, reden, reden. Von allen Seiten sprach man auf sie ein, sie solle sich jetzt beruhigen; schließlich wurde sie im Flur der geschlossenen Station fixiert, die halbe Belegschaft, einschließlich des Oberarztes stand um ihr Bett herum und schaute auf sie herunter. Ihr Redefluss schwoll zum Schreien an, bis der Oberarzt mit autoritärer Stimme sagte: »Frau X, wenn sie jetzt nicht aufhören zu schreien, muss ich sie knebeln.« Sie schrie erst recht, wurde geknebelt und »weggespritzt«. Solche Eskalationen könnte man vermeiden, indem man den Patienten nicht mit aller Gewalt zur »Ruhe« bringt, sondern sich (in einem dazu vorgesehenen »risikoarmen« Raum unter wohlüberlegten Bedingungen) mit dem Patienten beschäftigt, ihn reden oder auch schreien lässt, ihm also Gelegenheit zum Ausagieren gibt. Niemand würde von einem Menschen, dessen Haus in Flammen steht, oder der gerade beraubt worden ist, verlangen, er solle sich erst einmal beruhigen oder gar schlafen. Von psychotischen Patienten, die in einer ähnlichen, wenn auch wahnhaften Gefühlslage sind (sie fühlen sich verfolgt, bedroht, o. Ä.) wird dies aber gefordert und geht daher folgerichtig meistens schief. Mit freundlichen Grüßen Margit Weichold Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Buchbesprechungen Weizsäcker V von (2008) Warum wird man krank? Ein Lesebuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 341 S., 10,00 Euro In der Reihe DAS LESEBUCH. Eine Sammlung klassischer Lesestücke aus der Lebenswelt der Berufe für Fachleute und Liebhaber erschien 1950 von Karl Hansen herausgegeben und eingeleitet das »Lesebuch für Ärzte«. Aus den Schätzen von Literatur, Medizin, Philosophie, Historik, Kunst und seriöser Journalistik hatte der Herausgeber eine Textauswahl komponiert, die von Hippokrates über Goethe und Carus bis zu Kußmaul und Viktor von Weizsäcker reichte. Wie er in seiner Einleitung formulierte, war es sein Anliegen, in und mit den ausgewählten Texten Interesse für die »geistigen Grundlagen und menschlichen Voraussetzungen« des Arztberufes zu wecken und dieses insbesondere im interdisziplinären Austausch der verschiedenen Berufe zu vertiefen (da die Reihe DAS LESEBUCH mehrere berufsspezifische Bände umfasste). Karl Hansen (1893 – 1962) entstammte der Heidelberger Schule um Ludolf von Krehl und war ein umfassend interessierter Internist; er habilitierte sich sechs Jahre nach Viktor von Weizsäcker, an dessen Seite er in Heidelberg bis 1932 arbeitete; mit von Weizsäcker publizierte er auch gemeinsam über neurophysiologische Probleme. Ein gutes Halbjahrhundert später ist ein weiteres Lesebuch aus der geistigen Tradition der Heidelberger Schule erschienen. Der Berliner Neurologe Wilhelm Rimpau – Schüler von Dieter Janz, der Sichtweisen der Heidelberger Schule, (insbesondere von Weizsäckers) für die Neurologie und speziell die Epileptologie fruchtbar gemacht hat – hatte sich im Unterschied zu seinem Vorgänger Hansen die Aufgabe gestellt, einem breiteren Publikum ausgewählte Texte Viktor von Weizsäckers als der – neben von Krehl und Siebeck – Hauptfigur der Heidelberger Schule in der Form eines Lesebuchs vorzustellen. Ihm konnte es auch im Unterschied zu Hansen nicht darum gehen, nach der auch geistigen Katastrophe des Dritten Reichs spezifisch für den Berufsstand der Ärzte Anknüpfungspunkte für eine Neubesinnung der Grundlagen ärztlicher Berufstätigkeit in der Tradition »auszugraben«. Im gemeinsam mit dem