Gestörtes Gleichgewicht
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Gestörtes Gleichgewicht
Ges törte s Gl eich gew icht Die Welt der Großkanzleien definiert sich als Leistungsgesellschaft. Doch jetzt reden alle von Work-Life-Balance – weil junge Top-Juristen eine neue Vorstellung von Arbeit und Freizeit in die Sozietäten tragen. Im System Großkanzlei entsteht ein neues Spannungsfeld. von Ulrike Barth, Anja Hall und Meike Nohlen Fotos: Andreas Anhalt 26 JUVE Rechtsmarkt 02/11 K A N Z L E I E N Work-Life-Balance D er gestandene Wirtschaftsanwalt ist smart, ständig erreichbar und erfolgshungrig – und so soll auch der Nachwuchs sein. Eine „interessante Persönlichkeit mit exzellenten Staatsexamina“, die bereits in der Ausbildung „hart gearbeitet und Außergewöhnliches geleistet“ hat, wünschen sich die Recruitment-Chefs. Diese hart arbeitenden, interessanten Persönlichkeiten sind in den TopKanzleien heiß begehrt – und das wissen sie auch. Während sich die Top-Absolventen der 1990er-Jahre in den Hierarchien der Großkanzleien unter weitgehendem Verzicht aufs Privatleben hochgedient haben, strebt die heutige Bewerbergeneration nicht mehr unbedingt nach einer geradlinigen Karriere. Wertewandel. Das Privatleben hat einen höheren Stellenwert bekommen. „Die bedingungslose Unterordnung des Privaten unter berufliche Erfordernisse gibt es im mittleren Kanzleisegment auf AssociateEbene praktisch nicht mehr“, sagt Rupprecht Graf von Pfeil, dessen Kanzleiberatung Graf Pfeil gerade in Kooperation mit der Katholischen Universität EichstättIngolstadt eine Studie zum Thema WorkLife-Balance in deutschen Wirtschaftskanzleien abgeschlossen hat (▶Konfliktlösung). Das Thema werde zudem wichtiger für Bewerber, weil eine Partnerzusage zunehmend unwahrscheinlich ist. „Die Bewerber haben deshalb eine andere Erwartungshaltung: Sie wollen eine gute Ausbildung, interessante Mandate, ein attraktives Arbeitsumfeld und anschließend ein gutes Placement“, sagt Graf von Pfeil. Die Kanzleien reagieren auf die neue Gemütslage – aus Angst, ansonsten nicht mehr an den hochqualifizierten Nachwuchs zu kommen. Den zieht es sowieso immer mehr in Unternehmen, Gerichte und Behörden. Die Tätigkeit in Kanzleien sieht im Vergleich zu diesen Arbeitgebern weniger attraktiv aus. Im Schnitt arbeiten Associates in Wirtschaftssozietäten 56 Stunden in der Woche, manche bis zu 80. Das zeigt die aktuelle Associateumfrage des JUVE-Karrieremagazins ‚azur‘. Da passt es ins Bild, dass in vielen Kanzleien schon die Tatsache, dass „die Wochenenden in der Regel frei“ sind, als familienfreundliche Maßnahme gewertet wird (▶„Work-Life-Balance am Empfang abgegeben“). In den vergangenen Jahren haben viele Sozietäten ihre Strukturen überdacht, etwa einen Counsel-Status eingeführt oder flexibles Arbeiten ermöglicht. Die meisten definieren die Balance zwischen Privat- und Berufsleben aber vor allem als Vereinbarkeit von Familie und Job: Teilzeitarbeitsmodelle und Kinderbetreuung anzubieten ist Trend. Allerdings enthüllt die azur-Associateumfrage, dass diese Angebote nur bedingt umgesetzt werden. „Die Möglichkeit, in Teilzeit zu arbeiten, ist ein reines Marketing-Tool“, sagt der Associate einer deutschen Top-Kanzlei. Und er ist kein Einzelfall. Ob Teilzeitarbeit, die Freistellung in der Elternzeit oder flexibles Arbeiten von zu Hause aus möglich sind, liegt vor allem am jeweiligen Umfeld, und dort vor allem an den jeweiligen Partnern. Und die geben teilweise ganz andere Richtlinien vor, als es die offiziellen Work-Life-Versprechen bekunden. „Die Möglichkeit der Teilzeit besteht eher theoretisch“, berichtet ein Associate, „Partner äußern ausdrücklich, dass sie keine Schwangeren in ihrem Team haben wollen.