Gedenkort Schlachthoframpe
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Gedenkort Schlachthoframpe
LANDESHAUPTSTADT Gedenkort Schlachthoframpe Gedenkort Schlachthoframpe www.wiesbaden.de Wie es zu der Entwurfsidee für den Gedenkort Schlachthoframpe kam 6 Vollrad Kutscher – „Kleine Fibel“ 10 Motive, die weltweit verstanden werden 14 Die Geschichte der Wiesbadener Deportationsfotos 18 Die Deportation der Wiesbadener Juden 22 Nutzungselemente werden überragt vom nächtens wunderschön illuminierten historischen Wasserturm, der als Landmarke hervorsticht. Südlich des Kulturzentrums Schlachthof planen wir zurzeit den „Garten der Erneuerbaren Energien“. Und hoffentlich wird eines Tages durch den Kulturpark eine Wegeverbindung hindurchführen, die Salzbachroute, welche die Das Areal rund um das Kulturzentrum Schlachthof ist Innenstadt über eine völlig neue Grünachse mit dem sicherlich eine der attraktivsten Freiflächen unserer Biebricher Rheinufer verbindet - gleichermaßen ver- Stadt. Derzeit wird es großzügig umgestaltet zu kehrssicher nutzbar für Fußgänger wie für Radfahrer. einem Freizeit- und Kulturpark. Dies bedeutet eine Mit dem Kulturzentrum Schlachthof, dem Filmhaus völlige Änderung der Nutzung eines Geländes, auf Wiesbaden, der Kreativfabrik und der alljährlich dem sich bis Anfang der 1990er Jahre noch die dort stattfindenden „Folklore im Garten“, eine der städtische Schlacht- und Viehhofanlage befand, die wichtigsten Kulturveranstaltungen in unserer Region 1884 ihren Betrieb aufgenommen hatte. Der Frei- überhaupt, entsteht hier somit ein ganz zentraler zeit- und Kulturpark wird für alle Altersgruppen viel- Ort des Wiesbadener Kulturlebens, ein wirkliches fältige aktivierende bzw. der Erholung dienende An- „Energiezentrum“. gebote parat halten: eine Bahn für Skateboarder, ein Feld für Beachvolleyball, eine Bouleanlage, Spiel- Das Schlachthofareal birgt aber auch noch eine möglichkeiten für Kinder sowie Rasenflächen zum andere, eine schreckliche Geschichte: Von hier aus Toben, Spielen und Entspannen und vieles andere wurden im Nationalsozialismus unsere jüdischen mehr. Überall laden unterschiedlich gestaltete Sitz- Mitbürgerinnen und Mitbürger ins Konzentrations- gelegenheiten zum Verweilen ein, teils in herrlichem lager deportiert. Diese Geschichte wurde in Wies- Sonnenschein, teils im Schatten der zahlreichen baden lange Jahre verdrängt und ist erst dank der neu gepflanzten Bäume gelegen. Die einzelnen unablässigen Bemühungen des Aktiven Museums V o r w o r t Spiegelgasse für Deutsch-Jüdische Geschichte in unmittelbar vor jener Wand, also dort, wo die zur Wiesbaden zunehmend wieder in die kollektive Deportation vorgesehenen Jüdinnen und Juden das Erinnerung zurückgerufen worden. Vor einiger Zeit letzte Mal Wiesbadener Boden unter den Füßen wurde nun damit begonnen, dort eine ganz beson- hatten, zu einem würdigen Gedenkort ausgestal- dere, zeitgemäße Form des Gedenkens zu reali- ten zu lassen. Der für mehrere Jahre in Wiesbaden sieren, nämlich für die Wiesbadener Jüdinnen und wohnhafte Künstler Vollrad Kutscher aus Frankfurt, Juden, die von diesem Areal aus im Jahr 1942 nach der schon etliche bemerkenswerte Arbeiten für Theresienstadt und anderswohin deportiert worden seine frühere Heimatstadt geschaffen hat, so z.B. die sind, um schließlich ermordet zu werden. Der Wies- ästhetisch ungemein ansprechende Rückwand des badener Künstler Yorkar7, der im Schlachthof sein neuen Plenarsaales des Hessischen Landtages, soll Atelier hat, brachte im Sprühverfahren zwei foto- hiermit beauftragt werden. realistische Darstellungen einer jener Deportationen auf einen eigens hierfür erhaltenen Mauerrest eines Kutschers hier der Öffentlichkeit vorgestelltes Ge- inzwischen abgerissenen Gebäudes der Firma Fauth staltungskonzept für das Gedenken an die Wiesba- auf. Grundlage hierfür ist eine im Aktiven Museum dener Deportationsopfer sieht die Schaffung einer Spiegelgasse aufbewahrte Fotoserie, die seinerzeit Kastanienallee vor, die direkt vor dem großforma- von einem Polizisten von jener fürchterlichen Hand- tigen Deportationsbild sowie zur dort platzierten lung aufgenommen wurde. Die beiden Bilder von diesbezüglichen Informationsstele hinführt. Es han- Yorkar7 haben seitdem weit über Wiesbaden hinaus delt sich de facto um einen Weg, der uns – beschrei- für Aufsehen gesorgt und sollen demnächst durch ten wir ihn – Vergangenes in Erinnerung ruft, uns weitere Motive ergänzt werden. gewissermaßen eine Retrospektive gestattet, in zwar begrenztem, didaktisch aber völlig ausreichendem Nachdem mehrere andere Gestaltungsvorschläge Umfang. Die Kastanien werden in sandsteinfarbe- als wenig überzeugend erachtet worden sind, hat ne Betoneinfassungen gepflanzt, auf denen kurze sich der Magistrat nunmehr entschlossen, das Areal Zitate aus Briefen der Deportierten wiedergegeben sind. Die Elemente des dort geplanten Gedenkensembles leben von ihrem Spannungsverhältnis mit dem fotorealistischen Deportationsbild. Auch viele weitere Interdependenzverhältnisse werden hierbei zusammengeführt, beispielsweise Leben – Tod, Vergangenheit – Gegenwart, Bäume – Mauer, Bild – Text, Kunst – Natur. Diese Broschüre präsentiert die Farbentwürfe und ein kurzes Statement Vollrad Kutschers zum Gedenkort, einen kleinen biographischen Beitrag von Peter Forster, einen Artikel von Lothar Bembenek über die Überlieferungsgeschichte der Deportationsfotos, ein Interview mit dem Wiesbadener Sprühkünstler Yorkar7 sowie eine kurz gefasste Abhandlung von Jacob Gutmark, Brigitte Streich und Axel Ulrich über die Deportation der Wiesbadener Jüdinnen und Juden während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Rita Thies Kulturdezernentin 4/5 Wie es zu der Entwurfsidee für den Gedenkort Schlachthoframpe kam Es war ein klarer, sonniger Tag, als ich 2008 zum Am Schlachthof angekommen, fand ich einen ehemaligen Schlachthofgelände fuhr. Das Kulturamt kleinen Teil der mit Graffiti bedeckten Mauern und Wiesbaden hatte angefragt, ob ich mir vorstellen Gebäude noch vor, der Rest war schon abgerissen. könne, eine Idee zum dort geplanten Mahnmal zu Erhalten war eine Wand mit der Darstellung älterer entwickeln. Zufällig war ich im Jahr vorher auf dem Personen, die unter Bewachung einen Zug bestei- Gelände gewesen, weil ich bei einer neuen Arbeit gen. Dieses Graffito war mir schon damals aufgefal- im Atelier neben traditionellen Maltechniken auch len, ohne dass ich den konkreten, ortsbezogenen Graffititechniken einsetzen wollte. Der Ort war mir Kontext kannte. wegen der Qualität der rund um das Kulturzentrum vorhandenen Graffiti und wegen ihrer vielfältigen, Jetzt erfuhr ich, dass es sich bei der Vorlage zu dem unterschiedlichen Techniken aufgefallen. Graffito auf dem authentischen Mauerrest der Firma Fauth um ein Foto des damaligen Deportations- „Und über uns im schönen Sommerhimmel geschehens an diesem Ort handelte. Der einstige War eine Wolke, die ich lange sah Schlachthof war nach seiner Umwandlung in einen Sie war sehr weiß und ungeheuer oben Kultur- und Veranstaltungsort zu einem lebendigen Und als ich aufsah, war sie nimmer da.