WP 2014_01.indb - Wasser
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Nr. 1/2014 BEST BLUES 2013: DIE ALBEN DES JAHRES • Kai Strauss Band - The Blind Boys of Alabama 19. BluesfesƟval Luzern • Zehn Fragen an: Bare Bones Boogie Band • Album des Monats: Richard Bargel & Dead Slow Stampede - It‘s Crap! • Texte von Uwe Saeger, Alexander Moszkowski Editorial 2 © wasser-prawda Editorial Editorial S echs Jahre Wasser-Prawda: Immer dann, wenn der Erscheinungstermin für die nächste pdf-Ausgabe näher rückt und die Arbeiten am Layout kein Ende nehmen wollen, frag ich mich, warum ich mir das eigentlich antue. Aber die Antwort ist immer die gleiche: Weil ich Musik und gute Literatur liebe. Und weil es gerade für Blues und Soul in deutscher Sprache kein Magazin gibt, dass auch unbekannteren Bands und Musikern aus aller Welt Platz einräumt, dass sich nicht allein auf die etablierten Namen stützt und das einen auch als Macher durch die Vielfalt der Themen selbst immer wieder überraschen kann. Und völlig einmalig ist die Kombination von Magazin und der Radiosendung „Crossroad Cafe“ auf radio 98eins: Denn was bringt es, begeistert über Musik zu schreiben, wenn man sie niemandem vorspielen kann? Je mehr Autoren beteiligt sind, desto spannender wird das ganze Unternehmen. Und auch in diesem Monat gibt es wieder einen Neuzugang zu vermelden: Eigentlich spielt Torsten Rolfs bei der Red Fox Bluesband in Bremen. Hier tritt er erstmals überhaupt als Konzertkritiker in Erscheinung und beschreibt seine Eindrükke beim Auftritt der Kai Strauss Band im „Meisenfrei“. Karsten Spehr war für uns bei der Annaberger Bluesnacht ebenso unterwegs wie beim Bluesfestival in Luzern und hat von beiden Orten wieder Eindrücke in Wort und Bild mitgebracht. Dave Watkins setzt seine Interviewreihe mit Musikern der Bare Bones Boogie Band fort und Darren Weale ruft zum Optimismus auf: Der Blues ist längst nicht so sehr am Ende, wie nicht nur Veranstalter glauben mögen. Und wie spannend allein das Jahr 2013 im Blues war, zeigt das Ergebnis unserer Umfrage nach den Eurer Meinung nach besten Alben des Jahres. Und das neue Jahr geht gleich spannend los: Eine der ersten Neuerscheinungen ist „It‘s Crap!“ von Altmeister Richard Bargel und seiner neuen Band Dead Slow Stampede. Einen Nachteil hat ein Online-Magazin: Man hat zwar einen guten und direkten Kontakt zu den Leserinnen und Lesern ebenso wie zu den Musikerinnen und Musikern. Doch manchmal wüsste man doch gern erfahren, wie die im „richtigen“ Leben so sind. Wer also Lust und Zeit und die Möglichkeit hat, sollte am 14. März in die Galerie KUB in Leipzig zur gemeinsamen Buchmessenparty des freiraum-verlags und der „Wasser-Prawda“ kommen. Hier schließlich noch die gute Nachricht für die Leser, die der Meinung sind, dass ein Magazin wie dieses nicht kostenlos sein sollte: Nach einigen Anfragen haben wir auf www.wasser-prawda. de einen Spendenbutton eingerichtet, bei dem man uns über paypal Geld zukommen lassen kann. Und wir sind wirklich über jede Unterstützung dankbar. Denn in den sechs Jahren haben wir in das Online-Magazin nicht nur jede Menge Arbeit und Zeit sondern auch Geld gesteckt. Laufende Kosten für Webserver und Software sind grad in der letzten Zeit zu einem deutlichen Faktor geworden. Erst im Dezember mussten wir auf einen größeren Server umziehen, weil der alte dem Ansturm der Leser aus aller Welt nicht mehr gewachsen war. Wer allerdings für sein Geld noch mehr sehen möchte, kann auch gleich Anzeigen im pdf und/oder online buchen. © wasser-prawda 3 Editorial Impressum Editorial Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Impressum Computerservice Kaufeldt GreifsAuf Tour wald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraumverlag Greifswald veröffentlicht und erscheint in der Regel monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www. wasser-prawda.de verschickt. Wasser-Prawda Nr. 01/2014 Inhalt 3 4 6 Musik Best Blues 2013 Die Alben des Jahres Zeit für Hobbits und den Blues? Zehn Fragen an Trev Turley & Iain Black (Bare Bones Boogie Band) Eric Clapton: Relaxte Rückkehr The Blind Boys of Alabama Redaktionsschluss: 05. Januar Liveberichte Krönender Abschluss des Bluesjahres 2013 2014 Heute abend: Eine Soul-Roots-Band 23. Annaberger Bluesnacht 2013 Redaktion: Chefredakteur: Raimund Nitz- Aus eins mach drei: Grend Blues Session expandiert sche (V.i.S.d.P.) Album des Monats Redaktion: Mario Bollinger, Richard Bargel & Dead Slow Stampede - It‘s Crap! Bernd Kreikmann, Lüder Rezensionen A bis Z Kriete, Erik Münnich, Dave 2 Hurt Mexico City Blues Watkins Andy Houscheid - Von hier aus weiter Andy T / Nick Nixon Band - Drink Drank Drunk Mitarbeiter dieser Ausgabe: Axel Kowollik - Out On The Perimeter • Gary Burnett Blackout Country - Old Empty Dreams • Kristin Gora Bruce Springsteen - High Hopes Cat Lee King vs. Mighty Mike OMB - Grits ´n Gravy • Torsten Rolfs Dan Sowerby - Milestone • Matthias Schneider David Blair - Stay In Touch • Karsten Spehr David Sinclair & Keith Bennett - Alchemy • Darren Weale Downchild - Can You Hear The Music Die nächste Ausgabe erscheint am Gregory Hoskins & Gary Craig - The Map of Above, The 20. Februar 2014. Map of Below Adresse: H&G Factory – Puttin’ 2gether Innes Sibun - Lost In The Wilderness Redaktion Wasser-Prawda Kat Danser - Baptized By The Mud c/o wirkstatt Kirsten Thien - Solo Live from The Meisenfrei Blues Club Gützkower Str. 83 Larry Carlton & Robben Ford - Unplugged 17489 Greifswald Laura Cortese - Into The Dark Tel.: 03834/535664 Live in Reitwein - Das 100. Konzert redaktion@wasser-prawda.de Malia & Boris Blank - Convergence Michael Mattice - Comin‘ Home Mike & The Mellotones - 1+1=3 (feat. Enrico Crivellaro) Anzeigenabteilung: Mojo Blues Band - Walking The Bridge marketing@wasser-prawda.de Gerne schicken wir Ihnen unsere ak- Niedecken - Zosamme Alt tuelle Anzeigenpreisliste und die Me- Otis Taylor - My World Is Gone Port City Prophets - Mule diadaten für das Online-Magazin und Quique Gómez & Luca Giordano - Chicago „3011 Studios“ die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda Sessions zu. Anzeigenschluss für das pdf-MaRabbit Foot - Dark Tales Vol. 1 (EP) gazin ist jeweils der 1. Werktag des Sheba The Mississippi Queen - Butter on My Roll Erscheinungs-Monats. Stormy Monday Artist Collection - Blues & Boogie No. 6 4 8 16 18 24 26 29 38 41 44 48 50 51 51 52 52 53 54 55 55 56 56 56 57 58 58 59 59 60 60 61 62 62 63 64 65 66 66 67 67 68 © wasser-prawda Editorial Susan Cattaneo - Haunted Heart The Campbell Brothers - Behind The 4 Walls The Enzymes with The Active Ingredients - s.t. The Mighty Bosscats - Boiling Pot The Revelations - The Cost of Living Tim Lothar & Holger „Hobo“ Daub - Blues from the North Tommy Keys - Devil‘s Den Van Christian - Party Of One 68 69 70 70 71 72 72 73 Kurz & knapp Kaz Hawkins - Better Days (EP) LaVendore Rogue - What‘s The Meaning Of ... (EP) Little Wild - Victories Raina Rose - Caldera Roadhouse - Gods & Highways & Old Guitars Róisin O- The Secret Life of Blue The Harmed Brothers - Better Days The Pepper Pots - We Must Fight 74 74 74 74 75 75 75 75 Wiederhören Fleetwood Mac - Then Play On (Expanded & Remastered) The South Side of Soul Street - The Minaret Soul Singles 1967-1976 Wanda Jackson - The Best of The Classic Capitol Singles Bücher Julius Fischer: Die schönsten Wanderwege der Wanderhure John Powell - Was Sie schon immer über Musik wissen wollten 76 76 77 78 80 Sprachraum Alexander Moszkowski - Der Neurosenkavalier Uwe Saeger - Faust Junior 82 86 Fortsetzungsroman Robert Kraft - Die Vestalinnen © wasser-prawda 114 5 Musik Auf Tour 05.02. Roots in t‘Groen, Geldrop (NL) (ganztägig) Al Jones Trio 06.02. De Keulse Kar, Den 14.02. Eiscafe Temmler, Chem- Bosch (NL) (ganztägig) nitz (Zschopauer Str. 178) 08.02. De Muzikant, Neerkant (NL) (ganztägig) BabaJack 09.02. Ace Cafe, Gel (BG) www.breakingblues.com (ganztägig) 04.02. Chabah, Kandern 15.02. Ibiza, Raisting (ganztä05.02. Mehlsack, Emmendin- gig) gen 21.02. Blue Note, Dresden 06.02. Yard Club, Köln (ganztägig) 07.02. Vivarium, Höslwang 28.2. Galerka, Novy Jucin (CZ) (ganztägig) 10. Blues Caravan 2014 07.03. Culturcafe M, Dohna Mit Laurence Jones, Christina (ganztägig) Skjolberg, Albert Castiglia 08.03. Hotel Seeburg, Luzern 24.01. Rheine, Hypothalamus (CH) ganztägig 25.01. Berlin, Quasimodo 26.01. Nürnberg, Hirsch Richard Bargel & Dead 28.01. Bensheim, Rex Slow Stampede 29.01. Karlsruhe, Jubez www.richardbargel.de 30.01. Stuttgart, Merlin 25.01.Köln, Altes Pfandhaus 31.01. Offenburg, Reithalle 29.01.Fürth, Kofferfabrik 01.02. Koblenz, Café Hahn 30.01.Stuttgart, Laboratorium 02.02. Dortmund, Piano 01.02.Brühl, Galerie am 04.02. München, Garage DeSchloss luxe 13.02. Pulheim, Kultur- und 05.02. Aschaffenburg, ColosMedienzentrum Saal 14.02.Wuppertal, Bürgerbahn06.02. Hamburg, The Rock hof Café 27.02.Hamburg, Cotton Club 07.02. Worpswede, Musichall 28.02.Lübeck, Rider’s Café 08.02. Hannover, Blues Ga01.03.Husum, Speicher rage The Toy Hearts 09.02. Bonn, Harmonie Bluegrass & Western Swing 24.01. Marbach Schlosskeller Captain’s Diary 31.01. Oberhausen, Druckluft 25.01. Nürnberg Loni Übler Haus 07.02. Krefeld, Werkhaus 28.01. Berlin tba Cologne Blues Club 30.01. Hildesheim Bischofs17.02. Waldhaus, Weil a.Rhein mühle 08.03. Grend, Essen 31.01. Stuhr Ratssaal 01.02. Neustadt Wespennest Jesper Munk 02.02. Kassel Kreuzkirche 23.03. Dresden, Puschkin, 25.03.Hamburg, Rock Café Clubs St.Pauli Barnaby‘s Blues-Bar Paul Batto Jr. (Braunschweig) www.batto.org 25.01. Second Service 25.01. Auszeit, Bruckmühl 01.02. Hannes „Feuer“ Bauer 02.02. Cafe Camille, Beverwi- 26.02. Mitch Ryder 15.03. Aynsley Lister Band jk (NL) (ganztägig) 6 Bistro Auszeit Vagener Str. 7, Bruckmühl 25.01. Paul Batto Jr 21.02. „Sir“ Oliver Mally 27.02. Sixpack 15.03. Haute Volee Blues im Bahnhof Bahnhof Mannheim. Eintritt frei. 28.02.: Mz. Dee & Maurizio Pugno Organ Trio feat. The Sublimes 28.03. Harriet Lewis & Gregor Hilden Band 11.04. Paul Lamb & The King Snakes 16.05. Zydeco Annie & the Swamp Cats 20.06. Norbert Schneider & Winestreet Session 05.09. El Ville Blues Band 10.10. Black Cat Bone 07.11. Abi Wallenstein, Dave Goodman, Oliver Spanuth, Steve Baker Bluesgarage Isernhagen 24.01. Carl Carlton 25.01. Vdelli 31.01. THE STATESBORO REVUE 02.02. Jeremy Spencer & Bluespower 06.02. Dr. Feelgood 07.02. Wishbone Ash/Cliff Stevens Band 08.02. RUFs Blues Caravan 13.02. Andy Fairweather Low & The Low Riders 14.02. Rhino Bucket 15.02. The Blues Band 22.02. Big Daddy Wilson 28.02. Kamchatka Cafe Hahn Koblenz 24.01. Axel & Thorsten Zwingenberger 25.01. Wishbone Ash/Cliff Stevens Band 27.01. Adam Baldych & Yaron Herman 18.03. Tamikrest 20.03. Duke Robillard & Band Chabah © wasser-prawda Musik 79400 Kandern 29.01. Dallas Hodge & Andy Egert Blues Band 05.02. BabaJack 19.02. Rob Tognoni 22.02. Rich & Famous 26.02. Jimi Barbiani Band Cotton Club Hamburg 24.01. Farmer‘s Road Blues Band 27.01. Guy Weber 29.01. J.J. & Big City Blues 30.01. One Trick Pony 10.02. Henry Heggen, Jaspa Prepula, Andreas Bock, Niels von der Leyen, Jan Mohr 27.02. Richard Bargel & Dead Slow Stampede 11.03. Hans Theesink 22. Februar, 20 Uhr, Jan Hengsmith 03.05. Thilo Martinho Laboratorium (Stuttgart) 23.-25.01. Grachmusikoff 07.02. The Blues Band 27.03. Blues Company Late Night Blues (Loev Hotel Binz/Rügen) 15.02. Amy Zapf & Martin Scheffler feat. Kat Baloun 22.03. Tommy Harris & Band Beginn jeweils 21 Uhr Meisenfrei (Bremen Hankenstr.) 28.01. The Statesboro Revue 30.01. Blues Shop Trio/Green Blues Band Downtown Bluesclub 31.01. Soulala Hamburg 01.02. Most Fabulous Long 29.01. Bernard Allison Gone Dicks 05.02. Vdelli 05.02. Blue Silver 08.02. Dr. Feelgood 08.02. Voodoo Child 12.02. Ben Poole 11.02. Michael Katon 22.02. Clem Clempson Band 12.02. Khalif Wailin‘ Walter feat. Mike Seeber 13.02. Johnny Rieger Band 26.02. Lisa Doby 18.02. Rhino Bucket 28.02. Mitch Ryder & Enger- 20.02. Mad Dog Blues Band/ ling Bremen Blues Band 05.03. Tommy Schneller 27.02. Mitch Ryder & Enger07.03. Hundred Seventy Split ling Extra Blues Bar Bielefeld 22.02. The Devil n Us 01.03. Freeborn Brothers 08.03. Johnny Rieger Band Music Hall Worpswede 29.01. Andy McKee 31.01. Jasper van‘t Hof‘s PiliPili 01.02. Konstantin Wecker 07.02. Blues Caravan 08.02. Wishbone Ash Hirsch Nürnberg 14.02. Andy Fairweather Low 29.01. Che Sudaka 20.02. Wingenfelder 30.01. Wishbone Ash 21.02. Helen Schneider 04.02. Dr. Feelgood 22.02. Gustav Peter Wöhler 11.02. Andy Fairweather Low 27.02. Chris Norman & The Low Riders 28.02. Ewan Dobson 12.02. Heinz Rudolf Kunze 13.02. Vdelli Musiktheater Piano 17.02. Eric Gales Band (Dortmund) 24.01. Vdelli Kulturspeicher 02.02. Blues Caravan (Bergstraße, Ueckermünde) 09.02. Dr. Feelgood 25. Januar 2014, 20 Uhr, Pete 14.02. The Blues Band Gavin 21.02. Mitch Ryder © wasser-prawda Musiktheater Rex (Bensheim) 23.01. Vdelli 28.01. Blues Caravan 2014 30.01. Lydie Auvray 06.02. The Blues Band 07.02. Konstantin Wecker Solo 11.02. Hundred Seventy Split 14.02. Rob Tognoni & Band 20.2. Ben Poole & Band 21.02. Lake O‘Man River (Friedensstraße, Heringsdorf) 24.01. Frank Plagge 31.01.. Catfish 07.02. Eric Lenz 14.02. Angela Klee 21.02. Peter Schmidt Räucherei Kiel 07.02. Jessy Martens & Band 15.02. 16. Kieler Blues Festival (mit Big Bill Morganfield, Mick Pini Band und Baltic Blues Connection) Schwarzer Adler (47495 Rheinberg) 26.01. Bernard Allison & Band 15.02. Ben Poole & Band 23.02. Mitch Ryder & Band 02.03. Kralle & Friends 08.03. Jessy Martens & Band Yorkschlösschen (Yorkstr. 15, Berlin) 24.01.Elise Eissmann Quintett 25.01.Swing Kong 26.01. The Vergil Segal Trio 29.01. Piano Power Station 31.01.Das SpreeTonOrchester 01.02. Black Kat & Kittens 05.02. Eb Davis & Superband 07.02. Fuasi‘s Ebony Quartet 08.02. Mike Russell Band 12.02. Al Jones Bluesband 14.02. First Class Blues Band 15.02. Ingrid Arthur & Band 19.02. Guitar Crusher & The Mellotones 21.02. Ulrike Haller & Loomis Green 7 Musik Best Blues 2013 Die Alben des Jahres Die Alben des Jahres 2013 stammen nach Meinung der Leser der Wasser-Prawda von Nina van Horn, Big Daddy Wilson, Ry Cooder und Gov‘t Mule. Bestes deutsches Album ist „Blue Shadow“ und als bestes Debüt wurde „For In My Way It Lies“ von Jesper Munk gewählt. Und dass die Leser unseres Magazins nicht nur Blues mögen, wird am Ergebnis der neuen Kategorie „Critics Choice“ sichtbar: Hier gewannen Black Sabbath mit ihrem Album „13“. Eine Auswertung von Raimund Nitzsche. Die Zahl Eintausend bei den Teilnehmerinnen unserer Umfrage haben wir 2013 nicht erreicht. Trotz diverser Ausfälle des Webservers konnten wir die Stimmen von 957 Lesern in das Ergebnis einbeziehen. Doch wie Murphys Gesetz so spielt, gab es auch dabei noch Probleme. Zwei Alben aus der Kategorie „Blues (elektrisch)“ waren plötzlich aus der Datenbank verschwunden. Und natürlich gab es auch von unserer Seite einen Fehler: „Shout!“ von Gov‘t Mule ist natürlich kein Live-Album. Da dieser Fehler erst nach Beginn der Umfrage erkannt wurde, konnten wir ihn nicht 8 © wasser-prawda Musik mehr korrigieren. Doch beim Ergebnis haben wir die Scheibe zum „Bluesrock“ verschoben. Und dort war es mit 240 Stimmen der Gewinner. Blues (elektrisch) Nina van Horn schlägt Buddy Guy und Ana Popovic? Damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. „Seven Deadly Sins“ ist ja nun nicht der wirklich einfache Stoff. Das Konzeptalbum über die Todsünden in unserer heutigen Welt ist sperrig und unbequem. Aber die von John H. Schiessler komponierten und von Nina van Horn getexteten Stücke zeigen eben auch, dass Blues sich einmischen kann und soll. Interessant wird die Rangfolge ab Platz 3: Hier finden sich gleich mehrere Alben jüngerer Musiker. Ob nun der funkig-rockende Soulblues von Ana Popovic oder Will Wildes rauhe Bluesharp: Diese Musiker zeigen auf ganz verschiedene Weise, wie man im 21. Jahrhundert den Blues am Leben halten kann. 1. Nina Van Horn - Seven Deadly Sins 362 2. Buddy Guy - Rhythm & Blues 245 3. Ana Popovic - Can You Stand The Heat? 153 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. Will Wilde - Raw Blues Morblus - Green Side Ian Siegal & The Mississippi Mudbloods - Candy Store Kid Big Bill Morganfield - Blues With A Mood Chicago Blues All-Stars - Red, Hot & Blue Tom Principato - Robert Johnson Told Me So Zoe Schwarz Blue Commotion - The Blues Don‘t Scare Me Mátyás Pribojszki Band - Treat Smokin Joe Kubek & Bnois King - Road Dog‘s Life Johnny Rawls - Remembering O.V. John Primer & Bob Corritore - Knockin‘ Around These Blues David Migden & The Dirty Words - Killing It Brian Houston - Mercy (Jesos Don‘t Forget My Name) Frank Bey And Anthony Paule Band - Soul For Your Blues Andy Poxon - Tomorrow Blues (akusƟsch) Bei einem neuen Label und im Studio mit einer ganz neuen Band - Big Daddy Wilson hat auf dem von Staffan Astner produzierten Album den klassischen Akustikblues in der Nachfolge von Eric Bibb deutlich ausgeweitet: Seine Lieder können jetzt auch nach Chicago in den 50er Jahren oder nach jazzigem Blues der 20er klingen. Doch immer sind sie tröstende und predigende Songs des Songwriters. Er singt voller Kraft und Selbstbewusstsein davon, dass die Dinge sich ändern werden. Wilsons Lieder nehmen diese Welt nicht als unabänderlich hin. Sie finden sich mit den Verhältnissen nicht einfach ab. Doch Veränderung kommt immer aus dem Inneren, aus der Seele und dem Glauben. © wasser-prawda 9 Musik Plazierungen von Eric Bibb oder Guy Davies sind nicht überraschend. Als Redakteur freue ich mich aber auch hier, dass die Leser meinen Geschmack häufig teilen: Sowohl „House Call“ des Kanadiers Marshall Lawrence als auch „Running Man“ der britischen Band BabaJack gehörten für mich zu den bemerkenswertesten Entdeckungen des Jahres. 1. Big Daddy Wilson - I‘m Your Man 2. Eric Bibb - Jericho Road 196 3. Marshall Lawrence - House Call 111 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 209 BabaJack - Running Man Guy Davis -Juba Dance Dave Riley & Bob Corritore - Hush Your Fuss Paul Lamb & Chad Strentz - Goin‘ Down This Road The Claudettes - Infernal Piano Plot … HATCHED! Thomas Ford - Breaking Everything But Even Kyle & Moore - The Whale & The Wa‘ah Fran McGillivray Band - Some Luck Half Deaf Clatch - A Road Less Travelled HowellDevine - Jumps, Boogies & Wobbles Bottleneck John - All Around Man Wooden Horse - This Kind of Trouble Bluesrock Es sind nicht nur die einsamen Gitarrenhelden, die heutzutage im Bluesrock überzeugen können. Sowohl Gov‘t Mule als auch die Tedeschi Trucks Band stehen für die Tradition der Jambands, sie verbinden Rock und Blues mit Soul und Funk, wenn es sein muss auch mit Reggae oder anderen Sti- 10 © wasser-prawda Musik len. „Ist das noch Blues?“, fragen sich Bluespolizisten verzweifelt. Völlig egal: Bands wie diese sind live und auf Platte lebendiger und spielfreudiger als ein großer Teil sämtlicher Rockveröffentlichungen, die sonst zu finden sind. 1. Gov‘t Mule - Shout 2. Tedeschi Trucks Band - Made Up Mind 3. Layla Zoe - The Lily 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 240 140 132 Dana Fuchs - Bliss Avenue The Tribes with Zach Prather - Ju Ju Man Trampled Under Foot - Badlands Mike Zito & The Wheel King King - Standing In the Shadows Anders Osborne - Peace FSamantha Fish - Black Wind Howlin JJ Grey & Mofro - This River Cyrill Neville - Magic Honey James Boraski & Momentary Evolution - Comin Home Southern Hospitality - Easy Livin‘ Sean Chambers - The Rock House Sessions Moreland & Arbuckle - 7 Cities Lightnin Malcolm - Rough Out There Soulstack - Five Finger Discount Monkey Junk - All Frequenzies Rhino Bucket - Sunrise on Sunset Boulevard Bare Bones Boogie Band - Tattered & Torn © wasser-prawda 11 Musik Live-Album 2013 Ob Ry Cooders mitreißende Mixtur aus Folk, Blues und Texmex, der großartige Southernrock der Royal Southern Brotherhood oder Eric Claptons Gipfeltreffen der Gitarristenszene beim Crossroad Festival 2013: Man fühlt sich mittendrin - und bedauert gleichzeitig, nicht dabei gewesen zu sein. 1. Ry Cooder & Corridos Famosos - Live At The Great American Music Hall 2. Royal Southern Brotherhood - Songs from the Road: Live In Germany 12 214 176 © wasser-prawda Musik 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. „Various - Crossroads Guitar Festival 203“ Roomful of Blues - 45 Live Lucky Peterson - Live At The 55 Arts Club Berlin Various - Remembering Little Walter Mark „Bird“ Stafford - Live At The Delta Murali Coryell - Live Roland van Campehout - Dah bluez iz-a-commin 168 Blues (naƟonal) Dieses Ergebnis - und vor allem die Höhe - kamen für mich äußerst überraschend. Klar. „Blue Shadow“, das Debüt der GProject Blues Band ist ein gutes Album und hat mit Liedern wie „100 Buck“ und „Downtown“ echte Hits zu bieten. Doch dass die Band fast doppelt so viele Stimmen auf sich vereinen kann als 3 Dayz Whizkey und fast 400 mehr als Henrik Freischlader? Hier macht sich die Macht einer guten Fanbindung in Zeiten des Internets bemerkbar. 1. GProject Blues Band - Blue Shadow 2. 3 Dayz Whizkey - Black Water 3. Henrik Freischlader - Night Train To Budapest 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 628 332 251 Beige Fish - Down Home Shuffle Jesper Munk - For In My Way It Lies Cologne Blues Club - Hanging By A Thread The Dynamite Daze - Tango With The Devil Timo Gross - Landmarks Hamburg Blues Band - Friends for a LIVEtime Vol. 1 Marshall X - Broke Busted & Blue © wasser-prawda 13 Musik 11. 12. 13. 14. The Leadbelly Project - Play The Jailhouse Blues Boogielicious - Boogie ALIVE Bluesin‘ The Groove feat. Adam Hall - Mess Around Thomas Scheytt - Blues Colours Bestes Debüt 2013 In keiner anderen Kategorie (abgesehen von der „Critics Choice“) ist die stilistische Bandbreite größer als bei den Debütalben. Da ist der Art-Blues des Cellisten Calum Ingram zu finden oder die wundervolle britische Sängerin Jo Harman. Gewonnen haben allerdings drei doch eher traditionelle Scheiben. Ein rothaariger Jüngling hat 2013 gleich mit seinem Debüt die Medien auch jenseits der Bluespresse begeistert: Jesper Munks Album „For In My Way It Lies“ ist eine schöne Mixtur aus Blues, Jazz und Rock und macht neugierig auf mehr. Vergleiche zu Jack White oder Jake Bugg weist der Musiker in aller Bescheidenheit von sich. Von der Begleitband des Vaters über den Blues Caravan hin zum eigenen Album: Cassie Taylor ist auf „Out Of My Mind“ ähnlich vielseitig: Von traditionellen Bluesklängen bis hin zu psychedelischen Bluesrockexkursionen reicht die Bandbreite. Wesentlich traditioneller geht es auf „Rough Cut“, dem Solodebüt des Sängers und Gitarristen Allen Vega zu: Kalifornische Leichtigkeit, engagierte Texte und eine Gitarre, die auch beißen und heftig werden kann, treffen hier aufeinander. 1. Jesper Munk - For In My Way It Lies 2. Cassie Taylor - Out Of My Mind 3. Allen Vega - Rough Cut 184 132 122 4. Jo Harman - Dirt On My Tongue 14 © wasser-prawda Musik 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. Lisa Cee - My Turn Calum Ingram - Making It Possible Rabbit Foot - Swamp Boogie - s.T, Loretta and the Bad Kings Forty4 - 44 Minutes GT‘s Boos Band - Steak House Andy T - Nick Nixon Band - Drink Drank Drunk CriƟcs Choice Es gibt soviel mehr Musik, die gut ist, aber kein Blues. Das war die Erkenntnis, die uns bei der Aufstellung unserer Bestenlisten kam. Und all das, was man in die bisherigen Kategorien nicht packen konnte, fand hier seinen Platz. Gewonnen hat Black Sabbath mit ihrem traditionellen Metal. Auf den Plätzen: Der leider verstorbene Gitarrist Bob Brozman mit seiner akustischen Weltmusik und ein Rückblick auf die ersten 60 Jahre des Blueslabels Delmark, 1. Black Sabbath -13 2. Bob Brozman -Fire In Mind 3. Various - Delmark: 60 Years of Blues 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 244 125 119 HISS - Das Gesetz der Prärie Pokey LaFarge - Pokey LaFarge Norbert Schneider - Schau mer mal Mojo Juju - Mojo Juju Samba Touré - Albala Vinz - The Birth of Leon Newark Charles Walker & The Dynamites- Love Is Only Everything © wasser-prawda 15 Musik Darren Weale’s . Brief aus dem Vereinigten Königreich Zeit für Hobbits und den Blues? Wˎ˕ˌ˘˖ˎ ˝˘ ˝ˑˎ Lˎ˝˝ˎ˛ ˏ˛˘˖ ˝ˑˎ U˗˒˝ˎˍ K˒˗ːˍ˘˖ L etztens hatte ich Spaß dran, den zweiten Teil des Films „Der Hobbit“ anzusehen. Es ist eine Geschichte, in der unerwartete Dinge passieren. Ein Hobbit, eine kleine und bescheidene Kreatur wird gegen alle Erwartungen zum Helden. 16 © wasser-prawda Musik Einige Zeit hat es so ausgesehen, dass sich die Erwartungen gegen die Popularität von Live-Musik gehäuft hätten. Viele amerikanische Musiker, die ich kenne, haben gesagt, dass die LiveSzene in den Vereinigten Staaten außerhalb der Festivals schwach ist. Es gibt nur sehr wenige gute Läden dafür, selbst in einigen traditionellen Zentren des Blues wie Detroit und Chicago. Man sagt ebenso, dass Großbritannien nur wenig besser ist und man weltweit die beste Live-Szene in Europa und Skandinavien finden kann. Natürlich, die Rezensionen haben hier nicht geholfen. Vielen Leuten fehlt das Geld, regelmäßig zu Live-Konzerten gehen zu können. Noch mehr Menschen, besonders jüngere, bevorzugen mehr modernere Musik wie Hip-Hop, Drum and Bass und was heute so als RnB bezeichnet wird. Der Aufstieg von HeimUnterhaltung, besonders des Fernsehens und Spielkonsolen hält die Leute zu Hause. Wo also sind die großen musikalischen Helden, die bekannten Namen des Blues? Die werden entweder alt (Clapton, B.B. King, die Stones) oder sind nicht mehr auf ihrem gewohnten Level. Das Wort „Blues“ selbst hilft auch nicht. Es impliziert, dass die Musik den Zuhörern den Blues gibt, während sie ihn in Wirklichkeit fort nehmen kann. Wie auch immer: Es gibt Gründe für Optimismus. Der Blues ist voller aufstrebender junger Talente. Einige würden einwenden - und Otis Grand etwa hat das deutlich getan - dass viele der jungen Gitarren-Helden keine Verbindung zu den echten Bluestraditionen mehr haben. Ich hab eine gewisse Sympathie für diese Sichtweise, weiß aber auch, dass es gut ist, wenn Zuhörer durch die jungen Spieler ihren Weg hin zu den früheren Bluesmusikern finden. Und es gibt da draußen auch viele Spieler, die eine starke Beziehung zu Klassikern des Blues wie Leadbelly oder Charlie Patton haben. In Großbritannien etwas gehört Danny Kyle dazu, ein Mann, dessen Musik man inzwischen bei Preisverleihungen erwähnt, seit sie reif geworden ist. Ebenso hat man einiges Geld in Schulen und Universitäten für Musik ausgegeben, um dem Blues Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ein weiterer Pluspunkt ist die Technologie. Da die großen Plattenfirmen scheinbar nicht viel unternehmen, um Bluestalente zu fördern, ist es hilfreich, dass Künstler ihre Musik selbst veröffentlichen können und zahlreiche Funk- und Internet-DJ‘s haben, die ihre Musik verbreiten - so wie beim „Crossroad Café“ auf radio 98eins. Auch das „intelligente“ Geräte wie Smartphones immer beliebter werden, ist hilfreich. Einige der Leute, die dort für die Inhalte verantwortlich sind, stellen fest, dass hier Blues-Musik auf sie wartet. Und selbst die Rezessionen mit dem Elend, das sie verursachen, können helfen, die Attraktivität der Musik zu steigern, die den Geist der Menschen in schwierigen Zeiten feiert. So könnten selbst die Dinge, die die Popularität des Blues geschädigt haben, ihm jetzt helfen. Lasst uns hoffen, dass es so kommt, denn es wird den Menschen, die den Blues haben, helfen, den Blues zu hören. Links Alistair Cooke - www.bbc. co.uk/programmes/b00f6hbp Crossroad Café radio 98eins - www.98eins.de/ Danny Kyle - www.dannykyle.com/ Otis Grand - http://www. otisgrand.com Bˎ ˙˛˘˜˙ˎ˛˘˞˜ ˊ˗ˍ ˎ˗˓˘ˢ ˢ˘˞˛ ˕˒˟ˎ ˖˞˜˒ˌ ˊ˗ˍ ˊ˕˕ ˝ˑˊ˝ ˒˜ Gˎ˛˖ˊ˗! © wasser-prawda 17 Musik Eine Gesprächsreihe von Dave Watkins Bare Bones Boogie Band (Foto: Mike McAdam) Zehn Fragen an Trev Turley & Iain Black (Bare Bones Boogie Band) Vom Garagenbluesrock hin zu einer stark dem Soul verpflichteten und im Blues verwurzelten Rockmusik: Die Bare Bones Boogie Band hat in den letzten Jahren eine faszinierende Entwicklung vollzogen. Deutlich wurde das unter anderem mit ihrem jüngsten Album „Tattered & Torn“. Die zehn Fragen von Dave Watkins beantworteten Bassist Trev Turley und Gitarrist/Songwriter Iain Black (Fragen 6&7). Und ehe jemand an Druckfehler denkt: Frage 4 wurde von ihnen ausgelassen. 1: Was war Dein frühester Musikgeschmack und wie hast Du die Welt des Blues entdeckt? Es wird so langsam bekannt, dass ich mit Prog Rog aufgewachsen und davon beeinflusst wurde. Am meisten hat mich da King Crimson beeinflusst, die ich noch immer mag. Der Blues-Effekt 18 © wasser-prawda Musik kam von The Groundhog und Cream. Auf die hatte mich ein Schulfreund aufmerksam gemacht. Es waren die Groundhogs, bei denen ich erstmals echte „Live“-Musik erlebte, als sie als Vorband für die legendären Canned Heat spielten. Damit war meine Taufe komplett. 2: Wer waren die Künstler, die dich dazu brachten, dass Du diese Musik spielen wolltest. Und wann stelltest Du fest, dass Du dazu das Talent hast? Als Heranwachsender hörte ich eine Menge Bands und Musiker, wie gesagt hauptsächlich Prog Rock, aber da waren Bruchstükke von Blues drin verwoben. Ich glaub, die beiden ersten LedZeppelin-Alben haben bei mir die Motivation geweckt, selbst zu spielen. Das wusste ich damals noch nicht, das war vielleicht ein eher unbewusster Vorgang! Ich würde gerne glauben, dass mein Spiel immer aus dem Herzen und nicht vom Kopf her kommt, es gab also keinen besonderen Moment, an dem mir klar wurde, was ich mache. Das hat sich im Laufe der Jahre eingeschlichen. Ich ziehe meinen Hut von den meisten Spielern zur Zeit: Es ist immer wieder ein Vergnügen zuzuhören und zu lernen. 3: Deine ersten Aufnahmen - hörst Du sie immer noch an? Wie beurteilst Du sie heute? Und gibt es welche, die Du nicht mehr anhören würdest? Ich höre mir gelegentlich das erste Album der Bare Bones Boogie Band „Red“ und das zweite „Blue“ an. In bestimmten Phasen grabe ich das ältere Zeug aus. Und es ist sehr interessant zu hören, wie wir uns als Band mit jedem Album entwickelt haben, nicht nur spielerisch sondern auch vom Stil und den Liedern her. Das Songwriting von Gitarrist Iain ist mit jedem Album kompletter und erwachsener geworden. Und selbst Schlagzeuger Andy hat sich im Laufe der Zeit als Songwriter betätigt. Und auf dem neuen Album „Tattered & Torn“ gibt es sogar ein Lied , das Helen, Andy und mich als Verfasser benennt. Ich bewerte die einzelnen Alben nicht, weil ich merke, dass sie in Stil, Feeling, Songwriting und Beteiligung der Bandmitglieder unterschiedlich sind, sie sind Zeichen für einen Reifungsprozess. Und ich werde immer wieder zu ihnen zurück kommen und sie mit frischen Ohren anhören. Wenn Du so eine starke Sängerin mit einem einzigartigen Talent wie Helen in einer Band hast, kannst Du die Musik nicht einfach kategorisieren oder gar ignorieren. 5: Wie schwer ist es, von seiner Musik zu leben? Und gibt es irgend etwas, dass diese Ziel für alle Musiker einfacher erreichbar machen würde? Ich/wir machen das allein aus dem Vergnügen, Musik zu spielen, besonders gemeinsam in der BBBB. Die finanzielle Seite ist eine andere Geschichte, aber meiner Meinung nach sind wir in der bequemen Lage, dass sich die Sache selbst trägt. Dieses Geschäft ist voll verschiedener Charaktere, allein dadurch, was geschieht, und welche Leute davon angezogen werden. Wie in jedem Geschäft braucht man die Tiefpunkte, um die guten zu schätzen, sie geben dem Ganzen einen Maßstab. Klar gibt es überall Raum für Verbesserungen, ob nun musikalisch, bei der Performance, in der PR oder dem Business allgemein. Denn heut- © wasser-prawda 19 Musik zutage geht es eben nicht nur darum, die Musik zu spielen. Man muss sich bewusst sein, was um einen herum passiert und sich aktiv einbringen, um der Band/dem Künstler ein scharfes Profil zu geben. Es geht immer um das komplette Paket. Mit all den anderen in der Bluesszene sind wir ziemlich glücklich, die meisten von uns neigen dazu, einander zu helfen und sich umeinander zu kümmern. Und das macht es so attraktiv. Wir sind wie eine große, glückliche Familie. 6: Auf welchen Deiner eigenen Songs bist Du besonders stolz? Erzählst Du uns die Geschichte hinter dem Lied? Iain Black: Das ist eine sehr schwierige Frage! Ich liebe sie alle gleich, ganz sicher in der Zeit, wo ich sie schreibe. An welchem Song ich im Moment gerade arbeite, das ist normalerweise mein Favorit. Klar ist es großartig, die fertigen Versionen zu hören, sich die endgültigen Aufnahmen anzuhören oder zu hören, wenn wir sie live spielen und mitzubekommen, wie der Rest der Band sich der Songs angenommen haben und das Lied zu einer Performance der ganzen Gruppe gemacht haben. Im Fall das Albums „Tattered & Torn“ bin ich stolz auf die ganzen eigenen Stücke. Ich hatte mich wirklich auf die Qualität der Lieder konzentriert und bin sehr zufrieden mit den Ergebnissen. Die Story hinter „Love Like Leather“ ist die einer Beziehung, die durch Dick und Dünn gehalten hat. Und auch wenn sie ein wenig zerschrammt und abgenutzt sein mag, hat sie zusammengehalten, weil sie auf sicherer Grundlage ruht. Das Stück begann mit dem Titel, der meiner Meinung nach großartig klang und Möglichkeiten für verschiedene interessante Themen bot. Und er klang wie Rock&Roll! Der Text ist teilweise beeinflusst durch„Wild Horses“ von den Rolling Stones, das eine Liebesaffäre beschreibt, die alle denkbaren harten Zeiten überlebt hat. Ich hab massenhaft Textzeilen geschrieben, aber ich brauchte Monate, um Musik und Melodie zu finden. Ich hab Mengen verschiedener Ideen probiert, und jedes Mal hätte das Lied ganz anders geklungen. Doch ich fand, keine der Kompositionen wäre der Qualität des Textes angemessen bis mir endlich die Idee für die endgültige Musik kam. Damals war ich in einem Cottage in Wales umgeben von einer wunderbaren und inspirierenden Landschaft. Als ich endlich die Musik hatte, die zum Text passte, da fügte es sich fast sofort zum endgültigen Lied zusammen. Die Band hat es sich ziemlich schnell angeeignet, und wir spielen es sehr gerne. Auch die Zuhörer mögen es, und das rechtfertigt all die Mühen! 7: Wenn Du Dich zum Schreiben hinsetzt, was kommt zuerst der Text, die Melodie oder die Idee für ein ganzes Lied? Iain Black: Ich schreib normalerweise Lieder auf einem von drei verschiedenen Wegen. Manchmal steht am Anfang ein Riff oder eine Akkordfolge, zuweilen hab ich zuerst ein paar Verse. Oder aber ich finde Text und Melodie zusammen. Bei „Love Like Leather“ hatte ich die Verse einige Monate bevor ich Musik und Gesangsmelodie finden konnte, die dazu passten. „Appreciation“ war das komplette Gegenteil. Das Hauptriff spielten wir alle einige Wochen, bevor ich es schaff te, den endgülten Text dazu zu schreiben. Die letzten Teile schrieb ich noch immer, als Helen in die Gesangskabine ging, um das Lied für das Album einzusingen. Für „Passion and Pain“ schrieb ich die Gesangsmelodie und den 20 © wasser-prawda Musik Text während eines Spaziergangs und arbeitete die zur Melodie passenden Akkorde aus, als ich nach Hause gekommen war. In anderen Momenten sitze ich einfach und improvisiere auf der Gitarre, bis sich ein gutes Riff oder eine Akkordfolge entwickelt. Und normalerweise höre ich darüber ziemlich schnell eine Melodie darüber. Dann spiele ich sie immer wieder und füge Lyrics dazu. Zu dem Zeitpunkt bekomme ich vielleicht einen Vers und den Refrain zusammen. Und in den nächsten paar Tagen und Wochen kommen dann die anderen Verse, üblicherweise beim Spaziergang oder auch im Zug oder der U-Bahn. Oder ich hab ganz großes Glück und bekomme den ganzen Song in einem Anlauf zusammen. Das passierte bei „Time To Be Free“. Wie auch immer ich die Hauptteile des Liedes finde, arbeite ich eine ganze Weile daran, um sie auf bestmögliche Weise zusammen zu bauen: Strophen, Refrains, Intros, etc. Dann nehme ich ein Demo auf oder spiele das Stück der Band live vor. Schließlich jammen wir alle dazu und schiebe vielleicht einige Teile herum, erweitern oder kürzen sie bis alles passt und wir alle damit zufrieden sind. Die letzte Stufe ist, das Lied live zu spielen. Ein Song wird immer ein eigenes Wesen, nachdem Du ihn ein paar Male live gespielt hast! © wasser-prawda BHelen Turner (BBBB) (Foto: VOX/Laurence Harvey) 21 Musik 8. Erzähl uns was über das Lieblingsinstrument in Deiner Sammlung. Gibt es irgend ein anderes Instrument, dass Du gerne hättest oder spielen lernen möchtest? Das ist einfach. Ich habe einen Guild M85 Bass, der hat einen prima Klang, spielt sich wie ein Traum und ist überdies ein echter Hingucker. Ehrlich: Ich fühlte mich vom ersten Tag von dem Bass angezogen, also war all das andere eigentlich nebensächlich. Sollte jemand einen Gibson EB-3 übrig haben und ihn nicht mögen, dann wäre ich mehr als glücklich, ihn zu übernehmen. Ich mag den, den Andy Fraser bei Free gespielt hat... 9. Wo möchtest Du Deine Karriere gerne hinführen sehen in der Zukunft? Was sind Deine wichtigsten Ziele? Ich habe keine großen Ambitionen, aber ich will weiterhin Spaß an der Musik haben und so viel wie möglich live spielen. Aber der neue Vorsatz lautet: Qualität statt Quantität. 10: Was machst Du außer Musik am liebsten? Musik umfasst so ziemlich alles. Ich höre eine Menge, auch eine Menge verschiedener Stile. Selbst wenn ich in Urlaub fahre, ist da immer irgendeine musikalische Herausforderung dabei. Meine Frau und ich sind vor einigen Jahren den US Blues Trail entlang gezogen, die „Crossroads“, Memphis, Clarksdale und so weiter. Ich endete sogar damit, dass ich mit Steve Holley, Paul McCartney‘s altem Drummer jammte. Und das war in B.B. Kings Club in New York. Zusatzfragen: 1: Du hast ja Spaß an Prog Rock - wird die Bare Bones Boogie Band irgendwann auch Prog Blues spielen? Höchst unwahrscheinlich. Ich persönlich mag ja den alten Prog Rock, aber der Einfluss, den diese Musik in mir hinterlassen hat, ist alles, was ich davon in die Band einbringe, und so wird es auch bleiben. 