MAI 2015 - Die Welt
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MAI 2015 - Die Welt
MAI 2015 ICON ICON MAI 2015 PAUL SMITH So sieht’s aus: Paul Smith in seinem Londoner Büro EDITORIAL Schau einfach noch mal hin! COVER: FOTO PAUL SMITH; MONTAGE/ILLUSTRATION:TOM UECKER FÜR ICON; DIESE SEITE: MARIO TESTINO; OLIVER MARK (3); GETTY IMAGES; PAUL SMITH (3) I ch fotografiere sehr gern.“ Damit fing es an. Wir standen im Gewühl bei der Eröffnung seines ersten Geschäfts in Deutschland im vergangenen Jahr. In Hamburg, der britischsten aller deutschen Städte, waren Paul Smith und seine Scouts nach langer Suche fündig geworden: Ein Haus mit Seele, dem einzig verbliebenen in der Straße aus der Biedermeierzeit, und mit Garten. Und das mitten in der Stadt an den Hohen Bleichen. Keine strategische Analyse hatte den (naheliegenden) Standort Hamburg ergeben, sondern das Haus. Charakter. Das ist das Paul Smith Erfolgskonzept: Mit 15 Jahren brach er die Schule in seinem Heimatort Nottingham ab und richtete seinen ersten Laden ein, der nur an zwei Tagen die Woche geöffnet war. Darauf baute er ein weltweit agierendes Lifestyle-Unternehmen auf, das so bunt und erfolgreich ist wie sein Markenzeichen, die Streifen – und ihm auch immer noch gehört. Das Studium hat er später in Abendkursen nachgeholt, wie er überhaupt ein Mann mit vielen Talenten und beinahe unerschöpflicher Energie ist. Last man standing. Und morgens der Erste. 4.30 Uhr ist in etwa seine Zeit. Dann geht er erst einmal in seinem Club schwimmen. 69 Jahre wird er Anfang Juli. Ein Mann von Lagerfeldscher Kreativität und Rastlosigkeit. Die nicht mit Hetze zu tun hat, sondern mit Struktur und Kraft und Interesse. In Hamburg standen wir an einer Vitrine und plauderten, als wären nicht noch ungefähr 500 weitere Leute zur Party gekommen. Und auch die fühlten sich offenbar wie zu Hause. Naheliegend. Auch dieses Geschäft wurde vom Chef persönlich eingerichtet. Und im Umfeld von Sir Paul – die Queen adelte ihn – gibt es kein Getue. So erfolgreich, vermögend, weltberühmt er ist, so herzlich, entspannt, humorvoll ist er. Überträgt das auf seine Mitarbeiter. Und ist auch schon seit Jahrzehnten mit der gleichen, großartigen Frau zusammen. In Hamburg plauderten wir über dies und das. Plötzlich dachte ich: Frag doch mal. Ob wir ein ICON zusammen machen wollen. Er als Fotograf und Stimulant. Als Engländer mit dem Sinn für Zwischentöne. Und so kam es. Eine unaufgeregte Angelegenheit – und doch voller Anregungen und guter Manieren. Wie die wirklich Großen eben sind. 2001 hat er ein Buch geschrieben. Der Titel: „Du findest Inspiration in allem. Und wenn nicht, guck noch mal hin!“ (Violette Editions). Bitte sehr. Es ist uns ein Vergnügen! Sir Pauls bunte Welt: Kaum ein Designer hat so viel Spaß an Details – und Bilder liebt er besonders, wie ein Blick ins einen Hamburger Geschäft beweist IMPRESSUM ICON Chefredakteurin: Inga Griese (verantwortlich) Textchef: Dr. Philip Cassier Redaktion: Caroline Börger, Heike Blümner, Nicola Erdmann, Julia Hackober, Jennifer Hinz, Silvia Ihring, Mira Wiesinger. Praktikanten: Linda Leitner, Sarah Lafer. Korrespondentin in New York: Huberta von Voss. Korrespondentin in Paris: Silke Bender. Autoren: Susanne Opalka, Esther Sterath, Andreas Toelke Redaktionsassistenz: Ursula Vogt-Duyver Artdirektorin: Barbara Krämer Gestaltung: Maria Christina Agerkop, Delia Bob, Katja Schroedter, Adrian Staude Fotoredaktion: Julia Sörgel, Elias Gröb Bildbearbeitung:Thomas Gröschke, Tom Uecker, Kerstin Schmidt, Felix Steinert Verlagsgeschäftsführung: Dr. Stephanie Caspar, Dr. Torsten Rossmann General Manager: Johannes Boege Gesamtanzeigenleitung: Stefan Mölling; Anzeigen ICON: Roseline Nizet (roseline.nizet@axelspringer.de) Objektleitung: Carola Curio (carola.curio@axelspringer.de) Verlag: WeltN24 GmbH Druck: Prinovis Ltd. & Co KG, Nürnberg Herstellung: Olaf Hopf ICON ist ein Supplement der „Welt am Sonntag“, die nächste Ausgabe erscheint am 31. Mai 2015. Sie erreichen uns unter ICON@weltn24.de Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter www.axelspringer.de/unabhaengigkeit. 7 O ICON 1 2 MAI 2015 AUSGEWÄHLT 10 18 20 RULE BRI TANNIA Eine Insel, auf der selbst die Royals Teil der Populärkultur sind: Unsere Lifestyleweisen machen sich Gedanken über die Briten 61 CHARME & MELON E Alles, nur keine Baked Beans – Icona stylt sich nach Tutti-Frutti-Manier, bis sich Ikens steife Oberlippe lächelnd verzieht 62 WIR STEHEN GERN SCHLAN GE Zum Geleit: Simon Cundey, Inhaber der ältesten Savile-Row-Schneiderei, gewährt Einblicke ins englische Seelenleben 28 29 AMAZ ING RUTH „Matches“-Gründerin Ruth Chapman ist eine dieser Frauen, der irgendwie alles gelingt. Und das ganz unaufgeregt. Und auch noch gut aussehend AUF D E M WEG NACH OBEN Über kaum eine Nachwuchs-Designerin redet man derzeit in London mehr als über Simone Rocha. Uns hat sie geantwortet MAC HT SPASS Accessoires kann jeder – sie mit unauffälligem Humor zu versehen, ist eine englische Spezialität. Wir haben sie gefunden SIR PAUL SMITH ZUSAMMENGESTELLT VON SARAH LAFER 30 LOND ON S LIEBSTE HUNNEN Das große Fotoshooting: Großbritanniens großer Designer stellt deutsche Kreative in der Hauptstadt des UK vor 46 WIR SOL LTEN MAL REDEN Was sind diese Deutschen für Typen? David Chipperfield entwarf u. a. die Berliner Museumsinsel. Sir Paul interviewte ihn 49 KNIT TE RF REI DABEI Auf Reisen ist bisher noch jeder Anzug verknittert – mit Sir Pauls Travel Suit ist das ein für alle Mal Geschichte KOSMETIK 60 BRIT ISH BEAUTY Auch die englische Rose braucht Kosmetik. Inselprodukte und Neuheiten 14 15 SCHWA RZ UND EXTREM Tom Ford zieht bekanntlich James Bond 007 an. Er kennt sich aber auch mit Parfüm aus – Inga Griese hat ihm zugehört 5 4 6 INSELGESCHICHTEN 22 TIME-O UT Ein Uhrmacher, der wirklich Uhren macht – und das fast ganz allein: Ein Treffen mit Roger W. Smith auf der Isle of Man 53 SO SCHÖ N VERSTECKT Was Sie als Tourist nicht wissen können: Paul Smith nennt Ihnen Londons geheime Gärten und Plätze MODE 26 3 DER DUFT DES EMPIRES Es begann am Piccadilly Circus: Wie der britische Parfümeur Penhaligon’s seit fast 150 Jahren harmonisch „näselt“ 56 PARK MAL EIN Nottingham’s Forest: Ein Besuch in Langar Hall, wo Englands Countryside noch schöner ist als bei Rosamunde Pilcher 64 LO NDO N DIARY Das kommt nicht überraschend – aber wenn Sie überraschende Hotels im UK kennenlernen wollen, lesen Sie unsere Postkarten 65 NOTTING HILL Hermès hat das Flanieren als Motto für das ganze Jahr entdeckt – und gleich mal im Bohème-Viertel angefangen 66 DER BAUPLA N Wir schauten in der Manufaktur von Mulberry zu, wie die „Willow Bag“ entsteht 1. Hut ab! Lampe „Jeeves“ von Innermost über theiconist.com 2. Tea Time: Service mit LondonTransport-Logo von fluxstokeontrent.com 3. London an der Elbe: „Queen’s Mint“ Tee der hamburgischen Teemarke Forgeron & Blanc 4. Zeit für Scotch-Terrier: „Scotty-Clock“ von The Labrador Company 5. Nicht nur Paddington Bär liebt sie: Orangenmarmelade von Harrods 6. Trotz Regen unverzichtbar: Gießkanne vom Museumsshop des V&A 7. Süße Ordnungshüter: Lippenbalsam vom Museumsshop der National Gallery 8. Befreit vom Gartenschmutz: Handpeeling von Crabtree&Evelyn 9. Dieses Gebäck hat es in sich: Wildblumensamen verpackt in Papierkeksen von thebalconygardener.com 10. So bleibt die Queen auf dem Teppich: Den Läufer „Postage Stamp Rug“ gibt’s über notonthehighstreet.com 11. Sonnen wie die Briten: „Palmeral Edwardian“-Liege von houseofhackney.com 12. Ein gemütlicher Stadtplan: Pouffe „Lundunar Kort“ von Kristjana S Williams 13. Für den Frühlingslauf: Stella McCartney für Adidas (mytheresa.com) 14. Drink gefällig? „Rockstar Whiskybar“ von Buster und Punch 15. Tolle Knäufe gibt’s bei Chloe Alberry in der Portobello Road 84. Auch online! 7 8 9 10 11 12 13 STILISTEN COPYRIGHT THE ARTIST. COURTESY BEN BROWN FINE ARTS,HONG KONG/PRESTEL VERLAG RULE, BRITANNIA – UNSERE LIFESTYLEWEISEN KENNEN SICH AUCH IM KÖNIGREICH AUS Im Kreisverkehr Es soll ja Menschen geben, denen allein die stadtbildprägenden roten Doppeldecker-Busse eine Reise nach London wert sind. Jene finden den Linksverkehr auch viel aufregender als die Royal Family. Und für sie ist der laute Piccadilly Circus – hier vom brasilianischen Künstler Vik Muniz dargestellt – vor allem auf Papier ein Blickfang. Wie die Kunstmesse „Photo London“ rund um das Thema Fotografie und Musik beweist. Das Event präsentiert die Arbeiten von etablierten Fotokünstlern und Nachwuchstalenten erstmalig vom 21. bis zum 24. Mai im Somerset House – mitten in London und natürlich per Bus mit den Linien 6, 9, 11, 13, 15, 23, 77a, 91 und 176 gut zu erreichen. Ob S ses S onne , geh hirt vo ob Reg LONDON CITY LIFE t be n Bu en: i r j e b dem Ich bin eine waschechte Londonerin: Wurde hier geboren, bin hier aufgewachsen, habe mein er Wet ry ganzes Leben lang hier gewohnt. Meine Empfehlungen sind von daher Teil meiner Identität. Los ter geht es mit dem „Chelsea Art Club“. Ich wurde schon als Baby dorthin mitgenommen, weil mein Vater Mit- 10 glied ist. Der Club ist voller Zeichnungen, Gemälden und Skulpturen der Mitglieder, und der Garten ist einer der schönsten Londons. Das Essen ist hausgemacht und die Preise sind nicht überzogen. Das einzige Problem ist, dass man Mitglied sein oder eines begleiten muss. Also suchen Sie sich einen Künstler aus Chelsea und schmuggeln Sie sich rein. Das „Akasha Spa“ im Hotel „Café Royal“ ist sehr ruhig, besonders, wenn man gerade von den hektischen Straßen Londons kommt. Perfekt zum Abschalten, Lesen, Schwimmen und in die Sauna gehen. Im „Society Cafe“ in Soho gibt es nicht nur köstliche Cocktails, sondern auch Bücher von wundervollen Erstausgaben bis zu aktuellen Bestsellern. Babette, die Inhaberin, gibt übrigens sehr gute Tipps. In Marylebone, in der Moxon Street, gibt es einen großartigen Metzger namens „The Ginger Pig“. Ich esse zwar selten Fleisch, aber wenn, dann kaufe ich es hier. Nebenan liegt „La Fromagerie“, die eine große Auswahl an Käse, organischem Gemüse und anderen Produkten für die Speisekammer bietet. Man kann dort auch eine Suppe, einen Salat oder einfach eine Käseplatte mit Wein genießen. Bei „Rococo Chocolate“ in Belgravia sind die VerAlex Eagle packungen witzig und schick. Als ich klein war, arbeitete die Schwester meiner Freundin hier und sie schenkte uns immer zerbrochene Schokolade. Seitdem bin ich ganz verrückt daKreativdirektorin von „The Store x Soho nach. Schokolade in Spargelform, organische Riegel und ein geheimer Garten, in dem man House“ in Berlin und an seinem Tee nippen und die Schokolade essen kann – es gibt nichts Besseres! Besitzerin von „Alex Eagle“ in London ESA.COM MYTHER Die FRANK HORVAT Ja, wo laufen sie denn? Tief verwurzelt in der englischen Psyche liegt: die Landschaft. Sie ist einzigartig – und obwohl ich seit 15 Jahren in Paris lebe, bleibt die englische Landschaft mein spirituelles Zuhause. Sie besteht aus grünen Feldern, Heckenlandschaften, hundertjährigen Eichen, geschlängelten Flüssen und Fußpfaden. Kirchen, Pubs und Landvillen setzen pittoreske Akzente. Auch Pferde und schwarze Labradors dürfen nicht fehlen. Es ist die perfekte Kulisse, sowohl um dem übercoolen London als auch der notorischen Pariser Unhöflichkeit zu entkommen. Ein 45-minütiger Ausflug ins ländliche Oxfordshire im Frühling macht deutlich, warum die Engländer ihre offenen Sportautos so lieben. Dort steht nicht nur „Blenheim Palace“, der einstige Familienwohnsitz der Churchills, der Spencer Familie und dem aktuellen Herzog von Marlborough, sondern auch die charakteristischen strohgedeckten Landhäuser. Hübsche Gärten reihen sich aneinander, sein Bier trinkt man in Pubs wie dem „Black Sheep“ in Weston-on-the-Green. RichJames Heeley tung Somerset entspannt man auf die moderne, englische Rockstar-Art im (Britischer) „Babington House“, einem ländlichen Anwesen mit Süßwasser-SwimmingParfümeur in Paris pool im Freien und Spa. In Devon und Cornwall kann man Englands idyllische Küste bestens erkunden. Dramatischer wird es nördlicher, Richtung Yorkshire. Hier gibt es die besten Fish&Chips-Landgaststätten und Ales der Welt und Baudenkmäler wie das „York Minister“, „Fountain’s Abbey“ und „Castle Howard“, der Drehort von „Howard’s End“. Auch die North Yorkshire Moors wurden durch den Roman „Sturmhöhe“ von Emily Brontë weltbekannt. Doch die beste Art, die britischen Landschaft kennenzulernen, ist offen gesagt: Verlaufen Sie sich! PATEK PHILIPPE LANDPARTIE Der Startschuss ist noch nicht gefallen, aber die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Im Juni findet das alljährliche Royal Ascot Pferderennen statt. Die englischen Ladys sind in Aufruhr. Denn zumindest das Rennen auf den ausgefallensten Fascinator, das schönste Kleid und den letzten Maniküretermin ist bereits eröffnet. Die Helmut Newton Stiftung in Berlin zeigt in der Ausstellung „Newton. Horvat. Brodziak“ ab dem 4. Juni, wie das Ergebnis, „behutet“ mit Givenchy, aussehen kann. Hier von Fotograf Frank Horvat eingefangen. Klar, es geht auch ein bisschen um Ross und Reiter – wenn denn das Outfit steht. UND SONST NOCH 12 PICKNICK: Beine und Seele baumeln lassen kann man jetzt im Heck des Range Rover „SV Autobiography“. Der Wegesrand ist das Ziel. Ab dem Sommer über landrover.de ——— NOSTALGIE: Modedesigner Nigel Cabourn hat das Archiv von Fred Perry gestürmt. Das Ergebnis der Kollaboration gibt es nun im Laden oder online unter fredperry.com ——— KÖNIGLICH: Ab August sind die „Kingsmen“ in geheimer Mission auf DVD erhältlich Die große Patek-PhilippeJubiläums-Ausstellung „175 Jahre – Watch Art Grand Exhibition“ gastiert vom 27. Mai bis 7. Juni in der Saatchi Gallery, erweitert um, klar, royale Aspekte der Geschichte Unser Ausdruck einer Ära Seventies Chronograph Seventies Chronograph. Start. Stop. Fly-Back. Der präzise und zuverlässige Zeitmesser beeindruckt mit zentraler Stoppsekunde, 30 Minuten- und 12 Stunden-Zähler mit integriertem Flyback-Mechanismus, kleiner Sekunde, einer Gangreserve von 70 Stunden sowie dem Glashütte Original Panoramadatum. Glashütte Original Boutique ∧ QF, Quartier an der Frauenkirche ∧ Töpferstraße 4 ∧ 01067 Dresden Tel. +49 (0)351 82 12 59 70 ∧ E-mail: boutique.dresden@glashuette-original.com London Calling AKHTAR SPARKLING BRITISHNESS England ist eine Biernation. Nach Deutschland sogar der zweitgrößte Bierproduzent Europas. Einige behaupten, hier sei höhere Gewalt im Spiel, nämlich das legendäre englische Wetter: Wolkig, verregnet und windig. Sonnenanbeter gehen ein wie Primeln. Die meisten Weinsorten auch. Was übrig bleibt, kann keinem Weißweinkenner zugemutet werden. Das Weingeschäft deshalb aufgeben? Nicht Herbert mit den Briten. Spätestens seit der Seckler Entschlüsselung des EnigmaKultwirt vom Sylter „Sansibar“ Codes ist klar: Erfindungsreichtum zählt zu den Stärken der Insulaner. Geht die Gleichung nicht auf, wird sie kurzerhand umgestellt. Kaltfeuchtes Klima und eine robuste Weißweinrebe ergeben nämlich einen fantastischen Schaumwein. Der Engländer nennt ihn „Sparkling Wine“. Man würde gern ebenfalls von „Champagne“ sprechen – und tut es im Volksmund auch –, aber der Franzose verbittet sich jegliche Adaption. Auf dem Weingut „Nyetimber“ südlich von London spricht man daher lieber von „Classic Cuvée“. Feinperlig, fruchtig mit Aromen aus Melone, Aprikose und Brioche. Funktioniert, schmeckt. So gut, dass bereits die ersten französischen Winzer bei der Suche nach einem Fleckchen Land auf der Insel gesichtet wurden. GENTLE BLIESWOOD TRENDBAROMETER VON WOLFGANG JOOP Herr Haka Meine Güte, jetzt sind wieder T-Shirts mit dem Displaymaterial von Star Wars angesagt. Als hätten wir nicht genug Krieg auf der Erde, nur bei uns schleppt sich das Happy End ja hin. Schlechter Geschmack, das können nur die Engländer, deren Exzentrik sendet humorvolle Botschaften. Frau Dob Mode ist ja immer auch ein Ausflug. Ich möchte aber nicht das London sehen, das sich der zugereisten „Richness“ hingeworfen hat. Mein Ziel wäre Sissinghurst. Und wie E..T. nach Hause telefonieren will ich auch. Aber nicht im Extorialen. Deine Inspiration für die nächste Kollektion ist Gärtnern? Gummistiefel, Rosenschneiden. Das trägt mich. La bella B&B Italia! Neuer Showroom von Architekt John Pawson. 250 Old Brompton Road 14 London ist für mich im Moment die faszinierendste Stadt der Welt – vor New York, vor Hongkong, vor Tokio und BerlinMitte. Wenn ich im Heathrow Terminal 5 aussteige, bin ich happy! Hier meine BlitzTipps: 1. Mit dem Heathrow Express vom Flughafen nach Paddington fahren, First Class mit WLAN und mehr Ruhe, weiter mit dem Taxi. 2. Sich eine Nacht in „The Shard“ schenken (circa 450 Pfund), dem höchsten Hotel Londons. Insider-Alternative – ohne Lift, aber mit Pub: „The Grazing Goat“ (circa 200 Pfund). 3. Mein Lieblings-Pub: „The Audley“. 4. Rechts gegenüber mein LieblingsJagdladen „Purdey“ (Ledersachen, Flinten et cetera). 5. Links gegenüber das Restaurant für die Stars: „George“. Draußen reservieren, zum Gucken. 6. Lieblingsbar: „Rivoli-Bar“ im David Blieswood „Ritz“ – kein SchlipsConnaisseur aus Hamburg Zwang mehr. 7. Sich einen Anzug schneidern lassen in der Savile Row (circa 3500 Pfund). Mein Schneider Davies war auch Axel Springers Maßschneider, aber Sie können auch einfach die Straße entlanggehen und nach Bauchgefühl entscheiden, Huntsman zum Beispiel ist eine gute Wahl. 8. Lieblingscafé/-bistro neben dem „Ritz“: „The Wolseley“, zum Frühstück reservieren! 