“ Treffpunkt für Jugendliche geworden. Sowohl die historische Wand mit dem schwarz-weißen Graffito Aus dem Gedicht „Erinnerungen an die wie ein Teil der Rampe samt dem Gatter gehören Marianne A.“ von Bert Brecht zur Geschichte des Ortes. Auf der Fahrt zum Treffpunkt ging mir durch den Kopf, was es denn damals für ein Tag gewesen ist, an dem Wiesbadener Bürger von hier aus in ein Konzentrationslager und zu ihrer Ermordung deportiert wurden, nur weil sie Juden waren. Ein Gelände, das jahrelang den Jugendlichen gedient hatte, sollte meiner Meinung nach weiter in Bezug zu ihnen stehen. Für mich schloss sich daher eine lapidare Betroffenheitsgestaltung genauso aus wie eine modische Verhübschung oder gar ein über die besondere Geschichte des Ortes Hinwegmanövrieren. Es konnte sich also bei meinem Gestaltungsvorschlag nur um eine Gratwanderung handeln, bei der die sich hier aufhaltenden Jugendlichen zu einem für sie weit zurückliegenden Ereignis einbezogen werden sollten. „Es bricht ein Zweig auf die Bank herab, Es fällt auf die Bank ein Stein. Der Wächter läuft heran im Trab, Sie könnten jüdisch sein.“ Diese Strophe des Wiesbadener Dichters Sally Grosshut beschreibt den Wahnsinn, dass nämlich einst den Wiesbadener Juden, die schon so viele Verbrechen und Ungeheuerlichkeiten erleiden mussten, selbst der ganz normale Spaziergang und Aufenthalt unter den für diese Stadt so typischen Alleebäumen und -bänken verboten worden ist. Das soll aber in Zukunft den Jugendlichen hier vor 6/7 W i e e s z u d e r E n t w u r f s i d e e k a m Ort – aber natürlich nicht nur ihnen – möglich sein. Gegenwart sowie der Dauerhaftigkeit der Schrif- Gerade, wenn sie selbst sinnlich erfahren, wie gut ten im Beton. Gelingt die Kooperation, so könnte es sich gerade bei schönem Wetter im Schatten von das Mahnmal für die Jugendlichen zu dem ihrigen Alleebäumen oder auf dem Rasen aushalten lässt, werden. Es wäre in seiner Art auch in dieser Hinsicht können sie die gewaltsame Unterbrechung des einmalig. Lebens und seiner Freuden für die damals Deportierten um so mehr nachempfinden. Vollrad Kutscher Textzeilen im Beton der Baumumrandungen, die allmählich zur Fauthschen Wand hin bis zu Bankhöhe aus dem Boden kommen, betreffen den normalen Lebensalltag mit seinen Wünschen, Plänen und familiären Ereignissen und verknüpfen das Heute mit der Vergangenheit. Diese Textfragmente stammen aus Briefen einiger damals Deportierter. Die Schriftformen möchte ich zusammen mit den Jugendlichen entwickeln, die durch ihre Graffiti schon Erfahrungen mit Schriftgestaltung haben. Die besondere Herausforderung liegt in der Verbindung von Lesbarkeit und aktueller Gestaltung, von Vergangenheit und 8/9 Vollrad Kutscher – „ Kleine Fibel“ Haltung Arbeiten lassen sein Werk nicht nur schwer verorten, sondern sichern ihm innerhalb der deutschen Kunst- „Während man den Leuchter blank putzt, wird der szene ein Alleinstellungsmerkmal. Lappen schmutzig (Aus dem Weißbuch „I Gitt“)“ . 1 Wenn der 1945 geborene Vollrad Kutscher etwas Material zum Glänzen bringt, etwas ins Licht setzt, den Betrachter verführt, überwältigt und bezaubert, Die Komplexität seines Oeuvres spiegelt sich bei dann vergisst er nie die Schattenseiten, nie den Kutscher in der Pluralität der genutzten Formen und „Schmutz“. Diesen immerwährenden Widerspruch Medien wider: Grafik, Fotografie, Video, Skulptur, thematisiert der Künstler. Nie versteckt er etwas, Installation und Performance. Diese traditionellen immer legt er offen, wie die Arbeit gemacht ist, nie Materialien erhalten in Kutschers Kunstkontext stimmt etwas wirklich, nie kann man etwas wirklich einen innovativen Stellenwert. Basierend auf einem festhalten, immer ist alles vergänglich und vergeb- bewegten und offenen Kunstbegriff, wie er in den lich, und die Formulierung einer absoluten Wahrheit 1960er Jahren entwickelt wurde, erweiterte Kutscher erscheint unmöglich. Kutschers Bilder vom Men- seine gestalterischen Grundlagen durch Hinzuneh- schen verzichten nicht auf das Abbild und tragen men von so unterschiedlichen Materialien wie Stoff, trotz und gerade im Nebeneinander verschiedenster Kaugummi, Luft, Licht, Ton, Bewegung etc., um nur Elemente durch ihre formalen Beziehungen die Er- einige zu nennen. Diese und viele andere „neue“ innerung an dessen Würde, Integrität und Ganzheit. Materialien münden, teilweise in Kombinationen mit Die Wahrheit der menschlichen Existenz, der con- klassischem Material, in den unterschiedlichsten Me- ditio humana, liegt für ihn im oszillierenden Dazwi- dien wie Objekten, Künstlerbüchern, Installationen, schen. Kutschers stets betriebene Relativierung und Performances, Filmen, Videos, bis hin zu Arbeiten Brechung absoluter Formulierungen und die poe- mit dem Computer und führen vielfach zu Grenz- tische Komplexität der verschränkten Bezüge von überschreitungen bzw. Gattungskombinationen. Raum und Zeit in seinen über Jahre hin entwickelten Kutscher setzt diverse Materialien in Beziehung, Künstler nicht mehr für ein Objekt arbeiten, sondern für ein Bild in Raum und Zeit. Walter Benjamin hatte mit seinem Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ den Verlust der Aura in der Kunst festgestellt. Diese Aura erscheint für Kutscher für einen kurzen Moment innerhalb der Performance als ein Bild im Raum. Innerhalb der Performance misst Kutscher dem Ort bzw. Raum kombiniert das Kleine mit dem Großen, das Beweg- sowie dem Arbeiten mit dem eigenen Körper einen te mit dem Fixierten. Ihn interessiert der Prozess der entscheidenden Stellenwert zu. So kombiniert er Entstehung, nicht das fertige Produkt. Deshalb gibt z.B. in der Performance „Ersatzpalast“ das traditio- es in Kutschers Werk auch keine „absoluten Setzun- nelle Medium der Zeichnung mit dem „Tanz“ des gen“, kein absolutes Kunstwerk. Vielmehr steht am Körpers bei ihrer Herstellung über die gesamte Anfang jeder seiner Arbeiten eine Offenheit, die es Fläche einer U-Bahnebene unter einem Frankfurter ihm ermöglicht, eine Wechselbeziehung aus einer Bankenhochhaus. vorgefundenen Situation (Raum/Mensch) und seinen künstlerischen Modellen herzustellen. Das Bild im Raum auf Zeit wird Installation Performance als Bild im Raum auf Zeit Mit der