“ Der Konflikt, der sich hinter den Kulissen auftut, ist eine Generationsfrage, meint Gabriele Bollhöfer, Psychologin und bei Hogan Lovells für die Personalentwicklung zuständig. „Die meisten Anwälte, die heute Partner sind, haben sich selbst einiges versagen müssen für ihre Karriere – und der Mensch ist nun einmal so gestrickt, dass er den Weg, den er selbst gegangen ist, für gut und richtig hält“, sagt sie. Es verlange dann einiges, jungen Kollegen Freiheiten einzuräumen, die sie selbst nie hatten. JUVE Rechtsmarkt 02/11 01/11 27 Düsseldorf, im Dezember 2010 28 JUVE Rechtsmarkt 02/11 „Man braucht Rückgrat, um nicht immer da zu sein.“ Ausnahmeerscheinung: Henrik Holzapfel ist der einzige Teilzeit-Partner bei Gleiss Lutz. ben kann wie andere, ist der Preis, den Holzapfel allerdings sehr gerne dafür zahlt, seine beiden Kinder täglich „mehr als nur kurz“ zu sehen. „Für mich ist es im Moment genau so richtig, wie es ist“, sagt er. Konfliktlösung Eine repräsentative Studie der Kanzleiberatung Graf Pfeil unter den Top-50-Wirtschaftskanzleien in Deutschland belegt, dass das Kanzleimanagement den Konflikt zwischen Anforderungen in Beruf und Privatleben (Work-Life-Conflict) stark beeinflussen kann – positiv und negativ. ▸Hohe Leistungserwartungen und befürchtete negative Konsequenzen durch das Kanzleimanagement verstärken den Work-Life-Conflict jedes Mitarbeiters. ▸ Es ist entscheidend für die Weiterentwicklung der Kanzleikultur, dass das Management Work-Life-Balance-Maßnahmen unterstützt. ▸Je wichtiger das Privatleben, desto stärker empfindet der Anwalt den Work-Life-Conflict. Vor allem längere Arbeitszeiten verstärken den Konflikt. Quelle: Graf Pfeil: Work Life Balance in Wirtschaftskanzleien, September 2010 FOTO: SCHÖNHERR Ein ganz normaler Mittwochabend. Pia und Max sitzen mit ihrem Vater beim Abendessen. Sie sind die Gründe, weshalb Dr. Henrik Holzapfel weniger arbeitet als seine Kollegen. Der 36-jährige Patentrechtler ist Assoziierter Partner bei Gleiss Lutz und der einzige Teilzeit-Partner der Kanzlei. Beim Einstellungsgespräch war die Antwort auf die Frage nach Teilzeitarbeit ausschlaggebend dafür, dass Holzapfel sich für Gleiss Lutz als Arbeitgeber entschieden hat. Bei drei Großkanzleien hatte er sich als Berufseinsteiger beworben. In der ersten habe man ihm relativ deutlich zu verstehen gegeben, dass eine dauerhafte Teilzeitarbeit für Männer problematisch werde. In der zweiten habe man ihm angeboten, ein halbes Jahr die Arbeitszeit zu reduzieren, dann aber wieder vollen Einsatz verlangt – für Holzapfel zu wenig. „Auch Gleiss Lutz hat nicht gerade darauf gewartet, dass jemand kommt, der in Teilzeit arbeiten will“, sagt er und schmunzelt. Allerdings habe vor allem sein direkter Vorgesetzter das Anliegen gefördert, und letztlich scheint die Kanzlei „über den eigenen Schatten gesprungen zu