Psychiater Dörner verfassten Vorwort wirft Rimpau einen Blick auf die aktuelle politische wie wissenschaftliche wie menschliche Krise ärztlicher Krankenversorgung; die Autoren plädieren zugleich dafür, die drängenden gesundheitspolitischen Fragen nicht rein administrativ bewältigen zu wollen, sondern sie vor dem Hintergrund der weit gefächerten und solide philosophisch reflektierten Überlegungen von Weizsäckers neu zu durchdenken. In der klugen Textauswahl aus dessen Schriften hat sich Rimpau von einer analytischen Zusammenfassung der fundamentalen Intentionen von Weizsäckers durch seinen Lehrer Dieter Janz 50 Buchbesprechungen leiten lassen: Grundlagenkritik der Medizin, Funktionsanalyse körperlich-seelischer, d. h. leiblicher Leistungen und Anweisung zu einem menschlichen, d. h. Wahrheit ermöglichenden Umgang von Arzt und Krankem. Bei seiner Werkauswahl konnte Rimpau auf die seit 2005 vollständig vorliegenden zehn Bände der Gesammelten Schriften von Weizsäckers zurückgreifen, die seit 1986 im Suhrkamp Verlag erschienen sind und an deren Edition er auch selbst beteiligt war; die zum Verständnis der Texte notwendigen Grundlagen und Bezüge erfährt der Leser in den Einleitungspassagen zu den einzelnen Texten und in den zugehörigen Anmerkungen. Den Abdruck der von Weizsäckerschen Texte hat der Herausgeber unter sechs Überschriften gegliedert (Erinnerungen, Krankengeschichten, Grundfragen medizinischer Anthropologie, Die Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Grundlagen einer neuen Medizin, Pathosophie); diese Überschriften sollen die wesentlichen Aspekte des Spektrums von Weizsäckerscher Erfahrungs- und Reflexionsarbeit repräsentieren. Mit der Wahl des Titels »Warum wird man krank?« hat Rimpau einen besonders glücklichen Griff getan; von Weizsäcker hat nämlich an verschiedenen Stellen seines Werks Warum-Fragen über die Entstehung einer Erkrankung gestellt: »Warum gerade ich?«, »Warum gerade jetzt?«, »Warum gerade dies?«, »Warum gerade hier?«. Damit wollte er sich gegen die verborgene Metaphysik der neuzeitlichen Medizin stellen, die auf den Erkenntniswegen der neuzeitlichen Naturwissenschaft die vier antiken Fragen nach einem Grund von Phänomenen und Dingen durch die in der Neuzeit einzig zugelassene Wie-Frage ersetzt hat; die Warum-Frage wurde dann an die Philosophie weitergereicht. In der Neuzeit konnte man seitdem in Wissenschaft und Medizin keine Antwort auf diese Frage geben, weil man bereits die Frage nicht mehr stellen konnte. Der Sinn einer Erkrankung lässt sich aber – so von Weizsäcker – in der Medizin nur mit der Warum-Frage ergründen. Dem Lesebuch »Viktor von Weizsäcker, Warum wird man krank?« gelingt es nach Einschätzung des R. überzeugend, den sog. anthropologischen Zugang zur Krise der Medizin, die von Weizsäcker selbst bereits in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg diagnostiziert hatte, in allen denkbaren Facetten – von der Erkenntniskritik der Medizin als Wissenschaft bis zur Analyse der je einmaligen Krankheitssituation eines Menschen und seiner Begegnung mit einem Arzt – einem breiteren Publikum nahezubringen. Damit ist auch eine Grundintention der Viktor-von-Weizsäcker-Gesellschaft, die sich seit 1994 der Pflege und aufs Aktuelle bezogenen Diskussion des von Weizsäckerschen Werkes widmet, in die Tat umgesetzt, nämlich: eine öffentliche gesundheitspolitische Diskussion der aktuellen Krise der Medizin unter Berücksichtigung des von Weizsäckerschen Erbes anzuregen. SCHMITT T (2008) Das soziale Gehirn. Eine Einführung in die Neurobiologie für psychosoziale Berufe. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 168 S., 29,95 Euro Bernhard Helmut Schmincke Die Prozesse im Gehirn sind sozial geprägt, auf soziale Interaktion spezialisiert und durch diese formbar. Solch komplexe Wechselwirkungen zwischen »dem Biologischen« und »dem Sozialen« interessieren den Autor, der sich in den Lagern, in denen vereinseitigt ausschließlich über soziale Belastungsfaktoren oder nur über Stoffwechselprozesse nachgedacht wird, nicht wohl fühlt. Die erste Hälfte dieser aufregenden Neuerscheinung eignet sich definitiv nicht für den Nachttisch, verlangt sie doch Lesern mit eingeschränkter Kompetenz in den Naturwissenschaften Konzentration ab, die aber durch die Anschaulichkeit der Darstellung mit ersten Einsichten in die Neurobiologie belohnt wird. Für Angehörige psychosozialer Berufe, etwa Sozialarbeiter, werden die Ausführungen zum Einfluss biografischer Erfahrungen auf die neuronalen Netze (S. 62) ebenso spannend sein wie der naturwissenschaftlich fundierte Nachweis, dass ein freundlicher Umgang mit Klienten mindestens ebenso wirksam ist wie ein Medikament (157), die Entwicklung und Funktion unseres Gehirns letztlich primär von Erfahrungen mit Menschen beeinflusst wird. Man muss nicht mit jedem Satz dieses erfrischenden Buches einverstanden sein: So wird die Theorie aus dem »Deutschen Herbst« aufgewärmt, dass das Denken und Handeln von Ulrike Meinhof von ihrem Gehirntumor beeinflusst gewesen sein könnte (119), der Nervenarzt Heinrich Hoffmann, der im 19. Jahrhundert die schwarze Horrorfibel »Struwwelpeter« verbrochen hat, wird als »Mediziner mit Humor und Kreativität« eingeführt (133). Trotz solch vereinzelter Einwände muss man sich über Thomas Schmitt nie wirklich ärgern, weil sein Buch ihn (im Gegensatz zum Vater des »Struwwelpeter«!) als »Mediziner mit Humor und Kreativität« zeigt. So spottet Schmitt über die täglich in der Presse gezeigten Bilder vom Gehirn, deren leuchtende Farbkleckse »dem Neugierigen vermeintlich Erklärungen in allen erdenklichen Fragen bringen« (27). Ähnlich (selbst-)ironisch übersetzt er schlicht und präzise formulierte Einsichten zu Placebo-Effekten vom Deutschen in medizinisch-neurologisches Fachchinesisch mit der Einleitung: »Neurologisch hört sich das so an ...« Im Zeitalter der biologischen Einseitigkeiten und notorischer Besserwisserei hebt sich Thomas Schmitt wohltuend vom Mainstream ab, nicht zuletzt durch seine bescheidene Bilanz, »es bleibt ein unendlicher Teil im Verborgenen« (156), da wo wir kein klares Wissen haben, müssten wir versuchen »Glaubenssätze« zu entwickeln (16). »Das soziale Gehirn« ist ein Glücksfall für den Leser, weil es komplexe Zusammenhänge anschaulich vermittelt und zugleich, mutmaßlich durch das »kölsche Temperament« des Autors, Lese-Vergnügen bereitet. Kaufen! Detmold Michael Eink, Hannover Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 51 Neuerscheinungen bei Vandenhoeck & Ruprecht Stefan Kühne / Gerhard Hintenberger (Hg.) Handbuch Online-Beratung Peter Bünder / Annegret SirringhausBünder / Angela Helfer Lehrbuch der Marte-Meo-Methode 2009. Ca. 265 Seiten mit 2 Abb. und 9 Tab., kartoniert ca. € 29,90 D ISBN 978-3-525-40154-5 Entwicklungsförderung mit Videounterstützung Die Abwicklung von Bankgeschäften, die Buchung von Urlaubsreisen, der