2: „Tattered & Torn“ hat eine Menge positiver Besprechungen und Feedback bekommen - wieviel Notiz nimmst Du von den Kritiken und wie persönlich nimmst Du die, wenn Du mit ihnen nicht übereinstimmst? Wir lesen alle Rezensionen und die meisten, wenn nicht alle, können in der Rezensionsabteilung unserer Webseite (www.barebonesboogieband.com) gefunden werden. Ich bin der Ansicht, dass jede Kritik ob gut oder schlecht gut ist. Eine Rezension ist nur dann schlecht, wenn wir sie nicht bekommen. Alle Rückmeldungen sind gut, ob Lob oder Kritik. Doch sie müssen konstruktiv sein, um einen Wert zu haben. 3: Hat die BBBB bei Auftritten eine Liste von Sonderwünschen? Was ist die ungewöhnlichste Sache, die Ihr verlangt? Wir haben normalerweise keine Extrawünsche. Wenn einem besondere Dinge angeboten werden, dann ist das meist auf den größeren Festivals. Und wenn man die bekommt, macht es das Erlebnis umso erfreulicher, ein wenig wie die Sahne zur Torte. Ich hatte noch nie Sahnetorte backstage, aber es gibt immer ein erstes Mal! 22 © wasser-prawda Musik ! WERDE MEIN R E L L Ü F R TRAUME Hallo! Ich heiße Ravina, bin 16 Jahre alt und steh im Moment mitten in den Vorbereitungen für mein bald anstehendes Austauschjahr. Wohin die Reise geht, steht noch nicht fest. Um diesen Traum vollends wahr werden zu lassen, brauche ich dazu deine Unterstützung, denn Moment fehlt mir noch eine Menge Geld, ich spare kräftig und verdiene mir neben der Schule Geld mit einem Nebenjob. Weil ich das aber trotzdem nicht ganz DOOHLQHVFKDHYHU]LFKWHLFK]XV¦W]OLFKDXI:HLKQDFKWVXQG*HEXUWVtagsgeschenke und suche für meinen Traum noch viele Wegbegleiter, denn jeder einzelne Euro bringt mich meinem großen Traum ein wenig näher. WARUM SOLLTEST DU AUCH ZU TRAUMERFÜLLER WEREINEM DEN ? Weil du mir damit die Möglichkeit gibst, Dir vieles aus der Ferne zu berichten und ich dich somit an meinen Erfahrungen teilhaben lasse. Eine besinnliche Weihnacht, ein zufriedenes Nachdenken über 9HUJDQJHQHVHLQZHQLJ*ODXEHDQGDV0RUJHQXQG+RQXQJI¾UGLH Zukunft wünschen wir von ganzem Herzen. Liebe Grüße von uns fünfen aus Zwickau UNTERSTÜTZE MICH ;) Empfänger Agnes Nitzsche Kontonummer 9510230911 Bankleitzahl 700 222 00 - Fidor Bank Verwendungszweck 92002713 + Dein Name + Ravinas Austauschjahr © wasser-prawda 23 Musik Eric Clapton: Relaxte Rückkehr Nach dem neuen Studiowerk „Old Sock“, der erweiterten Neuveröffentlichung von „Unplugged“ und den Live-Aufnahmen vom 2013er „Crossroads Festival“ ging das Jubiläumsjahr 2013 für Clapton mit einer weiteren Wiederveröffentlichung zu Ende: Das Boxset „Give Me Strenght“ konzentriert sich auf eine der besten Perioden von Clapton als Solokünstler und bringt die Alben „461 Ocean Boulevard“, „There‘s One In Every Crowd“ und das Live-Album „E.C. Was Here“ in erweiterten Fassungen. Außerdem finden sich noch Aufnahmen, die bei Studiosessions mit Freddie King entstanden. Von Raimund Nitzsche. Mit „461 Ocean Boulevard“ meldete sich Clapton zurück in der Musikszene, nachdem er zuvor heftig gegen seine Heroinabhängigkeit angekämpft hatte. Und das Album machte eine deutliche Änderung in der Musik von Mr. Slowhand erkennbar: Hier ist nicht mehr der heftige Bluesrocker an den Saiten, der mit Cream weltweit Erfolge gefeiert hatte. Auch der deftige Southernrock von Derek & The Dominos ist passe. Relaxt geht es zu: Clapton entdeckt seine Liebe zum Reggae („I Shot The Sherriff “) und zu wundervollen Popmelodien („Give Me Strenght“ oder „Let It Grow“). Und wenn er jetzt den Blues spielt, dann rockt das zwar noch manchmal deftig wie beim Opener „Motherless Children“. 24 © wasser-prawda Musik Doch schon „I Can‘t Hold Out“ (Elmore James) ist durch den relaxten Groove unwiderstehlich. Und Robert Johnsons „Steady Rollin Man“ bekommt gleich einen rockenden Reggae-Rhytmus verpasst. „461 Ocean Boulevard“ war schon vor einigen Jahren mit einer Deluxe-Ausgabe auf zwei CDs gewürdigt worden. Hier ist statt der Live-Aufnahmen der damaligen Edition zwei Versionen des bislang unveröffentlichten „Getting Aquainted“ sowie Outtakes von „Please Be With Me“ und „Give Me Strength“ (mit Dobro) auf die CD gepackt worden. Für Fans eine interessante Ergänzung. Ansonsten braucht dieses Studioalbum eigentlich kaum eine weitere Ergänzung, zählt es doch selbst im zeitlichen Abstand zu den wichtigsten Werken von Clapton als Solist. Ein halbes Jahr später schon war Claptons nächstes Album auf dem Markt: Auch „There‘s One In Every Crowd“ setzt den Flirt mit dem Reggae fort. Selbst die Gospelnummer „Swing Low Sweet Chariot“ wird karibisch behandelt. Für „I Shot The Sherriff “ hatte Clapton mit George Terry gar eine Fortsetzung geschrieben: „Don‘t Blame Me“ fehlt allerdings die Spannung, die das Vorbild auf dem Vorgängeralbum noch entwickelt hatte. Und das zieht sich leider durch einen großen Teil des Albums: Ob Reggae oder Blues („The Sky Is Crying“, „Singing The Blues“) - damals hatte Clapton das große Geheimnis wirklich relaxter Musik noch nicht kapiert. Hier wirkt es einfach nur hingeschludert. Oder es fehlte einfach die Zeit, die ein wirklich gutes Album braucht. „There‘s One In Every Crowd“ kommt mit lediglich zwei bislang unveröffentlichten Liedern daher: „Fools Like Me“ ist ein schöner Slowblues, bei dem Clapton seine Gitarre schön singen lassen kann. „Burial“ ist ein weiterer Reggae, auf den man auch hätte verzichten können. Nach unserem Clapton Special vor wenigen Monaten kam von einem Leser die Anfrage, warum wir denn nicht auch die LiveAlben vorgestellt hätten. Im Blick auf den Bluesman Eric Clapton wäre das sicherlich sinnvoll gewesen, scheiterte aber nicht nur an fehlenden Aufnahmen in unserem Archiv sondern vor allem auch an der Zeit, die dafür noch notwendig gewesen wäre. Eines der Alben, die dabei sträflicherweise zu wenig genannt werden (Just One Night ist und bleibt natürlich die Referenz!) ist „E.C. Was Here“, veröffentlicht erstmals als einzelne LP im Sommer 1975. Was jetzt auf „Give Me Strength“ auf gleich zwei CDs gepackt wurde, hat mit dem originalen Album nicht mehr viel zu tun. Denn einerseits finden sich mit „Crossroads“, „I Shot The Sherriff “, „Layla“ und „Little Wing“ gleich vier bislang völlig unveröffentlichte Aufnahmen. Hinzu kommen weitere schon anderswo veröffentlichte Aufnahmen der damaligen Tour. Die Original-LP mit ihren sechs Titeln war - gegen die Pophits der Studioalben - ein ziemlich konsequentes Bluesrockalbum geworden. Clapton spielte Songs aus der Zeit mit Blind Faith („Presence of the Lord“, „Can‘t Find My Way Home“) oder Derek & The Dominos („Have You Ever Loved A Woman“) neben Klassikern von Robert Johnson („Ramblin On My Mind“) oder Charles Brown („Drifting Blues“). Doch dass Clapton damals bei den Konzerten eben auch die neuen Songs samt Reggae-Rhythmen aber auch die alten Hits spielte, wird jetzt erst klar. Ebenso wie auch die Tatsache, dass Clapton weder damals noch heute wirklich so relaxt war, wie sein langjähriges Vorbild JJ Cale. Dafür brennt zuviel Feuer in ihm. © wasser-prawda 25 Musik The Blind Boys of Alabama The Blind Boys of Alabama, fünfmalige Grammy-Gewinner, haben erstmals 1944 gemeinsam gesungen. Mit ungefähr neun Jahren kamen sie zusammen im Glee Club des Alabama Institut für Blinde in Talladega. 1948 nahmen sie ihre erste Single „I Can See Everybody‘s Mother But Mine“ auf und veröffentlichten über die nächsten Jahrzehnte einen Stapel Alben. Von Gary Burnett. 2001 veröffentlichten die Blind Boys ihr bislang von Kritikern am meisten gelobtes - und gleichzeitig ihr kommerziell erfolgreichstes - Album „Spirit of the Century“. Das wurde mit einem Grammy als Bestes Traditionelles Soul Gospel Album ausgezeichnet. Und in den letzten zwölf Jahren haben sie uns eine Anzahl exzellenter Alben geschenkt, zu der auch die wundervolle Zusammenarbeit mit Ben Harper im Jahre 2004 gehört, veröffentlicht als „There Will Be A Light“. „Atom Bomb“ (2005) war eine Fusion aus Gospel mit Pop, Rap und Blues, „Take The High Road“ (2011) war ein CountryGospel Album und auf dem von Justin Vernon (Bon Iver) produzierten „I‘ll Find A Way“ (2013) arbeiteten sie mit einer Menge erstklassiger Künstler aus der Welt von Blues, Pop, Soul, Rap und Country zusammen. In einem kürzlich geführten Interview erzählte Jimmy Carter, eines der Gründungsmitglieder der Blind Boys of Alabama und einziges Mitglied der Originalbesetzung, das noch regelmäßig mit auf Tour geht, davon, wie die Mitglieder der Band mit Gospelmusik aufwuchsen und sie liebten. Auch wenn es eine Menge Möglichkeiten gegeben hätte im Laufe der Jahre zu Soul oder Rock & Roll zu wechseln, sind sie bei der Musik geblieben, mit der sie begonnen hatten. Carter formulierte es ganz einfach: „The 26 © wasser-prawda Musik Lord had been good to us and we love to do this, we promised God that we would never deviate from singing gospel music.“ Carter erzählt von den harten Zeiten, als die Blind Boys ihren Weg machten, als im Süden noch Jim Crow regierte, als sie in heruntergekommenen Hotels oder Pensionen wohnten oder keinen ordentlichen Laden finden konnten zum Essen, während sie auf Tour waren. Und zu den Problemen ein Amerikaner afrikanischer Herkunft zu sein, muss man in dem Fall auch noch das zusätzliche Problem addieren, dass sie blind sind. Doch Carter bleibt unglaublich optimistisch. Er sagte: „Es macht mir nichts aus, blind zu sein, es beunruhigt mich kein bisschen. Ich bin glücklich. Ich kann alles machen, was die anderen auch können, außer zu sehen.“ Carter kam zu der Einsicht, dass sein Gesang eine Berufung ist, ein Job, den Gott ihm gegeben hat. Und als er das verstanden hatte, sagt er, hat er sich niemals mehr drüber beschwert. „Ich glaube, das kam einfach von Oben, von IHM. Nachdem er mir das gesagt hatte, gab mir das Frieden, Mann. Ich fühlte einfach Frieden. Das ist alles, was ich sagen kann.“ Diese unglaublich positive Einstellung zum Leben, dieser bedingungslose Glauben trotz der Schwierigkeiten und Herausforderungen des Lebens, kommt sowohl in den Live-Auftritten als auch in den Alben der Blind Boys zum Ausdruck. Man nehme etwa das kürzlich veröffentlichte „I‘ll Find A Way“. Die Stimmung des Albums, ob musikalisch oder von den Texten her, ist äußerst positiv. Es basiert auf einem soliden Glauben an Gott, der für die Blind Boys immer da ist, der immer der Fels ist, egal welche Steine dir das Leben in den Weg wirft. „Rainbow in the Cloud“ ist ein gutes Beispiel: “Als es so aussah, als würde die Sonne niemals wieder scheinen, setzte Gott einen Regenbogen in die Wolken.“ Und weil das der Fall ist, „werde ich einen Weg finden, um weiter zu machen“, singen sie in „I‘ll Find a Way“. All das beruht auf einem starken Glauben an die allem © wasser-prawda 27 Musik zu Grunde liegende Güte Gottes, von der das Album völlig ohne Scham und voller Freude erzählt: “Since I found you my whole life has changed Since I found you, Lord, my life ain’t the same.” (I’ve Been Searching). Die Einstellung zum Leben der Blind Boys ist ganz einfach ausgedrückt in „Take Your Burden To The Lord“: „If you trust and never doubt, he will surely bring you out.“ Was wir brauchen könnten, damit wir „herausgebracht werden“ können, wird in diesem Vers des Liedes beispielhaft dargestellt: “If your mother dead and gone,And you’re sitting here all alone And your burden seems so hard for you to bear But if you be true God will surely bring you through Take your burdens to the Lord and leave them there.” Dieser hingebungsvolle Glauben an Gott in Mitten von Herausforderungen wird auch in dem herausragenden Cover von Dylans „Every Grain Of Sand“ dargelegt: „In the fury of the moment I can see the Master’s hand.” In den reichen traditionellen Harmonien und durch Vernons großartiger Produktion spürt man die Gnade. The Blind Boys, die größere Härten haben erleben müssen als die meisten von uns, erinnern uns an den Wert der Dankbarkeit und des einfachen Vertrauens im Angesicht widriger Umstände. Als einer der derzeitigen Mitglieder der Gruppe hat Ricky McKinnie vor kurzem gesagt: „Unsere Behinderung muss kein Handicap sein. Es geht nicht darum, was Du nicht tun kannst. Es geht darum, was Du tust. Und was wir machen, ist, gute Gospelmusik zu singen.“ Das ist eine Einstellung zum Leben, die es lohnt, gepflegt zu werden. 28 © wasser-prawda Musik Krönender Abschluss des Bluesjahres 2013 Zum 19. Mal fand vom 14. bis 16. November 2013 das Luzern Blues Festival statt. Für viele gehört diese Veranstaltung zu den besten Festivals in Europa. Die Macher um Guido Schmidt, Martin Bründler, Kurz Schürmann und Mike Hause hatten auch diesmal 14 Bands und Künstler verpflichten können. Text und Fotos: Karsten Spehr. Begonnen wurde diesmal akustisch mit Larry Garner & Michael van Merwyk. Das virtuose Duo, dass gelegentlich eine ganze Band vermuten ließ, glitt gewohnt mühelos durch die Stile und hatte dem Schweizer Festival mit „Going To Lucerne“ sogar einen eigenen taufrischen Song gewidmet. Der dann auch noch, getragen vom euphorischen Publikum, mit großer Freude bis in den Backstagebereich gelangte. Ihr Auftritt gipfelte stimmungsvoll, indem sie Rick Estrin und Johnny Sansone, mit ihren Bluesharps, auf die Bühne holten. Es folgten die Michael van Merwyk, Larry Garner, Rick Estrin. Chicago Blues Allstars um den wieder auffallend spielfreudigen Bob Margolin mit Bob Stroger und Kenny „Beedy Eyes“ Smith. Stimmgewaltig verstärkt wurde die Band mit dem typisch hart, druckvoll treibendem Sound der namensgebenden US-Metropole von der mit Howlin‘ Wolf verwandten Zora Young. © wasser-prawda 29 Musik Larry Garner Bob Margolin & Zora Young Bob Margolin & Bob Stroger rechte Seite: Byther Smith Johnny Rawls 30 © wasser-prawda Musik Auch hiernach blieb es eher traditionell an diesem Donnerstag mit etwas sanfterem Soul-Blues von Johnny & Destini Rawls (Vater und Tochter) und ihrer Mississippi Soul Blues Band. Schließlich betrat der über 80 jährige Byther Smith mit seinen Mannen die Hauptbühne und ließ den Abend mit lautstarkem Großstadtblues zur Neige gehen. Ob man der Chicago Blues Legende Smith dabei wirklich einen Gefallen getan hat, bleibt fraglich, denn er machte doch eher den Eindruck „over the top“ zu sein, was man allerdings von seiner hervorragend aufspielenden Band keineswegs sagen konnte. © wasser-prawda 31 Musik Mit dem Freitag folgte der eigentliche Höhepunkt des gesamten Festivals. Eröffnet wurde der Abend mit einem fulminant aufspielenden Memphis Blues Award Gewinner 2013 - Rick Estrin (Mundharmonica und Gesang) & The Nightcats. Sie brillierten mit fettem urbanen Blues, der frühe Elemente des Rock‘n Roll, Soul,Swing und Jump in sich trug, sowie einer tollen Bühnenshow. Hier wurde nicht nur die Gitarre, vom nordischen Virtuosen Kid Anderson – der es für meinen Geschmack gelegentlich trotz großen Könnens etwas zu toll trieb - hinter dem Kopf gespielt, sondern auch Bassist Lorenzo Farrell ließ sich nicht lumpen und wuchtete den Kontrabass spielend auf Schulterhöhe. Was danach kam, da waren sich fast alle einig, das Hightlight des Luzerner Festivals 2013- The Blues Broads. Vier der besten Sängerinnen des Blues, Gospel, Soul und Country betraten mit ihrer Band die Bühne. Die im gereiften Alter zwischen 68 und 72 überaus stimmgewaltig und mit großer Spielfreude agierenden Ladies spielen in dieser Formation erst wenig mehr als ein Jahr zusammen, gelten aber jede für sich in den Staaten als Kid Anderson (g) Rick Estrin (mharm) 32 © wasser-prawda Musik Legende. Es sind die Texanerin Angela Strehli, Tracy Nelson aus Nashville, Annie Sampson sowie Dorothy Morrison. Letztere feierte mit „Oh Happy Day“ in den sechziger Jahren gemeinsam mit den Edwin Hawkins Singers einen riesen Gospelhit, den heute noch jeder kennt. Natürlich fehlte eine mitreißende Version dieses Songs neben Titeln wie „River Deep Mountain High“, Respect Yourself“,“Living The Blues“ oder „Two-Bit Texas“, Blue Highway“ sowie „Addicted To Love- Meet Me in The Bottom“ und „Something Is Wrong“, auch an diesem Abend nicht. Außergewöhnliche Stimmen, eine vielseitig, tolle Band, Spielfreude pur - ein Auftritt der Superlative! Danach hatte es sogar ein gestandener Showman und Entertainer wie © wasser-prawda Blues Broads: Dorothy Morrison, Annie Sampson, Angela Strehli, Tracy Nelson rechts: James Harman 33 Musik Bobby Rush mit der durch zwei dralle GoGo‘s verstärkten Band und seiner Funk-Soul-Show nicht ganz leicht. Wer ihn nicht zum ersten Mal sah, der wusste, dass der mit dem Charme eines Lebemannes spielende Rush für seine schlüpfrigen Shows bekannt ist. Er zeigte uns, meist etwas steifen Europäern, ansatzweise wie der Blues damals in den berühmt, berüchtigten Juke Joints eigentlich als Tanzmusik aufkam, nämlich verbal als auch von der Körpersprache her, wurde ziemlich (für unsere Verhältnisse ungwohnt) anzüglich gesungen und getanzt. Beschlossen wurde dieser außergewöhnliche zweite Festival-Tag mit feinem straight, gitarrenlastigem Blues Rock von Smokin‘ Joe Kubek & Bnois King. Für die, die noch nicht genug hatten, spielten bis in die Morgenstunden im Casineum die junge Schweizer Band Biscuit Jack und später noch der Chicago-Veteran Byther Smith ihren Blues. Jazii Anderson - Louis Rodriguez - Bobby Rush Loretta Harris links: Jazii Anderson & Louis Rodriguez 34 © wasser-prawda Musik Nun folgte leider auch schon der letzte Tag, die Sonderkonzerte und ausverkauften Blues Brunches einmal außen vor gelassen. Den Anfang machte die energiegeladene Westcoast-Gitarristin und Sängerin Pat Wilder And Serious Business mit erwartungsgemäß gitarrenlastigem FunkBlues, der mit Rock- oder Jazzelementen bis hin zu einem kleinen Soul-Medley a‘la James Brown recht kraftvoll aufgepeppt wurde. Bnois King Smokin‘ Joe Kubek Pat Wilder © wasser-prawda 35 Musik Dann war der viel gepriesene Meister an den Tasten - Ron Levy im Uhrzeigersinn: Ron Levy James Harman Veronica & the Red Wine Serenaders mit seinem Wild Kingdom Trio an der Reihe. Geprägt von seinen Jahren an der Seite von B.B.King, Albert King oder den Roomful Of Blues brillierte Levy‘s Trio mit feinstem instrumentalen jazzigem Blues mit eingestreuten Fusion-Anflügen. Ein außergewöhnliches, musikalisches Highlight und zudem ein zweites erstaunliches Wagnis, neben dem Auftritt von Bobby Rush, das man dem Festivalmachern nicht hoch genug anrechnen kann und welches dem eigentlich traditionell verhafteten Blues-Event eine hoffentlich weiterführende interessante Facette hinzufügt. Der hierauf folgende James Harman startete a Capella nur mit seiner Harp und einem „Jail-Song“ ehe seine Bamboo Porch Revue musikalisch gut ergänzt durch den Gitarristen Nathan James & The Rhythm Scratchers sowie „Bonedaddy Tempo“ dann wieder richtig Fahrt aufnahm und mit einer ansehnlichen Mischung aus Blues und bluesiger Weltmusik die Stimmung am Kochen hielt. Und schließlich war da noch das Multitalent aus den Südstaaten - 36 © wasser-prawda Musik Johnny Sansone, der das Festival offiziell beschloss. In nicht ungewohnter Weise ließ er seinen Auftritt von rockig bis bluesig schließlich in einer längeren New Orleans-lastigen Zydeco-Show enden. Im Casineum bekamen zu später Stunde die aus Italien stammenden Gewinner des 3. European Blues Contestes 2013 Veronica & The Red Wine Serenaders die Möglichkeit, ihren herzerfrischend dargebotenen, frühen Blues, Jazz und Country der zwanziger und dreißiger Jahre unter das zahlreich erschienenen nachtschwärmerischen Bluesliebhaber zu bringen. Smokin‘ Joe Kubek & Bnois King oblag es dann, das gelungene Festival handfest und straight zu frühmorgentlicher Stunde ausklingen zu lassen. Wir dürfen also auf zwanzig Jahre Luzerner Blues Festival 2014 sehr gespannt sein. © wasser-prawda Johnny Sansone 37 Musik Heute abend: Eine Soul-Roots-Band Am 12. Dezember 2013 gastierte die Kai Strauß Band im Bremer Meisenfrei. Wer nicht dabei war, hat ein fantastisches Konzert versäumt, meint Torsten Rolfs (Red Fox Bluesband) in seiner ersten Kritik überhaupt. Es ging los mit einer schönen Soulnummer. „The Harder You Love“ kam daher mit sattem Orgelsound, unterlegt mit harmonischem Backgroundgesang und der von einem markant-warmen Timbre geprägten Stimme von Jeffrey Amankwa. Was für ein Start für einen wunderbaren Konzertabend im „Meisenfrei“! Nahtlos ging es weiter mit einer weiteren Nummer von der CD „This Time“. Alex Lex´ uhrwerksartiges feelgood-Drumming und Sascha Oing am Bass hielten das Stück „A good Day“ mit seinem Reggae-Groove zusammen und bauten den Gegensatz zum Text „this is a good day for leaving you“ kontrastreich auf. Von der ersten Minute an wurde klar, hier spielt eine trotz Umbesetzung an Bass und Tasten eingespielte und mit Spielfreude agierende Gruppe. Auch das dritte Stück „I Wish I´d Known“, eine ruhige „Kuschelnummer“, stellte die Gesangs-Qualitäten von Jeffrey besonders unter Beweis und auch die 2. Stimme von Jan Karow verlieh dem Stück seinen smoothy-Charakter. 38 © wasser-prawda Musik Nach dieser Präsentation von Stücken des aktuellen Albums folgte ein knackiger Soulklassiker von Billy Preston, der Jeffreys Shouting-Vocals mit einem unisono von Gitarre und Orgel gespielten Thema kontrastierte. Während anfangs Kais Gitarre ein organischer Teil der Stücke war, nicht die Soli im Vordergrund standen, konnte man ab diesem Stück einen Eindruck von seinen Künsten an den Saiten erleben. Dies setzte sich im nächsten Titel fort, der diesmal von Jan Karow gesungen wurde, und tierisch in die Beine und Hüften ging. Und dann war Kai in seinem Solisten-Element, so wie ihn puristische Bluespolizisten nur erleben wollen. Ein laidback-slowBlues, der vom brillanten Gitarrensolo dieses Ausnahmemusikers geprägt war, aber der Stimme von Jeffrey Amankwa genügend Raum gab die „blues-and-trouble-seem-to-be-my-best-friend“Stimmung des Textes zu transportieren. In einem spannungsreichen Bogen von Gitarrensolo über Gesang hin zu einem exzessiven Orgelsolo baute sich das Stück auf und verdeutlichte die Bandbreite dieser Gruppe! Mit treibenden Rhythmen und Feedback-Orgien der Gitarre ließen die Musiker dann keinen Zweifel dran aufkommen, auch eine Roots-Rock-Band zu sein. Den Schluss des ersten Sets, Brüche in Tempo und Spannung erzeugend, bildete Kai mit akustischer Gitarre und versprühte Feuerzeug- und Wunderkerzenathmosphäre während Jeffrey Amankwa an der Mundharmonika an Dylan erinnerte. Zusammen mit dem Satzgesang war das wunderschöne Stück vollkommen. Auch das zweite Set am Abend ging mit einem Stück vom aktuellen Album der Band los. Zu hören gab es den Titelsong „This Time“. Doch auch danach gab es genügend bluesig angehauchte Lieder mit Rhythmusausbrüchen und spannenden Chorussen zu erleben. Auch Jan Karow sang wieder und gab Jeffrey die Chance, sich auch als Backgroundsänger zu zeigen und dabei seinen sexy Hüftschwung vorzuführen. Nach 20 Minuten im 2. Set der „Prokrastination Blues“: Kai an der akustischen Gitarre und Jeffrey Amankwa mit dem Mikrophon sitzen beide auf Barhockern. Es gab Country-Blues vom feinsten. Dieser junge Mann sang den Text von Kai Strauß mit einer solchen Überzeugung ohne aufgesetzt zu wirken! Hier wurde deutlich, warum Kai Strauss auch gerne mit Big Daddy Wilson im Duo und anderen Besetzungen auftritt. Das folgende Feuerwerk von drei Stücken (u.a „One Woman Man“) folgte ohne Pause. Die Lieder gingen nahtlos ineinander © wasser-prawda 39 Musik über und ließen dem Publikum kaum Zeit für den verdienten Applaus. „Damn If I do Damn If I Don‘t“ stammt auch von der aktuellen Scheibe und stellte den Höhe- und Abschlusspunkt des 2. Sets dar . Und noch Tage später klang mir der Ohrwurm im Kopf. Als Zugabe gab es dann noch ein Marvin Gaye Klassiker. „What‘s goin on“ war der Beweis, das hier eine Soul-Roots-Band spielte. Ein grandioser Konzertabend ging damit zu Ende. Leider glänzte das Bremer Publikum eher mit Abwesenheit – sehr SCHADE, denn diese Ausnahmemusiker mit ihrem tollen musikalisch abwechslungsreichen Programm weg von der üblichen Blues- und Soulmasche hätten es verdient gehabt, an diesem Abend gefeiert zu werden. 40 © wasser-prawda Musik 23. Annaberger Bluesnacht 2013 Mitte Oktober rief der Verein zur Förderung von Live-Musik e.V. um Matthias Lüpfert aus Annaberg-Buchholz zur 23. Annaberger Bluesnacht in die Turnhalle Geyersdorf. Wie schon in den Jahren zuvor war die Hütte rappelvoll. Kein Wunder, denn das Line up der Erzgebirgler lässt selten etwas zu wünschen übrig. So auch in diesem Jahr. Text und Fotos: Karsten Spehr. Den Anfang machten drei der besten italienischen Bluesmusiker, Maurizio Pugno aus Gubbio (Gitarre), Alberto Marsico aus Turin (Orgel) und Gio Rossi aus Varese (Drums) als das Maurizio Pugno Organ Trio als ideale Begleitband für Mz. Dee aus Oakland/Californien. Die nicht nur stimmgewaltige Dejuana Rochon Logwood alias Mz. Dee startete ihre musikalische Karriere mit Gospelmusik und entdeckte später ihre Liebe zu Blues, Funk, R&B und Jazz und sie lebt immer noch auf ihrem Hausboot am Fluss Alameda. In Annaberg überzeugte die Lady mit der virtuos agierenden Band um Gitarristen Maurizio Pugno eher mit groovenden und jumpenden Bluesnummern, die immer wieder durch © wasser-prawda oben: Mz Dee unten: Marizio Pugno Trio feat. Mz Dee 41 Musik John Kirbride Ferdl Eichner (o.rechts) rechte Seite: Thorben Risager & Peter Skjerning Peter Skjerning Martin Seidelin Emil Balsgaard Thorben Risager Ausflüge in den Soul oder R&B bereichert wurden. Sie spielten viel eigenes Material, wie „Dirty Dancing“, „So Called Love“ oder „Hit Rock Bottom“ aber brillierten auch mit Stücken wie dem Junior Parker-Song „Drowin‘ On Dry Land“ und so wunderbaren Balladen wie „I love you More Than You Ever Know“ von Al Kooper, den aber auch schon Donny Hathaway oder Amy Whinhouse gut zu interpretieren wussten. Ein feiner Auftritt, der mit der sparsamen Bandvariante hier fast mehr überzeugte als auf der etwas überinstrumentierten aktuellen CD. 42 © wasser-prawda Musik Nun folgte das Akustik-Duo John Kirkbride (der in Dresden lebende Schotte trat schon 1991 zur 1. Bluesnacht auf) und Ferdl Eichner (Mundharmonika). Etwas gewagt war diese Reihenfolge, aber so etwas funktioniert in der Erzgebirgs-Hochburg immer sehr gut. Der hypnotisch zelebrierte Delta-Blues der beiden wurde durch musikalische Ausflüge zum Boogie über Muddy Waters oder auch Jimi Hendrix bis hin zu spanisch anmutenden Klängen bereichert. Der als Urgestein im europäischen Blues geltende Schotte und der sehr unabhängig von antiquierten Mustern, übrigens auf einer selten zu sehenden „Lee Oskar“ aufspielende Bayer Ferdl Eichner, wussten die Stimmung in der kochenden Turnhalle zu halten. Aufgelockert wurden die wunderbaren Versionen von „Hey Joe“, „Gipsy Home“, „Mojo Boogie“ oder „Freedom Blues“ und dem abschließenden „Dust My Broom“ immer wieder von den lustigen Anekdoten des schottischen Storytellers. Danach kam der heiß gehandelte Dänen-Export Thorbörn Risager mit seiner Band auf die Bühne. Die musikalischen Vorgänger in Ehren, aber wer diese siebenköpfige Band schon einmal erlebt hatte, der ahnte was jetzt in der vollen Geyersdorfer Turnhalle zu erwarten war: Risager & Band kann man ohne Frage als eine Klasse für sich bezeichnen. Nach wenigen Minuten und dem satten „I‘ll Be Movin‘ On“ hatten der mit der druckvoll schwarzen Stimme agierende Däne und seine Mannen die Halle im Griff . Und es rockte! Es folgten, mit Ausnahme der faszinierenden Interpretation des Big Joe Williams-Klassikers „Baby Please Don‘t Go“, nur eigene Stücke wie „ Mr.Bad“, „Paradise“, „Hold On“ oder das rockige „Rock‘n Roll Ride“. Man kam kaum zum Luft holen, heiß und schwitzig wie es war. Jeder und alles zappelte und tanzte in Geyersdorf. Thorbjörn Risager (Sänger und Gitarrist) sowie Gitarrist Peter Skjerning, die Bläser Peter Kehl (tp) und Hans Nybo Jørgensen (sax), Bassist Søren Bøjgaard, Drummer Martin Seidelin und Keyborder Emil Balsgaard hatten es mit ihrer ungemeinen Spielfreude und ihrer mitreißenden Mischung aus Blues,Rock, R&B, Jazz und Soul wieder einmal geschaff t, ihr Auditorium zum Kochen zu bringen. Mit den Stücken „Let The Good Times Roll“ und „X:Opener“ beschlossen sie druckvoll eine wieder überaus gelungene Bluesnacht. © wasser-prawda 43 Musik Informationen Arndt Worbis & Wolfgang Hillmann. Grend Blues Session Aus eins mach drei: Grend Blues Session expandiert Grend Kulturzentrum - Westfalenstr. 311 - 45276 Essen immer am 2. Samstag im Monat. Sommerpause Juli und August http://www.netzteil.com/session/termine.html Blues To DU Steinbruch Duisburg, Lotharstraße 318-320, 47057 Duisburg immer am 4.Freitag im Monat http://www.cafe-steinbruch. com/index.php?id=475 KuBa Blues Session Kulturbahnhof Niederrhein, Güterstraße 6, 46499 Hamminkeln immer am 2. Freitag im Monat https://www.facebook.com/ pa ges/Kuba-NiederrheinK u lt u r b a h n hof-Nie de r rhein/226917904053968 44 Immer am zweiten Samstag im Monat treffen sich im „Grend“ in Essen mehr als 100 Bluesmusiker und Fans zur Session. Doch das Konzept hier ist ein wenig anders als andernorts: Zunächst spielt eine Openerband. Und wer mitspielen will und den Organisatoren noch unbekannt ist, muss vorspielen. Das Konzept geht auf: Seit fast zehn Jahren gibt es die Grend Blues Sessions schon. Und demnächst wird man auch an anderen Orten in Nordrhein-Westfalen nach dem Prinzip zur Session laden. Udo Marx im Gespräch mit Raimund Nitzsche. 1. Von einer Session hin zu zukünftig dreien in NRW: Boomen Blues Sessions in der Gegend allgemein? Oder ist gar der Anfang eines Bluesrevivals in der Region zu beobachten? Es gibt ja nicht nur eine Session in NRW, die Kollegen in Münster und Bielefeld machen ebenfalls einen sehr guten Job. Das Konzept der Grend Blues Session mit gebuchter Opener-Band und moderierter Session hat sich gut bewährt: Nächstes Jahr feiern wir das 10-jährige Bestehen. © wasser-prawda Musik Im Uhrzeigersinn: 12 Bars Down, Ben Bouman, Eva Kurowski, Poster Ausstellung Willy Backhaus. Mit den Sessions im Steinbruch Duisburg und KuBa Hamminkeln versuchen wir, dieses Konzept weiter auszubauen. Sicher hat die Grend Blues Session durch konstant gute musikalische Qualität dazu beigetragen, Blues in der Region besser zu etablieren. 2. Wie ist überhaupt die Situation für Bluesmusiker in NRW? Gibt es für sie genügend Auftrittsmöglichkeiten - oder sterben die Locations für diese Musik langsam aus? Publikum für guten Blues und verwandte Musikrichtungen wird es immer geben. Ich beobachte einen leichten Trend zurück zu “handgemachter” Live-Musik. Die Auftrittsmöglichkeiten hängen davon ab, zu welchen Konditionen man bereit ist, zu spielen. Amateurbands mit dem Etikett ‚Ja, wir machen auch Blues‘, die nur für das Catering spielen, verderben den Markt – nicht nur den Profis. Und oft entsprechen diese Bands nicht den Erwartungen. Darunter leidet dann wiederum das Ansehen des Blues im Allgemeinen. Die Veranstalter können sogenannte B-Bands aus USA für wenig mehr Gage als deutsche Top-Acts buchen, die ‚guten‘ deutschen Bands haben es daher schwer, ihre Gagen durchzusetzen. 3. Blues-Sessions können für reine Zuhörer ja ziemlich anstrengend sein, besonders wenn jeder Musiker auf der Bühne in jedem Song ein Solo haben will. Wie sorgt man als Veranstalter dafür, dass ein gewisses Niveau erreicht wird? Im Grend gibt es einen moderierten Ablauf, d.h. ich stelle die Session-Sets persönlich zusammen, Wünsche und Absprachen berücksichtige ich nach Möglichkeit, aber ich treffe die finale Auswahl. Als “alter Hase” in dem Genre kenne ich die allermeisten Musiker und habe eine klare Vorstellung davon, was uns erwartet. Wenn mir Musiker unbekannt sind, lasse ich sie im Backstage spielen, damit ich sie einschätzen kann. Das ist allgemein akzeptiert. Jeder-kann-mitmachen geht eben zu Lasten der Qualität und auf Dauer nicht gut. Mir geht es in erster Linie um die Musik. © wasser-prawda 45 Musik 4. Haben sich aus den Sessions in den letzten Jahren Bands gegründet, die man auch außerhalb der Region kennen sollte? Überregional leider noch nicht. Es dauert immer eine geraume Zeit, bis sich aus einer Session heraus eine Band so etablieren und durchsetzen kann, dass sie über den lokalen Raum hinaus bekannt wird, wir sprechen ja hier nicht von der Mainstream-Hitparade. Blue Shadows, Sebastian Diel, Mattes Fechner, Irmhild Knapp & Eva Kurowski, Hartmut Kracht, Mark Donkers & Harm van Essen, Hilly Tamas & Angyan 46 © wasser-prawda Musik © wasser-prawda 47 Platte Des Monats Richard Bargel & Dead Slow Stampede - It‘s Crap! Ein schwerer Hörsturz haƩe Richard Bargel gezwungen, das Projekt „Men In Blues“ mit „Major“ Heuser zu beenden. Doch die vom Arzt verordnete Ruhepau48 © wasser-prawda Platte Des Monats se hielt der Songwriter und Gitarrist nicht lange durch. Für sein Album „It‘s Crap!“ hat er mit Dead Slow Stampede eine neue Band gegründet. Als Gäste wirkten auch Charlie Musselwhite und Freddy Koella (Bob Dylan, Willy DeVille) mit. Herausgekommen ist ein atmosphärisch dichtes Album zwischen Blues und Country, biƩerem Humor und RomanƟk. Kann eine Stampede eigentlich tödlich langsam sein? Das neue Album von Bargel ist genau der richtige Beleg dafür, dass ein solch scheinbarer Widerspruch der genau passende Name sein kann. Scheinbar langsam und harmlos kommen die Lieder oft daher. Doch hinter der Fassade aus gepflegter meist akustischer Musik lauert oftmals eine nur hinter bitterem Sarkasmus versteckte Wut: Wut über den alltäglichen Müll, der einem überall angeboten wird, für den man Geld ausgeben soll. Wut auch über hirnlose Schönheiten, über schlechtes Benehmen. Bargel macht sich auch über sich selbst lustig, wenn er feststellt, dass er wahrscheinlich doch auf des Teufels Grill landen dürfte. Solch deftigen Songs, solch bösen Humor bekommt man heutzutage nur selten noch zu hören. Und so kann man auch die Kollegen verstehen, die Randy Newman als Vergleich heranziehen. Dann gibt es auf dem Album noch die andere, die tief romantische und verletzliche Seite des Richard Bargel zu hören. Ein Mann, der hoffnungslos romantisch ist und sich nach gelingender Liebe sehnt, der den Kreislauf von Rache und Gewalt durchbrechen will. Und auch wenn vor dem Kuss der Lady Of The Black Bamboo gewarnt wird: Irgendwie muss er selbst dieses Risiko auf sich nehmen. Die Musik dazu? Klar ist hier Blues zu vernehmen, doch keiner der sturen 12 Takte. Nein, Bargels Songs verdanken dem Blues ebensoviel wie dem Country und Folk. Und die Band (Gitarrist Roger Schaffrath, Paul G. Ulrich - b, Geert Roelofs - dr) tut gerade soviel, um die jeweils notwendige Atmosphäre zu unterstützen. Die bluesigsten Stücke sind der Titelsong und „Devil‘s BarB-Que“. Hier setzt die prägnante Harp von Charlie Musselwhite die entscheidenden Akzente. Faszinierend bei Liedern wie „Slow Dancing Woman“ auch die Violine von Freddy Koella. Manche Lieder spielt Bargel auch allein mit seiner Dobro - denn mehr braucht es eben oft doch nicht, um die Botschaft zu vermitteln. Bargel ist ein Bluesprediger im besten Wortsinne, ein Musiker, dem die Welt nicht egal ist und der sich die Wut aus Rücksicht auf Verkaufszahlen und Zielgruppen nicht verbieten lässt, der aber tief im Inneren weder zynisch noch resigniert ist sondern an eine Verbesserung der Welt und des eigenen Lebens glaubt. (Meyer Records) Raimund Nitzsche © wasser-prawda 49 Platten 2 Hurt - Mexico City Blues Die Inspiration liefert Jack Kerouac mit seinen Gedichten. Die italienische Band 2 Hurt begibt sich auf ihrem aktuellen Album „Mexico City Blues“ auf eine vorwiegend psychedelisch-instrumentale Reise nach Mexico. Klar: das im sächsischen Erzgebirge ansässige Label Cactus Rock Records hat mittlerweile schon die verschiedensten Musikstile zwischen Rock, Americana, Blues und Pop veröffentlicht. Doch die eigentliche Leidenschaft der Macher liegt im Wüstenrock etwa aus Arizona. Und genau dort könnte man bei flüchtigem Hören auch die Heimat von 2 Hurt vermuten. Schneidende Gitarrenlinien erwecken trostlose Landschaften unter brennender Sonne vor Augen. Stücke wie „Can‘t Live Without Your Love“ sind dabei von einer schleppenden Trägheit, die die Schwüle der Wüste erahnen lässt. Und wenn dann noch eine Bluesharp klagend ihre Stimme erhebt, ist die Vorstellung des Westens aus dem Blick des Italowesterns komplett. Doch ganz so einfach machen es sich die Musiker von 2 Hurt nicht. Und so einfach ist auch die literarische Vorlage nicht. Schließlich geht es nicht um eine Reportage oder eine Fortsetzung etwa von „On The Road“ sondern um Gedichte, die um verschiedenste Themen aus dem Umfeld des Beat Poeten kreisen. Und so klingen bei Stücken wie „Untravelled“ die Gitarren nach Mandolinen und Mondschein, während die Keyboards an Kirchenklänge gemahnen. Die Reise scheint urplötzlich einen Umweg nach Italien genommen zu haben. Und bei „El Peyote“ oder „Ride The Blues“ kommen dann auch noch Blues und Bluesrock vor. Bei letzterem allerdings in einer Form, die nach anfangs nach einer wüsten Session einer Garagenband nach zuviel Konsum von Crazy-Horse-LPs klingt, bevor dann ein schwermütiges Duett von Gitarren langsam seine Spannung aufbaut und später sogar noch eine elektrisch verstärkte Violine ihre Kommentare einflicht. Die Reise in die mexikanische Hauptstadt entwickelt so eine psychedelische Sogwirkung, dass man trotz des Fehlens von Lyrics immer gefesselt bleibt: Das ist Instrumentalrock, wie er heutzutage sehr selten geworden ist. Und wenn jetzt jemand meint: Soundtrack für noch nicht vorhandene Filme, dann sollte der nicht nur den Band von Kerouac lesen sondern sich gleich auch auf die Suche nach Geldgebern machen. Das könnte ein faszinierender Stummfilm werden! Oder wie soll man eine Gedichtsammlung sonst am besten in Bilder setzen? (Cactus Rock Records) Raimund Nitzsche Alex McKown - Go With The Flow Noch keine zwanzig Jahre ist er alt - der Brite Alex McKown ist das nächste in der langen Reihe von Wunderkindern an der Bluesrockgitarre, die seit den ersten Artikeln über Johnny Winter in der Presse gefeiert werden. „Go With The Flow“ ist auch ohne Heldenbonus ein aufmerksames Hinhören wert. Es ist dieser träge Funkgroove, der mich erstmals aus der Reserve lockte: „Ruin What We‘re Doin“ hat eindeutig das gewisse Extra. Auch wenn (und das ist auch auf dem Rest des Albums zu hören) Alex McKown als Sänger etwas überfordert ist. Seine Stimme klingt ein wenig wie die von Jonny Lang zu Zeiten seines Plattendebüts. Aber als Gitarrist ist er zwischen funkigem Bluesrock, treibendem Boogie und deftigen Riffs jemand, der sein Hand- 50 © wasser-prawda Platten werk ziemlich gründlich gelernt hat. Und vor allem ist er jemand, der nicht auf den Zug aufspringt, sich als Rockstar der Welt zu präsentieren und zu versuchen Joe Bonamassa vom Thron zu stoßen. Nein, auf „Go With The Flow“ ist der Blues eindeutig das bestimmende Element und nicht nur die modische Zutat. Man höre sich nur mal den Titelsong oder auch „Life On The Line“ an - mehr als ordentlich! Angenehm für mich auch der gesamte Sound der Band, in dem die Keyboards ebenso ihren Raum bekommen wie eventuell notwendige Saxophone. Damit kommt Langeweile oder Eintönigkeit schon mal gar nicht auf. Und wenn sich Gitarre und Sax mit ihren Solos ablösen, dann wird klar, dass hier eine echt gute Band entstehen könnte. Nur einen echten Sänger würde man noch brauchen. Oder aber man spendiert McKown einen guten Gesangslehrer, damit er nicht immer so gequetscht und überfordert herüberkommt. Nathan Nörgel Andy Houscheid - Von hier aus weiter Verträumte Lieder zwischen Pop und Jazz, voll melancholischem Weltschmerz fern von Schlagerseligkeit: Für Freunde deutschsprachiger Musik ist Songwriter Andy Houscheid ein aufmerksames Hinhören wert. Die Welt von Songwriter Andy Hoscheid ist nicht so klein, wie es erst den Anschein hat und er auch in einem Lied explizit behauptet. Beim ersten Hören sind das Songs für Freunde der gepflegten Einsamkeit, die in der Stille den eigenen Gedanken nachhängen wollen. Da ist der Wunsch, nach einem Ausbruch hinaus in ein ungezügeltes Leben („Schweben“), die Träume, denen man endlich eine Chance einräumen will. Doch zwischen romantischer Träumerei und vorsichtigem Aufbegehren fehlt meist der Mut, die Barrieren einzureißen und wirklich loszuziehen. Wenn mir jemand solche Geschichten in deutscher Sprache erzählt, dann muss er sich den ganz großen Vergleichen stellen: Rio Reiser, Stoppok, Keimzeit oder Element of Crime sind meine Säulenheiligen. Oder auch die Texte, die in den 80ern Jörg Fauser für Achim Reichel schrieb. Andy Houscheid verweigert sich in der Art seiner Lieder den meisten dieser Maßstäbe. Höchstens Stoppok könnte manchmal von ferne grüßen. Aber öfter erinnert mich dieses Album eher an späte Alben von Pankow oder das Solowerk von André Herzberg: Und das ist ja auch nicht die schlechteste Referenz. Wenn auch für mich an manchen Stellen die Songs einfach nicht zwingend oder packend genug sind. Aber neugierig macht mich das Album auf die sonstige Karriere dieses Songwriters, den ich bislang überhaupt noch nicht kannte. Lieder wie „Fahrtwind“ und „Nichts zu verlieren“ sind einfach großartig. Fazit: mehr als ordentlich und für Freunde deutscher Lyrics auf jeden Fall eine Empfehlung wert. (timezone) Nathan Nörgel Andy T / Nick Nixon Band - Drink Drank Drunk Die Texas Legende Anson Funderburgh hat mit „Drink Drank Drunk“ ein bemerkenswertes Debutalbum der Andy T / Nick Nixon Band produziert. Die äußerst sympathischen Musiker prä- © wasser-prawda 51 Platten sentieren - teils unterstützt von Anson Funderburgh - sämtliche Stilrichtungen des Blues – Langeweile kommt hier nicht auf. Als Opener kommt Clarence „Gatemouth“ Browns Klassiker „Midnight Hour“ zur Geltung. T-Bone Walker steuert „Life s too short“ bei, aus eigener Feder stammt unter anderem Andy T(alamantez) Song „Have you seen my Monkey?