Arbeit „Der Weiße Traum“ 1980 wird die Suche nach der eigenen Identität intensiviert. Der Bei Kutschers künstlerischen Anfängen liegt ein Künstler „verschmilzt“ optisch durch diverse Körper- Focus auf den Performances. Die Performance baut übermalungen während eines einmonatelangen als Ausdrucksform innerhalb der Kunst auf dem performativen Vorganges an vielen Orten rund um Happening auf und wird in den 1970er Jahren als ein Dorf im Weserbergland, das für seine glück- eine spezielle neue Form entwickelt, indem die liche Kindheit steht. Die Performance wird nun nicht 10/11 V o l l r a d K u t s c h e r – „ K l e i n e F i b e l “ mehr allein über das übliche Medium Fotografie nun auch immaterielle neue Medien mit ein. und Video dokumentiert, sondern mündet in einer Die dabei entwickelte Installation als modellhaftes Installation. Kutscher entwickelt hier eine neuartige Bild des Menschen entspricht einem Körper, in den Form der Performancedokumentation. Denn es geht der Betrachter hineingehen kann. Er befindet sich nicht mehr um eine Installation, die als Skulptur im dann direkt und ohne Möglichkeit zur schnellen üblichen Sinne ihren Platz einnimmt, sondern um überblickenden Beurteilung im Raum der Wider- das Zusammenspiel verschiedener Medien wie Foto- sprüche und des Zusammenspiels verschiedener grafie, Sound, Licht, Objekt und Schrift. Die Perfor- Elemente. Das ist innerhalb der Gattung Porträt mance wird über das Momentane hinaus „haltbar“ einzigartig. Kutscher legt großen Wert darauf, seine gemacht. Die Installation bezieht den Betrachter Arbeiten als Modelle zu bezeichnen, da er dem direkt mit ein, denn sie kann nur wahrgenommen Wunsch nach einer dem ganzen Menschen gerecht werden, wenn man hindurchschreitet und das Werk werdenden Darstellung nicht entsprechen kann. so hautnah, körperlich erlebt. Die Porträtinstallationen kann man sich wie ein variables Set vorstellen. Sie sind nicht hermetisch Porträt-Installationen geschlossen, entsprechen sie doch Kutschers Auffassung vom mehrschichtigen Menschbild. Aus Performance und Installation entwickelt Kutscher in der Folge eine Reihe von offenen mehr- Installationen im öffentlichen Raum teiligen Porträtinstallationen. Dabei hinterfragt der Künstler die Komplexität des Wahrnehmungsvor- Ein öffentlicher Raum ist für Kutscher immer auch ganges bezogen auf den Menschen und reflektiert geprägt von der Vergangenheit, Funktion, Gestalt zudem gesellschaftliche Probleme unter Einbezie- und Architektur. Der gesellschaftliche Kontext, der hung des Betrachters. War die Performance als ein diesen Raum umgibt, mitsamt seinen von Men- bildhafter Prozess auf Zeit angelegt, der die Aspekte schen hinterlassen Spuren bis hin zu seiner aktuellen Körper, Bewegung und Raum zentriert, bezieht er Nutzung werden vom Künstler thematisiert. Seine Arbeitsmethode besteht zunächst aus einer Analyse. In diesen A rbeiten wird der Ort selbst in die Zukunft Auf die vorgefundene Situation, auf die unterschied- gedacht. lich geschichteten Informationen, die hier gespei- „Im Bachbett fanden wir weißen Ton, der an der chert sind, antwortet er mit möglichst sparsamen Luft getrocknet, steinhart wurde. Zerbrachen uns die plastischen Eingriffen, die speziell nur für diesen geformten Dinge, wurden sie zerstoßen und Raum entwickelt werden. Dabei verbindet er Ver- ergaben – im Wasser aufgeweicht – erneut die gangenes mit Gegenwärtigem. Die Arbeiten stellen formbare Masse“ (Vollrad Kutscher: „Der Weiße Bezüge her, seien sie technischer oder inhaltlicher Traum“). Natur, die eine Gesellschaft immer als eine im Fluss befindliche Form des menschlichen Zusammenle- Peter Forster bens zeigen. Kutscher reflektiert Zustände, legt sie offen, macht die Geschichte des Ortes sichtbar und 1 sorgt oft auch über eine aktive Beteiligung der Be- Bern 1989, S. 3. Zitat aus: Vollrad Kutscher. Ausstellungskatalog Kunstmuseum völkerung für eine dauerhafte Auseinandersetzung mit dem Ort. Die Wurzeln eines solchen Denkens der Öffnung der Kunst hin zur Gesellschaft liegen in den 1960er Jahren. Beuys` Begriff der sozialen Plastik hatte für Kutscher Vorbildfunktion. Ziel ist es immer, Kommunikationsräume zu schaffen. Seine Arbeiten im Ratssaal des Rüsselsheimer Rathauses, im Anlagenring Frankfurts, im Landtag in Wiesbaden und auf dem Dern`schen Gelände stehen stellvertretend für einen durch Kunst dauerhaft initiierten kommunikativen Prozess innerhalb der jeweiligen Kommune. 12/13 Der Wiesbadener Sprühkünstler Yorkar7 – Motive, die weltweit verstanden werden Vor geraumer Zeit wurden im Auftrag der Landes- Hierzu haben wir den Wiesbadener Sprühkünstler hauptstadt Wiesbaden auf einem eigens hierfür Yorkar7 befragt, der die beiden fotorealistischen erhaltenen Mauerrest der früheren Firma Fauth Darstellungen realisiert hat. Geprägt wurde er nicht und somit in unmittelbarer Nähe des authentischen zuletzt durch die dreijährige, politisch bedingte Ge- Ortes des einstigen schrecklichen Geschehens zwei fängnishaft seines Vaters in der DDR, der die Familie fotorealistische Darstellungen von der Deportation dann aber ihre Ausreise in den Westen zu verdanken der Wiesbadener Juden am 1. September 1942 hatte. Yorkar7 ist seit 15 Jahren auf dem Schlachthof aufgebracht. Ein kleineres Motiv aus einer damals tätig und hat dort auch sein Atelier. Seine Arbeiten von einem Polizeibeamten aufgenommenen Foto- finden sich nicht nur im öffentlichen Raum, sondern serie, platziert im Innenbereich der so genannten werden ebenso in Galerien und in Cafés präsentiert. Fauthschen Wand, ist schon nach etwa einem Jahr Er arbeitet für viele private wie öffentliche Auftrag- von anderen Sprayern komplett übersprüht worden. geber, für Firmen ebenso wie für Fernsehproduktio- Ein großformatiges Bild, das die ganze Nordseite nen. Sein Künstlername ist eine Kombination seines einnimmt, wies bis vor kurzem kaum Verunzierungen Vornamens York mit dem Namen der Wiesbadener auf. Nun ist es leider auch dort zu großflächigen Hip-Hop-Band Sieben, deren Sänger er früher war. Übersprühungen gekommen. Beide fotorealistische Darstellungen, die selbst von Bahnreisenden recht Welche Akzeptanz genießen bzw. genossen bisher gut zu sehen waren, müssen vollständig rekonstru- die beiden Graffiti, die ja streng genommen foto- iert werden. Gleichwohl haben sie insgesamt ein realistische Darstellungen sind, bisher innerhalb der positives Echo gefunden, vor allem in der Jugend- Szene? Wie kommt diese Erinnerungsform über- kultur- wie in der Gedenkstätten-Szene. In ihrer Art haupt an, dort oder auch andernorts? ist diese Form des öffentlichen Gedenkens an die Opfer der Shoah in der Bundesrepublik bislang