Einkauf von Medikamenten – im Netz ist alles möglich. Auch im Bereich der psychosozialen Beratung hat sich in den letzten Jahren in dieser Hinsicht einiges getan: Sie findet zunehmend im Internet statt. Namhafte Experten stellen in diesem Grundlagenwerk sowohl verschiedene Beratungsformen und -konzepte als auch Einsatzbereiche vor. Beiträge zur Qualitätssicherung und Ausbildung für Online-Berater/innen runden das praxisnahe Handbuch ab. Sowohl Einsteiger als auch Fortgeschrittene sind so für den Beratungsalltag im Internet gerüstet. Mit einem Vorwort von Arist von Schlippe. 2009. 410 Seiten mit 21 Abb. und 14 Tab. sowie einer DVD, gebunden € 39,90 D ISBN 978-3-525-40206-1 Marte Meo bedeutet »aus eigener Kraft« und ist eine von Maria Aarts entwickelte Beratungsmethode. Szenen aus dem Familienalltag werden gefilmt, ausgewertet und gemeinsam mit den Akteuren besprochen. Auf der Suche nach gelingenden Momenten der Kommunikation lernen Eltern ihre Kinder besser zu verstehen und zu unterstützen. Dieses Lehrbuch, das erste seiner Art, widmet sich der Theorie und den Einsatzfeldern von Marte Meo, geht auf Marte Meo in Ausbildung, Weiterbildung, Supervision sowie Wissenschaft ein und vermittelt außerdem die Grundlagen der Videotechnik. Sigrid Haselmann Psychosoziale Arbeit in der Psychiatrie – systemisch oder subjektorientiert? Ein Lehrbuch 2008. 399 Seiten mit 6 Abb. und 20 Tab., kartoniert € 36,90 D ISBN 978-3-525-49138-6 Die subjektorientierte Sozialpsychiatrie und die systemische Perspektive haben frischen Wind in die klassischen psychiatrischen Methoden gebracht. In diesem Handbuch werden Denk- und Vorgehensweisen dieser beiden Modelle psychosozialer Arbeit vorgestellt. Welche Interventionsformen gibt es? Wie gestaltet man die Beziehung zu den Klienten? Wie geht man angesichts bestimmter Problemstellungen vor? Sigrid Haselmann zeigt, dass sich »Beziehungsarbeit und Verstehensbegleitung« zum einen und »Anstöße zur Lösungsfindung und Veränderung« zum anderen sehr gut verbinden lassen – zum Wohl der Klienten. Weitere Informationen Vandenhoeck & Ruprecht Psychologie 37070 Göttingen info@v-r.de www.v-r.de Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 52 Termine Frühjahrstagung der Deutschen Fachgesellschaft Psychose und Sucht e. V. (DFPS e. V) am 8. Mai 2009 in Bremen. Thema: Psychiatrie und Obdachlosigkeit. Weitere Infos über: Frau Grünberg, Klinikum Bremen-Ost, Tel.: 0421/4082776 und Frau S. Hornung-Knobel, Isar-Amper-Klinikum, Klinikum München-Ost, 85540 Haar, Tel.: 089/4562-0 IX. Kongress der DGGPP vom 17. bis 20. Juni 2009 in Ber- lin. Alterspsychiatrie 2009: »Seelische Gesundheit & Menschenwürde«. Das Programm des Kongresses findet sich unter: www.dggpp.de. DGGPP e. V., Postfach 1366, 51657 Wiehl, Tel.: 02262/797683, Fax: 02262/999 9916 »Die Zukunft der Suchthilfe in Deutschland.Von der Person zur integrierten Hilfe im regionalen Verbund«. Tagung 18. bis 19. Juni 2009 in Berlin. Info: Aktion Psychisch Kranke e. V., Oppelner Straße 130, 53119 Bonn, Tel.: 0228/676740, Fax: 0228/676742, E-Mail: apk-bonn@netcologne.de, Internet: www.psychiatrie.de/apk/ 11. Dortmunder-Hemeraner Fachtagung für Psychiatrie und Psychotherapie: »Was wirklich hilft – Wie sicher (belegt) und effektiv sind Behandlungen in der Psychiatrie?«. LWL-Klinik Dortmund, Marsbruchstr. 179, 44287 Dortmund (Freitag, 28. August 2009), LWL-Klinik Hemer, Frönsberger Str. 71, 58675 Hemer (Samstag, 29. August 2009). Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Dr. U. Sprick (Dortmund), Prof. Dr. U. Trenckmann (Hemer). Weitere Infos und Programm erhältlich bei: Medi-Office, Medizinischer Dokumenten- und Kongressservice, Carsten Brall, Fröschengasse 15, 66111 Saarbrücken, Tel. 0681/9409760, E-Mail: brall@medi-office.de, www.medi-office.de. 3. Kongress zur transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik vom 11. bis 13. September 2009 in Zürich. Info: Frau Dr. med. Solmaz Golsabahi, E-Mail: info@transkulturellepsychiatrie.de »Anything goes? Möglichkeiten und Grenzen (nicht nur) von Psychotherapie«. Erfurter Psychotherapiewoche, 12. bis 16. September 2009 in Erfurt. Info: Organisationsbüro der Erfurter Psychotherapiewoche, Tel. 0361/6422448, E-Mail: afp-erfurt@t-online.de, Internet: www.psychotherapie-woche.de Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009 Hinweise für Autoren Sozialpsychiatrische Informationen Lassen Sie sich durch die nachfolgenden Vorschläge und Hinweise auf keinen Fall davon abhalten, auch zukünftig spontan der Redaktion unverlangt Manuskripte einzusenden, selbst dann nicht, wenn sie den folgenden Punkten nicht entsprechen sollten: 1. Manuskripte sollten nach Möglichkeit weniger als 26.000 Zeichen beinhalten. Bitte senden Sie neben dem Ausdruck auch die dazugehörige Datei per E-Mail oder auf Diskette an die Redaktionsadresse. 2. Eine kurze Zusammenfassung bis zu 20 Zeilen sollte vom Autor dem Artikel vorangestellt werden. 3. Zur besseren Übersicht und höheren Akzeptanz des Manuskripts trägt eine gute Gliederung (Zwischentitel, ohne Nummerierung) bei. 4. Wenn Zitate unumgänglich sind, sollten diese am Ende des Artikels und bei den entsprechenden Literaturhinweisen aufgelistet werden. 5. Die Redaktion verpflichtet sich, dem Autor eine schnelle Rückmeldung darüber zu geben, dass sein Manuskript eingetroffen ist und in welcher Zeit er eine definitive Nachricht über die Annahme erhalten wird. Deshalb geht die Redaktion davon aus, dass die Autoren die Manuskripte nicht gleichzeitig anderen Zeitschriften anbieten. 6. Nach Annahme wird das Manuskript im nächsten thematisch passenden Heft erscheinen. 7. Die Autoren erhalten nach Möglichkeit ein PDF ihrer Arbeit aufbereitet als Sonderdruck (bitte E-Mail angeben). Auf Wunsch versenden wir bis zu zehn Sonderdrucke ihrer Arbeit kostenlos als Printversion. Weitere Sonderdrucke liefert der Verlag gegen Berechnung eines Kostenanteils von 0,05 € pro Seite. gegründet 1971 ISSN 0171 - 4538 Postvertriebsnr. G 07569 Redaktion: Michael Eink, Hannover Hermann Elgeti, Hannover Helmut Haselbeck, Bremen Gunther Kruse, Langenhagen Sibylle Prins, Bielefeld Renate Schernus, Bielefeld Ulla Schmalz, Düsseldorf Ralf Seidel, Mönchengladbach Peter Weber, Hildesheim Dyrk Zedlick, Glauchau Redaktionsanschrift: Frau Gabriele Witte, Klinik f. Psychiatrie u. Psychotherapie – Institutsambulanz, Rohdehof 5, 30853 Langenhagen Tel. 0511/73 00 590, Fax: 0511/73 00 518 E-mail: si@psychiatrie.de Verlag: Psychiatrie-Verlag gGmbH, Thomas-Mann-Str. 49a, 53111 Bonn, Tel. 0228/725 34 0, Fax 0228/725 34 20 www.psychiatrie.de/verlag, E-Mail: verlag@psychiatrie.de Erscheinungsweise: Januar, April, Juli, Oktober Abonnement: jährlich 30,- Euro einschl. Porto, Ausland 35,- Euro. Das Abonnement gilt jeweils für ein Jahr. Es verlängert sich automatisch, wenn es nicht bis zum 30.9. des laufenden Jahres schriftlich gekündigt