“. Mit „Dos Danos“ ist auch ein sehr schönes Instrumentalstück vertreten. Neben den beiden Namensgebern Andy T. (guitar) und Nick Nixon (vocals) spielt John Garza den Bass, Christian Dozzler das Piano und Danny Cochran die Drums. Anson Funderburgh spielt bei einigen Stücken an der Gitarre mit. Die weiteren Musiker will ich nicht vernachlässigen, aber die Auflistung wäre wohl etwas langwierig. Andy T hat sich seine Sporen in der Guitar Shorty Band verdient – er spielt mit großartigem Einfühlungsvermögen eine schnörkellose saubere Gitarre und beherrscht jegliche Stilrichtung des Blues perfekt. Er ist einer der herausragenden Gitarristen aus Nashville und Vice President der Nashville Blues Society. James „Nick“ Nixon ist ebenfalls Urgestein aus Nashville und besticht durch klare Phrasierungen, eine äußerst angenehme Stimmlage und mitreißenden Gesang. Das Album heißt nach einem seiner Songs „Drink Drank Drunk“, bietet aber keinerlei Anlaß dem nachzukommen, um es schön zu trinken oder ihm zu entkommen. Im Gegenteil, ich genieße es bei jedem Anhören und bin sicher, daß mehr von Andy T. und Nick Nixon zu hören sein wird. (Delta Groove, DGPCD158) Bernd Kreikmann Axel Kowollik - Out On The Perimeter Schon seit Ende der 60er Jahre ist Axel Kowollik in der deutschen und internationalen Musikszene unterwegs. Jahrelang gehörte er etwa zu den Bands von Wolfgang Petry und Chris Norman und wirkte an Projekten des Münchner Gitarristen/Produzenten John H. Schiessler mit. Seine Band The Public zählte lange zu den beliebtesten Coverbands in Europa. „Out On The Perimeter“ ist jetzt das Solodebüt Kowolliks als Songwriter. Manchmal sind es einzelne Textzeilen, die sich als erstes in der Erinnerung festsetzen und die einem dann die ganze Zeit durch den Kopf gehen, wenn man ein Album rezensiert. Hier ist es die Bemerkung „the lord of the flies has a beautiful smile“ aus „Don‘t Look Now“, was bei mir sofort die Assoziationskette auslöste zum legendären Roman „Der Herr der Fliegen“ und seiner Verfilmung Die schöne akustische Songwritermusik bekam ganz plötzlich einen bedrohlichen Unterton. Und endlich kapierte ich, wieso Axel Kowollik in seinem Pressetext immer vom Blick des Außenstehenden auf die Welt spricht, vom Leben auf und jenseits der Grenzen. Hinter der schönen aber nicht sofort überraschenden Fassade dieses Songwriteralbums lauert eine Dimension, die man sich erst nach und nach erschließen kann. Und das macht „Out On The Perimeter“ zu einer Empfehlung für alle Freunde des intelligenten Liedguts. Nathan Nörgel Blackout Country - Old Empty Dreams Oft düstere Rock- und Popmusik triff t auf Lyrik des 19. Jahrhunderts: Auch auf ihrem neuen Album hat das Duo Blackout 52 © wasser-prawda Platten Country wieder Texte von Dichtern wie Emily Dickinson und Edgar Allen Poe vertont. Auch wenn ich es damals nie öffentlich zugegeben hätte: Als Kind habe ich es geliebt, Gedichte auswendig zu lernen und vorzutragen. Wenn etwa Balladen wie die von „John Maynard“ dann - anders als beim stillen Lesen ihren unterbittlichen Rhythmus offenbarten, dann konnte ich mich der Geschichte ganz hingeben - was die Lehrer oder Mitschüler von meinem Vortrag hielten, was mir dabei völlig egal. Gedichte, die zu leben anfingen - eine großartige Erfahrung, die einem dann doch spätestens zur Abiturzeit so unwichtig wurde, dass sie erst mühsam wieder aus der Erinnerung hervorgeholt werden muss. Gedichte überhaupt wurden immer weniger wichtig. Nur wenn sie in Verbindung mit Musik auftauchten - nicht als klassisches Kunstlied der vergangenen Jahrhunderte sondern im Rock etwa bei Achim Reichel, dann wurden sie wieder interessant. „Old Empty Dream“ ist mit seiner Konzentration auf englische Dichter natürlich dazu kein Vergleich. Hier steht man nicht vor der Aufgabe, den deutschen Sprachrhythmus für Rock und Pop passend hinzubekommen. Die Texte von Poe und den anderen Dichtern werden in mal mehr mal weniger rockende Klangewänder gekleidet und werden so unwillkürlich zu Pop. Die Düsternis und Romantik der Gedichte passt zu den musikalischen Vorlieben dieses sich eher in düsteren Regionen wohlfühlenden Duos. Alt sind die Texte, doch sind diese Träume wirklich leer? Die Hoffnung ist nicht gestorben, sie brennt noch immer im Untergrund. Die Hoffnung, dass die Dunkelheit irgendwann mal wieder vergehen wird, dass das nächste Jahr Veränderungen bringen kann. „Hope“ nach Dickinson ist einer der Höhepunkte dieses Albums. Auch Poe‘s „Annabel Lee“ bekommt der treibende Groove eines Gothic Shaties hervorragend. Und selbst E. Bronté hat mit „Dark Falls The Fear“ unbewusst einen Text geliefert, dem man nach musikalischer Bearbeitung sein Alter nicht mehr anmerken kann: Zwar ist dieser Indie-Pop sicherlich nicht jedermanns Fall. Doch das triff t schließlich auf jede Musik zu. Vor allem auf die, die sich traut, abseits der Hörgewohnheiten des Publikums ungewohnte Pfade zu beschreiten. Und genau dafür mag ich Blackout Country. Und natürlich dafür, dass sie mich dazu bringen, wieder mal nach den alten und längst im Regal verstaubten Gedichtbänden zu greifen. Nathan Nörgel Bruce Springsteen - High Hopes Auf der einen Seite jubelt die Kritik über „High Hopes“ - und auf der anderen Seite werden Forderungen laut, Springsteen solle sich doch langsam zur Ruhe setzen mit seinem ewigen Muckertum und den Geschichten aus einem amerikanischen Alltag, der so nur noch in der Vorstellung des Musikers existiere. Eigentlich wollte ich das Album ja in aller Ruhe anhören und mich nicht von vorherigen Kritiken beeinflussen lassen. Aber das funktioniert in Zeiten des Internet leider nicht mehr. Da bekommt man Artikel als „Mutter aller Verrisse“ empfohlen, die verzweifelt fragen: Wann nimmt das Genöle ein Ende. Und die allen Fans von Springsteen eine musikalische Geschmacklosigkeit und sozialpolitische Naivität unterstellt. © wasser-prawda 53 Platten Ok, meiner Meinung nach war der beste Verriss noch der zu „Electric Mud“ von Muddy Waters, der einfach nur meinte, damit wäre Waters gestorben und solle sich in Frieden in seinem Grab herumwälzen - drei Zeilen genügten. Aber was soll‘s - ich liebe gut gemachte Verrisse. Aber irgendwie sollten sie schon noch klar machen, um welches Werk es eigentlich geht. Herr Kühnemund hat sich in der „Zeit“ nur seinen Frust über Bruce Springsteen und sein eigenes Unverständnis über die Denkweise vieler Amerikaner von der Seele getippt. Schade. Denn zu kritisieren gäbe es einiges bei Springsteens aktueller Resteverwertung. Die oft uninspiriert eingesetzten elektronischen Verfremdungen etwa - solche Anbiederungen an einen vermuteten Zeitgeist gehen meist schrecklich daneben. Und auch die zugekleisterte Produktion, wo immer noch eine Spur mehr mit Chören, Keyboards oder anderem drüber gesetzt wird und man es schwer hat, den musikalischen Strukturen zu folgen. Nein: „High Hopes“ ist bei weitem nicht Springsteens bestes Album. Und auch kein gutes Werk. Aber dazu muss man es mit solchen Großtaten wie „Born To Run“ oder meinetwegen auch dem wütenden „Wrecking Ball“ vergleichen. Dann wird klar, warum er sich das hätte sparen sollen. Und ich mag es wirklich nicht, wenn mich Musiker mit Parolen auffordern, doch endlich die Hände zu erheben. Und Musiker mit Messiastouch habe ich noch nie gemocht. Leider scheint sich der Boss zu einem solchen zu entwickeln. Sind das die Nachwirkungen der „Seeger Sessions?“. Ansonsten gilt: „High Hopes“ ist mehr Resteverwertung als Album. Überraschende Akzente setzt die Gitarre von Tom Morello. Und wer hätte erwartet, vom Springsteen jemals eine Coverversion der australischen Urpunks The Saints zu hören: „Just Like Fire Would“ ist eines der Hightlights dieser Scheibe. Bluespfaffe Cat Lee King vs. Mighty Mike OMB - Grits ´n Gravy Das Blues-Duo mal ganz anders - und vor allem bösartig gut: Wenn Pianist/Sänger Cat Lee King und Drummer/Harpspieler/ Sänger Mighty Mike loslegen, dann wird aus klassischem R&B der 50er Jahre düsterer Voodoo-Boogie, bei dem keine Gefangenen gemacht werden. Pianoblues steht heutzutage oft in der Gefahr in akademischer Schönheit zu erstarren. Zum Glück gibt es Ausnahmen wie etwa The Claudettes. Oder eben den grad 20jährigen Cat Lee King. Bei denen hört man die noch junge Liebe zu wilden Rockern wie dem ganz jungen Jerry Lee Lewis, zu Ray Charles vor seiner Liebe zum Schmalz und zu Piano-Songwritern wie Ben Folds. Das ist wild, dreckig, düster und manchmal nicht nur ein wenig angsteinflößend. Besonders wenn sie King wie hier auf „Grits n Gravy“ mit Mighty Mike zusammentut: dessen düstere Harp, sein stoischbrutales Schlagzeug und überhaupt die Energie der Livesession, bei denen das Album auf Band gebracht wurde, sorgt zuweilen für stockenden Atem. Ok, King lässt sich nicht auf die akustische Tastatur festnageln. Wenn nötig, lässt er die Orgel heulen oder verlegt sich auf andere Keyboards. Aber das geht schon völlig in Ordnung. Und zum Glück sind auf dem Album nur acht Lieder, sonst könnte es auf der Tanzfläche Zusammenbrüche vor Erschöpfung geben. Eine faszinierende Debütscheibe! Nathan Nörgel 54 © wasser-prawda Platten Dan Sowerby - Milestone Zwischen übersprudelnder Freude und tiefer Traurigkeit: Der Brite Dan Sowerby kann seine Gitarren in der jeweiligen Stimmung singen lassen. Hier wird der Blues niemals neu erfunden. Doch wer Bluesgitarren zwischen jagendem Slide und elegisch wie bei Gary Moore liebt, sollte in „Milestone“ reinhören. „When I Play The Blues“ oder „Good Times“: Wenn Dan Sowerby bei guter Laune ist, dann wirkt seine Musik sofort ansteckend. Seine Lieder knallen rein und seine Gitarre kommt sofort auf den Punkt und lässt keine Fragen offen. Wenn er wie bei „Moan n Wail“ oder „Keep Moving“ traurig ist, dann ist das für mich nicht ebenso überzeugend. Aber das mag auch an meiner derzeitigen Stimmungslage liegen, wo ich tragische Sounds und elegische Soloexkursionen nicht gutieren kann. Da schleicht sich zuweilen ein verstohlenes Gähnen ein obwohl Sowerby eigentlich nur das macht, was man gemeinhin von Bluesgitarristen erwartet: Seine Stimmung in Solos zu übersetzen. Doch wo mir B.B. Kings Lucille ein Schluchzen in den Hals und Tränen in die Augen treiben kann, wo ich bei Buddy Guy meinen Schmerz rausschreien möchte - von dieser Intensität des Spiels ist der Brite noch etliche Jahre an Lebenserfahrung entfernt. Nein, „Milestone“ ist beileibe kein schlechtes Album. Nur fehlt ihm die emotionale Tiefe und Ehrlichkeit, die ein Bluesalbum auszeichnen sollte. Die kann man nicht durch technisch perfekte Instrumentenbeherrschung ersetzen. Die muss man im Laufe eines Lebens erleiden und immer neu in Lieder übersetzen. Nathan Nörgel David Blair - Stay In Touch Allein mit seiner Gitarre ist der kanadische Songwriter David Blair zur Zeit dabei, sich auch in Deutschland eine Fanbasis zu erobern. Musikalisch wesentlich praller geht es auf seinem Anfang 2013 erschienenen Album „Stay In Touch“ zu. Wo bin ich hier gelandet? Wenn David Blairs Album losgeht, dann packt einen dieser Pianogroove unvermittelt. Der Titelsong geht in die Beine und in die Gesichtsmuskeln: Popmusik von der ganz feinen Sorte ist das! Man kann die Lektionen der Beatles hören wie auch Anklänge an die 80er Jahre (ohne die nervigen elektronischen Spielereien der Zeit) oder an die wundervollen Songs von Ben Folds. Und man wünscht sich, das Album möge genau so weitergehen. Um es kurz zu machen: Es geht nicht immer so weiter. Lieder wie „Something Right“ oder „Did You Know“ sind Liebeslieder, bei denen mir das gewisse Etwas fehlt: Die Angebetete wird sie lieben, für mich sind sie zu alltäglich. „When I Think Of You“ hat dann wieder den Mut zur überwältigenden Popmelodie, „I Get It“ geht auch gut ins Ohr. Und „Penguins“ macht mit seinem Groove nicht nur Fans dieser Vögel und ihrer Liebesgewohnheiten Spaß. Dass die Kanadier die Stadion-Hymne „We Are Canucks“ lieben, ist auch sofort verständlich: Verdammt eingängige Nummer! Insgesamt: Durchwachsenes Album mit paar wirklich guten Popsongs. Und das ist mehr, als man über viele Veröffentlichungen sagen kann. Mittlerweile hat der Songwriter in Deutschland ein eigenes Label gefunden. Dort soll demnächst ein Zusammenschnitt seiner ersten Alben herauskommen. Raimund Nitzsche © wasser-prawda 55 Platten David Sinclair & Keith BenneƩ - Alchemy Blues, Gypsy-Swing, Jazz, Folk - was Gitarrist David Sinclair und Bluesharpspieler Keith Bennett gemeinsam spielen, mag aus verschiedenen Ecken stammen. Doch immer versprüht die Musik dieses Duos eine einzigartige Magie. Nachhören kann man das etwa auf dem 2011 erschienenen Doppelalbum „Alchemy“, bestehend aus Studioalbum und Konzert-DVD. Bei den Mundharmonika-Weltmeistersschaften belegte Keith Bennett zuletzt führende Plätze nicht nur auf der diatonischen sondern vor allem auch auf der chromatischen Harmonica. Ähnlich wie in den letzten Jahren David Naidich zündet er auf „Alchemy“ bei Liedern wie dem „Gypsy Blues“ oder „Jumping At The Yale“ swingende Sounds. Oder er liefert sich mit der Gitarre von David Sinclair heftige Duelle irgendwo in den Grenzbereichen zwischen Jazz, improvisierter Musik und Folk. Die Harp kann dann zwischen strahlendem Schönklang und heftig verzerrten Blueslinien ohne Brüche wechseln. Seine eigenen Songs - hier ist Bennet auch an der Gitarre zu erleben - sind Folksongs zwischen Bruce Cockburn und den jungen Simon & Garfunkel. Auf dem Studioalbum erzählen Bennett und Sinclair einerseits alltägliche Geschichten zwischen Folk und Blues. Und andererseits malen sie Sounds, die mal nach klassischem Blues, dann wieder nach Jazz oder Filmmusik klingen. Und niemals ist hier die Virtuosität Selbstzweck. Ein tolles Album von zwei großartigen Musikern. Raimund Nitzsche Downchild - Can You Hear The Music Downchild aus Kanada sind der lebende Beweis, dass Blues auch Musik für gute Laune und Party sein kann. „Can You Hear The Music“ ist eine weitere Ergänzung zu ihrem Katalog von Alben, mit denen man das Dach zum Abheben bringen kann. Und außerdem gibt es auch noch ein paar echte Highlights drauf. „I Need A Woman“ gibt der Horn-Section die Gelegenheit, gar prächtig rumzutollen und hat ein Gitarrensolo aus dem Himmel keine schreiende Explosion, sondern etwas, was die Schönheit des Songs einfach ergänzt. Das vorwärtstreibende „Fasten Your Seat Belts“ mit seinem leichtfüßigen Klavier, den Trompetenstößen und dem exzellenten Spiel auf der Harmonika ist einfach ein großartiges Lied. Ebenso auch „Worn In“ mit den Schlüsselzeilen „I‘m worn in, I ain‘t worn out“ und „There‘s some snow on my roof, but there‘s a fire deep inside“. Das verweist ohne Zweifel darauf, dass Downchild nun schon einige Zeit unterwegs sind und man sich durchaus auch als altgediente Band bezeichnen kann. Wie auch immer, das Feuer tief im Inneren glüht heiß - wie auch das Album von Anfang bis Ende. Chuck Jackson hat eine wirklich überwältigende Stimme, ein ausgebildetes Knurren. Und mit der Begleitung von solch einer gereiften und eingespielten Band ist eines der Alben des Jahres entstanden. Darren Weale Gregory Hoskins & Gary Craig - The Map of Above, The Map of Below Folkrock mit bluesigen Anklängen, alltägliche Geschichten ohne rosa Brillen, ein manchmal spartanischer Klang allein aus Gitarre und Schlagzeug, doch dann auch wieder volle Instrumentierun- 56 © wasser-prawda Platten gen und einen kompletten Backgroundchor - „The Map of Above, The Map of Below“ ist ein spannendes Sognwriteralbum, für das sich der kanadische Gitarrist Gregory Hoskins mit dem Schlagzeuger Gary Craig (u.a. Bruce Cockburn) zusammengetan hat. Als Gäste waren dann noch Colin Linden und Hawksley Workmann dabei. Man muss äußerst aufmerksam und konzentriert sein, wenn man sich auf die musikalische Reise dieses Albums begeben will. Denn der sofort ins Ohr gehende Opener „Providence Line“ könnte einen sonst leicht in falscher Sicherheit wiegen. Das hier sind keine leichten Wohlfühlstücke. Was Hoskins hier singt, sind teils bittere Lieder voll schonungsloser Blicke auf die Welt und das Leben. Musikalisch spielen sie sich irgendwo in dem weiten Feld zwischen Paul Simon, der Tagesschau und den trunkenen Träumereien am Tresen kurz vor Mitternacht ab. Wenn dann noch eine einsame Trompete zum spartanischen Arrangement hinzutritt („Mama‘s Boy“), dann ist die Schwermut fast unerträglich und der brüchige Sound schier überwältigend. Faszinierendes Album für Liebhaber. Nathan Nörgel H&G Factory – Puƫn’ 2gether Dass wir hier laufend auf interessante Neuentdeckungen abseits des Mainstream hinweisen ist ja nur ein Merkmal der Wasser Prawda. Das wir dabei auch immer stilistische Vielfalt präsentieren ein weiteres. Hier haben wir nun ein neuerliches Beispiel für gut gespielten zeitgemäßen Jazz aus der Slowakei: H&G Factory mit ihrem aktuellem Album „Puttin‘ 2gether“. H&G, das steht für die beiden Hauptverantwortlichen der Band, Tomas Gajlik am Piano und David Hodek an den Drums. Dabei ist unbedingt beachtenswert, dass wir mit diesem Drummer einen erst 16-jährigen Jüngling auf dem Hocker haben! Und der macht seine Sache richtig gut; da darf man sich auf eine große zukünftige Karriere freuen. Aber den Haupteinfluss übt derzeit (noch) der Mann am Klavier aus, was die Aufnahmen des Albums auch deutlich unterstützen. Gemeinsam ist dieses Duo für sechs der sieben Songs des Albums verantwortlich außer dem Bouns-Track „Diamonds“. Wie gesagt, diese Musik ist Jazz, nicht zu kühl, nicht zu extravagant, gut gespielt aus einer soliden Grundlage fachlicher Qualifikation. Ein Album, dass sich hervorragend eignet für niveauvolle Hintergrundmusik in einer Bar mit Stil. So sind die sieben Titel abwechslungsreich gestaltet, nicht zuletzt durch die angenehmen weiblichen Stimmen oder des Einsatzes vom Saxophon. Mit einem Rap begibt sich die Band auch mal etwas weiter weg vom großen Boulevard, aber in risikoreiche Gefilde führt das dennoch nicht. Piano und Drums wissen immer genau, wohin der Weg gehen soll - egal ob im arrangierten oder improvisierten Setting. Die weiteren Instrumente, Bass, Gitarre, Saxophon, Gesang oder die elektronischen Beigaben, sind allesamt Könner und so kann eine kurzweilige moderne Auffassung des Jazz überzeugend geboten werden. Für den Fall, dass der interessierte Fan dies Album nicht gleich beim Fachhändler seines Vertrauens finden kann sei auf die Internet-Seite der Factory verwiesen: www.davidhodek.net Lüder Kriete © wasser-prawda 57 Platten Innes Sibun - Lost In The Wilderness Zwischen wildem Rock & Roll und dem einsamen Singen einer Bluesgitarre: Innes Sibun hat für sein aktuelles Album „Lost In The Wilderness“ zwölf Songs gesucht, die ihm die Möglichkeit geben, seine Vielseitigkeit als Gitarrist und Sänger unter Beweis zu stellen. Lust auf Party mit wildem Tanz? Dann ist der erste Song genau richtig: Bei „You Can‘t Miss What You Never Had“ schlägt das Herz jedes Rock&Rollers sofort im richtigen Takt, die Füße zukken und ein beseeligtes Grinsen schleicht sich in das Gesicht. Doch schon beim nächsten Lied kommt der Kontrast: „Lost In The Wilderness“ ist die Art von Bluesballade, bei denen Gitarristen ihre Liebe zu Gary Moore vollkommen ausleben können - hier klagt ihr Instrument in reinen Linien, der Backgroundchor sorgt für Gänsehaut. Und man fühlt die Verlorenheit mit allen Fasern die ganzen sechseinhalb Minuten lang. Nächstes Lied, nächster Kontrast: „Where Are You“ ist Instrumental, das irgendwann mal bei einem zwanglosen Jam entstanden sein muss, das aber seither nicht wirklich seine Kanten verloren hat: Zwei Gitarren bauen eine romantische Stimmung, oder sollte man eher sagen: eine romantische Klangtapete? Für mich ist das zu belanglos. Zum Glück kommt dann mit „There Will Be“ wieder eine rokkendere Nummer - kein spektakulärer Song, aber eingängig und mit Spaßfaktor. Und dann mit „Double Trouble“ schon wieder ein langsameres Bluesmonster von fast sieben Minuten. So abwechslungsreich bleibt das ganze Album - für mich ergibt sich da nicht wirklich ein geschlossenes Bild. Doch „Lost in The Wilderness“ ist nur selten langweilig und häufig sogar ziemlich großartig. Denn bei aller Brillianz, die Sibuns Gitarrenspiel hat - er erliegt fast nie der Versuchung, seine Solos zum Blendwerk verkomen zu lassen. Dafür ist er viel zu sehr Blueser im Herzen und nicht ein Rockstar mit Stadion-Attitüde. Und deshalb kann man das Album guten Gewissens weiterempfehlen. Nathan Nörgel Kat Danser - BapƟzed By The Mud Man nennt sie die Queen des Swamp Blues in ihrer kanadischen Heimat. Auf ihrem aktuellen Album „Baptized By The Mud“ treffen sich Roots, Blues und Oldtime Jazz zu einem bemerkenswerten Gospelgottesdienst. Liegt es an den härter werdenden Zeiten? Oder bin ich in den letzten Monaten einfach nur aufmerksamer geworden? Jedenfalls ist hier schon wieder ein Album mit Gospelblues auf dem Schreibtisch, dass auch Ungläubigen das Gefühl der Erlösung im Glauben nahebringen könnte. Kat Danzer hat sich nicht nur klassische Songs, die meist eher unbekannt sind, ausgesucht und sich zu eigen gemacht. Gemeinsam mit Gitarrist/Produzent Steve Dawson hat sie dafür Arrangements gefunden, die zuweilen an die besten Aufnahmen von Ruthie Foster, manchmal auch an die Intensität von Bex Marshall erinnern. Oder aber - wie etwa im Titelsong - treffen ein einsames Akkordeon auf stoische Banjos und Countryfiedeln und eine Pedal Steele. Höhepunkte des absolut gelungenen Albums sind für mich Dancers Interpretation von „None Of Us Are Free“, das eigentlich in der Erinnerung an das Zusammenwirken von Solomon Burke 58 © wasser-prawda Platten und The Blind Boys of Alabama verbunden schien und der Opener „When The Sun Goes Down“. Raimund Nitzsche Kirsten Thien - Solo Live from The Meisenfrei Blues Club Ganz allein mit akustischer Gitarre und ihrer phänomenalen Stimme präsentierte sich Kirsten Thien im Oktober 2012 im Bremer Meisenfrei. Zum Programm des auf CD veröffentlichten Mitschnittes gehörten neben eigenen Songs auch Bluesklassiker von Ida Cox und Stücke von Musikerinnen wie Sheryl Crow, Bob Dylan oder Bill Withers. Es war in der Wendezeit, als man als Bluesfan mit einem begrenzten Kenntnisstand in Plattenläden gewaltige Bildungsschübe erfahren konnte. Frauen im Blues? Klar kannte man Bessie Smith und Sippie Wallace, auch Koko Taylor und natürlich Janis Joplin waren einem lieb und teuer. Aber plötzlich tauchten da Namen auf wie Rory Block oder Bonnie Raitt, von denen man bislang nie gehört hatte. An eine in Bremen entstandene Live-Aufnahme von Rory Block fühlte ich mich erinnert, als ich erstmals das neue Album von Kirsten Thien anstellte. Dort wie hier: Eine Frau alleine mit Gitarre und einem Repertoire zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Und hier wie dort wird einem klarer als bei vielen kompletten Bandaufnahmen, was Blues im Konzert bewirken sollte: Kirsten Thien beherrscht die Kunst, ihre Stärke und Verletzlichkeit in jeder Note fühlbar zu machen und so das Publikum zum Teil des Konzerts zu machen. Und das ist es egal, ob sie ihre eigenen Songs über das Unterwegssein („The Sweet Lost And Found“), Klassiker der Frauen im Blues („Women Be Wise“ oder „Wild Women Don‘t Have The Blues“) oder Sheryl Crows „Leaving Las Vegas“ anstimmt: Ob Blues, Pop oder Soul - alles wird Teil eines Blueskonzertes. Neben Rory Block gehört Thien zu den wenigen Frauen, die das in derartiger Vollendung können. Ein faszinierendes Live-Album!. Nathan Nörgel Larry Carlton & Robben Ford - Unplugged Im Pariser New Morning Jazz Club trafen zwei der besten Gitarristen zwischen Jazz, Blues und Rock aufeinander. Ohne Strom und Effektgeräte spielten sich Larry Carlton und Robben Ford dabei die Ideen nur so zu: „Unplugged“ hat mit Lagerfeuer nichts zu tun sondern erinnert zuweilen gar an die legendäre „Friday Night in San Francisco“ von John McLaughling, Al Di Meola und Paco De Lucia. Die Geschichte von Blues und Jazz kennt einige legendäre Gitarrenduos. Am Anfang - und für einige noch immer die Krönung - stehen natürlich die Aufnahmen, die Lonnie Johnson und Eddie Lang in den 30er Jahren eingespielt haben. Immer unter dem Motto: „Vier Hände sind besser als zwei“ sind diese Duette nicht nur der Nachweis für die Virtuosität dieser Gitarristen sondern auch ein Beispiel dafür, dass Blues und Jazz von Anfang an viel enger verwandt waren, als das heute die akademisch gebildeten Musiker beider Stile wahrhaben wollen. Sowohl Carlton als auch Ford haben sich im Laufe ihres Lebens immer wieder als Grenzgänger bewiesen. Und auch dieses Album © wasser-prawda 59 Platten „wildert“ voller Vergnügen im Blues und Jazz ebenso wie zeitweilig in der Tradition der Flamencogitaristen oder der brasilianischen Samba. Am schönsten ist das gleich beim Opener NM Blues 08 zu beobachten, wo sie noch ohne Bandbegleitung drauflos spielen. Mit Bass (Fifi Chayeb) und Schlagzeug (Claude Salmieri) wird aus dem Duo eine Jamsession eines fantastischen Quartetts, wo Spielfreude und musikalischer Ideenreichtum die Spannung konstant auf höchstem Level halten. Nein: Blues und Jazz sind noch immer enge Verwandte. Es kommt - wie bei jede Musik darauf an, sein Herz in die Lieder zu packen und damit die Zuhörer zu erreichen. Dieses Album ist einfach großartig gelungen! Raimund Nitzsche Laura Cortese - Into The Dark Die Fiddle-Musik des Country triff t bei Songwriterin Laura Cortese auf sehnsuchtsvolle Popmelodien und Anklänge aus der keltischen Folklore. Die Dunkelheit ihres Albums „Into The Dark“ ist nicht Trostlosigkeit oder Aussichtslosigkeit sondern oftmals die anheimelnde Dunkelheit der Nacht, in der man seinen Träumereien nachhängt. Es hat immer etwas Überraschendes, wenn Popmusik welcher Couleur auch immer, sich dem Diktat von Gitarren oder Keyboards verweigert. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts verliehen The Instabockatables etwa ihrer Verachtung für alle sechssaitigen Instrumente mit ihrem fulminaten Folk-Rock Ausdruck. Zu bald allerdings war das Feuer verloschen, der Reiz des Neuen dahin. Auch Apocalyptica ist mittlerweile aus dem Metal im Feuilleton und bei Wagner-Adaptionen gelandet. Nein, in diese Reihe sollte man Laura Cortese nicht einsortieren. Eher ist ihr Folkpop in der Nachbarschaft der frühen Jayhawks oder auch von Songwriterinnen wie Rebecca Pidgeon oder Sarah K zu verorten. Wobei auch das nicht ganz funktionieren kann. Denn bei denen würde man zwar Anklänge an diverse Folkstile finden aber niemals eine Begleitung, die auch Elemente moderner Kammermusik beinhaltet. Und genau das passiert häufiger, wenn sich die scheinbar einfachen Lieder entwickeln: plötzlich ist man aus den Bergen der Appalachen in irgendeinem Kammerkonzert gelandet und fühlt sich dabei noch pudelwohl. Nathan Nörgel Live in Reitwein - Das 100. Konzert Auf diesem Konzert wäre ich gerne gewesen. Man kann nicht alles haben. Zum Glück gibt es eine CD von diesem Event. Hier traten die führenden Bluesbands auf, die die Entwicklung des Blues in Ostdeutschland wesentlich beeinflusst haben. Der Blues im Osten Deutschlands kennt viele legendäre Orte: Es waren und sind selten die große Städte, die als Heim- , dann zumeist in Gaststätten fungierten. Reitwein, tief im Oderbruch liegend, ist so ein Ort. Die Gaststätte heißt „Zum Heiratsmarkt“ und eine Hochzeit war es wohl auch als sich u.a. Engerling, Kerth, Jonathan-Blues-Band, Speiches Monokel, Freygangband und East Blues Experience das Ja-Wort für eine lange Nacht gaben. Mit grosser Erwartung schob ich die Scheiben in meinen Player und um es vorwegzunehmen, ich wurde teilweise enttäuscht. Wenn ich zu einer Bluessession gehe, erwarte ich auch Blues. 60 © wasser-prawda Platten Punk gefällt mir nicht und will ich da auch nicht hören. Die Entwicklung von Freygang zu einer Punkband tut da schon weh. Es gibt auch ausserbluesliche Sachen die man tolerieren kann, die sogar gefallen. In diesem Konzert ist mir zu viel ausserbluesliches Programm enthalten. Am Anfang stehen der „Engerling Blues“ und „Die Anderen“ von Engerling, dargeboten in der bekannten Souveränität. „Die Anderen“ hat an Aktualität nichts verloren. Und wer Engerling noch nicht kennen sollte, muss das unbedingt nachholen. Auch Jonathan und Gäste (von der ehemaligen Jonathan Blues Band) haben in den Jahren nichts verlernt. Nachhören kann man das bei „Blues & Trouble“, „Katzenfreund und „Daddy oh Daddy“. Sängerin Heike Matzer könnte man als Lokalmatadorin bezeichnen. Zwanzig Jahre stand sie bei Returning Flood aus Frankfurt (Oder) am Mikrophon. In Reitwein gab sie den alten Renft-Song „Als ich wie ein Vogel war“ in einer guten eigenen Interpretation zum Besten. Auch Die Zunft stammen aus dem Oderbruch. Mir gefallen ihre Titel einfach nicht. Vor allem „Du bist so hässlich“ ist mir zu punkig. Und zur Freygang-Band habe ich mich oben schon gäußert. Die zweite CD beginnt mit der „Variation über einen andalusischen Gassenhauer“ des aus Cottbuss stammenden Gitarristen Charlie Eitner. Und daran kann man sich nach mehrmaligem Hören wirklich gewöhnen. Mit A „Got My Mojo Working“ von A Glass of Bailey, dem Duo der Gitarristen Heinz Glass und Jürgen Bailey kam der Blues zurück auf die CD - und wie! Speiches Monokel spielten die beiden Kultklassiker „Boogie Mobil“ und „Bye Bye Lübben City“ in gewohnter Qualität. Die wilden Gitarrenriffs des letzten Songs sind legendär. Sängerin Indijana ist eine Neuentdeckung. Sie erinnert mich an Joan Baez. Und ihr „Flying Fish“ passt zur Auflockerung gut ins Programm. Gitarrist/Sänger Peter Schmidt brachte zunächst als Solist Peter Gabriels „Don‘t Give Up“ in einer gelungenen Songwriter-Version. Und als er dann mit Band weiterspielte, war der Blues endgültig wieder im Vordergrund. Bei „Early In The Morning“ wippt man sofort mit den Füßen und der Song geht ins Ohr. Was dann kam, war alleine das Geld schon wert: Jürgen Kerth hatte in Reitwein Engerling als Begleitband! Kerth spielt Lieder wie „Die Eine“, „Helmut“ oder „Red House“. Und Engerlings Begleitung sorgt nicht nur bei mir für Begeisterung. Die sollten wirklich mal gemeinsam ein Album machen! Mit einer Session klingt das Konzert aus. Für die „Reitwein Allstars“ versammeln sich so ziemlich alle auf der Bühne. Der „Hoochie Coochie Man“ kommt hier in einer ganz ungewohnten Interpretation aus den Boxen. Bei „Gimme Shelter“ übt Engerling, die bestimmende Band des Konzerts, für ihren nächsten Gig mit Stones-Songs. Dass das Konzert nicht mit einem Blues abgeschlossen wird, ist bezeichnend. (Buschfunk) Matthias Schneider Malia & Boris Blank - Convergence Vom souligen Jazz hin zur elektronischen Soulmusik: Die aus Malawi stammende und in Großbritannien lebende Sängerin Malia hat ihr neues Album gemeinsam mit dem Schweizer Electro-Pionier Boris Blank (Yello) aufgenommen. © wasser-prawda 61 Platten Für „Black Orchid“, ihre Hommage an Nina Simone, hatte Malia einen Echo bekommen: Entschleunigt und voller Tiefe und Wärme hatte sie die Stücke der Hohepriesterin des Soul interpretiert. Und auch „Convergence“ ist ein Album der großen Gefühle ohne Pathos, zurückschauender Sehnsucht und jeder Menge Soul. Doch was Boris Blank mit Malia geschaffen hat, geht weit darüber hinaus, weckt Erinnerungen an frühere Kollaborationen von ihm etwa mit Shirley Bessey oder auch an Bands wie Yazoo, die ja auch vom Kontrast zwischen scheinbar kalter Electronic und einer Soulstimme lebten. Blank hat bis auf „Fever“ die Songs des Albums geschrieben und damit der Sängerin Klanglandschaften gemalt, auf und in denen diese unverwechselbare Stimme wachsen und strahlen kann, wo sie verletzlich und stark sein kann. Manchmal werden Bezüge zu afrikanischer Musik dabei hörbar. Manchmal ist die Spannung zwischen Synthesizern und Stimme schmerzhaft spürbar. Doch immer bleiben diese Lieder mehr als lediglich die Electropopsingle für die nächsten vierzehn Tage. Sie haben Tiefe wie guter Blues, geben Stärke wie Gospel. Gemeinsam haben Malia und Blank den Beweis dafür erbracht, dass ein Label wie „Electro-Soul“ durchaus Berechtigung hätte. Denn zuviele Banalitäten haben den Begriff „RnB“ für immer bedeutungslos gemacht. (Universal) Raimund Nitzsche Michael Maƫce - Comin‘ Home Ein Mann, eine akustische Gitarre und jede Menge Melancholie - Michael Mattice will uns mit seinem aktuellen Album anregen, trotz des Lärms und der Hektik der Zeit auf die inneren Stimmen zu hören, den versteckten Träumen zu folgen. Dass Songwriter Michael Mattice während des Studiums mal eine Metalband gegründet hatte, hört man hier niemals: „Comin Home“ ist ein Songwriteralbum, das tief in den Traditionen von Folk und Blues forscht und daraus eigene Melodien schafft, die einen in ruhigen Momenten zu Tränen rühren können, die man ansonsten aber trotz ihrer Schönheit viel zu leicht überhören kann. Das sind Lieder über die Suche und die Sehnsucht nach einer Heimat, die mehr in der Innerlichkeit als dem frischgemauerten und mit Hypotheken belasteten Eigenheim besteht. Das Getriebensein, die Unruhe, die ja eigentlich eine der Triebfedern der menschlichen Entwicklung ist, kann nur dann produktiv sein, wenn ihr die Vorstellung einer Heimat entgegen gesetzt wird, die als Ziel all unseres Strebens gesucht wird. „Comin‘ Home“ ist die richtige musikalische Erinnerung daran: Leise, unaufdringlich, von einer verblüffenden Schönheit - und niemals in billigen Kitsch abgleitend sind die Lieder und die Interpretation von Mattice. Raimund Nitzsche Mike & The Mellotones - 1+1=3 (feat. Enrico Crivellaro) Ein Gipfeltreffen in Sachen zeitgenössischem Gitarrenblues aus zweien unserer Nachbarländer ist dieses Album. Die Niederländer von Mike & The Mellotones hatten sich für „1+1=3“ Verstärkung von dem italienischen Gitarristen Enrico Crivellaro geholt. Und wer sich dabei langweilen sollte, ist garantiert kein Bluesfan. 