9. Shoppen? Im Kaufhauspalast Harrods gibt es auch Hunde. 10. Lieblingsstraße: St. James Street – kurz und teuer –, hier gibt es auch Maßschuhe von John Lobb (ab 4200 Pfund). 11. Unbedingt zum Tower – man spürt, wie früher die Könige gefroren haben. 12. Die originellsten Schirme: Swaine Adeney Brigg. Tipp von Frau Blieswood: die Touristen-Busse: Hop-on, hop-off. Sie können einfach aussteigen, wo Sie Lust haben. STEPHEN WALTER; PRESTEL VERLAG Wirrer Stadtplan? Nein, Kunstwerk! Wer mit dem Büchlein „The Island: London Mapped“ (Prestel) von Stephen Walter in der britischen Hauptstadt unterwegs ist, dem wird das iPhone-Helferlein Siri gewiss nicht fehlen. Die handgezeichneten Pläne des Drucktechnik-Künstlers sind so detailverliebt, dass sie seinen Besitzer keinesfalls auf direktem Weg von A nach B führen. Sie laden eher dazu ein, die Insel-Metropole auf Umwegen kennenzulernen. Bier-Pitcher zeichnen die Route für den nächsten Pub Crawl. Und zu welcher Insel könnten wohl die Hundeskizzen führen? ELISABETH SANDMANN VERLAG/ROSIE SANDERS Englische Rose trifft wilde Orchidee In Europa werden jährlich mehr als 200 Millionen Orchideen verkauft, meist von der Gattung Phalaenopsis, wie diese Sorte namens „Ever Spring King Lee“. Jede Pflanze ist ein Unikat mit der Unverwechselbarkeit eines Fingerabdrucks. Das kommt der südenglischen Künstlerin Rosie Sanders entgegen, die mit fast fotografischer Präzision Orchideen, Tulpen, Magnolien und andere in ihren überdimensionalen Aquarellen zum Leben erweckt. Ein Kunstgriff, für den sie zahlreiche Preise eingeheimst hat. Gerade ist ihr Bildband „Überwältigende Blüten“ in der Edition Sandmann erschienen. llustratorin und Autorin in Berlin 16 MAX MARA Florentine Joop Mein erster Besuch in London, meine erste Ausstellung in der Tate Britain Gallery; die Eindrücke sind beinahe genauso präsent, als wäre es gestern gewesen. In meinem jugendlichen Leichtsinn wähnte ich mich im Angesicht britischer Kunst – was ich betrachtete, waren die schönsten Bilder, die ich jemals sah (und später sehen werden würde). Die unvorstellbare bildnerische Schönheit der Maler der präraffaelitischen Bruderschaft, die gewaltigen Turners und irrwitzigen Arbeiten auf Papier der British Watercolour Artists, die sich in Farben und Schattierungen und Prä-HD-Auflösungen an Landschaften, historischen und fiktiven Szenerien alter Sagenliteratur, an Gesichtern und Tieren austobten mit der scheinbar so britischen Manie zur Tradition in Perfektion und ohne jegliche Angst vor Pathos. Da wähnte ich mich im Himmelreich und wollte nie mehr fort. Mit kindlicher Freude und großen Augen schaute ich Henry Wallis’ „Chatterton“ an und habe dieses kleine Bild nie mehr vergessen. Noch BUCHSTÄBLICH: Bei Charlotte Olympia können schlichte Leder-Slipper nun mit 52 Buchstabenund Motivstickern aufgepeppt werden. Über charlotteolympia.com ——— THINK BIG: Das italienische Modelabel Max Mara hat seinen Shop in London vergrößert. Mit rund 1000 Quadratmetern gehört er zu den größten Läden des Labels in Europa. 21 Old Bond Street. ——— SCHMUCKSTÜCKE: Aus Kunstharz fertigt Schmuckdesigner Nicolas King Armreifen. Seine Kollektion gibt es über mystylecatch.com CHARLOTTE OLYMPIA Dots and Dont’s kannte ich sie nicht, die modernen englischen Künstler: kein Damien Hirst, David Hockney, keine Gilbert & George hatten meinen Weg und mein Auge gekreuzt. Von den Farb- und Lichtfluten, von der Vollendung der Auge-Hand-Koordination, der Schönheit und Anmut bleiben einige Punkte (farblich interessant) und Streifen (farblich teilweise gewagt) hängen. Man meint, wolle man heutzutage in der modernen Kunst was werden, müsse man sich zwischen Längs- und Querstreifen entscheiden, wer sich nicht entscheiden kann, macht Punkte. Oder Collagen – mit Streifen. Und sicher ist das jetzt ungerecht, denn noch immer sind Englands zeitgenössische Künstler unter den Top Ten der Bestseller. Und darunter sind auch Künstler, die Tische und Skulpturen machen oder Akte. Und Landschaften. Aber eben auch viele Streifen. Ob Guggenheim, MoMa, Tate oder Nationalgalerie, ich esse mich tapfer durch den Berg von Hirsebrei, schaue mir mit teilweise großem Interesse (und wachsendem Unbehagen) die modernen Exhibitionen an, um dann, eigentlich voll bis oben hin, aber trotz allem hungrig, endlich zu den Klassikern zu schleichen, um mich sattzusehen. Zu meinen modernen Klassikern zählen David Hockney, Francis Bacon (ich weiß, der war Ire) und Lucian Freud (ja, der war Berliner) – kommen sie doch ganz ohne Punkte und Streifen aus. FLORENTINE JOOP HOW TO ART – TEIL III: UND SONST NOCH OH, LOOK! UNSERE ICONA ZEIGT IHRE AKTUELLEN LIEBLINGSTRENDS ILLUSTRATIONEN: JAMES DIGNAN (JAMESDIGNAN.COM) MISS WATERMELON + Schnitz-Ohr: Ohrringe von de Grisogono + Zuckersüß! Clutch von Charlotte Olympia über net-a-porter.com Ikonas Kompositionen tragen Früchte auf ihrer Ukulele von Kala. Über muziker.de Frisches Leben im Kaschmirpulli von Chinti and Parker + + Sweet Dreams im Zelt „What a Melon Little Camper“ von fieldcandy.com Sommerfrische: Baumwollhose von Emilio Pucci über mytheresa.com + Bubble-Girl: „Watermelon“ Kaugummi von Fini Soulfoot: Die Slip-Ons von Keds sind äußerst appetitanregend = MR. DANDY Pures Understatement: Brille „S1“ von Lunor + Wie gemacht zum Umherstreifen: Anzug von Thom Browne via mrporter.com Retro-Chic: Polo-Shirt von Moncler Gamme Bleu über matchesfashion.com + + ZUSAMMENGESTELLT VON MIRA WIESINGER Schutzschild für die Haut: „One Essential City Defense“ von Dior + 18 + Moustache-Love: Lippenbalsam „Mint Madness“ über pinjafashion.de + Iken liebt den stilsicheren Auftritt: Sneaker von Gucci „Who’s gonna steal the show; you know, baby, it’s the guitar man“: Gitarrenkoffer von Louis Vuitton = 48.248 € 49.373 € BUCHERER.COM EINZIGARTIG WIE IHRE EMOTIONEN – SEIT 1888 UHREN SCHMUCK JUWELEN “FROM THE HOW TO BE BRITISH COLLECTION © LGP,BRIGHTON,UK WWW.LGPCARDS.COM; MARTIN U.K. LENGEMANN ESSAY Gras, Tee & Gummientchen Freundliche Menschen, die Regeln lieben, ohne sie auszusprechen: Simon Cundey, Inhaber der Savile-Row-Schneiderei Henry Poole, erklärt, woran Sie Briten erkennen E 20 Es ist nun bald 30 Jahre her, dass der Verkehr in Londons Innenstadt zum letzten Mal wegen einer Schafsherde zum Erliegen kam. Und obwohl damals noch nicht alles so überfüllt und kosmopolitisch war wie heute, kann man sich das Chaos vorstellen. Zu verantworten hatten es einige Schneiderkollegen, sie wollten ein wenig auf sich aufmerksam machen. Ich dürfte die Aktion wiederholen, eine alte Übereinkunft gibt mir das Recht dazu: Die Merchant Taylors Guild, unsere Zunft, erstritt es im 14. Jahrhundert. Ich dürfte mich auch in der Quadratmeile, die damals die City of London war, mit einem Schwert bewaffnet, bewegen, ohne belangt zu werden, oder könnte volltrunken Leute anpöbeln. Die ganze Welt fragt sich seit Jahrhunderten, warum Briten es lieben, Regeln aufzustellen, die doch niemand genau kennt, weil sie nie ausgesprochen werden. Ich kann dazu nur sagen: Es ist nun einmal so. Wir wachsen im Bewusstsein auf, dass man auf eine geschriebene Verfassung verzichten kann, solange man nur genug von Common Sense versteht; also jenen unbewusst geteilten Grundannahmen, die uns durchs Leben tragen. So ist unser Anspruch, das freundlichste Volk der Welt zu sein, ein nie versiegender Quell vergnüglicher Missverständnisse mit Angehörigen anderer Nationen. Niemand steht so geduldig in einer Warteschlange wie wir Briten, darauf können Sie sich überall verlassen. Und wenn wir an der Reihe sind, werden wir nicht mehr Zeit in Anspruch nehmen als notwendig ist. Davon profitieren alle. Interessanter wird es, wenn es an die Redewendungen geht, mit denen wir unsere Freundlichkeit ausdrücken. Weil es undenkbar ist, rüde zu sagen, was an- liegt, sind sie beliebig dehnbar. Nehmen wir den Ausspruch: „No harm done“. Er kann alles bedeuten: von „Nichts Schlimmes passiert“ bis hin zu „Das ist die ultimative Katastrophe, aber das Leben geht weiter“. Oder wie wäre es nach einem harten Tag mit: „Tomorrow will be another day“? Es könnte sein, dass wir sagen wollen: „Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.“ Es könnte aber auch sein, dass wir meinen: „Diese Chance konnten wir nur heute nutzen, wir haben alles vergeigt, nur werden wir das nicht zugeben.“ Die erheiterndste Kommunikationspanne speziell im Umgang mit Deutschen birgt der Satz: „It might become a bit difficult.“ Wenn es nur ein wenig schwierig werden könnte, meldet das deutsche Hirn, dann gibt es ja kein ernstes Problem. In Wahrheit haben wir gerade gesagt: „Ausgeschlossen, dass das was wird.“ Freundlichen Menschen ist es verboten, das Wort Nein zu benutzen. Selbstverständlich ist es jedem überlassen, diese Art des Herunterspielens für nicht zielführend zu halten. Ich denke aber, dass Dinge, die schiefgehen, keineswegs dadurch besser werden, dass man sie sich in allen Farben ausmalt. Unsere Freude an unausgesprochenen Regeln hängt historisch auch mit der Vorliebe zusammen, uns mit Gleichgesinnten zu umgeben und das ganze „Club“ zu taufen. Ich bin beispielsweise Mitglied im Royal Automobile Club – Sir Paul Smith schwimmt hier jeden Tag seine Morgenrunde. Nach wie vor ist das zunächst einmal eine Begegnungsstätte für alle, die sich für Autos interessieren. Uns wird ja gern vorgeworfen, dass wir fast unüberwindbare Barrieren vor einer Mitgliedschaft aufbauen, damit möglichst viele vor der Tür bleiben müssen. Aber sehen Sie sich die Arbeiterkultur an: Nirgendwo gibt es treuere Fußballfans als bei uns. Man definiert sich auch nicht als Anhänger, sondern als „supporter“, also als jemand, der seinen Club unterstützt. Überhaupt der Sport: Dafür begeistert sich jeder. Meine Söhne spielen Hockey und Rugby. Speziell beim Rugby herrscht eine strenge Etikette, die Teams müssen den Schiedsrichter mit „Sir“ anreden. Es ist Teil des Fairnessgebots, den Regelhüter auf diese Weise zu würdigen. Das erlaubt uns auch, eine Niederlage nicht als Weltuntergang zu begreifen. Wenn man alles gegeben und nicht geschummelt hat, aber der andere war besser, dann wird ein Brite, der etwas auf sich hält, dem Siger ehrlich gratulieren (das gilt auch für Britinnen). Dazu geben Wettbewerbe das gesellschaftliche Leben vor. So beginnt der Frühling in London noch immer mit dem Ruderrennen Oxford gegen Cambridge. Es folgen das Pferderennen in Ascot und die „Chelsea Flower Show“ – das erste Glas Champagner mit Freunden –, bald darauf startet das KlassikFestival von Glyndebourne. Die Royal Regatta steht im Zeichen der Bootsjacketts, beim Tennis in Wimbledon ist es Zeit für einen Pimm’s Cup No. 1, der einen über die Zeit bis zum Start der Moorhuhnjagd im August bringt. Wem das zu elitär klingt, der soll auf dem Land dabei sein, wenn auf einer Messe lokale Produkte ausgestellt werden. Oder wenn auf der Isle of Wight das Gummientchen-Rennen losgeht: Tausende von Enthusiasten, die über Monate ihr Modell designt haben, die über sich selbst lachen und sich auf die Schulter klopfen. Das sind wir, im Wettkampf vereint. Das gibt es so sonst nirgends. Genau wie wirklich guten Tee. Das stelle ich bei den Anproben, die ich weltweit für Henry Poole vornehme, immer wieder fest. Wenn ich nach Hause komme, steht zuerst ein großer Becher auf dem Tisch, am liebsten PG Tips. Dann gehe ich in den Garten und kümmere mich um den Rasen. Das klingt wie ein Klischee? Liebe Deutsche, ich bin Engländer! e-motion “pure Black” Die dynamische Silhouette von e-motion „pure Black“ weckt Begehrlichkeiten. Besondere Faszination übt der maskuline Aluminiumschaft aus, der mit einer Guillochierung versehen ist: Seine angenehm kühle Haptik begeistert jeden technikaffinen Liebhaber der Schreibkultur. www.Faber-Castell.com Mann am tosenden Meer: Roger W. Smith ist auf der Isle of Man den Gezeiten buchstäblich ganz nah 22 MASSARBEIT D as Bild strotzt nur so vor Pathos, man könnte glauben, es sei gestellt – und doch ist alles echt, weil nur die Gezeiten eine solche Szenerie ermöglichen: Da steht er, der Hüter der Zeit, aufrecht am Rande seiner Insel, umtost von den Naturgewalten. Der Sturm schneidet in sein Gesicht, Gischtspritzer vom aufgepeitschten Meer zischen durch die Luft, am Horizont braut sich eine tiefschwarze Regenfront zusammen. Alle Verbindungen zum Mutterland sind an diesem Tag gekappt. Es wäre absurd, dieses Meer bezwingen zu wollen. Deshalb müssten sie beim Mann am Strand doch von ganz allein kommen: die Gedanken übers Ausgeliefertsein, über den dünnen Lack der Zivilisation, darüber, dass es hier vor 10.000 Jahren bei Sturm schon genauso ausgesehen haben muss wie jetzt. „Gosh“, sagt Roger W. Smith. Das heißt „Meine Güte“, und es ist unvorstellbar, dass er je zu rhetorisch härterem Material greifen würde: „Gosh, ich bin ja nun schon eine ganze Weile hier, aber so ein Wetter habe ich noch nicht erlebt.“ Das ist alles. Er stellt sich lieber fürs Foto zurecht, das ist jetzt seine Aufgabe. Haus mit der Werkstatt befindet. Das Örtchen heißt Ballaugh, die Kreuzung „The Cronk“, gefühlt besteht alles hier aus Ferienhäusern für die obere Mittelklasse – und selbst wenn man vor dem richtigen weißen Cottage steht, kann man es übersehen. Es passt so gar nicht zu dem, was man von anderen Anbietern mechanischer Luxusuhren gewöhnt ist: Seit Jahren beschleunigt sich der Wettbewerb, immer zahlreicher werden die Komplikationen wie Mondphasen und Ewige Kalender, immer hochpreisiger die Materialien, immer öfter greift man zum Superlativ; und entsprechend immer edler ausgestattet sind die Messestände und Repräsentationsräume. Auf der Insel tritt der Chef persönlich vor die Tür, der einzige Indikator für Wohlstand ist ein Land Rover vor der Tür. Hinter dem Eingang: ein kurzer Hausflur mit Birkenstocksandalen auf dem Boden, ein paar Fotos von New York an der Wand, daneben ein großer Merkzettel, der das Zusperr-Prozedere erläutert; ein Einbruch wäre eine Katastrophe. Daneben befinden sich die Werkstätten, rechts die mit den Maschinen für Platinen, Räder und Schrauben, links wird nach Durchqueren einer Küche montiert. Der Hausherr geleitet zuerst in den Maschinenraum – und beantwortet nun geduldig jede Frage. 2003 bei Smith arbeitet. Es klingt, als sei das für ihn ein guter Grund, für immer hierzubleiben. Wer seinem Chef dabei zusieht, wie er beispielsweise einen Stift dreht, der erblickt in jeder Sekunde die Mühen der Lehrzeit: Um feinmotorisch so weit zu kommen, muss man unendlich viel üben. Dabei noch einen Typen wie Daniels im Nacken zu haben, das muss jenseits aller Schmerzgrenzen gewesen sein. Doch Smith hat es geschafft, ein offenes Wesen zu behalten. „Gosh“, sagt er, „bei uns gibt es nun einmal nur richtig und falsch und nichts dazwischen. Aber das wusste ich ja schon, als ich anfing.