wird. Bestellungen nimmt der Verlag entgegen. Studentenabo: 22,- Euro, Ausland 27,- Euro inkl. Porto Einzelpreis: 9,90 Euro E-Paper: www.verlag.psychiatrie.de/zeitschriften Satz: Psychiatrie-Verlag, Bonn Layoutkonzept: I. Bielejec, Mainz Druck: Ostfriesische Beschäftigungs- und Wohnstätten GmbH, Emden Die nächsten Schwerpunktthemen* »Trialog« (Heft 3/2009) »Die vergessenen psychisch Kranken (Heft 4/2009) »Mitarbeiterperspektiven« (Heft 1/2010) »Kultur« (Heft 3/2010) *Diese Themenplanung kann sich aufgrund aktueller Entwicklungen verändern Bestellschein Ich möchte Sozialpsychiatrische Informationen Ich bestelle folgende Einzelausgabe(n) der ab Heft . . . . abonnieren. Das Jahresabo mit vier Aus- Sozialpsychiatrischen Informationen für jeweils 9,90 Euro gaben kostet incl. Porto 30,- Euro (Ausland 35,- Euro). Menge/Ausgabe/Jahrgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich studiere bis voraussichtlich . . . . . . . und bestelle ein ............................................. Studentenabo für 22,- Euro (Ausland 27,- Euro). ............................................. Die Studienbescheinigung liegt bei. Bitte einsenden an: Psychiatrie-Verlag Thomas-Mann-Str. 49a 53111 Bonn Ich bitte um Zusendung eines Probeexemplars. Ihre Anschrift: Name ............................................................................ Straße ............................................................................ Ort ................................................................................ Datum/ Unterschrift ....................................................... Cullberg-Anz_182x260_sw:Layout 1 Vortragsreise 13.03.2009 9:51 Uhr Seite 1 Johan Cullberg, Schweden »Die psychotische Krise und die Möglichkeiten zur Genesung« Die Stationen seiner Tournee: Sa. 9.5.09, 9.30–10.30 h Ort: Kontakt: Informationen: Veranstalter: Berlin, Charité, Charitéplatz 1, 10117 Berlin, Großer Hörsaal Dr. Dorothea v. Haebler, dorothea.vonhaebler@charite.de www.charite.de/psychiatrie/aktuelles.html Charité, im Rahmen des Überregionalen Symposiums für Psychosenpsychotherapie Mo. 11.5.09, 18.00 h Ort: Kontakt: Anmeldung: Veranstalter: Köln, Berufliches Trainingszentrum (BTZ), Vogelsangerstr. 193, 50823 Köln Psychiatrie-Verlag, hueper@psychiatrie.de btz@btz-koeln.de Psychiatrie-Verlag, AGPR, RGSP, BTZ, LVR-Akademie, PSAG, Aufbruch Di. 12.5.09, 18.00 h Ort: Kontakt: Veranstalter: Hamburg, Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Martinistraße 52, Hörsaal Prof. Dr. Thomas Bock, bock@uke.de, Tel. 040/4 28 03-32 36 (Sekretariat) - 32 36 Im Rahmen der Vortragsreihe Anthropologische Psychiatrie Mi. 13.5.09, 15.00 h Ort: Kontakt: Veranstalter: Do. 14.5.09, 18.00 h Ort: Kontakt: Veranstalter: Gießen, KPP Gießen, Festsaal, Vitos – Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. H.J. Wirth, hans-juergen.wirth@psychosozial-verlag.de Dr. Dietrich Süße, dietrich.suesse@kpp-giessen.de Psychosozial-Verlag, LKH München, Klinikum rechts der Isar der TU, Hörsaal B, Ismaninger Str. 22, 81675 München Dr. Josef Bäuml, j.baeuml@lrz.tum.de, Tel.: 089/41 40-42 06/-42 10 (Fr. Kaiser, Sekretariat PD Dr. Bäuml) Atriumhaus, Klinik rechts der Isar Johan Cullberg: Therapie der Psychosen Ein interdisziplinärer Ansatz Fachbuch, ISBN 978-3-88414-435-0, 340 Seiten, 49.95 Euro / 83.40 sFr PSYCHIATRIE-VERLAG PSYCHIATRIE-VERLAG GmbH • BALANCE buch + medien verlag GmbH & Co KG • Thomas-Mann-Str. 49 a • 53111 Bonn