62 © wasser-prawda Platten Manche Behauptungen sind zwar eindeutig falsch, verkünden aber dennoch einen Teil der Wahrheit. Wenn man die richtige Partnerin für‘s Leben gefunden hat, dann ist die Summe eben mehr als einfach die Addition der Einzelteile. Und für den Titelsong des neuen Albums von Mike & The Mellotones gilt das auch noch in einem weiteren Sinne: Wenn man zwei Gitarristen wie Mike Donkers und Enrico Crivellaro zusammen musizieren lässt, dann ist das Ergebnis ein ganz anderes als bei beiden in ihren jeweiligen angestammten Bands. Sehr schön ist das schon beim ersten gemeinsamen Song auf dem Album zu hören: „Just A Dream“ lebt so richtig von dem Hin und Her an Ideen, die sich die beiden zuwerfen. Leider beschränkt sich der Beitrag Crivellaro‘s auf die Mitwirkung bei drei Liedern. Aber die sind eindeutig die Höhepunkte der Scheibe. „Ready Freddy“ etwa lässt die Ablenkung durch Gesang gleich ganz fort und ist eine sehr schöne Duo-Hommage an Freddy Kings Version des Texasblues. Und „Encore Enrico!“ lässt dem Italiener den Raum, seine Gitarre glänzen zu lassen zwischen jazzigen Anleihen, dem Erbe der verschiedenen Kings und italienischer Lebensart. Aber auch ohne ihn zünden die Mellotones ein Bluesfeuerwerk. „He‘s Gonna Step On You Again“ wird dank der Mitwirkung diverser Percussionisten zu einer Kreuzung zwischen Blues und afrikanischen Rhythmen. Und „W-O-R-R-Y“ mit großartiger Mandoline würde auch auf Alben von John Fogerty oder Tony Joe White eine gute Figur machen: Rootsrock/Americana mit gehörigem Swamp-Feeling. „Blue Chase“ hat - wie auch paar andere Nummern des Albums - einen ordentlichen Funk-Groove. Aber hier wird dann auch der Schwachpunkt deutlich: Für diese Musik hat Mike nicht ganz die richtige Stimme. Hier wünschte ich mir wesentlich mehr Power und Tiefgang. Aber das ist Nörgelei auf einem ziemlich hohen Niveau. Denn wenn die Musik rockiger oder bluesiger ist, dann scheint er mir wirklich zu Hause zu sein als Sänger. Nathan Nörgel Mojo Blues Band - Walk The Bridge Vor vielen Jahren wurde mir hinter vorgehaltener Hand als Geheimtipp gesagt, dass die Mojo Blues Band die beste Blues Band Europas sei. Viele Jahre später hatte ich Gelegenheit, die bester Blues Band Europas in Jazzkeller in Wien und noch mal hier auf der Staudacher Musikbühne zu hören. Und sie gehören garantiert zu der Kategorie beste Blues Band Europas. Letztes Jahr hat nun die Mojo Blues Band ihr viertes Album in diesem Jahrtausend „Walk the bridge“ veröffentlich. Es ist eine Doppel-CD mit 30 Songs, wobei 22 Songs aus der Feder der Herren Eric Trauner, Siggi Fassl, Charlie Furthner, Herfried Knapp und Didi Matterberger stammen. Stilistisch ist es der ganz normale Blues, aber jetzt das große Aber: Die Songs sind mit einer solchen Groove eingespielt, der sofort Laune macht und den Zuhörer nervös auf dem Stuhl herumrutschen lässt. Das Knie zittert, der Fuß klopft den Takt und die eigene Stimme hebt zum Duettgesang mit Erik Trauner oder Siggi Fassl an. Was die Mojo Blues Band hier bringt ist die ganze Bandbreite des Blues, wie sie ihm im Süden der USA spielen: Swamp, Cajun und New Orleans Sound, das Feeling aus Mississippi, Alabama und Georgia kombiniert mit den schnellen Boogies vom Charlie Furthner. Der Song „I‘m New Orleans © wasser-prawda 63 Platten bound“ bringt den Sound auf den Punkt. Auf der CD singen sowohl Erik Trauner wie auch der Gitarrist Siggi Fassl in wirklich unterschiedlicher Weise. Da es hier eine Vielfalt von Sounds und Instrumentierungen gibt, wird das Album zu keinem Zeitpunkt langweilig. Es werden zwar die immer gleichen Themen wie Frauen und der Blues als Lebensinhalt besungen, aber auch der genervte Mann neben der nach Smartphone und Facebook süchtigen Frau kommt vor. Das Lebensmotto aller Blueser hat Eric Trauner auf der zweiten Scheibe zusammengefasst: “The Blues is all I wanna sing until I lay my body down”. Was mir an diesem Album besonders gefällt ist das Tempo, das vor allem vom Drummer Didi Mattersberger und von der linken Klavierhand von Charly Furthner geprägt ist. Der unschlagbare Upright Bass wird von Herfried Knapp gespielt. Der gesamte Drive kommt schnell und präzise wie ein Uhrwerk, wobei wir hier kein lahmes Quarzuhrwerk vorfinden, sondern die von einer lebende Unruh getriebene Rhythmusgruppe der Mojo Blues Band. Mit dem Erik Trauner und der Heinz Fassl erleben wir unterschiedliche Gesangsstücke zwischen Blues und Ballade und vielfältiges Gitarrenspiel: Erik ausgeprägtes Slidespiel in „Alimony, Alimony“ oder zum Gesangsduett „You must be traveling“ zeugen von Feeling und Handwerk. In Wien hat mir Siggi Fassl zu meinem Erstauen das Spiel des Blues auf einer Lap Steel Gitarre gezeigt, die ich bis dato nur von Hawaiimusik kannte (NB: Mittlerweile habe ich selbst 3 Lapsteels). Heinz Fassl spielt also nicht nur eine sauber und schnelle Jazz- und Bluesgitarre, sondern setzt seine Lapsteel bei Stücken wie „Siggi’s lap steel Blues“ oder dem „Blue guitar stomp“ ein. Von dem Bekenntnis-Song “ Walk the bridge“ gibt es auch eine zweite Radioversion, ebenso von den superschnellen Song “She’s a hot mamacita“ mit eine alternativen Take. Was besonders wohltuend hervorscheint sind die schnellen Boogies von Charly Furthner. Eine linke Hand, die Tempo und Rhythmus macht und eine rechte Hand für die virtuosen BoogieSolos. Für mich immer eine tolle stilistische Alternative zum typischen Gitarrenblues unserer Zeit. Ein Teil des Sounds der CD kommt natürlich auch von der Brass Section, wie es bei einer New-Orleans-bound Band nicht fehlen darf. Paul Chuey steht hier am Tenor- und Altosax und trägt mit dem Instrumental „Paul’s Shuffle“ auch zu den 30 Songs bei. Diese Doppel-CD zeigt die ganz Bandbreite des Blues, gespielt von einer der besten europäischen Blues Bands mit internationaler Erfahrung. Daher unbedingt zu empfehlen. Leider macht sich die Mojo Blues Band in Deutschland ziemlich rar. Daher bin ich froh um die CD und das Konzert am 15. März in Puchheim, von wo die Wasser-Prawda mit einem Interview der Mojo Blues Band und einem Konzertreview berichten wird. Mario Bollinge Niedecken - Zosamme Alt Irgendwann war BAP für mich erledigt. So wie auch die Bücher von Hesse ab einem Zeitpunkt im Regal blieben oder die Liebe zu süßem Wein aus Ungarn erkaltet war. Ich war älter geworden. Und ich wollte mir nicht mehr von dieser oder anderen Bands mein Leben begleiten lassen. Und als Wolfgang Niedecken sich dann auch noch mit Verkölschungen von Dylan meldete, war der Spötter in mir am Jubilieren ob dieses Frevels. Eine Möglichkeit, 64 © wasser-prawda Platten alte Vorurteile neu zu überprüfen und entgangene Lücken der musikalischen Biographie Niedeckens zu füllen, bietet das Album „Zosamme Alt“, für das der Kölner Lieder der letzten Jahrzehnte neu aufgenommen hat. Klar, Wolfgang Niedecken hat „Zosamme Alt“ für seine Frau aufgenommen als eine neue Liebeserklärung. Aber wenn man Stücke wie „Rääts Un Links Vum Bahndamm“ im Jahre 2013 wiederhört, dann wird einem mit Erschrecken klar, dass man selbst in den Jahren ebenso gealtert ist wie der Künstler. Damals zählte das zu den wenigen wirklich guten Beschreibungen des Alltags in westdeutschen Großstädten jenseits von Punk und NDW. Und in der typisch deutschen romantischen Grundstimmung hatte man auch als Jugendlicher in der DDR einen direkten Zugang zu den Liedern (wenn man denn die Chance hatte, die Texthefte der Schallplatten in die Hand zu bekommen). Lieder wie „Alexandra“ fehlen leider hier - das waren über Jahre hinweg persönliche Hits. Doch auch so kann man sich bei „Griefbar Noh“, „Jedanke Em Treibsand“ oder „Waat Ens Jraad“ in die Zeit zwischen Pubertät, Abitur und Liebeskummer zurückversetzen. Produziert von Julian Dawson ist das hier ein wundervoll ruhiges Folk-Album geworden, wo der teilweise aufgesetzte Rock&Roll von BAP ganz und gar verschwunden ist. Und dadurch werden die Lieder plötzlich wieder aktuell und großartig. Das sind Liebeslieder, wie ich sie selbst mir nie getraut habe, der angebeteten oder erträumten Frau zu singen. Nathan Nörgel OƟs Taylor - My World Is Gone Auf seinem 2013 erschienenen Album „My World Is Gone“ widmet sich Otis Taylor verstärkt den Problemen der amerikanischen Ureinwohner. Vor allem die Gitarre von Mato Nanji prägt den eindrücklichen Tranceblues des Songwriters auf dieser Veröffentlichung. Immer mehr verschwinden die Kulturen jahrhundertealter Völker durch Globalisierung und die immer weiter fortschreitende Unterordnung der Kultur unter die Gesetze der Märkte. So war es nur eine Frage der Zeit, bis Otis Taylor von den Problemen der afrikanischstämmigen Amerikaner sich auch zu denen der Ureinwohner des Kontinents hinwandte: Die Erfahrungen von Rechtlosigkeit, Unterdrückung und ständigem Verrat sind letztlich vergleichbar. Und die Frage, ob man sich mit den Mitteln des Blues mit Gewalterfahrungen von Indianerstämmen auseinandersetzen darf, ist rein akademisch. Nein: ob es um einen Indio gibt, der als Folge des Alkohols sein wertvolles Pferd verliert oder darum, dass man die heiligen weißen Büffel mittlerweile nur noch in Fernsedokumentationen sieht. Auch das sind ebenso Erfahrungen, die man mit dem Tranceblues Taylors zutreffend erzählen kann wie die Schilderung vom Abschlachten hunderter friedlicher Indios im 19. Jahrhundert durch die Kavallerie der Vereinigten Staaten. Man kann Otis Taylor sicherlich mit einiger Berechtigung vorwerfen, dass seine Musik in den letzten Jahren immer vorhersagbarer geworden ist. Die Themen für seinen Protest sind andere geworden, gleichgeblieben ist die Musik zwischen akustischem Rootsblues und der elektrisch verstärkten Variante zwischen Blues und Rock. Doch dieser Vorwurf ist meines Erachtens fehl am Platz. Denn was Otis Taylor zu einem der wichtigsten Musiker © wasser-prawda 65 Platten des Blues im 20. und 21. Jahrhundert macht, sind eben die politisch engagierten Songs, seine oft schroffe Kritik an Ungerechtigkeit in Vergangenheit und Gegenwart. Und damit sorgt er dafür, dass der Blues relevant und aktuell bleibt, dass er nicht zu einer historisch abgehakten Episode der Geschichte oder zu einer behäbigen Kneipenmusik verkommt. (Telarc/in-akustik) Raimund Nitzsche Port City Prophets - Mule Genügsam und ausdauernd, so wird das Maultier oft geschildert. Ein Arbeitstier, kein edler Renner. Und auch oft stur, was seinen Kopf betriff t. Ähnlich stur halten die Prot City Prohpets auf ihrem Album „Mule“ an klassischen Bluessounds zwischen jangenden und klagenden Slidegitarren und gospelverwandten Orgelteppichen fest. Ein Stückchen Land und ein Maultier hatte man den befreiten Sklaven nach dem Bürgerkrieg versprochen. Das Versprechen war leider wie so viele gebrochen worden. Gebrochene Versprechen stehen auch am Anfang des Blues, Lebenswege voller Hindernisse und zusätzlichen Herausforderungen. „Jesus hat meine Seele gerettet - aber mein Geld gehört meiner Frau“ klagen Port City Prophets. Es ist nur eine halbe Erlösung. Der Glaube allein scheint nicht auszureichen in einer Welt, in der man ohne Geld zum Nichts reduziert wird. „I Already Know“ ist ein anderer dieser Songs, deren Doppelbödigkeit man erst nach mehrfachem Hören wirklich erkennt. Dann allerdings wird „Mule“ immer mehr zu einem Album, dass aus der Masse der Veröffentlichungen im Jahre 2013 heraussticht: Es geht um die Erfahrung, eben nicht den allgemeinen Maßstäben zu genügen. Man ist ein Maultier in einer Stadt voller Pferde. Man kann sich anstrengen wie man will - immer wird etwas fehlen. Vollendetes Glück gibt es im Blues nicht - oder es ist kein Blues mehr. Man kann immer nur drum bitten, dass einem ein wenig Luft zum Atmen bleibt, dass die Frau es kapiert, dass man sich schon längst geändert hat. Musikalisch ist das elektrischer Blues voller Spannung: egal ob nun in hoher Geschwindigkeit oder in eindrücklichen Balladen. Gitarre und Orgel zeichnen klassische Klanglandschaften ohne in Zitaten verhaftet zu sein. Und dann diese Stimme von Sänger - genau ausgewogen zwischen Widerstand und Resignation. Eine wirkliche Entdeckung ist diese Band mit diesem Album für mich. Eine, die ich gerne weiterempfehle an gute Freunde. Raimund Nitzsche Quique Gómez & Luca Giordano - Chicago „3011 Studios“ Sessions Der italienische Gitarrist Luca Giordano und der spanische Harpspieler Quique Gómez sind beider verrückt nach traditionellem Chicagoblues. Nachdem sie gemeinsam oder mit ihren eigenen Bands in Europa immer wieder amerikanische Künstler auf Tourneen begleitet hatten, trafen sie sich in Chicago zu Sessions für ein gemeinsames Album. Und da schauten eine Menge amerikanischer Künstler von Billy Branch bis Eddie C. Campbell vorbei und machten die Aufnahmen zu einem Paradebeispiel für den elektrischen Blues Chicagos der 50er bis 70er Jahre. 66 © wasser-prawda Platten Tradition pur: Kann man wenn man daran festhält, heute noch wirklich lebendige und ansteckende Musik machen? Wenn man nicht nur sein Handwerk ausgezeichnet beherrscht, sondern auch die ganze dahinterliegende Kultur versteht, dann kann das funktionieren. Das jedenfalls beweisen Gomez und Giorano mit ihren Gästen. Ob sie Klassiker wie „Outskirts of Town“ oder „Rocket 88“ spielen oder eigene Songs: Das ist spannend und auf den Punkt gespielte Tradition von Meistern ihrer Instrumente. Das ist Blues, der nicht für akademische Vorlesungen bestimmt ist sondern für deftige Clubnächte irgendwo in Europa oder den Juke Joints der Provinz. Und das ist eine Empfehlung wert. Nathan Nörgel Rabbit Foot - Dark Tales Vol. 1 (EP) Der Titel sei durchaus ironisch zu verstehen, betonen Gitarrist/ Sänger Jamie Morgan und Drummerin/Sängerin Carla Viegas alias Rabbit Foot. Doch selbst sie können nicht verneinen, dass die fünf Songs ihrer EP ziemlich düster geraten sind. Da geht es um das Zimmer in einem Krankenhaus, wo die Ärzte und Polizei entscheiden, ob Leute in die Psychiatrie müssen oder sie der Strafverfolgung unterliegen müssen („Suite 136“). Oder sie widmen sich dem Grimmschen Märchen vom eigensinnigen Kind, das niemals tat, was seine Mutter wollte und das Gott es sterben lässt. Aber selbst begraben lässte es sich nicht, streckt immer wieder den Arm aus der Erde, bis die Mutter es prügelt („Stubborn Child“). Höchstens die Singleauskopplung „Tip My Hat“ kommt als Loblied auf Kneipenromanzen lebenslustiger daher. Doch auch hier klingen Morgans Gitarrenriffs wie nach einer Überdosis klassischem Heavy Metal und Vargas‘ Djembes legen einen stampfenden Groove darunter. Das ist keine rosarote Romanze, sondern eine Begegnung verlorener Seelen am Thresen. Nach dem wilden Debüt „Swamp Boogie“ ist die Musik des Duos deutlich europäischer geworden, härter und weniger verspielt. Die Songs rocken auf den Punkt und treten einem von Anfang an in den Hintern. Bluespolizisten werden allerdings empört aufjaulen. Aber die sind mir egal. Die Produktion ist rauh und direkt: die Instrumente wurden live und in einem Take eingespielt. Nur der Gesang kam später dazu und ein paar zusätzliche Gitarrenlinien. Teil Zwei soll noch dunkler werden. Nur die mangelnde Studiozeit brachte die beiden dazu, ihre Geschichten in zwei Teilen zu veröffentlichen. Party on, Dudes! I need a most triumphant video for „Stubborn Child“. Nathan Nörgel Sheba The Mississippi Queen - BuƩer on My Roll Ihre Herkunft aus Mississippi kann und will sie nicht verleugnen. Doch heutzutage ist Sängerin Sheba vor allem in Florida unterwegs mit ihrem swingenden Soulblues. „Butter On My Roll“ weckt ebenso auch Erinnerungen an die Bluesqueens der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Klar, es ist das das ewige Problem - die Suche nach einem wirklich guten Mann. Schon Bessie Smith, Ma Rainey oder ihre Kolleginnen wussten davon nicht nur ein Lied zu singen. Sheba hat nicht nur die als Vorlagen sondern auch die Nachrichten über die diversen Skandale, in die Politiker und ihre Frauen verstrickt waren. In den Liedern auf ihrem aktuellen Album „Butter On My Roll“ © wasser-prawda 67 Platten steht dieses Thema naturgemäß im Zentrum. Aber Sheba ist - wie auch die Queens der Frühzeit - keine schwache Frau, die sich mit Kompromissen zufrieden geben würde. Sie fordert Liebe und will nicht zum Spielball werden. Klar, wenn sie ihn denn gefunden hat, den wirklich passenden „Big Man“ in jeder Beziehung, dann hält sie ihn fest und lässt ihn nicht mehr entkommen. Dann vertreibt sie auch ihre Freundinnen, die eventuell Lust bekommen könnten. Sheba ist eine beeindruckende Sängerin, die zwischen gänsehaut-verursachenden Balladen und heftig groovenden Nummern sämtliche Register zu ziehen vermag. Was mir bei „Butter On My Roll“ fehlt, sind die fetten Bläser. Deren Aufgabe wurde auf dem Album von Keyboards übernommen. Klar, das ist kostengünstiger, gerade auch wenn man ständig mit seiner Musik auf Tour ist. Aber der Kontrast zwischen dieser gewaltigen Stimme und den schwachbrüstigen Synthetiksounds fällt hier doch unangenehm auf. Nathan Nörgel Stormy Monday ArƟst CollecƟon - Blues & Boogie No. 6 Traditioneller Boogie-Woogie, akustischer Blues oder Blues und Bluesrock in den verschiedensten Mundarten: Beim süddeutschen Label Stormy Monday Records finden Künstler zwischen Vince Weber, den Crazy Hambones und „Sir“ Oliver Mally ebenso eine Heimat wie der Tscheche Matej Ptaszek oder Calo Rapallo und der Schweizer Pianist Nico Brina. Klein, fein und eher traditionell, so könnte man das Konzept von Stormy Monday Records umschreiben. Wo Label wie Ruf oder in letzter Zeit auch Timezone eher auf rockige Klänge setzen, versammeln sich hier die Vertreter der Bluestradition. 2013 etwa veröffentlichte man mit Nico Brina und Thomas Scheytt zwei sehr unterschiedliche aber dennoch an der Musikgeschichte interessierte Pianoalben. In den letzten Jahren war das Label schon zur Heimat von den Crazy Hambones, Peter Crow C., der Schweizer Zydecotrupppe The Streetrats und den Italienern der Dave Moretti Blues Revue geworden. Und man veröffentlicht auch Mundartblues aus dem Schwabenland mit PhrasePig und Calo Rapallo. Auf dem aktuellen Labelsampler, den StoMo immer anlässlich ihrer jährlichen Blues & Boogie Nights veröffentlicht, finden sich neben Songs von den jeweils aktuellen Alben dieser Musiker auch Aufnahmen der StoMo Allstars, zu denen sich 2013 sieben Musiker des Labels zusammenfanden. Auch wenn man sich vom Vertrieb bei inakustik verabschiedet hat (um mehr Einfluss auf den wichtiger werdenden Markt bei Downloads zu haben), gehört StoMo eindeutig zu den wichtigsten Labels nicht nur für die deutsche Szene. Raimund Nitzsche Susan CaƩaneo - Haunted Heart Songwriterin Susan Cattaneo wuchs mit traditioneller Countrymusik auf. Doch ihr aktuelles Album „Haunted Heart“ ist mehr als das: In der Tradition von Lucinda Williams und anderen Kolleginnen erzählt sie ihre Geschichten mit Musik zwischen Folk, 68 © wasser-prawda Platten Blues, Country und Pop, voller Melancholie und Trost, ohne Angst vor den dunklen Momenten. Die moderne Country-Musik ist immer mehr in die Belanglosigkeit abgeglitten. Je simpler die Songs und die Botschaften, desto erfolgreicher der Einsatz im Radio und die Verkaufszahlen. In Deutschland würde man viele Künstlerinnen und Künstler aus der Ecke mittlerweile unter Schlager abheften und - je nach Laune sofort vergessen oder aber wegen ihrer Alltagstauglichkeit abfeiern. Die interesantere Musik aus der Tradition wird daher heute oft gleich in Americana einsortiert, um Missverständnisse zu vermeiden. Susan Cattaneo könnte man auch in die Schublade Singer/Songwriter packen, ohne ihr Unrecht zu tun. Aber Alben wie „Haunted Heart“ lassen mich überlegen, ob ich nicht wirklich eine extra Rubrik für Country einführen soll in unserem Magazin. Denn hier treffen musikalische Tradition und Songs der künstlerischen Selbsterforschung aufeinander und schaffen die Magie, die für mich Country mal faszinierend machten. Sie singt voller Selbstironie davon, dass sie den Whiskey wert ist, den man ihr am Tresen ausgibt, sie erzählt Geschichten von brennenden Scheunen und melancholischen Dancehall Queens. Und das ohne Schmalz, ohne Pseudopatina sondern mit einer Direktheit, wegen der man solche Musik mal als Blues des weißen Mannes bezeichnen konnte. (Jersey Girl Music). Nathan Nörgel The Campbell Brothers - Behind The 4 Walls Als Robert Randolph 2013 eine „Supergroup“ der Sacred Steel Szene zusammenbrachte, war das resultierende Album nicht komplett überzeugend. Denn bei einigen der Pop- oder Bluescover konnte sich die einzigartige Kraft dieser eigentlich geistlichen Musik nicht voll entfalten. „Behind The 4 Walls“ der Campbell Brothers ist dagegen von vorn bis hinten ein christliches Album geblieben. Und das ist auch gut so. Ihr Weg, Gott zu preisen, sei es, die Musik aus der Kirche heraus zu den Menschen zu bringen, meinen die Campbell Brothers. Ob sie nun als Mitglieder der „Slide Brothers“ bei Jay Leno auftreten oder aber bei Konzerten schon mal Titel von Jimi Hendrix durch ihre ganz eigenen Traditionen Respekt zollen: Diese Band nimmt es ernst, überall als christliche Band wahrgenommen zu werden. Ein Album von ihnen ist damit von Anfang an nicht von dem kirchlichen Kontext oder besser: vom Glauben der Musiker zu trennen. Und so beginnt „Behind The 4 Walls“ auch mit dem scheinbar plakativen: „Hell No!, Heaven Yes!“. Doch der Song ist keine Kampfeshymne sondern eine persönliche Besinnung auf das, worauf es im Leben ankommt, nämlich das Ende im Blick zu haben und damit auch die Verantwortung für das eigene Tun und Glauben. In Zeiten der political correctness sind Glaubensbekenntnisse gerade von frömmeren Menschen immer schnell oder besser: vorschnell unter dem Verdacht des Fundamentalismus. Und die Gemeinden, in denen die einzigartige Tradition der Sacred Steel Music entstanden ist, diese Fusion von Steelgitarren, Bluesakkorden, dem Drive von Soul und Funk und der Frömmigkeit des Gospel, sind als Pfingstler sehr schnell in der Schusslinie. Warum die Gemeinden von „House of God“ eigentlich dagegen sind, dass ihre Musik außerhalb der Gottesdienste gespielt wird © wasser-prawda 69 Platten und somit auch Menschen ergreifen kann, die dem Glauben generell oder in der speziellen Form skeptisch gegenüberstehen, bleibt für mich eine offene Frage. Doch spätestens seit Robert Randolphs großen Erfolgen ist die Tradition in alle Welt gewandert. Mittlerweile gibt es Sacred Steel Bands selbst in den Niederlanden und Finnland. Und das meist außerhalb der vier Kirchenmauern. Wenn man Songs wie „It‘s Allright Now“ oder „Believe I‘ll Run On“ hört, dann sind solche Fragen eh nebensächlich. Denn hier sind Lieder zu hören, die neben den geistlichen Texten Blues und Bluesrock mit einer derartigen Energie und Spielfreude zelebrieren, die selten geworden ist. Die Gitarren kreischen, jubilieren, singen wie bei Buddy Guy oder Jimi Hendrix - und sie plappern keine hohle technische Meisterschaft sondern sind Teil der gesamten Botschaft des Albums. Und das ist eine der Freude und Kraft, die man als Mensch im Glauben finden kann. Kirchenmusik die rockt, die groovt, zu der man tanzen muss - was kann es eigentlich Schöneres geben? Raimund Nitzsche The Enzymes with The AcƟve Ingredients - s.t. Murphy Dunne kennen viele lediglich als Keyboarder der legendären Blues Brothers. Und natürlich auch als Chef von Murph & The Magic Tones, dieser plüschigen Band, die im Film ihren Auftritt in irgendeiner Hotelbar hat. Doch ebenso wie seine Mitstreiter in The Enzymes hat der Keyboarder und Schauspieler schon mit den verschiedensten großen Namen Musik gemacht oder vor der Kamera gestanden. Das gemeinsame Album ist eine RockShow mit gewaltigem Spaßfaktor. Das Leben ist eines der zweitschwersten, meinte mein Vater immer. Da hilft kein Jammern. Besser ist es, die Schwierigkeit wegzulachen. Oder noch besser: lachend wegzutanzen. Schluss mit Grübeleien - Pavlov hat mal wieder geklingelt und die anerzogenen Reflexe kann man mit logischem Denken eh nicht unterdrücken. Die Enzyme mit den aktiven Zutaten liefern genau die richtige Mixtur für eine Party. Sie singen zwischen Nonsens und Albernheit. Und sie spielen dazu eine feine Mixtur aus Rock & Roll, Rhythm & Blues und bombastischen Momenten. Der Zorn wird in G-Dur abgehandelt, die Wahrheit ist im Quieken zu finden und wenn die Musik die entsprechende Temperatur liefert, ist selbst auf der Sonne Leben möglich. Kompletter Unsinn? Da kannst Du drauf wetten. Aber genau darin liegt der unwahrscheinliche Spaß, den dieses Album macht! Nathan Nörgel The Mighty Bosscats - Boiling Pot Richard Townend gehört vielleicht zu den produktivsten Songschreibern in der britischen Bluesszene. Seit 2011 hat er schon sechs Alben als Solist und mit The Mighty Bosscats veröffentlicht. Dass er bei dem Tempo aber immer auch herausragende Songs verfassen kann, hat er mit „Boiling Pot“ mal wieder unter Beweis gestellt. Eigentlich hatte Townend ja - ähnlich wie die französische Sängerin Nina Van Horn - ein Album über die sieben Todsünden machen wollen. Doch das Projekt geriet irgendwann ins Stocken, weil die Textideen wohl nicht ausreichten. Doch ein paar Stücke auf „Boiling Pot“ passen gut dazu: Nicht nur das explizit betitelte 70 © wasser-prawda Platten „Pride“, dass davon handelt, wie einen der Stolz daran hindert, sich wirklich auf Menschen und das Leben an sich einzulassen. Auch der Countrysong „Lordy Lordy Lordy“, „Waco Station“ und andere Songs kommen immer wieder mit Bezügen zu Glauben, zu Gott und Religion daher. Das passiert niemals aufgesetzt, immer in kleinen Geschichten aus dem Alltag, die einen zum Nachdenken anregen. Musikalisch haben die Bosscats in ihrem Topf eine Menge an Einflüssen verarbeitet. Vom Blues und Bluesrock kam eine Menge hinein, dazu etwas Country und Americana. Und gewürzt ist das Ganze mit Hinweisen auf Songwriter/Gitarristen wie Mark Knopfler oder Chris Rea. Die Hitze allerdings ist meist reduziert, denn das Gericht muss eigentlich nur noch warm gehalten werden bis zum Genuss, auch wenn Stücke wie „Elvis Coming Home“ gehörig nach vorn treiben: Das ist kein Album zum wilden Abhotten in der Kneipe sondern eher für das intimere Treffen mit Freunden. Denn nur in der Stille kann man den Geschichten wirklich lauschen und lässt sie nicht einfach an sich vorbeirauschen. Und das wäre schade drum. Jetzt bin ich gespannt, ob Townend weiter an den Todsünden arbeitet als Songschreiber. Denn auch wenn ich kein erklärter Fan von Konzeptalben bin: Was hier innerhalb eines Albums an Gedanken und Anregungen, an Geschichten und Gefühlen vermittelt wird, das macht neugierig auf wesentlich mehr. Nathan Nörgel The RevelaƟons - The Cost of Living The Revelations stachen schon immer mit ihrer Musik aus dem Heer der Retro-Soul-Bands heraus. Auch wenn Leadsänger Try Williams den Liedern immer auch das klassische Feeling hinzufügte: Diese Band machte schon immer eher Soulmusik, die von den Straßen der Gegenwart mehr inspiriert war als von den Erinnerungen an die goldenen Zeiten von Stax oder Atlantic. Und das ist auf ihrem neuen Album „The Cost of Living“ so deutlich wie nie zuvor. Denn hier ist Williams nicht mehr als Sänger dabei. Das Prinzip ist geblieben: Soul und Funk brauchen keine elektronischen Helferlein, um zu funktionieren. Doch Soulmusik heute ist ohne die Einflüsse aus Hiphop oder Jazz kaum noch vorstellbar. Jedenfalls dann nicht, wenn man nach etwas wie der schwer fassbaren Größe „Glaubwürdigkeit“ sucht. Die Geschichten, die man im Alltag der Großstädte erlebt oder beobachtet wirken automatisch antiquiert und museal, wenn man sie nur mit den Mitteln der 60er und 70er Jahre in Töne zu fassen versucht. Musikerinnen wie Eliza Neals oder Bands wie The Revelations wollen nicht in diese Falle tappen. Und so sind in den acht Songs des von der Band kostenlos über ihre Bandcamp-Seite verteilten Albums jede Menge Anklänge an zeitgenössischen RnB zu hören, erklingen Gesangslinien, die man eher aus dem Hiphop kennt. Und es herrscht ein Sound, der nicht in jeder Sekunde schreit: Klar waren die Typen bei Stax die Größten - und wir können das auch! Nein, bei Liedern wie „Got To Use My Imagination“ treffen kratzige Rockgitarren auf fette Orgelklänge, die Grooves sind hypnotisch. Und alles ordnet sich im Klang der Stimme und den Texten unter. Bei „This Time“ oder „The Game Of Love“ liefern die Bläser die nötige jazzige Auflockerung. Und man merkt, dass die Vorbilder für diese Musik noch mehr bei Stevie Wonder oder © wasser-prawda 71 Platten dem späteren Marvin Gaye als bei Aretha und Otis liegen. Das Ergebnis ist von vorn bis hinten überzeugend. Auch wenn hier vielleicht der sofort ins Ohr knallende Hit fehlen mag: Diesen Weg, den The Revelations mit „The Cost of Living“ eingeschlagen haben, geht auf jeden Fall in genau die richtige Richtung! Nathan Nörgel Tim Lothar & Holger „Hobo“ Daub - Blues from the North Für sein neuestes Album hat sich der dänische Songwriter und Gitarrist Tim Lothar mit dem norddeutschen Harpspieler Holger Daub zusammengetan. „Blues From The North“: Nicht nur für dieses Album ist das der passende Titel. Man könnte eigentlich alle Songs von Lothar darunter fassen. Denn so wie seine Kollegen Mark Harrison oder Half Deaf Clatch aus Großbritannien oder Greyhound George aus Deutschland erzählt er in ganz klassischem Sound Geschichten, die mehr in Dänemark als dem Mississippi-Delta beheimatet sind. Wer sich regelmäßig auf den Seiten der Blues Foundation über die Teilnehmer bei der International Blues Challenge 2014 informiert, konnte letztens eine Überraschung erleben: Neben dem Mike Seeber Trio (Sieger der letzten German Blues Challenge) hat der Baltic Blues e.V. auch Tim Lothar nominiert in der Kategorie Solo/Duo. Ich vermute mal, dass darüber demnächst wieder lautstark protestiert werden dürfte. Ein deutscher Verein nominiert einen Dänen? Rechtlich ist das völlig in Ordnung: Lothar ist mit seinen Liedern in seiner dänischen Heimat ja schon mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden. Und das qualifiziert ebenso zu einer Teilnahme wie der Sieg bei einem Wettbewerb. Nur hat in Dänemark scheinbar noch nie ein Verein den Versuch gestartet, eigene Teilnehmer zu dieser inofiziellen Blues-WM zu schicken. Das gemeinsame Album Lothars mit Holger Daub bringt dann auch die nach außen sichtbare deutsche Komponente hinzu. Zu zweit werden sie auch in Memphis auf die Bühne gehen. Abgesehen davon ist „Blues From The North“ natürlich auch noch ein gewohnt hervorragendes Album geworden: Diese Lieder, die Lothar schreibt, zählen zum besten, was der akustische Blues in Europa momentan anzubieten hat: Zeitgenössisch in den Themen, musikalisch der Tradition verhaftet. Und in der klassischen Duo-Variante eine Steilvorlage, Parallelen zu den anderen großen Akustik-Duos nach Terry&McGhee zu ziehen. Aber eigentlich braucht es diese Superlative nicht. Ich vermute auch, dass diese so grundehrliche Musik in dem Wettbewerb von Memphis nicht so viele Chancen hat. Dafür ist Lothar einfach viel zu bescheiden auf seinen Alben. Genau das hat Beate „Blues Bea“ Grams mit ihrem Titelfoto hervorragend eingefangen. Aber man kann nie wissen: Wenn Michael van Merwyk eine Topposition mit seiner so europäisch geprägten Rootsmusik erlangen konnte, ist eigentlich alles möglich. Raimund Nitzsche Tommy Keys - Devil‘s Den Soulblues, klassischer Rhythm & Blues und Pianoblues - Tommy Keys hat auf „Devils Den“ seine musikalischen Vorlieben ver- 72 © wasser-prawda Platten sammmelt. Und das Album ist eine Empfehlung nicht nur für Freunde gepflegter Keyboardklänge im Blues. Der Boogie rollt bei Songs wie „You Don‘t Deserve A Thing“, „Down And Dirty“ oder dem äußerst gelungenen Cover von „Mess Around“ klassisch über die Klaviertastatur. Hinzu kommt bei letzterem noch eine deftige Bluesharp - hier ist der Song wieder ganz zurück im Bluesclub gelandet. Melancholisch wirds bei „Life Is Too Short“. Hier könnte man sich an Thomas Stelzer oder andere hiesige Bluespianisten erinnert fühlen. Und wenn dann das Klavier von einer Slide-Gitarre begleitet wird wie in „What To Do About Love“, dann könnte man die Musik auch gerne in einem Country-Laden spielen. Tommy Keys ist erfrischend vielseitig und nicht nur als Pianist sondern auch als Sänger äußerst angenehm zu hören. Und so ist „Devil‘s Den“ ein weiteres empfehlenswertes Album für Anhänger des Bluespianos. Nathan Nörgel Van ChrisƟan - Party Of One Neben 2Hurt hat Cactus Rock Records noch einen weiteren Künstler verpflichtet, den man als willkommene Verstärkung der Kernkompetenzen des umtriebigen Labels begreifen kann: Van Christian hat mit „Party of One“ ein Rockalbum irgendwo zwischen Wüstenrock, Bob Dylan und dem elektrischen Neil Young vorgelegt. Melancholisch der Beginn: „Push Comes To Showe“ fängt an wie vom grad elektrifizierten Dylan inspiriert. Countryrock nannte man das in den 70ern. Heute sagt man Americana dazu. Doch wie auch immer: Das ist ein Lied, dass sich nachhaltig in den Gehörgängen festsetzt. Und auch wenn dann bei „One Hit Of Love“ heftige Gitarren und eine verzerrte Stimme eher an die White Stripes gemahnen, das Gitarrensolo auch von der klassischen Zeit von Captain Beefheart stammen könnte, bleibt diese Grundstimmung erhalten. „All Resolve“ ist folkiger aber nicht weniger träumerisch von der Grundstimmmung her. Normalerweise zähle ich zu den Rezensenten, die gierig jede mögliche biographische und geographische Hilfe aus Pressetexten aufsaugen und sie als Koordinaten für die Beurteilung der Musik einsetzen. Hier fehlt mir das. Und genau das ist auch gut so. Denn zu viele Vergleiche verwirren mehr als das sie helfen. Und sie verstellen den eigentlichen Blick auf die Musik. So kann man als Fazit zu „Party of One“ ganz einfach und ungeschützt sagen: Hier ist ein sehr klassisches Rockalbum entstanden, voller Anspielungen auf die vergangenen Jahrzehnte, das dennoch von einer Eigenständigkeit und Persönlichkeit zeugt, die man heutzutage viel zu selten findet. Faszinierend! (Cactus Rock Records) Raimund Nitzsche © wasser-prawda 73 Platten Kurz & knapp Kaz Hawkins - BeƩer Days (EP) Jahrelang sang sie als Mama Kaz in der Bluesszene von Nordirland. Mit „Better Days“ will sich Sängerin/Songwriterin Kaz Hawkins jetzt als Solistin präsentieren. Vier Lieder, die den Schwerpunkt ganz auf die faszinierende Stimme der Sängerin und auf das Piano oder die Keyboardsounds des erst 19jährigen Robb Montgomery legen. Das hier ist nicht der klassische Pianoblues. Das sind auch nicht die Songs, die man etwa bei Queens wie Koko Taylor erwarten würde: Die Stärke von Kaz Hawkins als Sängerin und Songwriterin liegen bei Balladen wie „I Saw A Man“ oder „Because You Love Me“, wo sie die ganze Bandbreite der Emotionen zwischen Kraft und Resignation, zwischen Widerstand und Melancholie zum Klingen bringen kann. Nur vom sich immer weiter in Extase spielenden Klavier begleitet entstehen Dramen, die direkt ins Herz gehen. Jeglicher Bombast, jegliche Versuchung nach den fetten Streichern würde diese Stücke die Klippe in den Abgrund des Kitsch hinunter stürzen. Das merkt man schon bei „Sleep In Peace“, wo das Klavier leichte synthetische Unterstützung bekommt. Beim Titelsong wird dann zum Glück gleich ganz auf den fetten Orgelsound gesetzt und das Kinderklavier des Anfangs aufgefangen in einem regelrechten Gospelfeeling. Ich bin gespannt, was von Kaz Hawkins in den nächsten Monaten noch zu hören sein wird. Sie ist eine faszinierende Sängerin, keine Frage! - und auch diese Botschaft findet sich auf der amüsanten Scheibe - werde ich mir „Love“ auf eine Hand tätowieren lassen. Menschen, die das tun, könne man keinesfalls trauen, meinen LaVendore Rogue. Denn garantiert wäre dann die andere Hand voller Hass... Ich warte mal das erste Album ab. Und vielleicht ist dann auch der riffgetriebene Voodoo-Blues zu hören. Auch wenn die Americana-Mucke schon mal nicht schlecht ist. Aber als Bluespfaffe muss ich drauf bestehen, dass Blues drin ist, wenn das jemand behauptet! LiƩle Wild - Victories Früher nannten sie sich „Rags To Radio“. Heute firmieren die kanadischen Rocker als Little Wild und veröffentlichen mit „Victories“ ihr Debüt voller Mitsinghymnen. Musikalisch ist das ein gehöriger Schritt: Vom rockenden Retroswing der EP „With Gratitude“ hin zum Indierock von „Victories“: Rags To Radio haben gut daran getan, sich einen neuen Bandnamen zu suchen. Und auch wenn ich lieber mehr Musik im Stile der von mir verehrten Retro-Swing-Rocker a la The New Morty Show oder Royal Crown Revue gehört hätte, macht dieses Debüt unter neuem Namen doch gehörigen Spaß: Der Garagenrhythmus knallt stoisch rein, die Gitarren machen Dampf und so ziemlich jedes Lied hat Refrains zum Mitsingen: Hier herrscht purer Spaß am heftigen Abrocken ohne nur undifferenzierten Krach zu fabrizieren. Auch wenn die Gitarren gerne auch bis zum Extrem verzerrt werden und die Verehrung für die Helden in der Nachfolge von Jimi zum Ausdruck bringen. Und wenn dann ab und zu auch LaVendore Rogue - What‘s The Medie Trompete und Posaune ausgepackt werden oder ein Banjo Oldtime-Feeling verbreitet, ist aning Of ... (EP) plötzlich der Abstand zur Swing-EP doch nicht Noch recht neu in der britischen Szene sind mehr so weit. Reinhören lohnt also durchaus. LaVendore Rogue. Mit „What‘s The Meaning Empfehlenswert besonders die wundervoll rotziOf...