sein“, meint Holzapfel rückblickend. Die Unterstützung des zuständigen Partners war entscheidend dafür, dass Holzapfel seine Lebensplanung verwirklichen konnte. Denn erst einige Jahre später hat Gleiss das sogenannte Flextime-Modell eingeführt, mit dem der Karriereweg für angestellte Anwälte in Teilzeit verbindlich geregelt wird. Heute betreut Holzapfel entsprechend seiner reduzierten Arbeitszeit zwar weniger patentrechtliche Fälle als seine Kollegen, diese aber völlig eigenständig. „Wer halbtags arbeitet, macht längst keine halben Sachen“, sagt er. Nicht zuletzt mit Blick auf seinen eigenen Business Case ist es ihm wichtig, dass seine Mandanten ihn als ihren ständigen Ansprechpartner annehmen. Manchmal fällt es ihm allerdings schwer, pünktlich nach Hause zu gehen und zu wissen: Die Kollegen müssen zum Teil noch bis spät in die Nacht arbeiten. „Man braucht schon Rückgrat, um zu sagen, dass man nicht immer da ist“, sagt Holzapfel. Man müsse es auch aushalten können, dass andere Anwälte, die später eingestiegen sind, in puncto Gehalt und Karriere an einem vorüberziehen, räumt er ein. Entsprechend seiner Zweidrittel-Stelle verdient er auch nur zwei Drittel des üblichen Gehalts für Assoziierte Partner, und es dauerte länger, bis er zur Partnerwahl anstand. Dass er seine Karriere nicht so schnell vorantrei- In ein paar Jahren entscheidet sich, ob Henrik Holzapfel bei Gleiss Lutz bleibt und als Counsel den sogenannten dritten Weg einschlägt, oder ob er zum Equity-Partner gewählt wird. Nach dem Gesellschaftervertrag von Gleiss Lutz ist eine TeilzeitPartnerschaft derzeit nur für Frauen möglich. Partner der Kanzlei betonen aber immer wieder, man würde die Teilzeit-Partnerschaft auch Männern ermöglichen, es habe eben nur noch keiner gefragt. Henrik Holzapfel könnte der erste sein, der die Kanzlei beim Wort nimmt. Systemgefährdend. Andere Zeit-Arbeitsmodelle sind also möglich. Zur Regel auf Equity-Partner-Ebene dürften sie aber nie werden. Das würde die Grundfesten der leistungsorientierten Kanzleiwelt erschüttern. „Die Partner zieht es auch deshalb ins Büro, weil sie dort Gesicht zeigen wollen“, sagt Psychologin Bollhöfer. „Das hat zum einen mit den Anforderungen des Mandanten zu tun, aber auch mit Fragen der Mikropolitik. Die kriegen sie von zu Hause aus nicht hin“, so Bollhöfer, die auch Partner und Counsel in Karrierefragen berät. Wer Karriere machen und Einfluss erlangen will, muss Präsenz zeigen, so die Faustfor- K A N Z L E I E N Work-Life-Balance mel. „Ohne ihre Netzwerke können die Anwälte schwerlich wachsen, ihre Karriere vorantreiben“, sagt sie. Wer sich entscheidet, nicht dauerpräsent zu sein, muss als Konsequenz hinnehmen, „von außen zuzusehen und nicht im Inner Circle zu stehen.“ Es ist schwerer, in einem solchem Modell Karriere zu machen – und auch das Vergütungssystem arbeitet mitunter gegen Teilzeit-Partner: In manchen LockstepKanzleien gibt es für Teilzeit-Partner einen Abschlag, so dass sie zum Beispiel 75 Prozent einbringen müssen, aber nur 60 Prozent vom Profit-Share bekommen. Außerdem werden sie oft auf einer Lockstep-Stufe eingefroren, während andere aufsteigen. Hinzu kommt: Den grundsätzlichen Konflikt jedes Berufstätigen zwischen seinen beruflichen Rollen und seinen Ansprüchen an das Privatleben kann auch ein Teilzeitmodell nicht völlig aufheben. „Dieser sogenannte Work-Life-Conflict ist in einer TopKanzlei nicht auflösbar, man kann ihn nur dämpfen“, sagt Graf von Pfeil. Er sei das Grundproblem aller Berufe, in denen auf hohem Niveau und projektbezogen gearbeitet wird. „Diese Art von Geschäft, insbesondere das Transaktionsgeschäft, ist mit starren Teilzeitmodellen nicht vereinbar“, so Graf von Pfeil. „Die Lösung liegt eher in flexiblen Arbeitszeitmodellen, Zeitkonten und ähnlichen Ansätzen.“ Dieser Widerspruch ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern trifft jede Kanzlei an ihrem empfindlichsten Punkt – dem Geld. „Der Work-Life-Conflict schwächt die Motivation des Anwalts und verringert die Bindung an die Kanzlei“, so Graf von Pfeil. „Die Folge ist eine höhere Fluktuation, was wiederum den wirtschaftlichen Ertrag schmälert.“ Viele Kanzleien haben solche Partnerverluste schon erlebt. Silvester 1999 Ein russischer Eisbrecher ist auf dem Weg in die Antarktis. An Bord: Dr. Birgit Spießhofer, damals Partnerin bei Hengeler Mueller und eine von Deutschlands führenden Experten im Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Seit 1993 arbeitet sie für Hengeler, seit 1995 als Partnerin. In der Welt der Top-Kanzleien ist sie oben angekommen. Das neue Millennium will Spießhofer auf eine ganz besondere Weise begehen und hat sich zu dieser Fahrt in die Kälte entschlossen. Um über ihr Leben nachzudenken. Und über die Bedeutung, die Geld für sie hat. „Seit dieser Reise ist mein Leitsatz: Money means freedom“, sagt die heute 50-Jährige. „Dies hat mir eine große innere und äußere Unabhängigkeit – insbesondere von den Prestige- und Statusaspekten des Geldes – beschert.“ Die Fahrt in die Antarktis gibt den Anstoß für ein Umdenken. In ihr reift der Entschluss, dem Non-Profit-Bereich mehr Raum zu geben. „Es gibt sehr spannende Tätigkeiten, die nicht eins zu eins in bare Münze übersetzt werden können“, betont Spießhofer. In den folgenden Jahren schlägt das Thema Corporate Social Responsibility (CSR) und damit die Frage, welche gesellschaftliche Verantwortung Unternehmen haben, die Öffentlichrechtlerin immer mehr in Bann. Doch mit der Vollzeitarbeit in einer Großkanzlei ist das nicht zu vereinbaren. Deshalb entschließt sich Spießhofer, ihre Partnerposition bei Hengeler aufzugeben. Stichtag ist ihr 50. Geburtstag. „Ich habe diesen Tag zum Anlass genommen, meinem Leben eine neue Struktur zu geben und es inhaltlich neu auszurichten“, sagt sie. Sie wechselte im vergangenen Frühjahr als of Counsel zu Salans. Dort betreut sie noch einige langjährige Mandanten und berät das Regulierungsteam der Kanzlei. Die meiste Zeit jedoch widmet sie ihrem CSREngagement. Ähnlich ist es Killian Bälz ergangen. Nach einer zweijährigen Pause ist der 43-Jährige 2010 in den Anwaltsberuf zurückgekehrt, als Partner bei Amereller, einer auf Wirtschaftsrecht im Nahen Osten spezialisierten Boutique. Für ihn eine idea- „Money means freedom“ Aussteigerin: Ihr 50. Geburtstag markierte für Ex-Hengeler-Partnerin Birgit Spießhofer den Wendepunkt. Heute steckt sie viel Zeit in ihr gesellschaftliches Engagement. JUVE Rechtsmarkt 02/11 29 system der Großkanzleien, allen voran der Lockstep, zwingt die Partner in eine unerbittliche Leistungsgesellschaft, bei