“ Und selbst der modernste Gegenstand im Raum, ein Computer, hat indirekt mit Daniels zu tun. Zwei Serien hat Smith bisher im Angebot, derzeit arbeitet er an neuen Modellen. Wie sein Lehrmeister denkt er seine Uhren zuerst vom Design des Zifferblatts aus: „Man muss wissen, wie das Modell aussieht, dann kann man sich um die Funktionen kümmern“, sagt Roger W. Smith, die Lupe an seiner Brille wippt im Takt des schnellen Kopfnickens. Bisher sind seine Stücke eher einfach konstruiert: Die Serie II ist ein Handaufzug-Kaliber mit Gangreserveanzeige, kleiner Sekunde 3 und römischen Ziffern. Für die neuen Ein Mann für alle Zeiten Roger W. Smith ist einer der letzten echten Uhrmacher der Welt. Jährlich fertigt er höchstens zwölf Stücke an. Philip Cassier erlebte auf der Isle of Man, wie viel es dazu braucht. Martin U. K. Lengemann fotografierte Es gehört zu den ältesten Missverständnissen im Umgang mit Uhrmachern, zu glauben, sie wären qua Beruf dem Mysterium der Zeit auf der Spur – und damit dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie können es gar nicht sein: Hunderte Werkteile, die auf Hundertstel von Millimetern genau gearbeitet sein müssen, in ein akkurates Verhältnis zu setzen, das verlangt ihnen alles ab. Da bleibt kein Raum für allgemeine Reflexionen. Wo heute beinahe alle in diesem Handwerk sich entweder in einer Manufaktur spezialisiert oder sich auf Handel und Reparatur verlegt haben, übt Roger W. Smith seinen Beruf im Wortsinne aus: Jährlich machen er und seine sechs Angestellten zehn bis zwölf Armbanduhren, vom Zahnrad bis zum Zifferblatt; sie beginnen mit nichts und präsentieren am Ende eine individuelle Lösung. „Bespoke“ sagen die Briten zu diesem Verfahren, es stammt aus der Schneiderei, weil dort früher der Schneider dem Kunden nach Absprache ein Stück Stoff zurücklegte. Im Autobau werben Marken wie Rolls-Royce mit dem Wort: Es meint, dass der Kunde fast jedes Detail selbst festlegen kann, sein eigener Designer wird. Smiths Uhren kosten ab 100.000 Pfund aufwärts, und nichts an ihnen wirkt protzig. Darum, wie all das möglich ist, wird sich beim Besuch in seinem Atelier alles drehen – und das ist am Ende mehr, als man erfassen kann. Es beginnt damit, dass man Roger W. Smith und die Seinen kaum findet. Seine Frau Caroline hatte eine Karte per E-Mail geschickt, um mitzuteilen, wo auf der Isle of Man sich das Natürlich kann Smith auf modernstes Gerät zurückgreifen – seine Platinen fräst beispielsweise eine Maschine aus Deutschland, ständig von einem Mitarbeiter überwacht, wie sich versteht. Aber manche Maschinen stammen noch aus dem frühen 19. Jahrhundert. Das erzählt einem mehr über den Mann Roger W. Smith als über seine Technik: Sein Lehrmeister war der Brite George Daniels. Kennern gilt er als der bedeutendste Uhrmacher des 20. Jahrhunderts. Daniels war es, der in den 70erJahren die Co-Axial-Hemmung erfand, sie ließ Uhren so viel stabiler laufen, dass Omega sie 1999 übernahm. Als er 2011 auf der Isle of Man starb, übernahm Smith seine Maschinen. Aber nicht nur deshalb ist Daniels überall in der Werkstatt präsent. Smiths Stimme senkt sich ganz unwillkürlich, wenn er über seinen Meister spricht, seine Angestellten beginnen sogar zu flüstern. Zwei Jahre lang hatte Smith, Jahrgang 1970, als Teen auf der Uhrmacherschule in Manchester an seiner ersten Taschenuhr gearbeitet. Daniels blickte hinter seiner dicken Brille hervor und vernichtete ihn mit den Worten „sieht handgemacht aus“. Viele hätten spätestens da hingeschmissen, wären nie wiedergekommen. Doch Smith fühlte sich herausgefordert. Drei Jahre später akzeptierte Daniels das nächste Ergebnis und kümmerte sich fortan um den Jungen. Das gilt in der Werkstatt bis heute als Sensation – Daniels lebte ausschließlich für seine Uhren, er war nicht von dieser Welt: „Roger war der Einzige, der ihm einigermaßen nahekam“, raunt Andy Jones, der mit seinen 49 Jahren seit Das letzte Modell seines Meisters George Daniels fertigt nun Smith 3 Modelle plant Smith Dinge wie Großdatum und Mondphase, da hat er viel am Computer zu tun. Seit Jahren entwirft und verwirft er, setzt neu an. Auf einige Erfahrungswerte kann er zurückgreifen: Die letzte George-Daniels-Serie verfügte über eine Datumsanzeige – und sie wird nun bei Smith produziert. Britisches Design, so erklärt er mit Blick auf den Flachbildschirm, könne man im Uhrenbau an seiner gewissen Schwere erkennen. Das Gehäuse sei recht dick, das Werk sehr tief konstruiert. An Smiths Handgelenk tickt übrigens das einfachste Rolex-Dreizeiger-Modell mit Stahlgehäuse: Erstens kann er sich seine eigenen Stücke nicht leisten. Und zweitens mag Rolex, was das Image betrifft, noch im- die Isle of Man: Im Sommer kommen Biker aus aller Welt hierher, um sich bei diversen Rennen ihren Geschwindigkeitsrausch abzuholen. Fast jedes Jahr sterben ein paar von ihnen auf den unebenen Straßen. Nichts, woran man hier Anstoß nehmen würde – die Raser hätten ja aufpassen können. Außerdem kann man es sich einfach nicht leisten, auf das Rennen zu verzichten, noch haben nicht genug zahlungskräftige Touris die Insel als Urlaubsort entdeckt. Smith erzählt, er spiele Feldhockey als Ausgleich zum vielen Stillsitzen. Da geht es ziemlich zur Sache, und er würde es gern mal mit Hurling probieren. Bei dieser Sportart darf man die Kugel aus der Hand schlagen – auch da gibt es Tote. „Über Zeit weiß ich nur, dass ich nicht genügend habe“ MARTIN U.K. LENGEMANN (3) R O G E R W. S M I T H nicht machen soll“, sagt er. Daran müsse er sich allerdings häufig erinnern. Andererseits glaube er, nach der Ausbildung wirklich etwas von Anfang bis Ende zu beherrschen. Wahrscheinlich will sein Meister genau dieses Bemühen sehen. Er kennt es selbst – und die harten Zeiten waren nach der Lehre noch lange nicht zu Ende. Finanziell war die Anfangszeit der eigenen Firma nach der Jahrtausendwende schwierig, als niemand Roger W. Smith kannte und niemand zu ihm kam. Inzwischen hat er so viele Kunden, dass jeder zweieinhalb Jahre lang auf sein Stück warten muss. Smith kennt beinahe jeden persönlich, lädt ihn in seine Werkstatt ein, um die Wünsche zu besprechen: „Und ob Sie’s glauben oder nicht – aber es macht einen Unterschied beim Bauen, wie sehr ich den Kunden mag.“ George Daniels war da noch entschiedener – wen er nicht leiden konnte, der bekam keine Uhr. Seinem Schüler ist aufgefallen, dass kaum Russen und Araber zu ihm kommen. „Die sind es nicht gewohnt, auf ein Produkt zu warten“, sagt Roger W. Smith lächelnd. Seine Klientel besteht zumeist aus Unternehmern und reichen Enthusiasten. Namen nennt er nicht, diese Diskretion ist im Bespoke-Geschäft traditionell im Preis inbegriffen: bevor Teepause: Vor Smith liegt George Daniels’ Standardwerk über Uhrmacherei – den Stuhl hat Smith auch von ihm geerbt 24 mer etwas speziell sein – doch die Werke der Schweizer Marke sind in ihrer Preisklasse die robustesten und ausgereiftesten überhaupt, das gesteht Smith gern zu. Dass er stets darauf insistiert, nur ein einfacher Uhrmacher zu sein, mag man als „landestypisches Verhalten“ abtun. Aber die Schweizer Manufakturen mit ihren Milliardenumsätzen sind tatsächlich keine Konkurrenz, sie bedienen einen ganz anderen Markt als er. Smith lädt nun zur geistigen Stärkung zum Mittagessen in den nächsten Pub ein. Die Fahrt geht über grüne Hügel und vorbei an noch viel mehr Cottages aller Größen – beim großen Rosamunde-Pilcher-Scouting fürs ZDF würde diese Insel in der Irischen See allerdings glatt durchfallen: Der Wind ist zu steif, Meer und Landschaft sind zu rau, als dass hier irgendwelche Deutschen auch nur halbwegs glaubwürdig als Lords und Ladys verkleidet durch die Landschaft hampeln könnten. Überhaupt, sagt Smith, sei seine Heimat ein sehr eigenes Stückchen Erde. Lange Zeit bitterarm, verwaltet sie sich größtenteils selbst. Es gibt sogar eigene Pfundnoten mit dem Wappen der Insulaner darauf: drei Beine, die Speichen eines Rades bilden und so symbolisieren, dass die Bewohner der Isle of Man immer Boden unter den Füßen finden werden. In England erkennt niemand die Scheine. Im Pub bestellt Smith Rindfleisch-Pie mit Chips und genehmigt sich ein Mittagspint vom Fass, das lokale Bitter. Das ist hier völlig normal; ebenso wie dass es freitags nach Feierabend ein Bier mit den Angestellten gibt, bevor es zur Frau und den zwei Kindern geht. Überall haben sie im Gastraum Fotos von Motorradrennen aufgehängt – dafür kennt man Zur Attraktivität seiner Heimat versucht Smith nach Kräften beizutragen. Er wird sein Geschäft ausbauen und in eine größere Produktionsstätte umziehen. Mehr als 15 Modelle jährlich wird er allerdings auch dort nicht fertigen; es gibt kaum genügend Leute auf dieser Welt, die dazu in der Lage sind, eine Uhr zu bauen. Deshalb können Jugendliche von der Insel bei ihm in die Lehre gehen – vorausgesetzt, sie bestehen den rigorosen Aufnahmetest: „Es geht nicht so sehr darum, was einer schon kann“, sagt Smith beim Kaffee. „Ich will, dass die Bewerber Fragen stellen, die auf Interesse schließen lassen. Wer nichts fragt, hat keine Chance.“ – „Wie viele Stunden täglich denken Sie denn an Uhrmacherei, Roger?“ – „Gosh. Ich glaube, es sind 24.“ Smiths jetziger Lehrling heißt Josh Horton. Nach der Rückkehr in die Werkstatt sitzt er über einem Gehäuse und versucht wieder und wieder, ein Zahnrad an die richtige Stelle zu rücken. Ein ernster 25-Jähriger in Jeanshemd und Kittel, der sich auf dem College mit Philosophie beschäftigte, bevor er auf Smiths Anzeige in der Lokalzeitung aufmerksam wurde. In der Schule war er gut in Mathe und handwerklich recht begabt. Doch eine Uhr zu bauen, das sei etwas ganz anderes. Horton erzählt von den Rückschlägen in seiner Lehrzeit. Wie er damit zurechtkomme? „Jedes Mal, wenn ich einen Fehler mache, lerne ich, wie ich’s der Name herausgegeben wird, muss die Person das Zeitliche gesegnet haben, es sei denn, es liegt eine ausdrückliche Erlaubnis vor. Sicher könnte Smith inzwischen höhere Summen für seine Unikate verlangen – komplizierte Uhren aus den großen Manufakturen kosten oft siebenstellige Beträge: „Daran ist nichts falsch“, sagt er, „aber das wäre für mich der Schritt in eine Welt, die ich nicht mehr verstehe.“ Und doch bleibt beim Tee am großen Holztisch in der Küche diese gemeine Frage: Angenommen, eine der Schweizer Firmen wie die Swatch Group, Patek Philippe oder Rolex käme – und würde ihm erklären, dass Geld keine Rolle spiele, solange er unter ihrem Namen arbeite? Könnte er widerstehen? „Gosh“, sagt Roger W. Smith, um einen Augenblick zum Nachdenken zu gewinnen. „Man soll im Leben niemals nie sagen. Aber in den kommenden 15, 20 Jahren? Nein. Nein, dazu habe ich selbst einfach zu viel vor.“ Man darf es ihm glauben. Denn selbstverständlich haben wir ihn doch noch auf seinen Zeitbegriff angesprochen, so viel Philosophie musste sein. Und haben nach einem weiteren „Gosh“ die Antwort erhalten, er könne unmöglich antworten: „Über Zeit weiß ich nur, dass ich nicht genügend habe.“ B E R L I N BY HERRENDORF LIETZENBURGER STRASSE 99 10707 BERLIN T. +49 (0)30 755 4204 56 MAIL@MINOTTI-BERLIN.DE AGENTEN DEUTSCHLAND: PLZ 0/1/2/3/4/5 HANDELSAGENTUR STOLLENWERK T. 0221 2828259 - TIM.STOLLENWERK@WEB.DE PLZ 6/7/8/9 HANDELSAGENTUR RIEXINGER T. 07121 325953 - INFO@HANDELSAGENTUR-RIEXINGER.DE INDIVIDUELLE EINRICHTUNGSBERATUNG SITZSYSTEM LEONARD | DESIGN RODOLFO DORDONI CREATE YOUR OWN DESIGN EXPERIENCE AT MINOTTI.COM GUT VERNETZT Ruth Chapman, Chefin von Matches und matchesfashion.com „Unser Job ist es, zu filtern“ Welchen Einfluss hat die digitale Revolution auf die Modewelt? Die Unternehmerin Ruth Chapman war mit matchesfashion.com als eine der Ersten im Internet präsent. Außerdem gehören elf Boutiquen in London zu U 26 ihrem Imperium. Heike Blümner sprach mit ihr über den Wert wahrer Individualität im Netz – und natürlich über ihren Kleiderschrank Um es gleich vorweg zu sagen: Ja, man würde dieser Frau wohl sofort eine ganze Garderobe abkaufen. Ruth Chapman strahlt genau die Art von Lässigkeit aus, die einem kein Designer der Welt auf den Leib schneidern kann. Sie trägt eine lockere, dezent geblümte Seidenbluse mit Schalkragen zu einer grauen Hose und Plateausandalen und wirkt, als hätte sie sich keine Sekunde darüber den Kopf zerbrochen, und empfängt im Townhouse ihres Unternehmens im Londoner Stadtteil Marylebone. Es ist der Ort, an dem die kaufkräftigste Kundschaft ein und aus geht. Diejenigen, denen eine normale Boutique zu klein und das Internet zu groß ist. In den salonartigen Räumen erhalten diese Kunden Beratung und zu jedem Anlass passende Kleidungsstücke präsentiert. Natürlich nicht mehr von Ruth Chapman persönlich. Als Mitbegründerin und einer der beiden CEOs der vier Londoner „Matches“-Boutiquen, sieben Monobrandshops und der Onlinedestination „matchesfashion.com“ hat sie inzwischen andere Aufgaben. 1987 strich sie die Wände ihres ersten „Matches“-Ladens in Wimbledon zusammen mit ihrem Mann Tom noch selbst. Knapp 30 Jahre später haben die beiden aus diesen Anfängen ein globales Modeimperium gebaut. Rund 400 Labels verschicken sie an Kunden und Kundinnen in 195 Länder. Chapman steht für individuelle Beratung und ein sicheres Ge- spür für interessante Newcomer. Und auch zu Hause bei den Chapmans ist einiges los: Einen Sohn und zwei Töchter im Alter von 22, 20 und 16 Jahren hat das Paar. Einige typische Generationenkonflikte dürften jedoch bei dieser Mutter nie eine Rolle gespielt haben: Von Mode versteht sie nämlich mindestens genauso viel wie vom digitalen Zeitalter. Das erste Gefühl, das einen in Zusammenhang mit Ihrer Person beschleicht, ist zugegebenermaßen Neid: Haben Sie den größten virtuellen Kleiderschrank der Welt, auf den man nach Lust und Laune Zugriff haben kann? Theoretisch ja, aber da ich so viel arbeite, habe ich wenig Zeit, mich darin in Ruhe umzusehen. Und wenn es dann doch einmal geht, passiert es sehr oft, dass unsere Kundinnen schneller waren als ich und meine Lieblingssachen oft schon weg sind. Wie schafft man es, von einer kleinen Boutique zum Global Player zu werden? Wir haben über die Jahre eine große Sensibilität für Luxusartikel entwickelt und ruhen uns nicht auf unserem Status aus. Wenn den Kunden etwas gefällt, füttern wir sie nicht endlos damit an. Wir wollen, dass sie sich und wir uns weiterentwickeln – und das hat funktioniert. Der Händler als Mentor ist ein Traum, der oft nicht in Erfüllung geht, weil die Kunden lieber auf Altbewährtes setzen. Gerade Deutschland ist da vergleichsweise konservativ. Ja, es ist nicht einfach, Kunden anzuleiten. In Deutschland sind sie sehr anspruchsvoll, aber sie neigen auch zu Wiederholungskäufen. Als ich dort war, fiel mir zum Beispiel auf, wie viele Frauen Valentino-Schuhe mit Nietenbesatz trugen. Sie gehören dort scheinbar zur Grundausstattung. In Berlin und München gibt es aber auch Kunden, die die Grenzen weiter ausloten. Was können Sie uns noch über die Vorlieben der Deutschen sagen? Mir hat mal jemand gesagt: „Wenn du den deutschen Markt erobern willst, musst du diese zwei Labels – die ich jetzt nicht nennen werde – anbieten.“ Aber wir verkaufen keine dieser beiden Marken, weil sie nicht zu uns passen. Trotzdem sind wir gut am deutschen Markt angekommen. Große Marken wie Isabel Marant, Max Mara, Valentino und Saint Laurent verkaufen sich in Deutschland besonders gut. Im Winter ist dort die Nachfrage nach Mänteln außerdem auffallend Tasche von Balenhoch. ciaga exklusiv in Chapmans OnlineShop Und wie muss man sich die britische Kundin vorstellen? Sie kennt sich sehr gut mit Mode FRANTZESCO KANGARIS; MATCHESFASHION.COM (5)/INTERTOPICS Kleid von Jonathan Saunders für matchesfashion.com aus, bis in die letzten Details. Außerdem ist sie ziemlich glamourös. Auch sie mag die große Designer wie Fendi oder Balenciaga, aber auch kleinere Labels wie Erdem oder Mary Katrantzou. Sehe ich auf Ihrer Website in Berlin eine andere Auswahl an Kleidung als in Hongkong? Nein, man sieht überall auf der Welt das Gleiche. In der Zukunft werden wir aber in der jeweiligen Sprache auf dem Markt erscheinen und auch unsere Mode-Features mehr nach den unterschiedlichen Ländern ausrichten. Sie arbeiten mit Data- und Vor-Ort-Analysen und haben ein ganzes Team von Einkäufern. Inwiefern spielt Ihr persönlicher Stil in Ihrem Unternehmen noch eine Rolle? Historisch hat sicher vieles mit mir begonnen, aber inzwischen tritt mein Stil eher in den Hintergrund. Wir sind ein Team, und meine Rolle ist es, Orientierung zu geben. Bei uns arbeiten Leute in allen Altersgruppen, es gibt Frauen in den Zwanzigern, die wichtige Posten haben und jährlich für Millionen von Pfund Ware einkaufen, aber auch Dreißigund Vierzigjährige und dann natürlich mich. Dieser Mix der Perspektiven ist ganz wichtig. Bestseller online: Schuhe von Joshua Sanders Trotz aller Vielfalt ist die Modewelt auch langweiliger geworden, weil heutzutage fast alles überall auf der Welt erhältlich ist. Früher fuhr man nach London und kaufte sich ein paar Schuhe, die es nur dort gab. Das ist heute fast unmöglich geworden. Stimmt, das ist ein Problem. Deshalb ist die Auswahl das, was uns ausmacht und von anderen unterscheidet. Es bedeutet, dass wir, wenn wir große Marken einkaufen, immer schauen, dass wir eine möglichst außergewöhnliche Selektion treffen. Wir kaufen nichts, was man zum Beispiel auch an einem Flughafen finden würde. Selbst im Denimbereich setzen wir nur auf besondere Stücke. Dann haben wir exklusive Kollaborationen mit Designern, zum Beispiel kommt demnächst eine Taschenkollektion von Mary Katrantzou bei uns heraus. Zusätzlich legen wir großen Wert darauf, jede Saison neue Talente zu finden und sie bei uns zu präsentieren. Die Suche nach dem Besonderen treibt uns an. Gerade haben wir in Paris das Hutlabel Gigi Burris entdeckt. Wir wollen, dass die Leute sagen: „Wow, toll, wo hast du das denn her?