Bildungsmaterialien der Stiftung Polnisch
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Bildungsmaterialien der Stiftung Polnisch
Bildungsmaterialien der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung w w w. f p n p. p l / e d u k a c j a / p a k i e t _ e d u k a c y j ny ISBN: 987‐83‐63736‐04‐0 Einfühung und Kapiteltexte: Agnieszka Dzierżanowska Zitierte Fragmente der Erinnerungen stammen aus: ‐Z kart historii polskich janczarów XX wieku, (Aus der Geschichte der polnischen Janitscharen des 20. Jahrhunderts), Zrzeszenie Dzieci Polskich Germanizowanych przez Reżim Hitlerowski, Łódź 2000 aus Archivbeständen der Stiftung „Polnisch‐Deutsche Aussöhnung” Auswahl der Berichte: Rafał Degiel, Agnieszka Dzierżanowska Redaktion und Lektorat: Magda Cieszkowska, Rafał Degiel, Agnieszka Dzierżanowska Übersetzung aus dem Polnischen: Krzysztofa Marzec‐Gacka Redaktion und Lektorat der Übersetzung: Lara Langensee, Iris Wohnsiedler, Jakub Deka The project is co‐financed from the funds granted by the Ministry of Foreign Affairs in the competition for the public task "Cooperation with Polish Diaspora and Poles Abroad in 2014." Rzeczpospolita Polska Ministerstwo Spraw Zagranicznych Stiftung „Polnisch‐Deutsche Aussöhnung”” Warszawa 2014 Stiftung „Polnisch‐Deutsche Aussöhnung” Fundacja „Polsko‐Niemieckie Pojednanie” 00‐921 Warszawa, ul. Krucza 36 tel. 22 695 99 41, fax: 22 629 52 78 e‐mail: informacja@fpnp.pl, www.fpnp.pl Druck: Murugumbel ISBN: 987‐83‐63736‐04‐0 Bildungsmaterialien der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung UNTER DEUTSCHER BESATZUNG Warszawa 2014 4 Spis treści 7 Einführung 9 Konzentrationslager Jan Ryszard Sempka, „Ich war lediglich die Nummer 95959” 24 Ghettos. Die Vernichtung von Juden und Roma Piotr Wyrzykowski, Nicht schematische Erinnerungen des Großvaters Solarewicz Stanisław, Helft uns die Erinnerung zu bewahren 35 Straflager und Gefängnisse Erinnerungen an den Aufenthalt bei der Gestapo und im Gefängnis in Białystok 1943. Antoni Górski, Sklavenarbeit in Deutschland 48 Zwangsarbeit Irena Chrzanowska, Erinnerungen aus Ostpreußen Jan Sroka, Bericht über die Zwangsarbeit im Dritten Reich 66 Kriegsgefangenschaft Czesław Stokowski, Aus der Gefangenschaft nach Hause. Lebenserinnerungen eines Soldaten Henryk Łagodzki, In Gefangenschaft 82 Aussiedlungen der polnischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs Zenon Mikołajczyk, Meine Erlebnisse als Junge aus der Zeit deutscher Aktionen zur Aussiedlung von Polen aus den an das Deutsche Reich angeschlossenen Gebieten. Kazimierz Bączkiewicz, Schicksale der Vertriebenen Benon Bakalarski, Das Elend der Jugend ist kein Märchen Franciszka Twardowska, Erinnerungen 96 Die Germanisierung polnischer Kinder Barbara Paciorkiewicz, Wer bin ich? Henryk Wojciechowski, Ein Teufelskreis – du wirst Wochinger heißen 104 Der Besatzungsalltag Henryk Jakubowski, Kampf ums Überleben. Erinnerungen aus den Jahren 1939 – 1945 Juliusz Rybarski, Jugend in der Besatzungszeit Irena Rowińska, 1930er‐Generation 5 EINFÜHRUNG 6 Einführung eit dem 26. Januar 1934, d.h. seit der Unterzeichnung des deutsch‐polnischen Nichtangriffspakts, waren Polen und Deutschland dazu verpflichtet, keine Gewalt gegen den Anderen anzuwenden und Streitfragen friedlich zu lösen. Ende der 30er Jahre spitzte sich die Lage zwischen den zwei Staaten zu. Der Anschluss Österreichs ohne Blutvergießen, die Annexion der Sudeten und kurz danach der Tschechoslowakei, ermutigten Hitler dazu, gegenüber Polen Territorialansprüche bezüglich des polnischen Korridors und der Freien Stadt Danzig zu erheben. Die polnische Regierung lehnte diese Ansprüche konsequent ab. Frankreich und Großbritannien gaben zwar Unabhängigkeitsgarantien für Polen ab, doch fand Deutschland einen Verbündeten in der Sowjetunion. Am 23. August 1939 wurde in Moskau der deutsch‐sowjetische Nichtangriffspakt, auch Hitler‐Stalin‐Pakt genannt, unterschrieben. Dies war in Wahrheit ein Bündnis gegen Polen, die Länder des Baltikums und Rumänien, denn gemäß einem geheimen Zusatzprotokoll sollte die Grenze zwischen Deutschland und Russland entlang der Flüsse Narew, Weichsel und San verlaufen. Die Deutschen hatten ihre Grenzen abgesichert und konnten somit ungehindert am 1. September 1939 Polen angreifen und so den Zweiten Weltkrieg beginnen. Am 3. September erklärten Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg, ohne jedoch militärisch zu intervenieren ‐ Polen blieb seinem Schicksal überlassen. Die Situation verschlimmerte sich nach Einzug der Truppen der Roten Armee in östliche Gebiete Polens am 17. September 1939. Polens Widerstand war zwecklos. Am 28. September kapitulierte Warschau und nach den letzten Kämpfen Anfang Oktober endete der Verteidigungskrieg Polens. Nach dem Umsturz der Zweiten Polnischen Republik gelangten 48,6% Polens samt 20,4 Millionen Einwohnern unter deutsche Besatzung und 50 % des Gebiets mit etwa 14,3 Millionen Einwohnern in sowjetische Hände. Litauen nahm 1,4 % des polnischen Gebiets samt 0,5 Millionen Einwohnern ein. Nach 1940 wurden diese Gebiete in die Sowjetunion eingegliedert. Im Oktober begannen die Besatzungsmächte damit, eine Verwaltung auf den besetzten Gebieten einzurichten. Die Nazis gliederten kraft eines Dekrets vom 8. Oktober 1939 die Woiwodschaften Posen, Pommern, Schlesien, teilweise die Woiwodschaften Lodz (samt Woiwodschaftshauptstadt Łódź (später Litzmannstadt)) und Warschau, als auch einige Landkreise der Woiwodschaften Kielce und Krakau in das Deutsche Reich ein. Ende Oktober wurden aus diesen Gebieten zwei neue Reichsgaue gebildet, und zwar Danzig‐Westpreußen und das Wartheland. Die restlichen Gebiete wurden an die schlesische Provinz oder Ostpreußen angegliedert. Aus den sonstigen Gebieten der Zweiten Polnischen Republik westlich vom Bug entstand am 12. Oktober das Generalgouvernement (GG) – ein Ersatz des polnischen Staates – mit der Hauptstadt Krakau, unter Führung des Generalgouverneurs Hans Frank. Für die so eingeteilten polnischen Gebiete hatte die deutsche Besatzungsmacht verschiedene Pläne und auch die Einwohner wurden unterschiedlich behandelt. Die ins Reich eingegliederten Gebiete sollten innerhalb weniger Jahre völlig germanisiert und die polnische Bevölkerung gänzlich entfernt werden. An ihre Stelle sollten deutsche Kolonisten treten. Das GG sollte hingegen mehrheitlich von Polen bewohnt werden, die als unqualifizierte Arbeitskraft der „Herrenrasse“ dienen sollten. Diese Pläne wurden sofort nach dem Einmarsch in Polen in die Tat umgesetzt. Noch im September 1939 begannen die Besatzungsmächte mit der Massenaussiedlung der Bewohner von Bezirken, die später ans Dritte Reich angeschlossen wurden. Es entstanden mehrere Übergangs‐ und Aussiedlungslager. In erster Reihe wurden Gutsbesitzer, Kaufleute, Handwerker und Bauern mit eigenen Bauernhöfen und Intellektuelle ausgesiedelt. Sie mussten ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen, welches dann in die Hände des Reiches fiel. Das Schicksal der ausgesiedelten Familien war schwer, denn nicht selten beschränkten sich die Besatzungsmächte darauf, die Polen bis zum erstbesten Bahnhof im GG zu transportieren und dort auszusetzen. Diese Menschen wurden nicht nur ihres ganzen Vermögens beraubt, sondern sie blieben danach oft obdachlos und ohne Lebensunterhalt. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Jahre 1941 änderten sich die Pläne Hitlers hinsichtlich des GG. Er beschloss, dass auch die GG‐Gebiete innerhalb von 15‐20 Jahren von der polnischen Bevölkerung, durch Ermordung oder Aussiedlung nach Sibirien, zu befreien waren. S EINFÜHRUNG Schon seit den ersten Kriegstagen wurden polnische Intellektuelle unbarmherzig bekämpft, da sie den Deutschen nicht nützlich waren; als „ausgebildetes und denkendes Element“ stellten Intellektuelle eine immense Gefahr für die neue Macht dar. In Anlehnung an Listen, die im Vorhinein durch Deutsche erstellt worden waren, führte man Verhaftungen oder umgehende Hinrichtungen durch. Diejenigen, die mehr Glück hatten, landeten in Konzentrationslagern. Die deutsche Seite versuchte nicht, ihren Tätigkeiten einen Schein von Legalität zu verleihen. Hinrichtungen und Transporte in Konzentrationslager erfolgten ohne Untersuchungsverfahren. Vor deutschen einstweiligen Gerichten hatten Polen keine Chance auf Verteidigung, während die Liste der Vergehen, für welche die Todesstrafe drohte, äußerst lang war. Die Deutschen hatten auf polnischem Boden ein Netzwerk von Konzentrations‐ und Arbeitslagern geschaffen, welches auch Straflager und Gefängnisse umfasste. Polen wurden in hunderte von Lagern im Dritten Reich verfrachtet. Man versuchte kostengünstig den größtmöglichen Nutzen aus ihrer unentgeltlichen Arbeit zu erzielen. Der Mangel an Arbeitskräften infolge des totalen Krieges führte zur Eskalation des Terrors. Da die Anwerbung freiwilliger Arbeiter sich als Fiasko entpuppte, wurden weit angesetzte Razzien zum Alltag. Dörfer wurden gezwungen, ein bestimmtes Kontingent an Arbeitern für die Arbeit im Dritten Reich zur Verfügung zu stellen. Polen hatten bei der Arbeit keinerlei Rechte, verdienten weniger als Deutsche, konnten den Arbeitgeber nicht wechseln, hatten kein Recht auf Urlaub oder Freizügigkeit usw. Frauen arbeiteten genauso hart wie Männer. Zusätzlich mussten polnische Arbeiter auf Höhe der linken Brust den an die Kleider aufgenähten Buchstaben „P“ tragen. Jegliche Verstöße gegen das Arbeitsrecht wurden mit Verweisung in Arbeitserziehungslager bestraft, und Wiederholungstäter landeten im Konzentrationslager. Für Sabotageakte drohte die Todesstrafe. Auch Polen, die an ihren Wohnorten blieben, wurden zur Arbeit für die Besatzungsmacht gezwungen. Solche Arbeiter wurden bei landwirtschaftlichen Arbeiten, in der Industrie und beim Straßenbau eingesetzt. Besonders schwer war die Arbeit in den Schützengräben, bzw. beim Bau von Verteidigungsanlagen und von anderen Befestigungen. Auch Kinderarbeit kam sehr häufig vor. Die nationalsozialistischen Besatzer wollten das polnische gesellschaftliche und kulturelle Leben ausmerzen. Polnische Schulen und Universitäten wurden geschlossen, die polnische Presse wurde abgeschafft, Museumssammlungen wurden verbrannt oder geraubt und nach Deutschland gebracht. Die polnische Sprache wurde aus dem öffentlichen Leben, Ämtern, Kirchen und aus Straßen‐ und Ortsnamen verbannt. Im GG war die Lage etwas besser, denn die polnische Sprache wurde dort beibehalten und manchen polnischen Einrichtungen und Organisationen (Polnisches Rotes Kreuz, Postsparkasse PKO) wurde der Betrieb in eingeschränktem Maß und unter deutscher Aufsicht erlaubt. Um Polen von Maßnahmen gegen die Deutschen abzuschrecken, schufen die Nazis den größten Terrorapparat in Europa. Das Prinzip der kollektiven Verantwortung wurde tagtäglich angewendet: um den Mord an einem Deutschen zu vergelten, wurden öffentliche Straßenhinrichtungen, „Pazifikationen“ von Dörfern [Zerstörung des Dorfes und Ermordung oder Vertreibung seiner Bewohner] oder Massenverhaftungen veranstaltet. Die Deutschen schufen ein System von Zwangsarbeitslagern für Juden. Kurz darauf wurde die gesamte jüdische Bevölkerung in Ghettos umgesiedelt. Die Lebensbedingungen dort waren unvorstellbar schlecht. Hunger, fehlende medizinische Versorgung und Überfüllung führten zu einer bis dahin beispiellosen Sterblichkeitsrate. Doch war dies nur der Auftakt zu weiteren Maßnahmen, die gegen Juden und Roma unternommen wurden. Im Jahre 1942 erbauten die Deutschen auf polnischem Boden Vernichtungslager, in denen innerhalb von anderthalb Jahren zirka 2 Millionen Juden umgebracht wurden. Als der deutschen Wehrmacht allmählich neue Rekruten fehlten, versuchte die Besatzungsmacht die polnische Gesellschaft zu teilen. Man erkannte an, dass ein Teil der Polen verdeutscht werden könne. Daher wurde die Kategorie der Volksdeutschen gebildet. Besonders großer Druck wurde auf Einwohner Schlesiens und Pommerns ausgeübt, damit sie sich zur deutschen Volkszugehörigkeit bekannten. Man begann mit der Germanisierung von Kindern mit „arischen Gesichtszügen“, d. h. die blauäugig und blond waren. Es ist bis heute nicht gelungen, die Anzahl polnischer Kinder, die nach Deutschland entführt und germanisiert wurden, definitiv festzulegen. Es gibt in Polen wohl kaum eine Ortschaft, deren Bewohner während des Zweiten Weltkrieges nicht verfolgt wurden. Davon zeugen zahllose Gräber, Denkmäler sowie Erinnerungsstätten und –tafeln. Genauso gibt es wohl kaum eine Familie, die nicht mindestens einen Angehörigen verloren hat, in der niemand zur Zwangsarbeit geschickt wurde, oder die keine anderen Repressionen erfahren hat. Bei den Zeugenaussagen, die in diesem Informationspaket enthalten sind, handelt es sich um Quellenmaterial, das es erlaubt, diese Zeit besser zu verstehen. 7 KONZENTRATIONSLAGER 8 August Kowalczyk als Häftling Nr. 6804 des KZ Auschwitz−Birkenau, um 1940 (PMA−B) Witold Pilecki als Häftling Nr. 4859 des KZ Auschwitz−Birkenau, 1940 (PMA−B) Wacław Bobrowski, minderjähriger Häftling Nr. 62766 des KZ Auschwitz−Birkenau, 1942 (PMA−B) KONZENTRATIONSLAGER Konzentrationslager ie ersten Konzentrationslager entstanden in Deutschland schon im Jahre 1933. Vorbild‐Lager war das auf Heinrich Himmlers Anordnung am 21. März 1933 in Betrieb genommene KZ Dachau. Zuerst war das Lager eine experimentelle Anlage, welche für die Abschottung politischer Gegner des Hitlerregimes, Geistlicher und Juden vorgesehen war. Hier wurden auch Führungskräfte und operative SS‐Mitarbeiter für andere KZs geschult. In den Jahren 1933‐1937 wurde im Dritten Reich ein KZ‐Model entwickelt, das die interne Organisation, die Befugnisse der Belegschaft und ein Bestrafungs‐ und Belohnungssystem für die Häftlinge reglementierte. Die Konzentrationslager waren dem Reichssicherheitshauptamt, dem SS‐Wirtschafts‐ und Verwaltungshauptamt und dem Inspekteur der Konzentrationslager unterstellt. Die Inhaftierung im KZ fand immer in Anlehnung an einen Beschluss über die sogenannte Schutzhaft an, der vom Reichssicherheitshauptamt ausgestellt wurde. In den Jahren 1936‐1939 entstanden die folgenden Konzentrationslager im Dritten Reich: Sachsenhausen‐ Oranienburg (1936), Buchenwald (1937), Mauthausen (1938), Flossenbürg (1938), Ravensbrück (1939 – für Frauen). Man schätzt, dass bis zu Kriegsbeginn etwa 165‐170 000 Menschen zur KZ‐Haft verurteilt wurden. Anfang des Krieges wurde die polnische Bevölkerung in Konzentrationslager nach Deutschland abtransportiert. Noch im Jahre 1939 hatten die Deutschen etliche Priester, Mönche und Intellektuelle im KZ Dachau eingesperrt. D Weibliche KZ−Häftlinge im Steinbruch des KZ Kraków−Płaszów, 1944 (IPN) 9 KONZENTRATIONSLAGER 10 Der rasante Ausbau der KZs ist verbunden mit Deutschlands Angriff auf Polen. Die Lager, die bisher zur Isolierung inländischer Gegner Hitlers dienten, wurden nun zum elementaren Instrument des Terrors, der Ausbeutung von Arbeitskraft und des Völkermordes in besetzten Gebieten. Das erste KZ, das die Deutschen nach Ausbruch des Krieges außerhalb des sogenannten Altreiches bauten, wurde am 2. September 1939 in Stutthof, im Umkreis der vor dem Krieg Freien Stadt Danzig, in Betrieb genommen. Das erste KZ auf polnischem Boden entstand Ende Mai, Anfang Juni 1940 in Auschwitz (Oświęcim). Die Deutschen begründeten die KZ‐Bildung dort mit der Notwendigkeit von zusätzlichen Haftanstalten, in Zusammenhang mit der Intellektuellenverhaftung sowohl auf den ins Reich eingegliederten Gebieten, als auch im GG. Im August 1941 wurde ein weiteres Lager in Polen errichtet: das KZ Lublin – Majdanek. Zu dieser Zeit wurden auch neue Lager in Deutschland geschaffen. Die größten unter ihnen waren: Neuengamme (Juni 1940), Natzweiler‐Struthof (Juli 1940), Gross‐Rosen (August 1940), Bergen‐Belsen (Oktober 1940) und Mittelbau‐Dora (Ende 1943). Bei der Standortbestimmung für die Lager wurden unter anderem eine günstige Infrastruktur und die Nachbarschaft von Produktionsbetrieben oder Steinbrüchen in Betracht gezogen. Seit 1942 wurden Häftlinge als unbezahlte Arbeitskräfte eingesetzt. Im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten entstand ein dichtes Netz von Lagern und den dazugehörigen Kommandos, in denen die Häftlinge in unmenschlichem Maße ausgenutzt und zur Sklavenarbeit gezwungen wurden. Der Transport ins Lager und die Ankunft dort erfolgten nach einem festgelegten Schema, mittels dessen die Häftlinge eine Ahnung davon bekommen sollten, was sie erwartete. Jede Handlung der Neuankömmlinge wurde von Hieben, Schubsen und Beschimpfungen begleitet, sie wurden mit Hunden gehetzt. Man pferchte die Häftlinge auf dem Lagerplatz zusammen und nach mehreren Stunden des Wartens wurden sie erniedrigenden sanitären Eingriffen unterzogen. Den nackten Häftlingen wurden die Haare kurz geschnitten, sie wurden rasiert, dann erhielten sie Lagerkleidung – gestreifte Häftlingsanzüge. Als diese ausgingen, wurden den Häftlingen alte, abgenutzte Militäruniformen oder Zivilkleidung gegeben. Diese wurde an einer sichtbaren Stelle mit Farbe gekennzeichnet, ein Stofffetzen wurde ausgeschnitten oder aufgenäht, um die KZ‐Zugehörigkeit des Trägers zu verdeutlichen. An Stelle ihrer Schuhe erhielten die Häftlinge schwere, nicht angepasste Holzschuhe, später dann auch Schuhe aus Lumpen mit hölzernen Sohlen. Alle persönlichen Sachen wurden konfisziert. Die Häftlinge erhielten Nummern. Von diesem Moment an wurden keine Vor‐ oder Nachnamen mehr genutzt. Die Häftlinge wurden zu Nummern. Diese Nummern wurden auf Stoffstücke geschrieben, die mit einem bunten Dreieck an die Häftlingsanzüge genäht werden mussten. Die Dreiecksfarbe verwies auf die Häftlingskategorie: rot für politische Häftlinge, lila für Zeugen Jehovas, schwarz für sogenannte Asoziale und Arbeitsunwillige, grün für Kriminelle, rosa für Homosexuelle, blau für spanische Republikaner. Jeder Häftling musste auch den ersten Buchstaben seiner Nationalität auf der Kleidung anbringen. Für Juden war die Farbe Gelb und ein zweifarbiger Judenstern vorgesehen. In den meisten Lagern lebten die Häftlinge in Baracken aus Holz, die ständig überfüllt waren. In der ersten Phase des Lagerbetriebs schliefen die Sträflinge auf ausgestreutem Stroh, dann auf mit Papier gefüllten Strohsäcken, dann auf zwei‐, drei‐ oder mehrstöckigen Pritschen (oft je zwei Insassen auf einer Pritsche). Zum Zudecken erhielten sie lediglich eine dünne Wolldecke. Die Blöcke waren mit einem eisernen Ofen, einem Blocktisch, einigen Tischen und Eimern ausgestattet. Die erschütternden sanitären Bedingungen, der Mangel an fließendem Wasser und Unterwäsche führten zur Ausbreitung von Insektenplagen und verschiedenen Krankheiten. Zur Vernichtung der Häftlinge dienten auch die Hungerrationen, die sie als Nahrung erhielten (der Kalorienwert einer Tagesration für die schwer arbeitenden Häftlinge betrug zirka 1000 Kalorien). Die KZ‐Häftlinge wurden für jedes kleinste Vergehen bestraft. Erniedrigung, Schläge, Hunger, Angst und ständige Lebensgefahr prägten, neben der mörderischen Zwangsarbeit die Erfahrungen der KZ‐Häftlinge. Tod drohte ihnen von jeder Seite. Sie wurden gefoltert, erschossen, erhängt, ertränkt; die Kranken, Schwachen und Arbeitsunfähigen wurden vergast oder mit Giftinjektionen umgebracht, oder einfach ohne Betreuung gelassen bis sie vor Hunger und Kälte starben. Häftlinge, für die die Gestapo oder die KZ‐Leiter einen sofortigen Tod vorgesehen hatten, wurden zur Strafkompanie geschickt. Die deutsche Lagerleitung kümmerte sich nicht um eine funktionierende gesundheitliche Versorgung, denn die Sterbenden wurden ohnehin ständig durch neue Häftlinge ersetzt. Diese wurden ohne jegliche Entlohnung zu schwerer körperlicher Arbeit in industriellen Betrieben eingesetzt. Im Jahr 1941 bauten die Deutschen in einigen KZs Gaskammern, mittels derer die Massentötung der Häftlinge eingeleitet wurde. Bis 1942 war die Ausrottung von Personen, die als politische und Rassenfeinde des Dritten Reiches galten, die grundsätzliche Funktion der Lager. Die maximale Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge erfolgte nebenbei. Die KONZENTRATIONSLAGER Weibliche KZ−Häftlinge arbeiten in der Kiesgrube des KZ Auschwitz−Birkenau, 1942−1943 (IPN) Prioritäten änderten sich erst, als die Deutschen an der Front eine Niederlage nach der anderen erlitten. Die Ausnutzung der unbezahlten Arbeit der Häftlinge wurde damals zur Hauptaufgabe der KZs. Zu dieser Zeit ließ der KZ‐ Terror etwas nach. Es kam auch zu einer explosionsartigen Entwicklung von Außenlagern, die fast überall in Deutschland verstreut waren. Sie wurden in der Nähe großer Industriewerke angelegt. Die meisten Häftlinge wurden zur Arbeit in Waffenfabriken, zu Bau‐ oder Räumarbeiten geschickt. Ende des Krieges starben viele von ihnen bei der Bombardierung dieser Betriebe durch die alliierte Luftwaffe. Die Häftlinge starben darüber hinaus massenweise während sogenannter Todesmärsche, die die Deutschen bei der Evakuierung der Lager organisierten, als man vor der sich nähernden Kriegsfront floh. In Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Mauthausen, Natzweiler‐Struthof, Neuengamme, Ravensbrück und Sachsenhausen wurden an den Häftlingen grausame, von den Deutschen als medizinisch bezeichnete, Experimente durchgeführt. Diese wurden – ohne Rücksicht auf die Anzahl der Opfer – auch an Kindern durchgeführt, die während der Eingriffe einen qualvollen Tod starben. Die Konzentrationslager, allen voran Auschwitz‐Birkenau, spielten ab 1942 auch eine Rolle als Stätten der unmittelbaren Judenvernichtung, was im nächsten Kapitel besprochen wird. KONZENTRATIONSLAGER 12 JAN RYSZARD SEMPKA „Ich war lediglich die Nummer 95959” Jan Ryszard Sempka – geboren am 13.05.1928 in Warschau. Vor dem Krieg wohnte er in der Zakroczymska Straße Nr. 1. Er nahm am Warschauer Aufstand teil und kämpfte in der Altstadt. Nach der Niederlage der Aufständischen teilte er das tragische Schicksal der Einwohner der Hauptstadt. Von den Deutschen wie ein Zivilist behandelt, kam er in das Konzentrationslager Mauthausen. JAN RYSZARD SEMPKA […] Am 4. September 1944 gegen 11 Uhr hielt der Zug am Bahnhof Mauthausen an. Alle gerieten in Panik, denn der Name Mauthausen war vielen Menschen bekannt. Der Zug blieb circa zwei Stunden lang stehen und nichts passierte. Eisenbahner sagten, dass sie abwarten bis die Strecke frei wird und wir dann nach Linz fahren würden. Gegen 13 Uhr wurde der Zug von SS‐Männern umstellt, die uns mit Gewalt aus den Waggons schmissen, uns befahlen, Kolonnen zu bilden und uns durch die Stadt in eine damals unbekannte Richtung trieben. Außerhalb der Stadt sahen wir oben in einiger Entfernung ein befestigtes Lager. Es waren Steinmauern mit Wachtürmen zu sehen. Da begriffen wir, dass man uns nicht zur Arbeit in Weinbergen, sondern zu dem bekannten Konzentrationslager führte. Die Männer wurden durch ein riesiges Holztor auf das Lagergelände getrieben, die Frauen und Kinder blieben draußen vor der Mauer stehen. SS‐Männer trieben uns auf einen Platz zwischen der Mauer und den Baracken, wo sich das Bad und eine Wirtschaftsbaracke befanden. Man befahl uns, uns nackt auszuziehen, nur Schuhe und Gürtel oder Hosenträger durften wir behalten. Dann wurde uns befohlen, Wertsachen, Geld, Dokumente und andere Andenken abzugeben. Man hielt uns bis in die späten Abendstunden auf dem Platz fest, dann trieb man uns gruppenweise in das Bad. Hier wurden alle kahl geschoren, jedem wurde in der Mitte des Kopfes ein 3‐4 Zentimeter breiter Streifen rasiert. Aus dem Bad wurden wir durch einen anderen Ausgang herausgelassen, wo bereits Häftlinge warteten. Jedem von uns wurde ein Stück Unterwäsche, ein Unterhemd oder eine Unterhose zugeworfen, alles sehr abgenutzt, mit einem Hosenbein kürzer als das andere, ärmellose Hemden usw. Unter Schreien und Schlägen trieben uns SS‐Männer über die Hauptstraße des Lagers (welches in drei Teile geteilt war) zum letzten Teil, dem sog. dritten Lager. Es war schon dunkel, das Gelände war nicht beleuchtet. Wir wurden in düstere Erdgeschossbaracken getrieben, wo wir uns auf den Boden setzen sollten, beginnend von der linken Wand. „Funktionshäftlinge“ – Blockführer und Kapo hetzten andere Häftlinge. Die Baracke wurde mit so vielen Personen wie möglich vollgestopft. Die Häftlinge saßen die ganze Nacht auf dem nackten Boden, zusammengedrängt, auf der rechten Seite der Baracke lagen dagegen Strohsäcke, bis zur Decke aufgestapelt. In der Nacht stand ein neben mir sitzender Häftling auf und verließ die Baracke. Am nächsten Tag fand man ihn im Waschraum, er hing an seinem Gürtel, der an einem Balken befestigt war, er hatte auch aufgeschnittene Pulsadern. Überall um ihn herum war Blut. Ich hörte von anderen Häftlingen, dass er Besitzer einer Apotheke in der Altstadt gewesen war. Wahrscheinlich war er mit den Nerven am Ende und beging Selbstmord. Vor Sonnenaufgang wurden die Häftlinge aus fünf Baracken, mit den Nummern 26 bis 30, nach draußen gejagt. Es war sehr kalt, die Temperatur muss unter null gewesen sein, weil alles mit Raureif überzogen war. Menschen wärmten sich gegenseitig mit ihren Körpern, indem man sog. Kamine bildete, d.h. sich in Gruppen aneinander schmiegte. Der Anblick der rasierten Häftlinge in Unterwäsche war schrecklich, sogar beste Freunde konnten sich gegenseitig nicht wiedererkennen. Der erste Kontakt mit dem Konzentrationslager war erschreckend. Seit der Ankunft, oder eigentlich seit der Zeit des bescheidenen Essens in Wien kriegten wir nichts zu Essen oder Trinken. Einige Stunden lang standen wir draußen, bis endlich einige Tische auf das Gelände dieses Lagerteiles gebracht wurden und mit der Registrierung der Häftlinge angefangen wurde. Man schrieb unsere Personaldaten auf und teilte uns Häftlingsnummern zu. Ich erhielt die Nummer 95959 und ab diesem Moment war ich nur noch diese Nummer. Ich wurde zum Block Nr. 27 zugeteilt. An diesem Tag und den nächsten Tagen war das Wetter wunderschön, obwohl nachts und frühmorgens leichter Frost herrschte. Gegen Mittag erreichte die Temperatur bis zu 35 Grad. Den ganzen Tag lang ließen uns die Blockführer nicht in die Baracken rein, wir mussten auf dem Platz stehen bleiben, wo es keine Bäume gab. Wir versuchten uns im Schatten der Baracken und der Mauern zu schützen. Infolge der Überhitzung bekamen einige einen Hitzschlag. Einem Häftling schwoll das Gesicht so stark an, dass ein Auge nicht mehr sichtbar war. Wir verspürten ständig Durst. Als zum Frühstück Kaffee von der Küche geholt wurde, ließ der Blockführer jugendliche Häftlinge damit den Boden in der Baracke wischen. Uns wurde dagegen eine Portion für drei, vier Personen zugeteilt. Wir nahmen aus einer Schüssel der Reihe nach ein paar Schlucke der bitteren, dunklen Flüssigkeit. Schon in den ersten Tagen im Lager, in der sog. Quarantäne, litten Manche an Durchfall. Sie wurden in das Lagerkrankenhaus, das sog. Revier gebracht. Meine Quarantäne dauerte bis zum 12. September 1944. An diesem Tag wurde ich am frühen Morgen mit einer Gruppe von über 400 Personen in das Außenlager in Melk gebracht. Am Vortag wurde jedem Häftling Unterwäsche, d.h. Unterhemd und Unterhose, sowie eine Hose, eine Bluse und eine runde Mütze mit grau‐blauen Streifen gegeben. Jeder Häftling erhielt auch zwei Stoffstreifen, auf die ein rotes Dreieck (Zeichen für politische Häftlinge) gedruckt war. Auf die Streifen sollten wir unsere Häftlingsnummern schreiben. Einen Streifen sollten wir an die Bluse, links über die Brust, den anderen an das linke Hosenbein, seitlich über das Knie nähen. 13 KONZENTRATIONSLAGER 14 […] In Melk, das ca. 90 km von Mauthausen und ungefähr genauso weit von Wien entfernt war, kamen wir am Nachmittag an. Das Lager befand sich in einer ehemaligen Kaserne. Auf dem Gelände befanden sich einige gemauerte Gebäude, manche mit zwei oder drei Stockwerken, es gab auch einige Baracken. Der Eingang zum Lager kündigte nichts Gutes an. Doppelte Stacheldrahtumzäunung unter Strom, Wachtürme mit Wachmännern, die Handfeuerwaffen und Maschinengewehre hatten. Am Tor stand ein Mast, an den mit Händen und Füßen ein Häftling gebunden war. So wurde er für eine mir damals noch unbekannte „Verfehlung“ bestraft. Die anderen Häftlinge machten auch einen bedrückenden Eindruck. Manche versuchten, aus leeren Kesseln Suppenreste auszukratzen. Andere durchwühlten Mülleimer und suchten nach Essen. Sie versuchten natürlich, unauffällig zu handeln, weil für solches Verhalten schmerzliche Strafen drohten (im besten Fall wurde man von den SS‐Männern oder den Funktionshäftlingen verprügelt). Unsere gesamte Gruppe wurde dem Block Nr. 13 zugeordnet, der sich in einem großen Raum im ersten Stock befand. Der Raum wurde mit Brettern (mit großen Spalten) in vier Teile geteilt. Jeder Teil stellte einen separaten Block dar: Nummer 10, 11, 12 und 13. Insgesamt befanden sich auf dieser Ebene ca. 2000 Häftlinge. Jeder Block hatte eine eigene Blockführung. Unser Blockführer wurde ein deutscher Häftling, der mit einem grünen Dreieck kennzeichnet war, was auf einen kriminellen Häftling hindeutete. Er ordnete sofort einen Appell an und wies einer Reihe von Personen unterschiedliche Aufräum‐ und Einrichtungsarbeiten im Block zu […]. Die Einrichtung des Blocks bedeutete hauptsächlich, dreistöckige Pritschen zu holen und sie nebeneinander zu stellen, indem immer nur ein schmaler Durchgang gelassen wurde, damit man zu den einzelnen Liegeplätzen Zugang hatte. Auf die aus ungehobelten Brettern zusammengenagelten Pritschen legte man Papiersäcke mit Holzspänen. Auf jedem Liegeplatz befanden sich zwei alte, abgewetzte, graue, stinkende Decken. Am selben Tag wurde für jeden Häftling eine Akte angelegt, wir wurden in Arbeitsgruppen, sog. Kommandos eingeteilt. Ich wurde dem 50‐Personen‐ Kommando Keller Lutz Wasser zugeteilt. Die Bezeichnung kam vom Namen der Firma, für die gearbeitet wurde. Am nächsten Tag wurden wir gegen 4 Uhr morgens zuerst durch einen Glockenschlag und dann durch Schreie des Blockführers und anderer Funktionshäftlinge geweckt, die „aufstehen!” brüllten und im Block herumliefen. Diejenigen , die sich am nächsten befanden, trieben sie in die Küche, damit sie Frühstück holen, das aus einem Becher schwarzen bitteren Wassers, sog. Kaffees und aus einem Achtel eines 1‐kg‐Brotlaibes bestand. In dieser Zeit mussten sich die Häftlinge in aller Eile anziehen, die „Betten“ machen und unten in den Waschraum laufen, dann sollten sie im Block als separate Kommandos antreten. Das Essen wurde nämlich je nach der Zahl der in einem Kommando arbeitenden Leute ausgegeben. All diese Tätigkeiten wurden von Schreien, Beschimpfungen und Drängen seitens der Blockführer begleitet. Verspätete wurden geschubst und geprügelt. Nach dem Frühstück – alles in großer Eile und öfters im Stehen – traten die Häftlinge in Kolonnen vor dem Gebäude an, fünf Leute in jeder Reihe. Danach wurden wir nach mehrmaligem Zählen und Anwesenheitskontrolle zum Appellplatz geführt. Hier fand um 5 Uhr der Gesamtappell des Lagers statt. Hier wurden wir wiederholt vom Blockführer (einem SS‐Mann), Raportführer und dann vom Lagerkommandanten gezählt. Nach dem Ende des Appells gingen wir zur Arbeit: Manche auf dem Lagergelände, Andere dagegen verließen, unter der ständigen Bewachung durch bewaffnete SS‐Männer, öfters mit Hunden, das Lagergelände. Mein Kommando arbeitete in einer Entfernung von ca. 5 km vom Lager. Wir wurden von fünf SS‐Männern bewacht. Unsere Aufgabe war es, Gräben im felsigen Boden zu schlagen und dann Rohre von großem Durchmesser dort einzubauen, mit denen Wasser von der Donau zu entfernten Stollen von Steinbrüchen fließen sollte. Jeden Tag gingen wir zu Fuß zur Arbeit und zurück. Das Mittagessen aus zerkochten Kohl, Kohlrüben und Karotten, und in der Wintersaison aus getrocknetem Gemüse, wurde mit einem Auto zu unserem Arbeitsort gebracht. Es kam jedoch vor, dass das Essen nicht geliefert wurde, sondern uns erst mit dem Abendessen auf dem Lagergelände, in unserem Block, ausgegeben wurde. Jeder Häftling musste ein Gefäß für das Essen haben. Jeder hütete sein Gefäß wie seinen Augapfel, weil man ohne ein eigenes Gefäß kein Essen bekam. Manche hatten Blechschüsseln, Andere schwere Tonschüsseln, noch Andere alte Dosen. Dasselbe betraf Löffel, die uns bei der Ankunft in Melk gegeben worden waren. Es gab unterschiedliche Methoden, die Gefäße bei sich zu tragen, weil man sich von ihnen nicht trennen durfte. Eine Blechschüssel war am einfachsten anzubringen. In der Regel schlug man seitlich ein Loch in die Schüssel und befestigte sie dann am Gürtel. Mit Tonschüsseln wurde die Sache problematisch. Dazu waren sie schwer, was wegen des täglichen 10‐Kilometer‐Marsches eine schmerzliche Erfahrung war. Das Abendessen bestand aus einem Schöpflöffel schwarzen, bitteren sog. Kaffees und einem Achtel Brotlaib, manchmal auch aus einem Löffel Quark oder einem Stück Margarine (einige Gramm) oder Marmelade. Es kam auch vor, dass wir an Feiertagen ein JAN RYSZARD SEMPKA Scheibchen Wurst erhielten. Des öfteren gaben Blockführer aus Bequemlichkeit die doppelte Brotportion nur einmal am Tag aus, morgens oder abends, was für die Häftlinge von Nachteil war, weil man in der Regel die ganze Portion auf einmal aß und entweder hungrig schlafen oder am Morgen mit nüchternem Magen zur Arbeit ging. Am 17. September 1944 war ein arbeitsfreier Sonntag. Häftlinge, die außerhalb des Lagergeländes arbeiteten, hatten jeden zweiten Sonntag frei, weil man das System der Schichten (im Stollen gab es ein Dreischichtsystem) umstellen musste und die Aufsicht habenden SS‐Männer und Zivilmeister Gelegenheit zur Ruhe haben sollten. Beim Morgen‐ und Abendappell waren alle Häftlinge anwesend (abgesehen von denen, die im „Revier“ waren). Nach dem üblichen Prüfen der Kopfanzahl wandte sich der Lagerkommandant an die Neuangekommenen und warnte sie davor, die Disziplin zu vernachlässigen und Fluchtversuche zu unternehmen, weil fliehende Häftlinge immer ergriffen und zum Tode verurteilt würden. Er stellte auch fest, dass keiner länger als drei Monate im Lager leben dürfe und dass es nur einen Ausgang gäbe – durch den Schornstein des Krematoriums. Nach wenigen Tagen im Lager, während derer wir ständig Prügelstrafen, Todestrafen, Anbinden an Maste, Ertränken in Fässern und andere Formen der Häftlingsmisshandlung beobachten mussten, waren wir überzeugt, dass der Lagerkommandant recht hatte und man länger in dem Lager nicht überleben würde. Man musste um jeden Preis Situationen vermeiden, in denen man geprügelt oder getötet werden könnte. Der „freie Sonntag” war kein Erholungstag für uns Häftlinge. Man ließ sich verschiedene Schikanen für uns einfallen. Der Blockführer unseres Blockes hatte den „Ehrgeiz“, den Häftlingen aus seinem Block das Gebaren einer Militäreinheit im Defilee beizubringen. Daher hatten wir unabhängig vom Wetter den ganzen Tag lang das schnelle Aufstellen in Kolonnen ‐ immer fünf oder zehn Männer in einer Reihe – zu üben. Häftlinge, welche es nicht schafften, in der kurzen Zeit den richtigen Platz in der Kolonne einzunehmen, mussten wie Frösche um die Kolonnen herum springen. Es wurde Abnehmen und Aufsetzen von Mützen im gleichen Tempo geübt, damit alle auf Kommando „Mützen ab” mit ihren Mützen gegen den rechten Oberschenkel schlugen, so dass ein lautes Geräusch zu hören war. Auf Kommando „Mützen auf” mussten Mützen gleichzeitig und blitzschnell aufgesetzt werden. Häftlinge, welche die Befehle nicht schnell genug ausführten, mussten wie Frösche springen, aufräumen, die Fußböden putzen oder sie wurden verprügelt. Eine andere Qual waren für die Häftlinge das sog. Gruppenwaschen und die Kleidungsdesinfektion. In der Nacht löste man ohne Vorwarnung Alarm aus. Alle Häftlinge mussten sich ausziehen, ihre Kleidungsstücke sollten sie so zusammenfalten, dass die Häftlingsnummern sichtbar blieben. Ausgewählte Häftlinge brachten die Kleidung zum Dampfbad. Die nackten Häftlinge wurden unabhängig vom Wetter – bei Regen oder Frost, unter Schreien und Schlägen bis zum Badehaus gejagt, das ca. 150‐200 Meter entfernt war. Hier wurde je nach Laune der Kapos nur kaltes oder heißes Wasser laufen lassen. Nach wenigen Minuten wurde eine Gruppe aus dem Badehaus herausgelassen und die nächste hineingelassen. Die Häftlinge liefen zu ihrem Block, wo der Blockführer mit den Kapos wartete und prüfte, ob jeder Häftling sauber genug war. Wenn sie feststellten, dass ein Häftling nicht richtig gewaschen oder mit Matsch bespritzt war, was bei dem schnellen Lauf zum Block öfters der Fall war, wurde der Häftling sooft zum Badehaus gejagt, bis er sauber zurückkam. In einer solchen Nacht konnte niemand schlafen. Nach einiger Zeit wurden vom Dampfbad nasse und nicht mehr gefaltete Kleidungsstücke zurückgebracht, ohne dass die Häftlingsnummern direkt sichtbar waren. Daher dauerte es sehr lange, bis man die eigene Kleidung fand. Und zum Morgenappell musste jeder angezogen erscheinen. Das waren schreckliche Nächte; Häftlinge, die dann in der Nachtschicht arbeiteten, hatten Glück. In dem Kommando Keller arbeitete ich ca. sechs Wochen lang, in einer 50‐Personen‐Gruppe, die aus Einwohnern Warschaus bestand. Anfangs beneideten uns unsere Kollegen vom Stollen, da wir immer an der Oberfläche und nur in einer Schicht arbeiteten. Doch als erst Regenwetter und dann Frost kamen und wir in unserer nassen und dünnen Kleidung arbeiteten, ohne dass man sich vor dem Regen schützen oder aufwärmen konnte, fingen wir an, die zu beneiden, die im Stollen arbeiteten. Das war für mich die schlimmste Phase im Konzentrationslager. Ich erinnere mich noch, als mein Freund Zbyszek Wąsowicz, der drei Jahre älter als ich, d.h. 19 Jahre alt war, und ich vor Kälte und Hunger weinten, während wir mit Keilhauen Gräben schlugen und aus den Rohren über den Gräben Wasser auf uns herunter rann. Damals dachten wir, dass wir unter solchen Umständen nicht mal vom Überleben der vom Kommandanten erwähnten drei Monate träumen können. Eines Tages ging unsere Gruppe zu einer anderen Arbeitsstelle, wir trugen unterschiedliche Gegenstände, Werkzeuge, Balken, Ketten usw., so bildeten wir keine ordentliche Kolonne. Das sah von weitem der Lagerkommandant, SS‐Hauptsturmführer Julius Ludolf. Er kam schreiend zu uns und verprügelte unseren Kapo, 15 KONZENTRATIONSLAGER 16 einen ungarischen Juden, der im Vergleich zu vielen anderen Kapos ein anständiger Mensch war. Der Gruppenkommandant wurde suspendiert, die Führung an einem anderen SS‐Mann übergeben. Nach der Rückkehr ins Lager wurde unsere Gruppe aufgelöst und wir wurden anderen Kommandos zugeordnet. Ich hatte irgendwie kein Glück, weil ich einem der schwersten Kommandos, dem sog. Kommando Merkendorf zugeordnet wurde. Der Name kam von der Ortschaft, in der wir eine Siedlung aus Baracken für die Einwohner Wiens bauten, deren Häuser bombardiert worden waren. Der Kommandoführer und die SS‐Männer, die er sich als Gehilfen auswählte, waren ausgesprochene Sadisten. Die Strecke zur Arbeit, ein ca. 4 km langer lehmiger Weg, machte uns fertig. Unsere Aufgaben waren Kiestransport mittels Schubkarren, Tragen schwerer Stahlbetonelemente, Ausladen vom Zement, Tragen großer Gefäße mit Wasser u.a. An jedem Tag wurde ein Häftling vom Kommandoführer bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt oder zumindest solange, bis er stark blutete. Er stellte einen Häftling an die Wand eines Gebäudes und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, sodass der Kopf nach hinten gegen die Wand schlug. Das war seine Lieblingsmethode. Er hörte erst auf, wenn der Häftling stark blutete. Alles konnte Anlass zu Prügeln geben: ungleiches Marschieren der Kolonne, zu langsames Arbeiten, ein vom Zementsack abgerissenes Stück Papier unter der nassen Bluse, eine vor einem SS‐Mann nicht abgenommene Mütze usw. Ein Tag ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Unser aus einigen Hundert Personen bestehendes Kommando fuhr einen Teil der Strecke nach Merkendorf mit einem Güterzug. In geringer Entfernung vom Bahnhof Melk stand eine Holzrampe, auf die die Häftlinge getrieben wurden. Dann kam der Güterzug. Die Häftlinge mussten in den Waggons dichtgedrängt auf der rechten und linken Seite stehen, damit die Mitte für die SS‐Männer frei blieb. Wir wurden einige Kilometer auf das Stollen‐Gelände transportiert, wo eine identische Rampe stand. An jenem Tag spürte ich beim Gehen, dass ich meine Beine kaum beugen konnte. Ich stellte fest, dass sie immer stärker anschwollen. Nachdem wir das Stollen‐Gelände erreicht hatten und auf die Rampe getrieben worden waren, wurde eine Kolonne gebildet. In der Kolonne gingen wir immer untergehakt, so dass man mit der rechten Hand den Häftling rechts hielt. Als ich die Rampe verlassen wollte, konnte ich meine Beine nicht mehr beugen, so wurde ein Teil der Kolonne meinetwegen gebremst und es bildete sich eine Lücke. Der neben uns gehende SS‐Mann befahl dem Häftling an meiner rechten Seite, mich einzuhaken und den Marsch der Kolonne zu beschleunigen. Der Häftling reagierte mit Widerwillen darauf. Der SS‐Mann schlug ihm mit seinem Gewehrkolben auf den Kopf, so dass er mit dem Gesicht nach vorne stürzte. Einen Moment lang ging alles durcheinander, ich wurde in die nächste Fünfergruppe geschoben, der Häftling dagegen, an dessen Stelle ich geschoben wurde, musste mit einem Anderen aus meiner Fünfergruppe den Bewusstlosen nehmen und auf den Platz bringen, wo der Appell vor der Arbeit stattfand. Die Kopfzahl der Häftlinge musste nämlich immer stimmen. Der Bewusstlose wurde neben unsere Kolonne auf den Boden gelegt. Nach kurzer Zeit kam der Oberkapo – ein Krimineller mit einem grünen Dreieck, den wir „Zigeuner“ nannten. Er trat den liegenden, bewusstlosen Häftling und schrie „aufstehen!”. Da der Häftling nicht reagierte, legte ihm der Oberkapo einen Pflock auf den Hals, stellte sich drauf und erwürgte sein Opfer. Die Ausschreitungen dieses Kriminellen waren im Lager bekannt. Fast jeden Tag brachte man einen von ihm ermordeten Häftling ins Lager. Seine liebste Mordmethode war das Ertränken der Häftlinge, indem er deren Kopf in ein Fass mit Wasser eintauchte. An jenem Tag ging ich am Abend ins „Revier“, wo Ärzte, die selbst Häftlinge waren, jeden Abend Kranke zur Untersuchung aufnahmen. Über die Aufnahme eines kranken Häftlings ins Krankenhaus konnte jedoch nur ein SS‐Arzt entscheiden. Ich war hüfthoch geschwollen, so dass man meine Hose auftrennen musste. Es wurde entschieden, dass ich im Krankenhaus bleiben sollte. Die Krankheit, die wir im Lager „Ödem“ nannten, wurde hauptsächlich durch den Hunger, äußere Bedingungen und die generelle Erschöpfung des Organismus verursacht. Es war sehr schwierig, ins Revier zu gelangen und einen Aufenthalt dort hielten die Häftlinge für ein Riesenglück, weil man so der aufzehrenden Arbeit entkam, geschützt unter Dach blieb und bessere Chancen hatte, Essen zu kriegen, weil viele Kranke, insbesondere die mit hohem Fieber, keine Nahrung zu sich nahmen, sondern nur einen heftigen Durst verspürten. Kranke tauschten ihr Essen gegen Flüssigkeit (Kaffee). Im Revier waren die Lebensbedingungen sehr schwer. Zum Liegen dienten mehrstöckige Pritschen, auf jeder lagen je nach Zeitraum drei bis vier Häftlinge. Im Herbst und im Winter stieg die Zahl der Kranken deutlich, genauso die Sterberate. Im frühen Herbst wurden die Verstorbenen zum Krematorium in Mauthausen abtransportiert und in Melk bestand das Revier nur aus einer Baracke. Ende 1944 gab es schon ein zweites Reviergebäude und zusätzlich ein Krematorium, in dem die Verstorbenen und Ermordeten verbrannt wurden. Im Revier mussten Häftlinge, die noch laufen konnten, eine Reihe von Arbeiten verrichten, die ihnen die Revierführung übertrug. Unter anderem waren das Aufräumen, Essenbringen, Versorgung, Verstorbenentransport JAN RYSZARD SEMPKA Eines Tages wurde ich in den Keller geschickt, wo ich ein verstopftes Rohr reinigen sollte. Als ich nach unten ging, stellte ich mit Entsetzen fest, dass sich in dem Keller ein Leichenhaufen befand und dass ich auf den Haufen steigen musste, um das verstopfte Rohr unter der Decke zu erreichen. Ich wusste, was mir bei Nichtausführung des Befehls drohte, diese Drohung war stärker als die Angst. Der Gedanke, dass ich auf die Leichen meiner Kollegen steigen muss, entsetzte mich. Trotz eines riesigen inneren Widerstandes musste ich der Anweisung folgen. Bis heute höre ich das Krachen der unter meinen Füßen zerbrechenden Knochen, obwohl ich mich bemühte, mich vorsichtig zu bewegen. Das schlimmste war, dass ich unter dem Rohr auf die andere Seite gelangen musste, und dazu auf den Leichen fast kriechen musste. Es war schrecklich, dass der Berg unter dem Druck meiner Füße auseinander glitt. Es schien mir, als ob sich die Arme und Füße der Leichen anhoben. Das werde ich nie vergessen! Mein Aufenthalt im Revier dauerte nur wenige Tage. Da ich in einem ziemlich warmen Raum bleiben konnte und nicht zur Arbeit gehen musste, sondern auf einer Pritsche lag, ließ die Schwellung nach. Der Revierkommandant, ein SS‐Arzt machte alle paar Tage morgens eine Begehung. Da ich kein Fieber mehr hatte, entschied er, dass ich in meinen Block zurückkehren konnte. Noch am selben Tag wurde ich zur Arbeit in der Nachtschicht im Kommando Czernichowski Lokschuppen geschickt. Wir waren eine Gruppe von 15 Häftlingen, deren Aufgabe es war, Waggons auf dem Gelände der Stollenbaustelle auszuladen. Wir hatten in der Regel Zement, Kies, Steinschlag und sonstiges Baumaterial abzuladen. Die Arbeit war sehr schwer, wir blieben die ganze Zeit draußen, auch bei Regenwetter, Schnee, Frost und starkem Wind. Man darf nicht vergessen, dass unsere Kleidung für Arbeit unter solchen Bedingungen überhaupt nicht geeignet war. Ich hatte nur ein Hemd und eine dünne Bluse an und einen Streifenmantel aus demselben Stoff. Die Schuhe, in denen ich ins Lager kam, hatten sich längst abgenutzt. Ich kriegte Holzschuhe, die ich mit einem Draht an meinen Füßen festband. Von Socken konnte keine Rede sein. Füße umwickelte man in der Regel mit Lappen oder Papier aus Zementsäcken. Manche liefen barfuß, weil sie keine Holzschuhe hatten. Die Zeit um Weihnachten 1944 ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Am Heiligen Abend ging nur die erste Schicht zum Stollen, weil die Arbeitspause zwei Weihnachtstage dauern sollte. An dem Tag [...] wurden alle auf dem Stollen‐Gelände arbeitenden Häftlinge gegen 13 Uhr zum Appell gerufen. Normalerweise fanden Appelle immer vor der Arbeitsaufnahme und nach Arbeitsschluss statt. Jeder Kapo schrieb die Nummern der Häftlinge seiner Gruppe auf und meldete dem Kommandoführer die Kopfzahl in der Gruppe. Nach Arbeitsschluss versammelte er die Gruppe wieder und prüfte, ob alle anwesend waren. Der Stand musste übereinstimmen. War ein Häftling gestorben oder ermordet worden, dann legte man die Leiche neben die Gruppe. Ein vom Kommandoführer gewählter SS‐Mann – der Raportführer zählte die Kopfzahlen der einzelnen Gruppen zusammen und prüfte, ob diese mit dem Stand vor der Arbeitsaufnahme, als wir das Lager verlassen hatten, übereinstimmten. Am Heiligen Abend wurden wir nach der Arbeit mehrmals gezählt, da in einer Gruppe die Kopfzahl nicht stimmte. Es fehlte ein Häftling, ein Pole, der vor wenigen Tagen aus Auschwitz gekommen war, wie sich später herausstellte. An dem Tag gab es Schneeregen. Das Stollen‐Gelände war groß. Es gab sehr viele Stellen, wo man sich verstecken konnte. Alle wussten, dass die SS‐ Männer während der Weihnachtstage ihre Wachtürme verließen, mit uns ins Lager, in ihre Kasernen gingen und dass das Gelände dann unbewacht blieb. Der Häftling hoffte wahrscheinlich, dass er in dieser Zeit, in der nicht die normale Bewachung herrschte, fliehen kann. Es herrschte eine große Aufregung unter den SS‐Männern und den anderen Aufsehern. Wenn ich mich recht erinnere, gab es in unserem Lager seit langem keine Fluchtversuche, in allen Fällen wurden die geflohenen Häftlinge ergriffen und ermordet. Wir blieben bis in die späten Abendstunden ohne Essen, im nassen Schnee und Matsch auf dem Appellplatz stehen. Gegen 22 Uhr kam eine große Gruppe SS‐Männer, die die Wachhabenden auf den Wachtürmen ablösten und dann wurde der Zug nach Melk bereitgestellt. Als wir von der Bahnstation zum Lager den Berg hinaufgingen, sahen wir in den Fenstern der Stadtbewohner die Lichter an ihren Weihnachtsbäumen und hörten Weihnachtslieder. An diesem Tag verhielten sich die SS‐Männer, die uns bewachten, besonders brutal. Im Lager sahen wir auf dem Appellplatz einen großen, beleuchteten Weihnachtsbaum. Jeder von uns kriegte ein halbes Brot für die gesamte Weihnachtszeit, sowie eine Prise geschnittener Tabakwurzel und ‐blätter. Das war die einzige Tabakration für Häftlinge, an die ich mich erinnern kann. Am nächsten Tag früh morgens sollten sich Blockführer, Kapos und Lagerpolizisten auf dem Appellplatz versammeln. Eine große Gruppe von ihnen wurde ausgewählt und fuhr zusammen mit einer großen Gruppe SS‐ Männer zum Stollen, um nach dem verschwundenen Häftling zu suchen. Für die Verbliebenen fing der Tag normal an. Nach dem Morgenappell kehrten wir in den Block zurück. Es wurde uns Kaffee gegeben, der an dem Tag anders, 17 KONZENTRATIONSLAGER 18 leicht süß schmeckte. Wahrscheinlich mischte man den Kaffee mit getrockneten, gerösteten Zuckerrüben. Für mich fing der Tag