der sie hohe finanzielle Verantwortung und Risiko tragen. Ein System, das unfrei macht, denn jeder muss immer den geforderten Umsatz bringen. Je nach Kanzlei sind das zwischen 2.000 und 2.500 abrechenbaren Stunden pro Jahr, eine wichtige Währungseinheit des Partnererfolgs. An Familie oder Hobbys ist da kaum zu denken. Das viele der Leistungsträger in Kanzleien Workaholics sind, liegt auf der Hand. Erst mit Mitte vierzig stoßen einige an – meist physische – Grenzen und werden dann gezwungen, für Entlastung zu sorgen. Auch Hogan Lovells-Psychologin Gabriele Bollhöfer kennt das Phänomen der Überlastung gut. „Deshalb ist es so wichtig, 30 JUVE Rechtsmarkt 02/11 Associates sehen das Bemühen der Kanzleien um ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Privatleben kritisch WORK-LIFE-BALANCE In der aktuellen azur-Associateumfrage geben über 90 Prozent der Befragten an, dass ihnen ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Privatleben wichtig ist. Viele Kanzleien bemühen sich mittlerweile, das Verhältnis von Arbeit und Privatleben ausgewogener zu gestalten. Über die Hälfte der Associates gibt an, dass ihr Arbeitgeber die Work-Life-Balance fördert. Ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Freizeit/Familie ist mir wichtig Mein Arbeitgeber fördert die Work-Life-Balance Stimme voll und ganz zu 57,6% Stimme voll und ganz zu Stimme zu 35,8% Stimme zu 46,2% 9,9% Stimme eher nicht zu 5,6% Stimme eher nicht zu 32,9% Stimme nicht zu 1,0% Stimme nicht zu 13,0% gesamt 389 gesamt 1003 Doch knapp 45 Prozent der Associates sind nicht zufrieden mit dem Angebot ihrer Sozietät bezüglich der Ausgewogenheit von Arbeit und Privatleben. „Bei uns wird die Work-Life-Balance am Empfang abgegeben“, kommentiert der Anwalt einer Großkanzlei. AUSLASTUNG Trotz aller Diskussion hat sich an der Arbeitsbelastung der Associates nicht viel geändert. „Wer bei uns arbeiten will, muss richtig ranklotzen. Dafür wird er auch entsprechend entlohnt“, sagt der Recruiting-Beauftragter einer Großkanzlei. Laut der azur-Associateumfrage liegt die Auslastung bei durchschnittlich 56 Stunden pro Woche – und damit deutlich höher als anderswo. Arbeitsstunden pro Woche (im Durchschnitt) Arbeitsstunden Teilzeit Vorgeschriebene Billable Hours p.a. Kanzleien 56 32 1.732 Unternehmen 49 24 – Gerichte/Behörden 42 keine Angaben – schon bei den Associates den Gedanken einer frühzeitigen Selbststeuerung und eines effektives – und nicht nur langen – Arbeitens zu platzieren.“ Wer das nicht lernt, dem sind auf seinem Weg zum Partner in puncto Produktivität schnell Grenzen gesetzt. Frühjahr 2008 Ein Segelboot gleitet durchs Mittelmeer. Claus Gerber wirft immer wieder einen nervösen Blick auf sein Blackberry: Nur mal kurz nachsehen, ob sich jemand gemeldet hat. Was sich so tut in der Welt, aus der der CorporateFinance-Experte gerade ausgestiegen ist. 14 Jahre lang war Gerber Teil der Frankfurter Anwaltsszene: Bis 2002 arbei- Quelle: azur-Associateumfrage 2010 Leistung statt Leben. Das Vergütungs- „Work-Life-Balance am Empfang abgegeben“ FOTO: SCHÖNHERR le Wahl, hat Bälz doch neben Jura auch Islamwissenschaften studiert. Das Interesse am Nahen Osten ist auch der Grund, warum er vor vier Jahren seine bis dahin vorgezeichnete Karriere abrupt beendete. 