“ Damit überträgt sich die Rolle des Mentors auch auf den Kunden. Was muss ich als junger Designer tun, um von Ihnen zur Kenntnis genommen zu werden? Das Wichtigste ist, dass Sie Ihre eigene DNA haben. Es muss eine große Kreativität erkennbar sein. Das Produkt muss gut gemacht sein, und die Produktion muss laufen. Und Sie müssen bereit sein, hart zu arbeiten, denn wir suchen nach Leuten, mit denen wir langfristig etwas aufbauen können. Es reicht jedenfalls nicht, nur eine tolle Idee zu haben. Marcus Almeida ist dafür ein gutes Beispiel. Wir haben mit ihm von Anfang an gearbeitet, viele haben ihn kopiert, aber er ist sich treu geblieben. Oder Manzur Gavriel – sie haben im Prinzip ein geniales Produkt entwickelt, das total zu ihnen passt. Auch sie werden oft kopiert, aber es klappt nicht, denn die Käuferin ist intelligent. Und wenn wir irgendwo anders eine Kopie sehen, würden wir sie nie kaufen, auch wenn sie nur halb so teuer wäre. Auf der anderen Seite gibt es immer noch einige Designer, die ihre Kleidung nicht in einem Online-Shop sehen wollen – egal wie gut die Präsentation ist. Viele haben Angst, dass der Luxusaspekt ihrer Arbeit nicht ausreichend transportiert wird. Aber inzwischen merken sie auch, dass sie ins Hintertreffen geraten werden, wenn sie nicht mitmachen. Deshalb ist es so wichtig, dass Unternehmen wie wir auf jedes Detail achten. Der richtige Vertrieb ist der Dreh- und Angelpunkt einer Marke. Als Sie 2007 matchesfashion.com gründeten, war das noch eine Zeit, als viele Leute sagten, dass es unmöglich sei, hochpreisige Designermode erfolgreich online zu verkaufen. Das hat sich nicht bewahrheitet. Ja, und wir stehen immer noch am Anfang, wir sehen gerade überhaupt nur die Spitze des Eisbergs. Trotzdem glaube ich an das intelligente Zusammenspiel von echten und virtuellen Shops. Beides hat seine Vor- und Nachteile, und es ist gut, beides miteinander zu verbinden. Im Prinzip geht es in beiden Welten um qualitativ hochwertige Erfahrungen. Viele Ladenbesitzer beklagen sich, dass die Verkaufszyklen durch das Onlineangebot immer kürzer werden. Die Sales starten immer früher und schnüren ihnen die Kehle zu. Sie sind in beiden Welten zu Hause. Wie halten Sie es mit dem Problem? Ansatzweise kann ich das nachvollziehen. Bei uns geht der Sale Mitte Juni und kurz nach Weihnachten los – alles andere wäre verrückt. Ich glaube, dass erfolgreiche Händler sich nicht auf zu frühe Daten einlassen sollten, es gefällt auch den Designern überhaupt nicht. Auch sonst beschleunigt sich alles mehr und mehr: Ständig gibt es irgendwo eine neue Kollektion, Fashion Weeks finden in abgelegenen Städten statt. Das Angebot ist so überwältigend, dass man manchmal keine Lust mehr hat, überhaupt noch etwas zu kaufen. Die limitierte Tasche von Mary Katrantzou gibt es nur im Online-Shop Wenn bei uns neue Labels dazukommen, müssen wir uns im Gegenzug von anderen verabschieden. Es kommt alles auf den Zuschnitt an. Es gibt viel Neues und viel Lärm drumherum, es ist unser Job, das zu filtern. Luxuriöse Knappheit: Bikinioberteile von Kini sind schnell ausverkauft Wie groß ist denn nun Ihr echter Kleiderschrank? Nicht so groß, wie man denken würde – obwohl mein Mann das wahrscheinlich anders sieht. Im Schlafzimmer habe ich einen Schrank mit den Sachen, die ich jeden Tag anziehe, und in einem anderen Schlafzimmer steht noch ein Schrank, wo die Sachen aus der jeweils anderen Saison hängen. Zweimal im Jahr wird umgehängt, dabei miste ich aus und füge Neues hinzu. Aber ja, ich gebe tatsächlich viel Geld für Kleidung aus. Interessieren sich Ihre Kinder für Mode? Ja – sie lieben sie, und meine zwanzigjährige Tochter würde am liebsten wie verrückt zuschlagen, wenn sie dürfte. Ab und zu erlaube ich, dass sie sich etwas aussucht. Das Tolle ist: Wenn sie dann etwas bekommt, so wie neulich eine winzige Weste von Saint Laurent oder eine Stella McCartney-Bomberjacke, die sie sich so sehr gewünscht hat, dann zieht sie das Stück gar nicht mehr aus. Wie ist das bei Ihnen? Bekommen Sie noch einen emotionalen Kick von Mode? Total! Im Team kennen wir dieses Gefühl auch. Gerade erst ging es uns so bei der Designerin Grace Wales Bonner. Ihre Show am Central Saint Martins war so wunderschön! Sie ist noch nicht so weit, dass man die Sachen wirklich einkaufen kann, aber als ich nach der Show zurück ins Büro kam, sagte ich zu allen Mitarbeitern: „Packt eure Sachen, geht dort hin und schaut euch die Sachen an.“ Ich bin mir sicher, dass sie es zu etwas bringen wird, denn ihre Vision ist sehr kraftvoll, und die Liebe zum Produkt ist klar zu erkennen. Und bei einzelnen Teilen? Sie können bei mir auch noch eine starke Wirkung entfalten, aber wenn ich etwas nicht bekommen kann, macht es mir nichts mehr aus. Da bin ich sofort drüber hinweg. Lassen Sie die Modewelt manchmal komplett hinter sich? Ja, zuletzt war ich Skifahren. Es ist wichtig, zwischendurch seinen Körper und auch seinen Geist auf andere Art einzusetzen. Das ist das beste Mittel, um abzuschalten. 27 dige Identität, darum, wer ich sein könnte und wollte. Das hatte aber etwas sehr Befreiendes. Meine Ideen nahmen plötzlich Form an. NACHWUCHS Alles Rocha Was ist Mode für Sie: Ist sie Kleidung, ein Lifestyle oder eine Haltung? Ganz klar Kleidung, kein Trend, keine Szene. Mir geht es darum, wie man sich darin fühlt. Mich interessiert die persönliche Sammlung von Kleidung als das, was man erlebt, verdaut und dann hinter sich lässt. Alltag und Kunst sind ihre Inspiration: Seit einigen Saisons wird Simone Rocha als eines der größten Talente der Designszene gehandelt. Wir haben sie im alten Arbeiterviertel Islington getroffen Die Begriffe Zeitgeist und Zeitlosigkeit ... ... finde ich eine schöne Kombination. Mir ist wichtig, dass meine Mode zeitlos ist. Ein ‚it bag‘-Gefühl interessiert mich nicht. Etwas, was gehypt wird und, sobald es nicht mehr ‚in‘ ist, seinen Wert verliert, ist Zeitverlust. E ALEX FRANCO; GETTY IMAGES (2); SIMONE ROCHA rst 2010 gab die irische Modedesignerin Simone Rocha ihr Debüt bei der Londoner Modewoche, frisch vom Central Saint Martins College. In dieser kurzen Zeit ist ihr bereits ein unverkennbares Markenzeichen gelungen: ihr Brogue-Schuh, ein ursprünglich klassischer Männerschuh mit Lochmuster, feminin abgeändert durch einen durchsichtigen Absatz. Simone ist die Tochter des berühmten chinesisch-portugiesischen Modemachers und Künstlers John Rocha. Ihre irische Mutter Odette ist ihre Produktmanagerin, und Bruder Max kümmert sich um die Musik für ihre Shows. Der progressiven Modewelt, inklusive Suzy Menkes, Anna Wintour, Rei Kawakubo und Karl Lagerfeld ist sie sofort aufgefallen. Das Interview findet im Londoner Stadtteil Islington statt, einer Gegend, in der viele alte Lager in Ateliers für Künstler und Designer umgestaltet wurden. Die Atmosphäre in ihrem hellen Studio ist an diesem Aprilmorgen „ungewöhnlich ruhig und konzentriert“. Die Mitarbeiter und sie bereiten die neue Saison vor, während von der Wand ein Triptychon von Francis Bacon in flammenden Fleischfarben die Ruhe aufwühlt. Mit solchen Kunstwerken ist die 29-jährige Irin aufgewachsen. Welche Rolle spielt Ihr Vater? Wussten Sie früh, dass Sie Modedesignerin werden wollten? Es war kein Heureka-Moment. Vielleicht liegt der Grund, warum ich mich so wohlfühle, auch darin, dass ich mit Mode aufgewachsen bin. Ich war ständig bei meinem Vater im Studio. Ich habe all die Höhen und Tiefen des täglichen Lebens und seiner Karriere mitbekommen. Ich bin mit dem Wissen aufgewachsen, was es heißt, ein eigenes Label zu führen. Dadurch nehme ich das alles auch nicht zu ernst. 28 Welchen Einfluss hatte Louise Wilson, die jüngst verstorbene, legendäre Leiterin des Mas- Wie gehen Sie eine neue Kollektion an? Ich zeichne kaum. Ich bin nicht gut im Zeichnen. Ich habe also eine Idee und versuche diese, so gut ich kann, zu erklären. Im Moment bin ich sehr an Volumen interessiert. Ärmel interessieren mich dabei besonders. Dazu habe ich mir viktorianische Frauenbilder angesehen und recherchiert, um die Idee genau erfassen zu können. Gleichzeitig fange ich an, mich mit möglichen Materialien zu beschäftigen, mit Handarbeiten und Stickereien. Und ich bin immer auf der Suche nach Kontrasten. Wie schwierig ist es, unabhängig zu bleiben? Selbst Dries Van Noten bekommt immer wieder Übernahme-Angebote. Es ist kein leichter Weg. Und ich bewundere Dries Van Noten auch dafür, dass es ihm gelingt, unabhängig zu bleiben. Es ist ein Luxus, aber es ist auch wahnsinnig viel Arbeit. Immerhin erlaubt es einem, seine eigenen Fehler zu machen, die eigenen Hochs und Tiefs zu erleben. Was inspiriert Sie am stärksten? Es ist ein Mix aus den Menschen, die mir tagtäglich begegnen, aus Alltagssituationen, denn die Idee von Realität ist mir für meine Arbeit ganz wichtig. Oder die Arbeiten von Künstlern, die ich bewundere – wie Louise Bourgeois, Francis Bacon, Lucian Freud. Ihre letzte Kollektion war von der spät entdeckten französisch-amerikanischen Bildhauerin Louise Bourgeois beeinflusst. Haben Sie ihre Ausstellung in München gesehen? Ja, ich war sogar zur Eröffnung dort. Eine außergewöhnliche Ausstellung. Ihre Arbeit ist sehr persönlich. Ihre Eltern haben Teppiche restauriert, dann hat Louise selbst Teppiche gemacht, und ich arbeite mit Teppichmaterial für meine Kleider. Deshalb war meine letzte Show eine Hommage auf Louise Bourgeois. Als der Designer Haider Ackermann von Lagerfeld so gelobt wurde wie Sie jetzt, haben die Medien spekuliert, er sei der mögliche Nachfolger bei Chanel. Könnten Sie sich vorstellen, zu einem solchen Label zu wechseln? Im Moment bin ich sehr glücklich mit meinem eigenen Label. Aber wer weiß? Ich bin jemand, der Dinge ungern ausschließt. Chanel abzusagen wäre jedenfalls so gut wie unmöglich. (lacht) So stellt sich Simone Rocha den kommenden Herbst und Winter vor: Runway-Stücke aus ihrer aktuellen Kollektion terstudiengangs Fashion und Design am Saint Martins College in London auf Ihr Design? Sie hat mir immens dabei geholfen, mir über mich selbst und meine eigene Biografie bewusst zu werden. Dabei war sie sehr schwierig und streng. Aber ihre Strenge kam aus einer Liebe heraus. Die Begegnung und die Reibung mit ihr haben mich als Designerin auf den Weg gebracht. Ich kam frisch aus Irland, mein Vater ist sehr bekannt dort, ich hatte lauter Ideen, die ich aufgeschnappt hatte. Das war Louise Wilson alles egal: Sie wollte wissen, wer ich bin, es ging um meine eigenstän- Wie wichtig ist das Material, die Stoffe, mit denen Sie arbeiten? Ganz wesentlich. Viele Stoffe entwickeln wir selbst. Dazu arbeiten wir mit traditionellen Webereien und Stickereien. Das Handwerk ist das A und O für mich, die Haptik auch. Das sind die Grundwerkzeuge, und das Allererste, worum ich mich kümmere. Was tragen Sie gern? Mich selbst, Stücke meines Vaters, Silhouetten von Comme des Garçons und häufig auch Vintage-Petticoats oder Vintage-Schuhe. Auch Ihre Schuhe, die Brogues? Ja. Ich hatte überlegt, wie ich diesen traditionell männlichen Schuh femininer gestalten kann. Da kam mir die Idee, ihm einen Absatz zu geben. Außerdem wollte ich eine Art Trompe-l’Œil kreieren, so habe ich den Absatz durchsichtig gemacht. Von Weitem betrachtet, sieht es so aus, als stünde man auf den Zehenspitzen, man sieht den Absatz nicht. Birte Carolin Sebastian ACCESSOIRES Check them out, lads: Slipons von Louis Vuitton Lebe lieber lustig Alles im grünen Bereich: Fransen-Tasche von Hunter „Humor ist der Regenschirm der Weisen“, schrieb Erich Kästner. Für alle, die auf Flaggen fliegen: „Britannia Skull Box-Clutch“ von Alexander McQueen über net-aporter.com Und deshalb hat man im feuchten Großbritannien wohl auch Keen on Queen Elizabeth I: iPhone Hülle über zazzle.de Dürfen wir Sie anstiften? Tasche von Anya Hindmarch über stylebop.com Hello, Kitten! Handtasche von Charlotte Olympia via mytheresa.com einen Sinn für trockenen Tomato-Time: Uhr „New Gent“ von Swatch Humor entwickelt. In diesem Sinne: Ein paar spaßige Begleiter Tartan to go: Die Sneaker sind von Chiara Ferragni über reyerlooks.com Gärtnerinnen-Glück: LederShopper von Radley London Jetzt geht’s rund: Brille von Paul Smith Cheerry up! Clutch von Saint Laurent ZUSAMMENGESTELLT VON MIRA WIESINGER; FOTOS: HERSTELLER Say Pleeease! Tasche von Diane von Furstenberg Fun in the sun: Roter Wayfarer von Ray Ban So hundsome! Limited Edition Clutch von Jimmy Choo Damit jagt man gern den Hund vor die Tür: Gummistiefel von Tom Joule gibt’s über zalando.de Patriotischer Standpunkt: Die Boots sind von Dr Martens 29 TALENTE BIG IN LONDON Was hat London mit New York gemein? Richtig, wer es hier geschafft hat, schafft es überall. Das gilt besonders für die Kreativbranche. Paul Smith hat für uns spannende, aufstrebende Deutsche im „Balthazar“-Restaurant in Porträts festgehalten. Wir finden, der Erfolg steht ihnen gut 30 FOTOS: PAUL SMITH, INTERVIEWS: INGA GRIESE STYLING: TANJA MARTIN MAKE-UP: NAOKO SCINTU HAARE: LARRY KING PRODUKTION: CHLOE RIDLEY C/O ABOUD CREATIVE Trenchcoat und Kleid: Stella McCartney. Stiefelette: Louis Vuitton JULE WAIBEL, KÜNSTLERIN UND PRODUKT-DESIGNERIN Ich bin von Stuttgart nach London gezogen, um meinen Master in Produktdesign zu machen. Im ersten Jahr war mir die ganze Zeit ein bisschen schlecht vor Anstrengung. Das College, an dem ich war, fordert wahnsinnig viel, und sie kitzeln nach allen Regeln der Kunst deinen eigenen Stil aus dir heraus. In Deutschland ging es immer nur um „Form follows Function“ und die Nachwehen des Bauhauses. Davon musste ich hier ablassen. Ich weiß noch, wie meine Tutorin zu mir gesagt hat: „Jule, es ist auch okay, wenn es nur schön ausschaut.“ Ich habe mich dann auf Objekte in Falttechniken spezialisiert, meine Abschlussarbeit war ein Kleid, das ich dann im Anschluss für Bershka für 75 Länder und Schaufenster interpretiert habe. Inzwischen habe ich eine Reihe Sitzmöbel aus gefaltetem Wollfilz entworfen, die auf der Messe in Köln erfolgreich gezeigt wurde. Ich hätte davor nie gedacht, dass ich mich selbstständig mache. Diese Option wurde mir in Deutschland niemals aufgezeigt. Doch hier lernt man: Es ist alles möglich. Man muss halt Mut haben und daran glauben. Ich brauche London auch, um mich in meinem Weg zu bestärken. Sakko und Hose: Lanvin. T-Shirt: Paul Smith. Socken: Item M6. Turnschuhe: Agnès B. RONALD DICK, MODEFOTOGRAF 32 Mein Vater musste 1990 von Stuttgart aus beruflich nach London, da war ich 17 Jahre alt und ging natürlich mit. Ich fand es damals super, aus dem Nest rauszukommen. Meine Fotografen-Karriere habe ich mir nach und nach selbst aufgebaut, erst über die Werbung, aber heute mache ich vor allem Modefotografie. Für Paul Smith habe ich unter anderem die Kampagne für „Paul Smith Jeans“ fotografiert. Ich lebe nun schon seit Jahren in Hackney, im Osten Londons, und hier hat sich viel verändert. Einerseits ist die Infrastruktur mit vielen Cafés und Galerien sehr praktisch, andererseits ziehen viele interessante Leute, denen es hier zu teuer wird, nach und nach weg. Am Wochenende ist es oft unerträglich überlaufen. Zum Glück bin auch ich viel unterwegs. In Berlin habe ich inzwischen einen eingeschworenen Kreis von Freunden und Kollegen, mit denen ich gerne arbeite. Lustigerweise sind viele von ihnen auch aus Schwaben, allerdings habe ich sie erst in Berlin kennengelernt. Mein anderes Standbein ist im Moment Kuala Lumpur, denn dort lebt gerade meine Freundin. ILKA DUNN, CEO BEI „SWAMI’S“ Bluse und Mantel von Prada. Schuhe: Sonia Rykiel Ich bin Berlinerin in vierter Generation, habe über 30 Jahre dort gelebt und dachte dann: Alle Menschen ziehen nach Berlin, ich will jetzt auch mal was Größeres machen – und ging nach London. Ich kannte niemanden dort, jemand hatte mir empfohlen, mich bei Giles Dunn, dem Gründer vom Surflabel „Swami’s“ zu melden, er könne aushelfen. Giles hat mich am Paddington Bahnhof abgeholt und der Rest ist Geschichte: Heute bin ich CEO bei „Swami’s“ und wir haben mittlerweile einen zweijährigen Sohn. Giles hat „Swami’s“ 2000 gegründet. Wir haben schon mit Paul Smith kooperiert, verkaufen bei „Colette“ in Paris. Wir entwerfen Bikinis, Surfshirts und maßgeschneiderte Wetsuits. Die bestellen Leute aus aller Welt, sogar aus Oman. In London gibt es eine große Surf-Community, die raus nach Cornwall fährt. Morgens um drei oder vier Uhr geht’s los um den richtig guten „Swell“ zu kriegen. Es gibt sogar eine Website, da organisieren sich Cornwall-Fahrgemeinschaften. Ich bin durch meinen Mann vor sechs Jahren zum Surfen gekommen, habe aber großen Respekt vor dem Wasser. London ist unheimlich inspirierend, die Menschen kommen aus aller Welt und bringen eine unglaubliche Dynamik mit, die ich in Deutschland nicht spüre. Berlin ist dagegen immer noch ein Dorf, und abgesehen vom Nachtleben, ist es auch nicht so wild. OPHELIA FINKE, KÜNSTLERIN Nach London ging es für mich sehr schnell. Nachts rief das Central Saint Martins College bei mir an und bot mir einen Platz in einem laufenden Kurs an. Drei Tage später saß ich im Flugzeug gen London. Bei 30 Tagen Regen im Monat sprießen natürlich auch die Ideen. Jetzt arbeite ich gerade bei Tobias Rehberger und bereite mich auf mein Medizinstudium in Ulm vor. London ist zwar inspirierend, aber ich habe auch etwas Heimweh nach Frankfurt, wo ich aufgewachsen bin. Heimweh nach meiner Familie, nach grünen Bäumen, Fachwerkhäusern und der Rathausglocke zur Mittagsstunde. Wenn ich an der Kunst dranbleibe, dann hätte ich am liebsten ein Studio in der Natur. 34 Jumpsuit und Gürtel: Christian Dior. Schuhe: Chanel 35 Anzug und Pullover: Paul Smith. Basecap: privat Hose und Pullover von Paul Smith ANNETTE HULTZSCH, STRICK-DESIGNERIN STEFAN ZSCHERNITZ, FOTOGRAF Nach London kam ich zum Studieren. Heute bin ich selbst Tutorin für Strickdesign am „Royal College of Art“ und am „Central Saint Martins College“ in London sowie an der „École de la Chambre Syndicale de la Couture Parisienne“. Außerdem arbeite ich bei Paul Smith für die Männerund Frauen-Mainline im Strickbereich. Für jemanden wie mich, der in Wiesbaden aufgewachsen ist, ist das Leben hier in London vielfältig, offen und anregend. Manchmal habe ich aber Heimweh – nach Freunden und der Familie, oder den kleinen Dingen wie Brezeln und Spundekäs. In London kann man sich nicht ausruhen. Man muss eine Mission haben und die dann durchziehen. Von daher ist diese Stadt für mich und meine Arbeit im Moment der richtige Ort. Als ich hierherzog, bin ich einfach losgegangen und habe mich mit meiner Arbeit bei Magazinen beworben, und irgendwann hat es dann geklappt. Ich komme aus Hannover, habe zwischendurch schon in Schweden gelebt und in meinem Kopf gehen die Sprachen oft durcheinander. Meine wichtigsten Gedanken kommen mir aber sowieso als Bilder. Für immer festlegen kann ich mich auf London jedoch nicht. Meine Freundin ist Dänin und ich könnte mir vorstellen, dass wir irgendwann einmal nach Kopenhagen oder Berlin ziehen. 