tragisch an. Beim Kaffeekessel traf ich auf den Blockführer, der bemerkte, dass ich einen Flanell‐Lappen am Hals hatte. Es war ein Armband, das manche Häftlinge bekamen, die im Block blieben, und das ich nicht zurückgegeben hatte. Dem Blockführer gefiel es nicht, dass ich es als Tuch am Hals hatte. Er riss es mir weg und befahl mir, mich nackt auszuziehen und meine gesamte Kleidung zur Desinfektion zu geben. Da ich beim Zementtransport arbeitete und dort Säcke trug, die oftmals durchgerissen waren, hatte ich Zementspuren an Kopf und Hals. Im Lager konnte man kaum sauber bleiben, weil es in dem gemeinsamen Waschraum und in der Toilette nicht immer Wasser gab, nicht mal kaltes, es fehlte an Seife, wir hatten keine Handtücher, und ich hatte verfrorene Hände mit offenen Wunden an den Fingern. Der Blockführer rief einen jungen Häftling, den Stubendienst, gab ihm einen Schrubber und befahl ihm, mit mir in den Waschraum zu gehen und mich mit dem Schrubber zu putzen. Der Waschraum befand sich in einem kleinen Gebäude, ca. 30 m vom Block entfernt. An dem Tag gab es starken Frost, der noch bis Mitte März anhielt. Alle Bäume und der Drahtzaun, waren mit Raureif bedeckt. Ich hatte doch ein bisschen Glück, weil der Stubendienst ein Pole aus Schlesien war, der sich bemühte, mir bei der Beseitigung der Zementspuren zu helfen, indem er mit dem Schrubber mit Wasser leicht rieb, Seife hatte ich nicht. An diesem Tag lief ich nur in eine Decke eingehüllt. Ich musste bis zum nächsten Tag durchhalten, an dem ich meine nasse Kleidung zurückkriegte. Am Nachmittag (des ersten Weihnachtstages) kamen die Gruppe der Funktionshäftlinge und die SS‐Männer zurück. Sie brachten auch den verprügelten Häftling mit, der am vorigen Tag nicht aufzufinden gewesen war. Er hatte sich in einem Kanalisationsrohr versteckt. Er konnte leider nicht fliehen, weil das gesamte Gelände durch SS‐ Bewacher auf den Wachtürmen und Patrouillen gut bewacht wurde. Beim Abendappell wurde der Häftling in bunten Lappen und mit einem Schild, auf dem auf Deutsch geschrieben stand: „ich floh und wurde ergriffen”, vor die auf dem Appellplatz versammelten Häftlinge geführt. Soviel ich weiß, genoss der Häftling eine eigenartige Art Weihnachts‐Amnestie. Er erhielt nicht die sonst üblichen 75 Peitschenhiebe und wurde nicht für zwei, drei Tage und Nächte ohne Essen und Trinken an eine Stütze gebunden. Ich weiß aber nicht, ich erinnere mich nicht, ob er zur Strafkompanie nach Mauthausen geschickt wurde. […] Da die Sterberate unter den Häftlingen aufgrund der Lebensbedingungen sehr hoch war, wurden von Zeit zu Zeit Transporte mit einigen Hundert neuen Häftlingen nach Melk geschickt, die die toten Häftlinge bei der Arbeit ersetzen mussten. Nach Neujahr verringerte sich deutlich der „Zufluss“ von Häftlingen, weil die Front immer näher an die Grenzen Deutschlands heranrückte. Daher wurden Häftlinge gezwungen, länger als in einer Schicht zu arbeiten. Mitte Februar 1945 wurde mir nach der Rückkehr von der ersten Schicht vom Schreiber mitgeteilt, dass ich in wenigen Stunden in die Nachtschicht muss. Nachdem ich Abendessen gekriegt und noch zwei Stunden bis zum Appell hatte, legte ich mich ganz erschöpft und erfroren auf eine der oberen Pritschen in der Baracke, ohne auf die drohende Strafe zu achten und schlief ein. Ich wurde durch Schreie im Block geweckt. Ich hörte mehrmals meinen Namen, was im Lager sonst nie passierte, weil man die Häftlinge nur bei ihren Nummern nannte. Ich wusste nicht, was los war. Es stellte sich heraus, dass man eben festgestellt hatte, dass im Kommando ein Häftling fehlte. Laut Kartei handelte es sich um mich. Ich sprang von der Pritsche und lief zur Kolonne. Der Schreiber und der Blockführer entdeckten mich gleich. Ich wurde mit zehn Gummiknüppelschlägen auf den Rücken bestraft. Als ich aufstand, kriegte ich vom Blockführer noch einen Schlag auf den Kopf. Die Kolonne der Häftlinge vom Block 13 ging schnell zum Appellplatz. Die Häftlinge aus allen anderen Blöcken waren schon da. Der Blockführer, ein SS‐Mann, schrie unseren Blockführer an, warum wir zu spät seien. Der antwortete, dass sich ein Häftling versteckt hatte, der nicht zur Arbeit wollte. Darauf befahl der Lagerkommandant dem Lagerpolizisten, mich 25 Mal mit einem Ochsenziemer zu schlagen. Wie viel Schläge ich kriegte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich laut bis 14 zählte, dann fiel ich in Ohnmacht. Der Geschlagene war zum lauten Mitzählen verpflichtet. An dem Tag ging ich nicht mehr zur Arbeit, sondern wurde von Kollegen ins Revier gebracht. Nach einigen Tagen wurde ich in ein Zimmer gebracht, in dem ein SS‐Arzt arbeitete. Ich wurde von einigen Ärzten untersucht, unter anderem von einem in SS‐Uniform. Am nächsten Tag oder zwei Tage später (ich weiß es nicht mehr genau), wurde ich verschiedenen Eingriffen unterzogen. Ich kriegte einige Spritzen ins Bein, über das Knie. An den nächsten Tagen machte man mir Umschläge aus einer dunklen Flüssigkeit, bis ich hohes Fieber bekam. Mein Bein schwoll an und wurde rot‐blau, danach bildeten sich eitrige Wunden am Fuß, über dem Knöchel, unter dem Knie und unter dem rechten Arm. Der Krankenpfleger, ein Häftling, den wir „Dziadzia Jasza” [russisch: Onkel Jasza] nannten, sagte mir, dass es „Phlegmone“ sei. Laut Gerüchten im Revier machten Nazi‐Ärzte gerade Experimente in Bezug auf diese Krankheit. JAN RYSZARD SEMPKA Alle Kranken, die mit mir im Raum waren, hatten ähnliche eitrige Wunden. Es fehlte an Platz, so lagen wir zu dritt, zu viert auf einer Pritsche. Von Einschlafen konnte überhaupt keine Rede sein, weil der Eine den Anderen ständig verletzte. Eine zusätzliche Plage waren Läuse. Wir lagen nackt, ohne Unterwäsche, nur mit einer Decke zugedeckt. Unter unsere Verbände, die aus Papier gewickelt waren, gelangte Ungeziefer, so quälte uns neben Schmerzen auch Juckreiz. Die Sterberate kranker Häftlinge war sehr hoch. Es starben einige Häftlinge, die mit mir im Bett lagen, auf die Plätze warteten schon die nächsten Kranken. Unter solchen Umständen lag ich bis zu den ersten Apriltagen im Revier, als das Lager evakuiert wurde. In der Nacht vor der Evakuierung schlief niemand. Funktionshäftlinge liefen aufgeregt hin und her. Laut Gerüchten sollten die gesunden Häftlinge zu Fuß nach Mauthausen gehen, die Kranken dagegen sollten vernichtet werden. Unter den Kranken im Revier brach Panik aus. So ging es bis zur Morgendämmerung. Morgens kamen LKWs (angeblich gab es auch Pferdewagen) auf das Lagergelände und man fing an, die kranken Häftlinge darauf zu laden. Dann wurden wir zur Bahnstation in Melk gebracht, wo ein Güterwagen stand. Häftlinge, die laufen konnten, stiegen selbständig in den Waggon ein. Die anderen Kranken wurden wie Säcke hineingeworfen. In den verschlossenen Waggons wurden wir zwei Tage und Nächte ohne Essen und Trinken transportiert. Öfters standen wir auf Nebengleisen. Am dritten Tag sehr früh morgens hielt der Zug an der Bahnstation Mauthausen an. Wir wussten immer noch nicht, was man mit uns vorhatte. Die Waggons wurden von bewaffneten Wachmännern (nicht nur SS‐Männer) umstellt und wieder wurden die kranken Häftlinge unter Schreien aus den Waggons auf den Bahnsteig geworfen. Es regnete und es war sehr kalt. Aus unserem Waggon wurden einige nicht mehr lebende Häftlinge geworfen, auch aus den anderen Waggons. Von der Station wurden die kranken Häftlinge mit LKWs und Pferdewagen ins Lager gebracht. Aufgrund weniger verfügbarer Transportmittel dauerte der Transport einige Stunden lang. Als Erste fuhren Häftlinge, die sich bewegen konnten ins Lager. Andere Kranke warteten, bis man sie auf einen LKW oder Pferdewagen lud. Nach einigen Stunden auf dem nackten Boden war ich ganz erfroren, ich sah einen bekannten Häftling, der bei der Verladung der Kranken auf einen LKW half. Ich rief kraftlos nach ihm. Der Bekannte trug mich mit einem anderen Häftling zu einem LKW. Nach dem Bad im Waschraum, das bei der Aufnahme ins Lager immer stattfand, wurden die nackten Häftlinge, die noch laufen konnten, zum Revier getrieben. Andere, wie ich, wurden mit einem Vierradkarren von anderen Häftlingen zum Revier gebracht. Die Umstände waren grausam. Im Revier waren einige Tausend Kranke. Kranke Häftlinge kriegten nur die Hälfte der Hungerrationen, die die Häftlinge im Zentrallager kriegten. Auf Pritschen, die für eine Person bestimmt waren, lagen wir zu viert. Ich wurde ganz nach unten gelegt. Neben mir lag der ein Jahr jüngere, d.h. 15‐jährige Józio Rosołowski, dessen älterer Bruder im Lager gestorben war. Wie ich nach der Befreiung erfuhr, ist es nicht zur Vernichtung der Häftlinge in Melk gekommen. Nachdem die schwer Kranken nach Mauthausen abtransportiert worden waren, führte man die übrigen Kranken zu Fuß zum Zentrallager. Viele haben das Ziel nicht erreicht. Erschöpfte Häftlinge, die nicht mehr imstande waren, weiterzulaufen, wurden von den SS‐Männern getötet. Die im Lager verbliebenen Häftlinge wurden am 15. April in Eile erst mit einem Güterzug, dann mit einem Schiff auf der Donau nach Linz und dort in das Lager in Ebensee transportiert. Eines Tages (das genaue Datum weiß ich nicht mehr) starb einer der Häftlinge, der mit uns auf der Pritsche lagen. Wir haben es dem Pfleger nicht mitgeteilt, so konnten wir eine zusätzliche Nahrungsration kriegen, die wir unter uns teilten. Der schreckliche Hunger wog stärker als die Tatsache, dass eine Leiche neben uns lag. Das dauerte ca. drei Tage lang. Gegen Mitte April verbreitete sich im Revier die Nachricht, dass einige der kranken Häftlinge ins Zentrallager abtransportiert werden, wo sie größere Essenrationen kriegen sollten, damit sich ihr Gesundheitszustand verbessere. Das war ein Hoffnungsschimmer für uns. Wir hofften, doch bis zur Befreiung überleben zu können, umso mehr, da wir wussten, dass sich dem Lager von einer Seite russische Truppen, von der anderen Amerikaner näherten. Unser Pfleger war ein Pole aus Warschau – ein alter Häftling, dessen Nummer nur wenig größer als zweitausend war. Ich erinnere mich noch, dass er vor seiner Verhaftung in der Wspólna Straße wohnte. Den Namen weiß ich leider nicht mehr. Das Revier, in dem ich war, befand sich unter dem Zentrallager. In der Zeit, in der man den Transport einiger Häftlinge „nach oben“ (ins Zentrallager) ankündigte, kam unser Pfleger zu uns und sagte mir und Józio Rosołowski, dass wir uns nicht melden sollen, wenn man unsere Nummern zum Transport zwecks besserer „Ernährung“ nennt. Er sagte uns auch, dass er unsere Nummern gegen die Nummern toter Franzosen getauscht hatte. Diese Information sowie die Tatsache, dass beim Umzug der Kranken aus dem Revier die Blöcke von SS‐Männern umstellt waren, 19 KONZENTRATIONSLAGER 20 Häftlinge bei der Arbeit im KZ Auschwitz−Birkenau, 1942−1943 (IPN) zeugten von einem anderen Zweck des Umzugs als einer besseren Ernährung für die kranken Häftlinge. Erst nach der Befreiung erfuhren wir, dass die Mitte April aus dem Revier geholten Häftlinge vergast worden waren. […] Das Lager Mauthausen wurde am Vormittag des 5. Mai 1945 durch die amerikanische Armee befreit. Vom 5. bis zum 7. Mai regierten nationale Häftlingskomitees im Lager. Erst am 7. Mai übernahmen amerikanische Truppen die Führung. Sofort wurde medizinische Hilfe organisiert. Schwerkranke wurden zum Zentrallager gebracht, wo im Block Nummer 130 das Krankenhaus der amerikanischen Armee eingerichtet wurde. An diesem Tag wurde ich auf einer Trage mit einem Sanitätswagen des Amerikanischen Roten Kreuzes gefahren. Ich war extrem erschöpft, ich konnte nicht mal selbständig essen. Bei einer Körpergröße von ca. 174 cm war ich nur 34 kg schwer. Ich wurde u.a. von zwei Kollegen im Revier gefüttert, die sich selbständig bewegen konnten: Zbyszek Wąsowicz, mit dem ich seit meiner Geburt in einem Haus in der Zakroczymska Straße 1 gewohnt hatte und mit dem ich in Warschau gefangen genommen worden war; und Zdzisław Piskorek, mit dem ich im Warschauer Aufstand gekämpft hatte und den ich erst im Revier in Mauthausen wieder traf. Am 9. Mai 1945 hatte ich eine Bluttransfusion und eine Beinoperation. Das Bein wurde an fünf Stellen operiert, indem Drains eingeführt wurden. Neben der Phlegmone wurde bei mir eine Beschädigung des rechten Auges (0,1 Sicht) und eine akute Entzündung des Brustfells mit Erguss festgestellt, daher hatte ich bis Anfang Juni über 39oC Fieber und man musste mir aus der rechten Lunge Wasser abführen. Mein Leben verdanke ich nur dieser sehr intensiven Therapie […]. Ich blieb bis Mitte Juli 1945 im Krankenhaus, d.h. bis zur Okkupation dieses Teils Österreichs durch russische Truppen infolge der Festlegung der Demarkationslinie an dem Donau‐Ufer, an dem Mauthausen lag. Nach dem Aufwachen mussten wir feststellen, dass das amerikanische Personal nicht mehr da war, und das stattdessen russische Soldaten im Krankenhaus waren. An diesem Tag wurden aus der umliegenden Gegend Pferdewägen geholt JAN RYSZARD SEMPKA und zig Kranke wurden einige Kilometer weiter ins Dorf Katzdorf gebracht. Dort wurden wir in einem einstöckigen Gebäude untergebracht, in dem früher ältere Personen gewohnt hatten. Die Lage der Kranken änderte sich vollkommen. Wir blieben ohne ärztliche Hilfe und ohne normale Ernährung. Zum Frühstück und zum Abendessen kriegten wir ein wenig Vollkornbrot, ein Stück Margarine und Marmelade, manchmal einige Scheiben Wurst. Zu Mittag aßen wir ein bisschen Suppe und Kartoffeln mit Schalen. Unser „Betreuer” war ein russischer Soldat, ein Feldwebel, der alle paar Tage von Mauthausen kam, wo auf dem Lagergelände russische Truppen stationiert waren. Unter den Kranken war ein Arzt, Dr. Wartanowicz, ein Pole jüdischer Herkunft, der aus dem Krankenhaus in Mauthausen verschiedene Arzneimittel mitgenommen hatte, so konnte er den Bedürftigen helfen. Es waren auch noch zwei österreichische Krankenschwestern dabei. Mitte August wurde ein Transport nach Polen angekündigt. Obwohl ich mich auch mit Krücken nur schwer bewegen konnte, meldete ich den Wunsch an, nach Polen zurückzukehren. Am 18. oder 19. August (das genaue Datum weiß ich nicht) kamen drei Traktoren mit Anhängern, auf denen Bretter zum Sitzen eingebaut waren. Jeder, der nach Polen fahren wollte, kriegte ein halbes Kilo Vollkornbrot, ein Viertelstück Margarine und ca. 150 Gramm Wurst. Die Traktoren brachten uns zum Bahnhof Amstetten, wo wir in zwei leere Güterwagen einstiegen. In die Heimat zurück kehrte ich mit Krücken, einer ernsthaften Sehnenkontraktur unter dem rechten Knie, einem Verband am rechten Fuß, ohne den rechten Schuh, im Häftlingsanzug, einer alten wattierten Jacke und mit einer zu kleinen Ballonmütze, obwohl es mitten im Sommer war. Mein ganzer Besitz war eine Decke, die ich aus dem Krankenhaus in Mauthausen mitgenommen hatte, sowie ein Pappkarton mit Verbandsstoff, unwichtigen Kleinigkeiten und meiner Patientenkarteikarte aus dem amerikanischen Krankenhaus. Der Weg in die Heimat war sehr schwer. Die ersten paar Tage fuhren wir mit offenen Güterwaggons, die öfters auf Nebengleise gestellt, inmitten von Feldern angehalten oder an andere Zügen angekuppelt wurden. Essen mussten wir auf eigene Faust organisieren. Da ich mich kaum bewegen konnte, war ich auf meine Mitgenossen angewiesen. Erst in Bratislava wurden für die aus dem Lager zurückkehrenden Polen Personenwaggons bereitgestellt. Wir kamen zum Grenzpunkt in Petrovice. Dort stiegen wir in polnische Waggons ein und kamen nach Dziedzice. Die Reise bis zur Repatriierungsstelle in Dziedzice dauerte sechs Tage. In Dziedzice wurde ich mit anderen Schwerkranken in einer Einrichtung des Polnischen Roten Kreuzes untergebracht. Nach einigen Nächten auf den Brettern des Güterwaggons durfte ich eine Nacht in einem Bett mit Bettwäsche schlafen und normal essen. Da sich hier schwerkranke Menschen befanden, die nicht persönlich zum Repatriierungsbüro gehen konnten, wurden die Repatriierungsformalitäten an Ort und Stelle geregelt. Ein Beamter mit einem Fotografen kamen zu der Einrichtung und es wurden die notwendigen Dokumente ausgestellt. ich wollte möglichst schnell zu meiner Familie fahren. Ich war noch sehr schwach, obwohl ich inzwischen schon bis auf 42 kg zugenommen hatte. Ich erhielt eine Bescheinigung für die kostenlose Reise zu meiner Familie in der Nähe von Dęblin und 100 Zloty Beihilfe, für die man damals höchstens einige Zigarettenschachteln kaufen konnte. Ich beschloss schon am nächsten Tag zu meiner Familie in der Nähe von Dęblin zu fahren. Ich hoffte, dort meine Mama und Geschwister zu treffen, weil wir im Lager Gerüchte gehört hatten, dass Mütter mit Kleinkindern und ältere Menschen aus Pruszków in das Generalgouvernement deportiert worden waren, in der Regel in die ehemalige Krakauer Woiwodschaft. Zu der Zeit, als ich nach Polen kam, galten keine Zugfahrpläne und die Züge waren so überfüllt, dass während der Fahrt Leute sogar auf den Dächern und auf den Stufen, die zu den Waggons führten, saßen. Aus Dziedzice fuhr ich mit einem Zug nach Posen und musste in Koluszki in einen Zug nach Lublin, über Radom und Dęblin umsteigen. In Koluszki wartete eine große Menschenmenge auf Züge in unterschiedliche Richtungen, weil dort ein Verkehrsknotenpunkt war. Man konnte keinen freien Platz im Warteraum finden, also setzte ich mich auf den Boden und lehnte mich an eine Wand an. Wie ich schon erwähnt habe, war ich sehr schwach, mit Muskelschwund und konnte nicht mal aufstehen. Ich schämte mich jedoch, um Hilfe zu bitten, so saß ich mehrere Stunden lang, ohne etwas essen oder die Toilette nutzen zu können. Ein Ehepaar mittleren Alters beobachtete mich und begann ein Gespräch mit mir. Als sie erfuhren, dass ich aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt war, boten sie mir eine Suppe aus der Zugkantine an. Nachdem der Zug in Lublin angekommen war, halfen sie mir, auf einer Waggonstufe Platz zu nehmen. Nach einiger Zeit, vielleicht nach einer Stunde oder mehr, wurden wir auf Bitte der neben mir stehenden Passagiere in das durch russische Soldaten besetzte Abteil eingelassen. Je näher das Ziel meiner Reise war, desto mehr machte ich mir Sorgen um meine Familienmitglieder. Seit dem Aufstand hatte ich keine Nachricht von ihnen erhalten. 21 KONZENTRATIONSLAGER 22 Die Reise war lang, mit vielen Pausen auf Feldern und in Wäldern, und ich war sehr hungrig. So gelangte ich nach mehreren Stunden nach Zajezierze – eine Station von Dęblin entfernt. Meine Rückkehr in mein Heimatland war leider nicht glücklich. Da mein Aussehen damals schon nicht mehr üblich war, fragte mich der Bahnhofsvorsteher interessiert, wer ich bin und zu wem ich fahre. Ich habe von ihm erfahren, dass meine vier nächsten Verwandten tot waren. Diese tragische Nachricht bedrückte mich sehr. Als ich das Haus meiner Großeltern erreichte, konnte mich die Mutter meiner Mutter, die mich ein Jahr lang nicht gesehen hatte, selbst aus wenigen Metern Entfernung nicht mehr erkennen, so schrecklich sah ich aus. Ich erfuhr, was am 31. August 1944 passiert war, nachdem ich mich von meiner Mama und meinen jüngeren Schwestern in der Stawki Straße in Warschau getrennt hatte. Die Deutschen holten aus der Menschenkolonne, in der meine Mutter und Schwestern standen, eine große Gruppe alter, kranker Personen, auch Kinder, und kündigten an, diese mit Autos in ein Lager in Pruszków zu bringen. Erst nach der Befreiung stellte sich heraus, dass alle auf einem Fabrikgelände in der Okopowa Straße ermordet wurden. Unter diesen Menschen war meine Mama Anna, damals 44 Jahre alt und meine viereinhalb ‐ und zwölfjährigen Schwestern Basia und Wandeczka. Die Deutschen ermordeten auch meine nächsten Nachbarn […]. Fast alle übrigen Nachbarn wurden in Konzentrationslager gebracht, wo viele von ihnen umgebracht wurden. […] Die Frauen wurden ins Konzentrationslager in Ravensbrück abtransportiert. Zu dieser Gruppe gehörte auch meine 19‐jährige, ältere Schwester Maria. […]Ich erfuhr auch, dass mein älterer Bruder Wacław am 10. September 1944 beim Warschauer Aufstand auf dem Platz der Drei Kreuze [Plac Trzech Krzyży] umgekommen war. Nur mein Vater kam nicht ins Konzentrationslager, weil er sich beim Ausbruch des Aufstandes in der Nähe der Złota Straße befand und nicht mehr zurück nach Hause in die Altstadt konnte. Nach dem Aufstand wurde er in die Gegend um Opoczno gebracht […]. Häftlinge des KZ Mauthausen bei der Arbeit, Datum unbekannt (AAN) JAN RYSZARD SEMPKA Häftlinge beim Barackenbau auf dem Gelände des KZ Groß−Rosen, 1941 (AMGR) Granit−Steinbruch in der Nähe des KZ Groß−Rosen, Datum unbekannt (AMGR) GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA 24 Ghettos. Die Vernichtung von Juden und Roma ast zur gleichen Zeit wie Hitlers Machtergreifung begann auch die Diskriminierung von Personen, die in der faschistischen Lehre als „Untermenschen“ galten. In diese Kategorie fielen Juden, Zigeuner und später auch Slawen. Im Jahre 1933 wurden sie jeglicher Staatsämter enthoben und die Nürnberger Rassengesetze, die eine Aufteilung in Arier und Nichtarier schafften, beraubten letztere jeglicher Bürgerrechte. Sinti und Roma, Juden und Slawen waren als rassenfremdes und minderwertiges Element zur Ausrottung vorgesehen. Man versuchte sie zur Emigration zu zwingen, beraubte sie ihres Vermögens, schikanierte sie. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wohnten in der Republik Polen über 3,2 Millionen Juden (damals etwa 8 % aller Einwohner). Schon während des Polenfeldzugs im September kam es zu Ermordungen jüdischer Bevölkerung durch einmarschierende deutsche Truppen. Dies war jedoch nur der Anfang von weiteren Maßnahmen, die zur Ausrottung eines ganzen Volkes führen sollten. Ende Oktober 1939 wurde der Entschluss gefasst, 550.000 Juden aus den ins Reich eingegliederten Gebieten ins Generalgouvernement GG auszusiedeln. Man beschloss auch, diese Bevölkerungsgruppe in abgesonderten jüdischen Stadtvierteln zu konzentrieren. Vor der Aussiedelung in die Ghettos wurden die Juden auf andere Weise schikaniert: Man führte den Arbeitszwang ein, verbot Umzüge ohne behördliche Genehmigung, untersagte nachts den Aufenthalt außerhalb von Häusern und befahl ihnen unter Androhung schwerer Gefängnisstrafen, eine Kennzeichnung mit Davidstern zu tragen. Eigentumsrechte wurden abgeschafft, Schulen wurden geschlossen und religiöse Praktiken verboten. Ab November 1939 wurden in Städten Judenräte berufen. Sie mussten die Verordnungen der deutschen Behörden ausführen. Man begann damals auch mit der Schließung der jüdischen Viertel und der Bildung von Ghettos. Bis Ende 1939 wurden fast alle Juden aus dem Reichsgau Danzig‐Westpreußen ins GG ausgesiedelt. Mit den Zwangsaussiedlungen gingen gelegentlich Hinrichtungen von Personen einher, die Widerstand leisteten, zu fliehen versuchten oder Befehle zu langsam ausführten. Im Wartheland gestaltete sich die Lage anders. Hier wurden Ghettos gebildet: das erste in Piotrków Trybunalski (Oktober 1939), das größte – in Litzmannstadt (Łódź). Doch Ghettos gab es auch in anderen, kleineren Orten. Von 1939 bis 1940 wurden über 380 000 Menschen im Wartheland in Ghettos eingesperrt. Anders war die Situation im Regierungsbezirk Kattowitz, wo 100 000 Juden wohnten. Bis 1942 gab es dort keine Ghettos, erst im Jahre 1942 wurden dort einige geschaffen. Nach Einführung des Arbeitszwangs im Jahre 1939 wurden spezielle Zwangsarbeitslager für Juden (auch Julag ‐ Judenarbeitslager genannt) geschaffen. Die meisten von ihnen entstanden im GG. Sie wurden von Verwaltungsbehörden, Polizei und der SS angelegt. Das größte Lager dieser Art entstand in Skarżysko‐Kamienna im Umkreis einer Waffenfabrik. Diese Lager wurden mit Stacheldraht umzäunt und es herrschte Terror in ihnen. Sie wurden in den Jahren 1942‐44 sukzessive aufgelöst. Grundlage für die Errichtung von Ghettos im GG war die Verordnung des Generalgouverneurs Hans Frank vom 1. Oktober 1940 über Aufenthaltsbeschränkungen für Juden. Im Jahre 1941 wurden die meisten Kleinstadtghettos liquidiert, während deren Bewohner in verschiedene Ghettos in Großstädten umgesiedelt wurden. Diesen deportierten Juden wurden keine Wohnungen zur Verfügung gestellt; die Aufgabe, eine Unterkunft für sie zu finden, wurde auf die Judenräte abgewälzt. Ghettos waren vom Rest der Welt durch hohe Mauern abgegrenzt. Mit der Zeit wurden sie zu hermetisch abgeriegelten Vierteln, in denen hoffnungslose Überbevölkerung herrschte und in denen es an Nahrung und Medikamenten fehlte. Am 15. Oktober 1941 wurde die Todesstrafe für das eigenmächtige Verlassen des Viertels und für Hilfeleistung beim Verstecken von Juden eingeführt. Polen war das einzige Land, in dem eine solch drastische Strafmaßnahme galt. Die in den Ghettos geschaffenen Bedingungen erfüllten den Zweck, das jüdische Volk so schnell wie möglich auszurotten. Die Deutschen planten anfangs, jüdische Industriebetriebe abzuschaffen, doch aufgrund der Bedürfnisse der Wirtschaft des Dritten Reichs wurde ein Plan entworfen, gemäß dessen unbezahlte Arbeitskräfte und bestehende Firmen durch deutsche Geschäftsleute genutzt werden sollten. Anfangs waren die deutschen Firmen lediglich F GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA Auftraggeber, ab 1941 wurden große kapitalistische Betriebe, die hunderte von kleineren Betrieben übernahmen, zur dominierenden Produktionsform. Sklavenarbeit war symptomatisch für diese Großbetriebe. Den deutschen Behörden kam es darauf an, die unbezahlte Arbeitskraft so effektiv wie möglich zu nutzen, deshalb wurden als Anreiz für die Arbeiter sogar einige Verbote bezüglich Bildung, Kultur und Religion aufgehoben. Die anstrengende, auszehrende Arbeit, der Mangel an Lebensmitteln, die Konzentration einer großen Menschenmenge auf einem kleinen Gelände führten zum Ausbruch von Epidemien ansteckender Krankheiten. Die Sterblichkeitsrate im Warschauer Ghetto aufgrund von Hunger, Krankheiten und allgemeiner körperlicher Auszehrung war erschreckend. Menschen starben massenweise auf den Straßen. Die Jahreswende 1941‐42 sollte auch eine „Endlösung der Judenfrage“ bringen. Während der Wannseekonferenz wurde die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen. Der Plan zur Ermordung aller im GG lebenden Juden war unter dem Decknamen „Aktion Reinhardt“ bekannt. Die Aktion wurde systematisch und in mehreren Etappen durchgeführt und in ihrer Folge wurden immer mehr Ghettos gänzlich aufgelöst. In Ballungsräumen, wo die Zahl der Juden groß war (Warschau) wurde der Prozess zeitlich ausgedehnt. Die Deutschen zwangen die Judenräte Personen zu wählen, die dann mit dem nächsten Spezialtransport zu den speziell für diesen Zweck errichteten Vernichtungslagern gelangten. Das erste dieser Lager war das Ende 1941 gegründete Lager in Kulmhof (Chełmno nad Nerem). Transporte von Juden, vor allem derer aus dem Wartheland, erreichten das Lager von Dezember 1941 bis April 1943 und im Juni und Juli 1944. Weitere, ähnliche Stätten entstanden dann in Bełżec, Sobibor und Treblinka. Als Sofortvernichtungslager dienten auch die Kommandos Auschwitz‐Birkenau (Brzezinka) und Majdanek. Zu diesen Lagern brachte man sowohl Juden aus Ghettos in Polen, als auch Juden aus Westeuropa. In den Lagern wurde immer nach demselben, von vornherein festgelegten Prinzip gehandelt. Nach der Zugreise, normalerweise unter schrecklichen Bedingungen, wurden die Deportierten an der Rampe einer Selektion unterzogen. Junge und gesunde Menschen, mit seltenen Fertigkeiten wurden ausgelesen, während die anderen auf einen Platz geführt wurden, wo sie ihre Sachen zurücklassen und sich vor dem „Bad“ ausziehen mussten, welches sich als Gaskammer entpuppte. Zur Tötung der Opfer wurden Abgase von Verbrennungsmotoren genutzt, aber auch – wie in Birkenau und Majdanek – das Giftgas Zyklon B. Der ganze Prozess dauerte etwa 20 Minuten. Die Leichen wurden danach verbrannt. Sowohl bei Bedienung der Gaskammern als auch bei der Leichenverbrennung wurden jüdische Häftlinge eingesetzt. Ins Lager Sobibor wurden Opfer bis 1942 eingewiesen, nach Bełżec – von März bis November 1942, nach Treblinka – von Juli 1942 bis November 1943. Diese Lager wurden Ende 1943 oder Anfang 1944 beseitigt. Alle Anlagen und Gaskammern wurden abmontiert, die Baracken und Zäune vernichtet und in Sobibor bepflanzte man sogar das Lagergelände mit Bäumen. Am längsten hingegen – bis 28. November 1944 – wurde die Gaskammer in Birkenau betrieben. Man schätzt, dass die Aktion Reinhardt 1,7 bis 2 Million Juden das Leben kostete. Bis Ende 1943 wurden fast alle größeren Ghettos im GG aufgelöst. Im März 1943 wurde das Ghetto in Krakau liquidiert und im April desselben Jahres – das Warschauer Ghetto. Im August folgte das Ghetto in Białystok. Nach der Beseitigung der Ghettos im Jahr 1942 war im Wartheland bis August 1944 nur noch ein Ghetto in Betrieb – in Litzmannstadt (Łódź). Dieses war ein exzellent organisiertes Arbeitslager, dass dank Sklavenarbeit unglaubliche Gewinne einbrachte. Die letztendliche Vernichtung der Juden erfolgte während der Evakuierung der KZs vor der sich nähernden Ostfront. Man glaubt, dass sich vor der Evakuierung in den Lagern noch ungefähr eine halbe Million Juden befanden, von denen aber 60% die Todesmärsche nicht überlebten. Leider ist es unmöglich die genaue Anzahl der jüdischen Opfer festzulegen. Die Schätzungen des Historikers Czesław Madajczyk scheinen am zuverlässigsten zu sein. Er nimmt an, dass während des vom Dritten Reich organisierten Völkermords (Shoah) 2,7 Millionen polnische Juden ihr Leben verloren haben, wovon 2 Millionen in verschiedenen Lagern, 500 000 ‐ infolge der Errichtung, des Betriebs und der Zerstörung von Ghettos, und die restlichen während Razzien und immer wieder stattgefundenen Liquidierungsaktionen starben. Es besteht kein Zweifel darüber, dass nur 2‐3% der polnischen Juden den Holocaust überlebten. Zur gleichen Zeit als der Völkermord an den Juden stattfand, führten die Deutschen ihren Plan der Vernichtung der Roma durch. Nach Ausbruch des Krieges mit Polen wurden Gruppen von Sinti und Roma nach Polen deportiert. Hier wurden sie zu Schwerarbeit gezwungen, später wurden sie in Konzentrationslager gesperrt. Laut Verordnung Himmlers sollten Zigeuner als eine Gruppe, die durch eine „angeborene Kriminalität“ gekennzeichnet war, total vernichtet werden. Man ermordete sie dort, wo sie gefangen genommen wurden, sperrte sie in Ghettos ein, transportierte sie zu Massenvernichtungsstätten. In Auschwitz‐Birkenau wurde für sie ein spezielles Lager errichtet, dass nach einem Aufstand der Häftlinge im Jahr 1944 letztendlich liquidiert wurde, wobei alle Roma im Lager getötet wurden. In Auschwitz sind über 21 000 Sinti und Roma aus Deutschland und Polen gestorben. 25 GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA 26 Nicht schematische Erinnerungen des Großvaters Dieser Text ist die Niederschrift von Gesprächen des Autors Piotr Wyrzykowski mit seinem Großvater Tomasz Miedziński. Tomasz Miedziński wurde 1928 in Horodenka, Woiwodschaft Stanisławów, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, in einer jüdischen Familie geboren. Während der deutschen Okkupation war er wegen seiner Nationalität verschiedenen Arten von Unterdrückung ausgesetzt. Er war im Getto, im Lager für die Juden in Lwów (Lemberg), er musste im Verborgenen leben. Im Holocaust verlor er alle seine nächsten Angehörigen. PIOTR WYRZYKOWSKI Opa, Du warst ein kleiner Junge, als der Krieg ausbrach. Erinnerst Du dich an deinen Geburtsort, das Städtchen Horodenka, an Deine Familie, die Schule, Kollegen... Horodenka, eine Stadt in der Woiwodschaft Stanisławów, hatte damals ca. 12 000 Einwohner und war mit ca. 2 000 Polen, ca. 5 000 Ukrainer und ca. 4 5 00 Juden eine Dreivölkerstadt. Es wohnten dort auch ca. 300 Menschen anderer Nationalitäten – Russen, Rumänen, Armenier, Slowaken und Roma. In diesem Schmelztiegel der Nationalitäten lebten wir im Allgemeinen friedlich und ruhig bis zum Jahr 1939, als die Sowjetunion diese Gebiete besetzte. Bis die Russen kamen, besuchte ich eine polnische und dann eine ukrainische Schule. Zu Hause sprachen wir Jiddisch, ich war also beinahe von Geburt an dreisprachig. Mein Vater Józef, war Tischler, meine Mutter Klara war Schneiderin. Ich hatte einen älteren Bruder, eine ältere Schwester und zwei jüngere Brüder. In Horodenka lebten auch die Großeltern Kupferman und ca. 50 weitere nähere Familienangehörige. Nach dem Überfall Nazi‐Deutschlands auf die Sowjetunion wurde die Stadt 1941 von den Ungarn als Verbündete der Deutschen und Ende August desselben Jahres von den Deutschen selbst besetzt. Sofort fing man an, Juden zu verfolgen, Vermögen zu konfiszieren, von Ärzten Arbeitswerkzeuge zu beschlagnahmen; Schulen wurden geschlossen, es wurde ein mit Stacheldraht umzäuntes jüdisches Stadtviertel gebildet. Unser Haus befand sich in diesem Stadtviertel, es wurden bei uns einige Familien einquartiert. Männer ab dem Alter von 14 Jahren und Frauen ab 15 Jahren wurden gezwungen, ein Band mit dem Judenstern zu tragen. Das Stadtviertel verlassen durften nur diejenigen, die auf der arischen Seite arbeiteten. Es gab immer mehr Schwierigkeiten mit der Verpflegung. Anfangs konnten wir damit noch zurechtkommen. Wir hatten etwas Mehl, Kartoffeln und Sonnenblumenöl vorrätig. Der Vater arbeitete als Tischler in Militärwerken und durfte jeden Tag einen Topf Suppe nach Hause mitnehmen. Verhaftet wurde hauptsächlich die jüdische intellektuelle Elite sowie ehemalige sowjetische Beamte, manche wurden nach Kołomyja (Kolomea) abtransportiert und dort getötet. So lief es bis Dezember 1941. Opa, ich weiß, dass das für Dich schreckliche Erinnerungen sind, und dass Du, als Du nur wenige Jahre alt warst, wirkliches Grauen gesehen hast. Ich weiß auch, dass Du bis heute Alpträume von den damaligen Ereignissen hast. Fühlst Du dich jetzt imstande, davon zu erzählen? Zwischen August und Dezember fanden, wie ich schon sagte, grauenhafte Ereignisse statt. Ukrainische Nationalisten beherrschten die Verwaltungs‐ und polizeilichen Behörden und organisierten Judenpogrome in Städtchen und Dörfern um Horodenka, z.B. in Niezwiska, Łuki, Woronowo, Podwerbce, Żywaczów; dort lebende Juden wurden mit Stacheldraht gefesselt und im Fluss Dnister ertränkt. Man ermordete Leute in Kosów, Kuty, Obertyn, Jaremcze, Śniatyń. Andere wurden gezwungen, in das Getto in Horodenka oder Kołomyja zu ziehen. Am 3. Dezember 1941 wurde von den Deutschen der Befehl erlassen, dass sich am nächsten Tag um 7 Uhr alle Juden zwecks einer Typhus‐Impfung bereitstellen sollen. Auf dem Platz vor der Synagoge versammelten sich über 2700 Personen, ganze Familien. Der Platz wurde von Deutschen und ukrainischen Polizisten umstellt, die alle Leute in die Synagoge getrieben haben. Dort wurden sie unter schrecklichen Umständen bis zum nächsten Morgen festgehalten und dann mit LKWs zum Dorf Siemakowce abtransportiert, wo man sie ermordete. Darunter befand sich unsere ganze große Familie. Uns – meinen Vater, meinen älteren Bruder und mich, versteckte meine Mutter im Dachboden, unter Brettern. Sie meinte, dass man ihr und meinen zwei jüngeren Brüdern doch nichts antun wird. Du erwähntest, dass sich Dein jüngerer Bruder, Szmulek, der Dziunek genannt wurde, retten konnte. Wie war es möglich, dass er das Massaker überlebte? Ich kenne die Einzelheiten von Dziunek. Nach der Ankunft am Richtplatz wurde allen befohlen, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und ca. 50 – 60 Meter über den Schnee bis zu ausgehobenen Gräben zu laufen. Als meine Mutter sah, dass jeder mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet wird, stieß sie beide Jungen in den Graben hinab und sprang selbst in den Graben, um sie mit ihrem Körper zuzudecken. Es ist erwähnenswert, dass Dziunek damals elf Jahre alt und Mordechaj, den wir Martek nannten, neun Jahre alt war. Meine Mutter und Martek wurden erschossen, Dziunek dagegen nur verletzt. Er lag den ganzen Tag lang unter den Leichen, am Abend, als die Mörder weg waren, kletterte er aus dem Graben heraus, zog irgendwelche Kleider und Schuhe an und ging in Richtung des Dorfes, wo er Rettung suchte. Er verkroch sich in einer Heumiete, wo er am Morgen von einem Bauern entdeckt 27 GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA 28 wurde. Dieser gute Mensch nahm ihn mit nach Hause, gab ihm warme Milch, etwas zu essen und verbarg ihn drei Tage lang. Erst nach dieser Zeit war Dziunek imstande zu sagen, wer er ist und dass in dem 7 ‐ 8 Kilometer entfernten Dorf Kolanki, unser Verwandter, Bauer Hersz Gutman wohnt. Der Bauer fuhr ihn zu dem Verwandten, der ihn nach zehn Tagen mit einem Pferdewagen nach Horodenka brachte. Es war ein richtiges Wunder. Das Kind stand unter Schock, war durch Schüsse auf dem linken Ohr taub geworden, sprach einsilbig und erst nach mehreren Tagen konnten wir aus ihm einen Bericht über die grausamen Ereignisse herausbekommen, die man damals umgangssprachlich „Aktion” nannte. Dziunek wohnte mit uns im Getto. Neben ihm konnten sich sechs weitere Personen vor dem Massaker retten. Nach wenigen Tagen kamen Gestapo‐Männer aus Kołomyja nach Horodenka und verhafteten fünf Personen, die sie danach erschossen, damit keine Zeugen des Massakers in Siemakowce am Leben blieben. Dziunek haben wir versteckt. Es wurde noch eine Person gerettet, die Ehefrau des ehemaligen rituellen Beschneiders. Es ist August 1942, wie ging es Euch in dieser Zeit, was passierte mit Deiner Familie? Mein älterer Bruder, Mojsze‐Mendeł (16 Jahre alt) schloss sich einer Gruppe junger Männer an, welche nach Rumänien fliehen wollten, und zwar über die alte polnisch‐rumänische Grenze, die von Horodenka sechs Kilometer entfernt war. Sie wollten nach Czerniowce, wo keine Judenverfolgung wie im Distrikt Galizien stattfand. Sie wurden an der Grenze festgenommen und ins Getto in Kołomyja abtransportiert. Dort fanden wir ihn Ende August. Um die Monatswende Juli/August 1942 wurde mein Vater mit einer Gruppe Handwerker auch ins Getto in Kołomyja geschickt. Ich versteckte mich mit Dziunek in einem speziell errichteten unterirdischen Bunker. Mitte August wurde nach einer weiteren „Aktion“, in der 450‐500 Menschen ermordet wurden, verkündet, dass Horodenka nun „judenfreies“ Gebiet ist. Innerhalb von 48 Stunden sollten alle Überlebenden ein Stück Gepäck nehmen, Horodenka verlassen und sich im Getto in Kołomyja vorstellen. Die Überlebenden sollten an einem Ort versammelt werden, um die Durchführung der „Endlösung” zu erleichtern. Wir kamen um den 20. August 1942 ins Getto in Kołomyja . Wir trafen dort meinen Vater und meinen älteren Bruder. Wir wohnten in einem Holzbau bei einem Verwandten meiner Mutter ‐ Ziama Gutman, einem von den Deutschen geschätzten Juwelier. Mein Vater arbeitete bei der Stadtkommandantur und rettete uns vor dem Hungertod, weil er von den Tischen in der Kantine Reste mitnehmen durfte, die er dann ins Getto brachte. Mein Bruder machte sich wieder auf den Weg zur rumänischen Grenze und verschwand danach spurlos. Man sagte, dass an der Grenze eine Gruppe von Flüchtlingen aus dem Getto in Kołomyja erschossen wurde. An einem Sonntagmorgen Anfang September 1942 begann in Kołomyja eine grausame Vernichtungsaktion, die auf der gesamten Strecke von Kołomyja bis Lwów parallel ablief. Auf dem riesigen Platz des Vorkriegsunternehmen für Holzverarbeitung „PAGED" wurden zwischen 5000 und 6000 Menschen versammelt. Manche Fachleute, darunter unser Vater, wurden von den Deutschen herausgezogen, insgesamt vielleicht 80‐90 Personen. Der Rest wurde unter Bewachung zum Bahnhof getrieben, wo Viehwaggons bereit standen, in die wir wie „Gegenstände“ geladen wurden. Es spielten sich dort danteske Szenen ab, die Waggons wurden mit uns vollgestopft. Dziunek und ich wurden getrennt und wir verloren einander aus den Augen. Man kann mit Worten kaum beschreiben, was sich in den Waggons abspielte. Die Schreie der Kinder, das Jammern der Gefolterten und Verletzten, der Gestank – man konnte seine Notdurft nur unter sich verrichten – gegenseitiges Zertrampeln, auf Leichen Treten, Bilder wie in der Hölle oder noch schlimmer. Als der Zug beschleunigte, wurde das Gitter aufgebrochen und Leute fingen an, hinaus zu springen, wobei einige unter den Rädern des Zuges umkamen oder von Wachmännern erschossen wurden, die sich in jedem zweiten oder dritten Waggon befanden. Kurz vor Stanisławów konnte ich auf den Armen der Anderen zum Fenster gelangen, durch das ich gewaltsam geschoben wurde und fiel in die Tiefe. Doch wir waren zu nahe am Bahnhof, sodass ich keine Chance hatte, zu fliehen. Ich wurde wieder gefangen genommen, doch in diesem Unglück hatte ich auch ein bisschen Glück. Und zwar passten die zusammengetriebenen Menschen nicht mehr in die Waggons von Stanisławów, so wurden die Waggons aus Kołomyja geöffnet und alle, auch ich, wurden dort hinein geschoben. Als ich mit Bahnlichtern im Hintergrund in der Waggontür stand, hörte ich meinen Namen. Dziunek hatte ihn gesagt ‐ und das war eben mein Glück im Unglück. Unsere Freude war riesengroß. Wir beschlossen, uns gemeinsam zu retten. Der Zug fuhr an den Stationen Halicz, Bukaczowce, Chodorów, Bóbrka vorbei. An jeder Station wurden neue Waggons, voll mit Menschen, angeschlossen, denn an diesem Tag fanden auf der gesamten Strecke bis nach Lwów „Aktionen“ statt. Wie ich später erfahren habe, waren die Gaskammer in Bełżec der Zielort dieser Transporte. Nur wenige junge Männer wurden in das Konzentrationslager in Lwów („Janowska”) verwiesen. PIOTR WYRZYKOWSKI Wir begannen, langsam zur Tür zu rücken, wo diesmal ein Brett aufgebrochen wurde, so dass zwei Personen auf einmal in die Öffnung passten. Wir wurden beide nach draußen geschoben und fielen nach unten. Jeder von uns ging dann zum anderen, bis wir uns trafen, es war dunkle Nacht. Dziunek war unversehrt, ohne jede Verletzung. Ich war am Kopf verletzt und hatte aufgeschlagene Beine. Wir wuschen uns in einem Bach und gingen Richtung Wald mit der Absicht, nach Lwów zu gelangen. Unsere Wanderung an der Grenze zwischen Leben und Tod dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Wir ernährten uns von Rüben und rohen Kartoffeln, die wir auf den Feldern finden konnten, sowie von Brombeeren, die wir am Tag im Wald sammelten. Schließlich kamen wir durchgefroren und hungrig in Lwów an. Wir gelangten ins Getto und hier fing eine weitere Etappe meines Lebens an – meine Zeit in Lwów. Ihr wart also in Lwów, diese Stadt kanntest Du, wie Du früher mal erwähnt hast, nur aus Schulbüchern; Dein Vater blieb in Kołomyja, vom älteren Bruder ist euch nichts bekannt. Was passierte weiter mit Euch? In Lwów, wohin alle überlebenden Juden getrieben wurden, arbeitete man an der Absperrung des Gettos, ein hoher Zaun als Sichtschutz war fast fertig. Das bedeutete, dass bald weitere Vernichtungsaktionen stattfinden würden. In dem Getto gab es keinen freien Platz, wo man eine Unterkunft hätte finden können. Ich erfuhr, dass in der Zamarstynowska Straße ein gescheiterter Lehrer aus Kołomyja ‐ Nachman Nusbaum, eine Gruppe von Jungen in unserem Alter betreute, indem er ihnen eine Beschäftigung und Verpflegung organisierte. Wir suchten ihn auf, er nahm uns auf und teilte uns eine Ecke im Keller des Gebäudes zu. Von Nachman, der sich für die Theorien von Korczak und Makarenko begeisterte, erfuhren wir seit langem zum ersten Mal wieder richtige menschliche Gefühle. Erst als ich älter war, konnte ich seine Haltung – Aufopferung und Güte richtig schätzen. Nachman verteilte auf gerechte Weise Erwerbsarbeiten an die älteren Jungen, die gegen Bezahlung die Bewohner von Lwów bei Zwangsarbeitern vertraten: ich arbeitete beispielsweise einige Male je zwölf Stunden lang in einer Gerberei an der Zamarstynowska Straße, beim Aufräumen des Bahnhofs, beim Kohle‐Ausladen u.a. Der Verdienst in Höhe von ca. zehn Zloty pro Tag ging in die gemeinsame Kasse und wurde in der Regel für Nahrung ausgegeben. Nachman organisierte uns jeden Tag einen Eimer Suppe aus der sog. „Volksküche”, die Suppe verteilte er gerecht. Die jüngeren Kinder blieben vor dem Bahndamm stehen und wenn ein Zug vorbeifuhr, wurden manchmal Kartoffeln, Karotten, Kohlköpfe oder Brotstücke herausgeworfen. In der Regel wurden sie jedoch beleidigt und beschimpft. Wenn es ganz schlimm mit der Verpflegung war, gingen die jüngeren Kinder betteln, doch konnten sie in dem hungernden Getto kaum etwas kriegen. So verging der September 1942. Am Monatsende, als ich in der Stadt mit einer Müllbeseitiger‐Brigade stellvertretend arbeitete, wurde unsere gesamte 20‐Personen‐Gruppe von den Deutschen verhaftet und ins „Janowska” – Lager gebracht. Erst dort spürte ich direkt, was die Wörter Judenfresser und Sadist bedeuten. In dem Lager kamen jeden Tag mehrere Menschen um, auf dem Hinrichtungsplatz war der Sand öfters rot vom Blut. SS‐ Männer, die hier vor der Reise nach Majdanek oder Oświęcim „Praktikum“ hatten, töteten Menschen öfters einfach zum Spaß. Im Lager musste schwer gearbeitet werden und es herrschte Mangelernährung. Zum Glück traf ich hier einige Bekannte aus Horodenka ‐ Ruwen Prifer, Dawid Gloger, die mir Ausdauer und Selbstrettung beibrachten. Das half mir sehr beim Überleben. In Lwów im Getto blieb mein Bruder Dziunek, von dem ich jedoch nichts wusste. Ich war über einen Monat lang im Lager. Eines Tages versteckte ich mich beim Ausladen der Kohle aus Kohlenwaggons am Bahnhof und kehrte ins Getto zurück, wo ich Dziunek fand. Nachman war dagegen nicht mehr da und keiner wusste etwas von seinem Schicksal. Wahrscheinlich ist der wundervolle Mensch umgekommen. Du erwähntest einmal, dass Ihr es riskiert habt als Arier mit einem Zug nach Kołomyja zurückzukehren. Wie war das möglich? Auf Schritt und Tritt lauerte doch die Gefahr auf Euch. Wie sah Euer Schicksal danach aus? Hattet Ihr Nachrichten von Eurem Vater? Von unserem Vater hatten wir keine Nachrichten, es gab doch keine Post. Wir glaubten, dass er lebt, weil er doch von seinem „guten Deutschen” als Fachmann und kostenlose Arbeitskraft gerettet wurde. Sein Chef brauchte ihn außerdem, weil mein Vater u.a. kleine Kästchen herstellte, die sein Chef mit „Beute“ gefüllt an seine Familie nach Deutschland schickte. Wir bereiteten uns vor und entwickelten den folgenden Plan: wir heißen Darek (Dziunek) und 29 GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA 30 Tomasz Miedziński (polonisierte Version des Nachnamens unserer Mutti ‐ Kupferman). Im Getto müssen wir Geld für Fahrkarten nach Kołomyja erwerben, wir werden dann aus dem Getto entkommen und mit der Bahn legal nach Kołomyja fahren als wären wir Arier. Laut der erdachten Geschichte wurde unser Vater im Jahr 1940 als Beamter in einer Marmeladenfabrik mit unserer Mutter nach Russland deportiert. Wir hatten damals Sommerferien und waren mit Dziunek bei Verwandten in einem Dorf in der Nähe von Lwów und das rettete uns. Unsere Mutter starb in der Verbannung, der Vater soll überlebt haben und nach unseren Kenntnissen nach Kołomyja zurückgekehrt sein. Wir fahren jetzt zu ihm. Zwecks der Umsetzung des Planes mussten wir unzählige Hindernisse überwinden. Wir hatten keine Ausweise und für einen 14‐Jährigen bestand schon Ausweispflicht. Dziunek sprach kein besonders gutes Polnisch, er sprach beispielsweise das harte „r” und hatte Angst vor deutschen Uniformen, seine semitischen Gesichtszüge würden den „Schmalzowniks“ die Aufdeckung erleichtern. Daher vereinbarten wir, dass er unterwegs schläft, einen Taubstummen vortäuscht und einstudierte Mienen macht. Da ich ein „gutes Aussehen“ hatte und einwandfreies Polnisch und Ukrainisch sprach, übernahm ich die Initiative. Ich kaufte Fahrkarten der III. Klasse und wir fuhren nach Stanisławów, wo wir umsteigen mussten. Wir nahmen Plätze neben einer nett aussehenden Dame ein, die gerade nach Hause fuhr. Das war ein glücklicher Zufall, die Dame war Lehrerin und eine besonders freundliche und herzliche Person, die Mitleid mit uns hatte. Beinahe hätte uns Dziunek verraten, weil er sich für ein Brötchen mit Worten bedanken wollte, er hielt sich aber noch rechtszeitig zurück. Im Gespräch mit der Frau erfuhr ich, dass ihr Mann ein polnischer Offizier und in deutscher Gefangenschaft war, und sie alleine einen 15‐jährigen Sohn versorgen musste. Sie kannte Kołomyja, es gab dort tatsächlich eine in der Region bekannte Marmeladenfabrik. Die Dame rettete uns im Zug vor der Kontrolle durch deutsche Gendarmen, indem sie ihnen in korrektem Deutsch unsere Geschichte erzählte. Sie ließen uns in Ruhe. Dziunek pinkelte vor Angst in die Hose. Am Abend kamen wir in Stanisławów an, eine Verbindung nach Kołomyja gab es erst am nächsten Tag. Unsere Retterin lud uns zu sich ein, bewirtete uns in einem freistehenden Haus, wir lernten ihren Sohn kennen, der Pfadfinder war. Sie gab uns Delikatessen, die wir seit Jahren nicht gesehen hatten und gab uns ein Zimmer, in dem wir schlafen konnten. Morgens weckte uns ihr Sohn, wir bekamen belegte Brote und ihren Segen, ihr Sohn begleitete uns zum Bahnhof. Erst nach dem Abschied bemerkte ich, dass das Band mit dem Judenstern aus meiner Hosentasche gefallen sein und noch in dem Zimmer liegen musste. Die Dame muss dann gemerkt haben, wer ihre Gäste waren und welche Gefahr dies für ihren Sohn bedeutete, wenn man unsere Identität entdeckt hätte. Immer wenn ich später an gute, edelmütige, herzliche Menschen dachte, kam mir die schöne Gestalt der Frau Lehrerein aus Stanisławów in den Sinn. Bis heute bewundere ich sie aufrichtig und bin ihr dankbar. Sie war in der Tat eine sehr mutige und großherzige Person, sie gewährte schließlich zwei unbekannten Jungen Asyl... Was passierte danach? Gegen 7 Uhr morgens stiegen wir in einen überfüllten Zug ein. Dziunek tat so als ob er schläfrig wäre, ich nahm grundsätzlich keine Gespräche mit Mitreisenden auf, Fragen von Neugierigen beantwortete ich einsilbig. In Kołomyja kamen wir gegen Mittag an, durch die Stadt gelangten wir zur Getto‐Umzäunung, wir schlüpften in ein Loch im Zaun hinein und gingen zum Haus von Ziama Gutman. Den Vater trafen wir nicht mehr an. Ziama sagte uns, dass die meisten geretteten Fachleute einen Monat zuvor von der Gestapo mitgenommen, in den Wald in Szeparowce transportiert und dort erschossen worden waren. Wieder waren wir allein. Wir zogen wieder in den Holzbau von Ziama ein, wo wir „komfortable Bedingungen” hatten, weil keine Mitbewohner anwesend waren. Ziama half uns sehr, indem er jeden Tag einen kleinen Kessel Suppe von der arischen Seite holte. An einem Novembertag 1942 ging Dziunek raus auf die Straße und kam nie wieder zurück. Wahrscheinlich wurde er mit einer Gruppe nach Szeparowce abtransportiert und getötet. Der grausame Tod, dem er vor einem Jahr in Siemakowce entgehen konnte, holte ihn hier ein. Jetzt war ich ganz allein. Du musst wohl geahnt haben, dass es für Dich gefährlich war, in Kołomyja zu bleiben? Das stimmt, alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass man uns diesen Winter nicht überleben lassen würde. Im Getto fanden täglich Razzien statt, man setzte tägliche Verschleppungsnormen fest, es blieben immer weniger Fachleute. Der Winter näherte sich, es war schon Dezember 1942. Ich hatte keine Chancen auf eine Beschäftigung bei PIOTR WYRZYKOWSKI einem ukrainischen Bauern, obwohl ich „richtig aussah” und die Sprache kannte, weil die Bauern ihre Knechte im Winter immer entlassen haben. Ich habe erfahren, dass in der Woiwodschaft Tarnopol in Städten wie Czortków, Buczacz, Tłuste, Kopyczyńce noch jüdische Zentren, sowie Zwangsarbeitslager an Stellen ehemaliger Kolchosen und Sowchosen bestehen, wo junge Menschen zur Feldarbeit notwendig waren. Eines Abends bestach Ziama Gutman einen ukrainischen Polizisten am Getto‐Tor und führte mich – als Huzule verkleidet ‐ durch das Tor in den arischen Teil, wo ich nach Tłuste wieder schwarz gefahren bin. Der bestochene Polizist war der „Blutige Iwan”, der viele Menschen auf dem Gewissen hatte, u.a. einen katholischen Pfarrer, dem er vor dessen Tod noch zwei Kühe weggenommen hatte. Nach dem Krieg wurde er gefasst, er wurde in Jelenia Góra vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Ich war Zeuge in seinem Prozess im Jahr 1946. Im Getto in Tłuste blieb ich bis Februar 1943, dann wurde ich ins Zwangsarbeitslager zuerst in Różnanówka und danach in Hołowczyńce verwiesen. Davor ereigneten sich noch „Aktionen” in Tłuste, eine Flucht vom LKW, mit dem wir zum Erschießen nach Czortkowo gebracht werden sollten, mehrwöchige Arbeit als Knecht bei einem reichen Bauern bei Tłuste, von wo mich ein viel älterer und stärkerer Deserteur der Roten Armee vertrieben hat, weil er Angst vor der Auslieferung hatte. In Różnanówka und Hołowczyńce arbeitete ich beim Sortieren von Tabak, bei Kartoffel‐ und Rübenmieten, ich kümmerte mich um Pferde und galt bei einheimischen Stallknechten als „fleißiger Jude”. Die Ernährung war ausreichend, ein Teil davon konnte ich sogar Bedürftigen in dem sog. „Familienteil“ des Lagers geben. Die Erntezeit war zu Ende und immer öfter tauchten Gestapo‐Männer und ukrainische Polizisten auf, welche nicht arbeitsfähige Personen aussuchten, zu umliegenden jüdischen Friedhöfen fuhren und dort töteten. Ich beschloss daher aufs Land zu fliehen und für Verpflegung und eventuell ein Pud Getreide nach der Ernte bei einem Bauern zu arbeiten. Das war die Methode der Huzulen – Bewohner der Karpaten, die am linken Dnisterufer Beschäftigung suchten. Im August 1943 floh ich aus dem Lager und gelangte in das Dorf Lisowce, wo ich bei dem Ortsvorsteher Wasyl Dziuba Arbeit fand. Meine Hilfe war für dessen Sohn, den 22‐jährigen Petro besonders wertvoll, weil dieser nachts mit der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) Unwesen trieb und tagsüber Schlaf nachholte. Zur Familie gehörte auch die vom Vater verwöhnte 17‐jährige Tochter Natalka. Die Familie Dziuba akzeptierte mich, obwohl ich nicht über eine Geburtsurkunde verfügte, was normalerweise notwendig war. Sie glaubten mir, dass ich aus dem Karpartendorf Sołotwyno komme, wo meine alte Mutter geblieben ist, zu der ich im Herbst zurückkehren will. Ich hatte meine Ruhe bis ich eines Tages in einer geschlossenen Scheune in einer Waschwanne baden wollte. Die neugierige Natalka beobachtete mich heimlich und sagte der Mutter, dass mein Pimmel anders als bei anderen Bauern aussehe. Ich wurde vom Vater zur Rede gestellt und gestand, dass ich Jude bin und dass mein Schicksal in seinen Händen liegt. Zuerst wollte er, dass ich bleibe, doch er hatte Angst vor dem Dorfpolizist namens Schab und beschloss, mich wegzuschicken. Ich wurde mit einem Sack mit Brotvorrat, Speck und Obst ausgestattet und mit den Worten „z Bohom Tośku” (Geh‘ mit Gott) verabschiedet. Ich ging wieder in die Welt, nach einer Rettung suchen. Es ist September 1943, bis zur Befreiung durch die Rote Armee bleiben noch 10 Monate. Wie sah Dein weiteres Schicksal aus? Ich hatte noch viele andere Erlebnisse, bessere wie schlimmere, ich war an vielen verschiedenen Ereignissen beteiligt. Diese Geschichten werde ich Dir aber ein anderes Mal erzählen, wenn wir unsere Gespräche vielleicht weiterführen werden. Jetzt schließen wir dieses Kapitel – Du hast ja sowieso sehr viel zum Nachdenken und zum Analysieren. Mir scheint es, dass Du trotz dieser langen Gespräche die wichtigste Frage kaum zu beantworten weißt: „Warum haben Menschen Menschen so etwas angetan”. Niedergeschrieben von: Piotr Wyrzykowski Warschau, Mai 2005. 