“ hat die fünfköpfige Band ihre erste Ver- ge Coverversion von „Money“. öffentlichung vorgelegt und reklamiert für sich eine Mixtur aus Voodoo-Blues, Roots und Ame- Raina Rose - Caldera Kann man als glücklicher Mensch wirklich gute ricana. Ok, diese Botschaft musste unbedingt unter Popmusik schreiben oder kommt man unwilldie Meute: Gangster, Diebe und Räuber sind kürlich sofort in den Bereich billiger Schlager? eigentlich alle tief im Herzen nur Familien- Raina Rose, die sich selbst gern als unbekannte menschen. Das Lied dazu geht voll in Ordung: Folksängerin bezeichnet, hat mit ihrem aktuelrotziger Country-Rock mit Wiedererkennungs- len Album „Caldera“ eine Sammlung von Liewert. Auch die anderen Lieder der EP sind mehr dern vorgelegt, die in ihrer Ruhe und Direktheit Country/Americana als Blues. Aber ihnen man- zeigen, wie es geht. gelt es für mich meist noch ein wenig an der Un- Ok, manche Sätze sind einfach Klischees: Wenn verwechselbarkeit. Aber vielleicht sollte ich mir Raine Rose singt „Woman is made to cry, man für‘s Hören doch erst noch einen Stetson und is made to lie“ („Swing The Gates Wide“), dann entsprechende Boots zulegen. Auf keinen Fall liegt dieser Vorwurf auf der Hand. Doch wer- 74 © wasser-prawda Platten den diese Sätze aufgefangen in verträumten und wie beiläufig dahinziehenden Melodien, die zartester Folkpop sind. „Caledera“ ist ein Album, um dabei stundenlang zu träumen. Es ist eine Scheibe, mit der man selbst Fans von Katie Melua davon überzeugen kann, das es immer noch besser und kitschfreier geht, ohne gleich in intellektuelle Höhen zu entschweben. „Caldera“ ist ein träumerisch schönes Folkpopalbum. Nicht mehr - nicht weniger! Roadhouse - Gods & Highways & Old Guitars Das Leben muss sich irgendwo da draußen abspielen: Dort zwischen schmierigen Diners, der nächsten Reifenpanne und der Suche nach dem übernächsten Gig. Roadhouse haben dieses Lebensgefühl in Lieder gepackt, die man am Einfachsten als Americana bezeichnen kann: Country, Bluesrock und jede Menge Sehnsucht werden zusammengemixt. Und alte Gitarren singen von Highways, der Hölle auf Rädern und der ewigen Sehnsucht nach Erlösung. Nein, mit Romantik hat das Leben auf Tour heute nur noch selten zu tun. Wer ständig auf Achse ist, wird sein Wohnmobil irgendwann als Hölle verfluchen. Und den Fraß, der einem als Essen gereicht wird ebenso. Aber letztlich kann man es sich kaum leisten, zu einem Gig Nein zu sagen. Und so macht man halt weiter. Schließlich hat man ja sein eigentliches Zuhause längst aufgegeben für die Musik. Es ist ein traurig-schönes Album, was Roadhouse hier veröffentlicht hat. Bei aller Traurigkeit, der ins Ohr springenden Melancholie ist doch nirgendwo Verzweiflung zu spüren sondern eine Hoffnung, dass doch noch irgendwo auf diesen Straßen das wirkliche Glück gefunden werden kann. Róisin O- The Secret Life of Blue Man nehme eine wundervolle, gerade in ruhigen Momenten vor Gefühl strahlende Stimme und ein reiches musikalisches Erbe. Das sind die Voraussetzungen für die irische Sängerin Róisin O. Ihr Debüt ist ein Popalbum von der melancholischeren Sorte, etwas, was Plattenfirmen gerne im Spätherbst veröffentlichen, weil es so gut zu Nebel, herbstlicher Kälte und früher Dunkelheit passt. Und da kann diese Sängerin auch am besten ihre Stärken als Balladensängerin zur Geltung bringen. Insgesamt aber ist mir dieses Debüt ein wenig zu gefällig, bietet zu wenige Kanten, die sich in der Erinnerung festhaken könnten. Die Vergleiche der irischen Presse mit Joni Mitchell oder © wasser-prawda Kate Bush sind da viel zu hoch gegriffen. Doch ich denke mal, dass man in kommenden Jahren von dieser Sängerin noch wesentlich mehr hören wird. Und ich bin schon gespannt darauf. The Harmed Brothers - BeƩer Days Americana vom Feinsten findet sich auf „Better Days“, dem aktuellen Album von The Harmed Brothers. „Lady Love when you see me, won‘t you reach out your hand“ - es ist so verdammt schwer in dieser Welt, die wirkliche Liebe zu finden. Schon zu Anbeginn der Musik war das - natürlich neben der Musik im Gottesdienst - der Hauptzweck. The Harmed Brothers singen ihre Country-Songs deswegen. Und die sind in ihrer scheinbaren Einfachheit hörenswert. Natürlich auch, weil die „Brüder“ Ben und Zach Kilmer und Ray Vietti und Alex Salcido einen großartigen Satzgesang zelebrieren und mich von fern immer wieder an die Jayhawks und ähnliche Americana-Bands erinnern. Keine Angst vor Gefühlen - aber kein bisschen Kitsch in den Liedern oder dem Gesang, könnte man die Lieder beschreiben. Und da ist es egal, ob sie die Lady Love besingen oder den Staat Carolina, nach dem sie sich sehnen. Beides geschieht mit der gleichen Intensität. The Pepper Pots - We Must Fight Sie singen wie die Girl Groups in den 60ern. Doch „We Must Fight“ von The Pepper Pots ist politisch engagierter Soul des 21. Jahrhunderts. Sie singen von guten Zeiten, von notwendigen Revolutionen und der Notwendigkeit zu kämpfen für das, was einem wichtig ist. Doch so schnell bekommt man das nicht mit, wenn The Pepper Pots zu singen beginnen. Denn unwillkührlich denkt man hier zuerst an die Girl Groups von Motown in den frühen 60er Jahren. Und für die waren politische Themen noch lange tabu. Deren Themen war die Liebe und das Glück und nicht der Aufruhr. So ergibt sich aus Form und Inhalt eine reizvolle Spannung, die in der heutigen Retro-Soul-Szene einzigartig ist: Perfekt polierter Soulpop, der auch für den Fernsehgarten tauglich wäre und gleichzeitig der Aufruf zum gemeinsamen Kampf. Das ist mehr als faszinierend. „We Must Fight“ - absolut empfehlenswert! 75 Platten Wiederveröffentlichungen, Klassiker, Vergessenes Wiederhören Fleetwood Mac - Then Play On (Expanded & Remastered) Bei „Then Play On“ war das „klassische“ Line-Up komplett: Erstmals war Danny Kirwan als dritter Gitarrist neben Peter Greene und Jeremy Spencer mit im Studio dabei. Und gleichzeitig bildet dieses 1969 erschienene Album den Schlusspunkt dieser großartigsten der britischen Bluesbands der 60er. Denn wenig später verließ Greene die Band. Die Alben, die Fleetwood Mac bei Reprise veröffentlichten, haben bei Wiederveröffentlichungen zu lange ein Schattendasein geführt: CDs erschienen mit wahllos variierenden Tracklisten, die Soundqualität war bescheiden. Und alles erschien mehr oder weniger lieblos zusammengeschustert. Für „Then Play On“ war eine ordentliche Neuausgabe daher längst überfällig, finden sich doch hier einige wundervolle Lieder aus Greens Feder wie „Coming Your Way“ oder „Searching For Madge“. Die hier vorliegende Edition bringt das Album konsequent mit dem Tracklisting der englischen Originalveröffentlichung. Damit sind darauf erstmals auch „One Sunny Day“ und „Without You“ darauf, die bei amerikanischen Versionen weggelassen wurden. Als Erweiterung wurden zwei Singles beigefügt, die zu den Standards im Werk dieser Band gehören: „Oh Well“ (von dem mir Part 2 von der B-Seite bislang völlig unbekannt war) und „Green Manalishi“/“World in Harmony“. „Then Play On“ ist musikalisch eines der vielseitigsten Alben der frühen Fleetwood Mac. Der Blues wird hier immer wieder zu Gunsten von Rock & Roll, Pop oder auch lateinamerikanischen Rhythmen verlassen. Und so ergibt sich eine Mixtur, die auch heute noch faszinieren kann. Denn komischerweise scheinen die Lieder einfach keinen Staub ansetzen zu können und klingen noch so frisch wie damals, als ich erstmals merkte, dass die Geschichte der Band vor ihrer Neuerfindung als kalifornische Pop-rocker einfach viel spannender war.Ärgerlich allerdings, dass auch hier mal wieder als Grundlage der Wiederveröffentlichung nicht die originalen Masterbänder sondern eine mangelhafte LP-Fassung verwendet wurde. Wo sind die Originale? Und warum werden sie nicht endlich aus den Tressoren geholt? Nathan Nörgel The South Side of Soul Street - The Minaret Soul Singles 1967-1976 Seine Anfänge hatte das Label Minaret mit Country in Nashville. Später allerdings wurde es von seinen Besitzern nach Florida verlagert und veröffentlichte Southen Soul jenseits von Memphis und Muscle Shoals. Das Doppelalbum „The South Side of Soul Street“ vereinigt Singles von solch vergessenen Künstlern wie Big John Hamilton, Leroy Lloyd And The Dukes oder Willie Gable. Florida gehört für die meisten Hörer nicht unbedingt zu den Hochburgen des klassischen Soul. Doch wie man bei Minaret Records hören kann, wurden auch dort Musiker wie Ray Charles, 76 © wasser-prawda Platten Otis Redding, Aretha Franklin oder Carla Thomas verehrt. Nur dass Musiker wie Big John Hamilton niemals den Sprung über die Heimatregion geschaff t haben und damit heute bestenfalls als Fußnoten der Soulgeschichte Erwähnung finden. Dass diese Fußnoten aber für Fans spannender sind, als zum 2000. Mal über die big names zu lesen, ist ebenso klar. Das dürfte der Grund sein, weshalb Omnivore Records sich dem Label gewidmet und 20 Singles mit A&B-Seiten auf zwei CDs gepackt hat. Manche nennen die auf Wiederveröffentlichungen spezialisierte Firma gar „the Smithonian of record lables“ wegen der Forschungs- und Veröffentlichungsarbeit im Dienste kleinster Lables der Geschichte. Ähnlich wie Seelenverwandte bei Tramp Records in Deutschland geht es um die Erhaltung von Musik, die schon damals eigentlich zu gut war, um lediglich in Kleinstauflagen in regionalen Fankreisen Verbreitung zu finden. Eine eindeutige Empfehlung für Freunde klassischer Soulsounds und swingendem Rhythm & Blues! Nathan Nörgel Wanda Jackson - The Best of The Classic Capitol Singles Als Teenager feierte sie ihr Debüt im Country-Radio. Später sang sie christliche Lieder. In der Zwischenzeit traf Wanda Jackson auf Elvis und wurde zur noch heute gefeierten „Queen of Rockabilly“. Die besten Aufnahmen dieser Zeit entstanden für Capitol. Und 29 Nummern von ihren damaligen Singles sind jetzt für ein Album zusammengefasst worden. Selbst mit fast 80 Jahren rockt Wanda Jacksonn immer noch. Auch wenn manche Kritiker das von Jack White produzierte Album zu fern von ihrer eigentlichen Kernkompetenz halten: Der Produzent hat diese große Dame des Rockabilly endlich wieder einer jüngeren Generation von Rockern in Erinnerung gerufen. Warum sie zeitweilig als einzige weibliche Konkurrenz für den jungen Elvis angesehen wurde, kann man auf der Sammlung von A und B-Seiten von Capitol-Singles nachvollziehen. Da finden sich einerseits wilde Tanzflächenfeger, die auch 2013 noch keinerlei Staub angesetzt haben und die allen heutigen Rockabillies als Blaupause gelten können. Da sind Nummernn von Elvis ebenso zu finden wie Stücke, die von The Cadillacs gesungen wurden, Jazz-Stücke ebenso wie klassischer Rhythm & Blues. Und all das hat sie auf ihre Art in heftigsten Rock & Roll mit jeder Menge Country-Sentiment verwandelt. Besonders zum Tragen kommt der Country bei den auf den B-Seiten zu findenen Balladen wie der Hillbilly-Tragödie „No Wedding Bells For Joe“. Es ist wirklich spannend, wie damals für Singles derartig verschiedene Songs kombiniert wurden: „Riot In Cell Block No. 9“ wurde gepart mit einem Heuler wie „Little Charm Bracelet“, „Fujiyama Mama“ mit „(Every Time They Play) Our Song“. Schon 1956 waren sich die PR-Leute bei Capitol unsicher, wie man diese Powerfrau und ihre Musik verkaufen sollte. Einen Rocker wie den als Opener auf dieser Sammlung zu findenden Song „I Gotta Know“ kündigten sie an als „Jumping rock-n-waltz noverlty“. Und der macht heute noch gewaltigen Spaß. Auch wenn man dazu statt Walzer lieber Rock & Roll tanzen mag. Raimund Nitzsche © wasser-prawda 77 Bücher Julius Fischer: Die schönsten Wanderwege der Wanderhure Voland & Quist 2013 154 S. 14,90 Euro ISBN 978-3-86391-034-1 Echt jetzt? Im letzten Herbst erschien bei Voland und Quist ein neues Buch mit Texten des Bühnenpoeten Julius Fischer. Die schönsten Wanderwege der Wanderhure ist der Titel, der groß auf einen Wegweiser geschrieben auf dem Cover prangt und dessen UnterƟtel schlicht, aber vielsagend kein historischer Roman lautet. Von KrisƟn Gora. Bereits das Cover zeigt deutlich, worum es in dem Buch geht. Nämlich zumeist auch um das, um was es nicht geht. Verwirrend? Julius Fischer provoziert und seziert Erwartungen, um mit ihnen zu spielen oder sie gleich kunstvoll zu zerstören. Julius Fischer wurde 1984 in Gera geboren und lebt heute in Leipzig – und das viel lieber als in Berlin, weil man dort nicht die 78 © wasser-prawda Bücher ganze Zeit von Leuten umgeben ist, „die alles schon wissen und alles schon kennen“. Als Dichter für die Bühne reist er trotz der schönen Heimat quer durch den deutschsprachigen Raum und ist auch Teil der Berliner Lesebühne Lesedüne. Aber nicht nur dort, sondern auch in Dresden bei Sax Royal, wie auch in Leipzig als Mitbegründer der Lesebühne Schkeuditzer Kreuz gehört er zum Inventar. Als Teil des Slam-Duos Team Totale Zerstörung konnte er einige Titel nach Hause tragen und The Fuck Hornisschen Orchestra ist im deutschen Kabarett kein unbekanntes Phänomen mehr. Julius Fischers Lebenslauf kann man aber auch wunderbar literarisch verpackt in seinem Buch nachlesen: „Meine Lebensgeschichte würde sich, von mir aufgeschrieben, anhören wie der Polizeireport über einen ruhigen Abend in einem Dorf in Bayern.“ Ganz anders das Tempo seiner Texte. Wer ihn schon einmal live erlebt hat, wird bei der Lektüre manchmal bedauern, dass er nicht so schnell lesen kann wie Julius Fischer vorlesen. Er schreibt konsequent Texte, die auf eine gewisse Performance nicht verzichten möchten. Dank der beigelegten CD kann man sich einen Eindruck davon machen. Sie macht sehr deutlich, welche Bedeutung der mediale Kanal für die Textrezeption hat. Auf der CD finden sich neben gelesenen Texten aus dem Buch auch Geschichten, die keinen Platz im Band fanden, sowie Lieder und ein hörspielartig inszeniertes Stück. In seinen Geschichten prallt „intellektueller Studentenscheiß“ auf kotzende Prolls, Kabarettistisches ala „Nie Berufliches und Privates mischen – Das weiß mittlerweile sogar die CSU“ auf popkulturell geprägte Alltagsanalysen. Dabei bedient er sich verschiedener Modi des Reflektierens, Zitierens, der Zuspitzung und Übertreibung, wobei die Grenze zwischen effekthaschendem Geschwätz und wirklich intelligenter Unterhaltung manchmal nicht ganz so eindeutig zu ziehen ist. Wahrscheinlich hängt das ganz davon ab, ob die Leserin oder der Leser sich eher auf die Seite des gelangweilten Prolls schlägt oder die des leicht gereizten Intellektuellen, die sich als Typen durch die Texte ziehen. Der Ich-Erzähler der meisten Texte ist der Kategorie gereizter Intellektueller zuzuordnen, der gekonnt mittels bildungsbürgerlichen Wissenssplittern die Welt des gelangweilten Prolls kommentiert – und seine eigene. Mit feinem Gespür für allerlei verbalen Unsinn und Doppelsinnigkeiten fallen Fischers Texte nicht in den Strudel des Banalen, wenngleich man das von den erzählten Geschichten schon eher behaupten könnte. Wer Suhrkamp als „Titanic der Großverlage“ bezeichnet und Heiner Müller und David Foster Wallace zitiert, kann für den gekonnten Balanceakt letztlich nur gelobt werden. Schenken die Menschen Richard David Precht wirklich mehr Vertrauen als der Kirche? Wie ist in einer Zeit der Omnipräsenz der social-networks ein Satz wie „Wir sind, was folgt!“ zu bewerten? Und: Hilfe, was würdest du machen, wenn dein Hund mitten im Elektrofachgeschäft einfach stirbt? Dies sind nur einige der Fragen, mit denen Julius Fischer seine Leserschaft zurücklässt. Etwas ratlos, aber stets amüsiert und mit Lust auf mehr. Seine Themen sind direkt aus dem Leben gegriffen und dabei doch immer irgendwie unwirklich. So absurd komisch, das am Ende oft nur eine Frage steht: Echt jetzt? © wasser-prawda 79 Bücher John Powell - Was Sie schon immer über Musik wissen wollten. Alles über Harmonien, Rhythmus und das Geheimnis einer guten Melodie. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Hein 4. Auflage Rogner & Bernhard 2013. ISBN: 978-3-945403-031-6 Physikalisch-psychologische Entzauberung Was ist eigentlich Musik? Und was unterscheidet sie von anderen Geräuschen? John Powell geht von Physik und Psychologie aus, um möglichst allgemein verständlich das Wesen der Musik zu erklären. Nach dem Lesen seines Werkes hat man eine Menge Wissen erlangt und jede Menge Spaß bei der Lektüre gehabt. So sollte man Sachbücher eigentlich immer schreiben. Von Raimund Nitzsche. W enn von Musik geredet wird, dann wird die Sprache oft blumig und abgehoben. Wie eigentlich bei allen Künsten 80 © wasser-prawda Bücher üblich, hebt man sie auf ein Podest, wer Musiker ist, erhält leicht einen Promibonus, Dirigenten, Komponisten und Solisten werden Gegenstand öffentlicher Verehrung, die schnell religiöse Züge annimmt. Höchstens die Vertreter der Unterhaltungsmusik werden leichter abgekanzelt, wenn sie nicht den Status der unangreifbaren Kanonizität erreicht haben. Das alles ist völliger Nonsens, meint John Powell. Musik besteht zu allererst aus Tönen. Und die sind wie alle Geräusche zunächst mal mit physikalischen Begriffen greifbar. Vom einfachen Ton bis hin zu Harmonien, Tonleitern und komplexen Kompositionen zerlegt er in seinem Buch die hohe Kunst konsequent auf ihre Substanz. Und er schafft in seinem lockeren Plauderton ein Grundlagenwerk, dass vor allem für Menschen gedacht ist, die sich bislang für völlig unmusikalisch halten, denen der Musikunterricht in der Schule fehlte oder sie zum Tiefschlaf brachte. Bei der Lektüre kann man nun nicht nur lernen, wieso verschiedene Instrumente verschieden klingen oder warum Harmonie und Kakophonie oft nur Halbtonschritte auseinander sind. Powell versucht auch, Menschen jeden Alters zu ermutigen, sich selbst an Instrumenten zu versuchen und Spaß an der Musik zu finden. Auch wenn er natürlich Angst davor hat, dass einer seiner Nachbarn sich entschließen könnte, etwa mit dem Posaunenspiel zu beginnen. Wahrscheinlich hat er noch nie erlebt, welchen Krach auch Beginner auf dem Saxophon zunächst in die Umwelt entlassen, ehe sie sich mit Meistern wie Charlie Parker oder Coleman Hawkins messen können. Das ist mindestens ebenso übel. All das Gerede von Unmusikalität hält er ebenso für kompletten Nonsens wie etwa die Debatte über die verschiedenen klanglichen Eigenschaften bestimmter Dur-Tonarten: All das ist purer Nonsens. Und so könnte man sein Werk als Anleitung zum bewussteren Musikhören und -spielen begreifen und dafür, wie man seinen eigenen Horizont erweitern kann. Selbst wer schon eine gewisse musikalische Grundbildung genossen hat, wird nicht umhin kommen, bei der Lektüre das eine oder andere Mal zu Stutzen und neue Erkenntnisse dem eigenen Weltbild hinzu zu fügen. Bislang etwa war mir nicht klar, dass die mathematischen Grundlegungen für die „wohltemperierte“ Stimmung von Galilei und einem chinesischen Mathematiker fast gleichzeitig gefunden worden waren. Für mich steht am Anfang immer gleich das „Wohltemperierte Klavier“ über dessen erstes Präludium in CDur ich bei allem Bemühen nie hinaus gekommen war in meinem jahrelangen Klavierunterricht. Vor allem Anhängern der klassischen Musik und des (von ihm selbst geliebten) komplexeren Jazz als Kunstform dürfte die Respektlosigkeit des Autors sauer aufstoßen, mit der er die hohe Kunst auf die gleiche Ebene zurückführt wie die schnöde Popmusik: Auch hier gelten letztlich die gleichen Regeln der Physik, der Harmonik und der Komposition. Nur dass „klassische“ Komponisten ihre musikalischen Ideen oftmals so komplex anlegen, dass man ihrer Schönheit erst nach mehrmaligem Hören auf die Schliche kommen kann. Popmusiker hingegen legen es eher drauf an, innerhalb von drei Minuten einen Hit zu basteln, der sofort ins Ohr geht und die Menschen zum Kauf der Single anregt. Richtiges Musikhören lernt man seiner Meinung nach nur, wenn man seinen Horizont immer wieder erweitert. Nur im Vergleich mit anderen Stilen kann man seine Vorlieben genauer verstehen. Und eine breitere Bildung hat schließlich noch niemandem geschadet. © wasser-prawda 81 Sprachraum Alexander Moszkowski - Der Neurosenkavalier Eine Wiener Markerade, frei nach der berühmten Oper Alexander Moszkowski (1851-1934) Der in Pilica (Polen) geborene Schriftsteller gehörte bis in die Zeit der Weimarer Republik zu den bekanntesten Satirikern. Unter anderem schrieb er zwischen 1877-1886 für die von Julius Stettenheim gegründeten „Berliner Wespen“. Später gründete er mit den „Lustigen Blättern“ seine eigene Satirezeitschrift. Daneben verfasste er auch utopische Romane („Die Inseln der Weisheit“) oder mit „Einstein - Einblicke in seine Gedankenwelt“ eine der ersten populärwissenschaftlichen Einführungen in die Relativitätstheorie. „Der Neurosenkavalier“ erschien in der 1917 veröffentlichten Sammlung „Die Ehe im Rückfall und andere Anzüglichkeiten“. 82 ( Szene: Im Schlafzimmer der Feldmarschallin.) Oktavian: Wie du warst! Wie du bist! Das weiß niemand, das ahnt keiner! Marschallin: Du irrst dich, Bubi. Das ahnt jeder, das weiß jeder, der eine angejahrte Fürstin in zärtlichem Geplauder mit einem jungen Herrchen sieht, das Mezzosopran singt. Erstens ahnt man und weiß man, daß hier das gefährliche Alter mitspielt; zweitens, daß Hugo von Hofmannsthal, weil er hier ohne Sophokles arbeitet, sich seine Kompagnieschaft anderswoher besorgen muß. Ich zum Beispiel, die ich beabsichtige, auf meine Liebe zugunsten einer jüngeren zu verzichten ... Oktavian: Ach, ich weiß schon: du stammst aus »Sodoms Ende« von Sudermann; das macht die Frau Ada ja ebenso. Marschallin: Richtig. Und du selbst, Bubi, Sopranistin im Kavalierskostüm, die sich nachher wieder als Mädchen verkleidet, du hast früher als Page Cherubim in »Figaros Hochzeit« gedient. Oktavian: Aber seitdem ist die Entwicklung mächtig über mich gekommen. Den Mozart habe ich mir gründlich abgewöhnt. Marschallin: Ebenso wie der Falstaff, der nachher auftreten soll, den Nicolai und Verdi abgestreift hat. Oktavian: Was du sagst, Geliebte! Ein Falstaff kommt auch vor? Marschallin: Gewiß doch! Wir sind doch hier die lustigen Weiber von Wiensdor. Und auf Grund dieser drei bekannten Figuren und Motive spielen wir nunmehr die herrliche Oper von Strauß. Oktavian: Gott, wie originell! Heißt denn diese dritte Person wirklich Falstaff ? Marschallin: Nein, so komisch geht es hier nicht zu. Er heißt Ochs von Lerchenau. Übrigens hat der erste Falstaff doch noch immer einen Anstrich von Noblesse, während dieser Ochs sich wie ein Viechskerl erster Klasse benimmt. Da er hier sofort auftrampeln wird, hast du dich hinter einen Vorhang als meine Zofe umzukleiden und Mariandl zu heißen. Oktavian: Und auf diesen steinalten Bühnentrick soll er hereinfallen? Marschallin: Nicht bloß der Ochs, sondern das ganze Premierenpublikum. Weil die Musik dazu vom Komponisten der »Elektra« ist, weil Elektra mit Sophokles zusammenhängt, weil Sophokles zum klassischen Altertum gehört, und weil trotzdem hier ein Wiener Walzer vorkommt. Oktavian: Diese moderne Kunstästhetik schmeckt nach Neurose. (Ab hinter den Vorhang.) Marschallin: So ist es, lieber Neurosenkavalier. Der Baron Ochs (tritt auf): Was mich hierher führt? Erstens will ich meine Verlobung mit der steinreichen Sophie Faninal anzeigen; zweitens will ich in Gegenwart der Frau Fürstin mit dero Zofe scharmutziern; und drittens will ich mich dabei so schafsdämlich und klotzig betragen, daß fünfzig Opern drüber durchfallen könnten, wann se nit von Strauß komponiert wär‘n. Marschallin: Mariandl, komm‘ Sie her. Servier‘ Sie Seiner Liebden. © wasser-prawda Sprachraum © wasser-prawda 83 Sprachraum Baron Ochs (zur vermeintlichen Mariandl): Süßer Engelschatz, sauberer, hätt‘ Sie Lust, mit mir in einem Chambre séparé zu sumpfen? Oktavian (als Zofe): Ich weiß nicht, ob ich das darf. Der Souffleur: Lokalkolorit! Weanerisch reden! Oktavian (sich verbessernd): I weiß halt nit, ob i dös derf. Stimme im Parkett: Also hören‘s, die Stelle allein entschädigt für zwanzig Mark Entree. Stimme im ersten Rang: Die Fledermaus ist ein Flederhund dagegen! Hier offenbart sich der echte Wiener Hamur! Stimme auf der Galerie: An Tusch für Nestroy! Baron Ochs: Außerdem handelt es sich um eine hochadelige Gepflogenheit: ich brauche für meine Verlobte, Jungfer Sophie Fananal einen Bräutigamsführer, der ihr die neusilbernen Rosen überbringt. Und deshalb bitte ich Sie, liebe Marschallin, mir einen solchen Neurosenkavalier zu verschaffen, nämlich einen blutjungen und bildhübschen Kerl, Hosenrolle, der mich saudummes Luder bei meiner Braut sofort dermaßen blamiert, daß der zweite Akt möglich wird. Marschallin: Dann brauchten wir ja diesen zweiten Akt erst gar nicht zu spielen. Baron Ochs: Und den dritten Akt noch weniger, dessen Pointe darin besteht, daß ich meine Perücke stundenlang nicht finden kann. Darüber lacht sich außer Herrn Hofmannsthal doch kein Mensch halbtot. Marschallin: Es wird ja ohnehin in dieser Oper von Tag zu Tag soviel gestrichen, daß der Intendant hierfür bereits ein extra Streichorchester angeschafft hat. Bis jetzt sind schon dreiviertel Stunden herausgebracht, und man verspricht sich den größten Effekt davon, wenn aus diesem Gesamtkunstwerk alles Überflüssige entfernt ist. Oktavian: O je, da spielen wir ja die ganze Kummedi in fünfzehn Minuten! Marschallin: Alles, was fehlt, ist ein Glück. Auf dem Zettel befinden sich noch zwei ekelhafte Italiener; wenn die erst herausgestrichen sind, fordern die Billetthändler das Doppelte. Baron Ochs: Aber die Übergabe der Rosen muß stehen bleiben, denn das ist eine uralte Wiener Kavalierssitte, die bis auf König Pharao zurückgeht. Und auf das Frauenterzett verzichten wir auch nicht, weil da plötzlich zur ungeheuren Überraschung aller Hörer Musik vorkommt. Marschallin: Das sind so Entgleisungen, die heutzutage bei den besten und berühmtesten Komponisten vorkommen. Oktavian: Selbst bei den Kakophonikern von Gottes Gnaden. Sie vergreifen sich ab und zu in den Mitteln und geraten dann plötzlich in einen wahren Morast von Wohlklängen. Sophie (eintretend): Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Terzett die dritte. Marschallin: Gut, daß Sie kommen, liebe Faninal. Das kürzt enorm. Da kann ich das Mariandl gleich mit der Sophie verloben, und dem dreistimmigen Vokalsatz steht nun nichts mehr im Wege. Oktavian-Mariandl: Also setzen wir jetzt unser Frauenstimmrecht durch! Baron Ochs: Darf ich nicht mitsingen? 84 © wasser-prawda Sprachraum Marschallin: Das dürften Sie, wenn Sie statt eines Ochs von Lerchenau eine Lerche von Ochsenau wären. So aber haben Sie jetzt zu schweigen; das ist die dankbarste Stelle in Ihrer Partie. (Frauenterzett.) Stimme im Parkett: Also das ist unerhört wohlklingend, das ist so schön wie Mozart und Lehar zusammengenommen. Stimme im ersten Rang: Solange eine Musikliteratur existiert, ist ein solcher Melodiker seit fünf Minuten noch nicht dagewesen! Strauß in der Loge: Hören Sie es, Intendant? und nun verlange ich noch weitere fünfzehn Prozent Tantieme, oder ich entlasse Sie auf der Stelle. Der Intendant: Alles bewilligt, nur lassen Sie mich morgen noch wenigstens einen halben Akt streichen! © wasser-prawda 85 Sprachraum Uwe Saeger Faust Junior Roman Uwe Saeger Uwe Saeger wurde 1948 in Ueckermünde geboren, studierte Pädagogik in Greifswald und arbeitete sechs Jahre lang als Lehrer für Körpererziehung und Geographie. Seit 1976 ist er freiberuflicher Schriftsteller. Seitdem wurden von ihm zahlreiche Erzählungen, Romane, Drehbücher, Hörspiele sowie Beiträge in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Für sein Schaffen wurde er mehrfach ausgezeichnet – u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis (1987) sowie dem Adolf-Grimme-Preis für sein Drehbuch „Landschaft mit Dornen“ (1993). Faust Junior. Roman freiraum-verlag 2014 VÖ: 10.03.2014 Hardcover, ca. 550 Seiten Preis: 24,95 EUR (D) ISBN: 978-3-943672-35-0 86 Uwe Saeger - Faust Junior XV Wie’s konkret sich vollzog, kann ich nicht berichten. Ich war wie betäubt. Oder ist’s, dass die Anatomie eines Entschwindens das Geheimnis ihres Vollzugs hütet gegenüber jeder Wahrnehmung? Die Stadt mochte unter uns gewesen sein, weil mir einmal war, wie es einem wiederkehrenden Zugvogel sein mag, wenn er nach der kalten, ihm widrigen Winterszeit wieder einfliegt in sein Gefilde – ich glaubte, abzustürzen vor Glück. Einmal war’s auch, als würden wir von unten in die Stadt gelangen, als stiegen wir aus der tiefsten Finsternis, getrieben durch Schründe und Katakomben und ich würde bersten, weil der Druck des Gewesenen so geschwind sich verlor, sodass ich erwartete, mich aufzulösen in restloser Entfesselung. Und dann war’s in einem Park, wo wir festen Boden unter die Füße bekamen. Ein prächtiger Sommertag. Nachmittags. Jede Menge Städter beim Sonntagsspaziergang. Männer. Frauen. Kin- © wasser-prawda Sprachraum der. Hunde. Jogger. Trinker. Ordnungshüter. Sonnenbader und Schattensucher. Kaffeerunden. Grillpartys. Klatsch, Streits um die besten Klingeltöne oder ob Schwarz-Gelb oder Rot-Grün die beschissenere Politik machten. Musik jeder Stilrichtung. Ein dikker Mann und eine dünne Frau bei einem Badmintonspiel. Ein fünfjähriges Mädchen auf dem Schoß eines alten Mannes, der Faust ähnlich sieht. Er streichelte ihr Knie, sie kitzelte ihn mit einem Grashalm im Gesicht. „Wo sind wir?“, fragte Faust. Mephisto sagte: „Da kriegst du die Maulsperre bei so viel Paradies. Was Johann?“ Und ich erklärte ihnen: „Ein Stadtpark. Nichts für vermögende Menschen. Proletenwiesen.“ Ich zog die beiden zu einer Bank. „Als Kind war ich mit meiner Mutter einen Sommer lang jedes Wochenende hier.“ „Warum nur einen Sommer?“ Mein Vater setzte sich auf die Bank. „Und was hattet ihr hier zu treiben?“ „Das war der Sommer, der einzige allerdings, als sie die Nase voll hatte von Männern und sie sich ganz mir widmete, wie sie’s sagte. Sie konnte ziemlich lästig werden, wenn sie auf anhänglich machte.“ Ich drückte Mephisto neben Faust auf die Bank. „Ihr wartet hier auf mich. Ich geh mal was abchecken.“ „Nein“, sagte Faust. „Du gehst nichts abchecken und nichts zudecken. Wir bleiben zusammen.“ „Also ehrlich“, Mephisto schüttelte sich und blickte beunruhigt um sich, „ich habe Probleme. Dieser Bereich ist eine pralle Problemzone für mich.“ „Mach dich zur Töle und tobe dich aus mit den andern Kötern“, sagte Faust. Er atmete schwer, sein Gesicht rötete sich. „Ich brauche eine Verschnaufpause!“ „Das ist zu viel Licht.“ Mephisto kratzte an seiner Brust. „Verträgst du’s, Faust?“ „Das Licht ist’s nicht, was mich schwindelig macht.“ Faust knöpfte den Hemdkragen auf. „Die Luft ist’s. Wir sind im Freien, aber es ist keine Luft wie im Freien.“ „Wahrscheinlich Feinstaubbelastungsstufe vier“, sagte ich. „Zu Abend bessert’s sich gewöhnlich.“ „Zum Abend bin ich verreckt, wenn’s sich nicht vorher bessert.“ Faust streckte sich auf der Bank aus, schubste dafür Mephisto mit einem Fußtritt bis an den Rand der Sitzfläche. „Du passt auf, Justus! Das sieht hier nur so friedlich aus wie zum Osterspaziergang.“ „Ich bin doch nicht aus der Anstalt raus, um woanders abzuhängen.“ Ich trommelte ein Crescendo auf den Gitarrenboden. „Wir müssen rauskriegen, wo das nächste Casting zum Superstar stattfindet.“ Mephisto saß da wie ein Häufchen Unglück, hielt die Hände zwischen die Knie verklemmt, als hätte er eingemacht oder könne einem Juckreiz nur schwer widerstehen. „Stell dich mal so“, sagte er zu mir, „dass ich etwas Schatten habe. So viel Licht, da zerreißt es mich bald.“ Aber da kam der Schatten schon angetrabt und das in doppelter Ausfertigung. Zwei, den Kraftatzen in der Anstalt vergleichbare Typen standen neben der Bank. Sie waren uniform dunkelblau gekleidet, nicht sichtbar bewaffnet, aber mit Funkgeräten ausgerüstet. © wasser-prawda 87 Sprachraum „Städtisches Ordnungsamt“, sagte der eine. „Qualwass mein Name.“ Er deutete auf den Typen neben sich. „Das ist mein Kollege Unferfert.“ „Mir ist schlecht“, sagte Faust. „Die frische Luft, die keine frische Luft ist, macht mich fertig.“ „Unsere Stadt“, sagte Unferfert, „hat die besten Smogwerte des Landes.“ „Also, Bürger“, sagte Qualwass, „nehmen Sie Ihre Füße von der Sitzfläche dieser Ruheinstallation. Auch die anderen Bürger haben einen berechtigten Anspruch auf Sauberkeit.“ „Und wir sind dafür da, das zu beaufsichtigen und gegebenenfalls durchzusetzen“, sagte Unferfert. „Lassen Sie es also nicht darauf ankommen“, ergänzte Qualwass, der sah, dass mein Vater nur Bahnhof verstand. „Wir sind jederzeit in der Lage, eine Polizeistreife zu rufen.“ Mephisto spuckte aus, randscharf bis vor die blankgewichsten schwarzen Schnürstiefel der beiden Ordnungshüter. „Das habe ich doch schon einmal gehört“, sagte er. „Und was, wenn der Mann es darauf ankommen lässt?“ „Sie, Bürger, halten sich raus“, sagte Unferfert. „Sie sind mit keiner Verfehlung gegen die Parkordnung auffällig geworden.“ „Dann geben Sie sie mir zur Kenntnis.“ Mephisto spuckt den beiden ein zweites Mal vor die Füße. „Damit ich weiß, was ich anstellen muss, um auffällig zu werden.“ „Spucken ist nicht aufgeführt, aber wir werden es bei der Behörde anregen.“ Qualwass ging einen Schritt zurück. „Wir tun hier nur unsere Pflicht. Das sage ich, und ich bin dazu nicht verpflichtet, damit wir uns nicht falsch verstehen.“ „Wenn Sie also nicht nur ihre Pflicht täten, würden sie auch auf Bänken rumlümmeln und in die Gegend rotzen und sich mit Leuten, die nur Ihre Pflicht tun, anlegen?“ Mephisto stand auf. Er war so groß, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, größer als Qualwass und Unferfert, und er rollte die Schultern, als ginge es für ihn in eine Rauferei. „Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wollten’s doch, dass wir uns nicht falsch verstehen.“ „Ihrer Papiere! Bitte!“ Qualwass machte sich kontrollbereit. „Von Ihnen beiden die Papiere. Bitte!“ Er tippte Faust an, der am Einschlafen war. „Häh?“ Faust hob den Kopf, blinzelte. „Jag sie zum Teufel“, sagte er zu Mephisto. „Wir sind doch schon mit ganz anderen Banditen und Wegelagerern fertiggeworden.“ „Beleidigungen werden zur Anzeige gebracht“, sagte Unferfert. „Und für Bandit und Wegelagerer gibt’s eine saftige Geldstrafe, das kann ich Ihnen versprechen. Und in ganz schweren Fällen sind auch schon Haftstrafen verhängt worden.“ „Also!“ Qualwass schlug seinen Formularblock auf. „Wenn die Herrschaften Lust auf eine Justizvollzugsanstalt haben, dann müssen Sie sich nur weiter so große Mühe geben, kooperativ zu sein.“ „Ich gebe mir keine Mühe“, sagte Faust. „Ich will nur in Ruhe gelassen werden.“ „Melde die Herren doch bei den Kameraden vom Wachdienst an“, sagte Unferfert zu Qualwass. „Wozu haben wir eine Polizei?“ „Wenn ich was erklären darf“, wandte ich mich an Qualwass. „Das ist ein Missverständnis. Mein Vater und …“, ich nickte auf Faust und ich nickte auf Mephisto „… sein Freund waren für län- 88 © wasser-prawda Sprachraum gere Zeit nicht unter uns, sie müssen sich erst eingewöhnen, dieses Leben hier ist komplett neu für sie.“ „Ihre Ausweise würden wir trotzdem gern sehen“, sagte Unferfert. Er schlug seinen Block auf. „Ordnung muss sein.“ „Unsere Papiere sind im Hotel“, sagte ich. Und Mephisto sagte und zeigte auf Faust: „Das ist Faust. Sagt euch das nichts? Jungs! Faust ist’s. Der Faust, der sich mir verschrieb, um das Prinzip der Welt zu durchschauen. Faust! Der einmalige Fall eines Mannes von Weltruf, der nicht zu ruinieren ist!“ Qualwass und Unferfert verständigten sich mit einem Blick. „Haben Sie getrunken?“, fragte Unferfert. „Oder haben Sie Suchtmittel konsumiert?“ Und Qualwass sagte in sein Funkgerät: „An Zentrale. Hier OK Bürgerpark. Haben drei Personen ohne Personaldokumente. Starkes Aggressionspotenzial. Brauchen Unterstützung. Ja, eine Streifenbereitschaft dürfte ausreichend sein.“ „Das ist ein Missverständnis“, wiederholte ich. „Lassen Sie es mich doch erklären!“ Es standen schon einige Gaffer um uns. Einer klopfte Qualwass auf die Schulter, sagte: „Lasst den Brüdern nischt durchjehn. Habn wia uns jenuch jequält, dat wa Ruhe habn hier un Ordnung, wo et sonst inne Stadt nur so bumst von Klamauke. Schwul sehn se aus, aba wat uffem Kerbholz habn se ooch.“ „Das ist mein Vater Johann Heinrich Faust“, rief ich und versuchte, ihn von der Bank hochzuziehen. „Er ist nicht mehr der Jüngste und ruht sich nur aus. Wir haben eine anstrengende Reise hinter uns.“ „Und wo kommen wir her?“, fragte Unferfert. „Aus der Anstalt meines Vaters“, antwortete ich spontan. „Vom Stern der nackten Seelen kommen wir“, sagte Mephisto. „Wer aus einer Anstalt kommt, hat, wenn er nicht getürmt ist, Entlassungspapiere“, sagte Unferfert. „Die werdet ihr doch dabeihaben?“ Und Qualwass sagte ins Funkgerät: „Die Streife soll Gas geben. Unsere Klienten kommen aus einer Anstalt und können ihre Entlassung nicht belegen. Checkt doch mal die Fluchtliste.“ „Begreifen Sie’s denn nicht? Begreift’s hier keiner?“, schrie ich. „Das ist mein Vater. Und mein Vater ist Faust. Faust!!! Nichts gelernt in der Schule? Nur auf Verweigerung gemacht und Ausländerkinder gemobbt?“ „Bitte“, sagte Qualwass. „Ich habe das Abitur.“ „Und ich habe zwei Berufe und beide Lehren mit besten Noten abgeschlossen.“ Unferfert musterte Mephisto. „Und als ich in der Schule war, gab’s noch nichts mit Verweigerung.“ Er flüsterte Qualwass etwas zu. Der nickte, musterte Mephisto ebenfalls. Von den Gaffern sagte eine Frau: „Wenn der Olle Faust is, denn is der, der vom andern Stern jekommen sein will, Mephistopheles. Hah!“ „Und wenn det so is“, sagte ein anderer, „denn steht hier irjendwo ne versteckte Kamera und det jiebt gleich wat zu lachen.