2004 wurde er Partner bei Gleiss Lutz und galt dort als einer der aufstrebenden jüngeren Gesellschaftsrechtler und Spezialist für die Zukunftsbranche Erneuerbare Energien. Dann aber verlässt er die Kanzlei, um an der US-Elite-Universität Harvard zum Recht im Nahen Osten zu forschen. „Ich war sehr gerne bei Gleiss Lutz“, das ist Bälz wichtig zu betonen. Irgendwann aber drängte die Frage ‚Was möchte ich arbeiten‘ immer mehr in sein Bewusstsein. Seine Antwort darauf: Stärker das eigene Profil entwickeln. Und: „Ich wollte mehr Freiheit im persönlichen und beruflichen Bereich.“ Nach Abschluss seines Forschungsprojekts zieht Bälz gemeinsam mit seiner Familie nach Kairo. Dort hilft er zunächst, das Regional Center for Renewable Energy and Energy Efficency (RCREEE) aufzubauen, einen unabhängigen Think Tank, der Staaten in Nordafrika und im Mittleren Osten etwa bei Gesetzgebungsverfahren im Bereich Erneuerbare Energien berät. Nach zwei Jahren im politiknahen Geschäft wechselt Bälz zwar abermals die Seiten und wird Anwalt bei Amereller. Doch eine Großkanzlei kommt für ihn nicht mehr in Frage. „Sie können in einer Großkanzlei nicht einfach Ihren Interessen nachgehen. Das passt nicht in das Wirtschaftskonzept“, sagt Bälz. „Aber ich brauche eben eine gewisse Abwechslung“, fügt er hinzu und lacht. FOTO: FOTOLIA K A N Z L E I E N Work-Life-Balance tete er bei Wessing, zuletzt als Junior-Partner, danach als Partner bei Latham & Watkins. Doch auf dem Zenit seiner Anwaltskarriere trifft der damals 46-Jährige eine ungewöhnliche Entscheidung: Gerber steigt bei Latham aus. Er nimmt sich ein Jahr Zeit, um zu reisen und darüber nachzudenken, wie sein Leben in Zukunft aussehen soll. Als Partner bei Latham betreute Gerber zuvor große Finanzierungen und Transaktionen. „Ich war erfolgreich, hatte Riesenspaß an meinem Beruf“, sagt er. Als junger Anwalt ist er stolz darauf, viel bewegen zu können. „Es war schon toll, morgens die FTD aufzuschlagen, über einen Riesen-Deal zu lesen und zu wissen: Das sind wir!“ K A N Z L E I E N Work-Life-Balance Doch mit der Zeit ändert sich das Gefühl. „Mehr und mehr fehlte mir die persönliche Komponente“, sagt Gerber. „Einfach mal als Berater wirklich auch um seine Meinung gebeten zu werden, über das juristische Kleinklein hinaus“, wünscht sich Gerber damals. Doch der Arbeitsalltag wird vom Projektgeschäft beherrscht. Dass etwas nicht mehr so ganz stimmt, merkt Gerber vor allem, wenn er mal zur Ruhe kommt und sich hin und wieder Stresssymptome melden. Trotzdem treibt er sich selbst immer wieder zu neuer Leistung an, sagt Urlaube ab, um wichtige Projekte zu betreuen. Immer öfter fragt er sich aber auch frühmorgens: „Macht mir die Arbeit eigentlich noch Spaß?“ Das Loslassen fällt nicht leicht. Gerber fühlt sich der Kanzlei verpflichtet, in der er einen Großteil seines Arbeitslebens verbracht hat. „Latham ist für mich eine der besten geführten und auch menschlichsten Großkanzleien“, sagt er noch heute. Und auch die eigene wirtschaftliche Situation, die Sorge um die Karriere ist ein Hemmschuh. Ein Sabbatical, wie es in anderen Kanzleien üblich ist, bietet Latham nicht an. Also bleibt nur die Entscheidung: Weitermachen oder Gehen. Letztlich wählt Gerber den Bruch, zunächst ohne klare Perspektive. „Das ist sicher auch eine Frage „Macht die Arbeit noch Spaß?“ der Sozialisation“, sagt er. „Für Rückkehrer: Vor zwei Jahren nahm sich Ex-Lathammich hatte die Arbeit irgendwann Partner Claus Gerber eine Auszeit von der Karriere ihren Reiz verloren. Aber ich habe – und hat heute als Partner bei Büsing Müffelmann & mich auch nie hundertprozentig Theye wieder Freude an seinem Beruf. nur über den Job definiert.“ Erst als das freie Jahr fast vorbei ist, beginnt Gerber, seine berufliche Zukunft wieder zu planen – und findet bei der deutschen Traditionskanzlei Büsing Müffelmann & Theye eine neue Heimat, dem faktischen Gegenentwurf zum USGiganten Latham. Hier empfindet er seine Tätigkeit als stärker mandantenorientiert. „Die Arbeit macht wieder Spaß“, sagt Gerber. Trübe Aussichten. Von den knapp 150 Kanzleien, die an der azur-100-Umfrage teilgenommen haben, unterstützt nur ein Bruchteil ihre Mitarbeiter mit eigenen Angeboten bei der Kinderbetreuung (▶Mehr Teilzeit, mehr Kita). Und nur zwei bieten ihren angestellten Anwälten die Möglichkeit für ein Sabbatical. Eine Kanzlei gibt offen zu: „Von zukünftigen Mitgesellschaftern erwarten wir die vorübergehende Zurückstellung übermäßiger Wünsche auf Selbstverwirklichung und Freizeit. WorkLife-Balance passt nicht zu den Aussichten, die wir zu bieten haben.“ ■ Mehr Teilzeit, mehr Kita Work-Life-Balance-Programme bei 10 der umsatzstärksten deutschen Kanzleien Freshfields Bruckhaus Deringer „Flexible Working Policy“ mit vielen zeitlichen Freiheiten; Förderung von Elternzeit bzw. Erziehungsurlaub für Männer und Frauen Counsel-Status als Alternative zur Partnerschaft, auch in Teilzeit für Männer und Frauen; Unterstützung bei der Suche nach Kinderbetreuungsplätzen Hengeler Mueller Möglichkeit zur Teilzeitarbeit, Mitfinanzierung von Kinderkrippenplätzen Hogan Lovells Home Office und individuelle Teilzeitmodelle; Kinderbetreuung durch einen externen Anbieter und Vermittlung von Tagesmüttern CMS Hasche Sigle Flexible Teilzeitarbeitsmodelle auch in der Partnerschaft, Associates heben in der azurUmfrage „Verständnis für Anforderungen von Eltern hervor“ Clifford Chance Kinderbetreuungsangebote in Frankfurt und Düsseldorf, München (in Vorbereitung); gelebte Teilzeit- und Home-Office-Modelle; 4-wöchiges Sabbatical möglich ab 3. Berufsjahr Linklaters Teilzeitarbeit – i.d.R. zeitlich befristet – auf allen Stufen (bis zum Partner) möglich; Home Office wird vielerorts praktiziert; Organisation von Kindergartenplätzen in Frankfurt und München Gleiss Lutz „Flex-Time-Modell“beinhaltet Teilzeitarbeit für Associates, Assoziierte Partner und Counsel; Taylor Wessing Individuelle und flexible Teilzeitarbeitsmodelle (Elternzeitmodell seit 2007); auch wer Teilzeit arbeitet, kann später Partner werden; Partner können einen Familienservice in Anspruch nehmen, der z.B. Kinderbetreuung anbietet. White & Case Flexible und individuelle Teilzeitarbeitsmodelle, Akzeptanz der Elternzeitnutzung; Hertie-Stiftung hat White & Case als besonders familienfreundliches Unternehmen zertifiziert Noerr „Noerr-Family“-Programm mit Vermittlung von Kinder- und Altenbetreuung; Teilzeitmodell und Sabbaticals auch für Partner möglich; Projekt „Noerr 2.15“ soll mittelfristig die Karrierechancen für Frauen verbessern JUVE Rechtsmarkt 02/11 31