31 GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA 32 SOLAREWICZ STANISŁAW Helft uns die Erinnerung zu bewahren Der Autor, Bürger von Lwów (Lemberg), wurde bei einer Razzia gefangen genommen und geriet ins Lager in der Janowska‐Straße. Dieses Lager diente auch als Arbeitslager für Juden. Der siebzehnjährige Junge war Zeuge ihrer Vernichtung. SOLAREWICZ STANISŁAW Lemberg 1942. Es ist ein Jahr vergangen, seitdem die deutschen Besatzer damit begonnen haben, die Stadt zu verwalten. […] Sie führen zahlreiche Razzien durch, sie legen den Bewohnern Kontributionen auf, sie errichten das Zwangsarbeitslager am Ende der Janowska‐Straße, unweit von Sandhügeln. Dieser Ort hatte eine doppelte Bestimmung. Zum einen wurde hier die kostenlose Arbeitskraft der Zwangsarbeiter ausgenutzt, zum anderen war dies auch ein Vernichtungsort für Juden, Zigeuner und andere Nationen. Dieses Lager hieß „Zwangsarbeitslager Lemberg‐Janowska”. Ich kam ins Lager als ich 16 Jahre alt war und war dort der jüngste Häftling. Nachdem wir ins Lager gebracht wurden, standen wir bis in die Abendstunden vor dem Kommandantengebäude. Zur gleichen Zeit fand die Registrierung der Häftlinge, das Schneiden der Haare an allen Stellen des Körpers und das Malen von bunten Streifen auf dem Rücken längs der Wirbelsäule statt, damit die SS‐Männer die Nationalität der Häftlinge unterscheiden konnten. Die Häftlinge im Lager trugen die Kleidung, die sie während der Razzien angehabt hatten und auf diese Kleidung wurden die Streifen gemalt. Den Polen mit roter, den Ukrainern mit blauer und den Juden mit weißer Farbe.[…] Zu dieser Zeit breitete sich im Lager Typhus aus. Mit dieser Krankheit waren Häftlinge, hauptsächlich Juden, infiziert, die schon seit längerem im Lager waren. Die Kranken wurden aus dem Gebäude hinausgetragen und man sagte ihnen, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden, doch man legte sie unweit vom Appellplatz unter freiem Himmel auf einen von Stacheldraht umgebenen Platz. Dort wurden sie von einem jungen rothaarigen SS‐Mann getötet. Die Prozedur des Tötens lief so ab, dass er zwischen den Kranken umherging, alle paar Augenblicke stehen blieb und auf seinen Fingern pfiff. Wenn ein Kranker seinen Kopf nicht hob, näherte sich der SS‐Mann dem Kranken und tötete ihn mit einem Gewehrschuss. Diese Praxis wiederholte sich täglich um die gleiche Zeit.[…] Mit neu angekommenen Häftlingen wurden Arbeitskommandos gebildet. Auf dem Appellplatz standen separat Arier und Juden. Nach der Überprüfung der Anzahl der Häftlinge und der Meldung an den SS‐Offizier wurden wir zur Arbeit abtransportiert, abends schickte man uns dann ins Lagergebäude zurück. Das Lager, das als Zwangsarbeitslager bezeichnet wurde, war nach dem Vorbild der bestehenden Konzentrationslager errichtet worden. Eigentlich war es ein Vernichtungslager, vor allem für Juden, Zigeuner und teilweise auch für die polnische Bevölkerung. Es war von einem hohen Zaun aus Stacheldraht umgeben. Die Häftlinge durften sich dem Zaun nicht nähern. Übertrat jemand dieses Verbot, dann wurde er von Wachtürmen, die dicht um das Lager errichtet worden waren, beschossen. Diese Wachtürme waren von Ukrainern besetzt. Das Lager wurde grundsätzlich von jungen SS‐Männern bewacht, die von der Front zur Erholung geschickt wurden. Einige von ihnen sprachen tschechisch, sodass man vermuten konnte, dass es sich um Sudetendeutsche handelte. Der Lagerkommandant war ein hochrangiger SS‐Offizier namens Willhaus. Sein Stellvertreter war ein SS‐Offizier namens Rokita. Sie unterschieden sich darin, dass Willhaus die Häftlinge mit einer Reiterpeitsche schlug und sie so folterte, Rokita dagegen tötete sie auf diese Weise. Im Lager galt die Pflicht, sich schnell zu bewegen und die Mütze, wenn der Häftling denn eine hatte, vor jedem SS‐Mann abzunehmen. Wer das vergessen hatte oder aus gesundheitlichen Gründen nicht befolgen konnte, wurde verprügelt. Rokita trug im Lager immer lederne Handschuhe, am rechten Handgelenk hingen eine Reitpeitsche und eine Pistole. Er war ein Mann von ca. 50 Jahren, von mittlerer Größe, ziemlich beleibt und kahlköpfig. In Lemberg wohnte er allein, während seine Frau in Krakau blieb. Wenn sie in Lemberg erschien, nahm Rokitas Sadismus ab. Das dann mildere Verhalten des SS‐Mannes nutzend gingen vier österreichische jüdische Häftlinge zu seiner Frau mit der Bitte, zu versuchen ihren Mann zu beeinflussen, damit er im Lager solche mörderischen Methoden nicht mehr anwendet. Diese Mission endete für alle vier tragisch. Am nächsten Tag befahl Rokita während des Morgenappells den Häftlingen, die es gewagt hatten, zu seiner Frau zu gehen, aus der Reihe herauszutreten. Er begann mit seiner Pistole zu schießen und sie liefen hin und her über den Appellplatz, bis sie schließlich zu Boden fielen. An diesem Tag fuhren wir nicht zur Arbeit, die Traktoren fuhren ohne uns ab und wir standen da, bis das Geröchel des letzten Sterbenden nicht mehr zu hören war, was gegen Mittag geschah. Er tötete sie nicht sofort, sondern ließ sie langsam sterben. Rokita wurde im Lager der „Eichmann Galiziens” genannt. Das Lager hatte zwei Funktionen, es wurden hier kostenlose Arbeitskräfte gesammelt und es war zugleich ein Ort der Vernichtung. Es wurden sowohl Einzelpersonen ermordet als auch Massenmorde verübt – an Juden, die aus dem Ghetto Lemberg hergebracht wurden. Während meines Aufenthalts im Lager kam es zweimal zu Massentötungen von Juden. Die zweite Aktion beobachtete ich von einem Versteck im Kommandanturgebäude. Ich durfte es weder verlassen, noch durch das Fenster schauen. Diese 33 GHETTOS. DIE VERNICHTUNG VON JUDEN UND ROMA 34 Entscheidung traf Rokita. Der Platz, wo die Juden zusammengepfercht wurden, befand sich etwa 100 Meter vom Kommandanturgebäude entfernt. Er war in einige separate Teile geteilt und jeder von ihnen war von Stacheldrahtzaun umgeben. Der erste Menschentransport wurde noch am Tage, die nächsten schon bei Dämmerung und in der Nacht gebracht. Im ersten waren junge jüdische Mädchen. Sie wurden mit vier LKWs dorthin transportiert. Junge SS‐Männer nahmen einige von ihnen mit zu sich in ihre Quartiere, die anderen Mädchen warteten bis zur Dämmerung. Über das Schicksal dieser Mädchen weiß außer diesen SS‐Männern niemand etwas. Die Plätze wurden in der Dämmerung hell von Lampen und Scheinwerfern erleuchtet. Das ermöglichte es mir zu sehen, was auf den einzelnen Plätzen geschah und auf welche Weise die Deutschen vorgingen. Auf den ersten Platz kamen erstmal alle, die gebracht worden waren. Hier ließen sie ihre Oberbekleidung, Gepäck und die mitgebrachten Gegenstände zurück. Durch Schreien und Schlagen mit Reitpeitschen wurden die Unglückseligen dann von SS‐Männern dazu gezwungen, durch zwei Tore bis zum nächsten Platz zu gehen. Hier mussten sie sich nackt ausziehen und wurden ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht auf den dritten Platz geführt, diesmal aber nur durch ein Tor. In diesem Teil standen Körbe in die die Juden ihre Ehe‐, Finger‐ und Ohrringe, Uhren und dergleichen, die sie bei sich hatten, hineinwerfen mussten. Von hier aus gingen sie durch ein schmales Tor und nach einer genauen Kontrolle der Hände, der Ohren und der Mundhöhle, die von SS‐Männern durchgeführt wurde, gingen sie zum nächsten Platz. Dort wurden die nackten Menschen aufgeteilt und Kolonnen in Richtung Sandhügel gebildet. An der Spitze gingen Kinder, dann Frauen und am Ende die Männer. Die Vernichtungsaktion wurde um vier Uhr morgens abgeschlossen. Es sind dabei einige Hundert Menschen ermordet worden. Bei Tagesanbruch erschienen auf den Plätzen, durch die die Juden gegangen waren, die SS‐Männer. Sie warfen die zurückgelassenen Sachen in Körbe. Auf dem anderen Platz, wo die Körbe für den Schmuck standen, suchten die SS‐ Männer den Boden nach Gold ab. […] So sah aus meiner Sicht der „Hof” von Willhaus und Rokita aus. Sinti und Roma im Zwangsarbeiterlager, Bełżec, 1940 (IPN) STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE Straflager und Gefängnisse n den besetzten Gebieten in Polen führten die Deutschen dieselben strafrechtlichen Vorschriften und gesetzlichen Bestimmungen ein, die auch im Dritten Reich galten (z. B. das deutsche Strafgesetzbuch, Nürnberger Gesetze, das Kriegsstrafrecht aus dem Jahr 1938). Das System zielte darauf ab, die Gehorsamkeit sowohl des deutschen Volks als auch die der politischen Gegner zu gewährleisten, und die Menschen in den eroberten Gebieten einzuschüchtern. Das Rechtssystem war geprägt durch eine vereinfachte Rechtssprechung und drakonische Strafen. Im September 1939 nahmen das einstweilige Sondergericht sowie Militär‐ und Kriegsgerichte ihre Arbeit auf polnischem Gebiet auf – allesamt berechtigt, die Todesstrafe zu verhängen. In Wahrheit aber wurden von September bis Oktober Beschlüsse über Todesstrafen, Gefängnisstrafen oder Haft in Konzentrationslagern von der Wehrmachtsführung, Einsatzgruppen der SS und der Gestapo getroffen. Diese drei Institutionen verwalteten in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden die Gefängnisse. Im Jahre 1939 richteten die Einsatzgruppen SS und Selbstschutz verschiedene Lager ein. Diese Haftanstalten wurden „Internierungslager“ genannt und das war eine vage Bezeichnung, die den tatsächlichen Sinn der Einrichtungen, die Vernichtung der Insassen, verschleiern sollte. In diesen Lagern wurden Polen eingesperrt, die während der Aktion „Politische Flurbereinigung“ (Vernichtung der polnischen Eliten) festgenommen wurden. Die Mehrheit der Gefangenen kam bei Massenhinrichtungen (wie bei der Massaker von Piaśnica) um, wurde in Gefängnisse gesteckt oder in Konzentrationslager geschickt (so wurde z. B. eine große Gruppe von Geistlichen ins KZ Dachau gebracht), nur wenige wurden freigelassen und lediglich Einzelne überlebten den Krieg. Die meisten dieser Lager wurden Anfang 1940 liquidiert oder in Straf‐ oder Konzentrationslager umgewandelt (so z. B. Stutthof). Als das strafrechtliche System mit der Zeit immer organisierter wurde, entstanden zwei Strafvollzugswesen: eines war mit Polizeibehörden verbunden, das andere hing mit der Justiz zusammen. Die Mehrheit der Gefängnisse in den besetzten Gebieten waren über örtliche Kommandeure der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes dem Höheren SS und Polizeiführer unterstellt. Zu diesen Gefängnissen zählten so berüchtigte Einrichtungen, wie der Pawiak in Warschau, das Montelupi ‐ Gefängnis in Krakau und das Schloss Lublin. Diese Vollzugsanstalten dienten normalerweise auch als Orte der Vernichtung. In den ins Reich eingegliederten Gebieten oblagen die Gefängnisse den Kreis‐ oder Regierungsbezirksdienststellen der Gestapo. Jedem dieser Ämter stand ein für den ganzen Kreis oder Regierungsbezirk zentrales Gefängnis zur Verfügung. Mit den Gefängnissen waren ab 1941 sogenannte Arbeitserziehungslager verbunden. Solche Anstalt wurde Erweitertes Polizeigefängnis und Arbeitserziehungslager genannt. Die Gestapo‐Kreis‐ und Regierungsbezirksdienststellen verfügten darüber hinaus über eigene Untersuchungshaftanstalten, die sich normalerweise im Dienststellengebäude befanden. Innerhalb des zweiten großen Strafvollzugssystems gab es Gefängnisse, die dem Justizministerium des Reiches untergeordnet waren, und allgemein als Gerichtsgefängnisse bezeichnet wurden. Dorthin kamen sowohl Personen, die sich in Untersuchungshaft befanden als auch solche, gegen die bereits Freiheitsstrafen verhängt wurden. In vielen dieser Haftanstalten wurden 1942 Stammlager gebildet. In diesen Gefängnislagern verbüßten die Insassen Haftstrafen und leisteten Schwerarbeit, was einer schweren Gefängnisstrafe entsprach. Die schwersten und längsten Straflagerstrafen, sowohl in normaler als auch in verschärfter Haft, wurden unter anderem in den Zuchthäusern in Fordon, Koronów und Rawicz, verbüßt. Zusätzlich gab es die Straflager bzw. Straf‐ und Erziehungslager. Arbeitsrechtliche Vorschriften für die polnischen Arbeiter bestimmten die Ausrichtung, Form und Methoden der Ausbeutung. Die Anwerbung geschah unter Aufsicht von der Polizei, der Gestapo und den Verwaltungsbehörden und war häufig mit Terror und Zwang verbunden. Während die Interessen des Reiches durch ein besonderes System der Verfolgung von Zwangsarbeitern gesichert wurden, hatten Polen keine Aussicht auf gerichtlichen Schutz. Über die Art und den Ort der Zwangsarbeit entschieden deutsche Behörden, das grundsätzliche Kriterium dabei waren die aktuellen Bedürfnisse des Reiches. Somit wurden viele Personen an Orte weit entfernt von ihrem Wohnsitz verschleppt. Zwangsarbeiter wurden in sogenannten Arbeitslagern einquartiert. Arbeitsunwillige oder Personen, welche gegen die drakonischen I 35 STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE 36 Vorschriften für polnische Zwangsarbeiter verstießen, wurden in Straflager und Arbeitserziehungslager überwiesen. Auf dem besetzten polnischen Gebiet wurden zirka 1750 Arbeitslager und 40 Straf(arbeits)lager sowie Arbeitserziehungslager (AEL) betrieben. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die kraft einer Verordnung Heinrich Himmlers vom 28. Mai 1941 eingerichteten Arbeitserziehungslagern (AEL). Grundsätzlich wurden diese in polnischen Gebieten, die ins Reich eingegliedert worden waren, errichtet. In den übrigen Gebieten entsprachen ihnen Straflager. In den AEL herrschte ein strenges Straflagerregime, innerhalb dessen die Häftlinge zur Arbeit für Konzerne wie z. B. die IG Farbenindustrie, Siemens und die Hermann‐Göring‐Werke gezwungen wurden. Den Anstoß für die Errichtung eines solchen Lagers gaben üblicherweise lokale Sipo‐ und SD‐Inspekteure. Der Lagerkommandant und seine Stellvertreter waren Gestapo‐Beamte. Die Lager bestanden aus zwei Zonen. In der Arbeitszone musste 12 Stunden lang hart gearbeitet werden, während nach Abschluss der Arbeit verschiedene sinnlose Arbeiten und körperliche Übungen ausgeführt werden mussten. In der Strafzone wurden die Arbeiter nicht nur zu Schwerstarbeit gezwungen, man setzte sie auch verschiedenen Arten von Folter aus. In den Lagern wurden oft sogenannte verschärfte Verhörmethoden angewendet; so wurde den Insassen z.B. nur Brot und Wasser bereitgestellt, sie wurden in Dunkelheit festgehalten, mussten anstrengende körperliche Übungen ausführen und erhielten 20 oder mehr Peitschenhiebe. Die Entlassung aus dem Lager erfolgte nach Verbüßung der Strafe. Sollte der Gestapo‐Lagerfunktionär zu dem Schluss kommen, dass die Strafe nicht ihren Zweck erfüllt habe, wurden die Arbeiter in Konzentrationslager abtransportiert. Neben den der Gestapo unterstellten AEL, entstanden seit 1941einige AEL in direkter Nähe von Betrieben, ab Frühling 1944 verstärkte sich diese Tendenz noch. Die Gefangenen dort waren fast ausschließlich ausländische Zwangsarbeiter, die wegen „Bummelei“ festgenommen worden waren und nun Arbeit unter Aufsicht leisten mussten. Die Gestapo entschied, wer in diese Lager kam, in der Praxis jedoch verfügte die Firma selbst über die Häftlinge. Dasselbe galt für die Aufsicht über diese Lager, die sowohl die lokale Polizei als auch die jeweilige Betriebsaufsicht übernahmen. Die Bezeichnung Arbeitserziehungslager (AEL) war nicht einheitlich geregelt. Während für die der Gestapo obliegenden AEL der Begriff Arbeitserziehungslager festgelegt wurde, nutzte man in Betrieben verschiedene amtliche Begriffe, wie „Erziehungslager“, „Sonderlager“, „Gestapo‐Sonderlager“, „Erziehungsstammlager der Gestapo“, „Straflager“, „polizeiliches Straflager“, Erziehungslager für Asoziale, Strafarbeitslager. Polenlager waren eine gesonderte, spezifische Lagergruppe, die ausschließlich in der Provinz Oberschlesien vorkam. Mit der Bildung dieser Lager begann man im Jahr 1942. Lokale Einwohner, unabhängig von Alter und Geschlecht, wurden dort auf unbefristete Zeit festgehalten. In den Lagern wurden polnische Familien eingesperrt, die von der deutschen Besatzungsmacht als unerwünschtes oder gar die Interessen des Dritten Reichs gefährdendes Element angesehen wurden. Dies waren also Polen, die für ihre antinationalsozialistischen Ansichten bekannt waren, Familien von Aktivisten, die sich für das Polentum Schlesiens einsetzten, aber auch diejenigen, die es verweigerten, die Volksliste zu unterzeichnen. Die Lager befanden sich üblicherweise in alten Fabrikhallen mit nicht einmal einfachsten Sanitäreinrichtungen. Der Aufenthalt im Polenlager war normalerweise unbefristet. Erwachsene arbeiteten in schlesischen Industriebetrieben und in der Landwirtschaft. Diese Lager kennzeichnete der großer Anteil der darin festgehaltenen Kinder und Minderjährigen (bis zu 40 % aller Häftlinge), die Zwangsarbeit Minderjähriger und eine hohe Sterblichkeitsrate. Der Begriff „Polenlager” wurde auch manchmal für in verschiedenen Teilen Deutschlands gelegene Lager, in denen polnische Zwangsarbeiter lebten, verwendet. Diese Lager sollten jedoch nicht mit den oben erwähnten Polenlagern in Oberschlesien verwechselt werden. JANINA MUSZYŃSKA 37 JANINA MUSZYŃSKA Erinnerungen an den Aufenthalt bei der Gestapo und im Gefängnis in Białystok 1943. Die Autorin kommt aus Białystok. Zur Zeit der deutschen Besatzung war ihre Familie in der Widerstandsbewegung tätig. Im Juli 1943 wurden einige Familienmitglieder verhaftet, weil sie einen Flüchtling aus dem Ghetto in Białystok versteckt hatten. Die neunjährige Janina wurde daraufhin mit ihrer Mutter und der dreijährigen Schwester Eugenia in einer Zelle gefangen gehalten. Am 28. September 1943 wurden ihre Eltern in Grabówka bei Białystok erschossen. Die Schwestern blieben bis zum 6. Oktober 1943 im Gefängnis. STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE 38 ch wurde am 17. Mai 1934 in Białystok geboren und am 7. November 1940 kam meine Schwester zur Welt ‐ Eugenia Mikitowicz. Unsere Eltern, Włodzimierz und Zinaida Mikitowicz haben im Jahr 1936 ein Einfamilienhaus in Białystok in der Poleska Straße 20 gebaut. Das Grundstück meiner Eltern grenzte an das Grundstück unseres Großvaters väterlicherseits, Prochor Mikitowicz. Dort wohnte seine fünfköpfige Familie. Die Eltern meiner Mutter ‐ Zofia und Józef Zubrzyccy‐Domanowscy wohnten zwei Straßen weiter, in der Topolowa Straße 8. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs haben wir ein ruhiges Leben geführt. Im Jahr 1939 war ich 5 Jahre alt, hatte liebende Eltern, Großeltern und andere Verwandte. Die ganze Familie meines Vaters war in der Widerstandsbewegung tätig. Von 1942 bis Juli 1943 haben sie einen Partisanen, einen Juden aus dem Ghetto in Białystok (seinen Namen kannte ich nicht) versteckt, der an Militäreinsätzen in Białystok beteiligt gewesen war. Einer dieser Einsätze fand im Stadtviertel Białystoczek, ein anderer am Bahnübergang in der Wasilkowska Straße statt. Bei beiden Aktionen wurden Deutsche getötet. In unserer Wohnung gab es im Schlafzimmer unter dem Fußboden ein Versteck – ein Tunnel, der durch den Garten zum Haus meines Großvaters führte. Das Versteck war für den Juden und für unseren Onkel Mikołaj Mikitowicz vorbereitet worden. Am 10. Juli 1943 gegen Abend umstellte die Gestapo das Haus unseres Großvaters. Onkel Mikołaj und der Jude entkamen der Razzia durch den unterirdischen Gang und flohen in Richtung Eisenbahngleise. Es kam zu einer Schießerei. Den Männern gelang es aber durch die Felder in Richtung des Dorfes Leńce zu fliehen. Infolge dieses Ereignisses wurden mein Großvater Prochor Mikitowicz und seine Tochter Luba Mikitowicz, die im achten Monat schwanger war, in der Nacht von der Gestapo verhaftet. Sie wurden zur Vernehmung zum Gestapo‐ Gebäude in der Sienkiewicza Straße 15 in Białystok abtransportiert, anschließend ins Gefängnis an der Południowa Straße gebracht und später in Bacieczki bei Białystok erschossen. Der jüdische Partisan ist im Einsatz bei Wizna zwischen Jeżewo und Łomża ums Leben gekommen. Mikołaj Mikitowicz wurde verletzt und im Dorf Leńce ermordet, nachdem ein Bauer ihn für 500 Mark den Deutschen ausgeliefert hatte. Einige Tage nach der Verhaftung meines Großvaters und meiner Tante rüttelte am 21. Juli 1943 um 23.00 Uhr die Gestapo an der Tür unseres Hauses. Es traten drei SS‐Männer mit einem Schäferhund und ein Dolmetscher ein. Nachdem sie unsere Wohnung durchsucht und demoliert hatten, führten sie uns aus dem Haus in den Hof hinaus. Währenddessen durchkämmten sie noch einmal das leere Haus des Großvaters, da sie hofften, dort versteckte Partisanen zu finden. Meiner Familie wurde befohlen, sich umzudrehen und niederzuknien – sie zielten auf uns und wollten uns erschießen. Meine Mutter hielt meine jüngere Schwester im Arm. Zum ersten Mal blickte ich, ein neunjähriges Kind, dem Tod ins Auge. Mich packte eine panische Angst. Auf einmal entschieden sich die SS‐Männer um und verzichteten auf unsere Hinrichtung. Sie hatten im Haus des Großvaters niemanden gefunden, das rettete uns das Leben. Während sie uns schlugen, befahlen sie uns, aufzustehen und weiterzugehen. Meine verzweifelte Mutter flehte sie an, mich und meine Schwester bei den Großeltern lassen zu dürfen, die zwei Straßen weiter wohnten. Dies wurde kategorisch abgelehnt und meiner Mutter mit einer Pistole ins Gesicht geschlagen. Ein Hund wurde auf sie gehetzt, der ihr aber nichts getan hat – er ist sie nur angesprungen, hat einmal gejault, sie aber nicht angegriffen, wofür er mit einer Reitpeitsche bestraft wurde. Ich war erschrocken. Das Gesicht meiner Mutter war blutverschmiert, die Jacke ebenso, ein Auge war verletzt. In einem solchen Zustand wurden wir mit Waffengewalt die Eisenbahngleise entlanggeführt, bis zu einer Brücke, die zum Stadtviertel Białystoczek führte. An diesem Ort, gleich hinter der Brücke, stand auf der linken Straßenseite unter dem Baum, unter dem wir oft mit der Stieftochter unseres Bekannten, Piotr Kosobuk, gespielt hatten, ein offenes Auto. In dem Auto lag Piotr Kosobuk – gefoltert und in Handschellen, wie mein Vater. Er war gefoltert worden, weil er während der Flucht geschossen hatte. I Aufenthalt bei der Gestapo in der sog. „Fünfzehn“ Wir wurden sofort zum Sitz der Gestapo zur sog. „Fünfzehn“ in der Sienkiewicza Straße 15 gebracht. Die Männer wurden weggebracht, unter eine Mauer geworfen und waren danach spurlos verschwunden. Wir wussten nicht, was mit ihnen geschah. Wir wurden in einen Raum im Erdgeschoss gebracht, in dem bereits viele Frauen waren. Es war dreckig, es gab Flöhe und anderes Ungeziefer, es war schwül, es stank und es gab keine Betten. Am nächsten Tag wurde meine Mutter zur Vernehmung mitgenommen, sie kam verprügelt und kraftlos zurück, sie war nicht einmal imstande zu JANINA MUSZYŃSKA weinen. Dies wiederholte sich die nächsten 2‐3 Tage. Am vierten Tag wurden wir ins Gefängnis in Białystok versetzt. Man führte uns durch drei beängstigende Metallpforten. Ich war vor Angst wie gelähmt, was durch den Anblick meiner Mutter mit dem geschwollenen, dunkelblauen Gesicht und mit dem blau geschlagenen rechten Auge noch verstärkt wurde. Wir wurden ins Hauptgebäude, auf die rechte Seite, in eine Zelle im Erdgeschoss einer Frauenabteilung gebracht. Aufenthalt im Gefängnis in Białystok In der Zelle gab es zehn Betten. Acht davon waren schon besetzt. Meine Mutter schlief mit meiner Schwester und ich bei ihnen, obwohl ich ein eigenes Bett am Fenster hatte. Hier fing für uns die Hölle an. Das Essen war abscheulich: eine Scheibe halb rohes Schwarzbrot, eine Suppe aus Eichenblättern mit Raupen drin. Ich erbrach mich, ich konnte nicht essen, mein Bauch tat mir weh. In der Nacht sprang ich auf, wollte fliehen, aber das war unmöglich – denn die Fenster waren vergittert und die Türen verschlossen. Morgens wurde meine Mutter zur Vernehmung geholt. Sie kam verletzt und kraftlos zurück. Während des Aufenthalts im Gefängnis bekamen wir von meinen Großeltern zwei Lebensmittelpakete mit Brot, Knoblauch, Zwiebeln und Schmalz. Das war das leckerste Essen aller Zeiten! Am Anfang durften die Kinder (es gab dort einige) eine Stunde hinter dem Gefängnishauptgebäude, neben dem Bunker, der Wäscherei und der Küche spazieren zu gehen. Mein ganzes Leben lange habe ich jedes Detail des Gefängnishofs im Gedächtnis behalten. Im August oder September 1943 wurde der Dekan aus der Pfarrkirche in Białystok in das Gefängnis gebracht. Während der Spaziergänge sahen wir ihn beten, er segnete uns Kinder von weitem. Bis heute erinnere ich mich an seine Gestalt und sein gütiges Gesicht. Die täglichen Gebete der Häftlinge haben sich mir fürs ganze Leben ins Gedächtnis eingeprägt. Auf ein Signal hin ertönten im Gefängnis in Białystok in den Abendstunden Lieder wie: „Alle unsere Alltagssachen“, „Herzliche Mutter“, „Jesus hör, wie Dich das Volk anfleht“. Das war wunderbar – die Vereinigung aller Gefangenen in einem Lied. Bis heute, wenn Gläubige in einer Kirche „Jesus hör“ singen, kann ich die Erinnerungen und Tränen nicht unterdrücken. Dieses Bittlied sang ich zusammen mit meiner Mutter, die uns später in unserer Kindheit, Jungendzeit und im ganzen Leben sehr fehlte. Im Gedächtnis geblieben ist mir eine Begebenheit, die sich bei der Desinfektion der Frauenzellen ereignet hat. Im August wurden alle gefangenen Frauen in den ersten Stock der Abteilung versetzt, damit die Räume im Erdgeschoss desinfiziert werden konnten. Desinfiziert wurde mit angezündetem Schwefel, der sehr stark qualmte und von dem aus Rauch nach oben in den ersten Stock aufstieg. Auf einmal passierte etwas Schreckliches. Wir fingen an, langsam zu ersticken. Schreien und Donnern an der Tür halfen nicht, denn die Wächterinnen waren nicht in der Abteilung. Ich erinnere mich kaum daran, was passierte nachdem die Tür geöffnet wurde, meine Schwester und ich waren danach im Gefängniskrankenhaus. Unter den Wächtern gab es einen, der bei den Häftlingen besonders verhasst war – den Polen Jarząbek, ein bauchiger Kleinwüchsiger, ein sehr böser Mensch. Er lief immer mit einem großen Schlüsselbund rum, mit dem er jeden, der in seiner Nähe erschien, aufs Geratewohl geprügelt hat. Die Kinder waren ihm besonders verhasst, er hat uns angeschrien und verprügelt. Von meinen Großeltern weiß ich, dass er seiner gerechten Strafe nicht entgangen ist – nach der Befreiung wurde er verurteilt und bestraft. Einen weiteren Schock erlebte ich im August oder September 1943. Im Gefängnis hatten einige Häftlinge ihre Flucht organisiert. Bei dieser Aktion half den Flüchtlingen ein ukrainischer Wächter. Einer der Flüchtlinge war Stanislaw Kosobuk, der wie meine Eltern in der Widerstandsbewegung tätig war. Zwei Gefangene konnten fliehen, Stanisław Kosobuk wurde gefangen genommen und für den Fluchtversuch nach Ausschwitz deportiert, wo er bis zur Befreiung blieb. Nach dem Krieg kehrte er nach Białystok zurück. Einen Tag nach der Flucht geschah bei Tagesanbruch etwas Schlimmes auf dem Gefängnishof vor dem Hauptgebäude. Es wurde ein Galgen dort aufgestellt. Wir wurden gezwungen, die Hinrichtung des Ukrainers anzuschauen, der bei der Flucht geholfen hatte. Er wurde in Handschellen in den Hof gebracht. Dann wurde er auf ein Podest unter den Galgen gestellt und ein SS‐Mann hat dann das Podest mit dem Fuß weggestoßen. Der Verurteilte hing an einem Seil, sein Körper zitterte, die Zunge hing bis aufs Kinn herab. Das war für mich, ein neunjähriges Kind, ein Schock. Ich sah mit eigenen Augen, wie ein Mensch getötet wurde, ich zitterte vor Entsetzen. Tag und Nacht sah ich den Erhängten vor mir. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, obwohl inzwischen 62 Jahre vergangen sind. 39 STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE 40 Hinter dem Gefängnisgebäude war hinter einer hohen Mauer ein Garten – angeblich ein Gemüsegarten. Dort wurden in der Nacht körperlich und geistig Behinderte ermordet. Trotz der vielen Jahre, die vergangen sind, höre ich noch heute ihr Gejammer und ihre Hilferufe. Sie heulten wie Tiere. In einer Nacht wurde ein Brautpaar in das Gefängnis gebracht. Sie wurden in der Nacht erschossen, vorher aber noch direkt neben der Eingangstür zur Frauenabteilung gefoltert. Morgens sah ich beim Spaziergang eine große Blutlache, die nur mit etwas Sand zugeschüttet worden war. Es war ein erschütternder Anblick, umso mehr, da wir in der Nacht gehört hatten, was vorgegangen war. Von Tag zu Tag wurde mein Entsetzen immer größer. Durch meine kindliche Intuition ahnte ich, dass auch mit uns bald etwas Schlimmes passieren würde. Ich spürte, dass die Tragödie immer näher kam. Ich hatte große Angst vor dem Tod und hatte einen so starken Lebenswillen, denn ich war doch erst neun Jahre alt und meine Schwester drei! Es ist geschehen! Der 28. September 1943 war ein tragischer Tag. Gegen 2:00 Uhr ging in der Abteilung etwas vor sich. Den gefangenen Frauen war klar – es fing die Selektion für den Tod an! Die Zellentür wurde mit einem lauten Krach aufgestoßen, es kamen SS‐Männer mit einem Dolmetscher rein. Sie fingen an vorzulesen, wer für das Erschießen vorgesehenen war und diejenigen in den Flur hinauszuführen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie viele Frauen aus unserer Zelle mitgenommen wurden. Ich weiß nur noch, dass die erste Frau eine Russin mit einem 8‐ oder 9‐ jährigen Jungen war, der sich unter einem Bett versteckte. Als seine Mutter schon im Flur war, bemerkten die Folterer, dass der Junge fehlte. Sie zogen ihn brutal unter dem Bett hervor und nahmen ihn mit. Der nächste Name, der genannt wurde, war der meiner Mutter! Mein Herz erstarrte! Die Arme begann zu flehen, sich die Haare auszureißen und mit dem Kopf gegen die Zellenmauer zu schlagen. Ich wusste, dass unsere Existenz zu Ende war. Da brüllte der Dolmetscher plötzlich, dass nur sie mitkommt und die Töchter bleiben. Meine Mutter jammerte, sie hatte keine Ahnung, was sie mit uns vorhatten, welches Schicksal uns beiden zuteilwerden würde und wann wir getötet würden. Ich begriff nicht, warum das passierte, warum wir nicht gemeinsam in den Tod gingen? Die Trennung von meiner Mutter werde ich nie vergessen, nicht bis an mein Lebensende. Das letzte Mal sah ich sie noch durch das vergitterte Zellenfenster, sie ging stolz ganz vorne mit erhobenem Kopf, den verwehten schwarzen Haaren, in weißer Bluse und einem Rock mit schwarz‐weißem Pepitamuster, ohne Schuhe, in weißen Socken. Sie wusste, dass sie in den Tod ging. Mein Gott! – was ging da in ihrem Mutterherzen vor? Hinter der Pforte wurden die Verurteilten wie Tiere auf ein Auto geladen und nach 30 Minuten waren sie bereits am Richtplatz in Grabówka. Sie wurden aus den Autos zu einem bereits ausgehobenen Grab gejagt und kaltblütig mit Maschinengewehren erschossen. Die Einheimischen von Grabówka berichteten, dass – obwohl das Stöhnen der lebenden, verletzten Menschen noch zu hören war, die Deutschen die Körper mit Kalk und Erde zuschütteten, die sich danach noch rührten. Dann fuhren sie auf dem Grab mit ihren Autos hin und her. Im Moment des Todes war unsere Mutter 33 und unser Vater 35 Jahre alt. Nach dem Tod unserer Mutter blieb ich im Gefängnis mit meiner dreijährigen Schwester ganz allein. Ich ersetzte ihr die Mutter so gut ich nur konnte, die gefangenen Frauen halfen mir dabei. Meine Schwester verstand nicht, was passiert war und wollte nur zu unserer Mutter! Sie erinnert sich nicht mehr daran, was im Gefängnis passiert ist. Ich wusste nicht, was die Nazis mit uns vorhatten, mit Angst wartete ich auf den Tag, an dem sie uns auf den Hof hinausführen und wie die anderen töten würden. Am 6. Oktober 1943 am Vormittag wurden wir beide aus der Zelle herausgeführt, ich dachte, dass jetzt das Ende gekommen sei! Ich habe nicht einmal geweint. Wir wurden durch drei riesige metallene Gefängnispforten geführt – ich wusste nicht, was los war. Mit verblüfften Augen erblickte ich meine Großeltern. Ich dachte, dass sie gekommen waren, um sich vor unserem Tod von uns zu verabschieden. Aber es stellte sich heraus, dass wir frei waren! Wir hatten überlebt! Aber beim Gedanken an die Eltern, besonders an die Mutter, die uns so nah gewesen war, musste ich weinen. Ich war mir bewusst, dass ich sie nie wieder sehen würde. Meine heile Kinderwelt war zusammengebrochen, durch all die schrecklichen Erlebnisse, die selbst für Erwachsene erschütternd gewesen wären und ich war doch damals gerade erst neun Jahre alt. Meine Großeltern haben uns unter ihre Fittiche genommen. Auch für sie ist es eine Tragödie gewesen – sie hatten ihre Tochter, einen Schwiegersohn und einen Sohn verloren. Nachdem wir aus dem Gefängnis entlassen worden waren, ließ uns die Gestapo nicht in Ruhe. Alle paar Tage erschienen die Deutschen im Haus meiner Großeltern und überprüften, ob wir nicht versteckt oder weggebracht JANINA MUSZYŃSKA worden waren. Wir waren weiterhin ihre Geiseln. Wir durften uns von unseren Großeltern nicht entfernen. Unter dieser Bedingung wurden wir am Leben gelassen. Das Kriegstrauma durch die furchtbaren Erlebnisse verursachte bei mir die Entwicklung verschiedener Krankheiten, womit ich meinen Großeltern viel Kummer bereitete. Nachts quälten mich Alpträume – ich schrie und versuchte zu fliehen. Darüber hinaus war mein Körper nach dem Aufenthalt im Gefängnis mit Furunkeln übersät. Ich habe sehr gelitten und konnte nur auf dem Bauch liegen. Vor Schmerzen habe ich wie ein Hund gewinselt. Eine Behandlung war kompliziert, es war schwer einen Arzt zu finden, deshalb haben die Großeltern eine bekannte und versierte Heilkundige geholt, aber auch sie war nicht imstande, mir zu helfen. Die Narben von den Furunkeln sind mir bis heute geblieben. Nachdem ich das Gefängnis verlassen hatte, erfuhr ich, warum uns die Nazis nicht erschossen hatten. Die Großeltern Józef und Zofia Zubrzyccy‐Domanowscy haben uns das Leben gerettet. Sie haben nach allen möglichen Mitteln gesucht, um uns und unsere Eltern zu retten. Leider ist es ihnen nur gelungen, das Leben der Kinder zu retten. Dabei hat ihnen Frau Leonia Makarewicz geholfen, die nicht weit von meinen Großeltern wohnte und mit den Deutschen zusammenarbeitete. Gleichzeitig half sie jedoch auch Polen. Sie hatte Freunde, die bereit waren, bei der Rettung von Polen zu helfen, jedoch ausschließlich bei der Rettung von Kindern. Die Eltern mussten für ihre Tätigkeit gegen das Dritte Reich mit ihrem Leben bezahlen. Die Gestapo hat uns nicht uneigennützig freigelassen. Meine Großeltern haben ihr gesamtes Vermögen verloren. Die Deutschen waren gierig und erschwindelten sich alles, was nur möglich war. Nach dieser Tragödie verblieb in Grabówka bei Białystok ein Grabhügel. Im Jahr 1946 oder 1947 nahmen meine Großeltern an der Exhumierung der Leichen teil. Mich haben sie damals nicht mitgenommen. Meine Großeltern wollten mir den Schock ersparen, dasselbe zu sehen, wie sie. Dank meinem Großvater wissen wir, in welchem Grab sich meine Mutter befindet. Mein Großvater kannte nämlich einen Bauern aus Grabówka, der wusste, an welchem Tag die Hinrichtung der Eltern stattfinden sollte. Als die Schinder den Richtplatz verlassen hatten, markierte er eine Birke nahe am Grab und benachrichtigte meinen Großvater. Den Hinrichtungsort besuchten wir oft gemeinsam mit meinen Großeltern mit dem Fahrrad. Der Ort erfüllt mich mit Verzweiflung und Kraftlosigkeit. Immer, wenn ich dort bin, zerreißt mir das Weinen das Herz. Am 55. Todestag meiner Eltern waren wir in Białystok, wir sind extra zu ihrem Grab gefahren und haben dort viele Fotos gemacht. Ich habe mir auch ein Herzensbedürfnis erfüllt: nach 55 Jahren erhielt ich die Erlaubnis, in das Gefängnis, in die Zelle einzutreten, in der wir mit meiner Mutter zusammen eingesperrt waren. Die tragischen Erinnerungen wurden wieder lebendig, ich konnte die Rührung, die Angst und die Tränen nicht zurückhalten. Dort habe ich meine Mutter zum letzten Mal gesehen. Janina Muszyńska mit ihrer Mutter, 1936 (AFPNP 41 STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE 42 Häftlinge im Baudienst−Straflager, Krakau, 1942−1944 (IPN) Appell in der Mädchenabteilung des Polen–Jugendverwahrlagers in Łódź / Litzmannstadt, vor der Tür steht eine „Erzieherin”, Datum unbekannt (MTNwŁ) ANTONI GÓRSKI 43 ANTONI GÓRSKI Sklavenarbeit in Deutschland Der Autor wurde 1942 aus der Gegend von Krzemieniec (Kremenez) zur Zwangsarbeit in die Bahn‐Ausbesserungswerke nach Bremen‐Hemelingen deportiert. Zum Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse war er etwa 23 Jahre alt. STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE 44 itte 1944 wurde ich angewiesen, mich bei der Bremer Polizei zu melden. Ich arbeitete damals in der Nachtschicht. Ich wusch mich gründlich, zog mich an und fuhr los. Der zuständige Beamte teilte mir mit, dass ich wegen unerlaubten Verlassens des Lagers und Handelns mit Lebensmittelkarten angeklagt wurde. Die Anschuldigungen stimmten. Tatsächlich wohnte ich in einem abgeschlossenen, von Wachposten bewachten Lager, ohne Recht auf Ausgang in die Stadt. […] Ich wurde in den Hof, in eine hölzerne Baracke geführt und dort in eine Zelle eingesperrt. […] Das war eine Zelle mit einer Fläche von ca. 10 Quadratmetern, in einer provisorischen Holzbaracke. Die Hälfte der Fläche nahm eine Holzpritsche ein, die ca. 70 cm hoch war. Abgesehen davon gab es keine anderen Gegenstände. Zum Abort ging man nach Aufforderung. Zweimal täglich gab es eine einigermaßen erträgliche Suppe. Schlafen musste man auf der Holzpritsche, wobei man sich mit der eigenen Kleidung zudecken musste. Es sah aus wie in einem abstoßenden Wartesaal auf einem Bahnhof in einem öden Nest. Wir saßen dort zu viert – zwei Polen und zwei Russen. Ich verbrachte dort volle sieben Tage. Am sechsten Tag kam ein Mann und las im Korridor mein Urteil vor. Es wurde festgestellt, dass ich illegal eingekauft hätte, was als kaufmännische Spekulation betrachtet wurde und ich wurde zu sechs Wochen im Straflager in Farge (Arbeitserziehungslager Bremen‐Farge) verurteilt. Das Wort Farge klang grauenerregend und war mir seit dem Beginn meines Aufenthaltes in Bremen bekannt. Ich hatte zweimal Häftlinge gesehen, die aus diesem Lager zurückkamen. Sie waren laufende Gerippe gewesen. Jeder, der aus diesem Lager zurückgekommen war, wog grundsätzlich weniger als 40 Kilogramm. Wir wurden dorthin in einem Konvoi von sechs Personen, paarweise mit Handschellen, gebracht. Farge ist eine kleine Ortschaft an der Weser, zirka 40 Kilometer nördlich von Bremens Zentrum. Für die Dauer der Reise gab man uns Geld und unsere Dokumente zurück. Mir war es gelungen, das Geld aus der Börse herauszunehmen und es in einer Socke zu verstecken. In der Börse blieben nur 100 Mark. Ich wurde mit einem russischen Gefangenen, einem jungen Burschen, gefesselt, der bis dahin bei der Bedienung einer Flugabwehrkanone beschäftigt war. Das war ein sehr solider Junge. Ich verbrachte mit ihm die vollen sechs Wochen in diesem Straflager. Ihm wurde nicht gesagt, zu welcher Dauer er verurteilt worden war; der Mehrheit der Gefangenen in diesem Lager ging es so. Am späten Nachmittag kamen wir ins Lager, das auf freiem Feld errichtet worden war, mindestens zwei Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Wir mussten die Nacht in der Wäscherei verbringen, auf Beton, dicht aneinandergedrängt, weil die Wäscherei ungeheizt war und es eine Woche vor Weihnachten war. Am Abend war es mir gelungen, mit einem Russen aus unserer Fabrik Kontakt aufzunehmen, der hier seit drei Wochen inhaftiert war. Ich warf ihm meine Anzugsjacke zu. Am Morgen begann das echte Golgatha. Zuerst mussten wir uns nackt ausziehen und unsere Sachen zur Desinfektion abgeben. Dann erwartete uns ein Bad, aber ohne Eile. Als das Wasser endlich zu laufen begann, war es entweder ungeheuer heiß oder lauwarm oder eiskalt. Dieser Bad‐Zirkus ohne Seife dauerte fast eine Stunde, das heißt so lange, wie das Entlausen unserer Kleidung dauerte. Dann befahl man uns, unsere Kleidung unter den Arm zu nehmen und in die andere Baracke, ins Kleidungslager zu gehen, wo wir unsere eigene Kleidung abgeben und die Lagerkleidung anziehen mussten. Im Korridor der zweiten Baracke mit weit geöffneten Türen, musste man nackt für den Kleidungswechsel Schlange stehen, ohne sich bedecken zu dürfen und mit der eigenen, entlausten Kleidung in der Hand, weil man für Ungehorsam sofort eins auf die Schnauze kriegen konnte. Der Kleidungswechsel dauerte durchschnittlich eine halbe Stunde für jeden Inhaftierten. Ich bekam eine grüne Hose, wahrscheinlich von einem früheren Gefangenen, Unterwäsche und eine Häftlingsanzugsjacke ohne Unterfutter. Man durfte seine eigenen Schuhe behalten, weil es im Lager an Schuhen mangelte. Es gab noch ein persönliches Gespräch mit dem Lagerführer, einem Riesen in schwarzer SS‐Uniform, der einem bei einer unbefriedigenden Antwort oder wenn das Aussehen eines Gefangenen nicht seinem Geschmack entsprach, sofort ins Gesicht schlug. Nach der genauen Registrierung hatte man uns mitgeteilt, dass für die Aufenthaltsdauer im Lager die Häftlinge nicht mehr mit ihren Namen, sondern lediglich mittels Nummern identifiziert werden. Ich bekam die Nummer 12804 und unter dieser Nummer war ich über die ganzen sechs Wochen im Lager bekannt. Um Fluchtversuche der Gefangenen aus dem Lager zu verhindern, wurde jeder neu Verhafteten gekennzeichnet, indem man ihm die Haare abrasierte, in einem fünf Zentimeter breiten Streifen von der Stirn aus bis zum Hinterkopf. Gegen 16 Uhr wurden wir in die Wohnbaracke gelassen, aber erst um 18 Uhr, als alle von der Arbeit gekommen waren, bekamen wir eine Suppe. Ich war nach dem einwöchigen Aufenthalt im Arrest in Bremen, wo man schlecht, aber immerhin ein bisschen zu essen bekam und nach zwei Tagen Transport ohne Essen. Die servierte Kohlrübensuppe stank so sehr, dass ich sie an diesem ersten Tag im Lager nicht einmal anrührte. Die Wohnbaracke hatte einen fast zweieinhalb Meter breiten Korridor und mindestens vierzig Quadratmeter große Säle. In diesen Sälen standen ziemlich breite, dreistöckige, M ANTONI GÓRSKI hölzerne Betten mit Matratzen, aber ohne Bettzeug. Es waren wohl sechzehn Betten. In der Mitte des Saales stand ein eiserner Ofen mit einem Durchmesser von etwa 50 und einer Höhe von 150 Zentimetern. Im Ofen wurde solange geheizt bis der Brennstoff, den die Bewohner am Arbeitsort besorgt hatten, aufgebraucht war. Es wurde also gewöhnlich eine Stunde, manchmal auch kürzer geheizt. […] Die Baracke war in der Nacht dicht verschlossen und im Korridor wurden einige Zuber aufgestellt, damit man seine Notdurft verrichten konnte. Am Morgen floss der Brei dann neben den Zubern. Zur Reinigung der Korridore wurden die „Muselmänner” beschäftigt, das heißt solche Häftlinge, die nicht mehr imstande waren, außerhalb des Lagers zur Arbeit zu gehen und hier ihre letzte Tage erlebten. Der Tag begann mit einem Weckruf um 5 Uhr morgens. Fünfzehn Minuten später wurden wir vor der Baracke in drei Reihen stehend durch einen vorgelesenen Befehl darüber informiert, zu welcher Arbeit jeder von uns an diesem Tag zugeteilt wurde. Die aufgerufenen Nummern traten aus der Reihe und bildeten eine Brigade. Dann gingen wir essen. Wir bekamen zirka einen Liter in Wasser gekochte Kohlrübe ohne Fett oder Zusatz von Gemüse. Nach diesem Frühstück, das einige Minuten dauerte, ging jede Brigade unter der Aufsicht eines SS‐Mannes an die Arbeit. Die ersten fünf oder sechs Tage lang war ich einer Brigade, die aus vier Männern bestand und für das Kohleausladen von Schiffen im Hafen Blumenthal, der nicht mehr als fünf Kilometer von Farge entfernt war, zugeteilt. Das war sehr schwere, harte Arbeit. Wir wurden zum Schiff und in den mit Kohle gefüllten Laderaum geführt und sollten das mechanische Ausladen verbessern oder eher beschleunigen. Der Laderaum war etwa acht Meter breit und lang und nicht weniger hoch. […] In der nächsten Woche wurde ich in ein Kommando eingegliedert, das aus hundert Personen bestand und beim Bau einer Abschussrampe für V‐2 Raketen eingesetzt war. An diesem Bau blieb ich bis zum Ende meines Aufenthaltes in Farge. Der Bau der Abschussrampe fand im Wald statt, mindestens zehn Kilometer von unserem Lager entfernt. Die ganze Hundertpersonenkolonne lief zu Fuß drei Kilometer zum Bahnhof, dort stiegen wir in einen speziell für uns bereitgestellten Waggon ein, fuhren zwei Haltestellen und gingen dann wieder mindestens drei Kilometer zu Fuß in den Wald, zum Bau der Abschussrampe. Die ganze Reise dauerte in eine Richtung ungefähr eineinhalb Stunden. Die Kolonne führte einer der Wachmänner an, gleich hinter ihm trugen vier Häftlinge mit zwei Stangen eine Kiste mit Proviant für das Mittagessen. Darin waren Schwarzbrot, zwei cm dicke Scheiben, eine für jede Person, 20 Gramm Margarine pro Kopf und drei oder vier Kilogramm Malzkaffe, aus dem für uns in einem Hundertliterkessel warme Speisen zubereitet wurden. Während der halbstündigen Pause musste man sich auf den Kessel mit dem Kaffee stürzen und immer irgendwelche alten Büchsen für den Kaffe bei der Hand haben. Brot mit Margarine war garantiert. Trotz des mühseligen Transports hatte die Arbeit an diesem Bau ihre Vorteile, weil man in einer so großen Gruppe das Schaufeln, sogar in unmittelbarer Nähe des Wachmanns, vortäuschen konnte. Es gab aber auch Nachteile. Auf dem Bau arbeiteten neben den Häftlingen italienische Gefangene aus der sogenannten „Badoglio”‐ Gruppe und eine kleine Gruppe von Deutschen. Das Lager war bewacht, aber der Wald bot Gelegenheit zum Fliehen. Während meiner dreißigtägigen Arbeit an diesem Bau wurden vier Fluchtversuche unternommen. Einmal bat einer der Gefangenen um Erlaubnis, in den Graben zu gehen, um seine Notdurft zu verrichten. Aus diesem Graben begann er zu fliehen. Das wurde sofort bemerkt. Der dumme Kerl lief, statt in den Wald zu fliehen, auf einen waldlosen Hügel zu. Die Wachmänner begannen mit Freude wie auf Jagdwild zu schießen. Er war nicht weit, vielleicht 100 Meter entfernt. Er wurde schon durch den fünften oder sechsten Schuss getötet. Der andere Gefangene wurde bei einem Fluchtversuch bemerkt und mit Schreien zur Rückkehr aufgefordert. Er verzichtete auf seine Flucht und kam tatsächlich zurück. Schon im Wald wurde er gequält und im Lager für eine Woche im Bunker eingesperrt. In zwei anderen Fällen war, wenigsten hier am Bau, die Flucht gelungen. […]. Eines Tages am Morgen spürte ich, dass ich Fieber hatte. Ich meldete es dem Wachmann, aber er lehnte meine Meldung ab, weil er meinte, dass ich mich am Abend beim Arzt melden sollte. Als ich wiederholte, dass ich krank sei, bekam ich einen Schlag ins Gesicht und fiel in den Schnee. Ich stand sofort auf, weil ich mir bewusst war, was es bedeuten könnte, weiter krank zu sein. Der Wachmann gab nicht nach. Er befahl, dass ich als einer von vier die Kiste mit Essen tragen sollte. Diese Strafe hat mich gerettet. Die anderen drei trugen nicht nur die Kiste, sondern auch mich, der sich mit den Händen an den Stangen festhielt. Ich wusste was es bedeutete, krank zu sein. In diesem Lager bedeutete es mindestens in neun von zehn Fällen den Tod. […] Ich zwang mich zu all der psychischen Disziplin, zu der ich damals im Stande war. Und ich konnte viel leisten, ich war doch nicht einmal 23 Jahre alt. Außer Fieber, das mit der Grippe verbunden war, kriegte ich Durchfall. Ich konnte nichts essen, weil sogar ein kleines Stück Brot oder ein Schluck Suppe gezwungene Stuhlentleerung verursachte. Das war gefährlich. Ein Russe riet mir, ich solle mich über den Malzkaffeesatz hermachen. […] Ich aß diesen Kaffeesatz drei Tage lang und wurde gesund. Ich hatte 45 STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE 46 einen Vorteil gegenüber den meisten anderen Gefangenen, weil ich wusste, für welche Zeit ich verurteilt worden war und so konnte ich jeden Tag die noch verbleibenden Tage zählen. Endlich kam der letzte Tag und während des Morgenappells sagte man mir, dass Nummer 12804 heute nach Hause gehen könne. Ich ging nicht zur Arbeit, aber ich wurde auch nicht am Morgen freigelassen. Mit den sich noch bewegenden „Muselmännern” wurde ich dazu angetrieben, die Kohlrüben aus der Lagergrube herauszuholen. Die Grube war ziemlich groß, sie bot Platz für mehrere Tonnen. Wir sollten jede einzelne Kohlrübe von Erde befreien, in Körbe laden und in einen Wagen bringen. Die Arbeit war nicht schwer, aber psychisch nicht einfach, denn wie kann man so etwas tragen, reinigen und dabei nicht auch ein Stück anbeißen. Der Wachmann schrie drohend, aber die schrien ohnehin den ganzen Tag lang. Einen hat er doch gesehen, rief ihn aus der Grube heraus, nahm eine von den größeren Kohlrüben, steckte diese dem Ertappten in den Mund und ließ ihn in Habachtstellung stehen. Das schreckte die anderen Halbverhungerten jedoch nicht davon ab, es schreckte auch mich nicht ab. Ich wurde beim Annagen einer Kohlrübe erwischt und auch mir steckte man eine große Kohlrübe in den Mund. Ich stand mit der Kohlrübe im Mund fast eine Stunde lang da und es war eine der schlimmsten Folterungen, die ich erlebt habe. Am Nachmittag dieses Tages bekam ich meine Dokumente und Kleidung zurück und wurde zum Bahnhof gebracht. Als ich zum Hauptbahnhof Bremen kam, ging ich mich wiegen. Ich wog 38 Kilogramm, was bedeutete, dass ich in dem Straflager während der sechs Wochen 32 Kilogramm verloren hatte, d.h. 46% meines normalen Gewichts. In der Nähe vom Bahnhof gab es eine kleine Gaststätte, wo manchmal Gerichte ohne Lebensmittelkarten serviert wurden. Ich ging dorthin. Man brachte Kohlrübensuppe. Ich probierte sie und trotz des Hungers habe ich sie nicht herunterbekommen. Häftlinge arbeiten auf einem von der Gestapo beschlagnahmten Grundstück, Bydgoszcz / Bromberg, August 1942 (IPN) STRAFLAGER UND GEFÄNGNISSE 47 Jugendliche Häftlinge des Polen−Jugendverwahrlagers in Łódź / Litzmannstadt in einer Werkstatt, nach Dezember 1942 (MTNwŁ) SS−Sturmbannführer Karl Ehrlich, Kommandant des Polen−Jugendverwahrlagers in Łódź / Litzmannstadt, inspiziert die gerade eingetroffenen Kinder, Datum unbekannt (MTNwŁ) ZWANGSARBEIT 48 Zwangsarbeit ins der Hauptziele der Politik des Dritten Reiches war das Eingliedern der eroberten Gebiete in die wirtschaftliche Struktur Deutschlands sowie deren maximale Ausbeutung. Geplant war eine möglichst große Anzahl von Polen zum Aufbau der deutschen Wirtschaftskraft heranzuziehen. Ausländische Arbeiter sollten die zum Militär eingezogenen deutschen Bürger und die ausländischen Saisonarbeiter ersetzen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts regelmäßig eingestellt wurden. Um diesen Plan zu verwirklichen, wurde ein System zügig agierender Arbeitsämter aufgebaut. Bereits drei Tage nach dem Überfall auf Polen nahmen die Deutschen auf den besetzten Gebieten die ersten Arbeitsämter in Betrieb. Ab Oktober 1939 bestand auf den besetzten polnischen Gebieten bereits ein dichtes Netz dieser Ämter. Die Zwangsdeportationen der polnischen Bürger zur Arbeit im Dritten Reich können in mehrere Etappen eingeteilt werden. Die erste Etappe begann fast direkt nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen und hielt bis zur Einführung der zivilen Verwaltung an (IX. ‐ X. 1939). Fast gleichzeitig mit der Einnahme polnischer Territorien durch deutsche Truppen begannen Razzien in der Zivilbevölkerung, die vom Militär bzw. von dem Militär folgenden Polizeikräften durchgeführt wurden. Solche Aktionen dienten vor allem Propagandazwecken. Man versuchte den Deutschen einzureden, dass der Krieg und die Einnahme neuer Gebiete von hohem Nutzen seien. In der ersten Hälfte des Septembers 1939 schickte man eine Gruppe von 13000 Arbeitern nach Ostpreußen. Sie wurden zusammen mit gefangen genommenen Soldaten bei der Kartoffelernte eingesetzt. Besser organisiert waren die Deportationen nach der Entstehung von Arbeitsämtern. Diese begannen bereits in der zweiten Septemberhälfte 1939, Arbeiter nach Deutschland zu schicken. Die ersten Transporte fuhren aus Bromberg, Gdingen, Gnesen, und Oberschlesien. Die Arbeitsämter verfügten über Listen von Menschen, die als unsicher galten und zur Arbeit entsandt werden bzw. diese Gebiete auf andere Art und Weise verlassen sollten – die Listen wurden von Deutschen zusammengestellt, die in diesen Gebieten lebten. Die zweite Etappe der Anwerbung von Arbeitskräften erfolgte nach Einführung der zivilen Besatzungsverwaltung und dauerte bis zur Berufung des Amtes des Generalbeauftragten für den Arbeitseinsatz (26. Oktober 1939 – März 1942). In diesem Zeitraum wurden Kriegsgefangene massenhaft bei Zwangsarbeiten eingesetzt. Die Grundlagen der Gefangenenpolitik wurden bereits 1938 definiert. Laut diesen sollten die Gefangenenlager in Gebieten errichtet werden, die von Arbeitskräftemangel betroffen waren und die Arbeitsämter sollten ein Berufsverzeichnis aller Gefangenen führen, damit diese in ihren jeweils erlernten Berufen effektiv eingesetzt werden konnten. Die Anwerbung von Arbeitskräften und die Behandlung der lokalen Bevölkerung, darunter der intellektuellen Elite, verliefen auf den Gebieten, die in das Deutsche Reich eingegliedert werden sollten, etwas anders als im Generalgouvernement. Auf den in das Dritte Reich eingegliederten Gebieten wurde keine Anwerbung von Freiwilligen zur Arbeit durchgeführt. Dies hing mit der NS‐Ideologie zusammen, laut der Polen als Angehörige einer minderwertigen Art kein Recht auf Selbstbestimmung hatten. Deportationsaktionen nach Deutschland waren genau geplant. Auf der Grundlage der Namenslisten, die von den Arbeitsämtern zusammengestellt wurden, wurden Personen, die zur Deportation bestimmt waren, aufgefordert sich bei den Arbeitsämtern zu melden. In diesem Zeitraum konzentrierten sich die deutschen Behörden jedoch hauptsächlich auf die Umsiedlung von Polen in die Gebiete des Generalgouvernements und auf die Vorbereitung der eingegliederten Gebiete für die Besiedlung durch die deutsche Bevölkerung. Auf dem Gebiet des Generalgouvernements propagierte man dagegen während der gesamten Besatzungszeit die freiwillige Arbeit im Reich. Man sparte nicht an Propagandamitteln, die Kampagne brachte jedoch nicht die erwarteten Ergebnisse, weil die Bevölkerung großen Widerstand leistete. Anfang 1940 wurde klar, dass das Generalgouvernement die von oben diktierte Anzahl von Arbeitskräften nicht liefern kann. Bereits im Februar 1940 wurde die freiwillige Anwerbung durch unterschiedliche Zwangsmaßnahmen ergänzt. In Städten wurden Razzien durchgeführt, in Dörfern wurden Einwohner namentlich aufgerufen, sich an einem bestimmten Tag zur Abfahrt zur Arbeit bereit zu stellen. Zu diesem Zweck wurden die Polizei und die lokalen Behörden herangezogen, die zur Beschaffung eines von oben bestimmten Kontingents von Zwangsarbeitern verpflichtet wurden. Anfangs war dieses E ZWANGSARBEIT Vorgehen schlecht organisiert, aber bereits im April, als die zentralen Behörden darauf drängten, vorgegebene Kontingente an Arbeitskräften zusammenzustellen, begann man unmittelbar Zwang anzuwenden. Es wurde üblich, Familienmitglieder der arbeitsunwilligen Personen als Geiseln festzuhalten. Die Arbeitsämter waren befugt gegenüber Polen vielerlei Strafmaßnahmen, unter anderem körperliche, anzuwenden. Um den Bestellungen aus dem Reich nachzukommen, kooperierten die Arbeitsämter mit den lokalen Verwaltungsbehörden, den lokalen NSDAP‐Einheiten und allen Polizeiformationen. Trotz Anwendung verschiedener Repressionen durch die deutschen Behörden, wie Verhaftungen, Terror und präventiver Haft in Arbeitserziehungs‐ oder sogar Konzentrationslagern haben diese Maßnahmen nicht die erwarteten Resultate gebracht. Von den geforderten 500 000 Arbeitskräften gelang es, 50 000 Menschen zur Zwangsarbeiter in der Industrie und 160 000 zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft nach Deutschland zu schicken. Bis zum Jahr 1941 wurden die Fahrten nach Deutschland von Terror und Zwang begleitet. Auf von den Arbeitsämtern vorbereiteten Namenslisten landeten Personen, die laut den Ämtern das Deutsche Reich gefährdeten. Dies betraf Jugendliche und gebildete Menschen. Ihre Deportation nach Deutschland hatte präventiven Charakter – sie verhinderte deren Beteiligung an der Untergrundbewegung. Die Deportationen in das Dritte Reich nahmen im Jahr 1941 ab, als mit den Vorbereitungen für den Krieg gegen die Sowjetunion begonnen wurde. In dieser Zeit wurden Zwangsarbeiter auf polnischem Gebiet benötigt, besonders bei Straßen‐ und Bahnarbeiten. Während des Krieges gegen die Sowjetunion wurde es üblich, Einheimische zu Arbeiten in Frontnähe oder zum Transport von Waffen und Ausrüstung zu zwingen. Es ist schwierig, die Anzahl der Betroffenen zu schätzen, man weiß allerdings, dass es in den östlichen Gebieten, wo besonders lange Zeit die Front verlief, zahlreiche solcher Fälle gab. Bereits im Jahr 1941 begannen in den in das Dritte Reich eingegliederten Gebieten Arbeiter zu fehlen, die die industrielle Produktion auf hohem Niveau aufrechterhalten konnten. Die Besatzer verfolgten nämlich zwei kurzfristige, einander ausschließende Ziele. Einerseits wollten sie die polnische Bevölkerung aussiedeln und an deren Stelle Deutsche ansiedeln, andererseits wollten sie die industrielle Produktion erhöhen und Arbeitskräfte in das Altreich schicken. Dies war in stark industrialisierten Gebieten – in Großpolen und Schlesien ‐ besonders sichtbar, weniger dagegen im Regierungsbezirk Zichenau, der als Quelle an Arbeitskräften (hauptsächlich für die Landwirtschaft) für Ostpreußen diente. Diese Lage zwang die Behörden dazu, das Tempo der Aussiedlungsaktion zu reduzieren und darüber hinaus immer jüngere Kinder zu beschäftigen. Die nächste Etappe der Deportationen stellt der Zeitraum von der Berufung des Amtes des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz bis zur Niederlage in Stalingrad (März 1942 – Februar 1943) dar. Dieses Amt wurde kraft Hitlers Entscheidung zu einem eigenständigen Organ der staatlichen Verwaltung. Es verfügte über weitreichende Kompetenzen, um Arbeiter in den besetzten Ländern zu rekrutieren. Ab diesem Zeitpunkt waren nur von diesem Amt berufene Anwerbungsstellen befugt, Zwangsarbeiter zu rekrutieren. Im April ernannte man die für die einzelnen Verwaltungsbezirke verantwortlichen Gauleiter (durch die NSDAP beauftragte Leiter der Bezirke) zu Beauftragten für den Arbeitseinsatz in ihren Bezirken. Diese Reformen sollten zu einer Zentralisierung der Anwerbestellen führen und außerdem diese mit den lokalen Leitern der NSDAP in Verbindung bringen. Nach Durchführung der erwähnten Reformen begannen die Arbeitsämter wiederum mit der Anwerbung von Arbeitskräften. In diesem Zeitraum nahmen die Aktionen besonders grausame Formen an. Am 7. Mai 1942 erließ der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel eine Anordnung, laut der bei einem Mangel an freiwilligen Meldungen Zwangsrekrutierung erlaubt war. In einem geheimen Rundschreiben genehmigte Sauckel außerdem die Nichteinhaltung des Gesetzes zum Schutz polnischer Kinder. Folge dieser Vorgänge war ein noch stärkerer Terror gegenüber Polen und die Anwerbung immer jüngerer Kinder zur Zwangsarbeit. In diesem Zeitraum wurde auch die zwangsweise Beschäftigung von Frauen sanktioniert. Die vierte Anwerbungsetappe begann nach der Niederlage in Stalingrad und dauerte bis zum Ende des Krieges. In dieser Zeit galten bei der Anwerbung von Arbeitern keinerlei Regeln mehr. Es folgte die Mobilisierung zum „totalen Arbeitseinsatz“ mithilfe aller möglichen Mittel. Dieser Zeitraum ist geprägt von einer besonderen Grausamkeit gegenüber den zur Arbeit bestimmten Polen. Die Zwangsarbeiter mussten die immer jüngeren, an die Front berufenen Jahrgänge der deutschen Jugend ersetzen. Die Behörden des Dritten Reiches versuchten nicht einmal, den Schein von Anstand zu wahren. Arbeiter wurden mittels Razzien, „Pazifikationen“ und Massenaussiedlungen angeworben. 1943 wurden zigtausende Arbeiter zur Arbeit ins Deutsche Reich geschickt, die vorher brutal aus dem 49 ZWANGSARBEIT 50 Gebiet um Zamość vertrieben wurden. Im März 1943 wurden aus dem Warthegau 23 500 Menschen ausgesiedelt, die zur Arbeit in von Deutschen verwalteten Bauernhöfen auf dem Gebiet des besetzten Frankreichs geschickt wurden. Man bemühte sich außerdem, die schon Beschäftigten möglichst effektiv auszunutzen. Es wurde üblich, Frauen, Kinder unter 12 Jahren und KZ‐Häftlinge einzusetzen. Seit Anfang 1943 wurde den Behörden klar, dass eine hohe Sterblichkeit der Häftlinge in den KZs für Deutschland von Nachteil ist. Daher wurde den Familien der Häftlinge erlaubt, Lebensmittelpakete zu schicken, was angesichts des in den Lagern herrschenden Hungers zumindest eine kleine Besserung der Lage der Häftlinge bedeutete. Die letzten in das Deutsche Reich deportierten Zwangsarbeiter waren diejenigen, die vor der anrückenden sowjetischen Front zwangsweise evakuiert wurden. Für Manche endete dieser Weg tragisch‐ sie teilten das Schicksal ihrer „Herren“ und wurden von den Russen vor der Befreiung ermordet. Die Lage der in das Dritte Reich deportierten polnischen Zwangsarbeiter war sehr schwer. Deutsche Verordnungen diskriminierten besonders Polen und Bürger der Sowjetunion. Ihre Situation war schwieriger als die anderer ausländischer Fremdarbeiter. Mit Polen wurden im Dritten Reich keine Arbeitsverträge abgeschlossen. Die Anstellung erfolgte über eine amtliche Zuweisung einzelner Personen zu Arbeitgebern, die Bedarf an Arbeitskräften gemeldet hatten. Polen hatten kein Recht, ihren Arbeitsplatz selbst zu wählen oder zu wechseln. Die Arbeitszeit wurde vom Arbeitgeber festgesetzt. Die in der Landwirtschaft Beschäftigten mussten von den frühen Morgenstunden bis in die späten Abendstunden arbeiten, auch an Sonn‐ und Feiertagen. Ab 1942 war es nicht mehr erlaubt, Urlaub zu nehmen. Die deutschen Arbeitgeber sicherten keinen Schutz von Leben und Gesundheit zu, schwangere Frauen erhielten keinerlei Versorgung. Mutterschaftsurlaub dauerte ein paar Tage. Jugendliche arbeiteten unter denselben Bedingungen und genauso lange wie Erwachsene, Jugendliche erhielten jedoch einen geringeren Lohn. Die meisten Polen litten Hunger. Der Kaloriengehalt einer Tagesration überschritt 1500 Kalorien nicht. Den Polen wurde das Recht auf Erwerb jeglicher Artikel entzogen, die die Deutschen mithilfe von Lebensmittelmarken erwerben konnten. Die polnischen Arbeiter mussten ein aufgenähtes „P“ an ihrer Kleidung tragen. Es wurde ihnen verboten, ihren Wohnort ohne amtliche Genehmigung zu verlassen, sie durften sich auch nicht in öffentlichen Lokalen aufhalten, an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, heiraten, zur Kirche gehen oder ohne einen amtlichen Ausweis öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Es galt natürlich ein bedingungsloses Verbot jeglicher intimer Kontakte mit Deutschen. Die in der Landwirtschaft beschäftigten Polen wohnten in Wirtschaftsgebäuden, häufig gemeinsam mit Tieren. Die in der Industrie Beschäftigten lebten unter kasernenähnlichen Bedingungen – in Lagern. Sie wurden in Sammelunterkünften untergebracht (in Baracken, Tanzsälen, Feuerwachen), die nicht immer zum Wohnen geeignet waren. Die schwierigen Lebensbedingungen schadeten der Gesundheit der Arbeiter. Viele wurden krank, es stand ihnen jedoch keine medizinische Versorgung zu. Die Schwerkranken wurden nach Hause geschickt. Die Arbeiter unterlagen der Aufsicht der Gestapo und konnten sogar für kleine Vergehen oder aufgrund falscher Anschuldigungen von Seiten des Arbeitgebers ins Konzentrationslager geschickt werden. Neben den polizeilich‐gerichtlichen Repressionen waren die Polen Schikanen und Gewalt von Seiten ihrer Arbeitgeber ausgesetzt. Die deutschen Besatzungsbehörden verfügten über einen detailliert ausgearbeiteten Plan bezüglich der Verteilung der zur Arbeit deportierten Zwangsarbeiter. Diesem Plan zufolge sollten Polen lediglich in Gebieten des Altreiches beschäftigt werden. Diese Vorgaben wurden jedoch nicht erfüllt. Polnische Zwangsarbeiter arbeiteten fast auf dem gesamten durch das Dritte Reich kontrollierten Territorium. Im Norden, hinter dem nördlichen Polarkreis, gab es Männer, die von der Organisation Todt beim Bau von Schutzanlagen und Befestigungen beschäftigt wurden. Diese Organisation beschäftigte polnische Zwangsarbeiter auf den Normannischen Inseln (auf der Insel Jersey) und in Italien. Ungefähr 50 000 Polen arbeiteten in den Sudeten, 113 000 in Österreich und Slowenien, einige Tausende in Elsass, Lothringen, Luxemburg und Belgien, 23 500 in den besetzten Gebieten Frankreichs. Polen, die in so genannten „Bauzügen“ arbeiteten, reparierten beschädigte Gleise in allen vom Dritten Reich kontrollierten Ländern. Die Festlegung der genauen Anzahl aller deportierten Arbeiter ist sehr schwierig. Die Angaben variieren zwischen 1 700 000 (laut Ulrich Herbert) und 3 200 000 (laut Berechnungen der Betroffenen). Czesław Łuczak – ein polnischer Historiker, der sich mit der Wirtschafts‐ und Völkerpolitik des Dritten Reiches befasste, gibt eine Zahl von 2 857 500 Personen an. IRENA CHRZANOWSKA 51 IRENA CHRZANOWSKA Erinnerungen aus Ostpreußen Die Autorin wurde am 6. Februar 1926 geboren. Im August 1944 nahmen zurückweichende deutsche Truppen einen Teil der Bewohner des Dorfes Gostkowo (Landkreis Ostrów Mazowiecka), darunter auch die Autorin, gefangen. Sie wurden nach Królewiec (Königsberg) verschleppt und kam in ein Durchgangslager. Oft wurde sie zu Aufräumarbeiten oder zur Aushebung von Schützengräben eingesetzt. Im April 1945 wurde sie von den Russen aus Ostpreußen evakuiert. Sie war Zeugin von Gewalttaten an der Bevölkerung. Am 1. Mai 1945 kehrte sie nach Hause zurück. ZWANGSARBEIT 52 Trennung von der Familie Der 11. August 1944 war ein sonniger Tag. Von Osten her waren dumpfe Kanonenschüsse zu hören. In Gostkowo, im Heimatdorf meiner Mutter, ging das alltägliche Leben seinen gewohnten Gang. Die Anwesenheit deutscher Truppen sorgte zwar für Aufregung, aber die Hausbewohner bemühten sich, ihren Beschäftigungen ungestört nachzugehen. Plötzlich wurde es laut auf dem Weg, der durch das Dorf führte. Weinen und Schreie von Menschen mischten sich in das Brüllen von Rindern und in das Blöken von Schafen, die von Deutschen hergetrieben wurden. Die deutschen Offiziere liefen auf dem Hof umher und erteilten ihren Soldaten Befehle. Zwei von ihnen drangen in unsere Wohnung ein. Meine Kusine Halina und ich versteckten uns im Kleiderschrank. Sie brüllten meine Mutter an, sie solle ihnen den Schlüssel zum Pferdestall geben. Sie drohten ihr, sie zu töten, wenn sie ihnen die Tür nicht aufschließe! Als ich das hörte, konnte ich mich nicht beherrschen und sprang aus dem Schrank, meine Kusine mir nach. Die Deutschen ergriffen uns, so wie wir waren, barfuß und nur mit leichten Kleidchen und gelben, wollenen Blusen bekleidet, und trieben uns zu den anderen Menschen hin. Unter ihnen war auch meine Mutter, die die Deutschen weinend anflehte, sie nach Hause zurückkommen zu lassen, weil sie dort ein kleines Kind und ihren kranken Mann zurückgelassen habe. Ich war damals 18 Jahre alt, mein Bruder war drei Jahre jünger. Nach einigen hundert Metern wurde meine Mutter freigelassen, während man uns weiter forttrieb. Auf den Feldern zündeten die Deutschen das zu Garben gebundene Getreide an. Es war ja gerade Erntezeit. Die Bauern sahen, wie die Früchte ihrer Arbeit sowie ihr ganzes Hab und Gut vernichtet wurden, als die Flammen Felder und Gebäude ergriffen. Die dumpfen Kanonenschüsse und das Knistern des brennenden Strohs machten auf uns alle einen entsetzlichen Eindruck. In der Nähe des Dorfes Milanowo wurde eine Pause angeordnet. In einiger Entfernung sah ich ältere Frauen auf einem Hügel sitzen. Ich überredete meine Kusine und meine Freundin Zofia dazu, uns von der Gruppe zu trennen, und uns zu den Frauen zu setzen. Die Frauen nahmen uns wie ihre Kinder auf. Sie banden uns Kopftücher um und legten uns dunkle Mäntel um, damit unsere grellgelben Blusen nicht zu sehen waren. Die Freiheit währte jedoch nicht lange. Vor uns erschien plötzlich ein deutscher Soldat zu Pferde. Er zerrte an meinem Mantel und schrie: „Wo ist deine Schwester?“ Meine gelbe Bluse hatte mich verraten. Er schlug mir ins Gesicht, und im selben Moment erblickte er meine Schwester. Natürlich trieb er uns sofort zurück, zu der Gruppe von Menschen, die sich am Weg ausruhten. Wanderung ins Unbekannte Wir gingen weiter, dabei ritt die ganze Zeit der Deutsche hinter uns her, der zuvor unseren Fluchtversuch vereitelt hatte. Wir gelangten ins kleine Städtchen Andrzejewo. Das Städtchen war menschenleer. Niemand starrte uns an, niemand war vor dem Haus mit irgendetwas beschäftigt. Wir wurden auf einen großen Platz zwischen den Häusern getrieben, auf dem wir die Nacht verbringen sollten. Da es unter uns ziemlich viele junge Mädchen und Frauen gab, nahmen die Männer auf der Erde Platz, und zwar so, dass sie einen Ring um uns herum bildeten, zum Schutz vor den Soldaten. Wir waren nahe der Front und alles konnte passieren. Am frühen Morgen wurde das Signal gegeben, weiter zu marschieren, und zwar in Richtung Ostrów Mazowiecka, das 20 km von Andrzejewo entfernt war. Wir waren sehr hungrig und durstig. Immer derselbe Deutsche folgte uns mit seinem Pferd auf Schritt und Tritt und beobachtete all unsere Bewegungen, so dass wir uns auf keinen Fall von der Gruppe lösen konnten. Die Bäume am Wegrand waren einige Meter über dem Boden abgesägt und boten einen kläglichen Anblick. Daraus schlossen wir, dass die Deutschen dabei waren, sich auf diesem Gelände auf einen direkten Kampf vorzubereiten. Gleich hinter einem mit Wasser gefüllten Graben war ein Obstgarten und einige der Bäume lockten uns mit ihren Früchten. Ich hob zwei Birnen auf, eine davon gab ich Halina, die andere aß ich selbst mit großem Appetit. Danach trank ich etwas Wasser aus dem Graben. Meine Schwester begann, über Schmerzen in ihren Füßen zu klagen. Wahrscheinlich deshalb, weil sie den ganzen Weg barfuß gegangen war. Ich selbst verspürte noch keinen Schmerz. Wir wurden hinter einen Stacheldraht getrieben, wo einige Baracken standen. Daneben, auch hinter einem Stacheldraht, waren russische Kriegsgefangene eingesperrt. Plötzlich überfielen mich heftige Bauchschmerzen und ich fühlte mich völlig kraftlos. Die Schmerzen waren fürchterlich! Während der ganzen Nacht bekam ich Hilfe von einem jungen Mann; er trug mich mehrmals huckepack zur Toilette, die einige hundert Meter entfernt war. Schließlich wurde ein deutscher Arzt geholt, der mir irgendwelche Tabletten gab. Ich schluckte sie und sie halfen mir. Ich fühlte mich gleich besser. Meine Kusine litt aber immer noch an den Schmerzen in ihren Füßen. IRENA CHRZANOWSKA Nach einigen Tagen verließen wir unser von Stacheldraht umgebenes Gefängnis. Da ich immer noch zu schwach war, um zu Fuß zu gehen, und da auch meiner Kusine die Füße schmerzten, wurden wir in einem Pferdewagen gefahren. Alle übrigen Personen gingen zu Fuß. Schließlich erreichten wir die Eisenbahngleise in Ostrołęka. Wir wurden in Viehwaggons verladen. Unter uns waren auch Leute aus anderen Orten – größtenteils aus Łochów. Jene Leute hatten Bettwäsche und Geschirr dabei ‐ wir hatten nichts! In der Nähe der Station stand eine Feldküche. Einer aus der Gruppe rief: „Essen wird ausgegeben!“ Ich wurde hungrig. Da wir kein Gefäß dabei hatten, konnten wir nur auf die Hilfe anderer zählen. Eine Frau gab uns ein wenig von ihrer Suppe, damit wir uns stärken konnten. Obwohl ich gewisse Bedenken gegen die Suppe hatte, probierte ich sie. Ich hatte ja längere Zeit nichts gegessen. Die Erbsensuppe schmeckte gut und schadete mir nicht. Ich fühlte mich gut. Weitere Reise ins Unbekannte Nach einigen Tagen wurde eine Lokomotive an die Waggons angehängt, welche dann verschlossen wurden. Der Zug setzte sich in Bewegung. Wir wussten nicht, wohin wir transportiert wurden. Wir fuhren allerdings nur dann, wenn die Strecke frei war. Aber wir sahen keine Truppentransporte an die Front fahren. Und die Front kam immer näher… An der Station in Allenstein blieb der Zug stehen. Durch Ritze in den Wänden des Waggons sahen wir Menschen auf einen Personenzug warten. Eine deutsche Frau sagte zu einer anderen, man sollte uns zu Fuß treiben, anstatt uns mit einem Zug zu transportieren. Die Nächte waren schon ziemlich kühl. Wir saßen auf einem Strohlager, dicht aneinander gedrückt, damit uns wärmer wurde. Wir waren sehr schmutzig, wir hatten uns seit dem Aufbruch kein einziges Mal gewaschen. Es juckte uns am ganzen Körper. Uns war überhaupt noch nicht klar geworden, dass es Läuse waren, die den Juckreiz verursachten. Und wir spürten im Grunde genommen keinen Hunger. Nach mehr als zehn Tagen erreichten wir das Ziel unserer Reise, und zwar Königsberg. Wir wurden an einen Ort gebracht, wo die Abfälle der ganzen Stadt gesammelt wurden. Überall war ein scheußlicher Gestank zu spüren. Auf dem Gelände des Lagers standen über ein Dutzend Baracken, in denen wir vorübergehend wohnen sollten. Als die Nacht kam, stellte sich jedoch heraus, dass es unmöglich war, in den Baracken zu übernachten, weil die Holzgestelle der Betten völlig verwanzt (braunrot von Wanzen) waren. Wir beschlossen, die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Alle legten sich nebeneinander auf die Erde. Wer eine Woll‐ oder Daunendecke hatte, deckte sich damit zu, um nicht zu frieren. Uns nahm eine ältere Frau in die Arme. Der Schlaf dauerte aber nicht lange, weil Ratten auf den Liegenden herumliefen. Das war entsetzlich! Als es zu dämmern begann, waren wir immer noch wach, weil wir die ganze Zeit darüber nachdachten, was das Schicksal noch für uns bereithalten würde. Wir waren weit weg von unserer Familie und wussten nicht einmal, ob sie alle noch lebten oder ob unser Dorf vielleicht niedergebrannt worden war. Gegen Mittag wurde es rege am „Müll“. Es kam eine große Gruppe Deutsche – es waren Bauern. Plötzlich kamen zwei junge Männer zu uns. Sie fragten uns auf Polnisch, woher wir gekommen waren, und was es dort Neues über Polen zu hören gab. Es stellte sich heraus, dass sie schon längere Zeit keinen Kontakt mehr zu ihren Familien in Polen hatten, weil in den Gebieten, aus denen sie stammten, Kampfhandlungen stattfanden. In Königsberg waren sie zur Zwangsarbeit im Hafen eingesetzt worden. Als sie unsere müden Gesichter und unsere schmutzigen Hände und Füße sahen, boten sie uns an, sie zu ihrem Quartier im Hafen zu begleiten, damit wir uns waschen und etwas essen könnten. Wir hatten im Grunde nichts dagegen. Wir waren der Meinung, dass uns dort kaum etwas Schlimmeres würde passieren können, deshalb nahmen wir ihr Angebot an. Der Weg dorthin war nicht weit. Nach dem Bad fühlten wir uns großartig. Als wir aber unsere Kleider ausgezogen hatten, erschraken wir: In den Nähten unserer Unterwäsche und an der Oberbekleidung wimmelte es von Insekten. Da wir keine anderen Kleider hatten, mussten wir die, die wir hatten wohl oder übel wieder anziehen. Unsere neuen Bekannten brachten uns zum „Müll“ zurück. Sie sagten uns, dass wir sicher oft Hunger verspüren würden, falls wir in der Stadt bleiben würden. Aber wenn sie uns aufs Land mitnehmen würden, würden wir dort nicht mehr zu hungern brauchen. Außerdem wäre es dort natürlich auch weniger gefährlich für uns. In letzter Zeit gäbe es in der Stadt nämlich immer mehr Luftangriffe und Bombardements. Sie baten uns, ihnen zu schreiben, wo wir letztendlich landen würden und gaben uns ihre Adresse. Wir nahmen sie, obwohl wir nicht sicher waren, ob wir davon Gebrauch machen würden. Auf dem Platz blieben nur wenige Menschen übrig. Aufs Land nahmen die Bauern ganze Familien mit, einzelne Personen wurden niemandem zugeteilt. Die Menschen wurden ausgewählt wie auf einem Sklavenmarkt. Schließlich nahmen uns zwei junge Frauen mit, von denen eine Polnisch sprechen konnte. Zuerst wurden wir in einen Baderaum 53 ZWANGSARBEIT 54 geführt, damit wir unsere Läuse loswerden konnten. Dort wurden unsere Kleider und Unterwäsche zur Desinfizierung gebracht, während wir zum Bad geschickt wurden. Das war eine große Erleichterung! Vom ständigen Kratzen hatten wir schon sehr viele Wunden am ganzen Körper! Nach diesen Maßnahmen führten uns die jungen Frauen zu einem umzäunten Gebäude in der Berliner Straße, das sich ganz nahe bei einem Friedhof befand. Dort standen drei dreistöckige gemauerte Gebäude und einige Dutzend Holzbaracken. Das Gelände wurde von uniformierten Wachmännern bewacht. In einem der Gebäude befand sich ein Militärstab, ein anderes war für Frauen verschiedener Nationalitäten (Polinnen, Ukrainerinnen, Französinnen und andere) bestimmt, und das dritte bewohnten Männer. Lager Berta So hieß das Zwangsarbeiterlager, in das wir gebracht worden waren. Wir wurden im zweiten Gebäude einquartiert, und zwar in der Stube 9 im zweiten Stock. In der Mitte unserer Stube stand ein Tisch mit ein paar Schemeln. Auf der einen Seite befanden sich Etagenbetten mit Strohsäcken und Wolldecken und gegenüber standen fünf kleine Schränke – je ein Schrank für zwei Personen. Die Stube wurde durch eine Glühbirne erleuchtet. Das Fenster war mit einem dunklen Vorhang verdeckt, der während Luftangriffen kein Licht durchließ. Die Aufsicht über die Insassinnen hatte eine Lagerführerin namens Hanoski (wobei ich nicht sicher bin, ob ihr Name so geschrieben wird). In der Stube wohnten neun Personen. Im Vergleich zu dem, was wir bisher erlebt hatten, seitdem man uns aus unserem Elternhaus weggeholt hatte, spürten wir jetzt eine gewisse Erleichterung. Doch der erste Kontakt mit den Frauen, die mit uns das Zimmer teilten, war nicht besonders freundlich: Die bisherigen Insassinnen betrachteten uns als Eindringlinge, die ihnen einen Teil ihrer Rationen wegessen würden. Das war sehr unangenehm! Die Lebensmittelrationen waren tatsächlich sehr klein. Anfangs reichten sie jedoch für uns aus, weil nach drei Wochen Reisen und Hungern unsere Mägen so geschrumpft waren, dass wir nicht viel zu essen brauchten. Der an unsere Kleidung genähte Buchstabe „P“ war eine Art Ausweis im Lager, für den wir uns nicht im geringsten schämten. Wir trugen ihn mit erhobenem Haupt. Am zweiten Tag unseres Aufenthalts im Lager traten wir zum Appell an. Uns wurden Nummern zugewiesen, die im Lager unentbehrlich waren. Am Anfang wurden wir einer Gruppe zugeteilt, die damit beschäftigt war, ein Feuerschutzbecken auf dem Lagergelände zu graben. Die Arbeiten wurden von einem Offizier namens Wetter beaufsichtigt. Da wir Neuankömmlinge waren, sah man unseren Gesichtern die Müdigkeit an, außerdem waren wir sichtlich abgemagert. Obendrein hatten wir nach wie vor nur leichte Kleidung und liefen barfuß herum. Ein Offizier gab uns eine Schaufel. Er stellte uns an den oberen Teil einer Grube, damit wir mit der Schaufel Erde von den Personen annahmen, die tiefer unten gruben. Unter den Frauen, die an dem Becken arbeiteten, waren vor allem Ukrainerinnen. Die Arbeit war für uns sehr schwer, aber der Offizier war zum Glück recht gutmütig – er trieb uns nicht zu größerer Anstrengung an. Am ersten Tag brachte er uns nach Arbeitsende in eine der Baracken, in der große, schön geordnete Stapel Militärkleidung und Stiefel lagen. Dort durften wir uns braune Mäntel sowie Hosen und Stiefel aussuchen, und sogar auch hausschuhähnliche „Laufschuhe“, wie sie genannt wurden. Wir waren nun einigermaßen anständig gekleidet. Während der nächsten Tage froren wir bei den Morgenappellen nicht mehr so wie beim ersten Mal. Die Arbeit an der Aushebung des Beckens dauerte noch mehr als zehn Tage. Die Lebensmittelrationen waren anfangs ausreichend. Für einen ganzen Tag bekamen wir ein kleines Stück Brot und ein winziges Stück Margarine. Das Mittagessen, das wir nach Arbeitsende in der Kantine zu uns nahmen, bestand hauptsächlich aus Kohlrübensuppe oder Suppe mit Graupen. Manchmal wurden uns auch Pellkartoffeln mit einer süß schmeckenden Soße gegeben. Die Kartoffeln waren oft angefault und eigentlich kaum genießbar. In derselben Kantine aßen auch deutsche Offiziere, aber ihre Speisen waren unvergleichlich besser. Als die Arbeit an der Aushebung des Beckens zu Ende war, wurden wir zur Sortierung von Kleidungsstücken, Stiefeln sowie von Patronengürteln, Pistolentaschen oder ähnlichem abkommandiert. All das Zeug wurde von der Front hergebracht. Die Kleider waren meistens schmutzig, blutverschmiert, zerrissen oder von Kugeln zerfetzt. Die schmutzigen Sachen wanderten in die Waschküche, und die zerrissenen in die Nähwerkstatt. In diesen Einrichtungen arbeiteten Polen und Menschen anderer Nationalitäten, darunter auch Deutsche, die zum Kampf an der Front ungeeignet waren. Dort arbeiteten mit uns auch deutsche Frauen, die in erster Linie kontrollierten, ob wir die uns zugewiesene Arbeit auch richtig erledigten. IRENA CHRZANOWSKA Im Laufe der Zeit spürten wir den Hunger immer mehr. Unsere Mitbewohnerinnen holten sich oft zusätzliches Essen aus der Stadt. Viele Zwangsarbeiter waren in einem Betrieb in Königsberg beschäftigt, sie hatten also Kontakte zu verschiedenen Leuten und damit die Möglichkeit, sich Essen zu besorgen. Halina und ich beschlossen den Männern, die wir im Hafen kennengelernt hatten, einen Brief zu schreiben. Wir beschrieben ihnen darin unsere Situation und berichteten, dass wir immer hungriger wurden. Wir schickten den Brief ab, ohne wirklich zu hoffen, dass sie ihn auch bekommen würden. Nach ungefähr zwei Wochen teilte uns ein Wachmann mit, dass draußen am Tor zwei Männer stünden, die mit den neu aus Polen angekommenen Schwestern sprechen wollten. Wir liefen schnell zum Tor und erkannten sofort unsere Bekannten vom „Müll“ wieder. Es war eine große Freude für uns! Sie reichten uns zwei Taschen durch den Zaun hindurch und baten uns, diese zu entleeren und sie ihnen gleich leer zurückzubringen. Wir wussten nicht, womit wir uns bei ihnen für ihr gutes Herz revanchieren sollten…Wir füllten den kleinen Schrank in unserer Stube mit dem Inhalt der Koffer. Wir hatten Brot, Margarine, Marmelade, Konserven und Lebensmittelmarken für Kuchen bekommen. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir später noch einmal eine derartige Hilfe bekommen haben. Da wir in den Baracken arbeiteten, hatten wir Zugang zu verschiedenen Dingen, die für die Front notwendig waren. Eines Tages beschlossen wir, zwei wollene Pullover zu organisieren, um sie als Dank den jungen Männern zu schenken. Sie hatten uns schon bei unserer ersten Begegnung erzählt, dass sie bei ihrer Arbeit im Hafen zwar genug zu Essen, aber nur unzureichende Kleidung hätten. Deshalb hielten wir es für richtig, ihnen die Pullover zu schenken – der Winter stand schließlich schon vor der Tür. Die Pullover aus unserer Stube mitzunehmen war leicht. Viel schwieriger war es dagegen, sie zum Tor hinauszutragen und sie unseren jungen Bekannten mitzubringen. Das war sehr riskant. Wir hatten keinen Schein, der uns erlaubte, das umzäunte Gelände zu verlassen. Wir warteten einen günstigen Augenblick ab, als kein Wachmann da war und schlichen uns heimlich auf die Straße hinaus. Niemand bemerkte uns. Wir hatten die Adresse, also gingen wir zum Hafen. Die jungen Männer trafen wir in ihrem Quartier an. Sie waren sehr überrascht. Wir zogen die Pullover aus und gaben sie ihnen als Dank für ihre Freundlichkeit. Aber anstatt uns dafür zu danken, machten sie uns klar, wie groß die Gefahr war, der wir uns dabei aussetzten, da es uns ja verboten war, den Waldbereich zu verlassen. Wenn wir erwischt worden wären, dazu auch noch mit Armeepullovern, hätten wir dafür in ein Konzentrationslager kommen können. So etwas kam nie wieder vor. Die jungen Männer sollten wir auch nie wiedersehen. Wahrscheinlich wurden sie zu Schanzarbeiten verschickt, weil die Front immer näher an Königsberg heranrückte. Der Winter war gekommen. Zu Weihnachten beschäftigte man uns damit, die Militäroberbekleidung weiß anzustreichen. Das war eine sehr mühsame Arbeit, die Genauigkeit erforderte. Immer wenn die Deutsche, die unsere Arbeit beaufsichtigte, eine ungenau angestrichene Stelle bemerkte, brüllte sie uns fürchterlich an und gab uns das Kleidungsstück zur Nachbesserung zurück. Wir wurden auch zur Aushebung von Schützengräben um Königsberg herum eingesetzt. Wir wurden sehr früh geweckt, als es noch dunkel war. Wir gingen durch die Stadt bis zur Eisenbahnstation und sangen polnische Lieder. Meistens waren das polnische Nationallieder. Die Deutschen reagierten nicht darauf. Wahrscheinlich ahnten sie, dass ihr Ende nahe war. Wir für unseren Teil taten bei der Aushebung der Schützengräben häufig nur so, als ob wir grüben. Oft verließen wir unseren Arbeitsplatz unter dem Vorwand, dass wir unsere Notdurft verrichten müssten. Auch dann, wenn wir die Kleidung anstrichen, liefen wir oft weg, um uns auf dem Dachboden zu verstecken. Stundenlang lagen wir dort unter dem Dach, obwohl wir natürlich Riesenangst hatten. Auf dem Dach des Gebäudes befand sich ein Beobachtungsposten, der oft von Soldaten betreten wurde, unsere Angst war also durchaus begründet. An den Abenden beobachteten wir vom Dach aus leuchtende Raketengeschosse von Stalinorgeln. Sie flogen am Himmel wie Feuerwerke und erfüllten unsere Seelen mit Freude. Wir hofften, bald nach Hause zurückzukehren… Der Schrecken der Bewohner unserer Baracke war die schon erwähnte Lagerführerin Hanoski. Sie platzte oft zur Abendzeit in die Stube herein, um zu kontrollieren, ob nach 22 Uhr die Lichter aus waren. Der Lagerführer der Baracke, in der Männer wohnten, war angeblich weniger streng. Das Fehlen jeglicher Nachrichten aus Polen führte dazu, dass wir die Sehnsucht nach unserer Familie und die Besorgnis wegen der Ungewissheit, ob es ihr gut ging, durch Magie zu lindern versuchten. Im Nebenzimmer wohnte eine junge Frau, die Geister zu beschwören wusste. Durch ihre okkulten Fähigkeiten erfuhr ich von ihr, dass meine Eltern immer noch lebten und dass der Name meines zukünftigen Mannes Jerzy sein würde (das hat sich wirklich bewahrheitet!). 55 ZWANGSARBEIT 56 Zu diesen spiritistischen Sitzungen pflegte auch die stellvertretende Lagerführerin zu kommen. Sie war ganz anders als Hanoski, sowohl in ihrem Benehmen als auch im Kontakt mit anderen Menschen. Die Kälte setzte uns immer mehr zu. Wir hatten zu wenig Brennmaterial, um mit dem Ofen die ganze Stube zu heizen. Aber wir fanden eine Lösung: Zwischen der Friedhofsmauer und unserem Gebäude wurden Kohlen gelagert, die von einem uniformierten Deutschen bewacht wurden. Eine unserer Aufgaben beim Sortieren der Sachen, die von der Front kamen, war es, deren Taschen zu leeren. Oft fanden wir darin Zigaretten oder Zigarren, mit denen wir dann den Wachmann bezahlten. Als Gegenleistung erlaubte er uns von Zeit zu Zeit, unsere Kanne mit Kohlen zu füllen. Die Kanne ließen wir aus dem Fenster an einer Schnur herunter, wir füllten sie mit Kohlen und zogen sie bis zum zweiten Stock zum Fenster wieder herein. So brauchten wir nicht zu frieren. Und wieso an einer Schnur? Wie ich schon beschrieben habe, war die Lagerführerin allgemein gefürchtet, also konnten wir die Kohlen nicht einfach so die Treppe hinauftragen. Halina wurde in die Küche versetzt. Anfangs fühlte ich mich einsam, aber bald zeigte es sich, dass ihre Arbeit dort unsere Verpflegungsprobleme löste. Halina brachte jeden Tag ein Stück gekochtes Pferdefleisch mit. Sie wickelte es in Papier ein und steckte es sich in die Tasche. Ich aß es jedes Mal mit großem Appetit auf. Fleisch war eigentlich nur für Deutsche bestimmt. Was mich angeht, so war ich bei der Arbeit ziemlich ungehorsam. Ich lehnte es ab, nach getaner Arbeit aufzuräumen, wenn deutsche Frauen es mir befahlen. Sie beschwerten sich dann über mich bei dem verantwortlichen Offizier, aber oft brauchte ich trotzdem nicht ihrem Befehl nachzukommen. Ich wollte Gerechtigkeit – die deutschen Frauen sollten auch keine Unordnung hinterlassen. Das passive Verhalten des Offiziers deutete darauf hin, dass das Ende der deutschen Herrschaft immer näher kam. Jeden Abend beobachteten wir sowjetische Raketen, die aus Stalinorgeln abgefeuert wurden. Deutlich hörten wir Befehle, die von Russen über Lautsprecher durchgegeben wurden. Bei Luftangriffen auf Königsberg heulten Sirenen. Die Deutschen flüchteten sich in Keller, während wir Ausländer unsere Baracken verließen. Die Deutschen ärgerten sich über uns und sagten, wir würden damit noch Unheil über sie und uns heraufbeschwören. Zum Schluss setzte man mich dazu ein, Pakete in Waggons, Lastwagen oder auf Pferdewagen zu laden. Die Arbeit war sehr schwer. Es arbeiteten daran einige Frauen unter Aufsicht eines litauischen Offiziers namens Nowak. Die Waren wurden meistens von Polen abgeholt. Jedes Mal, wenn Nowak einen Polen erkannte, geriet er in große Wut. Er ergriff dann einen Stock oder einen ähnlichen harten und scharfen Gegenstand und stürzte sich auf ihn, sicher mit der Absicht, ihm etwas anzutun. Frauen gegenüber zeigte er aber kein aggressives Verhalten. Die Luftangriffe wurden immer intensiver. Es wurden Bomben sowie Flugblätter abgeworfen, die zur Kapitulation aufriefen. Darin wurde gedroht, die Stadt würde anderenfalls dem Erdboden gleichgemacht werden. Deutsche Behörden reagierten darauf, indem sie an Gebäudemauern Plakate anklebten, auf denen sowjetische Soldaten zu sehen waren, wie sie Frauen ermordeten und ihnen die Brüste abschnitten. Von der Front her waren immer wieder russische Lautsprecher‐Aufrufe zu hören. Wir waren immer sicherer, dass das Ende der deutschen Herrschaft kurz bevorstand. Wir wussten nur nicht, was dann aus uns werden würde… Die Frauen erzählten sich verschiedene Gerüchte, nach denen die Deutschen uns auf dem Seeweg zu evakuieren beabsichtigten. Das hörte sich entsetzlich an, weil anderen Gerüchten zufolge die Gewässer der Bucht und der ganzen Ostsee vermint wären. Ein Glück, dass es letztendlich nicht dazu kam. Die Deutschen hatten einfach keine Zeit dazu, nachdem sowjetische Truppen in die Vororte der Stadt eingedrungen waren. Die Offensive schritt weiter fort. Die Deutschen öffneten ihre Lagerhäuser; dort konnte man sich alles holen, was man wollte. Manche nutzten diese Gelegenheit, aber dazu brauchte man Nerven wie Drahtseile! Andere suchten Zuflucht in den Kellern unseres Gebäudes. Sogar Offiziere flüchteten sich zu uns. Bombenexplosionen und Schüsse wollten nicht aufhören. Das Gebäude, im dem sich ein Stab befand, wurde völlig zerstört, die Baracken standen in Flammen. Auch Offizier Wetter fand Zuflucht bei uns Polen. Wir hassten ihn nicht, weil er uns – wie gesagt – immer gut behandelt hatte. Er bekam von uns sogar Zivilkleidung, was es ihm ermöglichte der sowjetischen Gefangenschaft zu entgehen. Nowak dagegen, wie wir später erfuhren, wurde erhängt. Die Lagerführerin entkam. Die ganze Zeit wurden Straßenkämpfe ausgetragen. Man hörte Gewehrschüsse und Explosionen von Granaten. Schließlich betraten sowjetische Soldaten das Lagergelände. Sie kamen in den Keller herunter und riefen auf Russisch: „Wer ist da?“, „Habt ihr Schuhe und Uhren?“. Es waren auch russische Zurufe „Hände hoch!“ zu hören. Man jagte uns alle aus dem Keller hinaus. Beim Hinauslaufen bemerkten wir im dritten Stock unseres Gebäudes deutsche Soldaten, die von einer Ecke her mit ihrem Maschinengewehr in unsere Richtung zielten. Aber wir kamen mit dem IRENA CHRZANOWSKA Schrecken davon. In jenem Augenblick träumte ich nur noch davon, dass Gott uns erlauben würde, aus dieser Hölle heil herauszukommen und lebend nach Hause zurückzukehren. Der 6. April 1945 Die Russen führten uns aus dem Lagergelände hinaus. Alles ringsherum brannte . Sie befahlen uns, hinter die Brücke über den Pregel zu fliehen. Geschosse trafen ins Wasser und donnerten über unsere Köpfe hinweg. Ein Glück, dass die Brücke noch nicht zerstört worden war. Die Deutschen verteidigten sich die ganze Zeit in einem Bunker. Über uns flogen Flugzeuge herum und wir waren dabei zu fliehen. In Gräben lagen viele tote und verletzte Menschen, aber auch tote Pferde. Die Verletzten baten uns um Hilfe, aber wir konnten nichts für sie tun. Das war entsetzlich! Wenn über unseren Köpfen Geschosse explodierten, warfen wir uns alle wie auf Kommando zu Boden. Ein Geschoß zerplatzte ganz in unserer Nähe und schüttete Erde über Maria. Sie schrie, sie wäre verletzt, aber zum Glück war sie es nicht – sie war nur in Panik geraten. Wir entfernten uns einige Kilometer von der Stadt. Wir waren insgesamt einige hundert Personen. Außer uns Polen waren da alte deutsche Männer und junge deutsche Frauen, Zigeuner sowie Menschen anderer Nationalitäten. Wir erreichten einige Gebäude, die ein wenig wie Hangars aussahen. Was wir dort drinnen vorfanden, ist schwer zu beschreiben. Unzählige getötete Soldaten und tote Pferde. Wir zogen uns schnell zurück... Auch auf den Feldern lagen verwesende Leichen gefallener Soldaten. Die Nacht verbrachten wir in einem Fabrikgebäude. Wir legten uns auf Tische in der Mitte des Raumes und unter den Tischen versteckten sich junge deutsche Frauen. Maria wollte unbedingt in den Korridor gehen, um etwas Wasser zu trinken. Ich wollte sie davon abhalten, indem ich ihr klarzumachen versuchte, dass das Wasser vergiftet sein könne. Über die Gegend war ja schließlich die Front hinweggerollt. Plötzlich stieß uns jemand von der Treppe ins Erdgeschoß. Zwei Soldaten ergriffen Maria und schleppten sie davon, während ich mich an der Pritschenklappe eines Lastwagens festklammerte und zu schreien anfing: „Hilfe!