36 37 MORITZ WALDEMEYER, LICHT-DESIGNER UND INGENIEUR Zum Glück habe ich in London einen Fuß in die Tür gekriegt, bevor hier der Wahnsinn mit der Immobilienspekulation losging, denn es ist schon 20 Jahre her, dass ich von Halle an der Saale hierhergezogen bin. Das heißt, es tangiert mich nur bedingt, aber gefallen tut es mir trotzdem nicht. Ich bin Lichtdesigner und arbeite am liebsten skulptural oder mit bewegtem Licht. Technisch gesehen, ist diese Arbeit inzwischen hochkomplex: Alles läuft mit LEDs heutzutage, die von Chips gesteuert werden, für die eine eigene Software geschrieben werden muss. Die Schaltkreise bauen wir auch selbst. Dabei ist Licht im Grunde eine hochemotionale Angelegenheit, denn eine bestimmte Lichtstimmung zielt immer auch auf das Unterbewusste. Und mein Talent ist glaube ich auch, dass ich bestimmte Stimmungen intuitiv einfangen kann. Heimweh habe ich gar nicht – dazu ist hier zu viel los. Blazer: Dior. T-Shirt: American Apparel. Schal aus Veloursleder: Hermès HANNA PUTZ, KÜNSTLERIN 38 Ich habe viele Jahre gemodelt, mache es auch heute noch ab und zu. Mein Hauptfokus liegt aber inzwischen auf meiner Arbeit als Künstlerin. Wenn man modelt, dann wird man als Körper und als Persönlichkeit bewertet. Bei mir gab es irgendwann den Drang, stattdessen etwas aus meinem Inneren zu schöpfen und nach außen zu stellen, damit es bewertet werden kann. Ich bin froh, diesen Weg eingeschlagen zu haben und es läuft gut. Nach London, in diese geschäftssüchtige und geschäftstüchtige Stadt, bin ich der Liebe wegen gekommen. Die Beziehung gibt es inzwischen nicht mehr, die Liebe zu London ist geblieben. Als Ausgleich verbringe ich jedoch noch immer viel Zeit in meiner Heimatstadt Wien. Dort komme ich gut runter, London gibt mir dann wieder neue Energie. Hier sind ja alle ständig in Bewegung, die Stadt fordert viel von einem. Alle haben Stress, aber der Stress treibt einen an und bringt alle zusammen. Das ist dann wieder positiv. Anzug: Paul Smith. Pullover: Jil Sander. Schuhe: Prada 39 DENNIS SCHOENBERG, FOTOGRAF Ich bin Fotograf in den Bereichen Kunst, Mode und Porträts. Zunächst wollte ich Film studieren, da war die Stadt eine gute Adresse, und New York war für mich damals zu teuer. London ist eine sehr schnell getaktete Stadt und besonders kulturell ist sie für mich interessant. Ich habe ein großes Interesse an Subkulturen, da gibt es in London immer etwas Spannendes zu entdecken. Ursprünglich komme ich aus Wiesbaden, aber wenn man sein halbes Leben in einer anderen Stadt beziehungsweise in einem anderen Land gelebt hat, stellt sich die Frage nach der Heimat nicht mehr wirklich. Inzwischen bin ich ziemlich auf London eingestellt, weshalb sich meine beruflichen Ziele auch ganz einfach unter „mehr Macht, mehr Ruhm, mehr Geld“ zusammenfassen lassen. Sakko: Jil Sander. Hemd: Dior. Jeans: privat 40 Kleid: Jil Sander. Den Schmuck hat sie selbst entworfen (tinalilienthal.com) TINA LILIENTHAL, SCHMUCKDESIGNERIN Mein Schmuck ist kein Statussymbol. Sein Wert lässt sich nicht an der Anzahl und Art der Steine messen. Die Einzigartigkeit meiner Entwürfe liegt im Design und in den außergewöhnlichen Materialien. Zum Beispiel arbeiten wir viel mit einer Puderbeschichtung, wie sie sonst nur im Industriedesign für Fahrräder oder Möbel eingesetzt wird. Oder wir verarbeiten Holzschnitzereien zusammen mit wirklich kostbaren Materialien. Über die Jahre habe ich mir eine sehr loyale Kundschaft erarbeitet, sie kommt immer wieder, und das bestärkt mich in meinem Konzept, mit jeder neuen Kollektion nicht einen Trend, sondern meine Identität weiter auszubauen. In meine Heimatstadt Bonn werde ich wohl nicht wieder zurückkehren. Nach London kommt einem das einfach zu klein vor. Berlin könnte ich mir schon eher vorstellen. Ich realisiere dort viele Fotoshootings für meine Kollektionen. Es ist eine aufregende Stadt, aber leider ist dort kaum Geld im Umlauf. London wird von daher wohl noch einige Zeit mein Epizentrum bleiben. 41 Anzug: Gucci. Hemd: Jil Sander 42 PATRIK SCHUMACHER, ARCHITEKT BEI ZAHA HADID Ich lebe in London, weil es eine Weltstadt ist und Deutschland mir zu provinziell ist. Mitte der 90erJahre war ich auch mal zwei Jahre in Berlin. Das war spannend, aber am Ende zog es mich dann doch zurück nach London. Mir erscheint hier nicht alles so kompliziert, man zeigt sein Portfolio und kann anfangen zu arbeiten. Als Architekt baue ich heute am liebsten große, innerstädtische Komplexe. Wir haben ein paar schöne Sachen in Peking gemacht, auch in Seoul. In Asien zu bauen, ist wie ein großes Abenteuer: Es macht etwas mehr Spaß, weil es schneller geht, und großzügiger und innovativer gebaut wird. Was manchmal nicht so ideal ist, sind die Organisationsstrukturen und manchmal auch die Qualität. England und Europa sind nach wie vor die „High Value“-Projekte und da inzwischen auch immer mehr europäische Architekten in New York arbeiten, entsteht dort auch eine neue Art von Qualität. New York wäre übrigens auf dem zweiten Platz der Städte, in denen ich leben könnte. Allerdings ein abgeschlagener zweiter Platz – nach London. Anzug: Paul Smith. Hemd: privat Smoking-Jacke: Paul Smith. T-Shirt: privat AXEL HOEDT, FOTOGRAF Ich bin 1998 nach London gezogen, habe nach dem Studium alles ins Auto gepackt, mich neu orientiert. Es war damals eine rein emotionale Entscheidung. Ich komme aus Freiburg, habe in Bielefeld studiert, dann in Hamburg gearbeitet. Finanziell war es eher keine gute Entscheidung hierherzuziehen, da hätte ich besser schön brav in Hamburg bleiben sollen. Aber London ist definitiv spannender, fotografisch orientiert man sich hier einfach mehr nach vorn. Zurück will ich trotz vieler deutscher Kunden nicht. Ich bin immer froh, wenn man in meinen Bildern einen unterschwelligen Humor entdeckt. Paul Smith habe ich schon zweimal fotografiert, vielleicht hat er ja ein Bild von mir aufgehängt. JONAS LENCER, ARCHITEKT BEI dRMM Als ich 2004 nach London kam, war ich ein gelangweilter Architekturstudent, der endlich bauen wollte. Da ich kein Geld für ein Portfolio hatte, druckte ich einfach eine dreidimensionale Zeichnung von mir aus und bewarb mich beim Architekturbüro „de Rijke Marsh Morgan“. Dort bekam ich einen Job als Praktikant – und arbeite heute immer noch dort. Was ich am meisten an London mag, ist, dass es vor allem darum geht, was du kannst und leistest. Alter? Ausbildung? Herkunft? Zweitrangig, solange du dein Ding erfolgreich durchziehst. Mit 25 und ohne Diplom habe ich mein erstes 31-stöckiges Gebäude gebaut. Ich habe praktisch nicht geschlafen und meine mangelnde Erfahrung durch mehr Arbeit kompensiert. Und natürlich haben meine Chefs mich damals sehr gut angeleitet. Heute arbeiten in unserem Büro 45 Leute aus 20 Ländern. Ich muss nirgendwo mehr hinziehen, ich habe meinen Traumjob in meiner Traumstadt gefunden. 43 Das komplette Outfit entstammt ihrem eigenen Label Felder + Felder DANIELA FELDER, MODEDESIGNERIN Meine Schwester und ich kommen ursprünglich aus Wipperfürth, in der Nähe von Köln, und meine Mutter hat immer zu uns gesagt: „Wenn ihr Mode machen wollt, dann müsst ihr am Central Saint Martins studieren.“ Daraufhin haben wir gesagt: „Okay, dann machen wir das auch.“ Und es hat geklappt, Gott sei Dank. Während des Studiums haben wir uns ein Netzwerk aufgebaut, aber mit der Gründung unseres Labels „Felder + Felder“ sind wir dann ins kalte Wasser gesprungen. Es ist viel harte Arbeit, aber es läuft gut. Toll ist, wie viel Unterstützung man hier von unterschiedlichen Seiten erhält, zum Beispiel vom „British Fashion Council“. Und ich denke auch, es hat total geholfen, dass wir zu zweit waren, dass wir Zwillinge sind, denn alleine kann das schon mal ganz schön frustrierend und einsam sein. Aber wir haben ja uns. 44 Alle waren beeindruckt. Hanna Putz schneidet sich diese Haare selbst Die Garderobe wurde, ganz unkompliziert, im „Ladies Room“ vom „Balthazar“ ausgebreitet. Das Shooting fand im ersten Stock des Restaurants in Covent Garden statt Herz-Sandaletten von Christian Louboutin „Engelhaar“ Ophelia Finke Ganz nah dran: Jonas Lencer und ... ... Ilka Dunn ... Ananas-Slipper von Christian Louboutin Very British: Tischdekoration im „Balthazar“ ... und Ronald Dick Unprätentiös: Jule Waibel beim Umziehen Rote Ledertasche von Louis Vuitton 45 „Great guys, great girls – indeed“ PAU L S M I T H GIPFELTREFFEN Paul Smith (links) und David Chipperfield (rechts) in Paul Smiths Büro in London „Berlin hat fast zu viel Geschichte“ David Chipperfield, auch einer der berühmten Engländer, hat die zeitgenössische Architektur in Deutschland entscheidend geprägt. Sein Freund Paul Smith sprach mit ihm darüber, wie sich das anfühlt D er Mann ist gefragt wie nie und baut, als gäbe es morgen keine Freiflächen mehr. Er hat Büros in London, Berlin, Mailand und Shanghai. Die neuesten Projekte: David Chipperfield entwirft ein Museum am Rande archäologischer Ausgrabungsstätten im Sudan – pro bono versteht sich. Aus New York kam zuletzt der Auftrag, den Südwestflügel des Metropolitan Museum of Art neu zu gestalten, und auch Oberursel im Taunus meldet eine Kooperation. Zusammen mit den deutschen Möbeldesignern e15 entstand unlängst eine Reihe von Holzbänken und Tischen. Keine Frage, auch wer mit Superlativen eher knausert, wird gestehen, dass Chipperfield einer der wenigen lebenden Stararchitekten ist. In Deutschland hat er sich zudem mit dem Wiederaufbau des Neuen Museums in Berlin und der bevorstehenden Sanierung der Neuen Nationalgalerie tief in die kulturelle DNA des Landes eingeschrieben. Wie gut, dass sich Paul Smith und David Chipperfield schon seit Jahrzehnten kennen und schätzen und sich deshalb für ICON zu einer Bestandsaufnahme trafen. 46 Paul Smith: Du hast eine starke Verbindung zu Deutschland. Wie kam die zustande? David Chipperfield: Mir war schon früh klar, dass ich im Laufe meiner Karriere viel Zeit im Flugzeug verbringen würde. Bis heute ist es für junge Architekten hier bei uns schwierig, mehr zu machen als eine kleine Bar, ein Interieur oder einen Hausanbau. In der Schweiz und in Deutschland bekommen junge Architekten viel mehr Möglichkeiten: zum Beispiel einen Erweiterungsanbau für die örtliche Bücherei zu entwerfen, die Stadthalle oder ein Schwimmbad zu bauen, weil die öffentliche Hand diese Aufträge ausschreibt. Es ist nicht alles privatisiert. Allerdings war mein erster Auftrag 1994 in Berlin, ein Privathaus zu bauen, und darauf folgte ein Studiobau in Düsseldorf. Klingt nach einem guten Start. Ja, aber so richtig ging es erst mit dem Wettbewerb für das Neue Museum los. Mitbewerber waren unter anderem Frank Gehry und Giorgio Grassi, ich war der absolute Außenseiter. Das war 1994 – und der Museumsdirektor wollte, dass Gehry gewinnt, was nicht der Fall war. Wir belegten damals den zweiten Platz. Dann gab es ein langes Hin und Her, und der Wettbewerb wurde schließlich 1997 wiederholt – und wir gewannen! Bis zur Eröffnung im Jahr 2009 folgten dann noch einmal zwölf Jahre Planung und Bau. Unglaublich. Es war ein Projekt, das an viele deutsche Befindlichkeiten rührte. Vermutlich hätten wir viele Probleme vermeiden können, wenn wir das Haus einfach als Kopie wiederaufgebaut hätten. Aber ich bestand auf einer Lösung, in der die Ruine als Teil des Wiederaufbaus sichtbar sein sollte. Dieser Plan wurde äußerst kontrovers besprochen, fiel er doch in eine Zeit, in der die Diskussionen über den Krieg, über Erinnerung und den Blick nach vorn in vollem Gange waren. In den 80er-Jahren gab es vonseiten Deutschlands große Anstrengungen, diese Themen irgendwie in Einklang zu bringen – dann fiel die Mauer in Berlin, und alles ging wieder von vorn los. Wir sagen im- mer, dass jede Stadt ihre Geschichte hat. Aber Berlin hat fast zu viel davon. Wie erhält man die alten Überreste und schafft es, sie durch moderne Elemente schlüssig zu ergänzen? Wenn ein Gebäude zum Beispiel über Nacht abbrennt, dann haben die verkohlten Überreste erst einmal keinen eigenen Status. Wenn jedoch ein Gebäude im Krieg zerbombt wird und dann über 60 Jahre als Ruine dasteht, dann ist die Ruine selbst zum Zeitdokument geworden. Als wir dort hinkamen, wuchsen Bäume im Inneren, es gab noch Wandbilder, andere Teile fehlten völlig. Es war wirklich ein überwältigender Anblick. Jeder, der diese Ruine betrat, hatte eine Gänsehaut. Manchmal sind Ruinen schöner als Architektur, weil sie auf das Wesentliche reduziert sind. Und dann verputzt man alles und restauriert, und plötzlich ist der Zauber dahin. Deshalb war meine Herangehensweise, sich dem Gebäude wie einem archäologischen Objekt zu nähern, wie einer beschädigten altgriechischen Vase oder einer römischen Statue, bei der Teile fehlten. Die würde man auch nicht einfach erneuern und so tun, als sei das Objekt schon immer so gewesen. Man würde es vielleicht vervollständigen wollen, aber dabei würde man genau kennzeichnen, was man erneuert hat und was ursprünglich vorhanden war. Ich finde es interessant, dass du sehr viele Neubauten realisiert hast, dann aber sehr bekannt dafür wurdest, dass du Projekte verwirklicht hast, in denen sich Altes und Neues verbindet. Es gab Demonstrationen, es gab Unterschriftensammlungen für ein Volksbegehren – ganz Deutschland wurde in diese Debatte hinein- gezogen. Und als das Museum dann eröffnete, waren alle mit dem sichtbaren, fassbaren Ergebnis glücklich. Der Streit löste sich in Luft auf. Angela Merkel eröffnete das Gebäude und war begeistert. Und so wurde es eine Art architektonisches Symbol dafür, wie sich Geschichte in Architektur einbeziehen lässt. Wie waren die Reaktionen der Besucher? Die Leute begaben sich teilweise auf Hände und Knie, um sich die Sachen genau anzusehen, sie anzufassen. Es war herzerwärmend, ihre Zärtlichkeit gegenüber den Objekten zu sehen. Skeptiker behaupten, dass heute keiner mehr echte Qualität zu schätzen wisse, dass niemand sagen könne, ob ein Fisch auf dem Markt wirklich frisch ist, und dass keiner gutes Material zu erkennen imstande sei. Aber Tatsache ist, dass die Menschen sehr wohl Qualität erkennen. Mit das Schwierigste bei der Architektur – und das gilt sogar für die Innenraumgestaltung, auch wenn ich die beiden nicht miteinander vergleichen möchte – ist, dass der Auftraggeber sich das fertige Objekt vorher nicht vorstellen kann, oder? Ich muss sagen, dass es in Deutschland ein besonderes Arbeitsklima gibt, weil man dort über Ideen und Konzepte diskutiert. Das war auch eine der erstaunlichsten Erfahrungen: eine Gruppe von Menschen anzuleiten, die sich über Konzepte streitet, aber dabei immer über das Projekt spricht. Über Probleme im Projektmanagement mussten wir uns dagegen kaum Sorgen machen. Ich gehe davon aus, dass die Deutschen in diesen Dingen hervorragend sind. Na ja, momentan haben sie etwas Probleme: Beim Bau des neuen Berliner Flughafens gibt es enorme Verzögerungen. RONALD DICK; SMB; UTE ZSCHAMT FÜR DAVID CHIPPERFIELD ARCHITECTS (2); SIMON MENGES; DAVID VON BECKER; GETTY IMAGES (4) Wer ist dafür verantwortlich? Die Verantwortung wird herumgereicht. Momentan gibt es eine Krise in Berlin. Der Mut scheint sie irgendwie verlassen zu haben – die Staatsoper wird nicht rechtzeitig fertig, der Bau der Landesbibliothek verzögert sich. Es ist also gerade etwas schwierig. Mode trifft Architektur: Kollektionsteile von Paul Smith (von links oben nach unten); Projekte von David Chipperfield (von rechts oben nach unten): „Sticks and Stones" in der Neuen Nationalgalerie Berlin, Wohn und Gewerbekomplex in Berlin-Mitte, Museum Turner Contemporary in Margate, England, „Ägyptischer Hof“ im Neuen Museum in Berlin Deine Ausstellung „Sticks and Stones“ in der Neuen Nationalgalerie hingegen war ein riesiger Erfolg. Dieser Raum ist fantastisch, aber er macht einen auch fertig, denn es ist schwer, dort etwas auszustellen. Ich fühlte mich unsicher. Eine Art Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie schien mir seltsam. Also schlug ich vor, stattdessen etwas über Architektur zu machen. In der Zwischenzeit erhielten wir den Auftrag, das Gebäude zu restaurieren, und so ergab es sich, dass unsere Ausstellung die letzte vor der Schließung sein würde. Die Neue Nationalgalerie ist eines der herausragenden Gebäude in Berlin, es ist in vielerlei Hinsicht Mies van der Rohes bester Bau, er stellt einen Höhepunkt der modernen Architektur dar. Außen- und Innenraum gehen gewissermaßen ineinander über. Und ich dachte mir, dass es eine provokante Aussage wäre, diesen Raum mit Säulen zu füllen – mit so vielen Säulen, wie man 400 Jahre früher gebraucht hätte. Das ist für mich ein spannender und ironischer Umgang mit van der Rohe, der es geschafft hat, all diese Säulen loszuwerden. Und es ist eine räumliche, physische Erfahrung. 3 47 Inwiefern gehst du anders an ein Projekt heran, wenn du weißt, dass es eine temporäre Installation ist? Ich habe gemerkt, dass es für mich dann schwieriger ist, die Idee zu entwickeln. Paradoxerweise ist unsere Beziehung zum Miesvan-der-Rohe-Bau jetzt sehr viel langfristiger. Wir haben fünf Jahre, um ihn buchstäblich in seine Bestandteile zu zerlegen und dann wieder so zusammenzufügen, als wäre nichts gewesen. Es ist also wirklich eine Restaurierung? Ja. Ich vergleiche es gern mit einem alten Mercedes, Baujahr 1968. Wenn man ihn auf der Straße sieht, sagt man: „Wow, sieh nur! Was für ein herrlicher Wagen!