“ Qualwass und Unferfert blickten in die Runde, waren verunsichert. „Auf öffentliche Verarsche habe ich keinen Bock“, sagte Unferfert. © wasser-prawda 89 Sprachraum Qualwass hatte sich entschlossen, die harte Tour zu fahren. Er zog Faust von der Bank und schnauzte ihn an: „Auch Ihr hohes Alter ist kein Freibrief für öffentliches Fehlverhalten, Bürger. Sagen Sie mir Ihre Personalien, damit mein Kollege das von der Zentrale überprüfen lassen kann.“ „Ich heiße Faust und ich bin Faust.“ Mein Vater ballte erbost beide Hände, erhob sie drohend gegen Qualwass. Der wollte mit einem Abwehrgriff parieren. Aber dazu kam er nicht. Denn ein großer schwarzer Pudel sprang ihn an, biss in den Arm, der Faust am nächsten war, und zerrte ihn zu Boden. Es war sofort Tumult. Qualwass schrie um Hilfe. Die Hälfte der Gaffer schrie um Hilfe und die andere Hälfte verdünnisierte sich. Unferfert wusste überhaupt nicht, was er tun sollte. Den Pudel anzufassen, wagte er nicht. Der hatte Qualwass’ Arm zwar nicht weiter zwischen den Zähnen, stand aber knurrend über ihm, bereit, ihm beim nächsten Angriff, sollte der nötig werden, an die Kehle zu gehen. „Wo ist der dritte geblieben?“, fragte Unferfert ein ums andere Mal, weil er Mephisto nicht mehr sah. Zugleich zog der Vorfall, oder war’s auch nur von den Lauten des Pudels bestimmt, zu hundertzwölf Prozent alle Hunde im Park an den Ort des Geschehens. Labradors, Retriever, Collies, Terrier, Dackel, zwei Schäferhunde, eine Dogge und ein Pinscher kamen im vollen Sprint gelaufen. Davor verzogen sich auch die letzten Gaffer. Und Unferfert flüchtete auf die Bank und wäre wohl auf den Mount Everest gestiegen, hätte das die einzige Möglichkeit geboten, in Sicherheit zu gelangen, dass er die in fünfzig Zentimeter Höhe auch nicht hatte, realisierte er nicht. Bis auf die Dogge, die sich dann doch betont vornehm abseits hielt, machten die anderen Hunde, ohne dass es einer wagte, ihn zu beißen, gegen den Pudel Front. Sie rochen’s, dass der nicht in ihre Meute gehörte und dass er nur deshalb das Unerhörte gewagt hatte, einen Menschen anzugreifen, und vielleicht solidarisierten sie sich auch, weil sie ihren guten Ruf hier nicht durch dieses Vieh in Verruf bringen lassen wollten; auch Hunden mag, geht’s um Privilegien und fettes Leben, der eigne Arsch näher sein als ihre Natur. Die Sirene eines Streifenwagens setzte ein. Und die beiden Schäferhunde, Deutsche Schäferhunde, wie unschwer an ihrer überzüchteten Erscheinung auszumachen war, setzten sich aufs Hinterteil, reckten die Schnauzen hoch und jaulten. „Wir empfehlen uns“, sagte Faust und packte mich. „Das wird mir zu heiß.“ Wir schlugen uns in die Büsche. Unferfert hopste auf der Bank rum und winkte dem Streifenwagen, so verschmutzte er die Ruheinstallation vollends. Qualwass, dem der Rücken kalt geworden war von der Kälte des Bodens, nieste wohl an die tausend Mal und brachte den Pudel damit auf Abstand. „Aber wir können doch unseren Mephisto nicht im Stich lassen“, sagte ich. Ich schaff te es nicht, meinen Vater aufzuhalten, er bewegte sich so flink und kraftvoll, als wär’s mit ihm wie nach einer zweiten Transfusion. „Er geht aufs Äußerste und du …“ „Er ist noch immer Teufel.“ Mein Vater lachte grell. „Da rauszukommen, ist für ihn ein Klacks. Und wofür haben wir ihn mitgenommen, als dass er uns aus der Patsche hilft! Kein anderer ist so für Drecksarbeit geschaffen wie er. Ich kenne mich aus mit ihm, das weißt du doch und das kannst du mir glauben. Wenn er sich so beweisen kann wie jetzt, ist er in seinem zweiten Element. Er 90 © wasser-prawda Sprachraum fühlt sich pudelwohl, wenn er die Zähne zeigen darf und alles auf ihn guckt und ihn doch kein einziger durchschaut. Du solltest dir übrigens besser überlegen, was du sagst.“ „Und du solltest aufpassen, wo du deine Füße ablegst“, sagte ich. „Hättest du dich nicht so daneben benommen, wäre uns der Schlamassel erspart geblieben. Du solltest dir bewusster machen, in was für einer Zeit wir uns befinden.“ „Da habe ich ja Glück gehabt, dass ich nicht pissen musste! Die hätten mir womöglich die Rute abgeschnitten. Hah!“ „Vergiss dein Mittelalter, Papa.“ Wir waren aus dem Park gelangt und gingen zwischen Häuserfronten. Der Verkehr zur Rushhour. Fußgänger hetzten. Großstadtgetriebe. Faust klammerte sich an mich, er zitterte. „In was für ’nen Krieg sind wir geraten?“, fragte er. „Junge! Hier weiß doch keiner, wer Freund ist und wer Feind.“ „Die Stadt hat vier Millionen Einwohner“, sagte ich. „Und ’ne Großstadtidylle ist ’n Hirngespinst, weil …“ Aber da hörte Faust mir schon nicht mehr zu. Er starrte nach vorne, wo uns ein baumlanger, breitschultriger Neger im knallgelben Sakko entgegenkam. Mit der einen Hand hielt er ein Handy am Ohr, im andern Arm trug er einen winzigen Hund, dem das Stirnhaar zu einem Büschel auffrisiert und mit einer Schleife in der Farbe seines Sakkos zusammengebunden war. Der Neger ging mit seinem Hund im Strom der Passanten an uns vorbei, wir hörten, dass er mindestens zehntausend Mal „Yes, Mam“ ins Handy sagte. Faust wischte sich die Augen aus. „Heiliger Vater“, sagte er. „Wer hat den Kerl gemacht?“ „Das ist einer von den neuen Prinzen“, sagte ich. „Der hält sich ein paar Bordsteinschwalben auf’m Strich oder wirft in jedem Spiel zwanzig Körbe für Alba.“ „Ein Prinz ist der Sohn eines Königs.“ Faust schüttelte sich. „Und wenn’s Zeiten sind, dass die Könige schwarz werden, verdirbt das Wasser und das Feuer verlischt für immer und für nichts gibt’s dann einen Anfang mehr.“ Ich führte uns in eine Nebenstraße. Was und wie’s weiter mit uns geschehen sollte, dafür hatte ich keinen Plan. Aber mich machte die Stadt an, im Gegensatz zu meinem Vater, mit ihrem Getriebe, ihren Gerüchen, dem unausgesetzten Versprechen, dass an der nächsten Ecke passiert, was das Leben neu anreizt und den Pep gibt für ’nen Neustart. Die ganze Unternehmung, so zeigte sich’s jetzt schon, war auf Pleite angelegt. Mein Vater und Mephisto, den wir abschreiben konnten, denn wie sollte er uns finden, passten nichts ins Heute, sie waren Gestrige und würden’s bleiben. In der Anstalt war das nicht entscheidend ins Gewicht gefallen. Die entrümpelten Seelen, die Fausts Reich dort füllten, brauchten zwar keine Verstellungen mehr, die Schere zwischen Sein und Dasein war auf den kleinstmöglichen Nenner gefahren, zu existieren, war zur Organisationsform umfunktioniert und die Freiheit des zumutbaren Wahnsinns verschönte jedes Ich bis ins Innerste. Von Erinnerungen, mit dem Ballast von Gelebtem, wurde nicht verhandelt. Die Seinskultur im Reich meines Vaters war klinisch steril, anstaltsgemäß eben und eine Imagination, wie’s Seelen zukommt; und das heißt, sie entwöhnte vom Leben, sie machte untauglich, sich in einer Gegenwart als Kind der Zeit einzufinden. Faust und Mephisto waren fürs Heute verloren, waren © wasser-prawda 91 Sprachraum aufgebraucht von ihren eigenen Geschichten, von den wieder und wieder zurechtgeschneiderten Fassungen ihrer Bedeutung und das Anpassen an Zeitgeist und Gewöhnung. „Was machen wir jetzt?“, fragte ich. „Wenn ich noch einmal den schwarzen Prinzen sehen könnte!“ Faust reckte sich, um mehr Überblick zu bekommen. „Der Kerl ist geschaffen zum Fels. Der muss nicht sagen, ich bin ein Fels. Dem sieht man’s an und nimmt’s ihm ab.“ „Andere Sorgen hast du nicht?“ „Doch.“ Faust machte eine Bewegung, als versuche er, in sich zurück zu kriechen. „Dieser Lärm! Das Licht! So viel Licht! Verfügt denn jeder über Licht hier? Die vielen Menschen unterwegs. Wird denn vor jedem Tor zur Stadt eine Hinrichtung gegeben? Und die Kinder! Das sind alle kleine Erwachsene. Nur die Konfektionsgröße macht den Unterschied. Das ist nicht gut und ist nicht von Sinn.“ „Wir leben in einem Sozialstaat. Es gibt Leute, die machen Kinder nur, um sich finanziell durchs Leben zu bringen.“ „Egal, wie ein Staat sich nennt, die Kinder werden von den Eltern ernährt, nicht von Präsidenten, Kanzlern, Ministern oder Fürsten.“ „Du hast nicht mal einen Ausweis und spuckst große Töne! Zu deiner Zeit war Politik ein Nachweis von Stärke, also Geld, Soldaten und Waffen, heute geht’s nur noch um Geld.“ „Ohne Moos, nichts los“, sagte Faust. „So war’s und so bleibt’s.“ Zwei Polizeimannschaftswagen parkten mitten vor uns auf der Straße, versperrten sie. Die Mannschaften bezogen Position. Jeder Mann hatte eine Sturmmaske übers Gesicht gezogen, trug Abwehrschild und Schlagstock. Wenn das meinem Vater und mir gelten sollte, war’s ein verpatztes Manöver, aber als Straßentheater konnte es sich durchaus beeindruckend entwickeln. „Das ist die Garde des Fürsten“, sagte Faust und drängte bis zur Absperrung vor. „Hörst du den Hufschlag? Er kommt in seiner Kutsche.“ Aber was Faust als Hufschlag gedeutet hatte, waren die Tritte von einigen hundert Leuten, die Springerstiefel an den Füßen trugen und die die eisenbeschlagenen Sohlen, obwohl sie in lockerer Formation marschierten, im Gleichschritt aufs Pflaster setzten. Alle waren dunkel gekleidet, auch die Frauen – Qualwass und Unferfert wären nicht aufgefallen in dem Pulk. Die Männer hatten zum überwiegenden Teil die Haare kurz geschoren und waren im Gesicht und Nacken, auf den Armen und Händen mit germanisch-teutonischen Symbolen tätowiert. So mancher schleppte ein Transparent oder Schild mit sich, auf denen Parolen wie „Deutschland den Deutschen“, „Arbeit für alle“ oder „Der Feind steht links und in der Mitte“ geschrieben standen. Sprüche oder Gebrüll gab’s nicht. Es war eine stumme, aber bedrohliche Prozession. Und ich weiß nicht, was Faust dazu verleitete, zu rufen: „Ihr müsst euch schlagen! Ihr müsst euch geißeln! Ihr müsst eurer Idee einen Ausdruck geben! Die Stummen hört der Herr nicht. Und wer ihm nicht gibt von sich, wird auch von ihm nichts erhalten.“ Ich riss meinen Vater zurück und trat ihn auch. „Das sind Rechte“, sagte ich. „Da mische du dich nicht ein.“ „Warum sind das Rechte?“ Faust machte sich los von mir. „Die gehen mitten auf der Straße. Und dahin gehe ich jetzt auch.“ 92 © wasser-prawda Sprachraum Faust durchbrach das Absperrungsspalier der Polizeikräfte. Die beiden, zwischen denen er’s schaff te, versuchten ihn aufzuhalten, aber er entwischte. „Justus, komm!“, rief er mir zu. „Hier kommen wir voran.“ „Lassen Sie mich durch“, bat ich einen Polizisten. „Mein Vater ist etwas verwirrt. Ich muss ihn zurückholen.“ „Das schaffst du nicht mehr“, wurde mir geantwortet. „Noch fünfzig Meter und diese braune Suppe triff t auf die Autonomen. Uns ist ein taktischer Fehler unterlaufen. Nun können wir’s nicht mehr verhindern, nur noch dazwischen gehen.“ „Papa!“, rief ich. „Komm zurück! Das wird gefährlich.“ Faust winkte mir, dass ich an seine Seite kommen sollte. Die Polizisten vor mir rückten die Sturmmasken zurecht, zogen die Kinnriemen ihrer Schutzhelme fester. Es gelang mir, mich zwischen ihnen hindurch zu drängen und ich lief zu meinem Vater. Wir waren inmitten der Rechten und Faust machte ein Gesicht, als wäre er zum Gaudi auf einer Kirmes. Er deutete auf den tätowierten Nacken eines Klopses vor mir. „Dieses Zeichen, Justus“, sagte er, „hat eine geheime Kraft.“ „Das ist Firlefanz“, sagte ich. „Und jede Haut sollte zu schade sein dafür.“ Der Klops wandte sich zu uns um. „Ihr seid vorgemerkt“, sagte er. „Wenn wir die Zecken aufgemischt haben, dann seid ihr dran.“ Da flogen die ersten Steine und es wurde gerufen: „Nazis raus!“ Was dann genau passierte, konnte weder Faust noch ich uns erklären. Zuerst schien es, als würde es an uns vorüberziehen. Die Rechten drängten vor und wurden doch zusammengetrieben. Trillerpfeifen wurden geblasen. Über Polizeilautsprecher wurde aufgefordert, auseinanderzugehen und Konflikte zu vermeiden, sonst würde hart durchgegriffen. Der Klops, der sich immer noch vor uns hielt, hatte auf einmal einen blutigen Schädel, fuchtelte mit blutbeschmierten Händen herum und schrie. „Das ist der Krieg! Kameraden! Jetzt wird zurückgeschlagen. Vorwärts!“ Er preschte zwischen seinen Kameraden, von denen die meisten Schlagringe, Klappmesser und Baseballschläger bereithielten, nach vorn in die Kampfzone. Dadurch bekamen Faust und ich etwas Luft. Doch schon flutete die braune Kamarilla wieder zurück, getrieben von den Polizisten, die dazwischenhieben, als wär’s die letzte Schlacht, die sie zu gewinnen hatten. „Ihr Verräter!“, schrien die Rechten gegen sie. „Die andern müsst ihr schlagen!“ Faust und ich ließen uns beiseite drängen und verbargen uns halb hinter einem Bauschuttcontainer. Der Strahl eines Wasserwerfers streifte uns, machte uns in Sekunden klatschnass. Ich trat auf die Straße zurück und protestierte: „Wir haben damit nichts zu tun. Wir sind zufällig hier.“ Und da blickte ich in zwei vom Schlitz der Sturmmaske umrahmte Augen, die ich kannte. Und der Polizist kannte und erkannte mich ebenfalls, so viel war Fakt. Er wandte sich an den Mann neben ihm, sagte ihm was und deutete auf mich. Der nickte und verschwand zur Seite. Das musste eine Bedeutung haben. Und ob eine für mich günstige, stand nicht einmal in den Sternen. Also war’s angesagt, dass Faust und ich die Szene verließen. Aber wieder war er das Problem, denn er stand nicht mehr hinter mir. „Papa!“, rief ich, was bei dem Krawall ein Pups in den Wind war. Und ich schrie: „Faust! Wo bist du, Faust?“ Da kam er aus einem Backshop, hinter ihm wurden die Schutzgitter runtergelassen, mit einem Quadratmeter großen Stück © wasser-prawda 93 Sprachraum Zuckerkuchen, von dem er gierig Bissen um Bissen in den Mund stopfte und verschlang. Er strahlte mich an. „Das musst du kosten, Justus! Das ist ein fürstlicher Genuss.“ „Du hast geklaut?“ Ich hätte meinen Vater knutschen mögen – wenn uns noch ein Diebstahl anzuhängen war, würde für mich nichts mehr gehen in Richtung Superstar. „Mundraub“, sagte Faust kauend. „Wir machen endgültig die Fliege“, ordnete ich an. Ich wollte Faust entgegeneilen und mit ihm verschwinden von diesem Ort, dessen Bedenklichkeit zwar eine andere war als die des von meinem homunkuluiden Freundes beschriebene Bedenklichkeit des bedenklichen Ortes im Reich meines Vaters; aber eben deshalb war’s geboten, zu flüchten, vielleicht kam nach dem Wasserwerfer ein Flammenwerfer zum Einsatz und wir würden abgefackelt werden. Doch traf’s mich in den Rücken mit einem Schlag, der die Gitarre zu Bruch gingen ließ, und in die Kniekehlen mit einem Tritt und ich klatschte vornüber aufs Pflaster. Meine Arme wurden auf den Rücken gezwungen und beide Handgelenke mit einer Plastikschlinge aneinandergefesselt. Mein Kopf wurde neben einem frischen Haufen Hundescheiße mit einem Knie auf dem Boden fixiert und auch meine Füße wurden mit einer Schlinge gefesselt. Ich empfand nur Scham, keinen Schmerz und keine Wut. Und diese Scham lähmte mich. Ich lag vor meinem Vater im Dreck, ein zur Strecke gebrachter Übeltäter, ohne Ehre und entwürdigt. Faust beugte sich über mich, zerrte mit einer Hand an meinen gefesselten Armen. Das Stück Kuchen hatte er zur Hälfte weggefuttert. Von seinem Mund bröckelten Krümel in mein Haar. „Was haben sie mit dir gemacht, mein Sohn? Was hast du gemacht?“ „Nichts habe ich gemacht. Ich habe nach dir gerufen. Und schon gab’s einen rüber.“ Faust richtete sich auf. „Bürger!“, rief er. „Zu Hilfe, Bürger! Hier ist Unrecht geschehen. Wir haben mit dem Krieg nichts gemein. Helft doch!“ Und schon lag mein Vater ebenfalls neben mir im Dreck und die Hundescheiße war von seinem Kopf genauso weit entfernt, wie sie meinem nahe war. Auf seinem Rücken kniete ein Polizist und fesselte ihn auf die gleiche Art, wie ich gefesselt war. „Bei Anstachlung wird härter durchgegriffen und bestraft, als es das Tragen von Nazisymbolen und die Verbreitung faschistischen Gedankenguts nach sich zieht“, sagte der Polizist. Er hatte Probleme mit der Sturmmaske, bekam nur einen Sehschlitz vor die Augen. „Und wenn’s nach mir ginge, ich würde alle, die hier die Kacke am Dampfen halten, egal ob Rechte oder Linke, Chaoten oder Intellektuelle, ich würde sie ohne Rückfahrkarte nach Sibirien schicken.“ „Wohin nur hast du uns gebracht, mein Justus?“ Faust versuchte noch, am Kuchen zu knabbern, der unter ihm lag und mit einer Ecke bis an seinen Mund reichte. „Wir sind in der bundesdeutschen Wirklichkeit“, sagte ich. „In einer Demokratie geht’s auf der Straße genauso selten demokratisch zu wie in einer Diktatur. Und wir, Vater, haben das Spiel noch nicht bis zum Ende durch.“ „Was lob ich mir die alten Zeiten“, sagte Faust. „Als ich den Wein noch aus dem Holze lockte und mit einem Gretchen unter Bäumen mich erging!“ 94 © wasser-prawda Sprachraum „Papa!“, schrie ich Faust an. „Halt’s Maul, Papa! Lobe deine alten Zeiten, wenn sie dich wiederhaben und du sie wiederhast. Jetzt hol uns lieber deinen Teufel herbei! Denn wenn der’s nicht bringt, dann hilft uns nichts mehr aus der Scheiße.“ Jemand betastete mich von hinten, sagte zu einem andern: „Keine Papiere, Eberhard, tut mir leid.“ Und der andere, der mit Eberhard angesprochen worden war, sagte: „Ich war mal – und bin’s wieder – mit so ’ner Schlampe zusammen gewesen und die hatte einen Jungen bei sich rumlungern in der Wohnung … Naja. Halt ihm noch eine kleine Ewigkeit die Schnauze im Dreck und dann ab aufs Revier. Wenn ich was bezeugen muss, damit’s für ’ne Festnahme reicht, ruf mich an.“ Ich schloss die Augen. Eberhard war der Polizist, dessen Augen mir bekannt gewesen waren im Schlitz der Sturmmaske, und der auch mich erkannt hatte; und er war derjenige gewesen, der mich von meiner Mutter fortgetrieben hatte in die Anstalt meines Vaters. Eberhard war’s, der Scheißkerl von einem Bullen, und permanenter Brechreiz setzte ein, wenn man mit ihm Umgang hatte, der mir als erster aus meinem früheren Leben begegnete, und davor konnte man die Augen nur zumachen und durch. Faust versuchte, mit mir zu sprechen, ich reagierte nicht. Zwei Passanten standen eine Weile neben uns. „Morgen früh kommt die Müllabfuhr, da werden sie die beiden mit entsorgen“, sagte einer. Und der andere sagte: „Der Alte ist ’n Penner und der Jungsche taugt nichts, so was hat keine Deponie verdient.“ „Wird nicht erst geschreddert?“, fragte der erste. „Nur verwertbare Abfälle“, antwortete der zweite. „So was wie die, kannste keinem Hund in ’ner Dose anbieten.“ Ich hörte meinen Vater stöhnen. Und ich dachte: Wo ist amnesty international? Wo seid ihr, Streiter für Menschenrechte und Menschenwürde? Wo seid ihr, Bürgerrechtler und Kommissäre zum Schutz der persönlichen Freiheit? Wo seid ihr, Medienleute aus der ersten Reihe, die ihr hautnah und brandheiß und unbestechlich vom Tagesgeschehen berichtet? Hier liegt die knalligste Nachricht auf der Straße und mit der Schnauze im Dreck: Faust und sein Sohn in Fesseln neben einem Haufen frischer Hundescheiße! „Papa“, sagte ich. „Halt durch!“ „Ich friere“, sagte Faust. „In den nassen Klamotten ist’s wie im Eisschrank.“ Irgendjemand, der sich im Laufschritt näherte, verpasste mir einen Tritt in den Arsch, trat nach und lief dann weiter. Aber auch das war unbedeutend gegen die dumpfe, alles durchwuchernde Scham. Aber dann ging’s ruckzuck. Ein Auto hielt hinter uns. Ich wurde gepackt, Faust wurde gepackt – dabei sah ich, wie ein Kampfstiefel in die Hundescheiße getreten wurde und diese sich ins Profil der Sohle einpresste und über deren Rand quoll – und wir wurden zu einem geschlossenen Transporter geschleift und in den Kastenaufbau verfrachtet, was ungebremst martialisch durchgezogen wurde. Die Trümmer der Gitarre wurden mir vom Rücken gerissen und auf die Straße geworfen. Die Bänke zu beiden Seiten waren schon dicht besetzt, aber mein Vater und ich wurden, einander gegenüber, dazwischen gepfercht. Das gab wieder Knüffe. Ich saß neben einem ultimativen Trash-Typen. Er duftete so herrlich nach Gras, dass Scham, Schmerzen und sonstige Bedrückt- © wasser-prawda 95 Sprachraum heiten auf Abflug machten. Jetzt einen Joint und das Leben und die Welt hätten mich wieder und ich würde nicht grollen über die unfreundlichen Attacken anlässlich meiner Rückkehr. Aber der Typ war so abwesend, dass es nicht lohnte, ihn anzuquatschen, dem war’s gleich und Bockwurst, wohin er unterwegs war. Faust saß zwischen zwei Autonomen, beide mit Frisuren, die jedem Ureinwohner einen Schock fürs Leben verpasst hätten. Die übrigen waren von der braunen Suppe, sie schimpften auf die Bullenschweine, die wieder mal die Falschen gegriffen hatten, auf die Scheißpolitiker, die von den Realitäten so weit entfernt waren wie der Mond vom Urknall, und auf einen smarten Steffen, der ganz bestimmt der Maulwurf war, der’s verpfiffen hatte, und den sie anzünden würden demnächst! „Maulwürfe pfeifen nicht“, sagte mein Vater. „Sie meinten ganz bestimmt eine Ratte.“ „Ey, Alter, halt dich da raus“, sagte der Rechte, der neben dem Trash-Typen saß. „Ich meinte das der biologischen Korrektheit wegen.“ Faust nickt mir zu. „Und Maulwürfe pfeifen nun mal nicht.“ „Kennst du nicht den Unterschied zwischen Pfeifen und Verpfeifen?“, wurde Faust gefragt. Und er erhielt zur Antwort: „Pfeifen tun die Pfeifen und Verpfeifen tun die Maulwürfe.“ „Ja“, sagte Faust. „Und fettes Brot wächst auf der Wiese, die Eier wachsen in der Vorratskammer und die Störche kaufen die Kinder im Krämerladen ein.“ „Der Alte kapiert’s nicht!“ Es gelang dem Rechten links neben mir, trotz der Fußfessel, Faust vors Schienenbein zu treten. „Deine biologische Korrektheit taugt für keinen Kindergarten, Alter. Und wenn ich dir jetzt ein zweites Mal vors Schienenbein trete, dann nur der numerischen Korrektheit wegen, denn einmal ist, wie du wohl weißt, kein Mal.“ Er schwang die Unterschenkel weit nach hinten unter den Sitz, um kräftiger zustoßen zu können. Aber er brachte die Füße nicht wieder nach vorn. Dafür kreischte er ein lächerliches „Aua!“ und wand sich auf seinem Platz. Und es war ein Knurren unter der Bank zu hören, das mir wie’s lieblichste Klingen der Welt schien. „Wenn du artig bist“, sagte Faust zu dem Mann, „dann sage ich dem Hund, er soll’s lassen, und es ist gut. Wenn du aber nicht artig bist, behält er sein Abendbrot im Maul.“ „Jetzt verhaften die Bullen schon Hunde“, sagte einer von den Autonomen. „Das gibt eine Meldung an den Tierschutz.“ „Bist du artig?“, fragte Faust noch einmal. „Sag dem Köter, er soll’s lassen, du Schwein!“ Der Mann drückte sich ins Hohlkreuz vor Schmerz, wahrscheinlich hatte der Pudel sein Beißvermögen voll ausgereizt. „Aber auch wir haben Anwälte, so darf mit politischen Gegnern nicht umgegangen werden.“ „Brav“, sagte Faust. „Brav, mein Hund.“ Der schwarze Pudel kam unter der Bank hervor, setzte sich vor Faust und blickte dem Mann, den er gebissen hatte, in die Augen und grinste. Damit war Ruhe im Kasten. Nur eine Äußerung gab’s noch von einem andern Rechten. „Wenigstens ist’s kein Deutscher Schäferhund, der sich an unsereins vergreift. Und solch Vieh hat doch keine Rasse. Müssten wir ja gleich erledigen so was, wenn wir an der Macht sind. Und nicht nur Hunde. Wenn, dann richtig.“ 96 © wasser-prawda Sprachraum Es war in einem Innenhof, wo wir aussteigen durften. Die Fußfessel wurde uns beim Aussteigen abgekniffen, die Handfessel nach Zuteilung in die Verhörzimmer. Hier gab’s keine Maskierungen, aber Eberhard entdeckte ich nicht. Da der Pudel sich bei all dem geduckt und still nahe Fausts Fuß hielt, wurde man erst auf ihn aufmerksam, als man uns gemeinsam vorführte. „Was soll dieser Hund hier?“, fragte der Beamte. Er schien in dieser Situation und auch seit Jahren schon überfordert. „Hunde sind bei Befragungen nicht zugelassen.“ „Das ist mein Hund“, sagte Faust. „Er gehört mir.“ „Wer hat Ihnen erlaubt, ihn bei der Zuführung mitzuführen?“ Der Beamte musterte den Pudel, der brav neben Faust verharrte. „Außerdem ist in dieser Stadt Leinenzwang und von einer Steuermarke kann ich auch nichts entdecken.“ Aus der Verhörbox nebenan rief jemand: „ Frag ihn, ob er ein Hundekotentsorgungsset dabei hat. Und die Bestätigung für den bestandenen Wesenstest ist bei so ’ner Töle auch einzufordern.“ „Sie haben gehört, was mein Kollege gesagt hat?“ Faust wandte sich an mich: „Übersetze mir das. Das ist Chinesisch rückwärts für mich.“ „Für Hundehaltung gibt es Bestimmungen. Aber ich kenne mich da nicht aus. Für einen Hund musst du heutzutage Steuern zahlen wie für Grundbesitz oder ein Auto.“ „Legen Sie ihren Hund erstmal an die Leine“, sagte der Beamte. „Ich habe keine Leine. Und wir brauchen keine Leine.“ Faust tätschelte den Pudel. „Der Hund versteht mich auf jedes Wort und pariert.“ „Heißt das, Sie lassen dieses Tier ständig frei rumlaufen?“ „Er ist nichts anderes als Freiheit gewöhnt“, antwortete Faust. „Es gab noch nie Probleme.“ „Stimmt nicht“, kam’s wieder aus der Verhörbox nebenan. „Die Töle hat während des Transports einem von den arischen Brüdern in den Fuß gebissen. Wir mussten eine ärztliche Versorgung anordnen. Also, Vorsicht. Und sei pingelig bei den Personalien, sonst bleiben wir auf der Rechnung sitzen.“ Daraufhin telefonierte der Beamte, was er sagte, hielt er absichtlich so leise, dass es nicht zu verstehen war. „Hören Sie“, versuchte ich es wieder, „das ist alles ein Missverständnis. Wir, mein Vater, der Hund und ich, sind zufällig zwischen die Fronten geraten. Wir haben keinerlei politische Ambitionen. Ob rechte Chaoten oder Linke, dazu gehören wir nicht. Und dass der Hund meines Vaters zugeschnappt hat, war ein Abwehrreflex. Mein Vater ist getreten worden. Hätte Ihr Hund Sie da nicht auch verteidigt?“ „Ich halte keinen Hund“, antwortete der Beamte. „Aber meine Frau leistet sich zwei Pferde.“ „Ihre Frau leistet sich zwei Pferde!“ Faust staunte so ehrlich, dass der Beamte es nicht ignorieren konnte und bestätigend nickte. „Dann gehört Ihr eine Grafschaft? Oder Sie hat ein einträgliches Lehen?“ „Sie ist im gehobenen Dienst tätig. Reiten, so sagt sie, bringt ihr die optimalsten Entspannungseffekte. So ein Tier so zu führen, dass es wie ohne eigenen Willen gehorcht, entschädigt sie für die vielen Leerläufe, Gegenläufe, Querläufe und Sonderläufe im Dienst, so sagt sie.“ Der Beamte atmete endlich. „Im Kontakt mit dem Tier ist sie glücklich, meine Frau, sagt sie.“ „Und im Kontakt mit dir ist sie’s nicht“, fragte ich. © wasser-prawda 97 Sprachraum Aus einer anderen Box wurde gerufen: „Glücklich ist, wer vergisst, dass wer Dienst hat, nicht zu Hause ist!“ „Meine Frau geht nicht fremd!“, rief der Beamte zurück. „Ich bringe jeden zur Anzeige, der das behauptet.“ Aus einer entfernteren Box wurde gerufen: „ Der dickschwanzige Adi betreut sie ja auch schon ein paar Monate, so fremd geht sie da nicht mehr.“ „Wer sagt das?“, rief der Beamte. Er sprang auf, stellte sich auf den Tisch, um in die anderen Boxen blicken zu können. „Wer sagt mir das in die Augen?“ Aber es blieb nebensächlich, ob’s ihm einer in die Augen sagen würde oder nicht, denn zwei Polizisten in Sturmmontur kamen in unsere Verhörbox und hatten, eh sich zu versehen war, dem schwarzen Pudel jeder eine Fangschlinge um den Hals gelegt und drückten ihn mit den Distanzstangen zu Boden. Der schwarze Pudel machte das dümmste Gesicht, das je ein Hund gemacht hat, und rührte keine Pfote zur Gegenwehr. „Was machen Sie?“ Faust ging die beiden Hundefänger an. „Was tun Sie meinem Hund an?“ Einer der beiden stieß Faust auf seinen Platz zurück. Der andere warnte: „Schön ruhig bleiben, Herrschaften! Wir haben die Ketten und den längeren Arm.“ Die beiden wollten den Pudel aus der Box ziehen, bewegten ihn aber keinen Zentimeter vom Fleck. „Füttern Sie den mit Blei?“, fragte einer Faust. „Der liegt ja so fest wie die Titanic auf’m Meeresgrund.“ „Er ist Freigänger und Selbstversorger“, sagte Faust. „Aber seine Lieblingsspeise sind … Was waren das noch für komische Exemplare, Justus? Du bist da besser informiert als ich!“ „Übereifrige Bullen in schusssicheren Westen“, antwortete ich. „Die Rückstände davon machen ihn schwer und seine Verdauung war noch nie die beste.“ Der Beamte konnte einen Lacher nicht unterdrücken. Und die beiden Hundefänger zerrten nun gewaltsamer an den Schlingen, um den Pudel zu bewegen. Aber da purzelten sie übereinander gegen die Pappwände der Box, verfingen sich in den nun leeren Schlingen und schlugen sich die Köpfe auf mit den um sie wirbelnden Distanzstangen. Der Hund war weg. Stattdessen saß vor dem Tisch des Beamten ein in dunklen Zwirn gekleideter Herr, der die Beine übereinanderschlug und seine Krawatte lockerte. Er nickte dem Beamten zu und reichte ihm eine Visitenkarte. Den Hundefängern gab er ein Zeichen, dass sie sich zu entfernen hätten, sagte ihnen: „Einen Bericht dürfen Sie sich ersparen. Dieser treue Staatsdiener hier vor mir wird den Vorfall eigenverantwortlich verwalten.“ Er nahm dem Beamten die Visitenkarte wieder ab. Die Hundefänger verschwanden aus der Box, obwohl sie sich noch nicht vollständig aus den Schlingen freigemacht hatten. „Doktor Phisto?“, stotterte der Beamte. „Ich verstehe nicht.“ „Das ist auch nicht nötig. Meinen Namen bitte ich, vollständig und richtig auszusprechen. Merken sie es sich: Doktor Cristo de me Phisto.“ Der Doktor Phisto nickte Faust und mir zuversichtlich zu. „Die beiden Männer“, sagte er zu dem Beamten, „sind Topleute meiner Abteilung. Mit ihrer saudummen Aktion hätten sie auffliegen können. Haben Sie sich denn nicht denken können, dass nur gut ausgebildete und der Sache treu ergebene Undercover-Kräfte in der Lage sind, einen Hund einzuschmuggeln!“ 98 © wasser-prawda Sprachraum Das brachte den Beamten völlig von der Rolle, er stotterte: „Aber die Personalien …“ „Schreiben Sie“, befahl Doktor Phisto. „Faust und Sohn. Das genügt. Ich gehe davon aus, dass Ihre Vorgesetzten ein helleres Köpfchen haben als Sie. Sie haben doch Erfahrungen mit Personen, die im höheren Dienst ihre Anstellung haben!“ Doktor Phisto erhob sich. „Wie ist Ihr Name?“ Der Beamte zögerte, wusste nicht, wie er’s auf die Reihe bringen sollte. „Na gut, vergessen wir’s!“ Doktor Phisto bedeutete Faust und mir, ihm zu folgen. „Wir sind alle nur Menschen und machen Fehler.“ „Aber der Hund“, stotterte der Beamte. „Auch ein Diensthund ist, entsprechend der Hundehalterpflicht – oder ist es ein Gesetz? –, zu beaufsichtigen und steht nicht außerhalb der Gesetze.“ „Oder ist es ein Gesetz!“ Doktor Phisto lachte mit all seiner Herzlichkeit. „Das Gesetz verpflichtet uns, Gefahren vom Volk und vom Staat abzuwenden. Aber das ist gelegentlich und zumeist überhaupt nicht mit den Möglichkeiten, die das Gesetz bietet, zu erreichen.“ Er umfasste Faust und mich mit einem Arm, schob uns aus der Box und sagte dem Beamten verabschiedend: „Beim nächsten Mal ein klein wenig mehr denken, wie wir in Pullach zu sagen pflegen.“ „Noch nie gehört, dass die in Pullach denken“, sagte der Beamte. „Dann hast du was an den Ohren.“ Doktor Phisto winkte zum Abschied in Richtung der anderen Boxen. „Du solltest dir einen in die Gehörgänge blasen lassen. In diesem Sinne!“ Wir kamen ohne Behinderung aus dem Gebäude und durch den Innenhof. Auch der Schlagbaum der Personenschleuse ging wie auf Bestellung vor uns hoch, als wäre das alles, was uns passiert war, nur als Übung geplant gewesen. Und als der eiserne Balken hinter uns wieder in die Halterung klappte, gab’s kein Halten mehr für uns drei – wir lachten. „Die alten Tricks sind doch noch immer die besten“, lachte Doktor Christo de me Phisto und umarmte Faust. „Weil die Beamten noch immer statt Grütze Sägespäne im Brägen haben“, lachte Faust und gab sich ganz in die Umarmung. „Und was sagst du dazu, Justus? Ist der Hund nicht ein richtiger Teufelskerl?“ „Das war Comedy auf höchstem Niveau“, lachte ich. „O-Ton ab und Kamera drauf und der Kleinkunstpreis wäre uns sicher.“ „Trotzdem, für einen Moment sah es so aus, als würden sie dich abwürgen!“ Nun zog Faust Doktor Phisto an die Brust. „Mit so einem blöden Hundegesicht habe ich dich noch nie gesehen.“ „Ein bisschen Spaß muss sein!“ Christo de me Phisto strich über seinen Zwirn, als wäre tatsächlich Schmutz darauf. „Und nun war’s das! Wie weiter?“ Wir gingen vorbehaltlich der Nase nach. Und das hieß, wir stolperten die Bürgersteige rauf und runter und kamen auf keinen Plan. Nirgends ein Schild mit „Hier wirst du Superstar“, nirgends eine Tür, die sich für uns öffnete oder wo wir’s wagen mochten, anzuklopfen. Abend bald. Die Reklamen flimmerten. Und eine undeutbare Milde erhob sich und nahm der Fülle aller Dinge um uns herum viel von ihrer Bedrohlichkeit. Schließlich sagte Doktor Phisto: „Als Hund tun mir vom Gelatsche die Pfoten nicht halb so weh, wie’s mir als Mensch die Füße © wasser-prawda 99 Sprachraum tun.“ Und, hast du’s nicht gesehen, trabte der schwarze Pudel wieder zwischen mir und meinem Vater. Er hätte drei Sekunden warten sollen. Denn da gab’s das Angebot des Lebens für uns. So jedenfalls verkündete es der Typ, ein Gigolo mit drei Tonnen Übergewicht, der vor uns aus einem Türbogen trat und uns eine Mappe aufblätterte, aus der wir uns die Girls à la carte auswählen durften. „Machen alles inklusive und zum best Preis“, sagte er. „Trinken, essen, whirling, dance, fucking. Und super fresh alle Girls. Und super diskret. Und super sexy. Das werden super night for you.” “Die”, sagte Faust und schlug eine Hand zwischen die Blätter. „Die will ich sehen!“ Der Gigolo hielt ihm das Blatt hin. Es war eine dunkelhaarige, mollige Frau, die mit gespreizten Beinen auf einem Hocker saß und mit einer Hand ihr halb zu einem Rhombus rasiertes Schamhaar verdeckte. „Gutes Girl“, flötete er und brabbelte was in sein Headset. „Verry gutes Girl.“ Und mich fragte er: „Und was wollen du?“ Ich zerrte an Faust. „Was soll das, Papa? Begreifst du denn nicht?“ „Ahaha! Das ist Papa! Und das ist Sohn! Wollen beide zusammen gleiches Girl? Kein Problem.“ Er brabbelte wieder was ins Headset. „Walpurgia machen das.“ „Walpurgia!“ Faust nahm eine Haltung ein, als hätte er vor, einen Panzer umzurennen. „Walpurgia! Das ist ein Name für eine Tochter.“ „Kostet aber little bissel mehr“, sagte der Gigolo. „Aber immer noch best Preis.“ „Wir haben auch noch einen Hund“, sagte ich, fasste den schwarzen Pudel beim Nacken und zog ihn vor; konnte ja sein, dass der Typ uns noch nicht vollzählig wahrgenommen hatte. „Und der hat auch seine Ansprüche.“ Beim Gigolo zeigte das Wirkung, er verdrehte die Augen und knautschte die Lippen, als wär’s die bitterste Pille seines Lebens, dass er uns das Angebot unseres Lebens gemacht hatte. „Ein Hund! Dann doch Problem!“ Anscheinend wusste der Typ nicht, was er ins Headset sagen sollte. „Mit Tieren ist nicht Service. Und Walpurgia macht’s nicht. Ausgeschlossen.“ „Aber wir haben’s dem Hund versprochen“, sagte ich. „Wir sind ihm was Großes schuldig.“ „Ich will Walpurgia sehen!“ Faust machte einen Eindruck, als würde er durchdrehen. „Ich will sie!“ Die Tür, durch die der Gigolo zu uns auf die Straße getreten war, wurde geöffnet und Walpurgia trat einen Schritt hervor. Obwohl ihr Foto sicher vor einigen Jahren, wenn’s nicht Jahrzehnte her war, gemacht worden war, war sie noch nicht so ramponiert, dass sie nicht zu erkennen gewesen wäre. Sie schnippte eine Kippe auf die Straße und blickte mich und meinen Vater gewerbsmäßig an: herausfordernd, versprechend und mit dem sicheren Gespür dafür, an wen sie geraten war. „Oh Gott“, sagte sie. „Die beiden? Und das hätte ein so schöner Abend werden können!“ „Walpurgia“, sagte Faust. „Erkennst du mich, Walpurgia?“ „Besoffene nie vor Mitternacht“, sagte Walpurgia. Der Gigolo wies auf den Pudel und sagte: „Sie wollen auch den Hund dabeihaben. Aber ich habe Ihnen schon gesagt, dass die Nummer bei dir nicht läuft.“ 100 © wasser-prawda Sprachraum „Walpurgia?“, fragte Faust wieder. „In der Nacht auf dem Blocksberg! Das kannst du doch nicht vergessen haben!“ „Nun lass mal nach, Alter“, sagte Walpurgia. „Ich war auf so vielen Blocksbergen, auf’m ganzen Blocksgebirge war ich, und Nächte hatte ich da siebenundfünfzig Mal so viele wie Tage. Aber für dich, Alter, hab ich keinen Film im Kasten. Kapiert?“ Und mich fragte sie: „Der Hund ist sauber?“ Der schwarze Pudel knurrte so tief, als würde die Frage ihn ins Unterirdische drücken. „Walpurgia!“ Der Gigolo kämpfte mit sich. „Das ist nicht unser Service. Und wenn’s rauskommt. Bei was mit Viechern, machen sie uns die Bude dicht.“ „Ist der Hund sauber, habe ich gefragt“, ging Walpurgia mich an. „Er war noch nie sauberer“, antwortete ich. Der Pudel grollte im tiefsten Bass. „Fünftausend“, sagte Walpurgia. „Auf die Hand. Und das Ganze nicht länger als ’ne Stunde.“ „Walpurgia!“ Faust versuchte, Walpurgia zu umarmen. „Du hast gesagt, dass ich’s besser mache als Beelzebub, Satan und alle Fürsten der Finsternis zusammen. So was vergisst kein Mann.“ „Fünftausend“, wiederholte Walpurgia. „Das läuft ohne mich.“ Der Gigolo tänzelte in die Tür zurück. „Das ist nicht mein Geschäft.“ „Ich muss Orkan entlohnen.“ Walpurgia hielt den Typen fest. „Ich steh bei ihm mit über drei Riesen in der Kreide. Er bringt nun mal das beste Dope. Komm! Lass mich mit dem Trio ins Klinikum! Was soll’s! Ich bin auch wieder mal gut zu dir. Und jeder kommt in seinem Leben mindestens einmal auf den Hund.“ „Aber nur, wenn die Kamera mitläuft.“ Der Typ kam wieder einen Schritt auf die Straße zurück. „Mit so was hat man im Netz eine gute Resonanz.“ Faust griff Walpurgia bei einem Arm, zog sie an sich, schnaufte: „Nach dir ging’s mit keiner andern mehr. Nach dir war ich nur noch ein Mann in den Worten. Für dich hätte ich mich verleugnet. Tiefer noch, als Leverkühn es tat für meinen Sohn. Du warst die wahre Hexe in meinem Leben.“ Er griff nun auch nach mir. „Sogar meinen Sohn hätte ich verleugnet für dich. Ja, du warst das schöne Böse. Und nicht einmal JWG – wer immer es will, hab ihn selig – hat’s durchschaut.