“ Ich schrie so laut und hielt mich so an der Klappe fest, dass plötzlich jemand zu schießen begann und so die Angreifer wegjagte. Sonst hätte das tragisch für uns enden können. Der Mann, der uns durch Schüsse gerettet hatte, rief uns dann zu, wir sollten zu ihm kommen. Aber wir waren von dem Vorfall so erschreckt, dass wir ihm nicht trauten und schnell ins Gebäude zurückliefen. Maria war nichts passiert – sie war so dick bekleidet, dass sie aus der ganzen Situation heil herausgekommen war. Wir konnten nicht schlafen, aber das konnte niemand. Die Soldaten kamen immer wieder und holten unter den Tischen die verängstigten deutschen Frauen hervor, und zwar unter dem Vorwand, dass deren Papiere kontrolliert werden müssten. Sie kamen weinend zurück, oft in zerrissenen Kleidern. Die Polinnen wurden nicht angerührt. Am nächsten Tag machten wir uns wieder auf den Weg. Die darauffolgende Nacht verbrachten wir in einem Gefängnisgebäude. Diesmal schliefen wir auf Pritschen, mehrere Personen auf je einer Pritsche. Wir waren sehr müde. Wir fragten die Soldaten, wohin sie uns brachten. Nach Białystok, antworteten sie. Dort würden wir angeblich Ausweispapiere erhalten und jeder von uns würde dann seines Weges gehen können. Danach ruhten wir uns meistens am Rande eines Waldes aus. Die Nächte verbrachten wir auch im Wald, obwohl es kalt war. Die Russen zündeten ein Feuer an, und wir wärmten uns daran, indem wir ihm zuerst das Gesicht, und dann den Rücken zudrehten. Eines Tages machten wir Halt in einem Ort, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Es waren viele Truppen da. Wir wurden vor einem Gebäude versammelt und der Reihe nach hineingelassen. Dort wurde uns befohlen, dass wir uns nackt ausziehen sollten. Ein Soldat in einem weißen Kittel tauchte einen Pinsel in irgendeine Lösung und bestrich mit diesem Zeug jeden von uns unter den Achselhöhlen und auch tiefer unten. Besonders für uns Frauen war das sehr demütigend, weil draußen Soldaten standen, die uns durch Fenster ohne Vorhänge lachend anstarrten. Wir wurden so lange dieser Behandlung unterzogen, bis wir alle desinfiziert worden waren. Dann setzten wir unseren Weg fort. Täglich legten wir zu Fuß ungefähr 25 Kilometer zurück. Die ganze Zeit hörten wir Gewehrschüsse. In den meisten größeren Orten standen Feldküchen, wo warmes Essen ausgegeben wurde. Dort wurde immer nach Leuten gesucht, die man zum Kartoffelschälen anstellen konnte. Ich erinnere mich noch daran, dass ich immer Pech hatte, weil ausgerechnet ich stets für diese Arbeit ausgesucht wurde. Die Männer wollten, dass uns das erspart bliebe und meldeten sich freiwillig zur Arbeit in der Küche. Keiner von uns hatte Vertrauen zu den sowjetischen Soldaten. Meistens standen sie unter Alkoholeinfluss. 57 ZWANGSARBEIT 58 Eine Nacht verbrachten wir in einem Dorf. Dort gab es keine Bewohner mehr, die Häuser waren leer und verlassen. Halina und ich betraten einen Dachboden. Dort stand ein Bett mit Bettwäsche. Als wir die Daunendecke zurückgeschlagen hatten, sahen wir in dem Bett eine tote Frau liegen. Wir liefen sofort weg. Danach suchten wir uns nur noch in Scheunen einen Ruheplatz, da wir jenes traurige Bild stets vor Augen hatten. Wieder in Polen Nach vielen Strapazen erreichten wir endlich die polnische Grenze von vor dem Zweiten Weltkrieg. Danach erreichten wir Grajewo. Für eine Nacht wurden wir in einem Schulgebäude untergebracht. Wir waren ungefähr hundert Personen. Auf dem Weg zu der Schule wurden wir von einer Frau angesprochen, die uns sagte, dass die Menschenkolonnen, die jetzt von den Russen nach Białystok geschleppt wurden, später nach Sibirien deportiert werden würden. Wir täten also gut daran, uns von der Gruppe heimlich abzusetzen und auf eigene Faust den Weg nach Hause zu finden. Die Frau bot uns ihre Hilfe an und gab uns ihre Adresse für den Fall, dass wir bei ihr mal unterkommen wollten. Wir beschlossen, ihr Angebot anzunehmen. Maria, Janka, Zofia, Halina und ich, wir alle wohnten nämlich nicht weit weg voneinander. Bis nach Białystok hätten wir aber noch einige Dutzend Kilometer zu Fuß zurücklegen müssen. Es hatte also keinen Zweck, mit der ganzen Gruppe von Menschen weiter zu marschieren. In der Nacht verließen wir das Schulgebäude und versteckten uns im Gebüsch. Unsere Wanderung auf eigene Faust begannen wir schon am frühen Morgen. Wir hatten keine Ausweispapiere. Meine Freundinnen trugen kleine Rucksäcke, während ich nur ein kleines Köfferchen hatte, sonst nichts. Wir kamen zum Polnischen Roten Kreuz, wo wir eine Bescheinigung darüber erhielten, dass wir von Zwangsarbeiten in Ostpreußen zurückgekommen waren. Da wir schon sehr müde waren, folgten wir der Einladung der Frau, die wir in Grajewo kennengelernt hatten. In ihrer Wohnung herrschte große Unordnung. Auf Betten lagen Stapel von Daunendecken und Kissen, die wahrscheinlich gestohlen waren. Die Frau gab uns eben dieses Bettzeug zum Schlafen. Wir schliefen bis zum Abend. Dann zogen wir uns um und beschlossen, einen Spaziergang zu machen, um die Stadt zu erkunden. Wir glaubten, es könnte uns nichts mehr passieren, da wir ja im freien Polen wären. Leider sollte es anders kommen... Niemand hatte uns davor gewarnt, abends und nachts durch die Stadt zu gehen. Das war aber streng verboten, weil russische Behörden eine nächtliche Ausgangssperre verhängt hatten. Wir hatten uns schon etwas vom Haus entfernt, als wir plötzlich den Befehl „Hinlegen!“ hörten. Ich dachte, das wäre ein Scherz und brach unwillkürlich in Gelächter aus. Aber dann fielen Schüsse. Ein paar russische Soldaten ergriffen uns und trieben uns in ein Gebäude mit Kellern hinein. Die ganze Nacht lang brachte man verschiedene Personen dorthin, meistens Betrunkene, aber auch Prostituierte. Im Keller saßen wir in der Hocke bis zum Morgen, dicht aneinander gedrückt und verängstigt. Am frühen Morgen kam ein Soldat und führte uns in ein Gebäude, wo Soldaten einquartiert waren. Dort wurde uns befohlen, den Fußboden sauber zu waschen. Natürlich weigerte ich mich, das zu tun, wodurch ich meine Situation nur noch verschlimmerte. Die Mädchen wurden nach getaner Arbeit entlassen, aber ich wurde zurückbehalten. Man wies mich auch noch an, den Hof sauber zu fegen. Vor Ärger und Ratlosigkeit brach ich in Weinen aus. Ein vorübergehender Mann bemerkte das und erklärte sich bereit, den Hof für mich sauber zu fegen. Auf seine Bitte hin wurde ich entlassen. Die Mädchen warteten am Zaun auf mich. Wir kamen schließlich in die Wohnung der Frau zurück. Unsere Gastgeberin war gar nicht darüber erstaunt, dass wir die Nacht außer Hause verbracht hatten. Es stellte sich aber heraus, dass wir bestohlen worden waren – meine Schuhe waren weg und aus den Rucksäcken der Mädchen waren viele Sachen verschwunden. Am nächsten Tag verließen wir Grajewo und gingen Richtung Łomża. Die ganze Zeit gingen wir zu Fuß. Anfangs ging ich noch in Socken (meine Schuhe waren schon nach ein paar Kilometern auseinandergefallen), später dann barfuß, als auch die Socken völlig zerrissen waren. Zwischen Zambrów und Czyżew ließ uns ein Mann einige Kilometer in seinem Fuhrwerk mitfahren. Er wollte aber etwas dafür bekommen. Wir hatten nichts, eines der Mädchen gab ihm also ihren wollenen Pullover. Den weiteren Weg gingen wir wieder zu Fuß. Bis nach Gostkowo war es zwar nicht mehr weit, aber uns schien der Weg dorthin sehr lang. Wir hofften jedoch darauf, bald unsere Familien wiederzusehen. In der Nähe unseres Dorfes sahen wir Kühe auf der Weide grasen. Dort bemerkten wir auch einen Jungen, der sich in unsere Richtung umdrehte. Als er uns kommen sah, lief er schnell zum Haus, laut rufend: „Unsere Mädchen kommen!“ Das war Halinas Bruder. Es war der 1. Mai 1945. Alle, die im Haus waren, liefen auf den Hof hinaus. Sie konnten einfach nicht glauben, dass wir es waren! So hat der Alptraum dieser neun Monate meines Lebens geendet. JAN SROKA 59 JAN SROKA Bericht über die Zwangsarbeit im Dritten Reich Der Autor dieses Berichts wurde 1927 in Brudzewice, in der Woiwodschaft Kielce, geboren. Im Jahre 1942 kam er als Zwangsarbeiter nach Reichhennersdorf (Przedwojów) in den Sudeten. Er hatte sich anstelle seiner Mutter zur Arbeit gemeldet. Im Juni 1944 wurde er verhaftet, da er im Besitz eines selbst gezeichneten Plans der Ortschaft, in der er arbeitete, war. ZWANGSARBEIT 60 […] Während einer Razzia am 24. Februar 1942 wurde meine damals vierundvierzig Jahre alte Mutter festgenommen und nach Opoczno verschleppt. Die gefangenen Personen wurden an verschiedenen Orten festgehalten, unter anderem in der Grundschule in der Tomaszewska Straße. Es wurden Protokolle verfasst und ältere Personen wurden gegen jüngere, gesündere und arbeitsfähige ausgetauscht. Sie sollten am 1. März 1942 mit dem Zug aus Opoczno abtransportiert werden. Mein Vater ging zur Deportationskommission und bat um die Entlassung seiner Ehefrau, da sie ihre kleinen Kinder betreuen musste. Die Antwort, die er erhielt, lautete: „Ihre Ehefrau lassen wir im Tausch gegen jemanden anderen, jüngeren gehen“. Der Abfahrtstermin rückte näher und die Situation in unserer Familie spitzte sich zu. Andere hatten ihre Kinder bereits gegen die Eltern ausgewechselt. Der Vater bedauerte jedes seiner Kinder, aber seine Frau bedauerte er noch mehr. Einen Tag vor dem Abtransport trommelte der Vater alle Kinder zusammen, um einen Familienrat abzuhalten. Er fing laut an zu weinen und sagte, er beklagte jedes seiner Kinder, doch einer von uns müsste anstelle der Mutter nach Deutschland fahren. Wir brachen alle in Tränen aus, so wie unser Vater. Am schwierigsten war es, eine Person zu bestimmen, die fahren sollte. Vater sagte: „Stasiek (20) ist unser ältester Sohn und ich brauche ihn für die Arbeit auf dem Hof. Józiek (17) hat gesundheitliche Probleme und kränkelt oft, es wird schwer für ihn, den Krieg als Zwangsarbeiter in Deutschland zu überstehen. Janek (15) ist etwas zu jung für Schwerstarbeiten und ich bin nicht allzu sicher, ob sie ihn im Tausch gegen die Mutter annehmen werden. Die anderen Kinder kommen überhaupt nicht in Betracht, da sie zu jung sind. Sagt ihr mir, was wir machen sollen. Sollen wir zulassen, dass eure Mutter und meine Ehefrau nach Deutschland fährt, während wir hier alleine bleiben? Äußert euch dazu“. Stasiek war froh, dass der Vater auf jemanden anderen als ihn selber deutete. Józiek sagte nichts. Dann war ich an der Reihe. Nach kurzer Überlegung erklärte ich, dass ich noch zu jung für solch schwere Arbeit sei, ich könnte wohl nur Hilfsarbeiten erledigen. Man müsse auch in Kauf nehmen, dass ich nicht mehr zurückkehren werde, denn es werde schwierig sein, dort den Krieg zu überleben. Aber wenn Papa meint, ich solle anstatt Mama fahren, dann mache ich das. In diesem Augenblick hatte ich Angst, aber gleichzeitig fühlte ich mich wie ein Held. Ich dachte mir, dass man mich in dieser Familie nicht braucht, dass sie mich loswerden wollen, aber andererseits werde ich somit zu Mamas Befreier und einem Helden. Der Gedanke überzeugte mich, dass meine Mission für meine Mutter von Nutzen sein würde. Darum sagte ich es noch einmal laut vor allen: „Ich habe mich dazu entschlossen, für Mama nach Deutschland zu fahren“. So fand sich eine Lösung für das schwierige und schmerzvolle Problem meiner Familie. Am nächsten Tag mussten wir uns in aller Frühe auf den Weg machen, um es noch vor 10 Uhr vor die Deportationskommission in Opoczno zu schaffen. In der Nacht schlief ich kaum; es plagten mich verschiedene, dunkle Gedanken. Ich fühlte mich zur Heimatlosigkeit verdammt, es erwarteten mich ein bitteres Los und Unterdrückung durch unseren Feind. Vater und ich fuhren früh am Morgen auf einem Pferdewagen los. Ich nahm Kleidung und etwas zu Essen mit. Der Vater gab mir auch eine Einviertelliter‐Flasche Wodka für schwere Momente. Der Abschied von meinem Geschwister war sehr zurückhaltend, denn wir alle waren erschrocken und verunsichert. Als ich während der Fahrt auf dem Wagen neben meinem Vater saß, betrachtete ich unterwegs alles sehr genau: Bäume, Menschen, Gebäude, als auch den Weg, den wir entlang fuhren, denn ich dachte, ich würde all dies zum letzten Mal sehen. Das Gespräch mit meinem Vater war schwierig, denn er war voller Sorge. Er wiederholte oft: „Was sind das für Zeiten, in denen ich meinen eigenen Sohn zur [Zwangs]arbeit nach Deutschland schicken muss. Meine Frau haben sie mir genommen, was soll ich denn tun? Janek, sobald du ankommst, schreib uns, denn wir werden alle auf Nachrichten von Dir warten. Bald haben wir März, Frost gibt es wohl keinen mehr, es sollte immer besser werden, dann gewöhnst du dich auch schneller an das dortige Klima. Denke daran Janek, schreib so schnell wie möglich. Aber was wird aus uns, wenn sie dich nicht annehmen, vielleicht sagen sie ja du wärst zu jung, was passiert dann? Dann verschleppen sie meine Frau. Oh Gott, was für Zeiten sind das“. Unser Gespräch verlief stockend, aber worüber konnten wir schon sprechen, immerhin blickte ich meiner Hinrichtung entgegen. Ich halte das nicht aus, was mich erwartet, dachte ich mir. Wer weiß schon, wie viele Jahre ich wohl versklavt sein werde, nun ja, Hauptsache Mama wird freigelassen. Wir kamen gegen 9.30 Uhr in Opoczno an. Der Vater führte mich der Deportationskommission vor und sagte, ich würde anstelle meiner Mutter zur Zwangsarbeit nach Deutschland fahren. Nach einer kurzen Besprechung wurde dem Austausch zugestimmt. Mama wurde hergeführt, während ich mich einer Gruppe von Menschen anschloss, die sich in einer großen Sporthalle befanden. Hier traf ich auch auf Bekannte aus meinem Dorf. JAN SROKA 61 Deportation Am selben Tag, gegen Mittag, mussten wir uns entsprechend vorher angefertigter Listen auf dem Schulsportplatz aufstellen. Danach wurden wir in einer Kolonne von bewaffneten deutschen Wachposten durch die Stadt zum Bahnhof begleitet, wo wir dann in Waggons verfrachtet wurden. Mir gelang es nicht mehr, mich von meinen Eltern ein zweites Mal zu verabschieden. Ich winkte ihnen nur von weitem. Als wir durch die Stadt gingen verabschiedete uns eine riesige Menschenmenge, wir aber fühlten uns, als ob wir auf dem Weg zu unserer Hinrichtung wären. Die Waggons waren voll. In jedem passten bewaffnete Wachen auf, dass niemand weglief. Wir gelangten unter Geleitschutz über Tomaszów Mazowiecki, Koluszki und Piotrków Trybunalski (Petrikau) bis nach Częstochowa (Tschenstochau). Hier bildeten wir eine Kolonne wie für eine Parade und wurden dann durch die Stadt zu von der Polizei bewachten Baracken geführt. In den Baracken standen aus Holzbrettern gefertigte Stockbetten. Einmal täglich bekamen wir warme, mit Pferdefleisch aufgekochte Kohlrübensuppe. Nach zwei Tagen des Wartens wurde eine Liste mit den Namen derer vorgelesen, die sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen sollten. Wir wurden in einer Reihe aufgestellt und in eine andere Baracken geführt. Dort fanden dann die ärztliche Untersuchung, Desinfizierung und Insektenentfernung von Körper und Kleidung statt. Nach diesen Maßnahmen wurden wir wieder in andere Baracken geführt. Früh am nächsten Tag wurden wir in Kolonnen eingeteilt und von bewaffneten Soldaten durch die Stadt zum Zug geführt. Oft hörten wir Schüsse, da auf fliehende Zwangsarbeiter geschossen wurde. Am Bahnhof stiegen wir in die Waggons eines langen Zugs. Von dort fuhren wir nach Breslau (Wrocław). In Breslau wurden wir auf dem Bahnsteig vor die Waggons gestellt, überprüft, gezählt und danach zu Baracken geführt, die denen in Częstochowa ähnelten. Hier erhielten wir eine Suppe aus Futterrüben. Es gab hier keine bewaffneten Soldaten mehr, ihren Platz hatten bewaffnete Ukrainer eingenommen. Am nachfolgenden Tag wurden wir in Gruppen von je 50‐100 Personen eingeteilt und nach und nach zu Zügen geführt, die in verschiedene Regionen Deutschlands fuhren. Ich wurde nach Waldenburg (Wałbrzych) gebracht, dann wurde ich mit einer Gruppe von ungefähr 20 Personen nach Landeshut (Kamienna Góra) transportiert und von dort aus wurden wir mit einem PKW zu unseren jeweiligen Arbeitsstellen gefahren. Am 7. März 1942 traf ich um drei Uhr nachmittags mit zwei Freunden aus Opoczno in Reichhennersdorf, im Kreis Landeshut (Przedwojów, powiat Kamienna Góra) ein. Ich wurde dem Bauer Gustaw Alt zugewiesen. Meine Freunde sollten auch bei Bauern arbeiten. Zwangsarbeit Die Alts empfingen mich mit Gleichgültigkeit. Sie hatten wahrscheinlich jemanden größeren, stärkeren und zur Arbeit besser tauglichen erwartet. Ich wurde in ein kleines Zimmer mit einem nicht allzu großen Fenster gebracht. Im Zimmer befanden sich ein Bett, ein Tisch und in der Ecke ein eiserner Heizofen, den ich niemals benutzte. An der Wand hing ein Bildnis der Mutter Gottes. Ich packte meine Sachen aus, wusch mich und dann wurde ich in die Wohnung zur ersten Mahlzeit eingeladen. Dies war die einzige Mahlzeit, die ich je zusammen mit den Landwirten aß, alle anderen danach nahm ich später alleine in meinem Zimmer zu mir. Danach fragte mich Gustaw Alt etwas, doch ich verstand nicht was. Als nächstes zeigte er mir seinen Bauernhof, der aus einer Scheune, einem Kuhstall mit sechs Kühen und zwei Bullen, dazu zehn Schweinen, Hühnern und Gänsen bestand. Es wurde mir klar, dass es sich um einen mittelgroßen Bauernhof handelte (12‐15 Hektar), auf dem zwei ältere Personen arbeiteten. Der Bauer war schlank, hochgewachsen (ca. 180 cm) und über 70 Jahre alt. Die Bäuerin hingegen war dick, klein (ca. 155 cm groß), mit einem runden Gesicht, langer Nase und über 60 Jahre alt. Sie brauchten eine zusätzliche Hand für die Arbeit. Als ich auf den Hof hinaustrat, sah ich, dass uns hohe Berge umgaben, deren Gipfel von Wäldern bewachsen waren, während die Abhänge schneebedeckt waren. Das Dorf befand sich in einem weiten Tal. Am Dorf entlang floss ein rauschender Gebirgsbach, ein Nebenfluss des Flusses Bóbr. Der durch das Dorf führende Weg war gewunden, es zweigten davon kleinere Wege ab, die zu verschiedenen Höfen führten. Dies war für mich eine seltsame und doch interessante Landschaft. Mir schien es, als ob man hier den Krieg in Sicherheit überstehen könnte. Es wurde sofort mit der Arbeit begonnen. Mein Chef zeigte mir, wie ich verschiedene Arbeiten mit den Tieren und auf dem ganzen Bauernhof ausführen sollte. Ich stand um 6 Uhr morgens auf und ging um 10 Uhr abends schlafen. Die Arbeitsstunden waren nicht geregelt, im Sommer arbeitete ich von Sonnenauf‐ bis Sonnenuntergang. ZWANGSARBEIT 62 Nach einigen Tagen erfuhr ich, wo und bei welchen Bauern meine Freunde aus Opoczno arbeiteten. Beide arbeiteten in der Nähe, in einer Entfernung von etwa 200 m. Zu Beginn fiel es mir schwer, mich mit meinen Landwirten zu verständigen, denn sie sagten etwas auf Deutsch und ich verstand nichts davon. Ich konnte die Bedeutung nur mittels ihrer Mimik und Gestik erraten. Nach und nach begann ich sie etwas besser zu verstehen und einige Wörter auszusprechen. Nach einigen Monaten verstand ich sie gut genug, um meine Arbeit machen zu können. Anfangs wusste ich nicht, was erlaubt und was verboten war: Ob ich am Sonntag ein wenig Freizeit habe oder auch nicht, ob ich mich in meiner Freizeit mit Freunden treffen oder zur Kirche gehen darf oder nicht. Niemand hatte mir das gesagt. Ich verbrachte die ganze Zeit auf dem Hof und entfernte mich nicht. Erst später, als ich mit anderen Polen, die bereits dort arbeiteten, in Kontakt kam, erfuhr ich, welche Regeln für mich galten. Seit Beginn des Krieges arbeitete dort ein Pole namens Adam Ziętek, der sehr gut deutsch sprach. Er war es, der uns die genauen Anweisungen übersetzte. Auch einige andere Polen arbeiteten hier. Dank des Kontaktes mit ihnen fühlte ich mich besser, denn ich spürte, dass ich mich nicht allein in dieser schwierigen Lage befand. Nach zwei Wochen nahm mich der Bauer zur drei Kilometer entfernten Kreisstadt Landeshut mit. Hier wurden Fotos von mir gemacht und irgendwelche Dokumente ausgestellt. Ich erhielt eines dieser Fotos und ein paar Exemplare des auf Material gedruckten Buchstaben „P“. Diese musste ich auf die rechte Seite meiner Kleidung aufnähen. Man zeigte mir meine Unterlagen, doch der Bauer nahm diese an sich. Am meisten setzte mir die Sehnsucht nach meinem Dorf und Elternhaus zu. Ich wusste, dass meine Eltern um mich besorgt waren und mich vermissen, genauso wie ich sie vermisste. In meinem ersten Brief drückte ich mich milde über die Lage aus, denn ich wollte nicht, dass sie sich um mich sorgten. Danach wartete ich auf eine Antwort von zu Hause. Eines Tages, es war Abend, wurde ich in die Wohnung meiner Hausherren gebeten und man händigte mir einen Brief von meinen Eltern aus. Als ich den Brief sah, brach ich in Tränen aus, ich konnte ihn kaum lesen, denn die Tränen flossen so stark, dass die Schrift verschwamm und die Buchstaben ganz verwischt wurden. Nach einer längeren Pause schaffte ich es, den Brief zu lesen. Man fragte mich, was passiert sei, warum ich so weine, doch ich sagte, alles wäre in Ordnung – was sollte ich ihnen sonst schon sagen? Alle weiteren Briefe wurden mir erst nach dem Abendessen übergeben, bevor ich schlafen ging, und ich wurde nicht mehr gefragt, wie es meinen Eltern geht. Das Heimweh machte mir mehr und mehr zu schaffen. Ich dachte darüber nach, wie ich mich von dort befreien könnte. Während eines Treffens mit Freunden, mit denen ich aus Polen hergekommen war, sprachen wir darüber, denn sie dachten auch darüber nach. Dann hatte ich endlich eine gute Idee: beim Holzhacken wollte ich mir einen Finger an der linken Hand abhacken, dann würde ich nicht mehr arbeitsfähig sein und sie würden mich nach Hause schicken müssen. Mehrere Tage vergingen, ohne dass ich die Gelegenheit bekam, Holz zu hacken. Währen eines Treffens mit Freunden verriet ich ihnen meinen Plan. Am nächsten Tag setzte einer meiner Freunde meinen Plan selber in die Tat um. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, sein verletzter Finger wurde verbunden und er selbst wurde zurückgebracht, doch landete er bei einem anderen Bauern. Nach kurzer Zeit war der Finger verheilt und mein Freund arbeitete weiter wie zuvor. Meine Eltern baten mich in Briefen darum, dass ich die Lage meines Dorfes beschreibe, denn sie konnten es sich nicht so recht vorstellen. In meiner Freizeit am Sonntag zeichnete ich mit einem Bleistift einen Plan und markierte die Bauernhöfe, auf denen Polen, Ukrainer und Russen arbeiteten. Ich wollte den Plan später zu Ende zeichnen, denn ich musste genauere Nachforschungen zu einigen Details anstellen. Solange legte ich den Plan unter die Tischdecke auf dem Tisch und vergaß ihn vollkommen. Dies würde unangenehme Folgen haben, von denen ich später noch erzählen werde. Der Frühling 1942 war endlich da, aber erst Mitte April. Der Schnee war geschmolzen, Felder und Wiesen waren wieder zu sehen. Auf dem Bauernhof bereitete man sich für die Feldarbeiten vor. Die für diese Gegend üblichen Zugtiere waren Kühe und Ochsen. Mein Bauer benutzte zwei Ochsen als Zugtiere. Ich musste lernen die Tiere in den Wagen einzuspannen und mit ihnen auf dem Feld zu arbeiten. Sie waren stark, aber auch sehr langsam. In der Nähe der Hofgebäude, auf der südlichen Seite, befand sich eine große Wiese, etwas weiter auf dem Berghang hatte der Landwirt ein großes Stück Ackerland. Hier verbrachte man von Frühling bis Spätherbst die meiste Arbeitszeit. Vom Berghang aus hatte man eine wunderschöne Aussicht auf Reichhennersdorf und teilweise auch auf die Stadt Landeshut. An Werktagen um 9 Uhr eskortierten bewaffnete Soldaten ungefähr 200 Gefangene in Häftlingskleidung den Weg neben unserem Feld entlang zur Arbeit in Steinbrüchen (es handelte sich wahrscheinlich um Häftlinge eines der Arbeitskommandos des Konzentrationslagers Gross‐Rosen). Vom Erscheinungsbild her konnte man schlussfolgern, JAN SROKA dass die Männer sehr ausgehungert sein mussten. Ihre Rückkehr erfolgte auf demselben Weg um 16 Uhr. Am Ende der Kolonne halfen die Gefangenen immer jemandem, sich aufrecht zu halten und nicht umzukippen. Der Anblick war wahrhaftig bedrückend. Die Arbeit auf dem Bauernhof war schwer, besonders weil man uns immer mehr abverlangte. Es wurde uns nicht einmal eine kurze Verschnaufpause während der großen körperlichen Anstrengung zugestanden. Man versuchte, alle Arbeiten auf dem Feld und dem Bauernhof bis Mitte November abzuschließen. Danach folgte der Winter mit starken Schneefällen und klirrendem Frost. Vom 15. November bis Ende März des nachfolgenden Jahres arbeitete ich im Wald. Dies war die schwerste Arbeit überhaupt, denn beim Fällen der Bäume fiel uns der Schnee auf die Köpfe, Kleider und Schuhe, alles war nass, es gab nichts zum Umziehen und es war unmöglich, die Sachen zu trocknen. Unsere Verpflegung war durchschnittlich, eher kalorienarm, es schmeckte mal besser, mal schlechter. Ich bekam etwas Taschengeld in Deutscher Mark als Lohn. Eigentlich war Geld hier nicht notwendig, da man sowieso nichts dafür kaufen konnte. So verstrichen Tage und Monate, erst Sommer, dann Winter, dann wieder Sommer. Die Zeit verging langsam. Ich hatte fortlaufend Heimweh. Die Einschränkungen seitens der Landwirte wurden immer gravierender. Der deutsche Nachbar meiner Bauern sagte mir oft, dass ich aufpassen sollte, denn meine Bauern wären schlechte Menschen und Nazis. Ich konnte seinen Worten nur schwerlich Glauben schenken, ich dachte mir nämlich, dass es sich einfach um schlechte Nachbarsbeziehungen handeln musste. Später begriff ich, dass das Verhalten meiner Hausherren mir gegenüber die Misserfolge an der Front widerspiegelte. Nach jeder größeren Niederlage verschärfte sich das Verhältnis der Deutschen zu den Ausländern dort. Ich bemerkte, dass mein kleines Zimmer oft durchsucht wurde – wonach sie suchten, war mir aber nicht klar. Meine Briefe von zu Hause erhielt ich schon geöffnet. Ich wurde von meinem Zimmer auf den Dachboden verlegt und schlief lediglich unter einer Wolldecke Es gab außerdem noch nächtliche Kontrollen, um zu überprüfen, ob ich tatsächlich dort war. Die Landwirtin schimpfte oft, dass Polen und Russen Schweine und Banditen wären. Nach einiger Zeit sagte sie dasselbe über mich, dass ich ein Schwein und Bandit sei, wie alle Polen. Die Qualität der Verpflegung wurde schlechter. Das Verhalten anderer Bauern gegenüber ihren ausländischen Arbeitern war viel nachsichtiger. Trotz zunehmender Einschränkungen war es möglich, sich an Sonntagen mit Freunden zu treffen, in die Kirche oder spazieren zu gehen. Uns wurde aber nicht erlaubt, das Dorf zu verlassen oder Fahrrad zu fahren. Nach 20 Uhr mussten wir uns auf unserem Hof befinden. Über die Situation an der Front erfuhren wir von Deutschen, die ein gutes Verhältnis zu Polen hatten. Manche Deutschen missbilligten Hitlers Politik der Völkereroberung. Sie waren davon überzeugt, dass sie den Krieg verlieren werden. Verhaftung des Feindes Am 27. Juni 1944 um 7 Uhr morgens, als ich mich gerade um das Stallvieh kümmerte, erschien ein Polizist. Er rief mich zu sich, zog meinen im Frühling 1942 gezeichneten Plan von Reichhennersdorf aus seiner Tasche und fragte, was dies sei und ob ich das gezeichnet hätte. Ich antwortete ihm, dass ich den Plan gezeichnet hatte und dass er das hiesige Dorf darstelle. Er fragte mich noch über verschiedene Details auf dem Plan aus und dessen Zweck. Ich antwortete ihm, dass ich die Skizze meinen Eltern schicken wollte, damit sie wissen, wie das hiesige Dorf gelegen ist und wo meine polnischen Freunde arbeiten. Auf die Frage „Warum hast du das nicht deinen Eltern geschickt?“ erwiderte ich: „Weil ich es vergessen habe“. Zum Schluss stellte der Polizist fest: „Du bist verhaftet“. Er führte mich in die Räumlichkeiten des Gemeindeamts, schloss mich in einem kleinen Zimmer ein und ging weg. Um etwa 10 Uhr begann mein Verhör. Ich wurde von einem in Schlesien geborenen Deutschen mit dem Namen Świątek verhört, der als Sekretär im Gemeindeamt arbeitete. Sein Polnisch war hervorragend, trotzdem sprach er deutsch mit mir. Danach hörte ich durch die Wand die Aussagen meiner Landwirte. Nach 14 Uhr wurde ich zur Polizeiwache in Landeshut transportiert. Dort wurde ich wieder auf Deutsch verhört, später wurde ich eingesperrt. Ich saß alleine in meiner Zelle, in Einzelhaft. Zum Frühstück bekam ich ein Stück Brot mit Margarine und dazu etwas ungesüßten Malzkaffee. Zum Abendessen gab es dasselbe. Zu Mittag erhielt ich einen halben Liter wässrige Futterrübensuppe. In Haft zusammen mit mir befanden sich etwa 30 Personen, darunter Russen, Tschechen und Deutsche. Von 9 bis 12 Uhr und von 14 bis 17 Uhr hackten wir Holz auf dem Gefängnishof. Wir durften weder miteinander sprechen, noch lachen, oder singen usw. Nach zwei Wochen erkannte ich mich kaum im Spiegel wieder, so blass und abgemagert war ich. 63 ZWANGSARBEIT 64 Am 30. August 1944 um 10 Uhr morgens kam ein Deutscher in Zivilkleidung zu mir und sagte auf Polnisch: „Janek lass die Axt liegen und komm mit mir mit.“ Das tat ich. Er brachte mich zur Polizeiwache, wo mir irgendein Schreiben auf Deutsch vorgelesen wurde, welches ich dann unterschreiben sollte. Aus dem Schreiben ging hervor, dass ich frei sei und zu meinem Bauern, Gustaw Alt, zurückkehren solle. Man fragte mich, ob ein Polizist mich dorthin begleiten solle, oder ob ich alleine hingehen würde. Ich sagte, ich würde alleine zurückgehen. Als ich durch Landeshut ging, bemerkte ich, dass mir derselbe Mann, der mich aus dem Gefängnis abgeholt hatte, folgte. Wahrscheinlich beschattete er mich, um zu prüfen, ob ich in die korrekte Richtung ging. Die ganze Zeit dachte ich darüber nach, was ich jetzt machen sollte: zu meinem Bauern Gustaw Alt zurückkehren oder zum Gemeindevorsteher gehen und diesen um den Wechsel meiner Arbeitsstelle bitten. Mein Instinkt sagte mir „Geh nicht zurück, denn sie werden dir nur noch größeres Leid zufügen“. Sie waren schlechte Menschen, so wie ihr Nachbar es mir gesagt hatte. Deshalb ging ich zum Gemeindevorsteher Emil Klos und bat um einen anderen Landwirt. Nachdem er mich angehört hatte, dachte Klos eine Weile nach und telefonierte dann mit jemandem. Dann sagte er: „Die Sache ist schwierig, aber es könnte klappen, wenn du dich entscheidest, bei mir zu arbeiten. Wir sind Hitler‐Befürworter, für ihn leben und arbeiten wir. Bei uns gibt es viel Arbeit, wenn du willst, kannst du bleiben“. Und so blieb ich. Arbeit bei dem Bauern Emil Klos Der Gemeindevorsteher zeigte mir, wo auf dem Dachboden ich schlafen werde. Er führte mich auf seinem Hof herum. Der Bauernhof war ziemlich groß, zwischen 20‐25 Hektar, inklusive Wiese. Danach führte er mich zum Stall, wo zwei Rappen standen. Dann sagte er: „Du wirst dich um sie kümmern und mit ihnen arbeiten“. Er zeigte mir, wie man die Pferde bürstet, füttert und einspannt. Jeden Morgen wies er mir Arbeiten zu. Ich fühlte mich hier selbstständiger, niemand begleitete mich mehr auf Schritt und Tritt und niemand kontrollierte, was ich machte, wie es bei dem Bauern Gustaw Alt der Fall gewesen war. Auf demselben Bauernhof arbeitete auch eine Ukrainerin mit dem Namen Marusia, ihren Nachnamen habe ich niemals erfahren. Sie beschäftigte sich vor allem mit den zwölf Kühen, half der Bäuerin im Haus und arbeitete bei Feldarbeiten mit. Marusia informierte mich umfassend über die Arbeit und die Gewohnheiten der Klos’. Die Klos Eltern waren beide ungefähr 50 Jahre alt. Ihr ältester Sohn kämpfte an der Ostfront, die Jüngeren gingen noch zur Schule in Landeshut. Der Bauer Emil Klos – ein schlanker, mittelgroßer Mann – war ständig mit Angelegenheiten des Dorfes beschäftigt. Seine Frau war eine wohl proportionierte, hochgewachsene Frau mit heiterem Gemüt. Sie scherzte und lachte viel, obwohl die Deutschen bereits damals Niederlagen an allen Fronten einstecken mussten. Die Familie war um den ältesten Sohn besorgt, sie wären sicher ruhiger, wenn er im Westen kämpfen würde. Mir wurde gesagt, dass der Bauer Alt versuchte mich zurückzubekommen, da er niemand anderen hatte, der ihm half. Er soll sogar an das Arbeitsamt geschrieben haben. Ich erfuhr außerdem, dass meine Verhaftung und mein Gefängnisaufenthalt in die Zeit des Warschauer Aufstand gefallen waren. So um den 20. September 1944 wurden 14 Frauen vom Warschauer Aufstand zur Arbeit hergebracht. Eine der Frauen wurde Gustaw Alt zugewiesen. Die Warschauerinnen wussten nicht, wie man auf einem Bauernhof arbeitet, deshalb ärgerten sich die Bauern über die Frauen. Diese kamen in Tränen aufgelöst zu meinem Bauern, um sich zu beschweren. In diesen Fällen war ich Übersetzer für sie. Anfangs war Emil Klos unterwegs und legte die Streits bei. Aber als die Konflikte länger dauerten, bat er alle Frauen, die etwas an ihren Bauern auszusetzen hatten, am Sonntag um 10 Uhr auf seinen Hof zu kommen. Er trat vor sie und sprach mit erhobener Stimme, während ich ins Polnische übersetzen sollte. Seine Rede kann man folgendermaßen zusammenfassen: „Wir haben jetzt Krieg, wir kämpfen gegeneinander. Menschen sterben sowohl auf unserer, als auch auf eurer Seite. Ihr seid unsere Sklaven und sollt machen, was wir euch befehlen. Falls ihr das nicht machen wollt, werdet ihr auch nichts zu essen bekommen. Wir schaffen euch Sklaven wohl zu gute Lebensbedingungen, ihr sollt uns gehorchen und arbeiten“. Danach kam niemand mehr, um sich über seinen Bauern zu beschweren. Obwohl er doch ein Nationalsozialist blieb, war mein neuer Landwirt nicht schlecht zu mir. Er beschimpfte mich nicht, beleidigte mich nicht, er behandelte mich wie einen normalen Menschen. Dennoch war die Polizei oft zu Besuch bei mir und durchsuchte meine Quartier. Nach Abschluss der Feldarbeiten wurde ich am 16. November zur Arbeit in den Wald geschickt. Wegen der bitteren Kälte und des starken Schneefalls war diese Zeit am schwierigsten zu überstehen. Morgens und abends arbeitete ich mit den Pferden, von 9 bis 16 Uhr arbeitete ich im Wald. JAN SROKA 65 Flucht vor der Sowjetarmee Die Deutschen wurden immer nervöser. Einige waren bedrückt wegen der Lage an den Fronten, andere wiederum waren verärgert und verfluchten die fremden Armeen, die auf ihrem Land kämpften, noch andere meinten, das deutsche Heer würde ihre Heimat verteidigen. Niemand dachte an eine Niederlage im Krieg. Meine Landwirte begannen Ende April 1945 damit, zwei Wagen für eine lange Reise vorzubereiten. Sie packten Verpflegung für uns und für die Pferde, Kleidung und Bettzeug. Sie montierten Gerüste für eine Plane. Der Pkw‐ und Lkw‐Verkehr auf der Route Landeshut‐Liebau nahm immer mehr zu. Alle fuhren nach Westen. Einige Wagen waren überladen und mussten etwas entladen werden. Es schien etwas Ungewöhnliches stattzufinden, aber wir wussten noch nicht was. Angst griff um sich. Um etwa 10 Uhr rief Emil Klos mich und meinen Freund Tadeusz zu sich. Dann sagte er: „Ihr beide fahrt mit uns. Versucht nicht wegzurennen, ich habe eine Pistole und werde schießen. Seid gehorsam, dann passiert euch nichts“. In dieser Situation mussten wir seinen Bedingungen zustimmen. Ich bat um bessere Schuhe und darum, ein Fahrrad mitnehmen zu können, damit ich etwas habe, worauf ich zurückfahren kann. Tadek wollte das zweite Fahrrad mitnehmen. Unsere Bitten wurden akzeptiert. Um die Mittagszeit liefen wir Richtung Liebau los. Die ganze Familie Klos, mit den Eltern und Kindern fuhr ab, zusammen mit uns waren das 12 Personen. Als wir durch das Dorf fuhren, standen Leute am Wegesrand und gaben den Klos Wünsche mit auf den Weg. Nachdem wir auf die Hauptstraße gelangt waren, mussten wir auf der rechten Straßenseite, dicht am Straßenrand laufen, denn auf der linken Straßenseite fuhren Militär‐ und Zivilfahrzeuge. Hinter Liebau bogen wir in eine Nebenstraße ein, die weniger befahren war. Wir überquerten die tschechische Grenze und fuhren weiter in südwestlicher Richtung. Am Abend machten wir Rast im Haus irgendeines Landwirtes. Nach dem Abendessen wurden ich und Tadek in einer Scheune eingeschlossen, wir schliefen unter Wolldecken im Heu. Am nächsten Tag fand die Abfahrt um 9 Uhr statt und wir fuhren bis 16 Uhr durch. Die Tiere waren müde und wir mussten eine Pause einlegen. Am dritten Tag hörten wir hinter uns Schüsse aus schweren Waffen und Bombenexplosionen. Die sowjetische Armee folgte uns nach und es kam zu Gefechten dort, wo die Deutschen Widerstand leisteten. Das Gedränge auf der Hauptstraße wurde immer größer, Zivilisten und das Militär flohen gleichermaßen. In so einer Atmosphäre fuhren wir fünf Tage lang. Am letzten Tag waren wir alle erschöpft und voller Angst. Zum Abend entfernten wir uns etwa zwei Kilometer von der Hauptstraße und machten Halt. Wir hörten die ganze Zeit über Geschützfeuer, und der Lärm kam immer näher. Als wir in eine Scheune schlafen gingen, wussten wir bereits, dass dies die letzten Stunden waren, die für unsere Befreiung entscheidend sein würden. In dieser Nacht war an Schlaf nicht zu denken, denn ganz in unserer Nähe waren Schüsse zu hören. Danach wurde die Intensität der Schüsse immer schwächer. Man konnte vermuten, dass uns die Hauptfront bereits überholt hatte. Als wir aus der Scheune herausgelassen wurden, sahen wir, dass es ein warmer, sonniger Morgen war. Zusammen mit Tadek ging ich sogleich zur Hauptstraße. Wir sahen Soldaten der Sowjetarmee, die den Fahrzeugverkehr leiteten. Die Straßenmitte entlang fuhren russische Militärwagen, am Straßenrand hingegen liefen Gruppen entwaffneter deutscher Soldaten. Alle gingen in Richtung Westen. Wir sahen sehr lange den jetzt völlig veränderten Soldaten nach. Die Russen waren kampflustig, stolz, selbstbewusst, fuhren in Autos, während die Deutschen traurig, resigniert, am Ende ihrer Kräfte vor sich hin liefen. Eine endlose Kolonne von Truppen beider Seiten zog die Straße entlang. Rückkehr nach Hause – nach Polen Auf dem Weg zurück zu unseren Bauern beschlossen wir, sogleich die Heimreise anzutreten. Als wir bei ihnen ankamen, war Emil Klos schon weg. Die Familie war geblieben. Wir erzählten ihnen, wie die Situation unterwegs war, dass wir befreit worden waren und dass wir gleich nach Hause, nach Polen, fahren würden. Wir freuten uns über unsere wiedererrungene Freiheit, darüber, dass wir endlich frei von den Deutschen waren und nach Hause fahren konnten. Unsere Landwirtin dankte uns für die Arbeit auf dem Hof, erwähnte die schwierigen Momente und Unannehmlichkeiten, sagte aber: „Der Krieg ist an allem Schuld“. Nach einem kurzem Gespräch und einem allgemeinen Abschied stiegen wir auf die mitgebrachten Fahrräder und machten uns auf den Heimweg […]. KRIEGSGEFANGENSCHAFT 66 Kriegsgefangenschaft aut Nachkriegsschätzungen des Amtes für Kriegsreparationen fielen im Jahr 1939 66 000 polnische Soldaten und Offiziere im Kampf gegen die Wehrmacht, 134 000 wurden verletzt und ca. 420 000 gerieten in Kriegsgefangenschaft (darunter 17 000 Offiziere und 3 500 Fähnriche). Im Oktober und November 1939 wurden Kriegsgefangene deutscher, ukrainischer und weißrussischer Nationalität frei gelassen. Im Winter 1940 wurden einige Tausende Juden frei gelassen, die kurz danach dem Holocaust zum Opfer fielen. Die im Verteidigungskrieg gefangen genommenen polnischen Soldaten wurden von den Deutschen an Sammelpunkten in Gruppen eingeteilt – getrennt nach Offizieren und Soldaten – und anschließend in provisorischen Durchgangslagern (sog. Dulags) untergebracht, meist waren das Kasernen, Landgüter oder Fabrikhallen, die diesem Zweck angepasst wurden. Nach der Unterzeichnung der Kapitulation wurden die Gefangenen mit Zügen in Kriegsgefangenenlager auf dem Gebiet des Dritten Reiches transportiert. Die Lager waren dem Oberkommando der Wehrmacht untergeordnet. Soldaten wurden in Stammlagern, Offiziere hingegen in Offizierslagern untergebracht. Das Gebiet des Deutschen Reiches war in 21 Militärbezirke unterteilt und in jedem Bezirk befanden sich Kriegsgefangenenlager. In den Stammlagern herrschten fürchterliche soziale Bedingungen. In den ersten Monaten der Gefangenschaft (im Winter 1939/1940) schliefen die Gefangenen in Zelten, Garagen, Ställen u.Ä. Nicht viel besser war die Situation derjenigen, die in Baracken untergebracht wurden. Die Baracken wurden in der Regel nicht beheizt, sie waren überfüllt, es gab keinen Strom und kein fließendes Wasser. Katastrophale hygienische Bedingungen und fehlende Kleidung zum Wechseln führten zu Läuseepidemien und zur schnellen Verbreitung von verschiedenen Krankheiten. Die Essensrationen waren so klein, dass die Kriegsgefangenen hungern mussten. Die Wehrmacht strebte bewusst nach der physischen Ausrottung der Gefangenen. Verletzte und Kranke erhielten keine angemessene medizinische Versorgung, das Verhältnis des medizinischen Personals zu den Kranken war feindselig. Bereits im September 1939 wurden polnische Kriegsgefangene für verschiedene Arbeiten eingesetzt, hauptsächlich in der Landwirtschaft, und später – entgegen der Genfer Konvention – auch in der Rüstungsindustrie. Sie führten auch alle körperlichen Arbeiten beim Bau der Baracken in den Kriegsgefangenenlagern aus. Mit besonderer Härte behandelten die Deutschen die Fähnriche der Polnischen Armee. Die Fähnriche – ungefähr 3 500 Mann – wurden wie gewöhnliche Soldaten behandelt, obwohl sie von der polnischen Lagerleitung Offizieren gleichgesetzt wurden. Entgegen der Genfer Konvention wurden sie bei besonders beschwerlichen Arbeiten auf Flughäfen, in der Rüstungsindustrie, im Straßenbau, in Bergwerken und in Steinbrüchen eingesetzt. Für ihre Arbeit erhielten sie keinen Lohn. Diejenigen, die Widerstand leisteten, wurden in Straflager geschickt, wo die Lebens‐ und Arbeitsbedingungen besonders schlimm waren. Die Straflager Oberlangen, Fulen, Vullen, Wesuwe und Bathorn, befanden sich in sumpfigen Gebieten, was zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen unter den Gefangenen führte. Im Juni 1940 wurde eine Gruppe von 300 Fähnrichen der Gestapo übergeben. Im Frühling 1940 wurden wegen des Arbeitskräftemangels im Dritten Reich auf Grundlage einer Entscheidung Hitlers, polnische Soldaten und Unteroffiziere in sog. Zivilstatus überführt und anschließend zwangsweise für die deutsche Wirtschaft eingesetzt. Mithilfe verschiedener Druckmittel, von Versprechungen bis zu Drohungen und Schlägen zwangen die Deutschen ca. 140 000 Soldaten und Unteroffiziere zur Unterzeichnung der Arbeitsverpflichtung. Damit verloren sie ihre Kriegsgefangenenrechte gemäß der Genfer Konvention sowie die Unterstützung und Betreuung durch das Rote Kreuz. Auf diese Art und Weise fielen die Kriegsgefangenen unter die von Himmler erlassenen diskriminierenden Sondergesetze, verloren jegliche Art von Schutz und waren der Willkür des deutschen Polizeiapparates – der Gestapo – ausgeliefert. Sie konnten jederzeit verhaftet und in Konzentrationslager geschickt werden. Ab dem Moment, in dem die Kriegsgefangenen die Lager verließen, unterlagen sie der Verfügung der Arbeitsämter und musste unverzüglich eine Arbeit aufnehmen. Die Kriegsgefangenen, die die Unterzeichnung des Verzichtes auf den Kriegsgefangenenstatus abgelehnten, waren Repressionen ausgesetzt. Im besten Fall war das Erpressung verbunden mit Strafen, die den Familien drohten oder Prügel. Oft brachte man sie zur Gestapo oder Polizei, wo sie gefoltert und anschließend in Strafkompanien, Straflager, ins Gefängnis oder sogar ins Konzentrationslager geschickt wurden. L KRIEGSGEFANGENSCHAFT Der Prozess der Statusänderung von Kriegsgefangenen zu Zivilarbeitern, der 1940 begann, war ein fortlaufender Prozess, der den ganzen Krieg über andauerte. Umso mehr nachdem sich unter den Kriegsgefangenen in Frankreich kämpfende polnische Soldaten, Soldaten der polnischen Streitkräfte im Westen und Soldaten der I. Polnischen Armee befanden. Im September 1944 befanden sich in den Kriegsgefangenlagern noch etwa 53 000 Kriegsgefangene. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands wurde eine große Gruppe von achtzehn Tausend Personen (darunter 2800 Offiziere, 2700 Frauen und 553 minderjährige Gefangene, im Alter von 8 bis 18 Jahren) gefangen genommen. Die Genfer Konvention sah keinen Aufenthalt von Frauen und Kindern in den Stalags vor. Die Situation wurde durch die Verhaftung von schwangeren Frauen noch komplizierter. Nach dem Warschauer Aufstand hat man zum ersten Mal den Frauen und Minderjährigen den Kriegsgefangenenstatus zuerkannt. Die Deutschen verpflichteten sich, gegenüber diesen Gruppen die Bestimmungen der Genfer Konvention einzuhalten. In der Kriegsgefangenschaft behandelte man jedoch sowohl Frauen als auch Minderjährige genauso wie erwachsene Männer. Bereits in den Durchgangslagern versuchte man die Frauen und Minderjährigen dazu zu bringen, auf ihre Kriegsgefangenenrechte zu verzichten. Dieses Vorgehen wurde auch nach der Überweisung in Kriegsgefangenenlager fortgeführt. Die Frauen wiesen dies zurück, trotzdem wurden sie zur Arbeit in den Waffenfabriken in Chemnitz und Goslar geschickt. Sie wurden unter denselben Bedingungen wie Zwangsarbeiter eingestellt. Ein Teil der Frauen, die die Arbeit vehement ablehnten, wurde in zwei Lager in Oberlangen und Molsdorf gebracht, wo Bedingungen herrschten, die denen eines Straflagers ähnelten: anstrengende Appelle, schlechte Wohn‐ und Sanitärbedingungen, kleine Essensrationen. Darüber hinaus waren beide Lager in sumpfigen Gebieten gelegen, was sich negativ auf die Gesundheit der Gefangenen auswirkte. Die Minderjährigen wurden in zwei Gruppen eingeteilt: die eine arbeitete in der Rüstungsfabrik in Chemnitz, die andere in der Rüstungsfabrik in Brokwitz. Gefangene aus dem Warschauer Aufstand wurden hauptsächlich in Werken eingesetzt, die die Rüstungsindustrie belieferten. Diese Arbeit war nicht nur schwierig, sondern auch gefährlich. Die Fabriken wurden durchgängig von den Alliierten bombardiert, daher erlebten viele der dort eingesetzten Gefangenen die Befreiung nicht. Kennzeichnung der Kriegsgefangenen in einem Lager, Ort und Datum unbekannt (IPN) 67 KRIEGSGEFANGENSCHAFT 68 Kolonne polnischer Kriegsgefangener unter Bewachung von Wehrmachtssoldaten, September 1939 (IPN) Polnische Kriegsgefangene, Ort und Datum unbekannt (AZHRL) CZESŁAW STOKOWSKI 69 CZESŁAW STOKOWSKI Aus der Gefangenschaft nach Hause. Lebenserinnerungen eines Soldaten Der Autor dieses Berichts wurde 1913 in Grochów, im Landkreis Sokołów Podlaski, geboren. Als Berufssoldat im Rang eines Unteroffiziers der Polnischen Armee nahm er am Verteidigungskrieg teil. Am 13. September 1939 gelangte er in deutsche Kriegsgefangenschaft, in das Kriegsgefangenenlager Stalag I A in Ostpreußen. Ende September wurde er nach Baalau (Balewo) nahe Sztum (Stuhm) abtransportiert, wo er auf einem Landgut bis zu seiner Flucht im Juni 1942 Zwangsarbeit verrichten musste. KRIEGSGEFANGENSCHAFT 70 m Mai 1935 wurde ich einberufen, um meinen Wehrdienst im 71. Infanterieregiment, das in Zambrów stationiert war, zu leisten. Dort absolvierte ich im Jahre 1937 die Unteroffiziersschule. Im März 1939 absolvierte ich einen einjährigen Geschwaderkurs für Berufsunteroffiziere im 33. Infanterieregiment in Łomża. Sofort nach dem Kurs wurde ich zum Wehrdienst in der 7. Kompanie des 3. Bataillons des 71. Infanterieregiments in Zambrów einberufen. Ich übernahm die Pflichten des Zugführers des 3. Zuges. Der Befehlshaber der 7. Kompanie war Hauptmann Klemens Janitz. Im April 1939 wurde ich mit meinem Zug mit einer Sonderaufgabe beauftragt: mit dem Bau verschiedenartiger Befestigungen in Wizna am Fluss Narew. An diesem Ort waren wir bis zum 30. August 1939 stationiert. An diesem Tag wurde die ganze Befestigungsstrecke von Major Jakub Fober, dem Befehlshaber des 3. Bataillons des 71. Infanterieregiments, übernommen. Am Abend, nach der Umgruppierung der Streitkräfte auf der Strecke Wizna‐Pstręgowo, wurde das Kommando von Leutnant Stanisław Świstek übernommen und wir zogen mit dem gesamten Bataillon von Wizna nach Czerwony Bór. Am 7. September bekam ich während der Einsatzbesprechung beim Kompaniechef den Befehl, mit meinem Zug im Abschnitt zwischen den Dörfern Szabły Stare und Szabły Młode auf Erkundung zu gehen. Die Aufgabe war sehr schwer, doch es hatten sich so viele Freiwillige gemeldet, dass ich manche zurück in die Reihe schicken musste. Nachdem ich die Absicherung angewiesen und jedem Spähtruppmitglied eine Aufgabe zugeteilt hatte, liefen wir los. Wir verließen den Wald und gingen in Richtung der Dorfgebäude in Szabły Młode. Als wir uns auf einer großen Wiese befanden, erschien der Mond hinter den Wolken. Plötzlich schossen von rechts Leuchtgeschosse in die Luft und wir wurden von Maschinengewehren beschossen. Wir stürzten nieder und lagen flach auf den Boden gedrückt. Ich erinnerte mich daran, dass ein Entwässerungsgraben in der Nähe war. Ich lenkte meine Männer dorthin. Während Unterbrechungen im Geschützfeuer zogen wir uns ins Dunkle zurück. Zum Glück wurde niemand auf der Wiese verletzt oder getötet, während die Deutschen uns ihre Position und ihre Feuerstellungen verraten hatten. Nach unserer Rückkehr von der Auskundschaftung erstellte ich einen Bericht, mit dessen Hilfe die Bataillonsbefehlshaber einen detaillierten Angriffsplan entwarfen. Im Morgengrauen des 8. Septembers traten wir zum Angriff an und verdrängten den Feind von seinen Stellungen. Bei der Verfolgung der fliehenden Deutschen erbeuteten wir sehr viel Ausrüstung, Wagen, Panzerwagen, Waffen und Verpflegung. Beim zweiten Angriff auf Zambrów am 11. September aus der Richtung des Dorfes Poryte kam es zu einem gewaltigen, blutigen Kampf mit dem Feind. Die Deutschen beschossen uns mit Artilleriegeschossen und Maschinengewehren. Es gab viele Tote und Verletzte während dieses langen und schwierigen Kampfes. Auch unser Befehlshaber wurde tödlich verwundet und ich konnte leider nichts mehr für ihn tun, er starb vor meinen Augen. Vor Schmerz riss er die um uns herum wachsenden Kartoffelbüsche aus der Erde. In der Nacht vom 12. auf den 13. September wurden wir nach erfolglosen Versuchen, uns durch den Ring deutscher Truppen um uns herum durchzuschlagen, gezwungen uns zu ergeben. Die Deutschen entwaffneten uns in Łętownica bei Andrzejewo. Trotz des Entschlusses unserer Vorgesetzten sich zu ergeben, hegte ich die Hoffnung, dass wir von anderen Truppen unserer Armee frei geschlagen werden würden. In der Hoffnung, bald wieder gegen den Feind zu kämpfen, hatte ich meine Dienstpistole Vis und die Personalliste meines Zuges versteckt. Ich wusste, dass ich bei der ersten sich ergebenden Gelegenheit einen Fluchtversuch unternehmen werde. Ich wollte meine Familie vor den Konsequenzen meiner Flucht und des fortgesetzten Kampfes schützen. Als man mich entwaffnete und meine Personalien erfasste, machte ich deshalb falsche Angaben: einen anderen Wohnort, Geburtsort und ich hielt auch meinen Rang im Militär geheim. Am Abend des 13. Septembers wurden wir unter Begleitung deutscher Soldaten nach Zambrów zur Kaserne des 71. Infanterieregiments getrieben. Man befahl uns, uns auf dem Versammlungsplatz zusammenzufinden. Wie sehr sich unsere Kasernen verändert hatten! Überall waren Stacheldrahtzäune, Wachtürme mit Maschinengewehren, die auf uns zielten und deutsche Soldaten. Viele der auf dem Platz versammelten Kriegsgefangenen hatten, so wie ich selbst, in diesem Regiment gedient, deshalb kannten wir die Gegend in‐ und auswendig. Wir sammelten uns an einer Stelle und dachten über die Flucht nach. So gegen Mitternacht, als wir sicher waren, dass die Deutschen schon eingeschlafen waren, unternahmen wir den Versuch, vom Gelände der Kaserne zukommen, und zwar durch die Böschung des Regimentsschießstands. Wir hatten uns aber tragischerweise geirrt: Die Deutschen waren wachsam und auf den Fall einer Flucht vorbereitet. In dem Moment, als wir aufsprangen und anfingen, in Richtung der Böschung zu rennen, leuchteten Scheinwerfer grell auf und es war plötzlich taghell. Die Wächter auf den Wachtürmen begannen, mit Maschinengewehren auf uns zu schießen. Wir waren ein einfaches Ziel und unsere I CZESŁAW STOKOWSKI Schinder schossen auf jeden, der sich regte. Wir mussten bis zur Morgendämmerung bewegungslos daliegen. Viele der Ausbrecher wurden tödlich verletzt, wahrscheinlich ist es dennoch einigen Glücklichen gelungen, zu entkommen. Nach einer grauenhaften, schlaflosen Nacht wurden wir am Morgen an eine Kolonne anderer Kriegsgefangener angeschlossen, mit deren Bildung die Deutschen in der Frühe begonnen hatten. Wir wurden vom Kasernenplatz auf die Straße Richtung Łomża getrieben. Während dieses endlosen, 30 km langen Marsches fielen zahlreiche polnische Soldaten vor Müdigkeit um, aber die deutschen Soldaten waren grausam und zwangen uns mit Schlägen, weiter zu laufen. Auch ich bekam einige Gewehrkolbenhiebe auf dem Rücken zu spüren, als ich eine Tomate auffangen wollte, die ein Dorfbewohner in unsere Richtung warf, während wir von den Deutschen durch ein Dorf geführt wurden. Das Ende dieses qualvollen Weges war der Versammlungsplatz der Kaserne des 33. Infanterieregiments in Łomża. Dieser Platz war zwei Tage lang unsere Unterkunft. Wir wurden unter freiem Himmel und ohne irgendeine Verpflegung festgehalten. Ich hörte, dass irgendwo eine Feldküche sei, die Mahlzeiten ausschenke, aber wir sahen sie nicht und sahen auch nicht, dass jemand irgendetwas aß. Ich musste meine Armbanduhr – mein einziges Andenken an Zuhause – gegen ein Stück Brot eintauschen. Nach zwei Tagen, am 16. oder 17. September wurden wir auf unmenschliche Weise durch Jedwabne, zum Bahnhof Dłutowo getrieben (ich weiß nicht, ob ich mich an den Namen richtig erinnere, es mag sein, dass ich den Namen verdreht habe). Dort wurden wir in Viehwaggons verladen und zum Stalag I A abtransportiert. So begann mein Aufenthalt im Kriegsgefangenenlager. Das Leben im Lager war sehr schwer. Wir wurden in alten, von deutschen gebauten Uniformlagern untergebracht, die mit hölzernen, mehrstöckigen Regalen ausgestattet waren, die uns nun als Schlafplätze dienten. Der Raum war so groß, dass man eine Pyramide bilden musste, um bis ganz nach oben zu gelangen. Andernfalls war es unmöglich, sein Bett zu erreichen. Auf diesen Regal‐Stockbetten verbrachten wir die Nächte ganz ohne Decken. Unsere einzige Bekleidung waren unsere Mäntel und unsere polnischen Uniformen. Nach ungefähr einer Woche begann man, uns in kleinen Gruppen in verschiedene uns unbekannte Richtungen zu verfrachten. Auch für mich kam die Zeit des Abtransports. Da ich bei der Befragung angegeben hatte, dass ich Bauer wäre, wurde ich mit einer Gruppe anderer Kriegsgefangener zur Arbeit in einem Landgut eingeteilt. Unsere Gruppe von zehn Männern wurde von einem deutschen Wachmann am Lager abgeholt, der uns bis zu unserem Bestimmungsort begleitete. Er befahl uns, in den Wagen zu steigen und so fuhren wir ins Ungewisse. Am Abend erreichten wir ein riesiges Landgut. Wir erfuhren erst später, dass dies die Ortschaft Baalau (Balewo), mit dem Bahnhof Waplewo Wielkie bei Dzierzgonia im Landkreis Sztum war. Der Wachmann war unser Herr über Leben und Tod. Von morgens bis spät abends ging er mit seinem Gewehr herum und bewachte uns. Er wies uns Arbeiten zu, teilte bescheidene Essensrationen aus, hatte das Recht uns zu bestrafen und konnte uns im Falle eines Fluchtversuches auch erschießen. Auf dem Landgut wohnten wir auf dem Dachboden eines alten, einstöckigen Gebäudes. Im Erdgeschoss befanden sich eine Abfüllanlage und ein Milchlager. Der Raum, in dem wir unser Quartier bezogen hatten, war sehr bescheiden möbliert. An den Wänden lagen auf den Boden geworfene Strohsäcke zum Schlafen, in der Mitte stand ein großer Tisch aus ungehobelten Brettern, daneben standen zwei Sitzbänke. Dies war die komplette Möblierung unseres Quartiers. Oben an den Wänden befanden sich zwei kleine, vergitterte Fenster. Die Arbeit auf dem Bauerngut war schwer, denn sie erforderte große körperliche Anstrengung, besonders im Frühling und im Herbst. Den ganzen Herbst über ernteten wir Zuckerrüben, luden sie auf Pferdewagen und brachten sie dann zum Bahnhof, um sie in Zugwaggons zu verladen. Im Winter waren wir mit Getreidedreschen und der Freilegung von Zuckerrübenmieten beschäftigt. Im Frühling säuberten wir die Bauernhofsgebäude von dem Mist, den die Kühe, Pferde und Schweine festgetreten hatten. Wir transportierten diesen Dünger dann aufs Feld, um ihn dort auszustreuen. Wir erledigten die schwierigsten Arbeiten auf dem Bauerngut. Alles passierte in großer Hast, der Wachmann gönnte uns keinen Moment Ruhe. Die bescheidenen Mahlzeiten wurden uns von Wachmännern gebracht und ausgeteilt, die alle paar Monate wechselten. An einen von ihnen kann ich mich gut erinnern, er hieß Abramowski und stammte aus der Gegend bei Nowe Miasto Lubawskie. Er war es, der mich mit dem Gewehrkolben gestoßen hatte, dafür dass ich ohne Erlaubnis für einige Minuten zum Brunnen ging, um meinen Durst zu löschen. Wir bekamen keine Kleidung, unsere Uniformen mussten reichen. In diesen liefen wir die ganze Zeit herum und arbeiteten, und allmählich verwandelten sie sich in regelrechte Lumpen, trotz all unserer Bemühungen, sie in Stand zu halten, damit sie einer polnischen Uniform würdig blieben. Der Lohn für unsere schwere Arbeit war bescheidenes, minderwertiges Essen und ein paar Marken, die gerade mal ausreichten, um Rasierseife, ‐klingen und Zahnpasta zu kaufen. Verschnaufpausen hatten wir lediglich an Sonntagen, aber zur Kirche gingen wir nicht, denn wie man uns erklärte, war diese sehr weit weg. 71 KRIEGSGEFANGENSCHAFT 72 Mit meiner Familie hielt ich keinen Kontakt. Sie wussten weder, wo ich war, noch ob ich lebte. Der Grund dafür war, dass ich seit Beginn meiner Gefangenschaft die Flucht plante, um die Sicherheit meiner Familie fürchtete und meine richtigen Personalien nicht preisgeben wollte. Ich wartete mit der Flucht auf einen günstigen Augenblick, unter anderem auf den Wechsel unseres Wachmanns. Trotz der schwierigen Bedingungen waren wir einigermaßen gesund, aber eines Tages wurden einige der Mitgefangenen plötzlich krank und mir gelang es, dem Wachmann vorzumachen, ich wäre auch krank. Unter Begleitung wurden wir mit dem Zug in einem gesonderten Waggon zum Arzt gebracht. Wenn ich mich recht entsinne, befand sich das Lazarett für Kriegsgefangene im Wasserturm in Morąg. Der Arzt in diesem Lazarett war ein Offizier der polnischen Armee, ein Kriegsgefangener wie wir. Es war ein sehr netter, gesprächiger Mensch, der mein Vertrauen weckte. Als ich für die Untersuchung meine Kleidung ablegte, sagte ich dem Arzt, ich wäre gesund. Er war überrascht und fragte nach dem Grund meines Besuchs. Ich verriet ihm mein Geheimnis und sagte, dass wir uns zu Fuß auf eine lange Reise machen würden und dass ich gerne stärkende Medikamente für meinen abgemagerten Körper bekommen wolle. Der Arzt fragte, wie weit diese Reise wohl sein würde. Ich sagte ihm, dass ich nach Podlasie gehen wolle, während die anderen in andere Richtungen ziehen würden. Er wurde nachdenklich und nach einem längeren Moment stellte er fest, dass er in Podlasie in Kupientyn Familie habe und auch gerne dort wäre, aber noch nicht zurück könne, denn er werde hier mehr gebraucht. Er meinte auch, dass es dort, wo ich hin wolle, sicher sei und solche wie ich nicht verfolgt werden, da dort die Gemeindevorsteher Leute zur Zwangsarbeit im Dritten Reich bestimmen. Er gab mir Vitamine und Arzneimittel und zum Abschied reichte er mir die Hand und sagte leise: „Gute Reise, Hauptsache Sie schaffen es bis Kongresspolen, von dort aus werden Sie schon klarkommen“. Diesen starken Händedruck empfand ich als Unterstützung für meine Entscheidung zur Flucht aus der deutschen Kriegsgefangenschaft und die Rückkehr nach Hause. Ich verließ die Arztpraxis und trat in den Flur. Dort saßen viele polnische Soldaten, aber mit keinem konnte ich sprechen, denn jede Gruppe hatte ihren Wachmann, der die Gefangenen beobachtete, um keine Kontaktaufnahme zwischen uns zuzulassen. Ich schloss mich meiner Gruppe an und begann über das Gespräch mit dem Arzt nachzudenken. Ich hatte gute aber auch schlechte Gedanken: wurde ich nicht zu lange untersucht im Vergleich zu den anderen Kranken, vielleicht hat der Wachmann Verdacht geschöpft deshalb. Ich war sehr nervös, aber die schlimmsten Befürchtungen hatte ich, als unser Wachmann in die Praxis des Arztes gebeten wurde, der mich untersucht hatte. In der Zeit, in der unser Wächter weg war, „betreute“ uns der Wachmann einer anderen Kriegsgefangenengruppe. Nach meiner Rückkehr nach Baalau, spät in der Nacht, hielten wir einen Rat ab. Nach einer langen Diskussion beschlossen wir, dass Anfang Mai der günstigste Termin für eine Flucht sein würde. Das Wetter wird warm sein, die Bäume werden schon Blätter tragen und hohes Getreide wird es einfacher machen, sich während des Tages zu verstecken, denn laufen konnte man nur in der Nacht. Wir beschlossen, dass wir damit beginnen wollten verschiedene Sachen, die wir für den weiten, schwierigen und gefährlichen Weg brauchen, zu sammeln. Uns ging es vor allem um Verpflegung, aber auch um Gegenstände, die eine Flucht vom Dachboden ermöglichen würden. In unserer Situation konnten wir nur Brot für den Weg sammeln, aber die Beschaffung von nur einer zusätzlichen Schnitte Brot war äußerst schwierig, denn uns blieb nie Brot von Mahlzeiten übrig. Und wie sollten wir die eisernen Gitter herausbrechen, und wie vom Dachboden runterklettern? Viel Hilfe und Güte fanden wir bei Herrn Rutkowski. Er war als Nachtwächter auf dem Landgut angestellt und sprach ziemlich gut Polnisch. Eines Tages nutzte er die Gelegenheit, als der Wachmann sich einen Moment lang entfernte, und sagte uns leise: „Habt keine Angst vor mir, ich bin zwar aus den Masuren, aber im Herzen bin ich Pole“. Er bat uns, niemandem etwas über seine Kontakte mit uns zu sagen, denn dafür drohte die Todesstrafe. Treffen mit uns waren schwer, denn er arbeitete nachts, wenn wir auf dem Dachboden eingeschlossen waren. Manchmal aber erschien er tagsüber auf dem Hof oder blieb länger nach seinem Nachtdienst, doch das passierte sehr selten. Er half uns so gut er konnte, machte uns Mut und ermutigte uns für ein schnelles Ende des Krieges zu beten. Er freundete sich mit uns an und wir betrachteten ihn als unseren ersten Freund im fremden Land. Wir erzählten ihm von unseren Plänen. Mit seiner Hilfe gelang es uns, bescheidene Brotvorräte für den Weg anzusammeln, denn er hinterließ uns an einem vereinbarten Ort sein bescheidenes Frühstück. Er besorgte uns auch eine Brechstange zum Herausbrechen der Fenstergitter und stellte eine Leiter unter eines der Fenster. Ihm verdanken wir es, dass eine Erfolgschance für unsere Flucht bestand. So vergingen Tage, Wochen und Monate, und mit ihnen näherte sich der von uns herbeigesehnte Frühling. Wir glaubten, dass wir schon bald mit Gottes Hilfe frei sein werden, dass unserer Gefangenschaft und Verfolgung bald ein Ende gesetzt werden würde, dass wir zu unseren Familien zurückkehren und wieder für uns selber und für Polen CZESŁAW STOKOWSKI leben könnten, für deren Freiheit wir noch kämpfen mussten. Wir legten verschiedene Fluchttermine fest, aber jedes Mal machte uns etwas einen Strich durch die Rechnung und der Fluchttag musste verschoben werden. Letztendlich war es dann soweit. Der lang ersehnte Tag war gekommen: der 23. Mai 1942. Diesen Tag werde ich niemals vergessen. Wir gingen um 21 Uhr schlafen. Um diese Uhrzeit kam immer der Wachmann vorbei und während er Wache stand, mussten wir unsere Uniformen und Schuhe in den Flur bringen. Die Kleider lagen die ganze Nacht über zusammengefaltet vor der Tür der Leitwarte und wir durften sie erst morgens wieder abholen. Nachdem wir die Kleidung herausgebracht hatten, schloss der Wachmann die Eingangstür im Erdgeschoss ab und nahm den Schlüssel mit. So war es Tag für Tag, aber an diesem denkwürdigen Tag täuschten wir den Wachmann. Wir zogen uns wie jedes Mal aus, doch falteten wir lediglich unsere Hosen und Mäntel zusammen, behielten aber die Uniformhemden und langen Unterhosen für unterwegs bei uns. Der Wachmann bemerkte unsere List nicht, schloss die Tür hinter uns ab und ging zu seiner Leitwarte zurück. Wir warteten angespannt ab, bis er das Licht ausschaltete und in tiefen Schlaf versank. Wir knieten nieder und beteten zu Gott um Hilfe auf unserem Weg in die Freiheit. Bald schlug es 23 Uhr und wir entschlossen uns, unsere Flucht zu beginnen. Wir umarmten uns ein letztes Mal herzlich und wünschten uns gegenseitig viel Glück auf unserem Weg. Zwei Häftlinge begannen die Gitter mit dem Brecheisen anzuheben, während wir anderen die Wolldecken in Stücke rissen und sie zusammenbanden, um eine lange Schnur daraus zu knüpfen, sodass wir nach unten klettern konnten. Um den Lärm beim Herausbrechen der Fenstergitter zu dämpfen, banden wir Decken um die eisernen Stangen. Mit dem von Herrn Rutkowski besorgten Stab versuchten wir einen Spalt zwischen dem Gitter zu schaffen, aber dieses wollte trotz unserer Anstrengungen nicht nachgeben. Es war fest in der Mauer verankert. Ungeachtet dieses ersten Misserfolges versuchten wir dasselbe mit dem zweiten Fenster. Zum Glück gelang es uns dieses Mal, das Gitter so weit zu verbiegen, dass man sich durch einen schmalen Spalt durchzwängen konnte und der Wachmann keinen Lärm hörte. Der Weg zur Freiheit stand uns nun offen. Wir warfen die aneinander gebundenen Decken nach draußen und banden die Schnur an den Gitterresten fest. Gemäß der von uns vorher vereinbarten Reihenfolge quetschten wir uns leise durch das geöffnete Gitter, ich kletterte als fünfter oder siebter durch. Als meine Füße den Boden berührten, fing ich an zu rennen. Ich schaute mich nicht mehr um, ich wollte so weit wie möglich von diesem verhassten Ort Polnische Kriegsgefangene, Ort und Datum unbekannt (AZHRL) 73 KRIEGSGEFANGENSCHAFT 74 weg. Eine Zeit lang hörte ich hinter mir die Schritte eines Freundes, der mir nachrannte, aber nach einer Weile wurde alles still und ich blieb ganz alleine auf dem Weg. Ich lief langsamer, rannte noch ein kurzes Stück und blieb stehen. Ich ruhte mich aus nach diesem wilden Lauf und dachte kurz darüber nach, wo es jetzt langgehen sollte. Nach einer kurzen Ruhepause machte ich mich weiter auf den Weg in Richtung meines Heimatortes. Mein Zuhause war weit entfernt und viele Gefahren lauerten auf dem Weg dorthin. Die Reise war äußerst mühsam. Barfuß und quer durch die Felder machte ich einen Bogen um jegliche Siedlung und irrte umher wie ein gejagtes Tier. Mit jedem Schritt näherte ich mich meinem Zuhause, meiner Familie. Tagsüber schlief ich im Getreide, das schon ziemlich hoch war und einen recht guten Schutz bot. Ich wanderte nur nachts und die Richtung bestimmte ich bei günstigem Wetter anhand der Sterne. Einige Male musste ich die Richtung ändern, denn nicht immer war das Wetter gut und es konnte einem schnell ein Fehler unterlaufen. Nach einigen Nächten des Marsches in Dunkelheit über Felder und ausgetrocknete Erdbrocken hatte ich große offene Wunden an meinen Füße wie und jeder Schritt bereitete mir unheimliche Schmerzen. Jedoch war der Hunger noch schlimmer als der Schmerz. Das Brot, das wir so lange und mühsam zusammengerafft hatten, reichte nur für eine kurze Zeit. Ich ernährte mich von dem, was ich auf dem Feld fand: Sprossen, jungen Ähren. Ich freute mich sehr, wenn ich Plätze fand, an denen vorher Rübenmieten aufgehäuft gewesen waren. Dort lagen noch etwas Stroh und ein paar Stück angefaulte Rüben. Diese wenigen stinkenden Rüben waren mein erstes, üppiges Frühstück. Eines Morgens bemerkte ich, dass sich mir eine Gestalt näherte. Ich versteckte mich noch tiefer im Dickicht und beobachtete die sich nähernde Person. Als sie bereits sehr nahe war, bemerkte ich die Sense auf ihrer Schulter. Es war ein Bauer auf dem Weg zur Feldarbeit. Ich beschloss, mich ihm zu zeigen. Als er mich sah, stand er wie versteinert da, ich sah die Angst in seinen Augen und ich bin nicht verwundert darüber: Ich war abgemagert, unrasiert, blutverschmiert, in Lumpen und Fetzen gekleidet und muss wohl mehr an ein Tier als an einen Menschen erinnert haben. Nach einem Moment kam er wieder zu sich und fragte, was ich hier tue und wer ich sei. Ich erzählte ihm von meiner Gefangenschaft und Flucht und dass ich sehr hungrig sei. Der Unbekannte war barmherzig, er hatte Mitleid mit mir und gab mir die Hälfte seines Frühstücks. Nach einigen Minuten des Gesprächs und nach der Mahlzeit forderte er mich auf, ihm zu folgen. Zur Sicherheit lief ich in einiger Entfernung hinter ihm. Er führte mich zum Haus seines Cousins, das in einer Ansiedlung etwas weiter weg von den Gebäuden im Dorf gelegen war. Mein Retter ließ mich in der Obhut dieses wohlwollenden Gastgebers und dessen Familie und ging selber zurück, um die Wiese zu mähen. Es war ein ärmlicher Bauernhof, aber die Menschen waren sehr gastfreundlich. Ich konnte mich waschen, rasieren, erhielt Kleidung und Schuhe. Ich sah endlich wieder wie ein Mensch aus. Ich bekam zu essen, danach führte man mich in die Scheune, wo ich mich ausruhen konnte. Abends wurde ich zum Abendessen eingeladen. Nach dem Abendessen besuchten den Bauern ein paar Familienangehörige. Ich erzählte ihnen vom Schicksal eines Kriegsgefangenen, über die schlechten Bedingungen und die Flucht. Ich war glücklich, dass ich nach so vielen Tagen der Kriegsgefangenschaft, des Lagers und der Zwangsarbeit wieder unter meinen Landsleuten weilte. Ich erfuhr, dass ich noch 6 km bis zur Grenze, die das Deutsche Reich von Kongresspolen trennte, hatte. Sie warnten mich, dass es in dieser Umgebung gefährlich sei. Sie erklärten mir genau, wie man zur Grenze kam und wo man diese überqueren sollte. Nach einem herzlichen Abschied von allen machte ich mich weiter auf den Weg. Ich war nicht mehr hungrig und ich erhielt Brot, Käse und eine Flasche Milch für unterwegs. Ich musste mich auch nicht mehr so sorgfältig verstecken. Ich traf oft gutmütige und mir wohlgesinnte Leute. Dank ihrer Hilfe gelang es mir, im Juni 1942, nach 34 Tagen des qualvollen Marsches, meinen Geburtsort Grochów zu erreichen. HENRYK ŁAGODZKI 75 HENRYK ŁAGODZKI In Gefangenschaft Henryk Łagodzki – Decknamen „Orzeł” [Adler] und „Hrabia” [Graf], Kriegsgefangenennummer 105494 – wurde am 15. Juli 1927 in Warschau geboren. Als Soldat der Polnischen Heimatarmee kämpfte er im Warschauer Aufstand im Stadtteil Śródmieście Północ. Am 5. Oktober 1944 verließ er die Stadt mit seiner Einheit. Nach einem Aufenthalt im Lager in Ożarów war er in den Stammlagern 344 Lamsdorf und IV B Mühlberg interniert. Seit Dezember 1944 arbeitete er in der Glashütte in Brockwitz. Gleich nach der Befreiung im Jahr 1945 kehrte er heim. KRIEGSGEFANGENSCHAFT 76 m 1. August 1944 verließ ich mein Haus in der Łucka Straße, um am Aufstand teilzunehmen. Meine Eltern waren in der Stadt. Ich hinterließ ihnen einen Zettel, dass ich bald zurück bin... A [...] Wir können es kaum glauben, doch es ist wahr. KAPITULATION. Am 3. Oktober um 7:30 Uhr verlassen wir den Ort, den wir 63 Tage lang verteidigt haben. Wir können es nicht fassen, dass wir trotz erfolgreicher Verteidigung der Außenposten, diese verlassen müssen und dass die Ukrainer das Gebiet ohne einen einzigen Schuss einnehmen. Dem Befehl ist zu folgen. Wir marschieren in geschlossener Formation zur Truppenkonzentration des II. Bataillons des Verbandes „Chrobry II.” des 15. Infanterieregimentes der Heimatarmee. In der Żelazna Straße Nr. 36 stellten sich alle Truppen in Reihen, mit Gewehr, zu vieren auf, mit unseren Anführern an der Spitze. Vor dem Abmarsch in die Gefangenschaft fand ein Gottesdienst statt, zu dem sich neben Soldaten auch die Zivilbevölkerung zahlreich versammelte. Vor der Messe hatte ich mich von meinen Eltern verabschiedet, mit denen ich in der Łucka Straße Nr. 14 wohnte, und die zurzeit im Keller des Hauses lebten. Bei der Gelegenheit konnte ich einige Gebrauchsgegenstände einpacken. Meine Eltern waren verzweifelt darüber, dass ich gehe, ich konnte jedoch meine Waffenbrüder nicht verlassen, mit denen ich auf Leben und Tod kämpfte. Das war damals wahre Solidarität. Mit Bedauern verlassen wir die uns so wichtigen Mauern, unsere Schanzen. Wir verabschieden uns von den Juden, die in unserem Kommando waren und die jetzt beschlossen hatten, in der Stadt zu bleiben, weswegen sie große Vorräte an Nahrungsmittel angelegt hatten. Einige jüdische Aufständische entschieden sich, mit uns in die Gefangenschaft zu gehen. Mit geänderten Namen überlebten sie die Gefangenschaft, keiner verriet sie und alle kehrten nach dem Krieg zurück. Das Regiment formiert sich an der Stelle, wo die erste Truppenkonzentration stattgefunden hat. Der Abmarsch findet am Vormittag gegen 10 Uhr statt. Wir marschieren durch die Straßen Żelazna, Chłodna, Kerceli Platz, Przyokopowa bis nach Ożarów Mazowiecki. Wir lassen die Köpfe hängen und gehen in die deutsche Gefangenschaft, wir nehmen Abschied von der Zivilbevölkerung, die zurückbleibt. Auf beiden Seiten der Żelazna Straße bis zur Grzybowska Straße stehen Eltern, die aus Kellern herausgekommen sind, um sich von ihren Liebsten zu verabschieden. Am Ende der Łucka Straße sehe ich noch einmal meine Eltern stehen, ich winke ihnen, doch sie haben mich nicht bemerkt. Vor der Grzybowska Straße stehen auf beiden Seiten der Straßen Żelazna und Chłodna deutsche Soldaten mit schussbereitem Gewehr. Die Straße ist aufgeräumt, doch ringsherum sieht man überall Schutthaufen und verbrannte Häuser. Wir biegen in die Chłodna Straße ein und gehen am mehrstöckigen Gestapo‐Gebäude vorbei. Da überkommen mich Erinnerungen: der Bunker steht noch am Tor in der Żelazna Straße Nr. 75, zerstörte Fenster sehen wie leere Augenhöhlen aus. Hier war ich im Juli 1943 festgenommen und im ersten Stock gemeinsam mit Ryszard Kowalski gefangen gehalten worden (der später im Konzentrationslager umgekommen ist). Hier sah ich in den ersten Tagen des Aufstandes SS‐Männer, die gefangen genommen wurden und bei der Verstärkung von Barrikaden und beim Säubern der Bürgersteige arbeiteten. Unsere Kolonne marschiert in Reihen die Chłodna Straße entlang, eskortiert von deutschen Soldaten, die uns mit Hass betrachten. Durch die „Augenhöhlen“ der verbrannten Häuser sehen wir auf den Höfen glimmendes Feuer, wo menschliche Überreste zu Ende brennen. Ukrainer, die Zivilisten ermordet haben, haben die Leichen zu Haufen geschichtet, mit Benzin übergossen und angesteckt, um den Gestank verwesender Leichen zu beseitigen. Das gleiche Bild sehen wir, als wir die Wolska Straße entlang gehen. Wir biegen zum Kerceli Platz ein, wo in der Mitte Tische und Körbe für Handfeuerwaffen stehen. Wir werfen unsere Waffen auf einen Haufen: Gewehre ohne Schloss, gebrochene Zündnadeln. Kaum einer hat funktionsfähige Waffen abzugeben. Dieser Platz sah am zweiten Tag des Aufstandes völlig anders aus. Ich sehe noch den erbeuteten Panzer und lächelnde Jungs von Bataillon „Parasol” darauf. Und jetzt sind wir hier von einer Eskorte deutscher Soldaten umstellt. Außerhalb der Warschauer Stadtgrenzen sieht die Zivilbevölkerung die marschierende Kolonne der Verteidiger von Warschau und will uns Gemüse, Obst und Wasser reichen, doch sie werden nicht an uns heran gelassen. Aufständische sind jedoch harte Jungs und Mädels – wir fangen an, Partisanen‐ und Aufstandslieder zu singen, womit wir die Eskorte überraschen. Es helfen keine Schreie und Kolbenschläge, die die am nächsten Stehenden zu spüren kriegen. Wir sind müde und niedergeschlagen. Langsam verlassen wir die Stadt in der langen Gefangenenkolonne, von der weder der Anfang, noch das Ende zu sehen sind. Ab und zu bleiben wir kurz stehen oder müssen Halt machen, weil HENRYK ŁAGODZKI Verletzte, die nicht ins Krankenhaus gehen wollten, die mühsame Wanderung nicht durchhalten. Zum ersten Mal seit zwei Monaten sehen wir Felder und Wiesen, wir gehen an ersten Gebäuden vorbei. Es laufen Dorffrauen zu uns, mit Tränen in den Augen, sie bringen uns Essen, frische Milch und kaltes Wasser. All diese Schätze kriegen wir während des Marsches. Wir stillen den Hunger, nicht alle von uns haben heute gefrühstückt. Die Wehrmachtssoldaten erlauben den Frauen nicht, nahe heranzukommen, doch keiner achtet darauf, überall sind Schreie zu hören. Manche bleiben kurz stehen, doch die Kolonne wartet nicht und so bleiben sie unter den Dorfmenschen zurück. Weit auf der linken Seite sieht man die Mauern der Kabelfabrik – das ist Ożarów, das Ziel unserer heutigen Wanderung. Wir werden in leere, schmutzige Fabrikhallen hineingetrieben. Alle fallen vor Erschöpfung einfach auf den schmutzigen, kalten Beton. Hier verbringen wir die Nacht. Der 16‐Kilometer‐Marsch zum Lager setzte uns spürbar zu. 65 Tage lang hatten wir keine Gelegenheit, lange Strecken zurückzulegen. Die Nacht auf dem Stroh, auf dem Betonboden machte sich genauso wie der Marsch bemerkbar, jedoch konnten wir unsere Knochen etwas ausruhen. Eine so lange Erholung hatten wir seit über zwei Monaten nicht gehabt. Der Schlaf ohne Essen – wir kriegten kein Mittagessen, nicht mal eine Ration – war nur leicht. Am 6. Oktober wachen wir hungrig, schmutzig und rot von der Mennige, die überall verstreut war auf. Wir gehen raus auf der Suche nach etwas Warmem zu Essen, das uns seit langem fehlt. So beginnt unser Gefangenenepos. Der zweite Tag der Gefangenschaft fängt an. Das Wetter ist schlecht. Es nieselt und es ist feucht. Es gibt keine Chance auf Essen. Alle sind mit Mennige beschmiert. Es gibt keine Waschmöglichkeit, keine Toilette. Männer und Frauen erleichtern sich draußen an den Wänden. Keiner schämt sich, die Umstände zwingen zu solchem Verhalten. Erst später zeigte sich, dass auf dem Nebengleis der Kabelfabrik Güterwagen bereitgestellt wurden. Man holte daraus Kessel mit Kaffee, endlich dürfen wir etwas Warmes trinken. Andere Gefangene „organisierten“ frisches Brot und Margarine und teilten diese mit uns. Früh am Morgen wird eine Liste vorgelesen und damit begonnen, Gefangene in die Waggons zu „verladen“. Wir werden wie Vieh oder noch geringschätziger in die Waggons hineingetrieben. In diese „Viehwaggons“ müssen 60 Personen mit Gepäck rein. Es wird uns Essen für die Reise gegeben: je ein Laib Brot und ein bisschen Margarine. Die Verladung wird von Schreien begleitet: „Banditen”. Mein Freund „Moneta” und ich halten zusammen. Im Wagen stellen wir uns nah ans Fenster, das ist zwar nicht immer günstig, wie sich später herausstellt, aber zumindest kann man noch atmen. Wir stehen dicht gedrängt wie Sardinen, keiner kann die Position wechseln, das müssen wir erdulden. Das Schlimmste daran ist, dass es keine Toilette gibt. Wir finden eine Lösung: wir schneiden eine Öffnung im Boden aus, die jedoch für manche Notdurft zu klein ist. Der Kollege Leszek Brzozowski stellte einen 1‐Liter‐Becher für sanitäre Zwecke zur Verfügung, dessen Inhalt durch ein vergittertes Fenster ausgegossen werden muss. Manchmal gelingt dies nicht, dann landet der Inhalt teilweise auf den Köpfen der am nächsten Stehenden. Die Reise unter solchen Umständen dauert drei Tage und drei Nächte. Inzwischen wurde die Tür des Waggons nur zweimal kurz geöffnet. In einer Nacht ist der Sturm besonders stark. Plötzlich erwachen wir wegen durchdringender Kälte und Schneeregens. Der Wind reißt das Dach des Wagens ab. Wir sehen über uns den schönen, bedrohlichen Himmel, es gibt keine Spur vom Dach mehr. Im ersten Moment wollen wir flüchten, dann drängte sich jedoch die Erkenntnis auf, dass wir auf deutschem Gebiet, in einer unbekannten Gegend sind und schnell erwischt werden können. Unsere Schreie und Schläge gegen die Wände hört keiner. Viel Zeit vergeht bis der Zug anhält. Wir sind durchnässt und durchgefroren, seit zwei Tagen hatten wir nichts mehr zu Essen. Die bewaffneten Wachmänner sind wütend, sie müssen die anderen Waggons öffnen und in jeden davon einige von uns hineinstopfen. Das ist nicht einfach und geht nicht ohne Beschimpfungen. Alles findet im Dunkeln, im Sturm und kalten Regen statt. Endlich fährt der Zug weiter, alle schweigen, im Stehen schlafen wir ein. Im Laufe des Tages wird der Waggon noch einmal geöffnet. Wir werden gezählt, als würde man befürchten, dass jemand flüchtet. Schlauere reißen auf einem Feld Kohlrüben und Kohlköpfe raus. Dies wirkt sich dann aber katastrophal auf ihre Gesundheit aus – bis zum Ende der Reise sind sie krank. Der Gestank im Waggon ist unerträglich. Länger würden wir die Kranken nicht mehr ertragen können. Wir haben nichts zu Essen und zu Trinken dabei, nicht alle haben Vorräte aus Warschau. Am dritten Tag früh öffnen die Deutschen die Waggons und lassen uns aussteigen. Es warten auf uns bewaffnete Wachmänner mit Hunden. Nicht alle können selbst aussteigen. Viele sind krank. Wir tragen diese aus den Waggons und legen sie direkt auf den Boden, später soll man sie in das Lager tragen. Die Station Lamsdorf liegt weit vom Lager entfernt. Man muss noch über zehn Kilometer laufen. Wir werden zu einer langen Kolonne formiert, ringsherum herrschte Chaos, überall hört man Rufe. Aufgeregte Hunde bellen und greifen uns an. Nach dem ziemlich frostigen Morgen wird der Tag heiter und sonnig. Mit Genuss atmen wir die frische Luft ein, die 77 KRIEGSGEFANGENSCHAFT 78 uns zwei Monate lang gefehlt hat. Die Kolonne bewegt sich langsam, die Bewacher schreien, langsamere Kollegen werden mit Hunden gehetzt. Während des Marsches erschleichen sich die Wehrmachtsoldaten von uns wertvolle Gegenstände, wie Uhren und Schmuck, indem sie uns überzeugen, dass uns während der Durchsuchung sowieso alles weggenommen werden wird. Manche glauben es und ich sehe, dass sie Dinge weggeben oder gegen Zigaretten und deutsche Marken tauschen. Viele ältere und schwächere Kollegen lassen ihr Gepäck zurück. Der Marsch dauert einige Stunden. Aus der Entfernung sehen wir Wachtürme, Stacheldrahtzaun und Baracken sowie die Einöde ringsum. Links sieht man weit entfernt einige Häuser und einen kleinen Wald. Gegen Mittag ist plötzlich eine Erregung feststellbar, alle schauen zum Himmel. In der Entfernung sieht man zwei Punkte, die sich ganz schnell in unsere Richtung bewegen. Es sind deutsche Flugzeuge. Wahrscheinlich im Übungsflug. Sogar die Deutschen werden ruhig und schauen zum Himmel. Die Flugzeuge entfernen sich, dann kehren sie um und fliegen aufeinander zu. Vielleicht starren die Piloten gerade unsere Riesenkolonne an. Plötzlich hört man Knall und Krach, die Flugzeuge stoßen zusammen. Sofort kommt es zu einer gewaltigen Explosion, Flammen steigen auf. Für die Augen mehrerer Tausend Aufständischer ist dies ein wundervolles Bild. Ein lauter Schrei ertönt und wir brechen in Jubel aus. Das Schicksal sorgt dafür, dass unseren Feinden Gerechtigkeit zuteil wird. Die Wachmänner erwachen wie aus dem Schlaf, wieder Schreie und Hundebellen. Die Kolonne zieht weiter, ihre Spitze ist schon fast am Tor des Lagers. Unter uns herrscht eine Riesenfreude. Alle freuen sich und kommentieren das Ereignis, als hätten wir vergessen, wo wir sind. Mit den Schreien: „polnische Banditen” werden wir zurechtgewiesen. Durch das Haupttor kommen wir auf das Lagergelände. Wir, Minderjährige, sollen uns mit einer Gruppe von Offizieren auf die linke Seite stellen. Alle Anderen auf die rechte Seite. Frauen, die in der Minderzahl sind, werden in separate Baracken verwiesen. Diese grenzen auf einer Seite an Slowaken, auf der anderen Seite an uns. Unter den Berufsoffizieren sind viele ältere Personen. Diese fallen vor Müdigkeit fast um, sie brauchen Hilfe. Es erwartet uns noch eine weitere Anstrengung – Durchsuchung und Unterbringung. Die Deutschen stellen uns auf dem „Plünderungsplatz“ in langen, endlosen Reihen auf. Wir legen alles, was wir besitzen vor uns hin und die Durchsuchung dauert bis spät in der Nacht. Nach einiger Zeit werden manche von uns in die Baracken geschickt. Von allen Seiten hören wir, dass wir polnische Banditen seien, mit denen Schluss zu machen ist. Wir sind wieder einen ganzen Tag lang ohne Essen. Vor Hunger kaue ich an meinem Gürtel. So ist zumindest mein Kiefer beschäftigt. Ich kriege ein bisschen lauwarmen „Kaffee“. Den trinke ich gierig aus. In der Baracke stehen in einem riesigen Saal dreistöckige Pritschen. Wir, als Jüngste, kriegen die oberen Stockwerke, was sich als sehr unangenehm erweist. Das ganze Ungeziefer sitzt an der Decke, vor allem Wanzen, die in der Nacht direkt auf unsere Gesichter fallen. In der Früh sehen wir schrecklich aus, blutbefleckt, mit Blut aus zerdrückten Wanzen beschmiert. Die Strohsäcke sind aus Papier und mit verfaultem Häcksel gefüllt. Darauf liegen Reste von Decken, mit denen wir uns zudecken. Der Morgen des ersten Tages im Lager ist frostig, aber heiter. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen schlafen wir unter menschenwürdigeren Bedingungen. An dem Tag findet kein Appell statt. Wir müssen uns ordentlich zurechtmachen. Wir sind schmutzig und verlaust, was viele nicht zugeben wollen. Als Erstes wasche ich mich möglichst genau. Das ist nicht einfach, weil es viele andere gibt, die sich auch waschen wollen. Dann bitte ich „Moneta”, dass er mir den Kopf kahlrasiert. Durch diese „Operation“ entsteht auf meinem Kopf ein blutiger Fleck. Nach dem Kopfwaschen und sich Erfrischen fühle ich mich viel besser, nur mein Aussehen hat sich verändert. „Moneta”, dessen Haar üppiger ist als meins, entscheidet sich auch für diese Operation und verspürt danach eine riesige Erleichterung, wie er später zugibt. Morgens ist es kühl, wir verschaffen uns aber eine Kopfbedeckung. Nach all den Aktivitäten schmeckt uns der warme „Kaffee“ und eine Brotschnitte sehr. Das ist die Tagesration, die ich sofort verschlinge. Der Hunger quält mich weiter. Man muss auf das Mittagessen warten, das nur die Stärkeren und Schlaueren bekommen. Wenn Kartoffeln fehlen, muss man sich mit dünner Flüssigkeit zufrieden geben, die man Suppe nennt. Und so fängt langsam unser „normales“ Lagerleben an. Manche verschaffen sich von irgendwoher Stroh, die Meisten schlafen aber auf nackten Brettern. Offiziere sorgen für Ordnung in den Baracken und versuchen, aus uns richtige Soldaten zu machen, was in einer so differenzierten Gruppe nicht immer erreichbar ist. Sie sorgen dafür, dass Kleidung und Schuhe gereinigt werden, damit den Deutschen bewiesen wird, dass wir Soldaten und nicht Banditen sind. Nicht alle haben das Glück in Baracken untergebracht zu werden. Manche Kollegen nächtigen noch unter freiem Himmel. Die Deutschen schaffen hastig russische Gefangene aus den Baracken fort, damit Aufständische in die Baracken ziehen können. Immer häufiger hörte man Schüsse in dem kleinen Wald in der Nähe des Lagers. HENRYK ŁAGODZKI Nach einigen Tagen werden ich und „Moneta” auf die andere Lagerseite, in viel schlimmere Umstände versetzt. Hier gibt es keine Strohsäcke, keine Deckenstücke, keine Pritschen, sondern nur dreistöckige primitive Lager; Fensterscheiben fehlen. Wir nehmen die Plätze unter der Zimmerdecke –hier setzen uns riesige Wanzen arg zu, es gibt Unmengen davon. Unsere Baracke steht am „Plünderungsplatz”, durch einem Draht abgetrennt. Zwei Baracken weiter, am nächsten zu den Mädchen vom Aufstand, sind der Friseur und die „Krankenstation“ untergebracht. Auf der rechten Seite befindet sich der nah am Stacheldraht und Wachturm gelegene „Appellplatz”, durch den man zum Klo (Latrine) gehen muss. Hier findet auch unser Tauschhandel mit Slowaken statt, die bessere Bedingungen haben und sogar Pakete kriegen. Nicht alle Wächter haben etwas dagegen. Manche drücken ein Auge dabei zu, man kann sie mit Zigaretten bestechen, die meisten von ihnen sind Schlesier. Nach einigen Tagen werden wir zum Badehaus getrieben, unsere Zivilkleidung wird uns weggenommen. Um meine schönen Reithosen, die ich am letzten Tag des Aufstandes von meinem Bruder gekriegt habe, tut es mir besonders leid. Dann wird man mit einem sehr stumpfen Rasierer, der den Körper verletzt, rasiert. Eine weitere Person pinselt die rasierten Stellen mit einer grauen, stinkenden, abscheulichen Masse zu, von der die meist verletzten Stellen stark brennen. Nach all diesen Operationen geht man unter die Dusche. Ein Wachmann reguliert die Wassertemperatur nach Lust und Laune: mal siedend heiß, mal kalt. Erst nach der Intervention der meisten Nackten passt er sich unseren Forderungen an. Jedem, bei dem Läusebefall festgestellt wurde, wird der Kopf zwangsweise rasiert. Anschließend werden wir zum Fotografen verwiesen. Jedem von uns wird eine Riesentafel mit einer Nummer auf die Brust gehängt, dann wird er von drei Seiten fotografiert. Manche erkennen sich auf den Fotos nicht wieder. Wir sehen nicht mehr wie Kriegsgefangene, sondern wie Kriminelle aus. Die Nächte im Lager sind meist unerträglich, weil wir während des gesamten Aufenthaltes im Lager Lamsdorf weder Strohsäcke noch Decken erhalten. Gefaltete Hosen dienen als Strohsack, Schuhe als Kopfkissen und eine Eine Gruppe von Kriegsgefangenen aus einem Stalag in der Nähe von Frankfurt a.M., 1940/1941 (AFPNP) 79 KRIEGSGEFANGENSCHAFT 80 Anzugjacke oder ein Mantel als Bettdecke. Die Baracken sind aus Holz, ohne Fensterscheiben, nicht geheizt. Der Herbst 1944 ist kühl. Am ärgsten setzt uns der Wassermangel zu. Ein Brunnen für einige Hundert Menschen ist absolut nicht ausreichend. Zum Waschen dient uns der „Kaffee“, den man uns zum Frühstück gibt, doch was kann man mit wenigen Tropfen dieser Flüssigkeit schon anfangen? So ist es um die Hygiene im deutschen Kriegsgefangenenlager bestellt. Es rettet uns nur, dass man uns ab und zu ins Badehaus bringt. Unausstehlich ist auch das Mittagessen. Manches ist nicht essbar, in der Regel reichen die Kartoffeln nicht für alle. Am schlimmsten sind die Tage, an denen es getrocknete Kohlrüben zu Mittag gibt, diese kann man sogar gekocht nicht runterkriegen. Tägliche Appelle sind gleichzeitig ein Alptraum und eine Abwechslung in unserem eintönigen Leben. Diese dauern stundenlang ungeachtet des Wetters, wir werden mehrmals durchgezählt. Ich erinnere mich, dass einmal die deutsche Filmchronik kam und die deutsche Propaganda – Abteilung sich für einen unserer jüngsten Kollegen interessierte – für den vielleicht 10‐jährigen „Kajtek”, der in hohen Stiefeln lief und nicht besonders groß war. Sie konnten nicht glauben, dass so kleine Jungs so tapfer kämpfen konnten, offensichtlich wollten sie ihn als Beispiel Mitgliedern der Hitlerjugend zeigen. Es kam öfters vor, dass wir die Vermittlung sowjetischer Gefangener nutzten, die bestimmte Funktionen hatten und u.a. Exkremente aus Latrinen beseitigten. Sie hatten Zugang zu allen kleinen Lagern auf diesem Gelände, sowie zur Küche, zum Badehaus usw. Von ihnen konnten wir Informationen über das Schicksal unserer Offiziere einholen, durch ihre Vermittlung konnten wir Tauschgeschäfte machen. In dieser Zeit rauchte ich Zigaretten, was für einen ausgehungerten Magen nicht besonders gesund ist. Eine Zigarette teilte man in vier Stücke und rauchte in einer Zigarrenspitze. Um den Rauchenden versammelten sich Kollegen, die den Rauch mit Vergnügen einatmeten. Wenn uns Zigaretten fehlten, klaubte man Knorren aus Brettern heraus oder riss Blätter von dem einzigen dort wachsenden Baum ab und rauchte diese in einer Selbstgedrehten aus Zeitung. Danach kam die Fahrt nach Mühlberg. Vor der Abfahrt gibt es natürlich eine Durchsuchung auf dem „Plünderungsplatz“. Wir verabschieden uns herzlich von Kollegen, die im Lager bleiben, mit „bis bald im freien und unabhängigen Polen!”. Jetzt werden wir auf einem anderen Weg, das gesamte Lager entlang, durch dessen Mitte geführt. Auf beiden Seiten sieht man Lagerbauten, Lagerräume, Waschhäuser und sowjetische Lager. Man sieht die ausgemergelten Gestalten sowjetischer Gefangener, welche die schlimmsten Arbeiten verrichten. Sie werden auch anstelle von Pferden vor Wagen gespannt. Diese von allen vergessenen Gefangenen taten uns am meisten leid. Wir teilen mit ihnen Zigaretten und andere verfügbare Dinge. Die Eskorte erlaubt keine Gespräche, doch man findet immer eine Gelegenheit. Vor uns erscheint der Güterbahnhof Lamsdorf. Wir werden wieder in Güterwaggons, fünfzig Personen auf jeden Waggon „verladen“. Nach zwei Tagen anstrengender Reise kommen wir in Mühlberg an. Unterwegs werden wir besser behandelt und nach der Ankunft im Lager in zwei Baracken untergebracht, die von dem großen Lager mit Draht abgetrennt sind. In diesem Quadrat werden auch unsere Mädchen untergebracht. Im Vergleich zu Lamsdorf erscheint uns dieses Lager wie das Paradies. Wir sehen hier Gefangene verschiedener Nationalitäten, die sogar frei Ball spielen; saubere Baracken, Decken, Strohsäcke, und das Wichtigste: frische und saubere Uniformen. Gefangene erhalten Pakete vom Roten Kreuz, daher sind sie satt, was man von uns nicht sagen kann. Nach wenigen Tagen erhalten auch wir je eine Hälfte eines kanadischen Pakets. Viele von uns werden krank, weil unsere Mägen so viele Köstlichkeiten nicht vertragen. Noch bevor wir die Pakete bekommen, werden manche Kollegen in Absprache mit der Lagerführung von Engländern und Amerikanern eingeladen. Sie werden sehr herzlich aufgenommen und mit Zigaretten, Schokolade und Dosenfleisch beschenkt. Auch andere, denen diese Ehre nicht zuteil wird, erfahren viele herzliche Gesten. Man wirft uns Zigaretten und andere Dinge über den Zaun zu. Am 6. Dezember erhalten wir alle zum Nikolaustag Geschenke von Engländern. An dem Tag findet auch die heilige Messe mit Kommunion statt. Mitte Dezember 1944 werden wir mit einem Personenzug nach Brokwitz geschickt, angeblich zur Glashütte in der Fabrikstrasse 1. In der Tat werden hier Rümpfe von Flugzeugen gebaut. Unsere kleine Gruppe wird von zivilen Deutschen, Arbeiter dieses Werkes, eskortiert. In der Fabrik werden wir in einer großen alten Fabrikhalle untergebracht. Diese hat einen Ziegelboden und nur zwei Oberlichter, die kaum Licht einlassen. Glücklicherweise ist die Lüftung gut, weil in dem Raum fünfzig Leute wohnen. Wieder leben wir unter schweren Umständen. In dem Raum, wo wir untergebracht sind, gibt es keine Pritschen. Wir kriegen nur Holzwolle, aus der wir uns Schlafstätten machen. Es beaufsichtigt uns ein lahmer deutscher Offizier, ein Veteran von 1914, und Stubendienst hat ein Unteroffizier. HENRYK ŁAGODZKI In einer riesigen Fabrikhalle arbeiten wir bei der Vernietung und Montage von Flugzeugrümpfen. Es zeigte sich im Nachhinein, dass keins dieser Flugzeuge je geflogen ist. Deren Entwickler wurde angeblich erschossen. Im Nebensaal wohnen die jüngsten Kollegen, die damals 10 bis 15 Jahre alt waren. Man behandelt sie schlecht und sie müssen als Schuster und Schneider schwer arbeiten, obwohl sie keine Ahnung von diesen Berufen haben. Wir befinden uns 17 Kilometer von Dresden entfernt. Wir überleben alle Bombardierungen der Stadt. Wir sehen den von Raketen erhellten Himmel und das vom Himmel herabprasselnde Feuer – so geht die Stadt zugrunde. Die Front nähert sich. Wir hören das Dröhnen der Kanonen immer näher. Wir hoffen, dass es nicht mehr lange dauert. Jetzt erhalten wir wieder amerikanische Pakete. Es gibt darin Zigaretten, für die man alles kaufen kann. Wir kriegen auch englische Uniformen, doch ohne Schuhe – nur Stulpen für Reithosen. Endlich sehen wir wieder wie Menschen – Soldaten aus. Unsere Mäntel haben am Rücken eine mit weißer Farbe gemalte Aufschrift „Kriegsgefangener”. Aber dagegen finden wir auch eine Lösung. Wir wischen die Aufschrift ab und malen ein kleines rotes Dreieck darauf – wie es Gefangene im Jahr 1939 hatten. An Weihnachten 1944 sind wir hoffnungsvoll und satt. Wieder kriegen wir Pakete. Die Front hört man immer näher, Luftangriffe der Alliierte werden immer häufiger. Nachts zwingt man uns, in den Bunker auf dem Hof zu laufen. Die Deutschen verstecken sich und wir stehen draußen und beobachten das brennende Dresden. Es herrscht dann weniger Disziplin. Mitte April 1945 werden wir evakuiert. Wir werden in Richtung der tschechischen Grenze getrieben. Wir gehen in der Regel nachts, tagsüber erholen wir uns. Am 8. Mai, irgendwo im Gebirge nahe an der tschechischen Grenze, dienen wir als Deckung für die sich zurückziehende deutsche Armee. Auf den Hügeln sehen wir sowjetische Kanonen stehen. Die sind in unsere Richtung gerichtet und es passiert... Staub, Dröhnen, Qualm – viele menschliche Leichen und getötete Pferde. Die meisten Opfer sind jedoch wir, die jüngsten Soldaten der Heimatarmee, jetzige Kriegsgefangene. Haben die Sowjetbürger die großen weißen Aufschriften „Kriegsgefangene” nicht gesehen? Nicht alle haben ihre Aufschriften abgewischt. In diesem Augenblick laufen alle in den Wald . Hier ist es sicherer. Hier sind sogar die SS‐Männer nett und lächeln uns an. Auf diese Weise wurden wir von der Roten Armee befreit. Daneben waren die Amerikaner da, doch ich und „Moneta” beschlossen, nach Warschau zurückzukehren. Die Stadt war uns wichtig – dort ließen wir unsere Familien zurück. Dort blieb unsere Jugend, dort kämpften wir um die Freiheit Polens. Nach einer anstrengenden Reise kehrte ich am 22. Mai 1945 nach Warschau zurück. So endete mein sechsjähriges Kriegsepos. Kriegsgefangener Henryk Tomaszewski (rechts) mit seinem Kameraden beim Dreschen, Allstedt, Sachsen−Anhalt, 1941 (AFPNP) 81 AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS 82 Aussiedlungen der polnischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs Der grundlegende Kurs der deutschen Germanisierungspolitik in den von Deutschland besetzten Gebieten bestand in der Aus‐ und Umsiedlung der Bevölkerung aus den Gebieten, die in das Dritte Reich eingegliedert wurden. Die wichtigsten Ansätze wurden noch vor dem deutschen Überfall auf Polen festgelegt und in Hitlers Erlass vom 7. Oktober 1939 über die Festigung deutschen Volkstums bestätigt. Das Hauptziel war die Beseitigung „fremder Rassen“ aus den in das Deutsche Reich eingegliederten Gebieten und die Ansieldung von Deutschen, die im Ausland lebten (unter anderem aus den Ostseegebieten Estlands und Lettlands). Für die Umsetzung dieses Plans war Heinrich Himmler verantwortlich, der das Amt des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums übernahm. Das Konzept sollte mithilfe von direkter und indirekter Ausrottung in die Tat umgesetzt werden. Zum Zeitpunkt des Überfalls Nazideutschlands auf Polen verließ die Bevölkerung ihre Wohnorte und floh vor der anrückenden Armee. Nach dem Ende des Verteidigungskrieges kehrte ein Teil der Einwohner in ihre Häuser zurück, ein Teil kam dagegen bei Kriegshandlungen, Bombenangriffen oder Beschuss durch die Luftwaffe um. Andere sind aus Angst vor Verhaftungen (polnische Aktivisten oder frühere Teilnehmer der Aufstände in Oberschlesien 1919‐1920) nicht heimgekehrt. Diese Flüchtlinge leiteten eine Welle von Massenaussiedlungen ein, die über den ganzen Zeitraum der Okkupation andauerte. Aussiedlungen aus den in das Dritte Reich eingegliederten Gebieten Aussiedlungen der polnischen Bevölkerung durch die Deutschen begannen beinahe direkt nachdem die Front vorübergezogen war. Sie wurden als „wilde Aussiedlungen“ bezeichnet und von den lokalen Behörden initiiert. Sie betrafen besonders Gebiete, die in das Deutsche Reich eingegliedert werden sollten (Pommern, Schlesien, Großpolen) und als strategisch wichtig angesehen wurden. Ein Beispiel hierfür ist unter anderem Gdingen, wo aufgrund des nahe gelegenen Militärhafens die Anwesenheit von Polen als schädlich angesehen wurde. Bereits einen Tag nach der Einnahme der Stadt durch die Deutschen – am 14. September – begannen die ersten Verhaftungen, deren Ausmaß im Oktober 1939 deutlich zunahm. Zu diesem Zeitpunkt erschienen Bekanntmachungen, die den Bewohnern das sofortige Verlassen ihrer Häuser befahlen, wobei sie ihre Hausschlüssel in den Türen stecken lassen sollten. Insgesamt wurden 50 000 Personen aus Gdingen ausgesiedelt. Während der so genannten „wilden Aussiedlungen“ siedelten die deutschen Behörden bis Ende November 1939 35 000 Menschen aus den in das Deutsche Reich eingegliederten Gebieten in Gebiete des Generalgouvernements um. Im Oktober 1939 beschloss die deutsche Verwaltung die Aussiedlung von mindestens 700 000 Polen aus Großpolen und Pommern. Das Ausmaß dieser Maßnahme machte eine systematischere Durchführung der Aktion notwendig. Am 11. Dezember 1939 wurde der Sonderstab „für die Evakuierung und den Abtransport der Polen und Juden“ gegründet, der bald in das „Amt für die Umsiedlung der Polen und Juden“ umbenannt wurde. Im April1940 änderte man den Namen in „Umwandererzentralstelle“. Der Sitz dieser Institution befand sich in Posen, bereits nach einigen Wochen wurde eine Dienststelle in Łódź eröffnet. Am 15. November 1940 wurde eine ähnliche Zentrale in Danzig eröffnet und danach wurden je nach Bedarf des deutschen Staates Niederlassungen in anderen Städten eröffnet (z.B. in Zamość). Die Hauptaufgabe dieser Ämter war es, die Abschiebung der einheimischen Bevölkerung aus diesen Gebieten schnellstmöglich zu organisieren (dies betraf auch Juden und Roma). Dafür wurde ein Netz von Umsiedlungs‐ und Durchgangslagern geschaffen, in denen die vorläufige Selektion der Bevölkerung durchführt wurde. Das erste Lager unter der Verwaltung der oben genannten Stellen entstand zur Jahreswende 1939/40 in Łódź, in der Łąkowa Straße 4. Dies war das Durchgangslager der Umwandererzentralstelle Posen, Dienststelle Litzmannstadt. Es diente zur Registrierung der Ausgesiedelten und deren Umsiedlung in die Gebiete des Generalgouvernements (in der Anfangszeit seines Bestehens). Später wurden die Ausgesiedelten zu Zwangsarbeit in das Deutsche Reich deportiert, AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS und im Jahr 1943 auch in Gebiete des besetzten Frankreichs. In Łódź gab es noch einige weitere Lager, darunter auch Kinderlager. Der Umwandererzentralstelle in Danzig wurden die Lager in Potulitz (später in Lebrechsdorf umbenannt), Thorn und Smukała unterstellt. Das Lager Potulitz diente anfangs als Bezugsquelle für Arbeitskräfte für Industriewerke und die Landwirtschaft im Reichsgau Danzig‐Westpreußen. Später wurden auf dem Gebiet des Lagers Filialen einiger Industriewerke und Werkstätten von Handwerksbetrieben eröffnet und das Lager wurde zu einem Arbeitslager, in dem ganze Familien lebten. Das Lager war bis zu der Befreiung im Januar 1945 in Betrieb. Die Aussiedlungen aus dem Regierungsbezirk Zichenau liefen über das Lager in Soldau (Działdowo), welches im Zeitraum von Februar bis Mai 1940 als Durchgangslager für Polen diente, die aus dem ehemaligen Landkreis Płock und Zichenau, sowie aus dem Gebiet von Bialystok ausgesiedelt wurden. In dieses Lager wurden auch die Bewohner des Landkreises Przasnysz gebracht, wo man mit dem Bau eines Truppenübungsplatzes begann, nachdem zuvor ganze Dörfer ausgesiedelt worden waren. Eine der am besten organisierten Aussiedlungsaktionen war die Aussiedlung der Bewohner des Landkreises Żywiec (hauptsächlich Dorfbewohner) in das Generalgouvernement. Die Aktion lief unter dem Decknamen „Saybusch Aktion“ und begann am 22. September 1940. Die Aktion war sorgfältig vorbereitet, die Aussiedlungen gingen schnell vonstatten, gemäß eines zuvor festgelegten Zeitplans und auf Grundlage von Namenslisten. Alles geschah unter der Aufsicht von Truppen des SS‐Räumungsstabs. Alle Transporte fuhren zum Bahnhof in Łódź, erst von dort aus wurden die Transporte zu ihren Bestimmungsorten in den Distrikten Lublin, Warschau, Krakau und Radom geschickt. Die Aktion wurde im Januar 1941 beendet. Die Aussiedlung der Dörfer begann am frühen Morgen. Familien durften bis zu 15kg Gepäck mitnehmen, das Packen durfte nicht länger als 15 Minuten dauern. Das Vermögen – also das Haus, die Einrichtung, die Wirtschaftsgebäude und das Inventar wurden Eigentum der deutschen Siedler. Im Winter 1939/40 wurden aus den an das Deutsche Reich angeschlossenen Gebieten zwangsweise etwa 860 000 Polen ausgesiedelt, indem man sie mit ihrem Gepäck in das Generalgouvernement vertrieb. An ihre Stelle siedelte man ca. 400 000 Deutsche an, die (gemäß dem Deutsch‐Sowjetischen Grenz‐ und Freundschaftsvertrag vom 28.09.1939) aus den östlichen, von der Sowjetunion annektierten Gebieten Polens umgesiedelt wurden, und später auch aus Litauen, Lettland, Estland und dem rumänischen Bessarabien – nach der Annektierung dieser Gebiete durch die Sowjetunion im Sommer 1940. Hauptaussiedlungen in den Gebieten des Generalgouvernements Die Aussiedlungen und Umsiedlungen betrafen auch die Gebiete des Generalgouvernements. In den Jahren 1940‐ 1941 wurden etwa 170 000 Menschen aus der Umgebung von Radom, Dębica und Lublin ausgesiedelt. Auf diesen Gebieten richteten die Deutschen Truppenübungsplätze ein. Ein Teil der ausgesiedelten Bevölkerung wurde zu Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, der Rest musste selbständig neue Wohnorte finden. Das Schicksal der Ausgesiedelten interessierte die Deutschen nicht im Geringsten. Zamość-Land (1942-1943) Ende 1942 begannen die deutschen Behörden mit einer umfangreichen Umsiedlungsaktion in der Region Zamość. Die ersten Probe‐Aussiedlungen wurden bereits ein Jahr zuvor durchgeführt. Im Zeitraum vom 6. bis zum 25. November 1941 wurden die Bewohner einiger im Gebiet um Zamość gelegener Dörfer (ca. dreitausend Menschen) ausgesiedelt. Am 12. November 1942 wurde eine Anordnung von Heinrich Himmler veröffentlicht, in der Zamość zum ersten geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet im Generalgouvernement erklärt wurde. Zu diesem Zweck sollte die lokale Bevölkerung fortgeschafft werden. In Zamość wurden eine Dienststelle der Umwandererzentralstelle sowie Durchgangslager in Zamość und in Zwierzyniec gegründet; dorthin wurde die ausgesiedelte Bevölkerung geschickt. Diese Lager waren nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu weiteren Repressionen. Viele Erwachsene wurden in die Konzentrationslager nach Oświęcim (KL Auschwitz) und Lublin (KL Majdanek) gebracht oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Kinder sowie Personen, die nicht arbeitsfähig waren, wurden in andere Gebiete des Generalgouvernements umgesiedelt (in Ortschaften der ehemaligen Landkreise Siedlce, Garwolin, Mińsk und Łuków). Im Sommer 1943 wurde die Aktion aufgrund des entschlossenen Widerstands des polnischen Untergrundes, der Flucht der Bevölkerung und der sich verschlechternden Situation der deutschen Armee an der Ostfront eingestellt. 83 AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS 84 Weitere Aussiedlungen In den Jahren 1942‐1943 waren mehr als 28 000 Menschen aus dem Bezirk Białystok von Aussiedlungen betroffen. Im Sommer 1943 siedelte man als Vergeltungsmaßnahme für Partisanenaktionen ungefähr 20 000 Bewohner des Nalibocka‐Waldes aus. Diese Gebiete waren vor Kriegsbeginn Teil der II. Polnischen Republik, in der Zeit des Kriegs gehörten sie zum Generalkommissariat Litauen. Massenhaft wurde auch die Bevölkerung der frontnahen Gebiete ausgesiedelt. In der zweiten Hälfte des Jahres 1944 wurden Bewohner ganzer Dörfer entlang der Frontlinie, die durch die Flüsse Narew, Weichsel und Wisłok verlief, vertrieben. Die Aussiedlungen wurden von „Pazifikationen“, also Zerstörung der Dörfer und Ermordung oder Vertreibung der Bewohner, begleitet. Die Aussiedlung Warschaus Während des Warschauer Aufstandes und auch nach seiner Niederschlagung wurde aus Warschau und den anliegenden Ortschaften beinahe die gesamte Zivilbevölkerung ausgesiedelt. Insgesamt wurden damals 500 000 – 600 000 Menschen vertrieben. Ein Teil der Ausgesiedelten kam in Konzentrationslager, ein Teil wurde zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert, manche sind geflüchtet, der Rest wurde in die südlichen Gebiete des Generalgouvernements ausgesiedelt. Die Aussiedlung der gesamten Bevölkerung Warschaus und die Zerstörung der Stadt waren beispiellos in Europa. Den Berechnungen des polnischen Historikers Czeslaw Madajczyk zufolge (die unvollständig sind, da sie nicht alle Gebiete der ehemaligen II. Polnischen Republik umfassen) wurden während des zweiten Weltkriegs 1 650 000 Polen ausgesiedelt. Ein Lager der Umwandererzentralstelle, vermutlich Łódź / Litzmannstadt, 1940 (IPN) ZENON MIKOŁAJCZYK 85 ZENON MIKOŁAJCZYK Meine Erlebnisse als Junge aus der Zeit deutscher Aktionen zur Aussiedlung von Polen aus den an das Deutsche Reich angeschlossenen Gebieten Zenon Mikołajczyk wurde am 4. Juni 1933 im Dorf Długie geboren, in der damaligen Woiwodschaft Łódź (Lodz, Lodsch, in der Nazizeit auch Litzmannstadt). In den ersten Apriltagen des Jahres 1940 wurden alle Dorfbewohner dazu gezwungen, innerhalb einer halben Stunde ihre Häuser zu verlassen und ihr ganzes Hab und Gut deutschen Siedlern zu überlassen. Die Familie Mikołajczyk kam mit anderen Familien ins Durchgangslager Konstantynów bei Łódź, wovon sie dann nach vier Monaten nach Pilczyn im Generalgouvernement verschleppt wurde. Nach dem Krieg kehrte sie auf den verlassenen Bauernhof zurück, ihr Haus stand aber nicht mehr. AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS 86 chon einige Zeit vorher sprach man von der Gefahr möglicher Aussiedlungen aus unserer Heimatgegend, aber so richtig glaubte das wohl keiner. So war es für alle eine vollkommene Überraschung, als der Augenblick tatsächlich kam. Um fünf Uhr morgens wurde ich von meinem Vater geweckt: „Wir werden ausgesiedelt, wir haben nur eine halbe Stunde Zeit, zieh dich an!“. So hat für meine Familie und für unser ganzes Dorf Długie ein Aprilmorgen des Jahres 1940 begonnen. Ich war damals kaum sieben Jahre alt. Ich sah sofort, dass ein deutscher Soldat mit schussbereitem Gewehr in unserer Wohnung stand. Ein anderer, genauso bewaffneter Soldat stand draußen und wachte darüber, dass niemand weglief. Nach einer halben Stunde, egal ob wir fertig waren oder nicht, mussten wir alle unser Haus und den Hof verlassen. Unsere Familie bestand aus Vater, Mutter, drei Söhnen und Großmutter, sowie aus meinem Onkel – dem Bruder meiner Mutter, der meinem Vater gewissermaßen als Bediensteter im Haushalt behilflich gewesen war. Mein Onkel wurde aber im Dorf zurückbehalten und musste für die Deutschen arbeiten, die gekommen waren, um die den Polen weggenommenen Höfe zu übernehmen. Er arbeitete bei ihnen sehr schwer während der ganzen deutschen Besatzungszeit – ohne angemessene Verpflegung und ohne jeglichen Lohn. Nun aber zurück zur Aussiedlung unseres Dorfes: Als ich das Haus verlassen hatte, sah ich, dass draußen schon sehr viele Dorfbewohner unterwegs waren und dass einzelne Familien dabei waren, sich diesem Zug von Menschen anzuschließen. Alle trugen viele verschiedene Bündel bei sich – jeder hatte versucht, so viel wie möglich an Kleidern oder Essen mitzunehmen – aber das nützte nichts, weil die Deutschen uns danach zu Fuß drei Kilometer weit trieben, sodass viele, darunter auch mein Vater, allzu schwere Pakete zurücklassen mussten. Die Stimmung unter den Vertriebenen war düster. Unser weiteres Schicksal war ungewiss. Die ganze lange Menschenkolonne wurde von bewaffneten deutschen Soldaten bewacht. Frauen beteten und weinten leise. Jeder hatte sein ganzes Hab und Gut, sein Haus, Tiere und Maschinen zurücklassen müssen. Meine Eltern besaßen ein Landgut von 10 Hektar Fläche, voll mit lebendem Inventar: zwei Pferde, vier Kühe, über ein Dutzend Schweine, einige Dutzend Geflügel. Jetzt waren sie gezwungen all das zurückzulassen. Auf diesem Marsch voll Tränen und Trauer wurde uns eine freundliche Geste entgegengebracht, von einer deutschen Frau, die seit vielen Jahren in unserem Dorf wohnte. Sie kam uns entgegen, um ihr Mitgefühl zu zeigen wegen des Unglücks, das uns widerfahren war und um wenigstens den am nächsten Vorbeigehenden einen selbstgebackenen Kuchen anzubieten. In unserem großen Dorf Długie hatten vor dem Krieg drei deutsche Familien gewohnt. Ihre Beziehungen zu den übrigen Bewohnern waren nach dem, was erzählt wurde, immer gut gewesen. Nicht einmal bei Ausbruch des Krieges im September 1939 hätten sie sich verschlechtert. Der Fußmarsch mit Gepäck auf dem Rücken oder in den Händen ging ungefähr drei oder vier Kilometer weit, je nachdem, wie weit weg die jeweiligen Familien ihren Wohnsitz im Dorf hatten. Auf dem ganzen Weg wurden wir von den deutschen Soldaten als Menschen von niederem Rang und Wert, als Sklaven behandelt. Wir waren sehr verängstigt. Diese Etappe des Fußmarsches endete im Ort Dzierzbice. Dort fand eine Selektion statt. Zuerst suchte man Jugendliche im Alter ab 18 Jahren aus, die sofort als geeignet für Zwangsarbeit in Deutschland eingestuft wurden. Für die übrigen wurden zwei mit Planen abgedeckte Lastautos ohne Sitzplätze bereitgestellt. In diesen Autos pferchte man alle übrigen vertriebenen Bewohner unseres Dorfes buchstäblich mit Schlägen zusammen, so wenig Platz gab es darin. Die Planen wurden verschnürt und die Lastautos fuhren los. Wir sahen nichts und keiner von uns kannte das Ziel dieser Reise. Es stellte sich heraus, dass wir zuerst nach Kutno transportiert wurden, von wo aus man uns dann mit Bussen ins Durchgangslager von Łódź brachte. Dort fand eine Registrierung statt und es wurden noch andere bürokratische Tätigkeiten vorgenommen. Dabei wurden wir immer noch ständig von Deutschen bewacht. Dort holte uns der Abend ein. Den ganzen Tag lang, vom frühen Morgen bis zum Abend, hatten wir nichts gegessen und nichts getrunken, es war aber bezeichnend, dass wir weder Hunger noch Durst verspürten. Von Lódź wurden wir noch am selben Tag, oder genauer gesagt schon in der Nacht (es war ungefähr 22.00 Uhr), ins Lager im nahegelegenen Konstantynów gebracht. Erst dort wurde unser Gepäck durchsucht, und auch wir wurden dort gründlichen Leibesvisitationen unterzogen. Männer und Frauen wurden dabei getrennt durchsucht. Meinen jüngeren Brüder nahm meine Mutter mit zur Durchsuchung, während mich mein Vater dorthin begleitete. Allen wurden Geld, Schmuckstücke und Wertgegenstände weggenommen. Nur Eheringe durfte man behalten. Sogar Verpflegung wurde beschlagnahmt. Ich und mein Vater gerieten an einen relativ gutmütigen Deutschen. Mein Vater nahm seine Brieftasche von allein heraus und gab ihm das Geld. Er musste nur noch kurz seinen rechten Schuh und seinen Mantel ausziehen, damit geprüft werden konnte, ob er dort nicht etwas versteckt hatte. Ich stand währenddessen an der Wand, einige Schritte von ihnen entfernt, und hielt eine große Teekanne in der Hand. In der S ZENON MIKOŁAJCZYK Teekanne war eine in Stücke zerteilte Osterwurst versteckt, die mir eigentlich hätte weggenommen werden müssen, die aber alle schon längst vergessen hatten. Der Deutsche beachtete mich gar nicht, und als er mit meinem Vater fertig war, durften wir beide gehen. Die Wurst war gerettet. Im Lager von Konstantynów wurden alle in einer Fabrikhalle untergebracht – jede Familie hatte ein Stück des Betonbodens für sich. Wir schliefen auf Stroh – jeder deckte sich damit zu, was er dabei hatte, meistens also mit den eigenen Kleidern. Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt und wurde von bewaffneten Deutschen bewacht. Es soll schon Fluchtversuche gegeben haben, die aber laut Erzählungen alle mit der Erschießung der Fliehenden geendet hatten. Zum Essen und Trinken bekamen wir gerade so viel, dass niemand verhungerte: Malzkaffee ohne Zucker und eine kaum genießbare Suppe, aber Brot war nach meinem Empfinden reichlich vorhanden. Im Lager herrschte Wassermangel – das Wasser musste regelmäßig in Fässern hergebracht werden. Zum Schieben des Wagens mit den Fässern wurden immer vier Männer abkommandiert. Im Lager bildete sich jedes Mal eine Schlange derjenigen, die den Wagen schieben wollten. Für sie war das eine Gelegenheit, auch nur für eine Weile ins Freie zu kommen oder manchmal sogar etwas für die Kinder zu besorgen. Meinem Vater gelang es ein paar Male mitgehen zu dürfen, um Wasser zu holen. Nach drei oder vier Monaten mussten wir ganz unerwartet das Lager verlassen und wir wurden, immer noch bewacht, mit einem Zug bis zur Eisenbahnstation von Garwolin gebracht. Erst dann endete für uns die deutsche Bewachung und wir wurden polnischen Behörden übergeben. Mit einem Bauernfuhrwerk wurde meine Familie nach Łaskarzewo gebracht, von wo aus der Gemeindevorsteher uns dann nach Pilczyn schickte. Wir fanden Unterkunft bei einem dortigen Bauern, der eine freie Kammer mit einem kleinen Fenster hatte. In den ersten Nächten schliefen wir auf dem Fußboden. Am Anfang halfen uns die Bewohner dort dabei, nicht zu verhungern, indem sie uns Brot und Milch gaben, obwohl sie selbst sehr arm waren. Mein Vater nahm gelegentliche Arbeiten an, um die Familie zu versorgen, bis er sich schließlich darauf spezialisierte, Dächer mit Stroh zu decken. Er machte das nach einer in jener Gegend unbekannten Deckmethode. Im Winter fertigte er Schuhe mit Holzsohlen. Dort erlebten wir die Befreiung, immer noch darauf hoffend, nach Hause zurückzukehren. Nach dem Krieg kehrten wir dann in unser Heimatdorf zurück. Ich war damals schon elf Jahre alt und ich erinnere mich noch daran, wie wir einige Tage lang mit verschiedenen Beförderungsmitteln unterwegs waren – mit Fuhrwerken und einem Zug mit offenen Waggons. Unser Haus stand nicht mehr. Eine deutsche Familie, die außer unserem Hof auch noch einen anderen übernommen hatte, hatte das „überflüssige“ Gebäude abgerissen. Sie hatte auch alle Tiere mitgenommen, sodass keine mehr zurückgeblieben waren. Die Deutschen hatten es geschafft, vor der anrückenden Front samt unseren Pferden, Wagen und anderen Gütern zu flüchten. Im Herbst hatten sie nicht einmal Wintergetreide gesät. Ohne Hilfe von irgendjemandem begann mein Vater, unseren ganzen Bauernhof wiederaufzubauen. Rassenselektion, Ort und Datum unbekannt (WBBH) 87 AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS 88 KAZIMIERZ BĄCZKIEWICZ Schicksale der Vertriebenen Der Autor wurde im Jahre 1922 in Ciążeń, in Großpolen geboren. Am 13. Mai 1941 siedelten die deutschen Besatzungsbehörden einige Dutzend polnische Familien aus dem Dorf Ciążeń aus. Die verlassenen Häuser und Bauernhöfe waren von da an für deutsche Siedler bestimmt. Unter den Vertriebenen waren Kazimierz Bączkiewicz und seine Eltern. Nach einer Vorselektion in Koło wurden die Bączkiewiczs zuerst in ein Durchgangslager nach Łódź gebracht, und dann zur Zwangsarbeit auf ein Landgut im Ort Wollstein (Hessen) verschleppt. Der Autor dieses Berichts arbeitete anfangs bei der Tierzucht und beim Fällen von Bäumen. Nach der Befreiung durch die amerikanische Armee im April 1945 kehrte er nach einem halbjährigen Aufenthalt in Kassel mit seinen Eltern nach Hause zurück. KAZIMIERZ BĄCZKIEWICZ Am 13. Mai 1941, noch vor der Morgendämmerung, kündigten Gewehrkolbenschläge an der Eingangstür eines Dorfhauses und die Rufe „Aufmachen!“ den Anfang meines Schicksals als Vertriebener an. Ich war damals 19 Jahre alt. Vor Ausbruch des Krieges hatte ich die allgemeine Grundschule in Ciążeń und die erste Klasse am privaten koedukativen Handelsgymnasium in Słupca absolviert. Ich rechnete mit der Möglichkeit, zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert zu werden, obwohl ich schon, sowohl 1940 als auch im Frühjahr 1941, mit einigen Dutzend Leuten unter Zwang und ohne Entgelt als Scharwerker beim Abtragen eines Hügels auf dem Weg zwischen Ciążeń und Ląd bei Policko gearbeitet hatte. Damals war das noch ein Feldweg, den man für die Befestigung vorbereitete. Ich wohnte mit meinen Eltern in Ciążeń und da der Frühling in diesem Jahr besonders spät und kalt war, schlief ich in unserem Haus. Den ganzen vorigen Sommer lang hatte ich, genauso wie meine Altersgenossen, in der Scheune geschlafen, um im Falle einer Razzia in die Felder flüchten zu können. Als mein Vater in jener unvergessenen Nacht die Tür öffnete, sah er zwei deutsche Gendarmen, die ihm in gebrochenem Polnisch mitteilten, dass wir alle ausgesiedelt würden und innerhalb einer halben Stunde zum Fortgehen bereit zu sein hätten. Die Gendarmen waren zum Militärdienst einberufene Deutsche, die vor dem Krieg in verschiedenen Orten des Landkreises Konin gewohnt hatten. Beide konnten zwar Polnisch, gaben sich aber sehr wichtig. Wir konnten uns vor Aufregung kaum bereitmachen und wussten nicht, was wir anziehen oder was wir mitnehmen sollten. Wir wussten nicht einmal, was aus uns werden würde. Wir durften nur Handgepäck mitnehmen, also Wäsche und Ausweispapiere, deshalb fiel uns die Wahl sehr schwer, zumal wir so wenig Zeit zum Überlegen hatten. Nach Ablauf der angeordneten Zeit wurden wir von einem der Gendarmen zum Sammelpunkt geleitet, während der andere zurückblieb, um den verlassenen Besitz zu bewachen. Dieser Augenblick, als wir unser Zuhause und unseren Bauernhof verlassen mussten, war für uns alle ein äußerst schmerzhaftes Erlebnis. Aber niemand weinte. Meine Eltern hatten damals einen landwirtschaftlichen Betrieb von 5, 6 Hektar Fläche mit Inventar, zwei Kühen sowie gut ausgerüsteten Werkstätten – mein Vater betrieb nämlich eine eingetragene Schmiede und meine Mutter war Schneiderin. Unser ganzer Besitz wurde uns einfach weggenommen, ohne dass dies durch irgendein Schriftstück bescheinigt wurde. Noch am Tag unserer Aussiedlung übernahm ihn eine aus Estland dorthin umgesiedelte deutsche Familie. Am selben Tag siedelten die deutschen Besatzungsbehörden noch 48 weitere polnische Familien aus Ciążeń aus, hauptsächlich Bauern. Die Ausgesiedelten wurden mit Bussen aus Ciążeń nach Koło transportiert und dort im verfallenen Gebäude einer jüdischen Synagoge untergebracht. Dort teilten, nachdem sie alle begutachtet hatten, zwei deutsche Beamte die Familien in drei Gruppen auf. Die zahlreichste Gruppe war dazu bestimmt, von Koło direkt nach Sachsen zu Zwangsarbeiten im Ackerbau zu fahren. Eine kleinere Gruppe, in der meine Eltern und ich uns befanden, wurde ins Durchgangslager nach Łódź geschickt. In die dritte Gruppe kamen dagegen die Personen, die unfähig waren, körperlich zu arbeiten. Sie wurden bei polnischen Familien einquartiert, die in der Umgebung von Rzgów wohnten. Nach Łódź wurden wir, begleitet von einem uniformierten Beamten, mit einem Zug gebracht. Im Lager wurden wir verschiedenen Hygienemaßnahmen unterzogen, unter anderem wurden unsere Kleider mit Dampf behandelt. Sämtliches Gepäck wurde uns zur Kontrolle weggenommen, alle Nahrungsmittel und scharfe Gegenstände beschlagnahmt. Danach wurden wir identifiziert und „anthropologisch“ geprüft (wir waren völlig nackt), unsere Fingerabdrücke wurden genommen und Ausweisfotos gemacht (man hatte uns Schilder mit Kennnummern umgehängt). Tagsüber mussten wir im Garten, der zum Lager gehörte, körperliche Arbeiten verrichten. Das gesamte Personal des Lagers von Łódź, mit Ausnahme von denen, die das Essen ausgaben, trug Uniformen mit SS‐ Abzeichen. Genauso waren auch die Deutschen gekleidet, von denen die Vertriebenen von Koło nach Łódź und von Łódź aus ins Deutsche Reich eskortiert wurden. Sie behandelten uns herablassend. Einmal sah ich im Lager zwei höhere Beamte durch einen von Vertriebenen überfüllten Saal gehen, und da sagte einer zu dem anderen: „Leute, wie das Volk stinkt!“. Hochmut und Verachtung, die in seiner Äußerung zu spüren waren, trafen uns schwer und wir fühlten uns gedemütigt. Nach einer Woche Aufenthalt im Lager wurden acht Familien, meine Eltern und mich eingeschlossen, in einen Zug gesteckt und über Wrocław (Breslau) und Leipzig nach Deutschland verschleppt. Unterwegs wurden die Familien ihren jeweiligen deutschen Arbeitgebern übergeben. Während der Fahrt ließ unser Bewacher keine anderen Reisenden den von uns besetzten Teil des Wagens betreten. In der Kreisstadt Witzenhausen übergab er meine Eltern und mich unserem zukünftigen Arbeitgeber, der uns in einem Pferdewagen zum Ort Wollstein brachte, welcher ungefähr 30 Kilometer von Witzenhausen entfernt war. Erst dann erfuhren wir etwas darüber, wie unser weiteres Schicksal aussehen sollte. Dort wurde uns zum ersten Mal, seitdem wir Łódź verlassen hatten (also nach 36 Stunden Reise), etwas zu Essen gegeben und dann ein Quartier zugeteilt. Es befand sich in einem alten, zweistöckigen Gebäude, das für Arbeiter bestimmt war. Wir bekamen ein ziemlich spärlich eingerichtetes Zimmer mit Küche im zweiten Stock, sowie je eine Decke zum Schlafen. 89 AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS 90 BENON BAKALARSKI Das Elend der Jugend ist kein Märchen Der Autor war Sohn eines polnischen Offiziers. Vor dem Krieg wohnte er mit seinen Geschwistern in Warschau. Während einer Razzia wurde er verhaftet und in einem Durchgangslager in der Skaryszewska Straße festgehalten, von wo er zur Zwangsarbeit nach Österreich verschleppt wurde. Zum Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse war er 14 Jahre alt. BENON BAKALARSKI […] In Warschau fanden seit dem Jahr 1940 Razzien statt, d.h. Jagden auf Menschen durch dafür geschulte deutsche Gendarmerie. Die Verhafteten wurden „sortiert“, es wurde ihre Identität geprüft. Personen, die von Deutschen als „gefährliche Elemente” angesehen wurden, schickte man in Konzentrationslager, manche wurden sofort erschossen, und junge, gesunde Männer und Frauen wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland und Österreich verschleppt. Anfang des Jahres 1942 befand ich mich zufällig in der Targowa Straße im Stadtviertel Praga und geriet in den „Kessel” einer Razzia. Zu Opfern der Jagd wurden einige Hundert Personen, die Meisten davon wurden gleich auf LKWs geladen und abtransportiert. Ich befand mich in einer Gruppe für welche LKWs fehlten, weshalb wir von Gendarmen mit Hunden zu dem nahe gelegenen Wileński Bahnhof getrieben wurden. Wir warteten dort ca. vier Stunden, bis LKWs ankamen und wir zu einer ehemaligen Schule in der Skaryszewska Straße abtransportiert wurden. Ich war von der Situation benommen, war mir aber der Todesgefahr bewusst. Ältere Männer sagten, dass wir Glück hätten, weil man von der Skaryszewska Straße nicht ins Konzentrationslager gehe, sondern zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt werde. Der Aufenthalt dort war eine harte und schwierige Lebensschule. Zwei Wochen lang schliefen wir auf Pritschen aus Drahtgitter, wir hatten nichts mehr. Die Verpflegung bestand aus einer Portion Suppe und ein wenig Brot mit künstlichem Honig. So war es jeden Tag, zwei Wochen lang. Versuche meiner Familie mich zu befreien, blieben erfolglos. Es war nicht mal erlaubt, den Verhafteten Verpflegung zukommen zu lassen. Nach zwei Wochen wurden wir unter Bewachung zur Kawęczyńska Straße geführt, die ca. zwei Kilometer von dem vorherigen Aufenthaltsort entfernt liegt. Dort war das sog. Arbeitsamt, das heißt das Werbebüro zur Sklavenarbeit. Ich erinnere mich noch ‐ als wäre es heute – an den langen Raum mit den vielen Schaltern, an denen die Namen verschiedener deutscher Städte standen. Ein deutscher Beamter verwies die Leute an die einzelnen Schalter. Durch eine Schicksalsfügung kam eine Dolmetscherin in den Raum und bemerkte den Jungen, der zwar ausgewachsen war, sich jedoch von den erwachsenen Männern deutlich unterschied. Sie versuchte den Deutschen davon zu überzeugen, dass ein vierzehnjähriger Junge zu keiner schweren Arbeit taugen wird. Der Deutsche schrie sie an und befahl, mich zu registrieren. Dann fügte er hinzu, dass ich zumindest Kühe hüten könne. Die Dolmetscherin flüsterte mir noch zu, dass ich zum Schalter mit der Aufschrift „Wien“ gehen solle, was ich sofort tat. An diesem Schalter wurde ich registriert und erhielt einen Transportschein. Nach der Registrierung kehrten wir unter Bewachung zur Skaryszewska Straße zurück. Nach wenigen Tagen begannen Waggontransporte zu den angewiesenen Städten. Rassische Selektion der polnischen Vertriebenen, Ort und Datum unbekannt (IPN) 91 AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS 92 FRANCISZKA TWARDOWSKA Erinnerungen Die Familie der Autorin kam aus Kleinpolen. Nachdem sie durch Brand und Überschwemmung nacheinander zwei Häuser verloren hatten, beschlossen die Eltern nach Hinterpommern zu ziehen, wo sie im Rahmen der Vorkriegs‐Agrarreform Boden erhielten. Zum Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse war Franciszka 4 Jahre alt. FRANCISZKA TWARDOWSKA […] Es war der 23. November 1941. In unser Dorf kamen SS‐Männer in schwarzen und gelben Uniformen. Sie ließen uns packen und verschleppten uns in der Nacht zum Lager der Umwandererzentralstelle in Toruń (Thorn). Meine Mutter war schwanger, ihr ging es sehr schlecht, mein Vater dagegen war an Asthma erkrankt und hatte eine Hernie. Es begannen für uns Elends‐ und Hungerjahre, jede Nacht starben viele Menschen, die solche Umstände nicht ertragen konnten. Wir wohnten in einem Gebäude in dem unten ein Stall war. Dort waren Pferde auf denen Leute ins Lager geritten sind. Oben wohnten Menschen. Es gab keine Pritschen, wir haben auf dem Zement und Strohsäcken geschlafen, je nachdem, was jeder hatte oder mitnehmen konnte. Jede Nacht mussten wir die Ausdünstungen des Pferdemists einatmen, das war furchtbar. Leute starben und man schlief stundenlang neben ihnen, ohne etwas zu bemerken. In meiner Familie war auch die Hölle los. Zuerst erkrankte meine Mutti an Ruhr. Das war eine schreckliche Krankheit, ausgelöst durch Schmutz und schlechtes Essen. Die Deutschen brachten sie ins Lagerkrankenhaus. Wir weinten sehr um sie, aber wir mussten beim Vati bleiben, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, weil auch er krank geworden war. In dieser Zeit wurde meine ältere Schwester, die sich um uns jüngere Kinder kümmerte, zur Zwangsarbeit verwiesen. Meine Mutti überwand die Krankheit und kam nach einem Monat zurück ins Lager. Ich war damals fünf Jahre alt, mein jüngster Bruder war zwei Jahre alt. Er litt am stärksten unter dem Milchmangel und Hunger. Meine Mutti tat alles Mögliche, um uns am Leben zu erhalten. Sie beschloss aus dem Lager in ihre Heimat zu fliehen, um Brot, Schmalz und Marmelade zu holen. Es fehlte uns auch an Waschmittel. Wir planten die Flucht unserer Mutter. Mein älterer Bruder Bronisław machte eine Öffnung im Zaun indem er den Draht verbog. Er arbeitete daran, wenn sich der Wachmann entfernte und in die entgegengesetzte Richtung lief. Die Öffnung deckte mein Bruder mit Ästen zu. An einem nebligen Tag, in aller Frühe, als die Leute im Lager schliefen, flüchtete meine Mutti aus dem Lager. Niemand bemerkte, dass eine Person fehlte. Meine Mutti traf schnell am Bahnhof ein und kam bis nach Kornatowo, weiter ging sie zu Fuß. Sie lief vier Kilometer zum Dorf, wo sie gute Bekannte hatte. Diese waren sehr überrascht, dass sie eine Person aus dem Lager sahen. Sie hatte eine Wunde am Bein, weil sie sich beim Durchschlüpfen durch die Öffnung verletzt hatte. Sie verband die Wunde mit einem Tuch. Ein Bekannter, der Apotheker war, machte einen Verband, weil es eine ernsthafte Verletzung war. Er gab meiner Mutter Medikamente für sie selbst und die Familie im Lager sowie Geld. Andere Leute, die eine Mühle und Bäckerei hatten, gaben ihr Brot, andere gaben ihr einen kleinen Eimer mit Marmelade, wieder andere gute Leute gaben ihr Speck, Schmalz und Wurst. Kurz gesagt hatte sie sehr viel und konnte es kaum tragen, sie musste jedoch in der Nacht ins Lager zurück, weil sie es so mit der Familie ausgemacht hatte. Abends wurden die Menschen im Lager auch gezählt. Es war schon sehr dunkel, der Mond zeigte sich hinter den Wolken, und wir hielten am Drahtzaun Ausschau nach unserer Mutti. Wir zitterten alle vor Angst, weil der Wachmann an der Öffnung hin und her ging. Endlich sahen wir, dass jemand kam. In diesem Moment ging der Wachmann weg. Die Mutti warf das Gepäck schnell über den Zaun, sie hatte jedoch keine Kraft mehr, selbst durch die Öffnung zu schlüpfen. Sie war so müde, erschöpft und erschrocken. Meine Brüder, der vierzehnjährige Bronisław und der zwölfjährige Franciszek haben sie durch die Öffnung gezogen und danach in den Waschraum geschleppt, wo sie vor Erschöpfung ohnmächtig wurde. Nach einiger Zeit kam sie wieder zu sich und war glücklich, dass wir alle wieder zusammen waren. Das, was sie mit sich gebracht hatte, teilte sie mit vielen Personen, weil alle hungrig waren. Damals war sie noch schwanger, aber nach der Entbindung flüchtete sie noch ein paar Mal aus dem Lager und wurde ‐ Gott sei Dank ‐ nie ertappt, weil dafür die Todesstrafe drohte. Mein Bruder, der im Lager zur Welt kam, hieß Eugeniusz. Meine Mutti gab ihm die Brust und trocknete im Winter mit ihrem eigenem Körper die aus Bettlaken gemachten Windeln. Im Winter wurden die Windeln draußen nicht trocken und im Raum durfte man keine aufhängen. Außerdem war es überall kalt, weil nicht geheizt wurde. Der kleine Eugeniusz wurde an den Ohren krank, als er ein Jahr alt war, weil es überall Luftzug gab (man konnte im Mief nicht schlafen und ständig wurden Fenster geöffnet). Vorher war auch mein Vater krank geworden und war in dem Krankenhaus, in das auch mein Bruder gebracht wurde. Im Lager blieben wir zu viert mit meiner Mutti. Meine Schwester Karolina arbeitete in der Gärtnerei, mein Bruder Bronisław fegte Straßen mit anderen Jungen. Sie gingen jeden Tag mit dem Kapo, der sie bewachte und kehrten ins Lager zurück, wenn alles fertig war. Meine Brüder Franciszek, Władysław und ich waren bei unserer Mutti. […] Die Situation im Lager Thorn, dem sog. „Szmalcówka”, wurde immer schlechter. Meine Mutti konnte keine „Expeditionen“ mehr riskieren, um Proviant zu holen. Władysław litt immer stärker darunter, dass ihm Milch fehlte, die er als Kind sehr brauchte. Er war durch Hunger geschwächt und starb meiner Mutti im Arm mit den Worten, dass er Milch und Brötchen wolle. 93 AUSSIEDLUNGEN DER POLNISCHEN BEVÖLKERUNG WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGS 94 […] In dieser Zeit erhielten wir einen Zettel vom Vater aus dem Krankenhaus, den der Kapo zustellte. Auf dem Zettel stand geschrieben: „Eugeniusz ist schon gesund – morgen kehrt er zur Familie ins Lager zurück”. Am nächsten Tag durften wir uns jedoch nicht über die Rückkehr unseres Bruders freuen. Wir erhielten die folgende Nachricht: „Okoński Eugeniusz ist tot, er fiel aus dem Fenster”. Diese Nachricht war ein Schock für meine Mutti und alle Geschwister. Vati, der damals noch im Krankenhaus war, sah nicht einmal die Leiche seines Sohnes. Er hatte seinen Sohn öfters heimlich im Kindersaal beobachtet, weil dort polnische Ärzte waren. Mein Vater glaubte nicht an den Tod seines Sohnes. Mein Bruder war nur ein Jahr alt und die Fenster im Krankenhaus waren vergittert. Er konnte noch nicht laufen und nicht sprechen, es war also unmöglich, dass er so starb. […] Bronisław verletzte sich bei der Arbeit ein Bein mit der Heugabel. Das Bein tat immer mehr weh, die Wunde öffnete sich, es rann eine Flüssigkeit heraus, das Bein begann einfach zu faulen. Es gab keine Verbandsmittel. Meine Mutti machte sich Sorgen, dachte darüber nach, wie dem abzuhelfen wäre. Der Kapo, der mit den Jungen raus ging, war Pole. Meine Mutter sprach mit ihm die Flucht ihres Sohnes ab und bezahlte ihn sehr gut dafür –sie gab ihm das ganze Geld, das sie hatte. An dem Tag ging Bronek mit den anderen Jungen wie gewöhnlich Straßen fegen. Plötzlich ließ er den Besen fallen und ging weiter geradeaus. Die andere Jungen begannen zu rufen, dass Okoński weglaufe, der Kapo machte sich jedoch nichts daraus. Nach einiger Zeit sagte er zu den Jungen „Das habt ihr euch eingebildet. Er ist sich nur erleichtern gegangen”. Doch mein Bruder kehrte nicht zurück. Er ging zum Bahnhof und fuhr zu der Ortschaft, wo unsere Schwester Marianna arbeitete. Sie beschaffte ihm eine Arbeitsstelle bei einem Bauern, der keine eigenen Kinder hatte und jemanden zur Feldarbeit brauchte. Dem Bauern gefiel mein Bruder sehr, weil er sich mit der Feldarbeit gut auskannte. Er behandelte ihn wie seinen eigenen Sohn, sorgte für sein Bein, mein Bruder hatte es gut bei ihm. Im Lager wurde jedoch sein Verschwinden bemerkt. Man holte meine Mutti zur Gestapo und verhörte sie; fragte: wo ist dein Sohn? […] Mein Vater kehrte in der Zwischenzeit aus dem Krankenhaus zurück und dann begann seine Hölle, weil er wegen der Sache mit seinem Sohn Bronisław auch zur Gestapo geholt wurde. Man fragte, wo dieser bleibe und wo in Freiheit wir Familie hätten. Man drohte meinem Vater, dass wir alle nach Auschwitz geschickt werden würden. Mein Vater hatte Angst um uns, auch um den Menschen, der ihm bei der Flucht geholfen hatte. Meine Mutti flehte ihn an, dass er sage, wo sich Bronek aufhielt. Am nächsten Tag sagte mein Vater beim Verhör, wo diese Familie wohnte. Die Gestapo hatte den Aufenthaltsort meines Bruders schnell ausfindig gemacht. Man schickte einen Wachmann mit der Bahn hin. Der nahm ein Fahrrad mit sich, weil das Dorf, wo Bronek war, zehn Kilometer von der Bahn entfernt war. Mein Bruder arbeitete gerade auf dem Feld, er sollte aber sofort damit aufhören. Das Flehen des Bauern, dass er alt und schwach sei und die Hilfe des Jungen brauche, half nichts. Der Wachmann hatte Bronek mit einer Schnur am Fahrrad festgebunden, dann fuhr er und mein Bruder lief hinter dem Fahrrad her wie ein Hund, die ganzen zehn Kilometer lang. Ins Lager kamen sie am Abend, ich sah von Weitem, wie man meinen müden Bruder prügelte. Man warf ihn in einen Keller mit Leichen. In der Tür waren große Spalte, so lief ich zu ihm, als sich der Wachmann entfernte, und schaute rein, um zu sehen, ob er noch lebte. Er saß dort und weinte und ich weinte mit ihm. Er hatte Angst, was man mit ihm am nächsten Tag machen werde. Zum Glück bekam er nur Prügel. Nach einer Woche durfte er den Keller verlassen.[...] In dieser Zeit brach im Lager Typhus aus, auch ich bekam diese schreckliche Krankheit. Ich hatte so hohes Fieber, dass ich nichts mehr von der Welt mitbekam. Ich weiß nicht, wie ich ins Krankenhaus kam, in dem die Lebensbedingungen zwar schrecklich waren, aber immer noch besser als im Lager. Eines Tages wurde auch mein Bruder Franciszek in dieses Krankenhaus gebracht. Lager der Umwandererzentralle in Potulitz In unserem Lager fing man an, Leute auf Transporte in andere Lager vorzubereiten. Bald wurden auch wir weggebracht. Ich kam mit meinen Eltern in das Lager in Potulitz. Das war ein Arbeitslager im Wald, das mit einem Stacheldraht zweifach umzäunt war. Der innere Zaun stand unter Strom. Zwischen den beiden Zäunen ging ein Wachmann. Von einer Flucht konnte keine Rede sein. In der Mitte des Lagergeländes befand sich ein mehrstöckiges Gebäude, in dem unten eine Küche, ein Waschraum und zwei große Gasöfen untergebracht waren. Im ersten Stock befand sich eine Nähstube und höhere Schulklassen. Die Baracken, die wir bewohnten, waren aus Holz. Sie standen eine neben der anderen in kleinen Abständen, es gab sehr viele davon. Unsere Baracke war für Familien, eine andere für alleinstehende Frauen, Männer oder Kinder, die alleine waren. Im Lager Potulitz wohnten verschiedene FRANCISZKA TWARDOWSKA Nationalitäten: Juden, Roma, Franzosen. Wir schliefen auf Pritschen, auf Strohsäcken. Die Lebensbedingungen waren viel besser als im Lager in Thorn. Jeder musste hier arbeiten, aber keiner kriegte eine Vergütung dafür. Der Tag, an dem wir in das Lager in Potulitz gebracht wurden, war heiter. Es gab eine lange Schlange zum Haareschneiden, weil alle verlaust waren. Meine Mutti hatte wunderschöne Haare und es tat ihr weh, diese abschneiden zu lassen, daher beschloss sie, den Lagerkommandanten zu bitten, dass er ihr erlaube, die Haare zu behalten. Meine Mutti hatte kein Ungeziefer am Kopf, sie weinte sehr, kniete vor dem Kommandanten und bat um seine Gnade. Wir waren sehr überrascht als er ihr erlaubte, ihre Haare zu behalten, wenn sie diese nur ein bisschen kürzen ließe, weil sie einen langen Zopf hatte. Alle im Lager trugen Kopftücher, weil sie keine Haare mehr hatten. Danach wurden wir in den Waschraum geführt, wo wir uns gründlich waschen sollten, unsere Kleidung wurde in Gasöfen geworfen, um Ungeziefer aus dem Umsiedlungslager, wo die Lebensbedingungen grauenhaft gewesen waren, zu beseitigen. Uns wurde die Baracke Nr. 15 zugeordnet, wo sehr viele Leute wohnten, trotzdem waren wir glücklich, dass wir auf Pritschen mit Stroh, und nicht auf Zement, schlafen durften. Da es ein Arbeitslager war wurde meine Mutti in die Näherei und mein Vater in die Küche geschickt. Er heizte und transportierte Kartoffeln von Mieten in den Schälraum, dies war eine sehr gute Funktion im Lager. Mein Vater hatte es nicht leicht, doch er freute sich, dass er keine Gräben schaufeln und nicht auf einer Baustelle arbeiten musste. Meine zwei Brüder wurden in die Schuhfabrik in Bydgoszcz geschickt, meine Schwester Karolina arbeitete in der Gärtnerei. Ich blieb bei meinen Eltern, weil ich am jüngsten war. Wenn die Erwachsenen zur Arbeit mussten, wurden alle Kinder in einer Reihe aufgestellt, gezählt und unter Bewachung in den Wald geführt. Ältere Kinder gingen zur Schule, wo sie Deutsch lernten. Kinder, die nicht schnell lernen konnten, wurden geprügelt, hatten angerissene Ohren und angeschwollene Hände. Meine Mutti hörte sie öfters weinen, weil sie einen Stock tiefer arbeitete. Wir Kleinkinder blieben vom frühen Morgen bis zum Abend in dem Wald, auf einem mit Stacheldraht umzäunten Gelände. Wir waren sehr hungrig, öfters aßen wir Gras, um den Hunger zu stillen. Mittags brachte man uns schwarzen Kaffee und erst nach der Rückkehr ins Lager bekamen wir Essen. Das war in der Regel Brennnessel‐ oder Kohlrübensuppe, einem Hungrigen schmeckt jedoch alles. Meinem Vater ist es manchmal gelungen, in der Hosentasche gebratene Kartoffeln mitzubringen – das war für mich ein Leckerbissen, etwas Großartiges und Besseres als Süßigkeiten, die ich nicht kannte. Ich kannte in der Kindheit nichts von dem, was Kinder in der Freiheit hatten. Drei Jahre lang sah ich keine Milch und kein belegtes Brot, von Süßigkeiten träumte man nicht einmal. Man lebte in ständiger Angst, für jede kleine Verfehlung wurde man geprügelt und auf unterschiedliche Art bestraft. Ich erinnere mich daran, dass einmal ein Mann angewiesen wurde, einen tiefen Graben auszugraben, dann wurde er erschossen. Alle mussten diese Szene mit ansehen, auch wir Kinder. […] Auf dem Lagergelände arbeitete man schwer beim Flugzeugbau, bei der Herstellung von Militärschuhen, beim Nähen von Uniformen und Pferdegeschirr oder beim Gemüseanbau. Kinder wurden beim Wechsel von Stroh für die Strohsäcke beschäftigt. Ich musste auch Strohsäcke außerhalb des Lagers schleppen, wo Heumieten waren; dort warf ich das alte Stroh weg und packte neues ein. Es fanden öfters Durchsuchungen statt, weil Leute von ihren Arbeitsstellen unterschiedliche Dinge mitbrachten. Es fehlten Kleidung, Schuhe, Bettwäsche.[…] Jeden Tag fand ein Appell statt, wo Verurteilte aufgerufen wurden. Meine Eltern und ich blieben drei Jahre lang im Lager. Der Befreiungstag kam unerwartet. Als meine Mutti wie gewöhnlich zur Arbeit ging, sah sie vor dem Tor Verwirrung unter den deutschen Soldaten. Sie setzten sich auf Pferde oder stiegen in Autos und fuhren weg. Das Tor wurde weit geöffnet, die Häftlinge liefen jedoch nicht weg, weil sie nicht wussten, was los war. Meine Eltern blieben noch eine Woche lang im Lager, bis die Russen einmarschierten. Alle Leute hatten Angst. Man sagte, dass man außerhalb des Lagers beschossen werde. Endlich entschied mein Vater, dass wir hinausgehen und nach Bydgoszcz fahren sollten, um meine Brüder zu suchen. Unser Fahrzeug war der Karren, mit dem mein Vater Kartoffeln von den Kartoffelmieten gefahren hatte. Wir luden unseren ganzen Häftlingsbesitz darauf: ein Federbett, ein Kissen und einige persönliche Sachen und so zogen wir den Karren über Felder, weil auf den Straßen Soldaten gingen. […] 95 DIE GERMANISIERUNG POLNISCHER KINDER 96 Die Germanisierung polnischer Kinder ie deutschen Besatzer kamen relativ schnell zu dem Schluss, dass die Germanisierung der an das Dritte Reich angeschlossenen polnischen Gebiete nicht nur mittels Besiedlung durch Deutsche zu erreichen war. Das Konzept der Germanisierung eines Teils der einheimischen Bevölkerung wurde immer populärer, dafür sprachen auch wirtschaftliche Aspekte. Einerseits sollte die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ihre Arbeit effizienter machen, andererseits sollten die germanisierten Familien ausreichenden Nachschub an neuen Rekruten für die Wehrmacht sichern. Mithilfe dieser Argumentation stimmte Hitler einer Massengermanisierung der in Schlesien und in Pommern lebenden Bevölkerung zu. Besonders grausam und unmenschlich lief die Germanisierung der polnischen Kinder ab. Bereits 1941 stimmte Himmler der Idee zu, polnische Kinder aus dem Wartheland zu Germanisierungszwecken ihren Familien wegzunehmen. Anfang 1942 wurden die Germanisierungsaktionen auf alle besetzten Gebiete ausgeweitet. Sie begleiteten auch die breit angelegten Aussiedlungen, z.B. die Aussiedlung des Zamość‐Landes. Ab diesem Zeitpunkt begann die Suche nach polnischen Kindern, die den durch die Nazis definierten Rassekriterien entsprachen. In erster Linie wurde in Waisenhäuser nach solchen Kindern gesucht. Im nächsten Schritt wurden Erziehungsberechtigten ihre Kinder weggenommen, z.B. Eltern, die wegen Untergrundtätigkeiten verhaftet worden waren, die sich der Germanisierung entgegensetzten oder Eltern aus Mischehen. Im Reich betraf die Germanisierung Kinder polnischer Zwangsarbeiter. Für die Durchführung der Germanisierung waren Institutionen wie das Stabshauptamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums, das Rassen‐ und Siedlungshauptamt der SS, die Volksdeutsche Mittelstelle (VOMI) und die Lebensborn e.V. verantwortlich. Ganze Familien aus Pommern, Großpolen, Kujawien und ausgewählte Kinder, die in der ersten Selektionsetappe als germanisierungsfähig eingestuft wurden, wurden in die Filiale des Rassen‐ und Siedlungshauptamtes an der Spornastrasse in Łódź gebracht. In diesem Lager wurden zusätzliche, detaillierte Untersuchungen durchgeführt, um auf dieser Grundlage Personen mit besonders vielen arischen Eigenschaften auszuwählen. Rassenuntersuchungen wurden mehrfach und in verschiedenen Einrichtungen durchgeführt. Sie waren äußerst genau, geleitet von Experten des Rassenamtes oder von Ärzten des Gesundheitsamtes. Die Kinder wurden anhand von 62 Kriterien bewertet, darunter Augenfarbe, Haarfarbe, Körpergröße, Gewicht, Körperproportionen, Schädelform etc.. Die Kriterien waren auf Basis anthropometrischer Messungen definiert worden. Auf dieser Basis wurde die Zugehörigkeit zu einem von elf Rassentypen bestimmt. Kinder, die die Rassenanforderungen nicht erfüllten, wurden in Konzentrationslager gebracht, darunter in speziell für sie eingerichtete Lager (z.B. in Lodz und Konstantynów). Kinder, bei denen man genetische Defekte feststellte, unterzog man nicht selten grausamen Experimenten oder sie fielen dem Euthanasie‐Programm zum Opfer. Diejenigen hingegen, die die Rassenuntersuchungen positiv abschlossen, kamen in Heimschulen (ältere Kinder) bzw. in Lebensbornheime (jüngere Kinder). Hier wurden die Kinder der eigentlichen Germanisierung unterzogen. Sie besuchten Schulen, in denen deutsch unterrichtet wurde. Ungehorsame Kinder wurden geschlagen und auch für Polnischsprechen gab es strenge Strafen. Kontakt mit der Familie war verboten. Die Personalien der Kinder wurden aus den Karteien der Meldeämter gelöscht, um so ihre wahre Identität zu verschleiern. Sie bekamen neue Vor‐ und Nachnamen, man änderte die Geburtsdaten und stellte falsche Geburtsurkunden aus. Lebensborn führte zu diesem Zweck ein eigenes Einwohnermeldeamt. Nachdem all diese Maßnahmen abgeschlossen waren, wurden die Kinder zur Adoption an deutsche Familien freigegeben. Die Deutschen entführten auch in großer Zahl Kinder in den ehemaligen Ostgebieten Polens, wo im Jahr 1944 die Heeresgruppe Mitte und die 9. Armee einige Tausende Kinder verhafteten, um sie zu germanisieren. Es ist äußerst schwer, genau zu ermitteln, wie viele Kinder während des Zweiten Weltkriegs der Germanisierung unterzogen wurden. Schätzungen zufolge beläuft sich ihre Zahl auf 50‐200 000. Durch die Suche des Roten Kreuzes nach Kriegsende kehrten nur etwa 15 bis 20% dieser Kinder zu ihren Familien nach Polen zurück. Das Drama der germanisierten Kinder war ein doppeltes – zum einen der Moment, in dem sie ihren Eltern weggenommen wurden – zum anderen der Moment der Rückkehr. Jüngere Kinder erinnerten sich nicht mehr an ihre Familien und konnten kein Polnisch mehr. Von Altersgenossen wurden sie als Deutsche angesehen und in weiten Kreisen stigmatisiert und abgelehnt. D BARBARA PACIORKIEWICZ 97 BARBARA PACIORKIEWICZ Wer bin ich? Die Autorin wurde 1938 in Gdynia geboren. Ihre Mutter starb in den ersten Kriegstagen. Während des Krieges wurde die ganze Familie nach Łódź ausgesiedelt. Als Barbara vier Jahre alt war, wurde sie ihren Großeltern weggenommen und zur Germanisierung bestimmt. Ihre persönlichen Daten wurden geändert und sie wurde bei einer deutschen Familie untergebracht. Ihre wahre Identität erfuhr sie erst im Jahre 1948, als sie vom Polnischen Roten Kreuz als polnisches Kind identifiziert wurde und dann in ihr Heimatland zurückkehrte. DIE GERMANISIERUNG POLNISCHER KINDER 98 Der Krieg dauerte für mich viel länger als bis zum Mai 1945. Das war die Folge des Entnationalisierungsprozesses, dem ich ausgesetzt war. Mir wurde meine Identität sowie das Gefühl, zu wissen, wohin ich wirklich gehöre, genommen. Eine Urkunde vom Staatsarchiv in Łódź besagt, dass „Barbara Gajzler, geboren am 1. oder 2. Februar 1938, vom 21. Februar 1942 bis zum 9. März 1942 im Kinderheim in der Przędzalniana Straße 66 in Łódź untergebracht war. Danach wurde sie ins Kinderheim in der Lokatorska Straße 12 verlegt und am 27. Mai 1942 nach Bruczków geschickt. Von dort wurde sie ins Dritte Reich deportiert und der deutschen Familie Rossmann in Pflege gegeben. Im Oktober 1947 wurde sie von polnischen Repatriierungsbehörden als polnisches Kind identifiziert“. Aber was passierte davor? Aus den Erzählungen meiner Großmutter Kossak (die Mutter meiner Mutter) folgt, dass ich am 1. Februar 1938 in Gdynia geboren wurde, und zwar in einem Haus, in dem meine Eltern mit den Eltern und den Geschwistern meiner Mutter wohnten. In den ersten Tagen des Krieges war meine Mutter an einem Herzinfarkt gestorben. Die ganze Familie wurde ausgesiedelt. Die Jüngeren wurden in Arbeitslager auf dem Gebiet des Dritten Reiches verschleppt, während ich und meine Großeltern nach Łódź geschickt wurden, wo wir in ein altes Hinterhaus in der Lipowa Straße einzogen, oder genauer gesagt, in eines der uns zugeteilten Zimmer. Eben aus jener Wohnung brachten mich die Deutschen im Februar 1942 ins Kinderheim in der Przędzalniana Straße. Dort fand mich meine Großmutter nach zwei Wochen nicht mehr. Nach dem Krieg begann sie, mich über das Polnische Rote Kreuz zu suchen. All das erfuhr ich aber erst nach meiner Rückkehr nach Polen. Ich versuche jetzt, einige mit Kinderaugen gesehene Bilder und Erlebnisse aus meiner Kriegskindheit zu beschreiben, die ich noch in Erinnerung habe. Mein Gedächtnis reicht bis zu meinem vierten Lebensjahr zurück. Ich war in einem Haus mit einem großen Saal mit Fenstern und einem breiten, halbkreisförmigen Fensterbrett, auf dem ich oft saß. Dort waren viele Kinder und wir schauten oft zusammen auf eine große Wiese hinaus. Heute weiß ich, dass die Wiese nur ein großer Rasen, das Haus dagegen ein Lebensborn‐Heim in Bad Polzin war. Die Kinder wurden ständig besehen, untersucht, gemessen und vor allem bestraft. Wenn ein Kind sich bepinkelte, bekamen alle anderen Kinder dafür Prügel. Ich glaube, dass sie sich eben aus einer großen Angst so oft bepinkelten, die uns alle nie losließ. Es verging also kein Tag ohne derartige Vorfälle. Dort wurde auch mein Name geändert. Ich hieß von da an Bärbel Geisler, geboren am 2. Februar 1939. Ich war also um ein Jahr und einen Tag jünger, als ich es wirklich war – ganz typisch für Kinder in Lebensborn‐Heimen. Ich kann den Tag nicht vergessen, als ein älterer Herr kam, um mich zu seinem Haus mitzunehmen. Wie alle übrigen Kinder dort hatte ich keine Haare, ich stand vor ihm nur in einem Höschen und einem Hemdchen. Ich weinte, weil man mir mein weißes Pelzjäckchen nicht geben wollte. Nach meiner Rückkehr nach Polen sagte man mir, dass die Deutschen mich eben in dem weißen Kaninchenpelzjäckchen von meiner Oma weggeholt hätten. Daraus ergibt sich, dass ich meine Vergangenheit immer nur mit diesem Pelzjäckchen assoziiert habe. Der ältere Herr wickelte mich in sein Jackett ein und wir fuhren so nach Lemgo. Wir wurden dort von zwei Frauen willkommen geheißen, die bei meinem Anblick in Tränen ausbrachen. So weinten wir alle drei. Sie badeten mich, gaben mir zu essen und legten mich in ein Kinderbett. Ich weinte noch lange, bevor ich einschlief. Als ich wieder aufwachte, hatte ich plötzlich eine „Mutti“, einen „Vati“ und eine „Oma“. Ich war die kleine, wilde Bärbel, eine Waise „nach dem Tod eines deutschen Offiziers“. In einem Zimmer meines neuen Zuhauses hing das Bild eines Mädchens – das war Ursel, die im Alter von 9 Jahren gestorben war. Sie war Vorbild für mich. Ich sollte in ihre Haut schlüpfen. Ich trug ihre Sachen, aber ich konnte nie ganz so wie sie werden, trotz verschiedener Bestrafungen und strenger Disziplin, die in dem Haus herrschte. Ich war einfach anders. Heute denke ich, dass dies die Hauptursache meiner furchtbaren Komplexe und Minderwertigkeitsgefühle ist. Meinem Bewusstsein hat sich die Überzeugung fest eingeprägt, dass ich als Mensch weniger wertvoll bin als alle anderen. Damals wäre mir niemals eingefallen, dass die Rossmanns nicht meine Eltern sind. Also wer bin ich dann? Davon, dass ich Polin bin, habe ich mit 10 Jahren erfahren. Es begann das Jahr 1948. Im Haus herrschte eine geheimnisvolle Atmosphäre. Gespräche wurden abgebrochen, wenn ich in die Nähe kam. Ich wurde zur Abreise fertiggemacht. An einem Januartag kam eine Frau in amerikanischer Uniform, um mich abzuholen. Völlig ahnungslos dachte ich anfangs, dass ich nur einen Ausflug machen würde, aber die Hausbewohner verabschiedeten sich von mir mit Tränen in den Augen. Obwohl ich nicht ihre Ursel war, hatten sie mich mit der Zeit lieben gelernt und mir deshalb nicht gesagt, dass ich nicht ihre Tochter war. BARBARA PACIORKIEWICZ Von da an lebte ich mit einer kleinen Gruppe von Kindern in einem kleinen Städtchen im Süden Deutschlands. Wir wurden in schöne Sachen gekleidet, die aus einem Warenlagerhaus der UNRRA (Nothilfe‐ und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen) stammten, täglich wurden uns Südfrüchte, die ich zuvor gar nicht gekannt hatte, sowie Bonbons und Schokolade angeboten. Wir mussten jedoch intensiv Englisch lernen, auch während der Mahlzeiten. Als ich später schon in Polen war, konnte ich nicht begreifen, wofür ich denn damals Englischkenntnisse brauchte, wo ich doch kein Polnisch sprach. Viele Jahre später habe ich von jemandem, der an der Suche nach polnischen Kindern im deutschen Raum beteiligt gewesen war, erfahren, dass man damals vorhatte, mich nach Amerika zu schicken. Nach dem Krieg nahmen Amerikaner den Deutschen die geraubten Kinder weg, um sie dann nach Amerika mitzunehmen. Wäre dasselbe mit mir passiert, so hätte ich wohl nie meine wahre Identität erfahren. Im Mai desselben Jahres wurde ich zusammen mit zwei anderen Kindern nach Augustdorf gebracht. Wir Barbara Paciorkiewicz vor ihrer Rückkehr nach Polen, 1948 wurden in einem Lager untergebracht, das nur aus (ZDPGPRH) Baracken bestand, in denen Menschen verschiedener Nationalitäten vorübergehend lebten. Jeder wartete darauf, in sein Heimatland transportiert zu werden. Uns wurde mitgeteilt, dass wir erst einmal auf einen Transport nach Polen warten mussten. Anfang Juni setzten wir uns in einen der Wagen eines sehr langen Zuges des Polnischen Roten Kreuzes. Darin waren Etagenbetten. Ich fürchtete schon, dass die Reise nie enden würde. Oft standen wir tagelang auf freier Strecke mitten zwischen Feldern. Schließlich erreichten wir Katowice. Vom Bahnhof wurden wir in ein Heim des Polnischen Roten Kreuzes gebracht, wo wir darauf warteten, von jemandem abgeholt zu werden. Aber von wem? Es kamen Eltern und holten unter Tränen ihre Kinder ab, aber ich weinte nur und beneidete sie. Auf mich wartete ein von Nonnen geleitetes Waisenhaus, das ich schon vom Fenster aus sah. Ich wusste schon, dass Barbara Gajzler ein Waisenkind war. Obwohl man mich so nannte, fühlte ich mich immer noch als Bärbel Rossmann aus Lemgo, und ich konnte mich lange nicht mit meinem neuen Namen anfreunden. Schließlich kam jemand, der sich mein Onkel nannte. Obwohl er mir völlig fremd war, warf ich mich ihm sofort in die Arme. Von meiner Reaktion überrascht und sichtlich gerührt, gab er mir ein Brötchen mit einer großen Bockwurst. Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich zum Essen eine ganze Wurst in meiner Hand und ein Butterbrötchen in der anderen, und bis heute spüre ich noch diesen Geschmack im Mund. Aber das Gespräch mit dem Onkel war schwierig, obwohl er glaubte, in einem deutschen Arbeitslager Deutsch gelernt zu haben. Seine Art zu reden, von der ich kaum etwas verstehen konnte, brachte mich zum Lachen. Wir fuhren nach Gdańsk, nach Hause, wie der Onkel es nannte. Die Stadt in Trümmern, ein altes Haus ohne jeglichen Komfort und ohne Wasser, eine unbekannte Sprache – all das war für mich eine unangenehme Überraschung. Da war auch meine Familie, die ich erst anfing kennenzulernen: eine Tante, zwei kleine Kusinen (im Alter von 3 und 5 Jahren; nach einem Monat kam ein Junge zur Welt) – das war mein neues Zuhause. Der Krieg war schon längst zu Ende, aber ich wurde von einer Tante zur anderen geschoben. Schließlich kam ich doch in ein Kinderheim. Ständig dachte ich, alles müsse ein Irrtum sein, weil ich mich an nichts und niemanden anpassen konnte. Die Kinder hielten mich für eine Deutsche. In Gdańsk, wo ich zum ersten Mal in eine polnische Schule kam und Polnisch zu lernen begann, nahmen die Kinder mich beim Spielen während der Pausen in einen Reigen mit, wo sie sangen: „Stary Hitler mocno śpi“ („Der alte Hitler schläft fest“). Ich nahm es ihnen nicht übel, weil 99 DIE GERMANISIERUNG POLNISCHER KINDER 100 ich mich auch für eine Deutsche hielt, die in Lemgo ihre Eltern hatte. Die ganze Geschichte war für mich schwer zu verstehen. In meiner Heimat war ich ein ungewolltes Kind, und an alldem war der Krieg schuld. Ich habe mich unzählige Male gefragt, wo mein Platz auf dieser Erde ist und wer ich eigentlich bin. Solch ein innerer Kampf tobte in mir seit meinem 10. Lebensjahr. Als ich nach 18 Jahren – schon als Erwachsene – wieder in Lemgo war, wollte ich das selbst entscheiden. Jene Momente innerer Zerrissenheit in schlaflosen Nächten sind jetzt schwer zu beschreiben und wohl auch schwer zu verstehen für jemanden, der so etwas nicht selbst erlebt hat. Die schwierigsten Jahre, in denen ich am nötigsten elterlichen Beistand gebraucht hatte, hatte ich schon hinter mir. Meine Heimat lernte ich unter schwierigen Umständen kennen, und ich war gezwungen, über mein Leben selbst zu bestimmen. Die in Lemgo verlebten Jahre haben sich mir tief ins Gedächtnis geprägt. Heute kehre ich in das schöne Städtchen und zu den dort kennengelernten Menschen als Polin zurück, die weiß, wo ihr Platz und wo ihr Zuhause sind. Als Polin, die an die nächsten Generationen die Geschichte der polnischen Kinder weitergeben möchte, die durch die sie manipulierenden „Übermenschen“ zu Janitscharen des 20. Jahrhunderts geworden sind. In dem ganzen Unglück hatte ich das Glück, eine Familie zu finden, nach der ich mich oft in den schwersten Augenblicken meines Lebens gesehnt habe. Jedoch habe ich mich für Polen entschieden… Die Germanisierung von polnischen Kindern, die ihrer Nation entzogen wurden, hat auch in den Fällen, wo sie den Deutschen nicht gänzlich gelungen ist, weil die Kinder doch in ihre Heimat zurückkehrten und Polen blieben, die Psyche der Kinder zerstört, die wie ein gebrochener Ast nie wieder zusammenwachsen und ihr seelisches Gleichgewicht wiedererlangen konnte. Ich kenne Kinder, denen das Recht darauf genommen wurde, Polen zu sein, die – in Deutschland aufgewachsen und heute Deutsche sind, die aber ihren inneren Frieden nie gefunden haben. Sie sind auf einer ständigen Suche nach ihrer Identität und ihren polnischen Wurzeln. Barbara Paciorkiewicz mit ihrer Pflegemutter, Weihnachten 1943 (ZDPGPRH) HENRYK WOJCIECHOWSKI 101 HENRYK WOJCIECHOWSKI Ein Teufelskreis – du wirst Wochinger heißen Der Autor wurde 1932 geboren. Er wurde von seiner Mutter in einer Geburtsklinik in Poznań (Posen) zurückgelassen. Ab 1937 war er Pflegekind im Katholischen Kinderheim in Pleszewo. Dort überraschte ihn der Ausbruch des Krieges. DIE GERMANISIERUNG POLNISCHER KINDER 102 m 7. Mai 1941 wurde ich in ein Germanisierungslager, ein sogenanntes Jugendlager für polnische Kinder, nach Kobylin, Landkreis Leszno, deportiert. Die Lebens‐ und gesundheitlichen Bedingungen im Lager in Kobylin waren schlecht. Das deutsche Personal reagierte nicht auf unsere Bedürfnisse. Viele Kinder waren krank. Die schlimmsten Fälle kamen ins Krankenhaus in Krotoszyn. Als Allheilmittel galten Kräuter und Schröpfung. Die häufigsten Krankheiten waren dagegen Magenbeschwerden und dauernde Erkältungen. Wir waren stets hungrig. Unsere heimlichen Ausflüge in den nahe gelegenen Gemüseladen endeten aber mit Durchfall. Die Hauptnahrung waren grobe Grützen, Suppen aus getrocknetem Brot, Suppen aus gelber Kohlrübe, in Leinöl gebackene Kartoffelpuffer, seltener auch zu gleichen Teilen mit Wasser verdünnte Milchsuppen, Mehlwassersuppen mit gebratener Zwiebel, graue Kartoffelklöße, mit Zuckerrübensirup gesüßter schwarzer Malzkaffee, trockenes Brot (seltener mit Schmalz bestrichen), Kohlsuppen, manchmal eine Art rote Grütze. Es gab keine Süßigkeiten. Wir schliefen unter Wolldecken auf Strohsäcken, die dort in den Räumen ausgelegt waren. Eine große Plage waren Insekten. Zu ihrer Bekämpfung wurden vor allem den Mädchen die Köpfe kahlgeschoren, mit Petroleum eingerieben und dann Kopftücher umgebunden. Einmal in der Woche wurden wir in Bottichen gebadet, unter Verwendung von Lysol. Die Toiletten wurden mit Chlorverbindungen desinfiziert. Jeder Tag wurde mit einem Appell begonnen und mit einem weiteren beendet – draußen auf dem Platz, wenn es warm war, beziehungsweise in den Fluren oder im Esszimmer (im Refektorium) bei der Küche, wenn es kalt war. Unter diesen Umständen unternahm ich zusammen mit einem anderen Heimkind, das aus Krotoszyn stammte, einen Fluchtversuch. Nach einem oder zwei Monaten wurden wir von der Polizei aus Krotoszyn ins Heim zurückgebracht. Vorher bekamen wir aber ordentlich Prügel (wobei es viel schlimmer hätte ausgehen können). Die Kinder wurden in namentlich aufgerufenen Gruppen untersucht. Vom Arzt oder von einer Krankenschwester, je nachdem, um was für Untersuchungen es sich handelte. Der Prozedur der „Rassenuntersuchung“ wurde jedes Kind einzeln unterzogen, und zwar völlig nackt. Die Untersuchungen betrafen frühere Krankheiten, Körpergröße, Körpergewicht, körperliche Bewegungsfähigkeit, Gleichgewichtssinn, Schärfe des Seh‐ und Hörvermögens. Es gab auch Urin‐, Blut und Röntgenuntersuchungen, Untersuchungen zur seelisch‐körperlichen Entwicklung eines Kindes (Lösen von logischen Aufgaben), Schädelmessungen sowie Messungen der Augenstellung und der Genitalien. Die Ergebnisse wurden jeweils in eine mit Foto versehene Karte des Kindes eingetragen. Die Karten waren speziell für solche „Rassenuntersuchungen“ angefertigt worden. Die Enduntersuchungen wurden von Dr. Hildegarde Hetzer durchgeführt, einer Fachärztin aus dem Lebensborn‐Heim in Łódź, die darüber entschied, welches Kind sich zur Germanisierung eignete. Kinder, die für die Germanisierung als ungeeignet befunden wurden, wurden in andere Lager geschickt, meistens nach Kalisz, wo sich eine Außenstelle des Rasse‐ und Siedlungshauptamtes der SS in Łódź befand. Im Jugendlager Kobylin war ich vom Mai 1941 bis zum Juni 1942, d.h. bis ich schlussendlich zu denjenigen Kindern gerechnet wurde, die die Selektion überstanden hatten, und mein Name bei einem Lagerappell aufgerufen wurde. Im Sommer 1942 kam ich zusammen mit 30 anderen Kindern als Ostland‐Kind in ein Ausbildungslager der Hitlerjugend in Niederaltreich (Niederbayern), und zwar in eine sogenannte Lebensborn‐Heimatschule. Ich blieb dort vom Juni 1942 bis zum Juli 1943, wo ich Deutsch lernte, mich der neuen Umgebung anzupassen versuchte und auf die Änderung meiner Nationalität wartete. Das Lager wurde von Lebensborn‐Lehrern und uniformierten Funktionären geleitet und stand unter der Aufsicht von SS‐Männern, die regelmäßig zu Kontrollbesuchen vorbeikamen. Kommandant der Schule war SS‐Sturmbannführer Hartmann. Die Schule befand sich in einem abgetrennten Teil eines Benediktinerklosters. Sie wurde zwar geheim gehalten, es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die einheimische Bevölkerung von ihrer Existenz wusste. Die Ausbildung umfasste unter anderem Kulturunterricht, Filmvorführungen, Sportunterricht im Arbeitsdienstheim und die Teilnahme an einem Jugendtreffen in Regensburg im Herbst 1942. Am Ende der Ausbildung fand eine Prüfung statt, die von Lebensborn‐Vertretern und uniformierten SS‐Männern abgehalten wurde. Nachdem ich sie bestanden hatte, bekam ich einen anderen Namen, Henryk Wojciechowski, der ich bis dahin gewesen war, wurde zu Heinrich Wochinger. Mir wurde außerdem der Nationalitätsstatus eines „reichsdeutschen Kindes“ zuerkannt, der mir nach Erreichung der Volljährigkeit die deutsche Staatsbürgerschaft garantierte. 1943 wurde ich ins Lager Partsch bei Salzburg in Österreich verschickt. Mit einem im Lebensborn‐Amt ausgestellten Schein, der meine reichsdeutsche Herkunft bestätigte, hatte ich die gleichen Rechte wie die Staatsbürger des Deutschen Reiches. Mit meinem neuen Namen wurde ich der Familie Engelbert Berger in Dorfgastein in Pflege gegeben. A HENRYK WOJCIECHOWSKI Für die Zeit meiner Gewöhnung an die neue Umgebung bekam ich vom Lebensborn‐Amt einen Betreuer zugeteilt, der damit beauftragt war, den Anpassungsprozess bei mir zu überwachen. In der Praxis bedeutete das aber nur, dass ich an eine bestimmte Adresse jederzeit meine eventuellen Eindrücke oder Klagen schicken durfte. In meiner Pflegefamilie hatte ich gute Bedingungen zum Leben und zum Lernen. Ich spürte ihre Zuneigung und Fürsorge. Nach dem Schulunterricht arbeitete ich nach Möglichkeit bei der Versorgung des Viehs (Schafe, Ziegen, Kühe, Pferde) und ich half bei allen Arbeiten im Haushalt mit. Ich hatte volle Bewegungsfreiheit. Auf Anraten der Hausleute machte ich in der Zeit vor Weihnachten 1943 von der mir gegebenen Adresse Gebrauch, indem ich in einem Brief meine Eindrücke beschrieb und um ein Paar Skier für den herannahenden Winter bat. Unerwartet tauchte mein Betreuer persönlich bei uns auf. Er brachte mir Skier und auch andere Geschenke mit. Ich hatte allen Grund, zufrieden zu sein und konnte meine Freude nicht verbergen. Danach kontaktierte ich ihn aber nicht mehr – ich hatte keine Wünsche an ihn und auch keinen Grund zum Klagen. Bei nostalgischen Anwandlungen summte ich leise ein Lied vor mich hin, das ich aus meiner Kindheit kannte, um die polnische Sprache nicht zu vergessen: „Szła dzieweczka do laseczka…” („Es ging ein Mädchen in ein Wäldchen…“). Zugleich versuchte ich, den Text ins Deutsche zu übersetzen. Der Hausherr sprach oft davon, dass er mich adoptieren und an Stelle seines Sohnes, der bei Kämpfen an der Ostfront in Ungarn gefallen war zu seinem Erben machen wolle Die Zeit bis zur Befreiung von Österreich durch die Alliierten (die amerikanische Besatzungszone) habe ich noch als bedeutsam in Erinnerung . Der Abschied von meinen Pflegeeltern war für beide Seiten nicht leicht. Mein Talisman aus jener Zeit ist ein getrocknetes Edelweiß, das vom Gipfel des Schuhflickers stammt. Durch Bemühungen der Polnischen Militärmission und des Polnischen Roten Kreuzes konnte ich im späten Herbst 1945 nach Polen zurückkehren. Von Salzburg nach Poznań (Posen) reiste ich über Böhmen, Międzylesie (Mittelwalde) und Wrocław (Breslau) unter Aufsicht einer Familie aus Poznań, deren Name mir nicht bekannt war. Im Repatriierungslager von Salzburg war ich das einzige Kind unter lauter Erwachsenen – ich kann mich an kein anderes erinnern. Bis heute bewahre ich einen im Lager gebastelten Holzkoffer für persönliche Sachen auf. Vor meiner Abreise wurden mir vor Ausstellung meiner Ausweispapiere Fingerabdrücke abgenommen sowie ein Foto für meine Repatriierungskarte gemacht. Jeder von uns wurde desinfiziert, dann wurde uns je ein Platz in einem Güterwagen zugewiesen. Wir bekamen Nahrungspakete für eine zweitägige Reise. Mein weiteres Leben nach 1945 war nicht leicht, wie übrigens auch das aller anderen, die aus der Vertreibung zurückgekehrt waren. Ich war auf mich selbst und auf soziale Hilfe angewiesen. Nach meiner Ankunft in Poznań wurde mein Name beim Staatsamt für Repatriierungen eingetragen, das in Baracken auf dem Platz am Hauptbahnhof seinen Sitz hatte. Ich erhielt damals einen Betrag von 100 Zloty für notwendige Ausgaben und einen vom Staatsamt ausgestellten Schein als Ausweis sowie einen anderen, der mich an die Woiwodschaftsabteilung für soziale Hilfe in der Dąbrowski Straße verwies. Durch Bemühungen des Polnischen Roten Kreuzes und der Sozialhilfeabteilung wurde ich zunächst im Ursulinen‐ Kinderheim in der Mariacka Straße untergebracht, und danach – weil Zofia und Michał Ślusarek, meine Pflegeeltern aus der Zeit vor dem Krieg, weder kontaktiert noch deren Familie ausfindig gemacht werden konnte – in ein Kinderheim in Broniszewice bei Pleszewo verlegt, das von Dominikanerinnen geleitet wurde. Kinder des Gaukinderheims Bruczków / Bruckau, 1942 (ZDPGPRH) 103 DER BESATZUNGSALLTAG 104 Der Besatzungsalltag m 1. September 1939 begann ein neuer Abschnitt im Leben der polnischen Bevölkerung. Der Krieg sowie die fünfjährige Besatzung veränderten den Alltag eines jeden Menschen. Anfangs wusste niemand, was von den Deutschen zu erwarten war. Doch schon kurz nach dem Auftauchen der Wehrmacht, der Luftwaffe sowie Gestapo wurde klar, dass die Besatzer den Bewohnern der eingenommenen Gebiete keine Gnade entgegenbringen würden. Die deutschen Besatzer setzen alles daran, einerseits die Zivilbevölkerung von Anfang an einzuschüchtern, andererseits einfach nur den Bewohnern das Leben so schwer wie möglich zu machen. Für die Nichteinhaltung von Regeln, Befehlen und Anordnungen drohten schwere Strafen –Konzentrationslager, Gefängnis und oftmals auch die Todesstrafe. Allgemein herrschender Terror wurde zum Alltag, z.B. Straßenrazzien und öffentliche Hinrichtungen. Die per Zufall während der Straßenrazzien gefangen genommenen Menschen wurden in Konzentrationslager – oder im besten Fall zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt. Der Alltag wurde, besonders am Anfang der Besatzung sehr schwer. Es fehlten viele Güter des alltäglichen Bedarfs, die Wasser‐ und Stromversorgung in den Städten funktionierten nicht und es gab keine Möglichkeit, Heizmaterial für den Winter zu besorgen. Es wurden für fast alle Nahrungsmitteln und Fabrikwaren Marken eingeführt. Die Menschen mussten sich anpassen, um diese neue Wirklichkeit zu überstehen. Der Alltag wurde zum ständigen Kampf um das Überleben. Den Polen war es nicht erlaubt, ein Radio zu besitzen, in den an das Dritte Reich angeschlossenen Gebieten waren auch keine Fahrräder erlaubt, es galten Polizeistunden. Der Zugang zu Kinos, Parks, Theatern, Bibliotheken und sogar Sportplätzen war den Polen verwehrt. Straßen wurden umbenannt. Auch Schulen und Universitäten wurden geschlossen. In späteren Zeiten erlaubte man Kindern den Grundschulbesuch, im Generalgouvernement auch eine Berufsausbildung, jedoch nur in ausgewählten, als schlechter angesehenen Berufen. Den Polen war es nicht nur verboten, Ämter auszuüben und höhere Posten zu übernehmen, ihre Rolle beschränkte sich auf die Ausführung körperlicher Arbeit zugunsten der deutschen Wirtschaft. Bereits im Oktober 1939 wurde ein Arbeitszwang für Männer zwischen 18 und 60 Jahren eingeführt. Schon bald senkte man das Alter auf 14 Jahre, in der Praxis wurden jedoch auch jüngere Kinder eingestellt. Später umfasste der Arbeitszwang auch Frauen. Die Löhne wurden reduziert und wurden somit unproportional niedrig zu den herrschenden Lebenskosten. Doch die Polen ließen sich nicht in eine verschreckte, willenlose Masse an unqualifizierten, identitätslosen Arbeitern verwandeln. In der neuen Realität versuchte man nicht nur das Leben, sondern auch die Ehre zu bewahren. Die Polen lebten in der Hoffnung auf Freiheit, der Krieg wurde als Übergangszeit angesehen, als ein kurzer Abschnitt, daher unterwarfen sie sich nie vollständig den Anordnungen des Besatzers. Der Besatzungspolitik widersetzte sich ein Großteil der Bevölkerung, indem passiv Widerstand geleistet wurde und indem man sich an der wachsenden Untergrundbewegung beteiligte. Bald wurde im Geheimen Unterricht auf allen Ausbildungsniveaus organisiert, es wurden Untergrundzeitungen herausgegeben. Polnischer Untergrundstaat und seine ausgebauten Strukturen waren beispiellos in Europa. Diese Bemühungen gaben den Menschen Hoffnung und halfen ihnen dabei bis zum Ende des Krieges durchzuhalten. A HENRYK JAKUBOWSKI 105 HENRYK JAKUBOWSKI Kampf ums Überleben. Erinnerungen aus den Jahren 1939 – 1945 Der Autor wurde am 10. Mai 1925 geboren. Vor dem Kriegsausbruch wohnte er in Zawiercie, wo sein Vater ein Fotoatelier besaß. Nach Ausbruch des Krieges nahm er an Geheimunterricht teil und war in der Untergrundbewegung tätig. 1943 wurde er verhaftet und gefangen gehalten, anfänglich in Gefängnissen in Opole (Oppeln) und Mysłowice (Myslowitz), dann in den Konzentrationslagern Auschwitz‐Birkenau und Mauthausen. DER BESATZUNGSALLTAG 106 […] Noch im September erschienen an Anschlagbrettern erste Bekanntmachungen, Verordnungen, Mitteilungen u.ä. von deutschen Militär‐ und Polizeibehörden. Es wurde unter anderem verordnet, unter Androhung der Todesstrafe, an bestimmten Stellen Gewehre, Radios, Fahrzeuge usw. abzugeben. Es gab auch eine Mitteilung, in der ein Termin für den Anfang des Unterrichts in Schulen angesetzt wurde. Wir haben die Schule einige Wochen lang besucht. Eines Tages wurde uns dann aber mitgeteilt, dass der Unterricht für unbestimmte Zeit unterbrochen werde. Es war klar, dass sich diese Pause bis zum Kriegsende ziehen wird. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mit einer Gruppe Mitschüler vor der Schule stand, als der Priester Präfekt Całusiński und Herr Professor Woźniak mit folgenden Worten an uns herangetreten sind: „Jungs, es gibt keinen Grund, es hinauszuzögern, der Unterricht muss heimlich fortgesetzt werden, kommt dazu zu uns nach Hause“. Einige von uns haben dieses Angebot genutzt und schon am nächsten Tag fingen wir mit dem Untergrundunterricht an. Mathe, Polnisch, Fremdsprachen und Geschichte hatten wir mit dem Priester Całusiński, die anderen Fächer mit dem Professor Woźniak, der später Zawiercie Der junge Henryk Jakubowski 1942 (AFPNP) verlassen hat. Deswegen fanden dann alle Unterrichtstunden beim Priester statt, manche wurden auch von seinem Bruder Zdzisław geleitet, der gerade eine Oberschule absolviert hatte. Die Stunden wurden in der Privatwohnung des Priesters Całusiński in der Piłsudski Straße abgehalten. Während des Unterrichts beobachtete immer einer der Schüler die Straße und passte auf, dass die Deutschen nicht kamen. In dieser Zeit arbeitete ich bei meinem Vater im Fotoatelier. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, meine deutschen Sprachkenntnisse zu vertiefen, während ich die Deutschen bedient habe. Einen Teil meiner Freizeit verbrachte ich mit Freunden. Wir alle waren in ähnlichem Alter, zwischen 14 und 17 Jahren. Bei schönem Wetter genossen wir die Zeit am Wasser im nahe gelegenen Kądzielów, wo wir an der Mühle von Holenderski badeten und uns sonnten. Die Kiefernwälder dort waren ein guter Schutz vor Hitze und boten wunderbare Luft. An trüben Tagen haben wir getanzt, hauptsächlich zu Melodien von Schallplatten von Mieczysław Fogg. Wir trafen uns nicht nur aus sozialen oder sportlichen Gründen. Viel Zeit verbrachten wir damit, die Untergrundpresse zu lesen und über die Radionachrichten aus London zu sprechen. Im Fotolabor meines Vaters habe ich heimlich Rundfunk gehört. Einzelne Zeitungsexemplare unter dem Titel „Płomień“ (Flamme) und später „Niepodległa“ (Die Unabhängige) erhielt ich vom Priester während des Unterrichts. Dort habe ich auch einen Bekannten seines Bruders, Zdzisław Piotrowski, kennengelernt. Nach einigen Treffen begann Piotrowski, mir alle paar Tage ganze Pakete mit Zeitungen zu übergeben, die ich mit der Hilfe meiner Schulfreunde vertrieben habe. Sie gaben diese an ihre Familien und Kollegen weiter. Nach einer gewissen Zeit hat mir einer meiner Mitschüler mitgeteilt, dass er die Zeitungen nicht mehr annehmen wird, weil er bei der deutschen Gendarmerie als Dolmetscher eingestellt worden sei. Seine Mitteilung, und vielmehr seine Haltung, haben uns ganz und gar überrascht. Wir befürchteten, dass er uns vielleicht verraten wird. Später konnten wir uns davon überzeugen, dass er uns zwar nicht verraten, aber doch alle Kontakte mit uns abgebrochen hatte. Am Ende des Krieges ist er mit den Deutschen aus Zawiercie und aus Polen geflüchtet. HENRYK JAKUBOWSKI Später hatte sich der Kreis der Empfänger von Zeitungen auf Freunde bei den Pfadfindern erweitert. Als die Deutschen befohlen hatten, alle Radioapparate abzugeben, befolgte mein Vater diese Verordnung nicht ganz ‐ er gab nur einen Radioapparat von den zweien, die er besaß ab. Der zweite Radioapparat war in seinem Betrieb, in der Dunkelkammer angeschlossen. Und genau dort, unter dem Vorwand Laborarbeit auszuüben, hörten mein Vater und ich abwechselnd Auslandsnachrichten. Die wichtigsten schrieben wir auf Zettel und leiteten sie dem Priester und Herrn Piotrowski weiter. Im Laufe der Zeit wurde das Radiohören im Fotogeschäft immer schwieriger und gefährlicher. Der Ort musste gewechselt werden. In der Stadt und Umgebung haben die Deutschen getobt. Es kam zu Massenverhaftungen und Verschleppungen zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Spitzel waren überall. […] Eines Tages, als ich gerade auf dem Rückweg nach Hause war, wurde ich zusammen mit anderen Passanten von der deutschen Polizei umzingelt. Unter Schreien und Schubsen führten sie uns die Alleen an den Eisenbahngleisen neben dem Grabmal des unbekannten Soldaten entlang. Dort waren schon eine Menge Leute, die hierhin gejagt worden waren. An einem der Bäume, mit einer Kirche im Hintergrund, sah ich eine Seilschlinge hängen. Ich begriff sofort, dass die Deutschen eine Hinrichtung planten. Kurze Zeit später kam tatsächlich ein Auto angefahren, aus dem Gestapo‐Offiziere einen schlanken Mann herauszogen. Er hatte eine Arbeitsuniform an und die Hände nach hinten gebunden. Die zusammengetriebene Menschenmenge bildete ein Viereck und wurde von der Polizei, Gendarmerie und von Gestapo‐Offizieren umstellt, die ihre Maschinengewehre auf uns richteten. Der Verurteilte wurde an den Baum geführt, woraufhin einer der Gestapo‐Offiziere das Urteil vorlas. Es hat in etwa so gelautet: Name, Vorname, Geburtsdatum und weiter – wird wegen Zugehörigkeit zu der geheimen Organisation „Orzeł Biały“ („Weißer Adler“) und damit wegen deutschfeindlicher Betätigung zum Tode verurteilt. Nach der Verlesung des Urteils wurde der Häftling auf einen Hocker gestellt. In diesem Moment hörten wir aus seinem Mund die Worte „Es lebe Polen“. Die Gestapo‐Offiziere schimpften etwas. Einer von ihnen legte dem Verurteilten die Schlinge um den Hals und ein anderer riss den Hocker weg, auf dem das Opfer stand. Auf diese Weise wurde ich zum ersten Mal im Leben zum gezwungenen Zeugen eines politischen Mordes an einem Polen. Auch zum ersten Mal spürte ich richtigen und starken Hass und Rachewillen. Einige Monate später wurde ich auf gleiche Weise dazu gezwungen, einen anderen Mord mit anzusehen, diesmal in Sosnowiec (Sosnowitz). Ich fuhr dorthin, um meine Familie zu besuchen. Vom Bahnhof wurden wir auf einen Platz bei der Synagoge zusammengetrieben. Die Hinrichtung fand auf dieselbe Weise wie in Zawiercie statt. Ich war damals etwa 15 Jahre alt. Der Anblick der beiden Hinrichtungen war ein prägendes Erlebnis und beeinflusste meine sich noch entwickelnde Psyche. Ich drehte den Kopf weg und schloss die Augen, weil ich nicht zusehen konnte, wie ein Mensch ermordet wird. Obwohl ich noch jung war, spürte ich den Drang zu handeln, obwohl ich mir des Preises sehr gut bewusst war. Eines Tages haben die Deutschen in der Stadt Plakate aufgehängt, auf denen eine zerstörte Stadt und darüber fliegende englische Flugzeuge abgebildet waren. Unter dem Plakat stand geschrieben: „England, das ist dein Werk“. Solche ein Plakat hing auch an der Tafel gegenüber den Fenstern des Betriebes meines Vaters. Zusammen mit Marian, einem Mitarbeiter meines Vaters, beschlossen wir, diese Aufschrift zu ändern, indem wir auf das Wort „England“ das Wort „Hitler“ klebten. An diesem Tag blieben wir bis zum späten Abend im Betrieb. Marian hat mit großen Buchstaben und Tusche auf einem Heftblatt „Hitler“ geschrieben. Auf der Rückseite bestrich ich das Blatt mit Klebstoff, danach nutzte ich einen Moment, in dem die Straße ganz leer war, lief zu dem Plakat und setzte die vereinbarte Aufgabe in die Tat um. Früh am nächsten Morgen beobachteten wir durch ein Fenster, wie sich die Passanten mit einem Lächeln unser Plakat angeschauten. Erst um 10 Uhr kam eine Gruppe Gestapo‐Offiziere, sie fotografierten das Plakat und rissen es dann ab. Den ganzen Tag lang und auch einige Tage danach war die Stadt in Alarmbereitschaft. Es kam aber zu keinen Repressionen. […]Im Laufe der Zeit wurde das Leben unter der Besatzung immer schwieriger. Die Lebensmittelrationen, die man für seine Marken erhielt, wurden immer kleiner. Es kam immer öfter zu Straßenrazzien und ganze Menschenmassen wurden zu Arbeitslagern abtransportiert. Wegen des Mangels an Lebensmitteln fuhr ich öfter mit dem Rad zu nahe gelegenen Dörfern, um etwas zum Essen zu kaufen. Manchmal ist es mir gelungen, ein bisschen Milch oder Butter mitzubringen. […] 107 DER BESATZUNGSALLTAG 108 JULIUSZ RYBARSKI Jugend in der Besatzungszeit Vor dem Kriegsausbruch hat der Autor mit seinen Eltern in Krakau in der Vorstadt Nowa Olsza gewohnt. Er besuchte die St. Nikolaus‐Grundschule Nr. 3. Er war Mitglied der Polnischen Pfadfindervereinigung. Als der Krieg ausbrach, war er 16 Jahre alt. JULIUSZ RYBARSKI […] Am 6. September 1939, um 6 Uhr morgens, marschierten in Krakau die Wehrmachts‐ und SS‐Truppen ein und führten eine neue Besatzungsordnung und Verwaltung ein. Meine Schule wurde von Soldaten besetzt und in eine Kaserne umgewandelt, auch das Hl. Jacek‐Gymnasium, wo ich meine Ausbildung fortsetzen sollte, wurde geschlossen. Ich habe die Möglichkeit gewählt, die siebte Klasse in der Schule im Ersatzgebäude eines der ehemaligen wissenschaftlichen Institute in der Lubicz‐ Straße zu absolvieren. Die Besatzer vertraten die Ansicht, dass es für Polen ausreichend sei, wenn sie lesen und bis Tausend rechnen können. Die höchste Bildungsstufe sollte die Berufsschule sein. […]Am Wawel‐Turm wurde die Hitler‐Fahne aufgehängt (Sitz des Generalgouverneurs Hans Frank, Krakauer Burg). Der Marktplatz wurde in Adolf Hitler Platz umbenannt, eine Reihe von Parks, Restaurants, Geschäften, teilweise auch Straßenbahnen und viele andere Orte wurden mit der Klausel „Nur Für Deutsche“ versehen. In die Akademie für Bergbau und Hüttenwesen zog „die Regierung“ des Generalgouver‐ nements ein. Nachdem die deutschen Besatzungstruppen Verordnung des Generalgouverneurs Hans Frank vom in Krakau einmarschiert waren, fingen 24.04.1940 über die Pflicht, sich für die Landarbeit in Deutschland zur Verfügung zu stellen (ADM) eintönige, graue Tage an. Auf den Straßen fuhren bewaffnete Patrouillen hin und her. Es erschienen auch Bekanntmachungen, die verordneten, alle Waffen und Radioempfänger abzugeben und die eine Polizeistunde von 18:30 Uhr bis 5:00 Uhr morgens festsetzten. Hinter den Wehrmachtstruppen rückten in Krakau die Einsatzgruppen der SS und des SD, sowie Gestapo und andere Uniformdienste der Besatzer ein. Das Tannenberg‐Denkmal auf dem Matejko Platz und das Adam Mickiewicz‐Denkmal am Marktplatz wurden abgerissen. Es wurde die Todesstrafe für Handlungen gegen das Deutsche Reich eingeführt. Professoren der Jagiellonen‐Universität wurden hinterlistig verhaftet. In Krzeszowice bei Krakau wurden erste Massenhinrichtungen durchgeführt. Fünfzehn Häftlinge aus dem Hl. Michael‐Gefängnis wurden erschossen. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden an diesem Hinrichtungsort etwa zweitausend Häftlinge hingerichtet. Am Ende der siebten Klasse der Grundschule bekam ich einen wunderbaren Lehrer und Betreuer ‐ Herrn Professor Mikuła. Es gelang ihm, bei uns ein weites Kulturinteresse zu wecken (Musik, Kunst, Malerei, Dichtung). Zugleich übte er einen sehr positiven Einfluss auf die Bildung unserer patriotischen Einstellung aus. […] In den ersten Monaten der Besatzung fehlte es ständig an Lebensmitteln und insbesondere an Brot. Die Versorgung unseres Hauses mit Brot war meine Aufgabe. Jede Nacht stand ich Schlange vor der nah gelegenen Bäckerei und wartete auf das erste Backen (meistens das einzige am ganzen Tag). Später fuhr ich mit dem Rad nach Słomniki, ein kleines Städtchen (etwa 30 Kilometer von Krakau entfernt), um von dort Brot zu holen. Eben dort konnte man Backwaren noch uneingeschränkt und ohne Marken kaufen. Wir fuhren zu mehreren um drei Uhr morgens von zu Hause los, ohne die Polizeistunde zu beachten. Dann kehrten wir mit einigen Brotlaiben für Zuhause und Bekannte zurück. Nur dank des außergewöhnlichen Talents meiner Mutter im Haushalt, gelang es ihr irgendwie, unsere bescheidenen und zwangsweise beschränkten Alltagsbedürfnisse zu befriedigen. […] 109 DER BESATZUNGSALLTAG 110 IRENA ROWIŃSKA 1930er-Generation Die Autorin wurde in Warschau geboren und wohnte dort auch. Zu Kriegsbeginn war sie acht Jahre alt. IRENA ROWIŃSKA […] Es kam der strenge Winter 1940. Der Frost erreichte öfters minus 30 Grad, zu Hause war es sehr kalt, es gab kein Heizmaterial (in vielen Wohnungen gab es keinen Herd), es fehlte an Holz, Kohle und Koks. Rohre platzten auf, aus den Wasserhähnen lief kein Wasser, Toiletten waren außer Betrieb. Es fehlte an Essen, das man nur auf dem „Schwarzmarkt“ kaufen konnte, doch wir konnten uns solche Einkäufe nicht leisten, die Preise waren zu hoch. Zum Frühstück gab es Schwarzbrot, meistens „leer“ und Kaffee ohne Zucker, zum Mittagessen Suppe ohne Gemüseeinlage, die es einfach nicht gab, zum Abendbrot wieder Kaffee und Brot. Jede Mahlzeit fing mit Weinen an, denn ich wollte diese Abscheulichkeiten nicht essen und meistens blieb ich hungrig. Ich bekam leider nichts Besseres, deshalb war mir nicht nur kalt, sondern ich war dazu noch hungrig und es war irgendwie schrecklich. Jeden Tag fuhren Leichenwagen mit Verstorbenen die Puławska Straße entlang, zum Friedhof. Es gab nicht viele Trauernde, dagegen immer mehr Verstorbene. Nur ab und zu erschienen hinter einem Leichenwagen Klageweiber – ein Zeichen dafür, dass der Verstorbene ein Jude gewesen war. Im Winter 1940, als der Frost die Temperatur minus 35 Grad erreichte, wurde der Unterricht in den Schulen unterbrochen. Lebensmittelvorräte wurden aufgebraucht, es fehlte sogar an Brot und Kartoffeln. Die Nachrichten, die aus der Stadt kamen, wurden immer erschreckender. Aufgrund von Unterernährung und Hunger starben die ärmsten Einwohner Warschaus massenweise an Tuberkulose. In „unserem Haus“ war es auch traurig, obwohl sich die Bewohner bemühten, einander zu helfen und miteinander zu teilen, was man hatte. Da wir einen Kachelherd und noch ein bisschen Koks hatten, hat man sich bei uns getroffen. Um Feuer zu machen, nutzten wir alte, hölzerne Gegenstände – Stühle, Schränke, Hocker usw. Abends wurden lange Gespräche geführt, man tauschte Neuigkeiten aus, es wurde über ein baldiges Kriegsende spekuliert. In dieser Zeit haben die Besatzer verschiedene Arbeitswerkstätten in Betrieb genommen, in denen sich die Herstellung hauptsächlich auf Bedürfnisse der Armee konzentrierte. Es gelang meinem Vater, eine Arbeitsstelle unter deutscher Geschäftsführung bei der Produktion von Woll‐ und Bettdecken in Warschau Powązki zu kriegen. Die Arbeit war schlecht bezahlt und weit weg von Zuhause, man kriegte aber einen Ausweis, der teilweise vor Verhaftung schützte. Endlich kam der Frühling 1940. Unsere Freunde jüdischer Abstammung bekamen Davidsterne, liefen am Rande des Bürgersteigs und sprachen immer öfter über die Verlegung ins Ghetto. Weitere Bewohner des Hauses in der Puławska Straße verließen ihre bisherigen Wohnungen, dabei ließen sie oft einen Teil ihres Hab und Guts zurück, weil es auf dem Fuhrwerk keinen Platz mehr dafür gab. Sie zogen ins „Unbekannte“. Wir nahmen mit großem Bedauern sehr herzlich Abschied von ihnen und wünschten ihnen alles Gute. Jahrelang lebten wir zusammen, hatten einander sehr gern und konnten nicht begreifen, warum ihnen das passierte und verstanden nicht, was diese Leute falsch gemacht haben sollen. Niemand überlebte, wir haben nach dem Krieg keinen von ihnen je wieder getroffen, alle unsere jüdischen Bekannten sind im Ghetto ums Leben gekommen. Traurig. Verlassene Wohnungen wurden von anderen Bewohnern besetzt, die meistens aus anderen Häusern ausgesiedelt wurden oder von deutscher Herkunft waren, weswegen man ihnen schwer Vertrauen schenken konnte. Immer öfter erschienen in dem Gebäude neue Mieter in deutschen Uniformen. Samt ihren Familien bezogen sie die teuersten Mehrzimmerwohnungen. Es gab auch „zivile“ Angestellte deutscher Ämter, meistens von der Gestapo. Die alten Bewohner wussten, wer sie waren und waren auf der Hut vor ihnen. Es kam aber zu Situationen, die schwer vorauszusehen waren. Eines Abends saßen wir in unserer Wohnung am Herdfeuer, die Herdringe lagen offen und wir lasen die Untergrundpresse. Plötzlich hörten wir, dass jemand die Tür mit einem Schlüssel aufmachte. Wir schafften es gerade noch, die Zeitschrift ins Feuer zu werfen. In unsere Wohnung trat eine Gestapo‐Mitarbeiterin ein, die im selben Flur wohnte und teilte uns lächelnd mit, dass sie die Wohnungstür geöffnet hatte, weil ihr Schlüssel zu unserer Tür passt. Niemand wusste, wie viele Male sie früher schon unsere Sachen durchwühlt hatte und es war sehr merkwürdig, dass sie keine verbotenen Schriften gefunden hatte.[…] Währenddessen wurde das Leben für alle immer schwieriger. Eigentlich fehlte es an allem. Die begehrtesten Waren (von Lebensmitteln über Kleidung bis zu Gold und Brillanten) konnte man auf dem „Schwarzmarkt“ kaufen. Meine Eltern hatten aber nicht genug Geld, um sich solche Ausgaben leisten zu können und so litten wir Not. Mein Vater fuhr zwar mehrmals aufs Land, um dort Einkäufe zu machen, aber er hatte kein Glück und verlor alle Einkäufe bei Durchsuchungen im Zug oder am Bahnhof, und damit auch das ausgegebene Geld. Unser Speiseplan wurde jedoch um Zwiebel und Rapsöl reicher. Das war eine sehr vorzügliche Speise – klein geschnittene Zwiebel, mit Öl begossen und das schwarze, unausgebackene Brot, das man für seine Nahrungsmarken bekam. Dazu trank man 111 DER BESATZUNGSALLTAG 112 etwas, was Tee genannt wurde, aber eigentlich wusste niemand, was das war, mit Saccharin gesüßt. Das war abscheulich und ich weinte immer dabei. Der Speiseplan wurde abwechslungsreicher, nachdem „Marken für alles“ eingeführt wurden. Da tauchte auf einmal eine abscheuliche Marmelade auf, die uns in festgelegten Mengen in Gefäße gefüllt wurde. Nach einigen Tagen war es mehr Marmelade als ursprünglich, sie gor fortwährend und ununterbrochen hörte man sie im Topf gluckern. Noch heute erinnere ich mich daran. Ein anderer „Leckerbissen“ war der künstliche Honig, der genauso scheußlich wie die Marmelade war. Dazu gehörte noch Schwarzbrot, das hervorragend Lehm nachahmte, stinkende Margarine, eine „Seife“, die nie schäumte, und manchmal andere zusätzliche „Delikatessen“ je nach Verteiler der Besatzungsbehörden. In der Willowa‐Straße, in einer Kellerwohnung, neben dem Feldgendarmerie‐Amt, das ständig von zwei in Grätsche stehenden Soldaten bewacht wurde, befand sich ein Geschäft. Das dreistöckige Gebäude wurde zusätzlich durch Sandsäcke geschützte, die bis auf Höhe des ersten Stocks geschichtet waren. Von hier fuhren Autos zu Razzien los. Die Autos waren voll mit Gendarmen, die auf Bänken auf beiden Seiten des Wagens saßen. Oft waren hier Schüsse im Hof zu hören. Dem Geschäft gegenüber, in der Willowa‐Straße 8/10, stand ein mehrstöckiges Gebäude, das von der Gestapo für Privatwohnungen besetzt und auch sorgfältig bewacht wurde. Überall wimmelte es von grünen und schwarzen Uniformen, die bei den Polen riesige Angst erzeugten. Wer nicht unbedingt musste, betrat die kleine Willowa‐Straße nicht, die fast vollständig von Besatzern mit hohem Rang besetzt war. Deswegen traf man im Geschäft vor allem Kinder an, die für Marken eingekauft haben. Meine Mutter war nie in diesem Geschäft, erschrocken schaute sie nicht mal in diese Richtung. Sogar nach dem Krieg verspürten wir Angst und Widerwillen, in die Willowa‐Straße zu gehen. Eine ähnliche Rolle spielte damals die zur Willowa‐Straße parallele, kurze Dworkowa‐ Straße. Dort befand sich nämlich das Gendarmerie‐Amt, alle Häuser wurden komplett von Deutschen besetzt. Auch die Puławska‐Straße war auf der Strecke von der Rakowiecka‐Straße bis zur Madalinskiego‐Straße das ausschließliche Eigentum der uniformierten deutschen Würdenträger, denn die Häuser waren hier modern und kurz vor dem Krieg gebaut. Ich erinnere mich noch daran, dass eines Tages ein Offizier vom hohen Rang aus dem „Wedel“‐Haus in der Madalinskiego‐Straße gekommen ist. Er geriet unter die heranfahrende Straßenbahn und wurde tödlich verletzt. Der Fahrer wurde aus der Straßenbahn gezerrt. Der Unglücksselige nahm schon Abschied von seinem Leben, als die durchgeführte Revision nachwies, dass der Deutsche Selbstmord begangen hatte. Auf einem Zettel, der in seiner Uniform gefunden wurde, stand geschrieben, dass seine ganze Familie bei einem Bombenanschlag in Berlin ums Leben gekommen war. Das hat den Straßenbahnfahrer vor dem Tode bewahrt. Dieses Ereignis habe ich vom Balkon aus gesehen, die Details erfuhren wir aus der Untergrundpresse. Es wurde immer grausamer und trauriger. Die frühe Polizeistunde machte es unmöglich das Haus zu verlassen, also las ich eine Menge verschiedener Bücher, die manchmal für ein zwölfjähriges Kind zu schwierig waren. Damals wurden Kinder jedoch früh erwachsen und haben viel verstanden. Zufällig sah ich etwas, was sich am frühen Nachmittag in unserem Haus ereignete. Gegen 14.00 Uhr kehrte ein Deutscher von der Arbeit heim, der hier wohnte und der angeblich bei der Gestapo in der Szucha‐Allee arbeitete. Es folgten ihm zwei Jungs, die ein bisschen älter als ich waren. Ich habe sie früher mehrmals gesehen, wie sie durch die Höfe zu dem sogenannten letzten Treppenhaus liefen. An diesem Tag verließen sie den Hof dicht hintereinander mit ziemlich schnellen Schritten. Später stellte sich heraus, dass im Aufzug ein toter Gestapo‐Offizier lag, der mit einem Pfadfindermesser ermordet wurde. Das, was ich gesehen hatte, erzählte ich nur meinen Eltern. Angeblich ist es den Jungen gelungen zu fliehen [...] 113 Deutsches Propagandaplakat „Auf zur Landarbeit nach Deutschland! Melde Dich sofort bei Deinem Dorfvorsteher!”, Ort und Datum unbekannt (MZwZ) Polen vor ihrer Registrierung durch das Arbeitsamt in Lodz vor dessen Umbenennung in Litzmannstadt im April 1940 (WBBH) 114 Fotos stammen aus den Beständen der Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ und folgenden Institutionen: – Institut für Nationales Gedenken – Instytut Pamięci Narodowej (IPN) – Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau – Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau (PMA-B) – Landesmuseum in Zamość – Muzeum Zamojskie w Zamościu (MZwZ) – Institut für die Geschichte der Bauernbewegung – Zakład Historii Polskiego Ruchu Ludowego (AZHRL) – Vereinigung der durch das NS-Regime Germanisierten Polnischen Kinder in Łódź – Zrzeszenie Dzieci Polskich Germanizowanych przez Reżim Hitlerowski (ZDPG) – Jüdisches Historisches Institut Warschau – Żydowski Instytut Historyczny (ŻIH) – Bundesarchiv Koblenz (BA Koblenz) – Staatsarchiv der Hauptstadt Warschau – Archiwum Państwowe m.st. Warszawy (AP Warszawa) – Archiv der Neuen Akten – Archiwum Akt Nowych (AAN) Bildungsmaterialien der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung w w w. f p n p. p l / e d u k a c j a / p a k i e t _ e d u k a c y j ny ISBN: 987‐83‐63736‐04‐0