“ Bei näherer Betrachtung und wenn man sich reinsetzt, erkennt man dann, dass er völlig verrostet ist und die Sicherheitsgurte nicht mehr funktionieren. Um ihn fit zu machen, muss man sehr, sehr viel tun. Mit der Neuen Nationalgalerie ist es genauso: Wir müssen sie auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, und zwar so, dass sie hinterher besser funktioniert als vorher. Dabei ist jedes einzelne Detail heilig, denn bei Mies van der Rohe dreht sich alles um die Details. Du sagtest, dass der Raum sehr schwer zu nutzen sei. Wirst du daran etwas ändern können? Nein, daran können wir nichts ändern. In den vergangenen 47 Jahren haben sich die Menschen jedoch daran gewöhnt, den Bau so zu nutzen, wie er ist. Außerdem reagiert die zeitgenössische Kunst inzwischen stärker auf Räume. Heute arbeiten viele Künstler ganz ohne Wände. Sie machen zum Beispiel Klanginstallationen – Jenny Holzer hatte dort eine großartige Ausstellung. Wie siehst du deine Rolle in Deutschland? Ich bin erst gestern von dort zurückgekommen, und das Interessante ist, dass ich inzwischen stark in diese sehr deutschen Kulturdebatten einbezogen werde. Das gefällt mir. Und ich nehme an, dass ich auch wegen des Neuen Museums heute als eine Art Geschichtsvermittler gelte. Als eingeweihter Außenseiter habe ich diese privilegierte Sonderstellung. Du kennst das ja – es ist vermutlich ähnlich wie bei dir in Japan. Als Ausländer kann man Sachen machen, die sonst wahrscheinlich nicht möglich wären – einfach weil man von außen kommt. Innenansicht der von David Chipperfield entworfenen New Yorker Valentino-Boutique (oben); der Land Rover „Defender“, ein Unikat im Design von Paul Smith (2015) 48 Ja, das kenne ich. Hier bin ich erfolgreich, aber der Grad an Respekt ist ganz anders in Ländern wie Frankreich, Italien oder Japan. Weil man hier alles nur als Teil eines Finanzsystems wahrnimmt. Darum gibt es diesen, wie ich finde, furchtbaren Begriff: „creative industries“ (Kultur- und Kreativwirtschaft). Wir müssen diesen Begriff hier verwenden, weil es das einzige Konzept von Kultur ist, das Politiker verstehen. Sie verstehen „Kultur“ nur, wenn man den Begriff so ergänzt, dass er Möglichkeiten zum Geldverdienen suggeriert. Wenn diese Leute also ein Museum in Wakefield bauen, dann deshalb, weil sie den Standort aufwerten wollen. Und ich habe immer gesagt: „Baut nur dann ein Museum in Wakefield, wenn ihr ein Museum in Wakefield haben wollt.“ Andernfalls ist es ein Desaster, denn wen interessiert ein Museum, dass nur zur Aufwertung gebaut wurde? Es wird den Standort schon aufwerten, aber man muss es auch um seiner selbst willen bauen wollen. Andernfalls geht es ein. Ich finde es spannend, dass du neben all diesen faszinierenden Projekten auch Läden entwirfst. Nun, das geht auf meine Anfänge zurück. Ich habe damals das allererste Ladengeschäft für Issey Miyake entworfen. Um die Zeit haben wir uns richtig kennengelernt. Diese Art von Läden waren oft winzig, aber wunderschön. Der Erste, den ich entworfen habe, war in der Sloane Street. Das war sozusagen der Startschuss für meine Karriere, was etwas peinlich ist. Jeder hat mal irgendwo angefangen! Mein erster Laden war dreieinhalb mal dreieinhalb Meter groß und hatte nur freitags und samstags geöffnet! Ja, aber das ist dein Kerngeschäft, die Läden. Das ist nicht das, was ich eigentlich mache. Stimmt. Aber dann plötzlich für Valentino zu arbeiten und diese wunderbaren Aufträge für ihn zu machen – wirklich toll. Ich denke, ich hätte nicht damit weitergemacht, wenn Valentino nicht gewesen wäre – und ich muss sagen, dass Valentino einfach ein super Unternehmen ist; es macht Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Als ich damals anfing, war Valentino gerade gegangen, und keiner wusste, was nach Valentino aus Valentino werden sollte. Der Umsatz war auch eingebrochen. Und irgendwie ist es mir gelungen, etwas zu entwerfen, das mit dazu beigetragen hat, sich wieder zu festigen und klar zu werden. Das war, noch bevor Pierpaolo und Maria Grazia mit einstiegen. Aber nachdem sie dabei waren, wurde es noch besser. Und es ist einfach toll, mit ihnen zu arbeiten. Bei Harrods verwendest du ziemlich harte Oberflächen für die Valentino-Einrichtung. Und sie werden immer härter und monumentaler, denn Valentino treibt uns mehr und mehr dorthin. Interessant ist, dass es für sie inzwischen zu einer Art Markenidentität geworden ist, das Strenge, Enthaltsame. Ein toller Kontrast zu der ornamentalen Kleidung. Was reizt dich sonst an den Laden- und Interieurprojekten? Manchmal arbeiten wir fünf Jahre an etwas, und es bewegt sich nichts vorwärts. Eine Ladeneinrichtung ist dann eine willkommene Abwechslung, denn sie wird in sechs oder neun Monaten verwirklicht. Außerdem Sie und er in Anzugkann und man an diesen Projekten ganz direkt arbeiten. Hemd von Paul Smith. Ihre Teilweise entwerfe ich jedes Möbelstück und Velourleder-Heels: Jimmy jedes Hängesystem selbst. Als Architekt mit Choo. Seine Schuhe: 200 Mitarbeitern habe ebenfalls ich heute Paul sonstSmith nicht mehr die Chance, so etwas zu tun. SANTI CALECA; PAUL SMITH 3 Ich fand es toll. Es war optisch eindrucksvoll. Der Raum wirkte wie ein Tempel. Mir war es etwas peinlich, denn es war wie eine Kunstinstallation. Und es ist ein bisschen sonderbar, so etwas als Architekt zu machen. Wir haben es dann damit gerechtfertigt, dass es die Abschlussausstellung war. Und natürlich hat es auch einen doppelten Sinn, denn es sah ein wenig wie ein Holzbaugerüst aus – und die Restaurierung steht ja bevor. ON THE ROAD Unten: Mantel von Mackintosh. Streifenshirt: American Apparel Oben: Beide Anzüge sind, wie auch auf den anderen Bildern, von Paul Smith. Sofia trägt High Heels von Jimmy Choo. Joels Schuhe von Paul Smith Oben: Kurzmantel von A.P.C. Pullover Acne. Schuhe Margaret Howell Links: Turnschuhe von Valentino Ein Anzug für alle(s) Bei den diesjährigen Männerschauen in London stellte Paul Smith einen knitterfreien Anzug vor, perfekt zum Reisen. Wir haben ihn gebeten, einfach mal seinen Alleskönner alltagstauglich in Szene zu setzen – für sie und ihn FOTOS: PAUL SMITH STYLING: TANJA MARTIN; HAARE & MAKE-UP: DESMOND GRUNDY C/O CAROL HAYES MANAGEMENT MODELS: SOFIA UND JOEL C/O SUPA; PRODUKTION: CHLOE RIDLEY C/O ABOUD CREATIVE 49 50 Linke Seite und hier klein: Hemd und Schuhe von Chanel. Unten: Sofias und Joels Turnschuhe sind von Adidas Komplettes Outfit von Paul Smith Streifenshirt von American Apparel Weiße Bluse von Paul Smith. Bluse mit Herzprint von Agnès B. Joels bedrucktes Hemd ist von Paul Smith Sofia trägt ein Streifenshirt von Levi’s. Turnschuhe: Adidas 51 Jeanshemd und Gürtel von Paul Smith. Turnschuhe: Adidas Joel trägt Schuhe und eine Tasche von Paul Smith. Rolli: John Smedley Bluse und Gürtel von Paul Smith T-Shirt: Acne. Sandalen: Birkenstock Rolli: John Smedley. Jacke: Acne. Sandalen: Margaret Howell Veloursleder-Heels: Jimmy Choo 52 ENTDECKUNGSREISE Hidden Places Sie glauben, London sei eine Stadt, die touristisch ausgeleuchtet ist? Diese Tipps von Paul Smith eröffnen neue Seiten – Massimo Rodari fotografierte Covent Garden In den 70er-Jahren arbeitete ich als freiberuflicher Designer und hatte den Traum, meinen eigenen Shop zu eröffnen. Mir war nicht klar, dass die Ausgaben viel höher sein würden, als das, was ich zur Verfügung hatte! In Covent Garden kannte ich mich gut aus. Damals war hier ein Obst- und Gemüsemarkt, aber die Verkäufer zogen weg, deshalb gab es all diese leer stehenden Gebäude. In der Gegend spielten viele Bands in Clubs und leeren Lagerhallen, und ich fand mich in diesem Getriebe gut zurecht und wusste, dass das der richtige Ort für mich wäre. Ich leuchtete Briefkästen mit meiner Taschenlampe ab und entdeckte so dieses großartige Gebäude, von dem ich fasziniert war, weil es aus Beton und nicht aus Backstein war. Ich war ein großer Fan von Bauhaus und Corbusier, also war es perfekt für mich. Schon 1976 konnte ich es kaufen und glücklicherweise dann drei Jahre später dort mein Geschäft eröffnen. In den ersten Tagen war in dieser Gegend nicht viel los und es war sehr schwierig, sich über Wasser zu halten. Aber nach und nach änderte sich das und bald eröffneten viele wundervolle Läden; alternative Buchshops und Boutiquen von Jungdesignern. Wenn man heute nach Covent Garden kommt, findet man eine sehr beliebte touristische Gegend vor, aber mein Shop steht immer noch in der Floral Street und ist ein verstecktes Juwel im hektischen London. den, um sie vor Licht zu schützen; man schiebt das Leder zur Seite und stößt auf diese wunderschönen Kunstwerke. Gleich um die Ecke ist Marylebone High Street, wo es viele Läden (natürlich auch von mir) und tolle Cafés gibt. Chelsea Physic Garden Ein botanischer Garten voller Pflanzen, die von medizinischem Nutzen sind. An einem sonnigen Tag kann man hier eine wunderbare Zeit verbringen. Es gibt ein sehr nettes Café und einen tollen Souvenirshop, der auch Pflanzen verkauft. Chiswick House and Gardens Ursprünglich wurde das Haus im 19. Jahrhundert von Lord Burlington entworfen, der sehr vom Renaissance-Architekten Andrea Palladio fasziniert war – und es hat auch einen sehr schönen Garten. Ich gehe oft in die Gärten und auch in das Café, das von dem britischen Architekten Caruso St John entworfen wurde, der auch das zeitgenössische Kunstmuseum in meiner Heimatsstadt Nottingham und die Erweiterung der Tate Britain entworfen hatte. Abgesehen davon, dass das Café ein wunderschönes Gebäude ist, gibt es dort auch köstliche Käse-Sandwiches. Holland Park Wenn man den Holland Park betritt, im Herzen von Kensington und Chelsea, fühlt man sich sofort, als wäre man auf dem Land. Es ist ganz normal, dort Eichhörnchen oder Hasen zu sehen, früher gab es hier sogar Flamingos und im „Kyoto Garden“ liegen riesige Steine aus Japan. Ab 2016 endet eine Tour durch den Park nicht mehr im „Commonwealth Institute“, sondern im neuen „Design Museum“, das von seinem jetzigen Standort nahe der Tower Bridge hierher zieht. Dort hatte ich letztes Jahr meine Ausstellung „Hello, My Name is Paul Smith“. Die Restaurierung dieses Gebäudes wurde von dem Architekten John Pawson geleitet, ein Freund von mir. MOORE/JOHN SOANE'S MUSEUM Sir John Soane’s Museum Dies ist eines meiner Lieblingsmuseen, es gibt hier eine verrückte, umfassende Mischung von Dingen, die Sir John Soane sammelte. Er reiste viel und brachte Objekte und Artefakte aus der ganzen Welt mit. Das Museum war einmal sein Haus, das aus drei Häusern zusammengesetzt wurde. Der Hausherr war nämlich Architekt und entwarf unter anderem die „Bank of England“. Er experimentierte auch viel in seinem eigenen Haus. Wo einst der Speisesaal war, stehen jetzt Hohlspiegel und wenn eine Kerze in diesem Zimmer brennt, erzeugen die Spiegel ein märchenhaftes Licht. Es gibt auch eine riesige Sammlung von Bildern von WilKaktusinstallation in der Paul-Smith-Boutique, Albemarle Street 9. Rechts: Eichhörnchen im Holland Park liam Hogarth. Sir John Soane besaß so viele davon, dass er die Wände so entwarf, dass sie sich wie Türen öffneten, damit auf beiden Seiten ein Bild von Hogarth Platz hat. Er hat es meister- Kew Gardens haft verstanden, viele Dinge in einem kleinen Raum unterzubringen. Aus der Vogelperspektive kann man Kew Gardens erleben. Auf erhobeDas Museum ist ein magischer Ort, vor allem, wenn man sich für Erfin- nen Pfaden spaziert man dort durch die Baumkronen und erhält so eine ganz neue Perspektive auf die Landschaft. Die Marianne North Galdungen interessiert. lery ist zwar schwer zu finden, aber auf jeden Fall einen Besuch wert. The Wallace Collection Marianne North war eine Biologin und botanische Künstlerin im viktoDas ist ein kleines, feines Museum, das rianischen Zeitalter. Sie reiste leidenschaftlich gern um die Welt und nicht weit von der Oxford Street am Spa- zeichnete viele Pflanzen, die ihr dabei begegneten, die vor Ort ausgenish Place in Marylebone liegt. Die stellt sind. In Kew gibt es auch die Sackler Bridge, die ebenfalls von Sammlung stammt aus dem 19. Jahrhun- John Pawson entworfen wurde. Sie ist eine elegante Brücke, die aus dert und gehörte ursprünglich Richard vertikalen Metallsäulen besteht. Sie suggeriert eine Leichtigkeit, als Seymour-Conway. Mir gefällt besonders, würde man über den Fluss schweben. 3 dass ein paar der Ausstellungsstücke unter großen Lederdecken präsentiert werExponate im Sir John Soane’s Museum. Der ehemalige Hausherr sammelte weltweit Kunstschätze und brachte sie nach London 53 Chiswick House and Gardens Versteckt in den Kew Gardens: Marianne North Gallery. Seite rechts die Bilder von Marianne North Chelsea Physic Garden Kyoto Garden im Holland Park 3 HIDDEN PLACES Wenn man den Holland Park betritt, im Herzen von Kensington und Chelsea, fühlt man sich sofort, als wäre man auf dem Land MASSIMO RODARI (6) PAU L S M I T H Die Wallace Collection in Marylebone LÄNDLICH Familie als Personal und Sir Paul als Sommergast: Mehr britische Idylle als im Hotel „Langar Hall“ gibt’s nicht. Susanne Kaloff schaute rein „Immer langsam voran, hier spielen Kinder und Tiere“: Man könnte das als Motto für alles definieren, was in „Langar Hall“ passiert. Schon deshalb wollte unsere Autorin nicht mehr weg PICTURES COURTESY OF GRAZIA CASA Bei Robin Hood um die Ecke W Wenn man hektisch den Zug in London King’s Cross besteigt, glaubt man noch, dass es ausgeschlossen sei, die Großstadt innerhalb einer Stunde hinter sich zu lassen. Aber es ist möglich, jedenfalls, wenn man in Grantham aussteigt und über Land fährt Richtung Langar, einem Dorf in Nottinghamshire. „Langar Hall“ ist ein Begriff aus dem Sanskrit für einen Ort, an dem Pilger rasten können und eine kostenlose Mahlzeit erhalten. Jeder Sikh-Tempel habe so eine Langar Hall, erzählt Imogen Skirving, 78, während sie mit ihrem Mini Cooper durch die Landschaft brettert und verboten links abbiegt: „Excuse me, I have to be naughty.“ Unartig ist allerdings bestimmt nicht das erste Wort, das in den Sinn kommt, wenn man die Besitzerin des mehrfach ausgezeichneten „Langar Hall“-Hotels trifft. Sie ist zierlich, hat graue kurze Haare, trägt schwarze Socken mit Rosenprint und einen silbernen Ring mit OmSymbol. Und dann, nach etwa einer halben Stunde unterhaltsamer Autofahrt, liegt es vor einem auf einem Hügel, mit einer von Schafen und Pappeln gesäumten Auffahrt, das Countryhouse-Hotel mit gerade mal zwölf Zimmern. Es sieht genauso aus, wie man das von einem Landhotel wünscht: Friedlich, wunderschön, weit weg von allen Sorgen. Das einzige Geräusch ertönt stündlich vom Kirchturm, weil dicht ans Haus gepresst eine kleine Kirche liegt. Und ein Friedhof. Es soll hier auch spuken, was man in dem Buch mit dem Titel „The reluctant Restaurateur“ („Restaurateur wider Willen“) nachlesen kann, das Imogen Skirving vor zehn Jahren schrieb. Die Geschichte handelt von ihr – also einer mutigen Frau – und von der ungewollten Verwandlung eines Familienhauses in eines der erfolgreichsten Privathotels Englands. Nachdem ihr Vater das Geburtshaus verkaufen wollte und ihr Bruder kein Interesse daran hatte, stand Imogen Skirving mit einem Haufen finanzieller Sorgen da und war mehr oder weniger gezwungen, Gäste aufzunehmen. Wenn man sie heute fragt, wie es ist, Fremde in ihrem Haus zu haben, antwortet sie: „I simply love it!“. Die meisten Gäste sind ohnehin mit der Zeit zu Freunden geworden, genauso wie das Personal. Michael, der furchtlos flirtende Oberkellner, ist seit dreiundzwanzig Jahren an ihrer Seite, und wenn sie das sagt, klingt es so liebevoll, als ob sie eine Ehe führten, nicht eine Geschäftsbeziehung. Oder Toby, ihr Chefkoch seit 1992, den sie trotz aller Turbulenzen schätzt und liebt – und der zur großen Liebe ihrer Tochter Louise wurde. Langar Hall ist ein Ort voller Magie. Man fühlt sich gleich geborgen. Es ist ein Familienhaus, eins, das Imogens Urgoßmutter Annie Bayley 1880 kaufte, und in dem viele Generationen aufwuchsen. Es ist Imogens Kinderstube und auch das Haus ihrer eigenen Tochter Louise, die nach einem langen Aufenthalt in Indien und nach der Ehe mit einem indischen Yogalehrer nun wieder in Langar Hall lebt und sich um das Anwesen, die Blumen und den Gemüsegarten kümmert. Von Kohl bis Babyspinat baut sie alles selbst an. Ihr 18-jähriger Sohn serviert am Abend den schottischen Lachs, ihre Tochter besucht gerade eine Barfachschule in der Schweiz. Einer, der diese Atmosphäre hier sehr schätzt, ist der Designer Paul Smith; die beiden kennen sich seit den Sechzigern. Damals schon schneiderte er Kleider in London, Imogen und er verloren sich aus den Augen, bis er eines Tages vor ihr stand und sagte: „Imogen, wir kennen uns doch!“ Sie hatte das Kleid noch, das er damals für sie designt hatte, er riss es an sich: „Was für ein Fundstück!“ Und suchte lange im Haus, bis er jemanden fand, dem es passte: Einem japanischem Mädchen aus der Küche. Von da an kam er jeden Sommer nach Langar Hall mit seiner ganzen kreativen Crew, breitete Stoffe und Muster auf den Tischen auf der Terrasse aus und gab der Hausherrin den ein oder anderen Gestaltungstipp. Es war beispielsweise seine Idee mit der Trompe-l’Œil-Tapete in der Rezeption – eine Wand, die nun aussieht, als sei sie eine Bibliothek. „Paul is my guru!“, sagt Imogen und zeigt die Fotowand mit seinen privaten Aufnahmen in der Bar. Auch die Zimmer bestechen nicht durch erwartbaren Laura-Ashley-Charme, sondern mit dem ausgeprägten Stilempfinden der Besitzerin. Im „Cartland“-Zimmer findet man Bambusspiegel zu Art-déco-Cocktailsesseln und eine schwarze Tapete mit silbernen Baumstämmen. „Mark’s Room“, das früher das Zimmer von Imogens Bruder Mark war, dekoriert eine asiatische Vogeltapete. Das hier ist der britischste Ort, den man sich vorstellen kann, und gleichzeitig ein fantastischer Mix aus indischen Tischdecken und Ganesh-Figuren neben typisch englischen Kavaliershunden auf dem Kaminsims, Gemälden, Familienporträts in Öl, Antiquitäten und Stilbrüchen. So wie die Buddha-Figur in dem Schrein, der in einer Ecke im Garden Room hängt und doch wieder bestens zur braun-goldenen Affentapete passt. Doch Imogen mag es nicht, wenn jemand sie und ihr Haus als „quirky“ bezeichnet, ein britisches Wort, das man benutzt, wenn man sagen will, dass etwas irgendwie schräg ist. Diese Dame ist alles, aber nicht schräg. Sie ist zentriert und hat das Leben auf eine sehr charmante Art bei den Hörnern gepackt. Der Grund, warum sie von ihrem Personal auch gerne „Granny Putin“ genannt wird, worüber sie sehr lachen kann. Noch vor wenigen Jahren fuhr sie eine Kawasaki, man erwischt sie manchmal mit einer Zigarette in der Hand („Schrecklich, ich sollte es mir wirklich abgewöhnen!