“ Der Gigolo brabbelte hektisch was ins Headset. Walpurgia schlug auf Fausts Hand, die sie am Arm hielt. Der schwarze Pudel gähnte. Und ich fragte mich: Waren wir wirklich und tatsächlich und in echt und überhaupt fortgekommen aus dem Bann der Anstalt meines Vaters und der Worte? Oder streckte sich und reichte sein Reich doch so weit darüber hinaus, dass es kein Entkommen daraus geben konnte? War der Wahnsinn die natürliche Dominanz des Existenziellen und dominierte er derart, dass es uns, Faust, Mephisto (hier in seiner trans-zendenten Manifestation als schwarzer Pudel) und mich, vor der billigsten Absteige versammelte, um uns in die schofligste Nummer des 21. Jahrhunderts zu vermitteln? Musste der Weg zum Superstar für mich immer nur durch Niederungen, psychotische Zustände und fremdgesteuerte Läuterungen führen? Warum gab es immer wieder Situationen, wie jetzt auch, in denen neue Rechnungen aufgemacht wurden und alle Glocken auf Katastrophe tönten? © wasser-prawda 101 Sprachraum „Ihr habt ’ne Klatsche, ihr!“ Walpurgia kriegte ihren Arm nicht frei aus Fausts Griff. „Vater, Sohn und Töle, ihr seid pervers. Trotzdem, mein letztes Angebot. Viertausend! Und ihr habt eine Stunde, wie ihr’s wollt.“ „Nun also.“ Faust ließ Walpurgia los. „Nun war’s das Letzte also und keine von den Nächten kehrt zurück, keine von den Lieben bleibt im Stand und kein Himmel hat sein Licht für immer.“ Er ging zwischen mir und Walpurgia, die ihm eine deftige Kopfnuss verpasste. Der schwarze Pudel pisste neben der Tür an die Wand, bevor er Faust folgte. „Was habt ihr hier eigentlich abgezogen?“, fragte mich der Gigolo. „Keine Ahnung“, antwortete ich. „Du hast uns angequatscht. Das war’s.“ Walpurgia zuckte die Schultern. „Obwohl“, sagte sie und blickte mich an, als hätte sie mein Gewicht auf zehntel Gramm genau abzuschätzen, „der Hund machte einen guten Eindruck.“ Ich ließ Faust und den Pudel mit Abstand vor mir hergehen. Keiner von beiden blickte auch nur ein einziges Mal zurück, um zu sehen, was mit mir war. Denn dass ich nicht in Schwierigkeiten mit dem Typen und seinen Leuten, die er ganz sicher schon alarmiert hatte, geraten war, gehörte nicht zum Angebot des Jahrhunderts dazu. Wir mussten für die Nacht unterkommen. Und ich dachte, dass es das Beste sein würde, wenn Mephisto auch mich und Faust zu Artgenossen seiner aktuellen Daseinsform machte. Als drei Hunde würden wir eine Nacht in der Stadt problemloser überstehen als in dieser Besetzung. Ein Hund hat Möglichkeiten und Rechte auf ein Leben, von denen ein Mensch nur träumen kann. Als Hund gilt dir nur eine Regel: Fressen, was dir vor die Schnauze kommt, und rechtzeitig verpissen. Und kein Hund ist der Sprache ausgeliefert, ein stiller, verschwiegener Hund gilt als angenehm, wäre er als Mensch still und verschwiegen, begegnete man ihm mit Misstrauen und unterstellte ihm Hochmut oder lebensfremde Verrückungen. Als Hund, so dachte ich, wäre ich momentan meine aussichtsreichste Variante aufs Überleben, denn nur darum ging’s zu dieser Stunde. Und wohl deshalb auch geschah es: Ich sah vor mir, wie der Pudel sich setzte und dass, als er saß, Faust zu einem stattlichen Altdeutschen Schäferhund mutierte, der sich neben dem Pudel niederlegte. Beide Hunde blickten zu mir. Ich blickte zu ihnen. Die Farbigkeit der Szene war gewandelt und auch die Perspektive meiner Wahrnehmung war eine andere. Ich blickte aus Kniehöhe, denn auch ich war zu einem Hund gemacht. So schnell und unkompliziert werden Wünsche erfüllt, stellt man sie zum richtigen Zeitpunkt und an den richtigen Adressaten. Nur, dass ich eine stichelhaarige Promenadenmischung von mittlerem Format war, als die ich mich im Schaufenster eines Kellerladens erkannte, verstimmte mich. Und ich knurrte den Pudel und den Altdeutschen Schäferhund beleidigt an, als ich zu ihnen gelangte. „Kein Gemecker“, sagte der Pudel. „Jeder trägt seinen hündischen Typus in sich. Ich konnte rassemäßig nichts für dich tun.“ „Ein klein wenig schäferhündischer hätte es trotzdem ausfallen dürfen“, meinte auch der Altdeutsche. „Und wenn’s nach dem Erbgut seiner Mutter entschieden worden wäre, hätte er einem Golden Retriever oder einem Afghanen ähneln müssen. So schämt man sich ja fast mit ihm.“ 102 © wasser-prawda Sprachraum „Wäre ich ein Pudel, wenn meine hündische Variante nach dem Erbgut gestaltet wäre?“ Der Pudel posierte vor dem Altdeutschen und der Promenadenmischung. „Hätte ich dann schwarze Lokken auf der Brust und gutmütige Augen?“ „Zumindest würdest du mehr einem Molosser gleichen und auf einem Hinterlauf hinken“, sagte der Altdeutsche. „Und stinken würde er auch“, sagte ich. „Der Dank der Undankbaren ist unermesslich in seiner Niedertracht“, sagte der Pudel und trabte voran. „Aber ich kann auch anders und ihr werdet es erfahren an eurem eigen Leib und euer eigen Seele.“ „Seine Drohungen haben schon ganze Völkerschaften erheitert“, sagte der Altdeutsche zu mir. Er lief dem Pudel nach und murmelte: „Wenn das in die Bücher kommt! O weh! O weh! Faust als Hund. Und sein Sohn als Köter. Und vorneweg Mephistopheles als Pudel. So sind sie unterwegs, weil sie in ihrer Urgestalt durch die Nacht nicht würden finden.“ Unser Finden durch die Nacht gestaltete sich zu Beginn schon spektakulär. Aus einer Kellernische, wo von den isolierten Heizungsrohren die Nachtkühle angenehm erwärmt wurde, vertrieb uns eine alteingesessene Hundegang. Der Rudelführer hatte eine deutliche Ähnlichkeit mit mir, war aber entschiedener in seinen natürlichen hündischen Anlagen. Er ging, als keiner von uns dreien auf sein Rollenspiel reagierte, das uns signalisierte, das Revier zu räumen, sofort zum Angriff über. Wir hatten schlicht kein Repertoire für solche tierischen Mätzchen. Und die Gang zögerte nicht, es ihrem Chef gleichzutun. In den Altdeutschen und in mich verbissen sie sich sehr heftig, nur unser dickes Fell bewahrte uns vor ernsthaften Verletzungen. Dennoch war, so scharfe Zähne an der Kehle zu spüren, kein Zuckerschlecken. In den Pudel wagte keiner einen Biss. Wir mussten das Weite suchen und gelangten zu einem Platz, der zu drei Seiten bebaut war. Der mittlere Bau war der imposanteste. Fünf Säulen im Portal, zwischen denen sich drei hohe Eingangstüren befanden, dominierten die Front. „Staatstheater“ war in Goldrelief und mit zementenem Lorbeer umgeben darübergeschrieben. Der Bau links davon war insgesamt schlichter, aber durchaus dem Stil des Staatstheaters nachempfunden. Dies war das Kammertheater, so war’s über den doppelflügeligen Eingang in kleinerem Goldrelief geschrieben. Der Bau rechts war eindeutig von zweckbestimmter Architektur, war ohne jeden Schnörkel und der Zugang war eine gewöhnliche Kasernentür, über der in profaner Leuchtröhre, auf Provinzbahnhöfen waren die Toiletten auf vergleichbare Art gekennzeichnet, „Probebühne“ zu lesen war. Im Zentrum des Platzes stand ein Denkmal. Es wurde, denn es war Nacht geworden, von vier Strahlern angeleuchtet. Der steinerne Mann auf dem Sockel war in einer nachdenklichen Pose dargestellt, dennoch würde er, verpasste man ihm nur den rechten Schubs, diese Hoffnung und Befürchtung hatte der Künstler mit hineingearbeitet in sein Werk, sich aufmachen und davonziehen einer neuen Herausforderung entgegen. In hellerleuchteten Schaukästen war das Programm des Theaters ausgestellt. Für das Staatstheater hingen an zwei Masten Ankündigungen der morgigen Premiere. Und das war der Hammer, denn es wurde „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe gegeben, der Tragödie erster und zweiter Teil in modernisierter Fassung. © wasser-prawda 103 Sprachraum Der Altdeutsche Schäferhund saß davor, schüttelte den Kopf und sagte: „Immer wieder dieser JWG. Wenn ich einmal längst vermodert bin, wird er immer noch gespielt.“ „Ich bin auch dabei“, meldete sich der schwarze Pudel. „Und bedenke, mein Faust, JWG ist schon längst und länger vermodert.“ Und die stichelhaarige Promenadenmischung, die ich war, sagte: „Da steht in modernisierter Fassung! Und vielleicht ist das Moderne der Fassung, dass ihr beide gestrichen seid? Auch in der Kunst, inklusive Literatur und Dramatik, ist Vandalismus eine Bedingung für Erneuerung.“ „Sei nicht mein Feind, Justus!“ Der Altdeutsche schnappte nach mir. „Auch nicht in der Polemik und auch nicht nur aus Lust, dem Alten eins reinzuwürgen.“ „Und wenn wir gestrichen worden wären, wir hätten’s gespürt.“ Der schwarze Pudel stupste dem Altdeutschen die Nase in die Flanke. „Wer so eng verlebt und verschrieben ist miteinander, wie wir beide, da spürt’s der eine wie der andere, wenn uns Gewalt angetan wird.“ „Aber warum bin ich euch ein Feind, wenn ich’s Mögliche benenne?“ Ich tippelte um die beiden herum. „Vater? Warum erträgst du es nicht, wenn ich etwas anspreche, zugegeben, ich tu’s etwas robuster als du, das du selbst zuvor für dich geltend gemacht hast?“ „Justus! Du bist so vulgär radikal. Du bist ohne das Feingefühl eines Sohnes, der seinen Vater liebt.“ Der Altdeutsche kratzte mit der rechten Hinterpfote seine Backe. „Du entwertest mich, wenn du so sprichst. Und was für Tragödie wär’s denn noch, wenn ich gestrichen wäre? Ja. Und warum Tragödie überhaupt?“ „Johann Heinrich!“ Der schwarze Pudel leckte sein Brustfell. „Mit einem Lustspiel oder einer Komödie wär’s doch nicht zu spielen mit uns.“ „Aber Trauerspiel unter meinem Namen!“ Der Altdeutsche legte seinen Kopf zwischen die Vorderpfoten aufs Pflaster. „Ich kann mich an keine einzige Träne erinnern. Nicht im Leben, nicht im Spiel und in der Anstalt schon gar nicht.“ „Dass du dich nicht erinnern kannst, muss ja nicht heißen, dass es sie nicht gegeben hat.“ Die Promenadenmischung hielt sich auf Distanz zum Altdeutschen. „Jedes Gedächtnis ist von Interessen manipuliert. Tränen passen nicht in das Schema, das du von dir in dich vermittelst. Also blendest du sie aus, weil du meinst, so, ohne Tränen, der bessere Faust zu sein.“ „Halt die Schnauze, Justus!“, ranzte mich der Pudel an. „Wenn ihr beide so weitermacht mit euch, geht auch der letzte Millimeter Spaß, den ich mit euch habe, flöten.“ Der Altdeutsche blickte zum Schaukasten, in dem das Programm des Kammertheaters angekündigt wurde, und lachte. Er las vor: „Für unsere jungen Zuschauer! Der Teufel mit den drei goldenen Haaren! Täglich ab siebzehn Uhr, bis zum Ende des Monats.“ „Davon habe ich schon gehört.“ Der Pudel streckte sich und verbog sich dann in einen Katzenbuckel. „Meine Sippe wollte klagen. Insbesondere, weil das Andenken unserer Großmutter schändlichst verunglimpft wurde.“ „Das würde ich mir sehr, sehr gern angucken wollen“, sagte der Altdeutsche und leckte einmal links, einmal rechts um sein Maul. „Von deiner Großmutter, mein Mephisto, habe ich nämlich über- 104 © wasser-prawda Sprachraum haupt keine Vorstellung. Ist sie die Großmutter mütterlicherseits oder väterlicherseits?“ „Ich habe euch schon viel zu viel von mir erzählt.“ Der Pudel deutete auf ein Schild neben dem Eingang. Es zeigte einen stilisierten Hund, der durchgestrichen war. „Für Hunde kein Zutritt heißt das“, sagte der Pudel. „Das ist bitter, Kameraden, aber auf das Schauspiel mit meiner Großmutter müssen wir verzichten.“ „Müssen wir nicht“, sagte ich, die Promenadenmischung. „Zum Beispiel dachte ich, vor ’ner Stunde vielleicht, dass durch die Nacht zu kommen, als Hund einfacher wäre, und schon waren’s mein Vater und ich. Warum soll’s umgekehrt nicht auch möglich sein?“ „Du warst das!“ Der Altdeutsche verzog die Lefzen zu einem Grinsen. Es stand ihm nicht gut. „Nein“, sagte der Pudel, „ich war’s.“ Ein Windstoß riss ein Blatt, das neben dem Eingang zur Probebühne an ein Brett geheftet war, ab und trieb es uns, als wär’s von einem Zustellservice arrangiert, direkt vor die Pfoten. Darauf stand „Die allerneuesten Leiden des jungen W. / Ihr seid herzlichst eingeladen. / Ein Projekt der Freien Theatercompanie RotBlau.“ Über den unteren Rand war mit drei Ausrufezeichen vorn und drei Fragezeichen hinten „In Anwesenheit des jungen W.“ geschrieben. „Der W. kann’s nicht lassen mit seinem Leiden!“ Der Pudel gähnte. „Der wievielte Aufguss ist das eigentlich schon?“ „Wie anstrengend“, sagte der Altdeutsche. „Leiden nach neuesten Ansprüchen und Erkenntnissen und stets auf hohem Niveau.“ „Der junge W. ist genau so ’ne Marke wie Coca Cola oder Greenpeace oder Faust.“ Die Promenadenmischung fühlte sich persönlich angesprochen, aber so, als hätte mich jemand an einer Stelle gekratzt, wo’s nicht juckte. „Er ist der puer aeternus vulgaris sozusagen. Ist ein Produkt und individuelle Kreation.“ „Wau“, sagte der Pudel. „Solch schlauen Hund lob ich mir.“ „Er spuckt doch nur aus, was ihm vorgekaut wurde.“ Der Altdeutsche streckte sich der Länge nach, es knackte schauderlich in seinen Knochen und Gelenken. „Wie heißt es? Ist der Vater dumm und die Mutter nicht klüger, wird auch der Sohn kein Überflieger.“ Und ich, die Promenadenmischung, hielt dagegen: „Wenn’s JWGeht in Faustens Kopf, packt er den Weimaraner noch beim Schopf und reimt und schleimt, bis unterm altem Schopf, die neue Grütze keimt.“ „Lasst es!“ Der Pudel machte auf verärgert. „Was fetzt ihr euch um anderer Leute Schleim! Mir reicht’s bald.“ „Nana, du schwarzer Pudel“, sagte der Altdeutsche. „Gefährlich wirst du erst im Rudel.“ Der Pudel stellte sich auf seine vier Pfoten. „Verschone mich mit deiner greisenhaften Muse, Faust. Dem JWG bist du es gram, aber selber übertriffst du ihn darin noch.“ Es schlich jemand heran, wir Hunde hatten die Witterung im Kollektiv. Ein gewichtiger Schemen. Er war vermummt bis unter die Nasenspitze, hatte eine Kapuze übergezogen. Er entdeckte die drei Hunde, die wir waren. Aber er hatte mit solchen Tieren offenbar noch keine schlechten Erfahrungen gemacht, denn es hielt ihn nicht davon ab, näher an die Werbetafeln der Tragödie erster und zweiter Teil zu schleichen. Nach dem er sich vergewissert hat- © wasser-prawda 105 Sprachraum te, nicht von Menschen beobachtet zu werden, zog er eine Spraydose aus seiner Kleidung und sprühte mit roter Farbe „Lüge“ über den Schriftzug „Faust“. Er ging zwei Schritte dazu auf Abstand, legte den Kopf zur Seite. Und dann umrahmte er „Lüge“ mit einem gleichfarbigen Oval. „Der Kerl ist ein Nihilist“, knurrte der Altdeutsche. „Tragödie musst du streichen.“ Er trabte zu dem Sprayer. Der suchte sogar den finsteren Himmel ab, um zu entdecken, wer zu ihm gesprochen hatte; dass es der Hund gewesen war, der sich vor ihm auf die Hinterläufe stellte, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, zog er nicht ins Kalkül. Und so sagte der Altdeutsche: „Die Tragödie ist die Lüge, nicht Faust.“ „Das ist ein Witz, oder?“ Der Sprayer wich vor dem Altdeutschen zurück. „Ihr wollt mich lächerlich machen, ihr Staatstheaterdiener, weil ihr mich mit Ablehnungen nicht kleinkriegt.“ Der Pudel war hinter den Sprayer gelaufen, sodass der, da er sich weiter nach hinten vom Altdeutschen wegbewegte, über ihn zu Boden stolperte. Er landete genau auf seinem Po und so blieb er. Der Pudel blieb hinter ihm, und der Altdeutsche setzte sich vor ihn. Und die Promenadenmischung ging auch dahin und setzte sich neben den Altdeutschen. Dem Sprayer war die Kapuze vom Kopf gerutscht, sein Gesicht war entblößt. Es war dicklich, bartlos. Der Schädel war bis auf eine Mittelscheitelbürste rasiert. Am Haaransatz war die Bürste schwarz gefärbt, die Spitzen gelb und dazwischen war’s Haar so rot wie die verwendete Farbe. „Wenn noch einer von euch was sagt“, sagte der Sprayer, „unterschreibe ich freiwillig meine Einweisung in die Klapsmühle.“ „Ich kann mich nur wiederholen“, sagte der Altdeutsche. „Die Tragödie ist die Lüge, nicht Faust.“ Der Sprayer schleuderte die Spraydose gegen die mittlere Tür im Portal des Staatstheaters. Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. „Und er muss es wissen“, sagte der Pudel. „Er ist der Einzige, dem in Sachen Faust keiner was vormachen kann.“ „Das ist ’n Hund“, stöhnte der Sprayer hinter seinen vorgehaltenen Händen. „Und nur, wenn er selber Faust wäre, könnte ihm keiner was vormachen.“ „Dann wird’s wohl so sein“, sagte die Promenadenmischung. Der Sprayer zog seine Hände langsam von seinem Gesicht, es war so gänzlich ohne Ausdruck, wie in einer leeren Flasche kein Schluck mehr ist. „Du bist Faust?“, fragt er den Altdeutschen. Der Altdeutsche nickte. „Dann bist du?“, er wandte sich an Mephisto. „Mephistopheles?“ „Es blitzt in deiner Birne“, sagte der Pudel. „Du stehst im Stoff.“ „Und wer bist du?“, fragte mich der Sprayer. „Ich bin misslungen, wie du siehst“, antwortete ich. „Mein Sohn ist nicht misslungen“, knurrte der Altdeutsche. „Ich will das nicht noch einmal von dir hören, Justus!“ „Als Hund ist’s doch augenscheinlich!“ Ich tippelte einmal vor und einmal zurück, damit der Sprayer mich genauer betrachten konnte. „Und so viel Freude hast du als Vater auch nicht an mir.“ „Aber misslungen bist du trotzdem nicht“, beharrte der Altdeutsche. Er leckte dem Sprayer übers Gesicht und der nahm’s hin. „Ich weiß nicht warum, aber du gefällst mir trotzdem.“ 106 © wasser-prawda Sprachraum Der Sprayer fasste den Altdeutschen hinter beide Ohren, zerrte ihn nach links, nach rechts, bis der sich energisch freimachte. „Tatsächlich ein echter Hund.“ Der Sprayer schlug die Knöchel beider Hände vor seine Stirn. „Wie funktioniert das? Wer hat euch trainiert? Das ist doch kein Zufall? Das ist – genau, das ist’s! – das Vorspiel der Tragödie dritter Teil. Ja. Ein Hund ist der wahre Faust der Zukunft. Ja. So muss es auf die Bühne. Und so wird’s von der Bühne sich Raum nehmen in der Gesellschaft. Ja. Ich werde verrückt.“ Der Sprayer legte sich aufs Pflaster, als würden alle Sonnen des Alls auf ihn scheinen. „Ja, ich möcht verrückt werden“, sagte er. „So viel Wahnsinn hält man sonst nicht aus.“ Er zog ein Handy aus der Brusttasche des Sweatshirts, wählte eine abgespeicherte Nummer. Bevor er eine Verbindung bekam, hob er den Kopf und ermahnte uns drei Hunde, die um ihn herum saßen. „Nicht abhauen, ihr Schwarmgeister! Die Nummer reize ich aus. Das ist die Chance, die aus Max Schiller den Supermax macht. – Max Schiller bin ich.“ „Und ich bin Justus Faust“, sagte die Promenadenmischung. „Und ich will Superstar werden.“ „Äh!“ Das drückte Max aufs Pflaster zurück. Die Fragezeichen und Ausrufezeichen, die in seinem Kopf waren, schwirrten vom Aufprall als oszillierende Spirale um seinen Kopf – so sahen’s wir Hunde. Aber dann bekam er die Verbindung. „Schnecke“, sagte er, „hier ist Mäx’l. Hör zu! Schnapp dir die Kamera und komm zum Theater. Hier läuft ein Ding, das kannst du dir nicht vorstellen. Wahnsinn hoch was weiß ich. Nein. Mich hat keiner geschnappt und ich bin so clean wie Aspirin. Beeil dich. Wir sind mit allem aus’m Schneider, wenn wir’s nicht verkacken. Mach schnell! Ja, Küss’l.“ Max steckte das Handy weg, jetzt erst betastete er einen Hinterkopf. „Da wächst dir ein Ei“, sagte der Pudel. „Was uns nicht umbringt, macht uns stark“, sagte Max. „Und leichte Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen“, sagte der Altdeutsche. „Die Methodik zur Beförderung der Menschlichkeit hat seit der Steinzeit keinen innovativen Schub mehr erfahren. Die Jugend von heute und die Jugend von morgen krankt an den gleichen psychogenen Symptomen, sie besetzt die falschen Idole mit falschen Idealen. Und plötzlich kollabieren die Enkel an den avantgardistischen Neurosen der Ahnen.“ „Äh“, krächzte Max den Altdeutschen an. „Aus welchem Zauberbeutel seid ihr entflohen? Was ist das für ein Psycho-Mix? Ist das Hundeschule auf Survival-Art? Oder akademische Unverbindlichkeit hundsgerecht einstudiert und kindsgerecht vorgetragen?“ „Äh“, äff te der Pudel Max nach. „Was ist’s für Gemaxe, das du mit uns abziehst? Was mäxelst du hier vorm Staatstheater?“ Damit hatte der Pudel Max angestochen. Er sprang auf und hopste wie ein fettleibiges Rumpelstilzchen vorm Staatstheater herum und keiferte: „Ich – ich, Max Schiller – habe diesem Haus einen dritten Teil der Tragödie geschrieben. Ein Auftragswerk per Handschlag in der Kantine weit nach Mitternacht besiegelt. Ich habe in dem Haus fünf Jahre in den Kulissen malocht, habe sozusagen Theater von der Rückseite erlebt und gemacht. Aber egal, von welcher Seite man es sieht, Theater bleibt Theater, es ist ein Vormachen allein zu dem Zweck, damit die Leute, die die Zahlen bringen, ihre Patscherchen aneinanderschlagen. Und irgendwann dachte ich, das kannst du auch, Max Schiller, denen ’ne Spielvor- © wasser-prawda 107 Sprachraum lage liefern, das bringst du, einen Text, ein Stück, ein Schauspiel. Aber’s Können allein reicht nicht, man muss es besser können. Und als ich so weit war, dass ich dachte, dass ich’s besser könnte, habe ich’s denen gesagt, denen vom Staatstheater. Nach der Premiere von den Räubern von Schiller. Dem Intendanten habe ich’s gesagt. Ich habe genug Dreck gefressen vom Theater, habe ich ihm gesagt, jetzt will ich’s wissen, wie es ist, wenn man selber welchen macht. Und ich habe ihm was erzählt vom dritten Teil der Tragödie, worauf, wenn nicht die ganze Welt, so doch halb Deutschland drauf warten müsste. Denn das kann’s doch nicht gewesen sein mit unserm Faust, dass der sagt: Im Vorgefühl von solchem hohen Glück genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“ „Das habe ich nie gesagt.“ Der Altdeutsche schüttelte sich wie nach einem Bad. „JWG hat’s mir angedichtet, reimgetreu.“ „Ihr seid eine verflixt bedenkliche Bande.“ Max feixte und sein dickliches Gesicht verzog sich von einem Ohr bis zum andern. „Aber ich nehme euch so, wie ihr seid. Ist ja bekannt, dass in jedem Hund der bessere Herr steckt. Also habe ich mich hingesetzt und der Tragödie dritten Teil verfasst. Faust und Mephisto waren schon auf der ersten Seite erledigt, die standen jedem Wort verquer mit ihren literaturhistorischem Ballast, waren vernagelt und verkleistert mit Interpretationen, waren, als ich sie anrührte mit Worten, so monumentale Gestalten, dass ich sie hätte zertrümmern müssen, um sie ins Spiel bringen zu können. Und das brachte ich nicht. Auch, weil eine andere Figur wie von selbst in die Protagonistenrolle drängte. Der einzige Mann, der – dass er in vielen Passagen genauso schwafelte wie die beiden Großchargen der Tragödie, ist ihm nachzusehen angesichts seiner Leistung – etwas schuf, der auf sich vertraute, sich nicht versteckte hinter einem Faustschen Höllenzwang oder aus Furcht, draufzugehen bei seinen Experimenten, nicht im gefährlichen Bereich agierte. Wagner! Wagner ist der tatsächliche Pionier der Charade. Ich hatte, nachdem mir das bewusst geworden war, keine Chance einer Wahl. Wagner ist mein Held der Tragödie dritter Teil. Aber diese Hengste von der Intendanz und Dramaturgie und Oberspielleitung und Regie und Theaterbeirat und Schauspielerkomitee und Kultursenat haben’s mir um die Ohren gehauen. Wen interessiert Wagner, haben sie mich gefragt. Mit so kleinen Männern macht man kein großes Theater. Eine Wiedererstehung Fausts im dritten Teil der Tragödie, das wär’s gewesen! Dass er sich lossagt vom Bösen und vielleicht ein Mittel gegen Aids oder Sexsucht auf den Markt bringt? Oder dass er bin Laden fängt und den Terrorismus aufmischt? Oder dass ihm, und das nicht nur mit Appellen an die Vernunft, was gegen den Klimawandel einfällt, das die Wirtschaft akzeptiert. Wagner, Mäx’l, haben sie mir gesagt, ist ein Mann ohne Eventpotenzial. Wagner ist ein kaltes Eisen fürs Theater.“ „Wagner ist meine Frau“, sagte die Promenadenmischung. „Und wenn die ein kaltes Eisen ist, dann ist die Sonne Schnee und Asche.“ „’ne Schwulenehe!“ Max blickte zwischen meine Hinterläufe. „Das hätte mir einfallen sollen. Faust und Wagner miteinander im siebten Himmel. Die beiden treten vor den Altar, Mephisto traut sie und Gretchen und Helena geben die Trauzeugen. Das hätte mir einfallen müssen.“ 108 © wasser-prawda Sprachraum Der klapprigste R5, den die Hauptstadt je gesehen hat, fuhr auf den Platz vorm Staatstheater. Und das war’s wohl, was Max davor bewahrte, dass der Pudel und der Altdeutsche sich auf ihn stürzten und ihm bewiesen, dass sie scharfe Zähne hatten. Am Steuer saß eine junge Frau, die, noch als sie fuhr, eine Kamera zum Fenster raus hielt und ihren Mäx’l und die Hunde, die um ihn herum waren, filmte. „Halt drauf, Schnecke!“, rief Max ihr zu. „Halt drauf und Mikro an.“ Die Schnecke stieg aus. Der R5 verröchelte im Standgas. Und mir blieb die Luft weg und mir gingen die Puste aus und das Licht auch und ein vergessener Himmel voller Geigen stürzte ein über mir. Die Schnecke war Aloa. Sie hatte etwas mehr Fleisch auf den Hüften als zu unserer Zeit, Sympathiespeck ihres Mäx’ls wegen, aber an ihrer Wirkung als Frau kratzte das nicht. Sie kam mit der Kamera im Anschlag auf uns zu, winkte Max. „Nun sagt mal wieder was“, forderte Max uns Hunde auf. „Ihr seid nicht nur sprechende Hunde, sondern ihr habt auch noch was zu sagen. Los! Ton ab!“ „Ich halte die Schnauze“, sagte Mephisto. „Und ich mache dazu auf geselliger Typ“, sagte Faust. „Sprechende Hunde schweigend. Das ist die wahre Sensation, Max!“ „Hast du’s?“, fragte Max seine Schnecke. Die Schnecke nickte, hielt die Kamera weiter auf uns Hunde und gab Max einen flüchtigen Kuss auf eine Hälfte seines rasierten Schädels. „Das ist ’n Trick“, flüsterte sie ihm zu. „Und das hier vorm Theater. Irgendwer von den Gipsköpfen führt dich vor. Wir dürfen nicht drauf reinfallen.“ „Das sind Hunde aus Fleisch und Blut.“ Max schüttelte den Kopf, als glaube er seinen eigenen Worten nicht. „Und was sie von Faust sagen … Oh, Schnecke.“ Er klammerte Aloa an sich. „Sag mir, dass ich nicht verrückt bin. Sag mir, dass es nicht wieder losgeht und ich in die Therapie muss und ich der Tragödie dritten Teil leben muss bis ins Blut der Steine und dass ich stehle die Herzen aus den Dingen und der Geschmack des Todes mich lockt unbarmherzig.“ „Du bist nicht verrückt, das sage ich dir“, sagte Aloa. „Wenn hier was verrückt ist, dann sind’s die Hunde.“ Der Pudel sah mich an und ich dachte: Ein verrückter Hund! Nein. Das will ich nicht sein. Das ist als Mensch schon über alle Verantwortung, verrückt zu sein, und als Hund treibt’s einen noch hinters Wölfische zurück. Ein verrückter Hund kann den Wahnsinn nicht genießen, es entfesselt ihn nicht von seiner Natur, sondern er wird ihr auf entmündigende Weise unterworfen. Und das vor Aloa! Nein. Und wieder war’s kaum gedacht, da war’s vollbracht. Aloa fiel vor Überraschung die Kamera aus der Hand, als sie mich, Faust und Mephisto in unserer Urgestalt sah. Max nahm die Kamera schnell wieder auf, schwenkte sie von einem zum andern, sagte: „Das war die Introduktion des transformatorischen Vermögens von Kunstgestalt und evolutionärer Dominanz. Was wir soeben erleben durften, ist der Beweis für die transzendente Macht wortgewaltigen Establishments. Wir sahen drei Hunde unterschiedlichster Rasse und haben nun drei Männer, die ihre © wasser-prawda 109 Sprachraum Provenienz selbst vorstellen werden.“ Er zielte mit der Kamera auf Faust. „Bitte stellen Sie sich vor! Sie sind?“ „Ich bin Johann Heinrich Faust“, sagte mein Vater. Er rückte näher zu mir. „Und das ist mein Sohn Justus.“ „Justus“, hauchte Aloa. „Du bist’s. Ja. Was machst du? Warum willst du’s noch mal anfangen mit uns? Warum dieser Zirkus?“ „Ich bin Doktor Christo de me Phisto“, sagte Mephisto. „Ich vertrete Doktor Faust und seinen Sohn anwaltlich wie in freundschaftlicher Verbundenheit.“ „Du kennst den?“, fragte Max seine Aloa „Du kennst Fausts Sohn?“ „Er hat mich entjungfert“, sagte Aloa und schlug Max die Kamera aus der Hand. Sie fiel aufs Pflaster, ein Teil splitterte ab. „Er war meine erste große Liebe.“ „Die Welt ist Mäusedreck und Würfelspeck“, sagte Mephisto. Und ich sagte. „Davon weiß ich nichts. Aloa. Davon habe ich nichts bemerkt. Ja. Es war was Großes mit uns. Ja. Aber du hast es nicht länger gewollt.“ „Die Welt ist Hinkepott und Seelenschrott“, sagte Faust. „Die Welt ist ungerecht“, sagte Max. Er hob die Kamera auf, drückte das abgesplitterte Teil wieder fest. Und er blickte ins Recorderdisplay und jubelte: „Es ist nichts verloren, Schnecke. Wir haben’s. Du hast es drauf. Ich kann es sehen. Es passiert nichts mit den Hunden. Sie verformen sich nicht, sie verlieren kein Fell, sie leiden nicht. Sie können einmal Hunde sein und einmal sind sie Menschen, wie sie’s bedürfen verwandeln sie sich. Das ist’s.“ „Max“, sagte Aloa. „Die erste große Liebe vergisst man nicht, das weißt auch du.“ Max bekümmerte Aloas Bedrückung nicht. Er hatte wieder sein Handy zur Hand. „Ich muss Fletscher rankriegen, der hat die Connections.“ „Max!“ Aloa trat näher zu mir. „Ich habe was mit Justus zu bereden. Unter vier Augen.“ „Ich bin verheiratet, Aloa“, sagte ich. „Und mein Vater ist auch hier.“ „Hab ich schon kapiert.“ Aloa war so, wie’s früher auch mit ihr gewesen war, mit einem Wort auf hundertachtzig. „Und seine Frau ist schwanger“, sagte Faust. „Wagner ist schwanger?“, fragte Max. „Dann wird’s apart.“ „Warum soll seine Frau nicht schwanger sein!“ Aloa schlug wieder nach der Kamera. Aber Max kannte ihre Macken auch, war darauf eingestellt und der Schlag wurde kein Treffer. „Justus bringt’s eben. Was man nicht von jedem sagen kann.“ „Ich bin ein Intellektueller“, konterte Max. „Die organisieren sich die Hormone nach Bedarf und nicht nach Lust und Laune.“ Er hatte die Verbindung mit Fletscher und sagte: „Fletscher? Hier ist Max. – Was heißt, welcher Max? – Genau, der Max. Du, ich hab was aufgerissen, das ist granatenmäßig. Wenn wir das richtig zum Kochen bringen, haben wir ausgesorgt. Hier stehen drei Typen vor mir, du, das glaubst du nicht … Hallo! Fletscher? Hallo!“ Die Verbindung wurde beendet. „Scheiße“, sagte Max. „Der hängt bestimmt irgendwo in Moskau auf einer Hochzeit ab und kämpft sich von Funkloch zu Funkloch. Fletscher ist einer der wichtigsten Leute auf dem Medienmarkt.“ „Und deshalb weiß er, dass alles, was du bisher granatenmäßig aufgerissen hast, Rohrkrepierer waren.“ Aloa ging zum R5, bedeu- 110 © wasser-prawda Sprachraum tete mir, ihr zu folgen. „Komm, Justus! Ich habe eine Frage, die nur uns beide angeht.“ Wir setzten uns nach vorn in den R5. Wir sahen, wie Max, Faust und Mephisto auf das Display der Kamera hinwies und wie die beiden ihm etwas zu erklären versuchten, das er aber auf Anhieb nicht begriff. „Du darfst nicht denken, dass ich Max liebe“, sagte Aloa. „Ich hatte keine gute Zeit nach der Zeit mit dir. Und er war da. Und er – so, wie du ihn jetzt erlebst, glaubst du’s sicher nicht – bringt mich zum Lachen. Es gibt mit ihm so unbeschwerte Momente, da kann ich vergessen, wie weh das Leben tut. Max ist der geborene Komödiant, ein Leichtmacher, auch bei vollem Ernst hat er die Lacher auf seiner Seite, weil er es ernst meint damit, kein Spaßvogel sein zu wollen. Bei Max hatte ich Luft.“ „Du hattest eine Frage“, sagte ich. Aloa schaltete für einen Wisch den Scheibenwischer ein. Die Blätter strichen knirschend über das trockene Glas. Max rief: „Wir kommen gleich.“ Und Aloa sagte. „Als wir zusammen waren. Damals. Ich hatte bei allem, was mit uns war, das Gefühl, dass du deine Mutter in mir finden wolltest. Ob mit deinem Schwanz, mit deinen Fingern, mit deiner Zunge, du warst in mir auf der Suche, nein, du warst in mir auf der Jagd nach deiner Mutter. So habe ich es empfunden. Und das wollte ich dich fragen: Habe ich recht damit?“ „Das hast du empfunden?“ Auch ich ließ den Scheibenwischer einmal arbeiten; es war ein Augenblick, in dem auseinanderfiel, was die Welt zusammenhält, unsere Übereinkunft mit den Dingen, dass sie uns unser Verlorensein in der Allmächtigkeit der Teile und Teilchen nicht aufrechnen, wenn’s denn sein muss einmal – und einmal muss es sein –, als Scherz. „Meine Mutter war das Problem mit uns?“ „Vielleicht hätte ich es dir sagen sollen, dass du oft, wenn es am höchsten war mit uns, nach ihr gerufen hast.“ Aloa strich über meine Hand, die völlig absichtslos auf dem Griff der Handbremse ruhte. „Mama! Mama hast du gerufen. Komm doch, Mama!“ „Ich habe keine Erinnerung. Das musst du mir glauben.“ „Ich muss gar nichts.“ Aloa drückte die Hupe. „Und glauben muss ich schon gargar nichts.“ „Wir kommen gleich!“, rief Max wieder. Es schien, als wolle es ihm nicht gelingen, Faust und Mephisto zu überreden, in den R5 zu steigen. „Und von dieser Nummer, die du mit den beiden Typen vor Max abziehst, glaube ich gargargar nichts und noch mal nichts.“ Aloa lachte. „Drei Straßenköter beißen sich durch ein Stück Weltliteratur und Max Schiller, der Hummeltreiber – das ist sein Spitzname, weil er ständig was am Summen hat, aber nichts zum Brummen bringt –, reißt sie auf, sie springen aus’m Pelz und so weiter. Wo ist der Sinn von all dem, Justus? Was ist der Sinn, dass wir beide uns wiedersehen?“ „Ich“, sagte ich und wusste eigentlich nicht, was ich zu sagen hatte, „ich hatte es nicht leicht, nachdem du mit uns Schluss gemacht hattest.“ „Der Sinn, Justus?“ Aloa presste ihre Hände ineinander. „Es quält uns doch wieder. Und was für einen Sinn macht es, dass wir zulassen, dass es uns so quält?“ „Fahr!“, sagte ich. „Was sagst du?“, fragte Aloa. © wasser-prawda 111 Sprachraum „Fahr los!“, rief ich. „Fahre die drei da vor uns über den Haufen! Fahre jeden zu Klump, der sich uns in den Weg stellt. Fahr, wenn’s diese Karre noch macht. Aber fahr!“ „Was willst du wirklich, Justus Faust?“ „Das will ich!“, rief ich wieder. „Aber du hast eine Frau.“ Aloa berührte den Zündschlüssel. „Und der Alte da vorn ist dein Vater. Und mit dem, was ihr vorhabt, wird’s dann nichts mehr werden.“ „Wir müssen hier weg.“ „Wie ist deine Frau?“ Aloa bewegte den Schlüssel im Zündschloss. „Du liebst sie doch. Nach dem Kauderwelsch, was Max dazu gesagt hat, kann ich mir kein Bild machen.“ Ich war außerstande, Aloa etwas über Marie Anne zu sagen. „Kennst du sie schon lange? Wo ist sie jetzt? Lebt ihr zusammen?“ Wie erklärt’s sich, dass man und wie man einen Teil seiner Zeit im Reich seines Vaters verbrachte, stets wandelnd auf der Grenze zwischen Leere und Nichts, in Gesellschaft abstrusester Gestalten und im Bann der Krümmungen und in sich zurückgeführter Perspektiven? Wie beschreibt man’s Verbrauchtsein in einem Kopf, dessen kosmische Dimensionen ausschließlich auf einem Blatt Papier und außerhalb jeder geometrischen Gesetzlichkeit darstellbar sind? Wie beantwortet man die Frage nach seiner Frau, wenn man, außer zu wissen, dass sie Marie Anne heißt, keine Erinnerung an sie hat? Wie kann aus und von einem Raum berichtet werden, dessen existenzielle Grundbedingung es ist, mit Erinnerungen nicht belastet zu werden? Indem Erinnerungen nicht möglich werden, weil alles darin Jetzt ist und Jetzt bleibt? „Meine Frau heißt Marie Anne“, sagte ich. „Sie hat eine lange Geschichte.“ „Toll“, sagte Aloa. „Wer hat heutzutage noch eine Geschichte? Verbrecher und Schauspieler.“ „Warum fährst du nicht?“, fragte ich. „Das Benzin reicht bis in die Brüderstraße, wo wir wohnen, und dann noch, wenn wir Glück haben, bis zur nächsten Tanke. Und Geld habe ich nicht einstecken.“ „Vernunft ist scheiße? Oder?“ „Es ist nicht Vernunft.“ Aloa drückte wieder die Hupe und startete den Motor. „Wenn’s nur Vernunft wäre, könnte man dagegen ankommen. Es ist das Machtwort der Freiheit, sich einer entfreiten Freiheit zu verweigern.“ „Also doch Vernunft“, sagte ich. Max, Faust und Mephisto kamen nun im Laufschritt zum R5. Max wollte partout vorn neben Aloa sitzen, sodass ich mich auf die Rückbank zwischen meinen Vater und Mephisto zwängen musste. Bevor Aloa losfuhr, sagte Faust: „Ich vertraue dir, Max Schiller, du hast mich überzeugt.“ Und Max sagte: „Zwischen Tragödie und Komödie gibt es einen schauspielerischen Akt, der ausschließlich mit sich selbst befasst ist, den Autor. Schauspielerischer Akt deshalb, weil jeder Autor das Schauspiel einer zwischen Tragödie und Komödie vagabundierenden Existenz bietet.“ „Das liebe ich so an dir, Max“, sagte Aloa und fuhr los. „Dass du immer wieder Typen anschleppst, die dir den schärfsten Blödsinn als höchsten Tiefsinn verkaufen.“ „Ich verkaufe nichts“, sagte Mephisto. 112 © wasser-prawda Sprachraum „Und ich verkaufe auch nichts“, sagte Faust. „Aber ich werde euern Justus verkaufen“, sagte Max. „Schon seine Geschichte hat, wie ihr beide sie mir in Kürze erzählt habt, ohne dass er Superstar werden muss, Bestsellerpotenzial.“ Er wendete sich zu Aloa. „Du kommst nicht drauf, wer die Mutter von dem Burschen ist?“ „Helena ist seine Mutter“, sagte Aloa. „Aber du hast mir vorhin wieder einmal nicht zugehört, sonst hättest du nicht gefragt.“ „Klar hab ich dir zugehört, Schnecke. Mit dem hattest du dein erstes Mal. Aber hier geht’s nicht um euern Kinderschmus! Ab jetzt geht’s um Moos.“ Aloa drehte sich zu mir um. „Verzeih mir, dass ich nicht gefahren bin, als du’s wolltest“, sagte sie. „Aber Freiheit ist genauso scheiße wie Vernunft.“ Der R5 holperte, klapperte und ratterte über die Straßen. Max hatte sein iPhone zur Hand, zog sich Informationen aus dem Netz. Mephisto pfiff vor sich hin. Und mein Vater sagte, nachdem er lange Aloas Rücken betrachtet hatte: „Der Nacken einer Frau ist der Steckbrief zu ihrer Leidenschaftlichkeit. Sage ich dir da was Neues, Justus?“ Ich ignorierte die Frage. Aber ich versuchte, mir den Nacken meiner Frau vorzustellen. Es gelang mir nicht. Jedenfalls nicht so, dass ich’s gelten lassen konnte. Was sich mir als Bild erstellte, war das Hintere eines kurzen, faltigen Halses, auf dem der Haaransatz vom Alter ausgedünnt war und wodurch sich keine Leidenschaftlichkeit vermittelte. Und das Bild eines andern Nackens, der schlank und gespannt war und aus dem blondes, im Ansatz rötliches Haar aus der Mittellinie in lockiger Symmetrie spross und sich wie ein Versprechen auf Leidenschaft ins Kopfhaar verwuselte, kam auf und schob sich in meinen Blick auf Aloas noch immer kindlich zarten Nacken. Und dieses Bild zeigte mir den Nacken meiner Mutter, eine Region ihres Körpers, die ich einst mit ebenso abenteuerlichen Phantasien wie rastloser Faszination besetzt hatte. Und mich schauderte vor meinen banalen Ungeheuerlichkeiten. Anzeige © wasser-prawda 113 Sprachraum R˘ˋˎ˛˝ K˛ˊˏ˝ - D˒ˎ Vˎ˜˝ˊ˕˒˗˗ˎ˗ Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Erzählt nach eigenen Erlebnissen. Band 1. 