ein- Also, die zwei Graffiti sind allgemein sehr gut an- zigartig. gekommen. Sie sind auch in gewissem Sinn eine Referenz für mich, insofern jeder sieht, dass ich an- ständige Kunst mache, dass ich mich ganz ernsthaft sie eingeladen. Aliza Olmert, sie ist selbst Künst- auch mit unserer Geschichte auseinandersetze. Zum lerin und Schriftstellerin, hatte da einen freien Tag Beispiel war ich kürzlich in Australien, habe dort in ihrem Programm. Sie fotografiert seit etwa drei verschiedene Arbeiten gemacht, auch einen großen Jahrzehnten in Israel Graffiti, hat wohl auch schon Workshop geleitet an einer Highschool. Die wollten ein Buch darüber veröffentlicht. Eigentlich überall, natürlich erst mal wissen, was ich denn so für ein wo sie hinkommt auf ihren Reisen, macht sie Fotos Künstler bin. Die sagten: „Gut, du bist ein Sprüher von Graffiti. Sie begeistert sich einfach für Streetart, aus Deutschland. Und du willst jetzt den Kids zei- für freie Meinungsäußerung, denke ich. gen, wie das Sprühen geht. Aber was für eine Kunst machst du eigentlich? Wir wollen ja nicht irgend- Sie wurde übrigens 1946 in Eschwege geboren, einen Schmierfinken engagieren. Was hast du denn in einem Lager für Displaced Persons. Ihre Eltern schon so gemacht?“ Da sind natürlich die beiden waren Überlebende des Holocaust. Aliza Olmert Wiesbadener Denkmal-Graffiti, die sich ja ganz easy gehört zu den renommiertesten Künstlern ihres über die Presseberichterstattung hierzu im Internet Landes und setzt sich sehr stark für die Belange anschauen lassen, ein Superbeispiel, um auch an- von Kindern und Jugendlichen ein sowie überhaupt dere Leute für die Sprühdosenkunst einzunehmen. für die Menschenrechte. Das dort visualisierte Geschehen ist ein weltweit bekanntes Thema. Es handelt sich um Motive, die Also, sie hat dann jedenfalls der Stadt Frankfurt überall verstanden werden. gegenüber den Wunsch geäußert, sich hier einige Graffiti anzugucken. Da wurde sie dem BOM- Oder ein anderes Beispiel: Zu der Zeit, als ich BER empfohlen, einem Urgestein der Frankfurter neulich in Australien war, befand sich die Frau des Sprüher-Szene, und der ist mit ihr dann auch zum früheren israelischen Ministerpräsidenten Ehud Schlachthof nach Wiesbaden gefahren, damit sie Olmert zu Besuch in Deutschland. Ich glaube, die sich dort die vielen Bilder anschauen kann. Das Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth hatte einzige Bild, was ihr im Endeffekt hier richtig gut 14/15 M o t i v e , d i e w e l t w e i t v e r s t a n d e n w e r d e n gefallen hat, war jedoch das große Denkmal-Graf- sonstiges Leben pulsiert – und so lange die Szene fito, wie ich es nenne. Nur leider war der Künstler, auch keine Ausweichflächen zum Sprühen bekommt. den sie in diesem Zusammenhang dann natürlich Wir dürfen nicht vergessen, der Schlachthof war in gerne kennen lernen wollte, zu der Zeit eben nicht den 1990er Jahren eine der größten legalen Flä- im Lande. chen Europas, wo viele weltberühmte Sprüher tätig geworden sind. Aber von den wirklichen Künstlern Und wie ist so das Feedback innerhalb der Szene? der Sprüher-Szene sind die beiden fotorealistischen Deportationsbilder absolut positiv aufgenommen Na, ich hab das Gefühl, dass ich jetzt als erwach- und auch respektiert worden. sener Sprüher angesehen werde und nicht mehr als pubertärer Schmierfink. Natürlich kam es immer Was ist für dich persönlich das Wichtigste an die- wieder zu Übersprühungen der Deportations-Graf- sem Kunstwerk? fiti. Das Kleinere ist jetzt ganz weg, leider. Das sind in der Regel Nachwuchssprüher oder welche von Das Wichtigste für mich daran ist, dass dort die un- anderswo, die nichts von den Hintergründen des schuldigen Opfer im Vordergrund sind. Es hat eine Ganzen wissen und denen es insofern am nötigen eindeutige Message, nämlich so etwas niemals mehr Respekt fehlt. Das ist schon sehr ärgerlich. Deren zuzulassen. Das Thema muss immer wieder neu in Sachen werden von mir halt mehr oder minder re- den öffentlichen Raum kommuniziert werden. Das gelmäßig entfernt bzw. ich muss dann nacharbeiten. Kunstwerk ist insofern Mittel zum Zweck, die Gesell- Wenn ich aber manchmal für ein paar Wochen weg schaft aufzuklären. Man darf nicht erwarten, dass sie bin aus Wiesbaden, dann kommt es auch schon ein- schon aufgeklärt ist. mal zu solchen Übersprühungen, dass man das ganze Bild oder große Teile davon neu auftragen muss. Das Interview mit Yorkar7 führte Axel Ulrich am Das wird sicherlich noch so lange ein Problem sein, 8. Mai 2009. so lange rund um das Mahnmal Brachland ist, kein 16/17 Die Geschichte der Wiesbadener Deportationsfotos Es war kein Tag wie jeder andere, und es sind auch der Fotos wurde oft dem Frankfurter Stadtarchiv, keine Fotos wie andere. Für den Wiesbadener Ge- dem heutigen dortigen Institut für Stadtgeschichte stapobeamten Walter Bodewig, der beschönigend zugewiesen. Daraus ergab sich folglich die falsche als „Judenreferent“ bezeichnet wurde, war es der Bildunterzeile: „Deportation der Frankfurter Juden Tag, an dem er im Sommer 1942 mit einer dritten in der Großmarkthalle“. Aber im Hintergrund der Deportation seinem Auftrag und seinem persön- tatsächlich an der Wiesbadener Schlachthoframpe lichen Ziel einen weiteren Schritt näher kommen aufgenommenen Fotos sind die Dreifaltigkeitskirche wollte, Wiesbaden endgültig zu einer „judenrei- und die Lutherkirche zu sehen. Es dauerte fast zehn nen“ Stadt zu machen. Für die hiervon betroffenen Jahre lang und erforderte mehrere diesbezügliche Frauen und Männer, darunter zwei Kinder und eine Briefe sowie eine Vorsprache bei der damaligen Jugendliche, bedeutete dies die Fahrt nach There- Archivleitung, bis das Frankfurter Stadtarchiv diese sienstadt, für fast alle von ihnen den anschließenden Fotos endlich neu betitelte. Man verfügte dort über Weitertransport nach Auschwitz und damit in den entsprechende Abzüge, die man woher auch immer sicheren Tod. erhalten hatte, und konnte sich somit lange Zeit überhaupt nicht vorstellen, dass das Bildmaterial aus Von dieser Deportation am 1. September 1942 einer anderen Stadt stammte. existiert eine Fotoserie. Es sind Bilder von jahrelang unterdrückten und drangsalierten, verängstigten Die Originalnegative der Fotos besaß der Wiesba- Menschen, die bitterste Not und Hunger haben dener Fotograph Richard Rudolph. In den 1960er leiden müssen. Ihren Gesichtern ist dies alles anzu- Jahren hatte ihm eine Dame, Witwe womöglich sehen. Einzelne Fotos tauchten in Publikationen der eines SS-Mannes, historische Aufnahmen aus Wies- 1960er und 1970er Jahre als Illustrationen zu den baden für sein Fotoarchiv angeboten. Bei genauer „finsteren Jahren“ auf, wie es ein Heimatforscher Prüfung des Materials entdeckte Richard Rudolph seinerzeit einmal in den wenigen Zeilen nannte, dann den Film mit den Deportationsfotos. Er ent- die er über die NS-Zeit erübrigte. Die Herkunft wickelte ihn und bewahrte die Fotos seitdem auf das Sorgfältigste auf. Gelegentlich gab er einzelne ihre Eltern, Großeltern, Verwandten wieder. Für sie Abzüge an ehemals hier beheimatete Juden weiter, hatte das jeweilige Bild eine ganz herausragende die bei ihm nach alten Fotos von Wiesbaden nach- persönliche Bedeutung, handelte es sich doch um fragten. Sein Geschäft hatte er von seinem Vater, die letzte Aufnahme eines nahen Angehörigen, von einem Katholiken, übernommen, der die Nazis dem es noch nicht einmal ein Grab gab. und den Antisemitismus abgelehnt hatte. Rudolph Senior war Zeitungsfotograph für das „Wiesbadener Noch vor drei Jahren benutzte eine westdeutsche Tagblatt“ gewesen, das während des Zweiten Welt- Großstadt ein Wiesbadener Deportationsfoto als krieges „aus Papiermangel“ zwangsweise mit einem „Titelillustration“ für ein Buch zur Geschichte der Presseorgan der NSDAP zusammengelegt und auf Juden ihrer Stadt. In den Quellenangaben wurde diese Weise „gleichgeschaltet“ worden war. dort Yad Vashem (Jerusalem) als Herkunftsarchiv angeben. Mit korrekter Zuweisung und Beschriftung In den 1980er Jahren hat Richard Rudolph dann gelangte die ganze Serie schließlich auch an das US Abzüge der Deportationsserie dem kurz zuvor Holocaust Memorial Museum in Washington. Es ist gegründeten Aktiven Museum Spiegelgasse für bei Foto Rudolph übrigens einmal ein Amerikaner Deutsch-Jüdische Geschichte in Wiesbaden (AMS) aufgetaucht, der alle Rechte an den Fotos aufkaufen übergeben. Er wollte damit einen würdigen Um- wollte, inklusive ihrer Vermarktung auf T-Shirts. Da- gang mit den Bildern auf Dauer gewährleistet se- ran ist ersichtlich, wie streng auf eine würdige Nut- hen. Auch erhoffte er sich, dass dort gegebenenfalls zung dieses Bildmaterials geachtet werden muss. noch auf den Fotos abgebildete Personen identifiziert werden könnten. Zur Entdeckungsgeschichte der Fotos gehört auch der einzige dokumentarische Beleg: In den Bestän- Mehrfach wurden bisher einzelne dieser Fotos in Pu- den des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden blikationen oder auch in Filmen verwandt. In einigen konnte ich in einer Akte über den Gestapo-Juden- Fällen erkannten Nachkommen von Shoah-Opfern referenten Bodewig eine interessante Entdeckung 18/19 G e s c h i c h t e d e r D e p o r t a t i o n s f o t o s machen. Dieser, der sich auf einem der Fotos in typischer Herrenmenschenmanier vor den im Hof der Synagoge zur Registrierung angetretenen Juden postiert hat, nahm sich nach der Befreiung durch die US-Army das Leben. Zuvor hatte er noch seine drei Kinder und seine Frau umgebracht. In seiner Akte aus den Jahren 1945/46 findet sich eine zeitgenössische Aussage des Zeitungsfotographen Rudolph, der berichtete, er sei Ende August 1942 zur Gestapo zitiert worden, um den Abtransport der Juden zu dokumentieren. Als er die ersten in der Synagoge eingetroffenen Juden sah, habe er sich wegen emotionaler Unfähigkeit geweigert, den Auftrag auszuführen. Wer die Fotos schließlich doch aufgenommen hat, ist nicht bekannt. Richard Rudolph hatte noch nichts davon gewusst, dass sein Vater damals den Fotoauftrag der Gestapo zur Dokumentation der Deportation der Wiesbadener Juden verweigerte, als er dem Aktiven Museum Spiegelgasse diese Serie übergab, damit dort dieses letzte Lebenszeichen jener schließlich ermordeten jüdischen Frauen und Männer würdig bewahrt wird. Lothar Bembenek 20/21 Die Deportation der Wiesbadener Juden Im Sommer 1942 erreichte ein Großteil der nur Adresse, Kenn-Nummer und Kenn-Ort“. Dringend knapp 600 zu jener Zeit in unserer Stadt noch leben- angeraten wurde „die Mitnahme bester, warmer, den Jüdinnen und Juden ein Brief der Bezirksstelle strapazierfähiger Kleidung“, dazu „festen Schuhwer- Hessen-Nassau der Reichsvereinigung der Juden in kes“. Zudem wurde es „gestattet“, wie es wörtlich Deutschland. Er war ausgefertigt am 22. August des hieß, „mehrere Anzüge und sonstige Kleidungsstü- Jahres und gab zu allergrößter Besorgnis Anlass. Die cke übereinander anzuziehen“. Empfängerinnen bzw. Empfänger des Schreibens wurden darin nämlich „auf behördliche Anordnung“ Ansonsten durfte nur „ein kleiner Koffer (60 x 45 davon unterrichtet, dass sie „zur Gemeinschafts- x 12 cm) oder ein Rucksack“ mitgenommen wer- unterbringung außerhalb des Altreichs bestimmt“ den, die „lediglich das unbedingt Notwendige seien. Sie wurden aufgefordert, „sich am Samstag, enthalten“ sollten, außerdem „Reiseverpflegung den 29. des Monats, bis 13 Uhr in dem Synago- für mehrere Tage“, auch „1 Kopfkissen mit Über- gengebäude Friedrichstraße“ einzufinden, also zug, 1 wollene Decke mit Überzug (1 Koltertuch) am Schabbat, dem höchsten jüdischen Feiertag. und 1 Betttuch“. Zwar konnten auch „Hausrat wie „Einlass“ dort war „ab 10 Uhr“. Pro Person durften Kochgeschirr“ und Ähnliches mitgebracht werden, höchstens 50 Reichsmark mitgeführt werden, nicht nicht jedoch „Essbestecke mit Messer, Rasier aber Devisen, Wertpapiere, Sparbücher und Wert- apparate mit Klingen oder Rasiermesser“. Lapidar gegenstände, insbesondere keine Gold- oder Silber- wurde mitgeteilt: „Das gesamte Vermögen der zur sachen. Für Zuwiderhandlung wurden „schärfste Abwanderung bestimmten Personen gilt als be- staatspolizeiliche Maßnahmen“ angedroht. Lediglich schlagnahmt.“ Nichts durfte mehr verkauft, jemand wurde Verheirateten gestattet, ihren Ehering zu anderem zur Aufbewahrung anvertraut oder ver- behalten. Alle sonstigen Wertsachen waren „unter schenkt werden. Was nach Erfüllung noch offener Beifügung eines Verzeichnisses in einen festen Um- Zahlungsverpflichtungen an Geldmitteln übrig war, schlag oder Beutel zu tun und in das Sammlungs- musste „auf das Sorgfältigste“ in eine besondere lokal mitzubringen“, versehen jeweils „mit Namen, „Vermögenserklärung“ eingetragen werden, die gleichfalls m itzubringen war. „Abwanderer“, die Etliche hatten dem ungeheuren nervlichen Druck in 1.000 Reichsmark und mehr besaßen, hatten so den Tagen zuvor nicht standzuhalten vermocht und genannte „Heimeinkaufsverträge“ abzuschließen, ihrem Leben selbst ein Ende bereitet. Wohl mehr um die Kosten für die künftige Unterbringung abzu- als 100 jüdische Wiesbadenerinnen und Wies- decken. Vom verbliebenen Rest war eine „Spende“ badener haben während jener Jahre des Unheils zu entrichten. Jene, die weniger besaßen, mussten diesen Weg gewählt, allein 40 unmittelbar vor jener „mindestens 25 % des Barvermögens“ abführen. zweiten großen Wiesbadener Deportation. Nicht In beiden Fällen hatten die Zahlungen – die Perfi- wenige hatten sich vergiftet, so auch August und Ida die der NS-Behörden kannte keine Grenzen – auf Spiegel, geborene Ganz, die am 25. August keinen Konten der hiesigen Bezirksstelle der Reichsver- Ausweg mehr gesehen haben. In Lauterecken in einigung der Juden zu erfolgen. Schlussendlich der Pfalz hatten sie früher eine Apotheke besessen. waren die Wohnungen „sauber“ zu verlassen und Nach deren Verkauf waren sie hierher gezogen, zu verschließen, die Schlüssel „mit Anhängeschild um in der Nähe ihrer mit einem Mainzer Chirurgen mit Namen zu versehen und bei der Ankunft in dem verheirateten Tochter den Lebensabend zu verbrin- Sammlungslokal abzugeben“. Niederträchtigerweise gen. Die schon Hochbetagten – er war Jahrgang wurde hierfür die Synagoge missbraucht. Und das 1860, sie 1864 geboren – hatten in der Danziger alles am heiligen Schabbat, eine weitere tief greifen- Straße 75 eine Wohnung bezogen. Alsbald war ein de Verletzung der jüdischen Glaubensregeln. Freundschaftsverhältnis entstanden zwischen ihnen und ihrem Vermieterehepaar. Nikolaus Prediger sah Schier endlos, so schien es ihnen, mussten sie in der sich als Sozialdemokrat während jener Zeit selbst – wie alle anderen jüdischen Gotteshäuser – 1938 fortwährenden Pressionen der nationalsozialistischen von den braunen Barbaren geschändeten Synagoge Machthaber ausgesetzt, hat sich aber trotzdem der Altisraelitischen Kultusgemeinde in der Fried- in einem überparteilichen, bürgerlich geprägten richstraße ausharren, in ihrer ganzen Verzweiflung, Freundeskreis um den späteren CDU-Stadtkämme- voller Angst und Bange ob der ungewissen Zukunft. rer Heinrich Roos antinazistisch engagiert. Diese 22/23 D i e D e p o r t a t i o n d e r W i e s b a d e n e r J u d e n Gruppe unterstützte nach Kräften gerade auch portation waren die Gemeindemitglieder hier noch verfolgte Juden, indem sie deren seelische wie ma- einmal zusammengekommen, um den Schabbat terielle Not zu lindern suchte. Auch Lehrer Prediger in Ehrfurcht vor dem Herrn und in Würde zu be- und seine Frau versorgten ihre beiden jüdischen gehen. Es sollte der letzte Gottesdienst sein, der Mieter wo sie nur konnten mit Lebensmitteln, mit dort zelebriert wurde – für lange Zeit. Der Samstag- Zuspruch und Trost. Ende August 1942 lasen sie abend nahte. Seit Stunden harrten die Menschen fassungslos den Abschiedsbrief, den die Spiegels schon in dem Gotteshaus aus. Längst waren sie ihnen hinterlassen hatten. Darin bedankten sich alle registriert, hatten den Beamten vorschriftsmä- diese „von ganzem Herzen“ für die „Liebe und Auf- ßig ihre Wertsachen, Sparbücher und dergleichen merksamkeiten“ der Predigers, die sie während ihres abgeliefert, waren eingehend durchsucht worden, „Zusammenwohnens genossen haben“. Aus dem bevor sie sich mit den ihnen verbliebenen paar Schreiben geht klar hervor, dass den beiden Greisen Habseligkeiten endlich auf Bänken, Stühlen und die seinerzeit aus anderen Städten bereits erfolgten Schemeln hatten niederlassen dürfen. Ihre Anspan- Deportationen der „Nichtarier“ bekannt gewesen nung wurde immer unerträglicher. Ängstlich fragten sind. Für sie „alte morsche Menschen“, so schrieben sie sich, was mit ihnen geschehen würde. Wohin sie, sei jedoch „eine so übergroß grässliche Ver- würde man sie verbringen? Was war unter „Ge- bannung dem Tode gleichzustellen“, weshalb sie meinschaftsunterbringung außerhalb des Altreichs“ „ein schnelles Ende“ vorzögen. Ihr Brief datierte zu verstehen. In welches „Heim“ hatten sich einige vom 2. November 1940. Fast zwei Jahre hatten sie von ihnen „einkaufen“ müssen und wo befand sich seitdem in Sonnenberg in dem Bewusstsein gelebt, dies? Würde man sie alle womöglich in ein Arbeits- selbst Hand an sich zu legen, würde man sie der- lager schaffen, zur Zwangsarbeit, oder wirklich als einst deportieren wollen. Kolonisten irgendwo neu ansiedeln? Würde es für sie dort tatsächlich einen Neuanfang geben, eine Die Friedrichstraßen-Synagoge war während der Zukunft, wenn auch unter noch viel schlechteren November-Pogrome 1938 aus Rücksicht auf die Bedingungen als hier, in ihrer Heimat? Fragen wie Nachbargebäude nicht angezündet und daher nur diese quälten sie die ganze lange Nacht hindurch. zum Teil zerstört worden. Deshalb hatten dort seit Dann wurde es endlich wieder Tag. dem folgenden Jahr auch die Gottesdienste der jüdischen Reformgemeinde stattfinden können. Warum hatten sie, so fragten sie sich genauso bäng- Auch nun, vor der unmittelbar bevorstehenden De- lich, gar nichts mehr von jenen über 400 Gemeinde- mitgliedern vernommen, die Wiesbaden zum Teil passieren sollten? Hitler hatte ja bereits mehrfach schon am 23. Mai, meist aber am 10. Juni hatten öffentlich erklärt, es gehe ihm um „die Vernichtung verlassen müssen? Viele ihrer Verwandten waren der jüdischen Rasse in Europa“. Vor einem Drei- darunter gewesen, Freunde, Nachbarn, Bekannte, vierteljahr erst hatte Propagandaminister Goebbels auch Dr. Moritz Marxheimer zum Beispiel, seit bald in der nationalsozialistischen Wochenzeitung „Das 20 Jahren ehrwürdiger Vorsteher der Israelitischen Reich“ wörtlich verkündet, dass sich am Judentum Kultusgemeinde Wiesbadens. Die hatten alle genau- derzeit „ein Schicksal“ erfülle, „das zwar hart, aber so ein Schreiben der Bezirksstelle Hessen-Nassau mehr als verdient“ sei. Nun erleide „das Weltjuden- erhalten, wie man es ihnen jetzt vor ein paar Tagen tum“, das diesen Krieg angeblich angezettelt haben zugesandt hatte. Warum ist denn von denen aber sollte, „einen allmählichen Vernichtungsprozess“. überhaupt keine Post gekommen, kein Brief, keine Außerdem hatte Hitlers Drohung vom 30. Januar Karte, nichts? Was mochte sich hinter der Bezeich- 1939, auf die sich Goebbels hierbei ganz offenkun- nung „Altersghetto Theresienstadt“ verbergen, von dig bezog, „das Ergebnis“ eines weiteren Welt- dem sie in letzter Zeit sooft gehört hatten? Oder krieges werde „die Vernichtung der jüdischen Rasse stimmten letztendlich doch die Gerüchte über die in Europa“ sein, im selben Herbst 1941 als „Wo- vielen abscheulichen Dinge, die da „im Osten“ chenspruch der NSDAP“ in Zehntausenden Büros, 24/25 D i e D e p o r t a t i o n d e r W i e s b a d e n e r J u d e n Amtsstuben und Schalterhallen ausgehangen. Aber Polizeibataillonen, auch von Hilfstruppen aus den waren das alles nicht vielleicht doch nur Propagan- von der Wehrmacht besetzten Ländern ermordet dasprüche? Andererseits wusste man genau um worden. Am Ende würden es europaweit sechs die Abschiebung Tausender Jüdinnen und Juden Millionen Mordopfer des nationalsozialistischen aus Baden und der Pfalz nach Frankreich bereits Rassenwahns geworden sein. ein Jahr davor, also im Herbst 1940, und auch von diesen waren schließlich keine Nachrichten mehr Nach fast dreitägigem, schier unerträglichem gekommen. Nicht anders war es bei den Tausenden Warten wurden sie durch militärisch-knappe Kom- hessischer Juden gewesen, die im darauf folgenden mandos aufgeschreckt. Es war jetzt Dienstag. „Los, Herbst über Frankfurt – wie es immer wieder hieß – los, alles ’raus jetzt!“, wurden sie angebrüllt. Vor „in den Osten evakuiert“ worden sind. Seit einiger der Synagoge warteten einige Lastkraftwagen der Zeit nun munkelte man in den jüdischen Gemeinden Polizei. Für die Alten, Kranken und Gebrechlichen landauf, landab, dass die Nazis gegen sie wieder hieß es: „Dalli, dalli! Auf die Wagen! Aufsitzen!“ Das etwas Neues, etwas ganz Fürchterliches im Schilde bereitete vielen von ihnen größte Mühe, war ohne führten. Auch in der nichtjüdischen Nachbarschaft Hilfe anderer oft nicht zu bewerkstelligen, schon gar erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand grauen- nicht für die Behinderten und Blinden. Hierbei, auch volle Berichte von Fronturlaubern, desgleichen von bei der Essensausgabe und der Wasserausteilung Eisenbahnern und von Polizisten. Ähnliche Dinge in den Tagen zuvor, waren auch jüdische Hilfskräfte waren manchmal auch von Freunden berichtet wor- eingesetzt, die selbst vorerst noch nicht zum Ab- den, die so genannte Feindsender abgehört hatten, transport kamen. Dann waren die Laster alle voll die deutschsprachigen Ausstrahlungen von BBC besetzt und fuhren langsam an. Nach den Komman- etwa oder von Voice of America; den Juden selbst dos: „Los, auch ihr da! Vorwärts jetzt! Bewegt euch!“ war der Besitz von Radiogeräten seit Kriegsausbruch folgten die übrigen Unglücklichen zu Fuß, ebenfalls verboten. Die Shoah war längst in vollem Gange unter scharfer Bewachung durch Polizeibeamte. Alle damals, doch kaum ein Gemeindemitglied mochte hatten sie noch immer, so wie man es befohlen hat- den Gerüchten wirklich Glauben schenken, konnte te, ein Pappschild um den Hals, auf dem ihr Name das tatsächliche Ausmaß, die ganze Ungeheuerlich- und ihre Kenn-Nummer deutlich sichtbar vermerkt keit des Verbrechens erahnen. Anfang 1942 war, waren. So schleppten sie sich dahin, voller Tristesse, wie wir heute wissen, schon mindestens eine halbe mit hängenden Schultern, ihr stummer Zug eine Million jüdische Menschen von Einsatzgruppen und einzige Anklage gegen das mörderische Regime wie gegen die Teilnahmslosigkeit, die Reaktionslosigkeit ihrer nichtjüdischen Nachbarn. Warum protestierte niemand gegen ihre Vertreibung? Sah denn keiner hinter seiner Gardine, was hier unten geschah? Bald hatten die LKWs ihr Ziel erreicht. Am Hauptbahnhof war es vorbeigegangen, durch die Gartenfeldstraße, dann nur noch ein kurzes Stück. Schließlich hielt die Kolonne. Wieder scharfe Kommandos: „Absitzen! Los! Schnell, schnell! Aber zack, zack jetzt!“. Die ersten kletterten mühsam von den Lastwagen herunter. Man befand sich auf der Verladerampe des Wiesbadener Schlachthofs. Das von SSund Gestapoleuten hermetisch abgeriegelte Areal füllte sich mehr und mehr. Zwischen den Menschen deren Koffer, Taschen, Wäschebündel, alles kreuz und quer. Nieselregen hatte eingesetzt. Nun trafen die anderen ein, die zu Fuß von der Friedrichstraße hatten hierher laufen müssen: Ältere zumeist auch hier, Frauen wie Männer, Kinder waren ebenfalls darunter. Auf ihrer Kleidung trugen sie alle den seit dem Vorjahr vorgeschriebenen „Judenstern“. Ihre Gesichter waren ausgemergelt. Sie blickten ernst. Aus ihren Augen schaute Bestürzung, Traurigkeit, teils die nackte Angst. Und doch wollte niemand von ihnen sich eine Blöße geben, der Verzweiflung freien Lauf lassen, nicht hier, nicht in dieser Situation, nicht vor diesen Unmenschen, die sie fortwährend beschimpften und schlugen. Ihrer Menschenwürde wollten sie sich nicht berauben lassen, um gar keinen Preis. 26/27 D i e D e p o r t a t i o n d e r W i e s b a d e n e r J u d e n Wie hatte man sie schikaniert, gedemütigt und alles dies gegeben. Nur manche hatten gelegent- drangsaliert, schon seit Jahren. Man hatte sie ent- lich, aber nicht öffentlich geäußert, sie seien mit ehrt, ihrer Rechte beraubt und erniedrigt. Ihre Frei- dem brutalen Vorgehen gegen die Juden ganz und heit war ihnen genommen worden, und ihren Besitz gar nicht einverstanden, sie würden sich schämen hatte man gestohlen. Sie waren zur Flucht gedrängt, dafür. Einige hatten sich sogar insgeheim solidarisch verhöhnt, verlacht und beleidigt worden. Die Morde gezeigt mit den Verfolgten. Auch sie hatten – wie der Wiesbadener SA an Salomon Rosenstrauch und diese – entsetzliche Angst. Max Kassel vom Frühjahr 1933 waren nicht vergessen. Auch nicht die gegen die Juden verhängten Und nun noch dies: Auf der Viehverladerampe des Boykottmaßnahmen, die empörenden Nürnberger Wiesbadener Schlachthofs hatte man sie zusammen- Rasse-Gesetze, die Schändung und Zerstörung der getrieben. Die Waggons der Reichsbahn warteten Synagogen im ganzen Reich. Nicht die anschließen- schon. Wenigstens waren es hier Personenwaggons, de Verschleppung so vieler Tausender von ihnen in die zum Einsatz kamen, nicht, wie anderenorts, die Konzentrationslager, nach Dachau, Sachsenhau- solche für Viehtransporte. Drüben, auf der gegen- sen, nach Buchenwald, wohin die hessischen Geisel- überliegenden Seite der Gleisanlagen, waren die häftlinge der Nazis damals meistenteils verbracht Türme der Dreifaltigkeitskirche und der Lutherkir- worden sind, oftmals gleichfalls am Schabbat übri- che zu sehen, einige Wohnhäuser, auch das Dach gens. Und nicht die nachfolgenden Zwangseinwei- des Landeshauses. Auf der anderen Seite, an der sungen in spezielle Judenhäuser und vieles andere Mainzer Straße, Ecke Welfenstraße, wusste man die mehr, die ständigen Haussuchungen, die Prügel, die jüdische Schule, in der bis zum Verbot aller jüdi- Tritte und Ohrfeigen, die sie erleiden mussten, die schen Schulen am 30. Juni jenes Jahres noch die immer dürftigeren Lebensmittelrationen, die man ih- Kinder der Gemeinde hatten unterrichtet werden nen zugestand, die fortschreitende Verelendung der können; jetzt durfte ihnen nur noch privat, d.h. zu allermeisten von ihnen. Und schließlich – im Herbst Hause das nötige Wissen vermittelt werden. An 1941 – das gegen sie verhängte Auswanderungs- den Viehverladebuchten, unweit der Firma Fauth, verbot. Dies alles war hier in Deutschland gesche- mögen sich manche der unschuldigen Opfer gefragt hen, fand vor aller Augen statt, hier in diesem Land, haben, warum außer ihnen und ihren Bewachern das sie – trotz allem – so sehr liebten, im Land der keine Menschenseele dort zu sehen war. Wo war Dichter und Denker! Keinen vernehmlichen Protest nur das Schlachthofpersonal, das für gewöhnlich aus der nichtjüdischen Bevölkerung hatte es gegen werktags hier arbeitete? Es war doch Schlachttag heute. Sie mussten doch hier irgendwo sein alle. 1. September 1942 verhaftet worden. Sie wurden ins Bemerkten sie denn von dem, was hier soeben vor Frauen-KZ Ravensbrück verschleppt. Ihr „Verbre- sich ging, überhaupt nichts – oder wollten sie nur chen“: Sie hatten ihren jüdischen Nachbarn, die sich nichts sehen von alledem? Ein Polizist schoss wieder gerade für ihren Abtransport fertig zu machen Fotos, wie am Samstag schon. Es sollte offenbar hatten, freundschaftliche Hilfe angedeihen lassen. alles genauestens dokumentiert werden für die Zwölf von rund 170.000 Menschen, die damals in Nachwelt. Die uniformierten Beamten und die in Wiesbaden lebten, vielleicht noch ein paar wenige Zivil kannten kein Erbarmen, trieben die Verzwei- mehr, haben den biblischen Appell zu beherzigen felten zu immer größerer Eile an. Manche mussten vermocht, der da lautet: „Liebe Deinen Nächsten gestützt, andere getragen werden. Wieder wurde wie Dich selbst.“ alles überprüft, in Listen eingetragen, deutsche Bürokratie. Die Peiniger drängten. In die Abteilwagen Wohl 370 Menschen wurden wegen ihrer jüdischen 3. Klasse wurden noch Eimer mit Wasser geschafft. Herkunft allein an jenem 1. September, drei Jahre Zuletzt stiegen auch die Polizei- und Gestapobe- nach Kriegsausbruch, aus Wiesbaden deportiert. amten des Begleitkommandos ein, alle bewaffnet Danach lebten keine 200 Jüdinnen und Juden mehr mit ihren Dienstpistolen. Dann wurden die Türen hier, die meisten davon verheiratet mit einem nicht- verriegelt. Der Zug rollte an. Über Kastel, Hochheim, jüdischen Ehepartner. Fast 900 Personen jüdischer Flörsheim usw. ging es nach Frankfurt, wo schon Herkunft waren es insgesamt, die bis zum Frühjahr der Anschlusszug wartete, an den die Waggons aus 1945 aus unserer Stadt in die Todeslager ver- Wiesbaden angekoppelt werden sollten. Und dann schleppt wurden. Übrigens sind verschiedentlich, so würde es weitergehen, nach Theresienstadt, ins so haben Augenzeugen später berichtet, solche Trans- genannte „Altersghetto“, das sich dann jedoch für porte auch von einem der Güterabfertigungsgleise so viele von ihnen als Durchgangsstation erwies auf auf der Westseite des Bahnhofs abgegangen. Aus dem Weg zu den riesigen NS-Mordstätten im Osten anderen deutschen Städten mussten weitere rund und für viele andere als Ort, wo sie meist schon 270 vordem in Wiesbaden beheimatete Jüdinnen nach kurzer Zeit an Krankheiten, Seuchen, Hunger und Juden ihre letzte Reise in die großen Mordfab- oder dergleichen qualvoll zugrunde gingen. riken der Nazis antreten. Viele waren auch schon vor Jahren vor den sich ständig verschärfenden Ver- Auch zwölf nichtjüdische Wiesbadenerinnen sind folgungsmaßnahmen der Nazis ins Exil geflüchtet, im Zusammenhang mit jener Deportation vom etwa nach Frankreich oder in die Benelux-Staaten, 28/29 D i e D e p o r t a t i o n d e r W i e s b a d e n e r J u d e n von wo dann nach dem Einmarsch der Wehrmacht Mitte 1945 kehrten die wenigen jüdischen Wies- schließlich ca. 300 jüdische Personen deportiert badenerinnen und Wiesbadener, die den Aufenthalt wurden, die entweder einst in Wiesbaden geboren in Theresienstadt überlebt hatten, mit amerikani- worden waren oder für eine Weile hier wohnhaft scher Hilfe hierher zurück, wo ihnen im Rathaus ein gewesen sind. Mit der letzten Deportation vom 14. Empfang bereitet wurde. Auch manche derer, die an Februar 1945 wurden noch 23 so genannte „Halb- anderen Orten dem Völkermord zu entrinnen ver- juden“ bzw. solche, die in – wie es allen Ernstes hieß mocht hatten, kamen nun wieder hierher. Wiederum seinerzeit – „Mischehe“ lebten, aus unserer Stadt andere, die vordem anderenorts gewohnt hatten, nach Theresienstadt verschleppt. Daraufhin waren suchten jetzt in Wiesbaden eine neue Heimstatt. nur noch etwa 20 Menschen jüdischer Herkunft in Schon bald konnte daher eine, wenngleich nur sehr Wiesbaden zurückgeblieben. Vor 1933 haben ein- kleine neue Gemeinde gegründet, die halbzerstörte mal über 3.000 jüdischen Menschen hier gelebt. Synagoge in der Friedrichstraße wiederhergerichtet und abermals geweiht werden. Am 11. Septem- sind. Unabdingbar ist in jedem Fall die weitere ber 1966 wurde endlich am gleichen Ort ein neues Tradierung des Wissens um das damalige Gesche- würdiges Gotteshaus geweiht und ein modernes hen, die unablässige Thematisierung jenes größten Gemeindehaus als kulturelles Zentrum der damals Menschheitsverbrechens aller Zeiten, auf dass sich wieder gerade einmal 300 Seelen zählenden Ge- dieses niemals mehr ereigne, hierzulande nicht und meinde eröffnet. Und weitere 40 Jahre später wurde nirgendwo anders auf der Welt. Seit den Jahren des zwischen der Landeshauptstadt Wiesbaden und der braunen Unheils sind nunmehr zwei neue Genera- Jüdischen Gemeinde Wiesbaden „zur Erhaltung und tionen von Jüdinnen und Juden, von Nichtjuden Pflege des gemeinsamen deutsch-jüdischen Kultur- und Nichtjüdinnen in unserem Land, in dieser Stadt erbes“ feierlich ein Stadtvertrag geschlossen, der herangewachsen. Sie und wir alle, Alt und Jung, das nach all den vorangegangenen schändlichen können gemeinsam wieder an die Menschlichkeit NS-Verbrechen mit den Jahren wieder begründete glauben, die unsere Gedanken erfüllen und unsere und dann stetig gewachsene beiderseitige freund- Herzen miteinander verbinden möge bis ans Ende schaftliche Verhältnis zum Ausdruck bringt. Die unserer Zeit. derzeit in Planung befindliche Form des namentlichen Gedenkens an die bislang ermittelten 1512 Jacob Gutmark, Brigitte Streich, Axel Ulrich Wiesbadener Opfer der Shoah, die am Standort der von den Nazis geschändeten, demolierten und dann zerstörten Synagoge auf dem Michelsberg realisiert werden wird, ist für die ganze Wiesbadener Bevölkerung von allergrößter Relevanz. Die Gedenkanlage wird flankiert durch weitere Erinnerungsformen im öffentlichen Raum, wie etwa den NS-Informationsraum im Rathaus, die Informationsstelen an mehreren authentischen Orten der NS-Verfolgung in unserer Stadt sowie durch den jetzt auf dem früheren Schlachthofgelände im Entstehen begriffenen Gedenkort mit der fotorealistischen Wiedergabe von Aufnahmen, die 1942 unmittelbar vor der Deportation vom 1. September gemacht worden 30/31 Impressum: © Kulturamt der Landeshauptstadt Wiesbaden – Stadtarchiv, 2009 Redaktion: Axel Ulrich, Brigitte Streich Auflage: 3000 Druckerei: Lauck GmbH, Flörsheim