“), vergangenes Jahr reiste sie wieder nach Indien. Kurz: Eine coole Frau mit einer Energie wie ein Rennpferd und einem Herz so groß wie ihr Anwesen. „Sie werden nicht oft eine Frau kennenlernen wie Imogen, sie ist wirklich etwas ganz Besonderes“, ruft Kellner Ricky, der früher bei Nottingham Forest Fußball spielte und stets singend durchs Haus geht, auf dem Weg zum Weinkeller. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Dining Hall oder der Garden Room nicht für eine Party gebucht ist, ob der achtzehnte oder der hundertste Geburtstag, immer wird was gefeiert. „Mein jüngster Gast war vier Monate und mein ältester 103 Jahre alt.“ Immerzu geht die Tür auf und neue Gäste finden sich ein, zum Afternoon Tea mit hausgemachten Scones oder zum Abendessen. Das Essen hier ist ausgesprochen gut, manche Gäste kommen mehrmals pro Jahr angereist, alleine schon wegen des berühmten zweifach gebackenem Käsesoufflés. Oder um einmal in Barbara Cartlands Himmelbett zu nächtigen. Nach der englischen Autorin ist eines der Zimmer im Haupthaus benannt, sie legte hier gerne einen Stopp ein auf ihren Reisen von Schottland. Und natürlich gibt es unzählige und amüsant vorgetragene Anekdoten über die romantische Schriftstellerin. Imogen ist eine jederzeit hinreißende Unterhalterin und Gastgeberin. Sie hört und sieht alles, kennt ihre Gäste: „Darlin’, für dich heute keinen Alkohol, du nimmst ja Antibiotikum!“ Sie tätschelt Schultern, macht an den richtigen Stellen Witze, wirkt bei allen Turbulenzen zu keinem Zeitpunkt überfordert. Und glücklicherweise weiß sie, wann es Zeit für einen Drink ist. Hin und wieder stellt sie sich selbst hinter die Bar und mixt einen Gin, wie ihn ihr Vater Geoffrey immer trank: Nur mit Zitrone und einem Hauch Noilly Prat. Tonic? Also bitte, niemals! „Darlin’, für dich heute keinen Alkohol, du nimmst ja Antibiotikum!“ IMOGEN SKIRVING Ein Ort voller Magie: Die Hausherrin Imogen Skirving vor ihrem Landhotel Langar Hall 57 CHANEL . COM BEAUTY STILISTEN HIER KOMMEN UNSERE KOSMETIKEXPERTEN ZU WORT HOFLIEFERANT Designer-Parfüms sind kein Neuzeit-Phänomen. James Creed, Maßschneider in London, legte 1760 mit der Gründung seines Ateliers auch den Grundstein für die gleichnamigen Düfte. Seit den 1840erJahren ist der Hauptsitz zwar in Paris (Kaiserin Eugénie ermutigte zum Sprung über den Kanal), dennoch könnte die Marke nicht britischer sein. Klassisch, exzentrisch – Oliver Creed, Parfümeur und Inhaber in 7. Generation, mag keine Mischungen und arbeitet nur mit der aktuellen Ernte, deshalb können die Wässerchen von Jahr zu Jahr anders duften. Und sie waren natürlich Hoflieferant! „Fleur de Bulgarie“ etwa wurde für Queen Victoria hergestellt und wird bis heute auch gern von Nicht-Royals getragen. Flower Power Das britische Faible für Blumen und Gärten ist legendär. Aber die Italiener stehen in der Gartenkunst nicht nach. Und schon 1966 entwarf Gucci das Flora-Muster für die monegassische Fürstin Gracia Patricia. So erfolgreich, so bezaubernd, dass es seither immer wieder auftaucht. Auf Taschen, Kleidern, Düften. Das Museo Gucci in Florenz widmet der Ikonografie bis 20. September die Ausstellung „The Language of Flowers“. Floralissima! JEROME DE NOIRMONT Eric Reuter Geschäftsführer der „Goldkopf Parfümerie“ in Köln BEST OF BRITISH Unverwundbar schön: Schon der junge Siegfried wusste, welche Kraft im Drachenblut steckt. Das „Dragon’s Blood advanced sculpting“-Serum der Londoner Marke Rodial soll unser aller Haut mit hoch konzentrierter Hyaluronsäure praller wirken lassen. Über niche-beauty.de 60 No knots today: Der Colorist Shaun Pulfrey mochte gar nicht mehr hinsehen, wenn in Salons die Haare entwirrt wurden. Darum entwickelte er 2008 eine Bürste mit flexiblen und unterschiedlich langen Borsten, die „Tangle Teezer“. Ohne Ziepen geht sie durch das Haar. Nun kooperierte er mit der Londoner Designerin Lulu Guinness, die die Tangle Teezer mit ihrem Markenzeichen, dem knallroten Kussmund, versah. Self-made: Britinnen greifen gern zu Selbstbräuner. Das mag an der fehlenden Sonne liegen, verständlich. Leider vergreifen sie sich gern mal im Farbton. Resultat? Eine orangefarbene Haut. Die „Sleep Mask Tan Body“ von James Read soll’s besser können. Abends den Körper damit eincremen, gebräunt aufwachen. Das Bettzeug eventuell auch. Über net-aporter.com Nice smell: Gehen Sie in Gedanken in die Bibliothek eines Herrenhauses und atmen tief ein. Und, riechen Sie das Aroma von antiken Büchern und warmen Holznoten? Das jedenfalls hat die Irländerin Margaret Mangan in der „Antique Library“-Duftkerze ihrer Marke Cloon Keen Atelier eingefangen. Funktioniert auch im Billy-Regal. Über ludwigbeck.de Wenn etwas an Großbritannien erinnert, dann sind das Tartans. Und ganz besonders der von Burberry. Auf Schals gewebt, in Trenchcoats verarbeitet, auf Taschen gedruckt. Und seit 1981 machen sie im 1856 gegründeten Unternehmen nun auch schon Parfüms. Besonders gut duftet das neueste Mitglied der Familie „My Burberry“, das an einen Londoner Sommergarten nach dem für die Hauptstadt so typischen Regen erinnern soll. Doch auch für Gentlemen jeder Altersgruppe gibt’s natürlich etwas Passendes: „London for Men“ duftet – nicht nach Stadt –, sondern nach Lavendel, Bergamotte und Leder. Ganz fein und überhaupt nicht aufdringlich. Lovely! Andrea Warnat Inhaberin von „Die Parfümerie Andrea Prösch-Jähnig“ in Quickborn MARKENGESCHICHTE PENHALIGON (2); GETTY IMAGES D ie Mühsal einer Umzugsreise Ende der 1860erJahre mag man sich heute kaum mehr vorstellen: Wir sind im viktorianischen Zeitalter, es gibt gerade erste Fahrversuche mit einem primitiven benzinbetriebenen Fahrzeug. In Penzance, am Zipfel Cornwalls, macht sich ein junger Mann mit seiner Familie auf, in die 3-Millionen-Metropole London (Berlin hatte 800.000 Einwohner) umzusiedeln. Die lange Reise endet hinterm Piccadilly Circus, neben einem türkischen Hamam. Auch wenn es die Ära der Entdeckungen und der industriellen Entwicklung ist, von Dekadenz und Extravaganz in der Upper Class Society, in den vom Kohlestaub geschwärzten Straßen riecht es noch übelst nach dunklem Alltag. Doch William Henry Penhaligon, ein moderner Dandy im besten Sinne – traditionelle Werte achtend und voller Neugier auf das Ungewöhnliche –, hat schon etwas anderes vor Augen. Oder besser in der Nase. Kaum findet er 1870 ein geeignetes Ladengeschäft in der Jermyn Street und eröffnet seinen Barber’s Shop, ist die Aristokratie ganz wild auf seine Rasur, die Pomaden und auf seine Wässerchen. Schnell erwirbt William Henry angrenzende Geschäfte. Darunter das bekannte Hamam. Die charakteristischen, neblig-dämmrigen Lavendel-Türkisch-Rose-Schwaden, die ihn täglich umwehen, interpretiert er und bannt sie 1872 in einen Flakon. „Hammam Bouquet“ begründet die Dufthistorie des Hauses und bleibt sein lebenslanger persönlicher Lieblingsduft. „Hammam Bouquet“ steht nach wie vor in London in den Regalen, wie im Flagship Store am Covent Garden. Hinter der historischen Fassade und der weißen Markise wird man schlicht eingesogen in die Bastion für außergewöhnliche Düfte in der Wellington Street 41. Hier steht seit 1975 gefühlt Penhaligon’s Zentrale. Auch wenn William Henrys Sohn Walter und später sein Enkel Leonard übernahmen, im Zweiten Weltkrieg auch das Hamam zerstört wurde und später verschiedene Inhaber an verschiedenen Orten eröffneten und wieder schlossen: William Henrys handgeschriebene Formeln und Ideen überdauerten die Jahrhunderte. Und hergestellt und abgefüllt wird bis heute fast alles per Handarbeit und ausschließlich im UK. Für die Serie „Bayolea“ beispielsweise nutzte Parfümeur Mike Parrot einen Kassenschlager aus Williams florierendem Shop. In den Archiven fand er die Ur-Formel von „Bay Rum“. Diese Mixtur aus Rum sowie den Beeren und Blättern des Westindischen Lorbeers kommt ursprünglich aus der Karibik. Der gepflegte Mann setzte die Mixtur universell ein – als Aftershave, Cologne, Deodorant, Duft für Rasierseifen und als Gesichtswasser. „Bayolea“ ist eine moderne Auflage der bewährten Formel. So war es immer – so soll es bleiben. Selbst unter dem Dach des spanischen Hauses Puig, das Penhaligon’s inzwischen erworben hat. Schließlich hat der „Hip Heritage“-Stil sogar ein gebräuchliches Adjektiv kreiert; „this is so penhaligons“ hört man hie und da in Londons Straßen. Großen Anteil am Bewahren der Kultur hat Nathalie Vinciguerra, die die Duftentwicklung verantwortet und sich stets die Großen der Branche leistet. Darunter die Meister-Parfümeure Alberto Morillas und Bertrand Duchaufour. So werden die berühmten Kreationen so behutsam wie möglich angepasst. Doch das Hegen der Traditionen im Sinne des Erfinders bedeutet eben neue Wege zu wagen: So wie sich in den Stores poppige Designelemente zum edwardianischen Stil harmonisch fügen, beduftet man seit Jahren die Londoner Fashion. Alberto Morillas arbeitete zwei Jahre lang mit dem English National Ballet zusammen, um das anmutige „Iris Prima“ zu entwickeln: Eine Choreografie der Moleküle, gleichsam Noten und Tanzschritte in olfaktorische Ideen umgesetzt. Über allem die Iris, die so dosiert ist, dass sie das Gefühl heraufbeschwört, wie eine Primaballerina durch die Luft zu schweben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – ihre Akkorde erklingen auch in der neusten Kollektion „Trade Routes“; inspiriert vom Handel mit den kostbarsten Waren aus aller Welt, die im frühen 19. Jahrhundert in den Londoner Docks lagerten. Ob wertvolle Perlen und Seidenstoffe (in „Empressa“) oder Gewürze, Hölzer, Harze, Rum, Absinth, Safran, Amber, Oud und Patschuli (in „Levantium“). Auf ihnen prangen selbstverständlich die Wappen, die königlichen Zertifikate, die den fortbestehenden Handel mit HRH The Duke of Edinburgh und HRH The Prince of Wales symbolisieren. In der Vergangenheit war es nur das Parfüm, das die Menschen an fernste Orte und exotische Plätze führen konnte. Häuser wie Penhaligon’s lassen uns diese Reisen, diese Emotionen nach wie vor erleben und mehren ihren Erfolg. Obwohl wir heute um die Welt jetten. Oder gerade deswegen. Hip Hip Heritage Die englische Parfüm-Manufaktur Penhaligon’s lässt seit fast 150 Jahren Noten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihren Düften erklingen. Susanne Opalka begeistert sich für die Harmonien, die sich daraus ergeben Friseur und Parfümeur: Penhaligon’s Anfänge liegen in der Jermyn Street des 19. Jahrhunderts 61 INTERVIEW A Am Morgen hatte er in Howick Place die Männer-Kollektion gezeigt, in bester ConférencierManier, amüsant und cool wie die Entwürfe. Er beherrscht den perfekten Auftritt, als Designer, als Schauspieler, als Regisseur. Und natürlich beherrscht er die Pose, immer noch, immer besser. Und nervt damit kein bisschen. Seine Umgangsformen sind so britisch, formvollendet, begleitet von subtilem Humor, dass die Herkunft Texas als merkwürdiger Bruch erscheint. Jetzt, am Abend, sitzen wir in einem separaten Raum im angesagten, exklusiven Londoner „Chiltern Firehouse“-Hotel – wo sonst sollte er sein neues Parfum feiern? Sprechen wir also über Noir Extreme. Ist der Mai ein guter Monat, um einen neuen Duft auf den Markt zu bringen, weil der Sommer vor der Tür steht, mit den warmen Nächten und voller Losgelöstheit? Man weiß nie genau, wann der passende Moment ist. Wenn man beispielsweise ein Produkt „Extreme“ nennt, kann man nie sicher sein, ob nicht irgendetwas Furchtbares passiert und es dann heißt: „Oh Gott, und du hast es ‚Extreme‘ genannt!“ Und man denkt sich: „Wenigstens heißt es nicht ‚Extremiste‘!“ Das klingt jetzt furchtbar, aber unser PR-Team für Düfte schreibt normalerweise wortreiche Texte, doch für mich sind nur meine Idee bei der Duftentwicklung und die Inhaltsstoffe wichtig, und ob er gut riecht oder nicht. Und ich habe das also meinem Fahrer vorgelesen und musste laut lachen (lacht) – das können Sie ruhig schreiben –, denn es ist alles so ein Blödsinn! Wichtig ist nur, ob ein Duft toll „Mein idealer Mann bin ich” Mag jetzt auch die große Bescheidenheit angesagt sein: Kaum trifft man Tom Ford, überlegt man, dass ein bisschen mehr Hedonismus eigentlich nichts Schlechtes sein kann. Das Sympathischste an dem Wahl-Engländer aber ist, Interviews mit ihm sind 62 TOM FORD (5); MONTAGE: ICON niemals langweilig, sagt Inga Griese riecht oder nicht. Wann er auf den Markt kommt, ist so egal, ebenso, ob er von Frauen oder Männern getragen wird. Ach ... Die einzige Frage ist: Ist es ein toller Duft? Wahrscheinlich ist das eine sehr unromantische Antwort, ich könnte mich auch hinstellen und sagen: „Oh, ja, der Mai ist so ein Wonnemonat, voller Romantik und langer Sommernächte in Paris, in denen es bis 23 Uhr hell ist und viel Zeit ist für die Magie der …“ und so weiter. Aber der Punkt bleibt: Duftet er gut? Und was den strategisch richtigen Zeitpunkt betrifft, also wie häufig und wann man einen Duft auf den Markt bringt: Das muss man ganz realistisch sehen. Man braucht vor allem ein tolles Produkt. Dann überlegt man, welches der passende Zeitpunkt ist: Kommen gerade andere Düfte auf den Markt? Diese pragmatischen Aspekte sind vielleicht unromantisch, aber so sieht die Wirklichkeit aus. Der Grund, weshalb man Parfüm verwendet, ist wahrscheinlich auch viel unromantischer als verheißen. Gehört es nicht einfach zum Anziehen dazu? Ich bin besessen von Düften, wirklich. Meistens rieche ich wie ein wandelndes Potpourri aus all meinen Düften, weil ich sie alle benutze – ich sprühe sie einfach alle übereinander, in mehreren Schichten. Ich denke, dass es bei all meinen Düften einen gemeinsamen roten Faden gibt. Amber, Patschuli, Vanille, Sandelholz – es gibt einige Noten, die ich immer liebe. Manche finden die schwer, aber für mich sind sie satt und üppig. Und sowohl „Noir“ als auch „Noir Extreme“ sind interessant, denn sie haben würzige Kopfnoten und blumige Herznoten, aber die Basisnote, die den Duft erdet, besteht bei beiden aus Amber, Vanille und Sandelholz. Insofern haben alle meine Düfte ein gemeinsames Thema: Sie sind warm. Manche haben auch eine gewisse kühle Note, aber insgesamt sind sie warm. Ihre Unisex-Idee kam damals gut an, jetzt haben auch Sie Düfte für Frauen und für Männer. Fordert der Markt diese Unterscheidung? Ja, es ist wirklich eine Frage der Markterfordernisse. Vor allem Männer – mehr Männer als Frauen, aber manchmal auch Frauen – fühlen sich beim Kauf eines Dufts sicherer, wenn sie wissen, dass er für sie gedacht ist. Trotzdem wird das Damenparfüm „Black Orchid“ zu etwa 20 bis 25 Prozent von Männern gekauft. Ich habe beruflich mit einem sehr netten Italiener in Mailand zu tun – eindeutig heterosexuell – und eines Tages trug er „Black Orchid“. Ich fragte ihn: „Ist das ,Black Orchid‘?“ Als er das bejahte, meinte ich: „Wusstest du, dass wir das ursprünglich als Frauenduft entwickelt haben?“ Der Mann war ganz aufgeregt. „Wirklich?! Oh Gott! Aber ich finde ihn toll!“ Ich sagte: „Das ist völlig okay! Du findest ihn toll! Und er steht dir super!