6. Die neuen Befehle. ›Das goldene Horn‹, ein Meeresarm, trennt Konstantinopel von den beiden Vorstädten Pera und Galata. Während ersteres mit seinen schmutzigen Gäßchen und Winkeln, gebildet von fensterlosen Häusern, noch einen vollkommen orientalischen Eindruck macht, besitzen die beiden Vorstädte der türkischen Residenz ein mehr europäisches Aussehen. Schon, daß in Galata der Hafen für die fremden Schiffe liegt, macht die ganze Stadt zum Versammlungsorte der Engländer, Franzosen, Italiener, Griechen, und so weiter. Auch für Unterhaltung der Mannschaft der hier ankernden Fahrzeuge ist reichlich gesorgt. In einer Weinstube saßen zwei Männer spät abends zusammen, wenn der Raum eine solche Bezeichnung verdient, denn die Lokale Peras und Galatas, in denen griechische und spanische Seeleute verkehren, zeichnen sich durch eine ganz besondere Unreinlichkeit aus. Beim ersten Blick waren die beiden als Seeleute zu erkennen, auch wenn sie nicht ihr leises, eifriges Gespräch fortwährend mit Flüchen, wie sie auf Schiffen gebräuchlich sind, gewürzt hätten; der Schnitt der Kleidung verriet es dem Beobachter. Der eine von ihnen war eine magere, knochige Gestalt mit scharfer Adlernase, eisgrauem Haupthaar uud gleichfarbigem Schnurrbart. Das linke Auge fehlte ganz und läßt ihn als einen alten Bekannten wiedererkennen, den Seewolf, der hier in Konstantinopel sein Schiff, den ›Friedensengel‹, mit Weizen befrachtete. Der andere war offenbar ein Grieche. Das dunkle und zugleich scharf blickende Auge, der kurzgehaltene, schwarze Vollbart, wie auch die kleine Gestalt stempelten ihn dazu. Sie unterhielten sich in spanischer Sprache. »Noch einen Krug Roten!« rief jetzt barsch der Grauhaarige, und sofort erhob sich aus einer Ecke der elenden Spelunke, welche das Licht der matt brennenden Oellampe nicht erhellte, ein altes Weib, um den verlangten Wein zu bringen. Nachdem die Gläser frisch gefüllt waren, begann der Grieche wieder in flüsterndem Tone, seinen Mund fast bis an das Ohr des Einäugigen neigend: »So seid Ihr also auch auf zehn Uhr hierher bestellt worden, um neue Befehle vom Meister zu empfangen? Bin gespannt, was er diesmal hat.« Der andere nickte stumm. »Geniert Euch nicht,« sagte er dann mit lauter Stimme und deutete dabei nach jener Ecke, wo die Frau wieder verschwunden war. »Die Alte gehört zu unserer Bande und hat vielleicht mehr auf dem Gewissen, als wir beide zusammen. Aber sagt, wo habt 114 © wasser-prawda Sprachraum Ihr gesteckt, seit Ihr den ›Friedensengel‹ verließt und Euch der Meister ›etablierte‹?« »Ich erhielt in Algier ein Schiff, die ›Nixe‹, das Ihr gesehen habt, und schaff te von der afrikanischen Küste Mädchen nach Spanien und Frankreich. Feine Ware, kann ich Euch sagen. Doch diese Engländer, die Gott verfluchen möge, sahen mir zuletzt scharf auf die Finger; der Meister erfuhr‘s, und so erhielt ich vor vierzehn Tagen in Algier den Befehl, nach Konstantinopel zu segeln um in dieser Schenke neue Aufträge zu erwarten. Unterwegs änderten wir die Takelage des Schiffes, strichen es anders an und tauften es ›Undine‹. Die Papiere waren bereits in Ordnung, und nun bin ich als ehrlicher Weinhändler hier, um aber jedenfalls wieder nebenbei Mädchen nach anderen Ländern zu paschen.« Der Einäugige seinerseits hatte ihm bereits erzählt, welchen Auftrag er auszuführen habe. »Möchte nur wissen, was das für eine Brigg ist, die sich immer neben der ›Vesta‹ hält,« knurrte er jetzt. »Diese Spitzbuben vereiteln mir alle meine Pläne. Selbst hier in Konstantinopel kann man keines der Mädchen sehen, ohne daß ihr nicht ein Schatten folgt. Es muß auch irgend so eine vornehme Gesellschaft sein. Erst sahen sie wie Vagabunden aus, alle mit Lappen und Lumpen bekleidet, als wollten sie zur Maskerade gehen; jetzt aber stecken sie in einer Uniform und führen auf der Mütze die Buchstaben ›Amor‹, den Namen ihrer Brigg. Man braucht sich der Kapitänin nur auf zehn Meter zu nähern, gleich tauchen hinter ihr drei der Burschen auf.« »Was ist das für ein prächtiges Vollschiff, das unten an der fünften Brücke liegt? Es ist glänzend schwarz bemalt und trägt in grauen Buchstaben den Namen ›Blitz‹. Nationalität zeigt es nicht. Selten habe ich einen so schönen, stolzen Bau gesehen, uud wun- © wasser-prawda 115 Sprachraum derbar ist es auch, was für eine Menge Mannschaft sich an Deck herumtreibt.« Der Seewolf schwieg nachdenkend. »Auch mir ist es aufgefallen,« sagte er dann. »Die Takelage, der ganze Bau erinnert mich an eine seltsame Begegnung, die ich vor etwa zwei Monaten an der Küste von Nordamerika erlebte. Doch jenes Schiff war grau und hatte ein rundes, glattes Deck, und dieses zeigt außer seiner schönen Konstruktion keine Abweichung von einem anderen Fahrzeuge.« Er teilte dem griechischen Kapitän Signor Demetri mit, wie er damals einem rätselhaften Schiffe begegnet sei, das mit ungeheurer Schnelligkeit gegen den Wind an ihm vorbeigeflogen sei. Signor Demetri lachte. »Unsinn, Ihr alle habt geträumt; so etwas existiert nicht. Was wird‘s weiter gewesen sein, als ein Dampfer, der den Schornstein irgendwo verborgen hatte, vielleicht in den Masten.« Der Seewolf, oder, wie er sich lieber nennen hörte, Signor Fonsera, zuckte schweigend die Achseln. »Was macht denn mein alter Freund Bill?« fragte mit heiserem Lachen nach einer kleinen Pause der Grieche wieder. »Treibt er noch immer seine Kochkunst?« Der Seewolf warf einen scheuen Blick nach der Ecke. »Pst,« flüsterte er, »Vor dessen Handwerk graut selbst mir altem Sünder. Noch ist es kein Vierteljahr her, daß wir die blau angelaufenen Leichen einer ganzen Schiffsbesatzung ins Meer versenkten. Einen teuflischeren Einfall hat der Meister wohl noch nie gehabt, als damals, da er diesen Plan ausdachte.« »Es ist entsetzlich in der That,« sagte auch der andere, sich schüttelnd. »Bezeichnet mir die Person, die meinen Dolch kosten soll,« fuhr der Seewolf fort, »nennt mir das Schiff, das meine Leute entern sollen, und Ihr werdet keinen willigeren Ausführer der That finden als mich. Aber so kaltblütig mit anzusehen, wie einer der Leute nach dem anderen mit zuckenden Gliedern umsinkt, nein, das wäre selbst für den Seewolf zu viel.« »Geschäftssache!« erwiderte der Grieche und blickte nach der Taschenuhr. »Fünf Minuten vor zehn Uhr. Gleich müssen wir Nachricht erhalten, denn der Meister ist pünktlich mit seinen Aufträgen, wie im Bezahlen.« »Und wie im Hängen,« ergänzte der Einäugige grinsend. »Malt den Teufel nicht an die Wand,« sagte der Grieche erbleichend. »Wer weiß, wie bald in dieser Hinsicht die Reihe an uns ist!« Jetzt hob die Wanduhr zum Schlage aus, und in diesem Augenblick kam das alte Weib aus dem Winkel, näherte sich dem Tisch und händigte jedem der beiden Gäste ein Schreiben aus. Jene wechselten einen Blick. »Sagte ich es nicht,« meinte der Einäugige, »daß die Wirtin wahrscheinlich besser eingeweiht ist, als wir? Sie spielt eine Hauptrolle. Wir, die wir uns auf Meeren und in Ländern herumplagen müssen, geben nur Nebenfiguren ab.« Beide erbrachen ihr Schreiben uud lasen. Dann sahen sie sich an. »Gut oder schlecht?« fragte der Grieche. Der Seewolf zuckte die Achseln und antwortete halb unwillig: 116 © wasser-prawda Sprachraum »Beides! Ich liebe es eben nicht, wenn ein einmal gegebener Befehl aufgehoben oder doch geändert wird. Jetzt wird mir wieder aufgetragen, bei Wahrung meines Lebens der Petersen kein Haar zu krümmen, sie aber doch aus der Welt zu schaffen. Ich soll sie mit Gewalt oder List nach einer mir bezeichneten Stelle bringen, von wo aus sie abgeholt wird, und dann meinem ersten Auftraggeber bei meiner Seligkeit schwören, ich hätte sie getötet. Zeugen ständen mir zur Verfügung. Verlockend ist allerdings die doppelt so hohe Summe, die mir dafür geboten wird.« »Wie hoch ist diese?« »Hm, mein lieber Demetri! In solchen Geschäftsgeheimnissen hört denn doch unsere Freundschaft auf.« »Und die Sache riecht mir nach Mädchenhandel,« sagte der Grieche, ohne im geringsten durch die Antwort des Gefährten beleidigt zu sein. »Stimmt! Die Gefangennahme der Kapitänin ist jedenfalls die Privatsache irgend eines Wüstlings, aber daß ich für jedes andere Mädchen, welches ich ausliefere, eine Prämie bekomme, geht ohne Zweifel auf Rechnung des Meisters.« Der Grieche nickte. »Seit der Sklavenhandel nicht mehr gehen will, scheint sich der Meister nur mit dem Mädchenhandel zu befassen. Mir schreibt © wasser-prawda 117 Sprachraum Anzeige 118 er: ›Heute über sieben Tage abends die ›Undine‹ segelbereit halten. Achtzehn Weiber werden nach Smyrna geschifft, wo man sie abholt.‹ – Die Dinger werden an asiatische Fürsten verkauft, kenne das von früher, als wir dieses Geschäft so nebenbei im kleinen betrieben. Prosit, Kamerad, auf glückliches Gelingen!« Der Seewolf that Bescheid. »Wie gedenkt Ihr Euren Plan einzurichten?« fragte der Grieche wieder. Der Einäugige kraute sich in den Haaren. »Es ist eine verdammte Geschichte! Das ganze Weibsvolk tot abzuliefern, wäre mir eine Kleinigkeit, aber eine zerbrechliche Ware ohne jeden Schaden irgendwo zu überwältigen, das ist nichts für den Seewolf. Ich bin kein Kindermädchen, das mit zarten Gestalten umzugehen weiß.« »Ist nicht Konstantinopel ein günstiger Platz für eine Ueberrumpelung? Die engen und dunklen Gäßchen der Stadt eigneten sich doch vortrefflich hierzu, und die Polizei ist auch flau.« »Pah, die Polzei!« meinte der Einäugige verächtlich. »Kommt dem Seewolf nicht mit solchen Kleinigkeiten! Hier kann ich wohl einige der Weiber wegfangen, doch nicht alle. Und, bei meiner Seligkeit, alle muß ich haben, oder ich will nicht der Seewolf heißen!« »Wenn Euch die Reisebegleiter der Mädchen nicht einen derben Strich durch die Rechnung machen!« »Diesen Bürschchen werde ich gehörig die Zähne weisen; so oder so, einmal müssen sie doch daran glauben.« »Schickt ihnen Bill als Koch an Bord,« schlug der Grieche vor. © wasser-prawda Sprachraum »Haha, der würde ihnen eine schmackhafte Henkersmahlzeit vorsetzen. So übel ist der Vorschlag nicht. Aber es machte mir doch mehr Vergnügen, wenn ich diesen feinen Herrchen ordentlich auf die Finger klopfen könnte, sodaß sie sich nie wieder mit einer Spielerei abgeben, die sie nicht verstehen.« »Woher erfahrt Ihr immer, wohin sich die ›Vesta‹ wendet? Denn ausplaudern wird dies die Besatzung doch sicher nicht?« fragte Demetri. »Durch den Meister,« war die Antwort. »In der Straße von Gibraltar gab mir ein Fischer, der neben uns anlegte, den Auftrag, nach Konstantinopel zu segeln. Jetzt schreibt er: Nächstes Reiseziel Alexandrien.« »Merkwürdig! Doch sagt, was habt Ihr für einen Plan, die Mädchen zu bekommen?« Der Seewolf schwieg eine Zeit lang nachdenklich, dann sagte er offen: »Mir fällt augenblicklich nichts weiter ein, als auf offener See die ›Vesta‹ anzugreifen, zu entern und zu nehmen. Oder vielleicht auch, daß wir als Schiff brüchige auf das Schiff kommen und dann die Mädchen überwältigen. Aber ohne Skandal geht so etwas natürlich nicht ab. Einige Dolchstiche wären mir tausendmal lieber.« Der griechische Mädchenhändler spielte träumerisch mit seinem Glase. »Seewolf,« begann er endlich wieder, »Ihr mögt ein ganz brauchbarer, in Eurem Handwerk geschickter Geselle sein, wie es auf dem Meere wenige mehr giebt, aber Eure Schlauheit läßt viel zu wünschen übrig.« »Wieso?« brauste der andere beleidigt auf. »Ihr mögt auch gerieben sein,« besänftigte der Grieche den Aufgebrachten, »aber es fehlt Euch an Einfällen. Was gebt Ihr mir, wenn ich Euch einen Plan verrate, der Euch schnell ans Ziel führt?« Der Grieche blinzelte listig mit den zugekniffenen Augen. »Gebt Ihr mir die Hälfte Eures Verdienstes ab?« »Seid Ihr verrückt? Seht, ich will ehrlich gegen Euch sein. Für jedes Mädchen, welches ich außer der Kapitänin lebendig ausliefere, erhalte ich 306 Dollars, 24 Mädchen sind es, und ich verspreche Euch, ist Euer Vorschlag gut, den vierten Teil von diesem Lohne, also im besten Falle 1800 Dollars. Einverstanden?« »Nun, Ihr wißt, ich bin Euch noch einen Gegendienst schuldig, sonst würde ich Euch den Plan nicht so billig verkaufen, denn ein solcher ist bei jedem Unternehmen doch die Hauptsache. Also abgemacht, den vierten Teil!« »Und was meint Ihr?« fragte der Pirat gespannt. »Sehr einfach! Ihr fangt hier in Konstantinopel oder sonst irgendwo eines der Mädchen weg, am besten gleich die Kapitänin, denn dann ist Euch ein hoher Gewinn sicher, und lockt mit dieser die ganze Besatzung nach einem Eurer Schlupfwinkel, wo sie Euch nicht mehr entgehen kann.« »Wahrhaftig!« rief erfreut der Seewolf und schlug donnernd mit der Faust auf den wurmstichigen Tisch. »Daß mir auch so etwas Einfaches nicht einfallen mußte.« »Natürlich, die alte Geschichte,« lachte Demetri, »jetzt ist es etwas Einfaches.« © wasser-prawda 119 Sprachraum »Aber die Brigg,« wendete der andere wieder zweifelnd ein, »wird mir verdammt viel zu schaffen machen!« »Da sieht man, daß Ihr ein Narr seid. Mit der macht Ihr es ebenso. Fangt einen der Burschen weg oder tötet ihn und laßt ihn verschwinden! Schreibt falsche Briefe oder benachrichtigt seine Kameraden sonstwie von seinem Aufenthaltsort, und Ihr sollt sehen, wie schnell diese dummen Kerle in die Schlinge gehen. Habt Ihr sie erst, dann ist es Euch auch ein leichtes, sich über ihre Vermögensverhältnisse zu erkundigen. Sind es wirklich vornehme Leute, dann könnt Ihr Euch ein gutes Lösegeld versprechen.« »Topp! Das wird gemacht! Ihr könnt dafür auf einen Gegendienst rechnen. Bei der ersten Gelegenheit werde ich mich einiger der Mädchen bemächtigen, vielleicht schon morgen.« »Nein, nur eines einzigen, vergeßt das nicht!« ermahnte der Grieche. »Die Sache ist so sicherer und geht geräuschloser vor sich, als wenn Ihr zu viel wagt.« Die beiden beratschlagten noch einige Zeit, dann trennten sie sich. 7. Das erste Abenteuer. Bereits seit sechs Tagen ankerte die »Vesta« vor Konstantinopel. Die Damen hatten teils zusammen, teils in kleineren Gesellchaften, die türkische Hauptstadt nach allen Richtungen durchstreift, alle Sehenswürdigkeiten, wie Moscheen, Cisternen, das Hippodrom u. s. w. besucht, doch nicht eine einzige war unter ihnen, welche mit dem Aufenthalt in diesem ersten Hafen zufrieden gewesen wäre. Diese Amerikanerinnen hatten die Heimat nicht verlassen, um sich die Welt zu besehen, das hätten sie bequemer als Passagiere erster Klasse auf einem Dampfer haben können; nein, sie hoff ten auf Gelegenheiten, bei denen sie einmal zeigen konnten, daß auch Frauen den Mut und die Thatkraft besitzen, welche sonst nur den Männern zugesprochen werden. Wohl legte allein die lange Seereise als Matrose Zeugnis davon ab, aber es genügte den Damen nicht, daß sie nur für ihr eigenes Leben arbeiteten, sie wollten selbst gleich Männern in fremde Schicksale eingreifen, das Recht und die Unschuld beschützen, das Unrecht bestrafen, und zwar offen, mit der Waffe in der Hand. Und dazu bot sich ihnen bisher keine Gelegenheit. Gleichzeitig mit der »Vesta« war der »Amor« eingetroffen, und die Damen merkten wohl, daß ihnen stets dunkle Gestalten folgten, wohin sie auch gehen mochten. Da dieselben aber in einer respektvollen Ferne blieben und sich durchaus nicht aufdringlich zeigten, so ließ man es ruhig geschehen. Wer wußte, ob man nicht doch einmal männliche Hilfe nötig hatte? Am Abend des sechsten Tages kamen die drei Freundinnen, Ellen Petersen, Jessy Murray und Johanna Lind von einem Besuche der Cisterne Basilica, einer jener sehenswerten, von unzähligen Säulen getragenen Röhrenanlagen, aus denen Konstantinopel mit Wasser versorgt wird. Die Damen trugen bei derartigen Ausflügen natürlich nicht ihre Matrosenuniform, sondern geschmackvolle, moderne Toiletten. Durch die lange Wanderung zwischen den Marmorsäulen erschöpft, beschlossen sie, sich für kurze Zeit in einem Café zu erholen. Sie begaben sich in das nächste, anständige Lokal und besprachen bei einer Tasse Mokka das eben Gesehene. 120 © wasser-prawda Sprachraum © wasser-prawda 121 Sprachraum Plötzlich trat ein Herr in den Saal und setzte sich, ohne die übrigen wenigen Gäste zu beachten, nicht weit von den Damen an einen Tisch. Es war ein großer, schlank und doch athletisch gebauter Mann, dessen schönes Gesicht von einem blonden Vollbart eingerahmt wurde. Bei seinem Anblicke war Johanna wie vor freudigem Erschrekken zusammengezuckt, aber so unmerklich, daß selbst die dicht an ihrer Seite sitzende Ellen keine Spur davon gemerkt hatte, und keine Röte, keine Erregung in den Zügen des jungen Mädchens verriet, daß sie diesen Mann kannte. Kaum hatte sich derselbe gesetzt und seine Bestellung aufgegeben, als seine Blicke die drei Damen streiften. Wie vorhin Johanna, so war jetzt er überrascht, nur daß er seine Freude nicht zu verbergen bemüht war. Eine jähe Röte schoß über sein Antlitz, er sprang auf und näherte sich schnell jenem Tische, fast noch im Gehen die Hand ausstreckend und in herzlichem Tone auf deutsch rufend: »Fräulein Johanna – Lind!« fügte er dann, abermals errötend, hinzu. »Also hier in Konstantinopel sehen wir uns endlich wieder! Wie mich das freut!« Es war sonderlich, daß Johanna diesen warmen Ton nicht erwiderte. Sie stand auf, und ohne die Hand zu ergreifen, stellte sie in förmlichem Tone vor: »Miß Petersen, Miß Murray – Herr Ingenieur Hoffmann. Wir hatten am Oberonsee Gelegenheit, uns kennen zu lernen.« Sie sah den jungen Mann mit einem so eigentümlich festen Blick ihrer schönen Augen an, daß dieser sichtlich eine Bemerkung unterdrückte, die ihm auf der Zunge geschwebt hatte. »Ah, Miß Petersen?« rief er dann rasch gesammelt. »So habe ich die Ehre, mit der Kapitänin der ›Vesta‹ zu sprechen?« Die Damen bejahten. »Schon oft habe ich mir gewünscht, mit diesen kühnen Vestalinnen zusammenzutreffen, wohl niemand hat sich für Ihre Idee so lebhaft interessiert, wie ich. Aber Fräulein Lind,« fuhr er dann mit einem Anflug von Erstaunen fort, »gehören auch Sie zu der Besatzung der ›Vesta‹, die doch –« Ein einziger Blick traf den Sprecher aus den Augen Johannas, daß er plötzlich eine Pause machte und dann weitersprach: »– die doch nur aus New-Yorker Damen bestehen soll?« »Ausnahmen bestätigen nur die Regel,« nahm Miß Petersen das Wort. »Doch dürfen wir uns erkundigen, was Sie hierher nach Konstantinopel führte?« »Miß Lind hat Sie vorhin doch nicht ganz richtig belehrt,« sagte der Herr, der inzwischen am Tische Platz genommen hatte, »indem sie mich als Ingenieur vorstellte. Allerdings habe ich Ingenieurwissenschaften studiert, aber meine Neigungen galten dem Schiffsbau, und nachdem ich einige Reisen gemacht, widmete ich mich vollständig dem Seeleben. Ich führe jetzt ein eigenes Schiff, den ›Blitz‹, den Sie vielleicht schon in Galata haben liegen sehen.« »Ah,« riefen die Damen wie aus einem Munde, und Johanna lauschte von jetzt ab aufmerksamer als zuvor, »so ist das schwarze Schiff das Ihrige!« »Ja, es wird immer mehr Mode, daß man seine Reisen als Kapitän auf einem eigenen Schiffe macht,« sagte lächelnd Hoffmann. »Selbst Damen finden ja Geschmack daran. Gleich Ihnen befahre 122 © wasser-prawda Sprachraum ich seit einem Vierteljahre alle Meere, besehe mir die Hafenplätze und mache ab und zu einen Abstecher ins Land.« »Nun,« spottete Jessy Murray gutmütig, »in drei Monaten können Sie wohl noch nicht ›alle‹ Meere befahren haben.« Der Herr wurde etwas verlegen. »Wie gefällt Ihnen mein Fahrzeug?« fragte er ausweichend. »Es scheint ein ausgezeichneter Segler zu sein. Aber wie sonderbar, daß Sie schwarz zur Farbe gewählt haben! Wir ließen uns den Schiffsrumpf so gefallen, aber selbst alles Tauwerk und die Segel schwarz zu streichen, das ist doch übertrieben. Ferner müssen Sie eine starke Besatzung an Bord haben, mindestens sechzig Mann. Das Deck wimmelt ja förmlich von Leuten.« »Ich brauche sie,« antwortete Hoffmann, dessen Aufmerksamkeit nur Johanna zu gelten schien, abermals verlegen. »Sie scheinen nicht viel auf der Kommandobrücke zu stehen, oder vielmehr, da der ›Blitz‹ sonderbarerweise keine besitzt, sich an Deck selten aufzuhalten,« bemerkte Jessy. »Sehen Sie uns an, wie wir von der Sonne erbraunt sind.« »Wirklich, sehr, aber es steht Ihnen gut,« sagte der Mann kopfschüttelnd und bog sich vor, als wolle er Johannas Antlitz in Bezug auf Echtheit der Farbe prüfen. Die beiden anderen Damen konnten sich das rätselhafte Betragen des Ingenieurs nicht erklären, höchstens Johanna mochte etwas ahnen. »Wir haben für übermorgen vormittag mit der Besatzung der englischen Brigg ›Amor‹ und der eines französischen Lustdampfers ein Wettrudern in achtriemigen Booten vor,« begann wieder Miß Ellen die Unterhaltung. »Würden Sie sich vielleicht an der Regatta beteiligen?« »Ich? Nein, danke, die Boote des Blitz gewinnen doch. Na ja,« fuhr er plötzlich fort, als er die erstaunten Mienen der Damen bemerkte, und wurde wieder verlegen, »wir können ja auch einmal verlieren. Gut, ja, ich nehme die Einladung an.« Er erfuhr noch, wo und wann das Zusammentreffen der Boote stattfinden sollte. »Wir müssen fort,« sagte Miß Ellen. »Die Dunkelheit bricht an, und wir brauchen wenigstens eine halbe Stunde, ehe wir einen Pferdebahnwagen oder ein anderes Fuhrwerk treffen.« »Um Gottes willen, gehen Sie nicht allein bei Nacht durch die Straßen Konstantinopels!« rief Hoffmann, sich direkt an Johanna wendend. »Ich weiß, wie gefährlich sie sind.« »Aber nicht für eine Vestalin,« entgegnete lächelnd Johanna. »Bravo!« stimmten die beiden anderen Damen ihr bei. »Meine Begleitung werden Sie doch nicht ausschlagen?« »Auch das müssen wir,« sagte Miß Petersen. »Wir würden den Namen unseres Schiffes beschimpfen, wenn wir in Herrenbegleitung an Bord kämen. Leben Sie wohl! Also auf Wiedersehen übermorgen vormittag.« »Dieser Herr Hoffmann hat ein seltsames Betragen,« meinte Ellen auf der Straße. »Kennen Sie ihn näher, liebe Jane?« »Er ist ein einfacher, bescheidener Charakter, der sich nicht verstellen kann und nicht in Gesellschaft paßt. Ich kenne ihn nicht genauer als Sie.« »Wir? Wieso?« »Er hat einen wahren Abscheu davor, sich bekannt oder berühmt zu machen, obgleich er es leicht könnte, denn er soll eminente © wasser-prawda 123 Sprachraum Talente besitzen. Bei jenem schrecklichen Dammbruche am Oberonsee, als auch ich Gelegenheit hatte, meine schwachen Kräfte im Dienste der Nächstenpflicht anzuwenden, that sich bekanntlich ein Herr hervor, dessen Namen später vergeblich von den Zeitungen zu erforschen gesucht wurde. Ich bin wohl die einzige, die ihn kannte. Zum Vergnügen am Oberonsee weilend, eilte er beim ersten Signal nach der Unglücksstelle, vollbrachte Wunder von Rettungsthaten, gegen welche die meinigen nur Spielereien waren, und als der die Dammarbeiten leitende Pionieroffizier von den Fluten verschlungen worden war, ergriff Hoffmann das Kommando. Sein genialer Blick übersah sofort die Situation, und nur ihm ist es zu danken gewesen, daß dem durchbrechenden Wasser Einhalt geboten wurde. Doch als die Gefahr vorüber, war auch er spurlos verschwunden. Erinnern Sie sich noch dessen?« »Wir entsinnen uns,« versicherten die Damen; »der Klub ›Ellen‹ scheute keine Bemühungen und Kosten, um den Namen des Helden zu erfahren.« »Er will nicht, daß jemand die Sache berührt. Wenn Sie ihm Schmeicheleien gesagt hätten, wäre er aus der Verlegenheit gar nicht herausgekommen. Ich wiederhole, er ist ein Mann der That und nicht der Gesellschaft.« Die drei Damen waren im Eifer der Unterhaltung stehen geblieben. Plötzlich fiel mitten zwischen sie ein weißes Zettelchen. Miß Ellen hob es auf, blickte nach oben, von wo es gekommen war, konnte aber in der von den Sternen beleuchteten Nacht an der nackten Hauswand nur ein kleines, vergittertes Fenster wahrnehmen. »Merken Sie sich den Namen der Straße und die Lage des Hauses,« sagte Ellen, nachdem sie das Papier aufmerksam betrachtet hatte, im Weitergehen. »Ich kann wohl Schriftzüge erkennen, sie aber bei der schwachen Beleuchtung nicht lesen. Da in diesem Viertel keine Laterne zu existieren scheint, so müssen wir warten, bis wir in belebtere Straßen kommen.« Nach einer kleinen Weile bogen sie in eine breite, aber auch noch dunkle Straße ein, welche nach dem Hafen führte. Kaum waren sie in diese eingetreten, als Johanna sagte: »So, jetzt können Sie es lesen, ich habe Streichhölzer bei mir.« »Warum sagen Sie das erst jetzt?« »Ich nehme an,« sagte Johanna lächelnd, »daß dieses Papier irgend etwas enthält, was andere nicht wissen sollen, sonst wäre es uns nicht so geheimnisvoll zugestellt worden.« »Wirklich,« sagten beiden Damen überrascht, »Sie haben recht.« Bei dem Scheine eines brennenden Streichholzes überflog Miß Petersen die Schrift. Erstaunen, vermischt mit Freude, prägte sich dabei in ihren Zügen aus, dann sagte sie: »Es ist in gutem Französisch geschrieben. Hören Sie nur, das ist etwas für uns: »Ich werfe dieses Billet der ersten Person zu, welche ich englisch sprechen höre, weil ich weiß, daß die Engländer die Sklaverei nicht dulden. Ich bin die Tochter des Scheichs Mustapha-ibn-Hamed vom Stamme der Beni-Suef, deren Zelte zwischen Fayum und den Natronseen stehen. Man hat mich geraubt und nach Konstantinopel verkauft. Zufällig habe ich erlauscht, daß ich und siebzehn andere Mädchen morgen Abend an Bord der ›Undine‹, ankernd in Galata, zweite Brücke, gebracht und nach Smyrna geschaff t 124 © wasser-prawda Sprachraum werden sollen. Wer du auch seiest, kannst du nichts für mich thun, so teile wenigstens meinem Vater mit, welches Schicksal seine Tochter getroffen hat. Sulima.« »Und darunter,« fuhr die Leserin fort, »steht noch flüchtig gekritzelt: »Allah sei Dank, mein Billet fällt in die Hände edler Damen. Sie werden mir helfen! Das letztere gilt natürlich uns,« schloß Miß Ellen. »Ein himmlisches Mädchen,« rief Miß Jessy enthusiastisch, »diese Sulima! Endlich mal eine Gelegenheit zu einem kleinen Abenteuer!« »Wie fangen wir es an, die Sulima und womöglich alle ihre Genossinnen zu befreien?« sagte Ellen nachdenklich. »Sehr einfach,« entgegnete die hitzige Jessy, »wir gehen an Bord, alarmieren unsere Freundinnen, dringen in das Haus, zünden es © wasser-prawda 125 Sprachraum meinetwegen an und bringen im Triumphe die Befreiten in ihre Heimat. Dann hat unsere Reise wenigstens einen Zweck gehabt.« »Und in der nächsten Stunde sitzen wir wegen Einbruchs, Brandstiftung, gewaltsamer Entführung u.s.w. fest,« ergänzte lächelnd Johanna. »Nein, das ist nichts. Ich kenne die türkischen Gesetze, sie sind dem Mädchenhandel viel zu günstig gestimmt, weil dabei etwas für den Staat abfällt. Nein, ich habe bereits einen anderen Plan.« »Der ist?« fragte Ellen begierig. »Wir orientieren uns, ob in Galata wirklich ein Schiff Namens ›Undine‹ liegt –« »Es liegt dort, ich habe es selbst gesehen, eine kleine Bark. Sie ladet Wein,« sagte Jessy. »Desto besser! Also spionieren wir morgen abend, ob die Mädchen wirklich an Bord gebracht werden, und nehmen der ›Undine‹ auf offener See ihren Raub ab. Das macht der ›Vesta‹ Ehre.« »Bravo!« rief Ellen. Miß Lind hat wieder den besten Einfall.« Auch Jessy stimmte freudig bei. »Aber,« wendete sie doch ein, »der griechische Kapitän wird seine Passagiere nicht gutwillig herausgeben.« »Miß Murray,« rief Ellen ganz erstaunt, »ich verstehe Sie nicht! Wozu haben wir denn Geschütze an Bord? Denen streifen wir eben einmal die Leinwandbezüge ab, jagen der ›Undine‹ ein paar Kugeln in den Leib und zwingen die Besatzung mit dem Revolver in der Hand, die Mädchen uns zu überlassen. Wir wollen uns doch nicht umsonst ein Jahr lang am Geschütz ausgebildet haben.« »Jetzt schnell an Bord,« rief Jessy und lief schon mit stürmischen Schritten voraus. »Heute nacht wird vor Freude keine Vestalin schlafen.« Lachend folgten die beiden anderen der Aufgeregten. Die Straße verengte sich an einer Stelle so, daß der Sternenhimmel weiterhin kaum zwischen den Dächern der Häuser durchblickte. Fast vollständige Dunkelheit umgab die drei Mädchen. Da sah Miß Ellen mit einem Male, welche einige Schritte hinter den beiden anderen zurückgeblieben war, wie eine Menge dunkler Gestalten von allen Seiten herzusprangen und jenen große Decken über den Kopf warfen. »Hilfe!« gellte es aus Ellens Munde durch die Nacht, und gewandt wich das Mädchen einem Angreifer aus. Ehe er seinen Versuch erneuern konnte, erhielt er von der kräftigen Ellen einen solchen Schlag ins Gesicht, daß er hintenüber zur Erde fiel. Sie griff in die Tasche, um den Revolver zu ziehen, aber ehe sie ihn noch in der Hand hatte, fühlte sie ihre Arme gefaßt und zusammengepreßt. Vergebens versuchte sich die Jungfrau von dem eisernen Griffe zu befreien, noch einmal stieß sie einen Hilferuf aus, dann fiel eine Decke über sie und erstickte ihr Geschrei. So fest war die Hülle um sie gewickelt worden, daß sie weder Füße, noch Arme regen konnte. Ellen wurde emporgehoben und kam auf den muskulösen Arm eines Mannes zu sitzen, aber kaum war dieser einige Schritte gelaufen, als so laute Stimmen an ihr Ohr schlugen, daß sie deutlich selbst durch die dicke Decke drangen und das Herz des Mädchens mit Entzücken erfüllten. Sie kannte diese tiefe, donnernde Stimme, die fröhliche helle, wie auch alle die anderen. 126 © wasser-prawda Sprachraum © wasser-prawda 127 Sprachraum »Banditen, Räuber,« schrie der Baß, »da, eins, zwei, drei ...« Jede Zahl war von einem Schlag begleitet, wie wenn ein Ochse gefällt wird. »Halt! Reißt nicht so schnell aus! Ich bin nicht so gut zu Fuß,« rief dann die lustige Stimme. »Entschuldigen Sie, es that doch nicht weh?« Der Frage war ein Weheruf vorausgegangen. Dies alles hatte nur einen Augenblick in Anspruch genommen, im nächsten fühlte sich Ellen heftig zu Boden gesetzt; die Decke wurde ihr abgerissen. Vor ihr stand Lord Harrlington, der sie mit besorgten und zugleich zärtlichen Blicken betrachtete. Ehe Ellen noch ein Wort sagte, wandte sie sich um, und zu ihrer unaussprechlichen Freude bemerkte sie, daß auch die beiden Freundinnen eben von den Hüllen befreit wurden. Der lustige Charles half dabei Miß Jessy, und wie gewöhnlich, konnte er auch jetzt nicht eine lustige Bemerkung unterdrücken. »Sie erlauben doch, daß ich Ihnen ablegen helfe,« sagte er im höflichsten Tone. »Wenn Sie aber frieren sollten, so behalten Sie meinetwegen nur die Pferdedecke um.« Acht Herren vom ›Amor‹ waren es, welche die Damen gerettet hatten, aber der Mann, welcher jetzt Miß Lind aus der Decke schälte, war jener Herr aus dem Café, der deutsche Ingenieur. Ellen erzählte in Kürze, wie alles gekommen war; sie hatte nicht viel zu sagen, weil der Ueberfall so überraschend ausgeführt worden war. »Wir hatten Sie in der Cisterna Basilika beobachtet,« berichtete Lord Harrlington, »waren Ihnen nach dem Café gefolgt uud hatten Sie dort hineingehen sehen. Nun müssen Sie aber das Lokal durch eine Hinterthür verlassen haben, denn als fast eine Stunde verstrichen, überzeugten wir uns, daß Sie nicht mehr drinnen waren. Seltsam, zum ersten Male verloren wir Ihre Spur, und gerade da mußte eine Gefahr für Sie auftauchen.« »Glücklicherweise holten wir gleich darauf einen Herrn ein, welcher unsere Absicht, Ihnen nahezubleiben, kennen mußte, denn er fragte uns, ob wir Sie verloren hätten. Wir bejahten, und er sagte, er sei Ihnen auf der Fährte. Unterwegs stellte er sich uns vor und behauptete, bereits in jenem Café Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. »Als wir dort oben um die Ecke bogen, ertönte Ihr erster Hilferuf, gleich darauf der zweite, und ehe wir nur noch daran dachten, unseren Gang zu beschleunigen, schoß schon Herr Hoffmann wie ein Pfeil uns voraus und schlug den Träger von Miß Lind zu Boden. Dann machten auch wir uns an die Arbeit.« »Wo ist denn unser Retter, Mister Hoffmann?« fragte Ellen uud sah sich nach allen Seiten um. »Ja, wo ist er?« sagte Charles. »Er schälte Miß Lind so behutsam aus, als hätte er ein weiches Ei vor sich, und dann, hui, weg war er.« »Ein seltsamer Mensch.« »Schade, daß wir keinen der Straßenräuber festgehalten haben,« meinte ein anderer Herr. »Wir waren alle so in Sorge um die Damen, daß keiner daran dachte, sich weiter um die am Boden Liegenden zu kümmern. Natürlich haben sie sich eilends ans dem Staub gemacht.« »Laßt die armen Kerle laufen,« erwiderte Charles Williams sorglos, »denen schmeckt heute doch das Abendbrot nicht mehr. Ich habe dem einen Burschen mit einem Male alle Zähne ausgezogen! Das 128 © wasser-prawda Sprachraum mache mir einmal ein Zahnarzt nach. Ein Glück ist es nur, daß ich Lord Hastings zuvor das heilige Gelübde abgenommen habe, bloß ganz vorsichtig zuzuschlagen, sonst könnten wir die ganze Nacht mit der Karre die Leichen fortbringen. Hagel und Haubitzen – Pardon, meine Damen –« unterbrach er sich mit einem Male und hob etwas von der Straße auf, »hier hat wohl gar ein Bandit noch seine Photographie hinterlassen?« Er zündete ein Streichholz an. »Ah, Pardon, Miß Petersen, es ist die Ihrige, die Sie wahrscheinlich Ihrem Entführer zum Andenken mitgeben wollten.« »Meine Photographie?« rief Ellen im Tone des höchsten Erstaunens. Sie beleuchtete das Bild. »Wirklich! Wer von den Herren war im Besitze meiner Photographie?« »Niemand,« versicherten alle, auch die Damen verneinten. Gedankenvoll wandte Ellen langsam den Kopf, bis ihre Blicke denen Harrlingtons begegneten. Die übrigen lachten eben über die Spaße des lustigen Charles. »Wissen Sie, wer sie verloren haben kann?« fragte Lord Harrlington leise. – »Nein!« – »Besaß keiner der Räuber, der gedungenen Mörder Ihr Bild?« Entsetzt starrte sie den jungen Mann an. Unwillkürlich strichen ihre schlanken Finger an der Kante der Photographie hin und her, und plötzlich verließ alle Farbe ihr Gesicht, die Lippen fingen an zu beben, und wieder und wieder fuhren die Finger an der Seite des Bildes herunter, bis sie allemal wieder auf einer Stelle haften blieben. »Lord!« stöhnte sie endlich. »Ich kenne das Bild, ich weiß, wem es gehört, eine entsetzliche Ahnung dämmert in mir auf.« »Was Sie nur ahnen, ist bei mir Gewißheit,« sagte finster Harrlington. »Und sehen Sie,« fuhr er mit herzlichem Tone fort und trat auf das zitternde Mädchen zu, »weil ich es wußte, darum bin ich Ihnen gefolgt und werde nicht von Ihrer Seite weichen.« »Verzeihen Sie mir,« erwiderte stammelnd und mit erstickter Stimme Ellen, »ich bin ein thörichtes, eigensinniges Mädchen gewesen. Geben Sie mir die Hand! So! Ich nehme von jetzt ab Ihre Begleitung an. Nun gerade aber will ich zeigen, daß die ›Vesta‹ doch um die Erde kommt, wenn auch gefolgt vom ›Amor‹!« »An Bord, meine Damen,« rief sie, sich zur Fröhlichkeit zwingend. »Die Herren werden uns hoffentlich sicher hinbringen.« »Hundert oder fünfzig Meter Distanz?« fragte Charles. »Einen Meter,« war die Antwort. – – – – Zwei Stunden später, es war fast Mitternacht, legte ein Boot zur Seite des ›Blitzes‹ an. »Der Kapitän an Bord?« fragte der Bootsführer. »Ja, was giebt‘s?« klang es von oben herab. »Einen Brief persönlich an den Kapitän abzugeben.« »So kommt an Deck!« Der Ruderer befestigte sein Boot mit einem kunstvollen Knoten am Fallreep, einer auf Schiffen gebräuchlichen, aufziehbaren Treppe, und stieg diese hinauf. Eine halbe Minute später öffnete der deutsche Ingenieur, jetzt Kapitän des ›Blitzes‹, das zierliche Briefchen. Helle Ueberraschung spiegelte sich in den edlen Zügen wieder, die sich aber sofort in Freude verwandelte, als er die Unterschrift ›Johanna Lind‹ las. – Die neue Vestalin hatte zum zweiten Male die Gesetze der ›Vesta‹ übertreten. © wasser-prawda 129 ERSCHEINUNGSDATUM: 10.03.2014 UWE SAEGER: FAUST JUNIOR Justus verlässt die mütterliche Wohnung, um sich auf die Suche nach seinem Vater zu begeben. Er begegnet drei Gesellen, die ihn nach einem anständigen Saufgelage in eine von seinem vermeintlichen Erzeuger geführte Irrenanstalt entführen. Eine an ein Gehirn erinnernde Architektur und absurde Vorkommnisse verhindern jede Orientierung. Er findet einen Freund, irgendetwas entwickelt sich zwischen ihm und Wagner und eine Idee reift in ihm: Er will Superstar werden. Doch das bedeutet nicht nur anspruchsvolle Prüfungen zu bestehen und den eigenen Charakter zu formen. Er trifft Heiner Hohlen und tötet Goethe. HARDCOVER, CA. 550 SEITEN PREIS: 24,95 EUR (D) ISBN: 978-3-943672-35-0 Uwe Saegers Faust junior ist verstörend, widerspenstig, brutal und zuweilen obszön. Eine Abrechnung mit dem Irrsinn der Mediengesellschaft und ihren fragwürdigen Protagonisten, die verschiebt, demontiert, zerstückelt und sprachlos zurücklässt. PAULINA SCHULZ: DAS EILAND John verbringt die Sommerferien mit seinen Eltern in einem Ferienhaus auf einem Eiland mit romantischen Sandstränden und ausgedehnten Wäldern. Er unternimmt lange Streifzüge über die Insel und hält seine Eindrücke mit seiner Kamera fest; nach einigen Tagen begegnet er den Zwillingen Milan und Milena. Einer gemeinsamen Nacht, in der John seine ersten sexuellen Erfahrungen macht, folgt eine verstörende Entdeckung. Als er Milena Jahre später zufällig trifft, scheint sich der Kreis zu schließen. Diese Erzählung fesselt, sie reißt mit, ist wie ein Fluss, der sich unaufhaltsam seinen Weg bahnt und dennoch gleichmäßig schön vor sich hinströmt. Paulina Schulz schreibt über das Erwachsenwerden und das Gefühlschaos, das beinahe jeder erlebt hat, über Liebe, Schmerz und unerträgliche Sehnsucht. www.freiraum-verlag.de Gestaltet von Maximilian-Leonard Wienold SOFTCOVER, CA. 120 SEITEN PREIS: 12,95 EUR (D) ISBN: 978-3-943672-32-9