“ Ich glaube also – nein, ich weiß –, dass sich die Grenzen verwischen. Es ist den Leuten immer weniger wichtig. Sie tragen einfach, was ihnen gefällt. Aber dieser Duft, über den wir jetzt sprechen, ist „Men’s Noir Extreme“. Denken Sie, dass sich auch die Männer in den vergangenen Jahren verändert haben? Grenzen lösen sich ja nicht nur im Parfümregal auf. Auf jeden Fall! Das ist genauso wie mit diesen ganzen jungen Models, die jetzt vielleicht 17, 18, 19, 20 Jahre alt sind. Die haben eine ganz andere Einstellung zu Männlichkeit und Sexualität. Sie sind nicht so festgelegt. Auch bei mir gibt es noch diese Rückstände, die Überreste, die meine Generation prägen. Zum Beispiel bei blumigen Düften: In diesem und auch in anderen unserer Herrendüfte gibt es eine Menge Blumennoten, und in der viktorianischen Zeit wurde das sehr geschätzt. In den 1890er-Jahren war Veilchen ein sehr beliebter Herrenduft. In den 1950ern hieß es dann: Oh nein, Männer tragen keinen Veilchenduft, keine Blumennoten! Heute wird das viel eher akzeptiert. Es ist offener, lockerer. Aber ist das in allen Lebensbereichen so? Ich glaube ja. Sie nicht? Mir kommt es so vor, als ob die Amerikaner immer weniger entspannt sind. Ich lebe ja überwiegend in Europa, aber ja, leider nimmt man die religiösen Rechte wahr und die Amerikaner, die sich sehr lautstark äußern. Es ist lustig, sie kommen zu mir ins Büro und sind alle so laut. Wenn unser New Yorker Team bei uns eintrifft, kann man sie sofort hören. Und das Komische ist, dass ich den amerikanischen Akzent nicht gerne höre, dabei weiß ich, dass ich selber einen habe. Ich finde das besser, als einen falschen englischen Akzent zu haben. Aber er klingt für mich trotzdem schrill. Wie auch immer, ich weiß gar nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte … Ach ja: Sie haben recht – in Amerika gibt es noch diese Rückstände. Und doch: Die Kinder meiner Freunde sind jetzt um die 17, 18, 19, 20 Jahre alt und sind so entspannt, was ihre Kleidung und ihr Aussehen betrifft. Jungs lackieren sich die Fußnägel, sie sehen aus, als wären sie schwul, aber sie sind es nicht. Selbst in Amerika ist es sehr, sehr viel lockerer geworden. Alles, überall. In Großbritannien gehören eine gewisse Extravaganz und politische Unkorrektheit zum guten Stil. Ihre neue Männer-Kollektion scheint direkt darauf einzuzahlen, sie hat Humor und Eleganz. Dankeschön! Nun, ich lebe schon eine ganze Weile hier und ich fürchte, ich habe mittlerweile etliche britische Eigenheiten. Ich mag diese Mischung aus Skurrilem, Lebensqualität, guten Umgangsformen und Leichtigkeit. Die Briten hatten immer ein Faible für das Exzentrische. Sie lieben Kostümfeste. Man hat hier immer noch einen gewissen Hang dazu, sich herauszuputzen. Anderswo auf der Welt erlebt man es selten, dass alle Menschen auf der Straße wie aus dem Ei gepellt wirken, aber hier sind Frauen frisch frisiert, haben die angesagten Handtaschen – und schämen sich nicht dafür, dass sie neu sind. Das ist interessant. Sie empfehlen diese Sneaker zum Abendanzug. Eine smarte Idee. Andererseits standen gerade Sie immer sehr für Eleganz. Ich fand, die Models sahen elegant und chic aus in diesen Sneakers. Ich selbst würde sie wahrscheinlich nicht tragen, denn ich bin zu alt. Aber wenn ich 25 wäre und etwas größer und schlanker: auf jeden Fall. Will nicht jeder größer und schlanker sein? Ich schon. Jede neue Generation ist größer als die davor, und ich fühle mich immer kleiner, denn ich schrumpfe, während die Models alle zehn Jahre fünf Zentimeter größer werden. Nein, ich denke, das ist eine sehr moderne Art der Eleganz. Sehr entspannt. Ich mag diesen Look sehr. Haben Sie ein ideales Männerbild? Nun, ohne narzisstisch klingen zu wollen: Mein idealer Mann bin ich. Wenn ich es nicht selbst bin, so wie ich jetzt aussehe, dann sind es meine Kriterien bei der Arbeit an einen Look. Wenn ich etwas anziehe, überlege ich: „Hm, wenn ich 1,88 groß wäre und sieben Kilo leichter: Ja, okay, das geht.“ Also ist es eine Art Fantasie-Selbstbild mit Fremdanteilen. Wenn ich mir nicht vorstellen kann, ein Stück unter veränderten Körper- oder Altersbedingungen zu tragen, dann fliegt es raus. Selbstvertrauen ist ja nichts Schlechtes. Warum ist es uns oft so suspekt? Ich denke, man braucht immer einen Standpunkt und einen Leitwolf. Unbedingt. Prada sieht immer nach Prada aus, weil es dem Geschmack von Miuccia entspricht. Und man spürt, dass es Miuccia ist. Karl Lagerfelds Sachen sind ganz klar Karl. Erfolgreiche Marken haben einen Standpunkt. Sie sind mal mehr und mal weniger angesagt, aber sie haben immer einen Standpunkt. Fühlen Sie sich von den neuen Medien und ihrem hohen Tempo unter Druck gesetzt? Ja, ein wenig durchaus. Ich nutze Social Media nicht so stark wie viele andere, weil ich denke, dass es einen entzaubert, wenn man zu präsent und verfügbar ist. Ich möchte mich nicht mit George Clooney vergleichen, aber ihn sieht man auch nie, wenn er nicht gerade einen Film promotet. Er ist nicht ständig in der „Hello!“ präsent. Wenn man ihn dann sieht, denkt man: „Oh, wow, George Clooney.“ So erhält man sich … Ich weiß nicht, wie sich das anhört, wenn Sie es aufschreiben, aber es stimmt. Daher denke ich, man muss, besonders, wenn man eine Marke ist, sehr sorgfältig sein. Aber es entspricht auch meinem Wesen. Ich bin ohnehin schon eine öffentliche Person. Ich möchte nicht, dass jeder ständig sehen kann, was ich mache. Ich muss den Leuten nicht zeigen, was mein Sohn und ich zu Abend essen. Wie stellt man es als Mann an, auf kluge Weise älter zu werden? Oh je, darüber habe ich gerade heute nachgedacht, als ich mich umzog. Man muss sehr vorsichtig sein. Ich werde es zulassen müssen, ein klein wenig zu altern. Was gut ist … Es bleibt einem nichts anderes übrig. Was für eine Alternative hat man? Ich möchte nicht jünger aussehen, als ich bin. Ich möchte bestmöglich für mein Alter aussehen. Das habe ich einmal jemanden sagen hören. Ich möchte bestmöglich aussehen, mit 53, mit 55, mit 60, mit 70 und mit 80. Beweglich bleiben, Yoga machen, gesund sein. Wenn man krampfhaft versucht, 20 Jahre jünger auszusehen … ... dann sieht man aus wie ein Idiot. Was für Frauen und Männer gilt? Und darum werde ich auch keine Tennisschuhe zum Smoking tragen. 63 SONNTAG, 3. MAI 2015 London Diary Erinnern Sie sich? An die Zeit, als man statt WhatsApp und E-Mail noch Karten von fremden Orten schrieb? Wir tun es noch immer. Illustrationen von Tim Dinter und Zebedee Helm Der elegante sandfarbene Häuserblock könnte in Paris stehen, wie auch die Platanen, die in der Northumberland Avenue Schatten an die Fassaden zeichnen. Wir sind nicht in Paris. Es ist London am Whitehall Place, direkt an der Themse, über die Hungerford Bridge gelangt man direkt zum London Eye, drei Schritte in die entgegensetzte Richtung, der Trafalgar Square. Zur Seite, Big Ben. An diesem magischen Dreieck steht mit seinem französischen Charme, elegant und unaufgeregt, „The Corinthia“. Eine wunderbare Atmosphäre, Sonnenschein in London. Tief durchatmen und träumen. Man könnte alles vergessen. Aber halt, es gibt natürlich zu dem Gebäude am Whitehall Place sehr viel zu erzählen! Das Hotel wurde 1885, angelehnt an den Pariser Baustil, erbaut. Das damalige „Hôtel Métropole“ war Anfang des 20. Jahrhunderts der Treffpunkt der Londoner Gesellschaft. Prunkvolle Bälle wurden gefeiert, das Cabaret „Midnight Follies“ war ein Highlight in den 20er-Jahren. 1936 zieht das Verteidigungsministerium in den französischen „Häuserblock“. Das Ministerium verstaute 600 Büros. Eine Legende besagt, es existierte ein Tunnel direkt zur Downing Street. Eine historische Verantwortung, als 2008 die Renovierung des Gebäudes beginnt und es wieder zu einem Hotel umgestaltet werden soll. Die 125 Jahre zählende Sandsteinfassade wird detailgetreu restauriert. Innen angenehm modern, nicht unterkühlt. Geschickt werden die vergangenen Zeiten in kleinen Details zitiert. Aus den 600 Büros werden 294 Zimmer, ein fabelhaftes Spa in ebenso fantastischer Größe von 3300 m2 und wieder einem prunkvollen Ballsaal. Bemerkenswert der violett/orangefarbene Teppich, der den Raum dominiert. Das hat Stil. Man kann nicht umhin, sich dort die Feste vorzustellen, wie sie im „Métropole“ stattfanden. Die beeindruckenden Räume mit den meterhohen Decken einer Beletage beherbergen das „Northall“-Restaurant, dessen britische Küche einfach ausgezeichnet ist, und das „Massimo“-Restaurant. Sehr nett ist dort der Service, eine kleine Leselampe zur Menükarte zu bekommen. So sitzen viele Gäste wie in einer ehrwürdigen Bibliothek über ihren Büchern. Gut studiert, bestens italienisch gegessen, am weltbesten Tiramisu kommt man gar nicht vorbei. Die Dolci sind eine Vorliebe des Chefkochs. In der Kuppel der Lobby Lounge eine Lichtinstallation aus 1001 Kugeln französischen Kristalls, natürlich: Baccarat. Angekommen im 21. Jahrhundert. Bleibt nur eine Frage: Wie kann man London genießen, ohne das Hotel verlassen zu müssen? Ganz einfach in eine der Penthousesuiten einchecken und von der Dachterrasse aus einen Blick auf das Panorama nehmen; ein hellblau-grau-weißes Gemälde, hinter sich die romantische französische Dachgaube. Magic! Jetzt darf man wirklich getrost alles vergessen. Barbara Krämer will beim nächsten Trip wenigstens einmal vor die Tür THE CORINTHIA THE HALKIN CONNAUGHT Das Bedürfnis, vor die Tür zu gehen, schleicht sich im „Connaught“-Hotel über die dicken Teppiche auf leisen Sohlen davon. Zum Glück ist es Sonntag, auch die exklusiven Boutiquen in der angrenzenden Mountstreet gönnen sich eine Verschnaufpause. Die „Library Suite“ bietet Lesestoff für ein halbes Semester, einen Postkartenblick über die Dächer von London sowie eine große Lichtsäule, um die der Wind pfeift wie an der Nordsee. Fast sehnt man aus Gemütlichkeitsgründen den Regen herbei – einer der wenigen Wünsche, die der Etagen-Butler vermutlich nicht erfüllen könnte. Dafür: Tee! Und Obst und Kekse und das Sofa, in das man sich fallen lässt wie in die Arme eines riesigen Teddybären. Im Erdgeschoss betreibt die französische Köchin Hélène Darroze ihre Zwei-Sterne-Küche. Im Hotelrestaurant „Espelette“ gibt es frische Brasseriekost mit britischem Einschlag und dazu den Blick auf ein Wasserspiel des japanischen Stararchitekten Tadao Ando. Die geheimen Kammern des „Connaught“ liegen jedoch zwei Stockwerke unter der Erde: Hier gibt es einen badewannenwarmen Pool, eine Dampfsauna, Gym und asiatisch inspirierte Körperbehandlungen im „Aman“-Spa. Der Rückweg wird zum Slapstick: Halb benommen vor Entspannung taumelt man leicht orientierungslos durch die Marmorgänge der Lobby. Da hilft nur: Tee! Und die aufsteigende Energie, die einem sagt, nun bereit für die Großstadt zu sein. Heike Blümner empfiehlt für Wellnessurlaube ab sofort London ILLUSTRATIONEN: TIM DINTER 64 Das Erstaunliche an Hotels ist ja häufig, dass sie nichts für ihre Scheußlichkeiten rechts und links können. Auf Abbildungen wirken sie womöglich elegant – aber dann steht man mit seinem Rollkoffer vor dem Gebäude und fragt sich, wie man die Baustelle oder die Ruine daneben ausblenden konnte. Das „The Halkin“ ist ein Boutique-Hotel; kein Design-Hochhaus, sondern ein feines, altenglisches Gemäuer, das 41 Zimmer und Suiten hinter einer georgischen Fassade beherbergt. Das Beste daran: Es liegt im Belgravia-Viertel, ein Stadtteil an der Hyde Park Corner, in der Halkin Street, in der nichts den Schönheitssinn stört. Blühende Magnolien, Botschaften, keine Shops, alles flüstert Diskretion. Und diese elegante Distanz setzt sich auch im Inneren des Hotels fort. Hier tummeln sich keine Hipster-Bärte an einer Bar, hier kehren internationale Geschäftsleute ein, die effizient arbeiten und mit Klasse absteigen möchten. Zu der trägt auch der entspannte Blick nach außen bei, der in den bepflanzten Hinterhof führt, während man in den zeitlos sandfarbenen Zimmern zur Ruhe kommt. Ruhe ist ein gutes Stichwort, es herrscht eine distinguierte Haltung, die im besten Sinne altmodisch wirkt. Morgens liegt die Zeitung unaufdringlich in einem kleinen Leinenbeutel vor der Tür, daran befestigt eine Notiz mit der Wettervorhersage für diesen Tag: „Partly cloudy sky“. Und auch das baskische Restaurant „Ametsa“, das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet ist, besticht nicht mit vermeintlich cooler Lounge-Musik oder Kellnern, die sich für Stars halten, sondern mit einer erstklassigen Küche und Personal, das einem gern Rätsel aufgibt: Wählen Sie die „Sea Bass with Celery Illusion.“ – „Bitte, was ist das, eine Sellerie-Illusion?“ Da müssen Sie schon selbst drauf kommen. Und dann schmeckt man hin, rätselt, wirft Apfel in den Raum und der Ober nickt anerkennend. Was noch? Lauch? Richtig. Und? Köstlich! Ach, und erwähnten wir die Patata trufada? Die alleine ist die Reise wert. Susanne Kaloff sehnt sich nun stets nach etwas eleganter Distanz Ausschneiden, nachlaufen. Der Typ unten ist, richtig: Spike aus dem HollywoodHit „Notting Hill“ UNTERWEGS MIT HERMÈS ZEBEDEE HELM FOR HERMÈS; INGA GRIESE (2) WEILE OHNE EILE Ein Pool! Auf die Idee muss man erst mal kommen. Aber Sophie Hicks ist nun einmal eine renommierte Architektin – und so verwandelte sie kurzerhand das ganze Souterrain ihres Backsteinhauses in Powis Mews, das nicht besonders tief, dafür aber breit ist, in ein langes, schmales Schwimmbecken. Darüber führt, an gläsernen Wänden vorbei, eine Betontreppe in die nächsten Etagen. Die lange Küche mit dem mächtigen Edelstahlherd ganz oben wirkt wie ein Wintergarten, ist gerahmt von lauschigen Terrassen, der Blick rüber zu den Nachbarn ist unverhangen. „Ich stell mir immer vor, wer sie so sind.“ Sophie Hicks ist eine ziemlich coole Frau, sie hat als Moderedakteurin, und Stylistin gearbeitet, besonders für Azzedine Alaïa, hatte einen kurzen Schauspielmoment mit Fellini, bis sie Architektur studierte und seither mit ihrem Studio auch, klar, für große Modemarken tätig ist. Mehr als hundert Geschäfte in den Weltmetropolen sind es bereits – und auch Paul Smith zählt zu ihren Auftraggebern, für ihn designt sie auch Parfüm-Flakons. Sie wohnt schon immer in der schmalen Straße, von der ihr inzwischen eine ganzes Stück gehört – und in der David Hockney auch schon ewig ist. Heute ist sie unsere persönliche Führerin, eine leider einmalige Tour. Auf Einladung von Hermès zeigt sie uns ihr Notting Hill. Manche aus der international gemischten Gruppe tragen demonstrativ den Button am Revers, der Stararchitektin Sophie Hicks wohnt schon ewig in Notting Hill uns als „Flaneur forever“ ausweist. Es ist das Jahresthema der Franzosen, die Jahr für Jahr ihre Arbeit dem Motto unterwerfen, das Kreativdirektor Pierre-Alexis Dumas lange Zeit im Voraus sorgfältig überlegt hat. Seidencarrés werden danach bemalt und Porzellan, Dekorationen werden erdacht und die braunen Bänder bedruckt, mit denen die orangefarbenen Kartons traditionell verschnürt werden. Das Ganze wird so ernst genommen, abgewogen und ausgetüftelt, wie es üblich ist bei Hermès. Ein ganz besonderer Spaziergang durch London, damit sollte das Motto gefeiert werden. Auch, weil gerade in der New Bond Street das alte, neue Geschäft wiedereröffnet worden ist. Und so kam es, dass Ina Delcourt, die Kommunikationschefin von Hermès, vor vielen Monaten bei Sophie Hicks anrief. Man kannte sich nicht. Mrs. Hicks hatte gerade einen „besonders grauenhaften Tag“ hinter sich, als die Französin am Telefon „so reizend war, das einzig nette Gespräch an diesem Tag“ und mitreißend von der Flaneur-Idee erzählte. Was, außer „Ja!“ hätte sie antworten sollen. Und so schlendern wir nun an einem sonnigen April-Tag durch den Kunst- und Kult-Bezirk, den Sophie als Kind nicht betreten durfte, weil es als eher dubiose Gegend galt. Gleich um die Ecke von Mrs. Hicks’ Haus und Büro ist das „Globe“, einst Treffpunkt der karibischen Ein- wanderer, an die auch der berühmte dreitägige Sommer-Karneval erinnert. Jimmy Hendrix soll im „Globe“ gestorben sein, wird gemunkelt. Sophie erzählt, wir lassen uns treiben. Über die immer noch authentische Portobello Road, durch versteckte Parks und entlang des Flusses, auf dem Hausboote mit kleinen Gärten auf dem Dach ankern, bis schließlich zur „Dock Kitchen“ von Tom Dixon. Im Electric Cinema bleibt die Zeit stehen; die Tür, die Spike ahnungslos und in oller Unterhose den Reportern in „Notting Hill“ öffnet, ist blau wie eh und je. Der hässliche Trellick Tower entpuppt sich innen als architektonisches Juwel, der Blick ist fantastisch. Dahinter ist ein wilder Garten angelegt, als vorübergehendes Projekt auf einer Brache geplant, „Meanwhile Garden“, seit mehr als zehn Jahren nun schon. Ein Entenpärchen arbeitet intensiv am Nest in der Mitte des Tümpels. Der Wettergott wollte, dass wir alles sehr genießen. Nein, Flanieren hat nichts mit Sport, Tourismus, Pragmatismus zu tun. Es ist, wie Pierre-Alexis Dumas sagt „kein Zeitverlust, sondern die Entdeckung der Zeit.“ Der Flaneur „hamstert, sammelt, pflückt“. Er nimmt die flüchtigen Momente wahr, sieht, was wir Eilenden übersehen, was wir vergessen haben wahrzunehmen. Botschaft verstanden. Inga Griese 65 BAUPLAN 2 4 7 8 DIE „WILLOW BAG“ VON MULBERRY In den Ateliers und Manufakturen dieser Welt werden weiterhin Handwerkskünste gepflegt, und wir schauen zu Von Europa bis Japan, Taschen von Mulberry sind auf der ganzen Welt zu Hause. Die Produktion deswegen nach komplett Fernost zu verlegen, kommt für die Briten aber nicht infrage. Die Hälfte der Produkte auch weiterhin in UK produzieren zu wollen, bekräftigt die Eröffnung der zweiten Fabrik „The Willows“ Anfang 2014 in Somerset, England. Hier wird zum Beispiel die Willow Bag produziert, die von der ehemaligen Kreativdirektorin Emma Hill entworfen und nach der gleichnamigen Fabrik benannt wurde. Bei aller Liebe zum Heimspiel, beim Leder greift man auf bewährte italienische Qualität zurück. Etwa sechs Stunden braucht es, um aus den losen Lederstücken in Handarbeit die Willow Bag zu fertigen. Wir sind den geübten Händen in acht Schritten gefolgt. 1. Mit einem Überwendlingsstich werden die Vorder- und Rückseite mit den Seitenteilen verbunden. Es entsteht der Körper der Tasche. 2. Stabilität bringt eine zusätzliche Verstärkung. Mit einem lederbezogenen Hammer wird das Leder fixiert. Der Prozess nennt sich „Blocking“. 3. Bevor es weitergeht, werden Nähte und Reißverschluss auf ihre Qualität geprüft. 4. Die Reißverschlüsse für die auch separat zu tragende Clutch werden an die Vorderseite der Tasche genäht. 5. Ein Zipp mit dem Reißverschluss und die Clutch ist an ihrem vorgesehenen Platz. 6. Der traditionelle Postboten-Verschluss auf der Vorderseite bekommt eine Politur. 7. Im nächsten Schritt wird das kleine Schloss in der Schutzhülle am Henkel befestigt 8. Die fertige Tasche wird ein letztes Mal auf ihre Qualität geprüft. Erst dann kann sie verpackt und in die Läden geschickt werden. Übrigens: Die Willow Bag gibt es in unzähligen Farben. 66 MULBERRY 5 1 6 3 IDEAS ARE BORN DU BIST EIN KREATIVER KOPF MIT BLICK FÜR DAS BESONDERE? DANN FINANZIERE DEINE IDEE DURCH CROWDFUNDING! PROJEKT | MADRETERRA MAXI FLOOR LAMP by Flavio Manzoni, director of Ferrari design ART | DESIGN | FASHION | FILMS | FOOD | INTERIORS | INNOVATION | LIFESTYLE | MUSIC | PUBLISHING In Kooperation mit: