Leseprobe - Callwey Verlag

Transcription

Leseprobe - Callwey Verlag
Udo
Wachtveitl
Alexander
Gutzmer
Guido
Walter
Oliver
Elser
Schauplatz
Die Architektur,
der Film
und der Tod
Dies ist eine Leseprobe
Alle Rechte vorbehalten.
Kontaktieren Sie uns, falls Sie das PDF
weiter verwenden möchten: info@callwey.de
‚Noch heute sprechen mich Leute
wegen der Diözesanbibliothek in
Münster im Tatort
‚Herrenabend“ an.
Dass Wim Wenders
im SamsungSpot durch unser
Berliner GrimmeZentrum läuft, ist
dagegen kaum
jemanden aufgefallen. Klar, der Tatort
ist Kult – und eine
kulturelle Referenz!
Es gibt ja kaum
etwas Deutscheres.
Würde man mich
fragen, wäre ich sofort für eine Folge
dabei.“
Max
Dudler,
Udo
Wachtveitl
Alexander
Gutzmer
Guido
Walter
Architekt
Die Architektur, der Film
und der Tod
Callwey
Verlag
Oliver
Elser
4
5
2012
Tatort Hamburg
Die Ballade von
Cenk und Valerie
6
Vorspann
von
Alexander Gutzmer
Im Jahr 1988 schrieb der Medientheoretiker
Friedrich Kittler einen Aufsatz, der, wie viele
akademische Fachtexte, in der breiten Öffent­­lichkeit einigermaßen unbeachtet blieb.
Dabei war seine These bemerkenswert. ‚Die
Stadt ist ein Medium“ lautete die – und
auch der Titel des Essays. In dem Text erläuterte Kittler, weshalb sich urbane Räume
heutzutage nur noch verstehen lassen, wenn
man sie mit den Begriffen der Medientheorie untersucht. (Gemeint war natürlich nicht
zuletzt Kittlers Medientheorie.) Medien sind
für Kittler sämtliche sozialen Einrichtungen,
die mit Daten umgehen. Medien berechnen,
speichern und übertragen Daten. Und genau
das tun Kittler zufolge eben auch Städte.
Friedrich Kittler war ein schmaler Mann, der
viel rauchte und immer so wirkte, als würde
ihm ein bisschen frische Luft guttun. Mit
jemandem wie ihm hätte der draufgängerische Kommissar Horst Schimanski aus
Duisburg nur wenig anfangen können. Auch
Kittlers Medientheorie hätte Schimi wohl
nicht besonders fasziniert. Schimanskis
Ding war immer das Handfeste: ‚Faust auf
Faust, hart ganz hart“, wie der singende
Sozialarbeiter Klaus Lage es ausdrückte,
1985 für den ersten Schimanski-Kinofilm
‚Zahn um Zahn“. Schmimanski und Kulturtheorie, das passt nicht. Und doch ist der
Prügelkommissar die beste Bestätigung für
Kittlers Gedanken. Kaum einer in der Riege
der Tatort-Kommissare nämlich hat es wie
Schimi vermocht, die Stadt (in seinem Fall
eben Duisburg) auszupressen, ihr ihre Geheimnisse zu entlocken, sie so lange durchzuschütteln, bis sie ihr Innerstes preisgege-
7
ben hat. Auch wenn dieses Innerste selten
rein oder auch nur sympathisch ist.
Städte sind also Medien. Und sie spielen in
Medien eine Rolle. Selten zuvor wurde der
urbane Raum, in dem wir uns bewegen, auf
so strategische, überzeugende und auch
sensible Art und Weise eingefangen wie
durch die ARD-Kultreihe ‚Tatort“. Diese
Erkenntnis war es, die uns zu diesem Buch
bewogen hat. Das enge Verhältnis von
Tatort und Stadt zeigt sich schon daran,
wie man in Deutschland über konkrete
Tatort-Formate spricht. Da gibt es ‚den
Münsteraner Tatort“, da ermitteln ‚die beiden Kölner“, und da versuchen sich immer
wieder Schauspieler daran, ‚den aus Berlin“
zu nutzen, um den Charakter der Hauptstadt ins Bild zu setzen. Um diese Themen
geht es in unserem Buch. Wir wollen zeigen,
wie der Tatort die Städte nutzt, in denen er
spielt. Wir wollen zeigen, welche Rollen die
Städte jeweils spielen. Und wir wollen die
Frage stellen, was die Art, wie Tatort und
Stadtraum interagieren, über unsere (bundesrepublikanische) Gesellschaft erzählt.
Denn dass sie darüber etwas erzählt, davon
sind wir überzeugt. Nach Durchsicht dieses
Buches sind Sie es hoffentlich auch.
Wenn über Stadt nachgedacht wird, dann
geht es immer auch um ein Thema, das mir
als Chefredakteur eines Architekturmaga­
zins naturgemäß besonders am Herzen
liegt: die Architektur. Das heißt, dieses
Buch ist – auch – ein Architekturbuch. Kein
klassisches Fachbuch, in dem Grundrisse
und Schnitte sich über Dutzende Seiten
erstrecken. Aber ein Architekturbuch in
dem Sinne, dass es nach der Wirkung der
Architektur sucht. Diesen Ansatz verfolgt
der Architekturjournalismus heute immer
mehr: Nicht nur sein Aussehen, sondern
auch seine realen Effekte sind für die Beurteilung eines Gebäudes entscheidend. Mit
unserem Buch schließen wir uns diesem
Ansatz an. Auch wir wollen die Effekte von
Architektur zeigen – in diesem Fall ihre
erzählerischen Effekte. Wir wollen untersuchen, welche Rolle Gebäude oder Städte in
konkreten Tatort-Episoden spielen. Und sie
spielen Rollen. Oder ist Ihnen noch nicht
aufgefallen, dass die Täter immer in modernistischen Villen wohnen, die Guten hingegen gerne in wild zusammengestückelten,
aber sympathisch wirkenden Vorstadthäuschen? Und die Kommissare in stets etwas
zu teuer wirkenden, dafür aber ebenso
charmant unaufgeräumten Innenstadtlofts?
Das alles ist natürlich kein Zufall. Stadtbilder und architektonische Impressionen werden im Tatort filmstrategisch eingesetzt. Die
Art, wie das geschieht, verrät einiges über
die politischen Einstellungen der Drehbuchautoren. Es verrät aber auch viel über uns
als Zuschauer. Weshalb denken wir bei moderner Architektur sofort an kapitalistische
Dekadenz? Und weshalb findet bei uns im
Kopf eine Verknüpfung zwischen Stahlarchitektur und Verbrechen statt? Hatte nicht
Adolf Loos mal programmatisch deklariert,
Ornament sei Verbrechen? Für den heutigen
Fernsehzuschauer gilt das offenbar nicht
mehr. Er scheint stattdessen zu glauben:
Ornamentlosigkeit generiert Verbrechen.
Das Ressentiment gegen die Bauten der
Moderne ist eine Konstante aller Tatort-Formate. Ansonsten aber herrscht erzählerisch
und inszenatorisch die ganz große Vielfalt.
Die spaßigen Ermittlungen in Münster haben mit den erdigen Sozialstudien aus Bremen oder Ludwigshafen nicht viel zu tun.
Das jeweils sehr unterschiedliche Lokal­
kolorit ist ein Strukturmerkmal der Reihe.
Und es erklärt vielleicht auch ihren Erfolg.
Der Tatort gehört zu Deutschland – weil
die Republik in ihm sich selbst erkennt.
Der Tatort ist das föderale Deutschland.
Er lenkt unseren Blick dabei gerade auch
auf jene Städte, die nicht permanent medial
reflektiert werden. Tatort, das ist eben nicht
nur Berlin, München, Hamburg. Sondern
– zum Beispiel – auch Hannover. Und als
jemand, der in Hannover aufgewachsen
ist, kann ich sagen: Die Art, wie die Stadt
gezeigt wird, ist mir als Hannoveraner wichtig. Ich möchte die eigene Stadt ‚adäquat“
widergespiegelt sehen. Wobei die eigenen
Erwartungen natürlich, lokalpatriotisch gefärbt, immer etwas zu hoch ansetzen. Doch
gerade das Beispiel Hannover zeigt, wie
über die gefilmte Architektur, in diesem Fall
vor allem über das expressive Polizeipräsidium, die Stadt eine visuelle Präsenz erhält,
die man im realen Stadtraum nur schwer
entdeckt.
In diesem Sinne bildet der Tatort nicht nur
die föderale Identität Deutschlands ab. Er
stärkt und beeinflusst sie auch. Im Tatort
erkennen wir nicht nur uns selbst. Über den
Tatort arbeiten wir auch an uns.
8
Schauplatz
Tatort
Die Architektur, der Film
und der Tod
9
6
12
16
18
20
22
24
26
28
30
32
34
36
38
40
42
44
46
48
50
54
Vorspann
Alle Teams
Berlin
Bremen
Dortmund
Frankfurt a. M.
Hamburg
Hannover
Kiel
Köln
Konstanz
Leipzig
Ludwigshafen
Luzern
München
Münster
Saarbrücken
Stuttgart
Wien
Wiesbaden
Häuser undercover
Auch Gebäude müssen gute
Schauspieler sein
62
10 Fragen an Mehmet Kurtulus
64
‚Ach, Sie sind Architekt? Toll!“
Ein Essay von Udo Wachtveitl
68
‚Die Flügel, die man uns anklebt, passen nicht.“
Dominik Graf und die Räumlichkeit
der Spannung
78
10 Fragen an Stefan Konarske
80
Architektinnen der Atmosphäre
Wie Szenenbildnerinnen im Tatort
Stimmung inszenieren
86
Der Mann vom Vorspann
Ein Besuch bei der Tatort-Legende
Horst Lettenmayer
90
Die Frau und der Raum
Eine frauenbewegte Spurensuche
in Frankfurt und Bremen
92
Fiese Typen hinter Glasfassaden
Architektur als Stilmittel
96
Die Tatort-Städte
98
108
116
122
130
136
146
152
Orte des Bösen
Wo im Tatort getötet wird
156
Charme des Proletarischen
Ein Interview mit Norbert Bolz
160
Nick Tschiller vs. Horst Schimanski
Zwei Macho-Kommissare im Schnelltest
162
Im Knast mit Joe Bausch
Eine Visite in der JVA Werl
172
10 Fragen an Andreas Hoppe
174
Refugien der Nonkonformisten
Die Kommissars-Wohnungen
als Charakterzeichnungen
176
High Noon in der Röhre
Der Architekt Stefan Behnisch erklärt,
wie er fast die Matrix inszeniert hätte
184
10 Fragen an Adele Neuhauser
188
Lieblingstatorte
Die Autoren – drei hymnische Kritiken
108
Impressum, Bildnachweis
Duisburg
Essen
Frankfurt
Berlin
Münster
München
Hamburg
12
3
Länder
2010
Tatort Köln
Kaltes Herz
18
Städte
36
Kommissare
13
Ermittlungen:
Wo wohnen, wie arbeiten
die Kommissare?
von
Oliver Elser
Lea Odenthal und ihr Kollege Kopper können Dienstliches bei einer Flasche Rotwein
nachts am Küchentisch besprechen, denn
sie wohnen gemeinsam in einer Zweck-WG.
Sebastian Bootz hingegen streitet nachts
mit seiner Ehefrau. Sie leben mit zwei
Kindern in einer Hinterhof-Remise in Stuttgart – doch eine Trennung droht. Thorsten
Lannert, sein Partner, lebt wie die meisten
Tatort-Kommissare allein und flirtet durch
eine Klappe seiner Wohnungstür mit der
Nachbarin gegenüber, einer Studentin. Der
Münsteraner Gerichtsmediziner Karl-Friedrich Boerne flirtet nur, wenn er sturzbetrunken ist, mit seinem Nachbarn, dem Kommissar Frank Thiel. Meistens streiten sie
sich, im Treppenhaus und auch sonst. Klara
Blum, Ermittlerin in Konstanz, lebt in einem
Haus am See, dessen Einrichtung ähnlich
hell, freundlich und aufgeräumt ist wie die
Altbauwohnungen von Charlotte Lindholm,
Hannover, Inga Lürsen aus Bremen und
Eva Saalfeld, Leipzig. Keppler dagegen,
Saalfelds Kollege und Ex-Mann, wohnt im
Hotel. Dieses Schicksal teilt er mit Max Ballauf, der erst nach gut einem Jahrzehnt zur
eigenen Wohnung kam, nun aber mit Blick
auf den Kölner Dom. Sein Kollege Freddy
Schenk ist mit einem Phantom verheiratet.
Seine Ehefrau ist häufig am Telefon, aber
nie zu sehen, ebenso wenig wie seine Wohnung. Auch die Wohnungen der Münchner
Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr
spielen fast nie eine Rolle. Reto Flückiger
wohnt auf seinem Boot im Vierwaldstättersee. Frank Steier hat gar kein Zuhause, er
lebt im Frankfurter Polizeipräsidium. Peter
Faber schläft ebenfalls gelegentlich im
Büro. Er wohnt in einem Dortmunder Plattenbau ‚wie ein Penner“, sagt sein Kollege
Daniel Kossik, dessen Wohnung Schauplatz
einer Affäre mit der Kollegin Nora Dalay
ist. Die vierte Kommissarin aus Dortmund,
Martina Bönisch, hat eine Familie, trifft aber
auch Männer zum Sex im Hotel. Felix
Murot vom Landeskriminalamt in Wiesbaden lebt mit einem haselnußgroßen Hirntumor namens Lilly in einer Wohnung mit Klavier. Moritz Eisner, Wien, und Nick Tschiller,
Hamburg, wohnen mit ihren Töchtern zusammen. Felix Stark aus Berlin mit seinem
Sohn. Sein Partner Till Ritter ist der einzige
Tatort-Kommissar, dessen Wohnung in einer
Architekturzeitschrift abgebildet sein könnte. Jens Stellbrink hat die ungewöhnlichste
Wohnung von allen: Einen Pavillon auf dem
Dach eines Schulgebäudes in Saarbrücken.
Klaus Borowski lebt in einer für seine Besoldungsstufe eher zu großen Altbauwohnung
in Kiel, in die einmal sein Chef mit einzieht
und endlich für Ordnung sorgt.
Fast alle Ermittler aus den 18 Tatort-Städten
haben ein charakteristisches Wohnverhalten. Ihre Büros sind oft weniger aussagekräftig. Nicht Vollständigkeit war das Ziel
auf den folgenden Seiten, sondern das Herausfiltern von Mustern und blinden Flecken:
Altbauwohnungen, der Hang zum RetroChic, sexuelle Vorlieben, Ungereimtheiten,
Bemerkenswertes und Kurioses.
Angabe zur
Anzahl der Folgen:
seit Beginn
der Tatort-Reihe
im Jahr 1970.
Bei den Städten
mit aktuell aktiven
Teams bezeichnet
die Jahreszahl
deren ersten
Einsatz. Teilweise
wurde dort bereits
zuvor ermittelt
(z.B. Berlin: 73
Folgen seit Beginn
der Tatort-Reihe,
davon 28 Folgen
mit Ritter und
Stark seit 2001).
Quellen: tatort-fans.de/tatort-fundus.de, Stand 08/2013
14
Bremen
Stade
Kiel
Hamburg
Lübeck
Hannover
Folgen: 31
seit 1997
Seite 18
Folge: 1
1983
Folgen: 28
seit 2003
Seite 28
Folgen: 77
seit 2013
Seite 24
Folge: 1
1981
Folgen: 25
seit 2002
Seite 26
Münster
Bremerhaven
Braunschweig
Folgen: 23
seit 2002
Seite 42
Folge: 1
1982
Folgen: 1
1979
Dortmund
Berlin
Folgen: 2
seit 2012
Seite 20
Folgen: 73
seit 2011
Seite 16
Essen
Leipzig
Folgen: 22
bis 1980
Folgen: 60
seit 2008
Seite 34
Duisburg
Weimar
Folgen: 29
bis 1991
Folgen: –
ab 2013
Düsseldorf
Erfurt
Folgen: 15
bis 1997
Folgen: –
ab 2013
Köln
Frankfurt a. M.
Folgen: 63
seit 1997
Seite 30
Folgen: 65
seit 2011
Seite 22
Saarbrücken
Heppenheim
Folgen: 33
bis 2013
Seite 44
Folge: 1
1984
Wiesbaden
Ludwigshafen
Stuttgart
München
Folgen: 2
seit 2010
Seite 50
Folgen: 57
seit 1989
Seite 36
Folgen: 55
seit 2008
Seite 46
Folgen: 90
seit 1991
Seite 40
Mainz
Baden-Baden
Konstanz
Bern
Luzern
Wien
Folgen: 3
bis 1980
Folgen: 14
bis 1998
Folgen: 26
seit 2002
Seite 32
Folgen: 11
bis 2002
Folgen: 4
seit 2011
Seite 38
Folgen: 58
seit 1999
Seite 48
15
Berlin
Till Ritter
Felix Stark
Beweise
1
Berlin
Schauspieler
Dominic Raacke
Schauspieler
Boris Aljinovic
Dienstgrad
Hauptkommissar
Dienstgrad
Hauptkommissar
1999
34
Im Dienst seit
Bisherige Folgen
Bisherige Folgen
Wohnarchitektur
Wohnverhalten
loftartig
zeitgenössisch
Blickfang
Wohnung
Fahrrad und Ausblick auf Berlin,
rohe Betonwände
flirtet gerne aber
meist erfolglos
Aktuelle Architektur
ab 1990
Nachkriegsmoderne
1950–1990
Präsidiumsarchitektur
Altbau
bis 1950
Aktuelle Architektur
ab 1990
Präsidiumsarchitektur
Bericht
3
2
1
Wichtiges Accessoire in diversen
Tatort-Präsidien:
die Leuchtkarte
für den Überblick.
2
Präsidium bis
2006. Drehort Ludwig-Erhard-Haus,
Architekt Nicholas
Grimshaw, 1998.
Familienstand
Wohnarchitektur
Sonstiges
2001
28
Im Dienst seit
Familienstand
Nachkriegsmoderne
1950–1990
Nirgendwo
sonst wird so
viel mit dem
Auto an den
Wahrzeichen
der Stadt vorbeigefahren.
Zu Hause
sind Ritter
und Stark
nur selten.
Altbau
bis 1950
16
Wohnverhalten
gemütlich
Blickfang
Wohnung
Fernseher
Sonstiges
hat vier Semester
Kunst studiert,
fährt U-Bahn
und Fahrrad
3
Wohnung von Till
Ritter in ‚Machtlos“
(2013). Beton-Chic
mit Berlinblick.
Felix Stark ist ein Familienmensch mit einem
gemütlichen Zuhause. Till Ritter hingegen
zieht als einsamer Wolf nachts durch die Stadt.
Gedreht wird immer in anderen Wohnungen,
von denen eine besonders in Erinnerung blieb.
Denn Ritters Neubau-Loft ist die Einzige unter
allen Kommissarwohnungen, die ein Werk aktueller, zeitgenössischer Architektur ist. In der
Folge „Machtlos“ (2013) ist Ritters spärlich
möblierte Wohnarchitektur zu sehen: kühle
Sichtbetonwände und das Bett direkt am raumhohen Fenster. Er und sein Kollege gönnen sich
dort ein paar Stunden Schlaf, nachdem sie einen Kindesentführer (Edgar Selge) tagelang
verhört haben. Der Entführer weigert sich zu
sagen, wo das Kind versteckt ist, und bleibt bei
der Forderung von 10 Millionen Euro. Einen
ersten Teilbetrag des Lösegelds hat er nach der
Übergabe auf dem Alexanderplatz an Passanten verschenkt. Ist er verrückt? Völlig übermüdet bietet Till Ritter seinem Partner an, bei ihm
zu schlafen. Das helle Loft ist das Gegenbild
zur beklemmenden Enge der Verhörsituation
und zur großbürgerlichen Villa der Eltern des
entführten Kindes. An Ritters Betonwand lehnt
ein Rennrad. Ein kleiner Scherz für die Fans,
denn Ritter ist eigentlich leidenschaftlicher Autofahrer. In der Folge „Alles hat seinen Preis“
(2012) wettet er gegen seinen Rad fahrenden
Kollegen, dass er mit dem Auto schneller ist –
und gewinnt.
Futuristisch
Die Büros der Berliner Kommissare waren
zeitweilig in einem spektakulären Bauwerk untergebracht. Als Drehort diente das Ludwig-Erhard-Haus, der Sitz der Industrie- und Handelskammer sowie der Berliner Börse, das nach
dem Entwurf des britischen Hightech-Architekten Nicholas Grimshaw im Jahr 1998 eingeweiht wurde. Die futuristisch anmutende Halle schien nicht recht zur prekären finanziellen
Situation des Landes Berlin zu passen. Als im
Jahr 2006 die Produktionsfirma des Tatorts
wechselte, wurde das Präsidium in ein weniger
auffälliges Bauwerk verlegt, das im realen Leben von der Berliner Wasserbetrieben genutzt
wird.
17
60
Das erste Opfer
Stadt:
Stuttgart
Team:
Thorsten
Lannert,
Sebastian
Bootz
Buch:
Stephan
Brüggenthies,
Leo P. Ard,
Birgit Grosz
Regie:
Nikolai Rohde
Kamera:
Jürgen Carle,
Ralf Nowak
Szenenbild:
Annette
Reuther
Werner Sobeks
Haus R128 soll
zeigen, dass ökologisches Bauen
und eine radikale
zeitgenössische
Architektursprache
kein Widerspruch
sein müssen.
2011
Bauunternehmer
Börner wird nachts
mit einem Radlader
außer Gefecht gesetzt, dann spritzt
der Mörder ihm
noch eine Injektion.
Restaurantbetreiberin Sigrun
Karrenbrock wird
mithilfe eines gestohlenen Geländewagens überfahren
und verblutet. Ein
Foto und die Mordmethode bringen
die Kommissare
darauf, dass die
beiden Fälle zusammenhängen.
Es geht um einen
Freundeskreis, der
vor vielen Jahren
zerbrach.
61
Thorsten Lannert am Tag darauf bei sich zu
Hause, in dem rundum verglasten Würfel
R128, den man über eine Brücke betritt. Sie
antwortet so kühl wie die Architektur ihrer Umgebung auf die Fragen der Kommissare und benennt als Alibi ihren Liebhaber. Die beiden sind
fassungslos, so wenig Trauer vorzufinden, und
entfernen sich unbeholfen über die schmale
Brücke aus der für sie unbegreiflichen Welt.
Nun ist es keineswegs so, dass im wahren Leben ein solches Haus ein Hort der Gemütlichkeit wäre. Sobek hat mit dem R128 aus dem
Jahr 2000 ein Experimentalbauwerk geschaffen, das seinen Bewohnern einiges abverlangt
– aber es entstand ja auch für ihn selbst. Die
Steuerung von Licht, Heizung und Belüftung
erfolgt über ein vollautomatisches Regelsystem. Gerüchten zufolge hat der Sohn im Teenageralter das Haus verlassen, um auf demselben Grundstück das Gartenhaus zu beziehen.
In der Tatort-Folge war das Haus mit Polstermöbeln nach Entwürfen des Architekten Le
Corbusier ausgestattet, deren Materialkombination aus schwarzem Leder und verchromtem
Stahlgestell in Banken und Firmenlobbys zur
Standardausstattung zählt. Kommissare, Architektur und die zunächst verdächtige Witwe: Alles ertrinkt in einer Grau-Schwarz-Chrom-Tristesse, wären da nicht ein roter Teppichboden,
rote Aktenordner und eine rote Decke auf dem
Sofa: das Farbspektrum der 1980er Jahre, als
das Wort „cool“ die deutsche Sprache eroberte
und man sich an „Designermöbel“ zu gewöhnen anfing.
Bei so viel Niedertracht in architektonisch ambitionierter Umgebung kann kein Zufall vorliegen: Es ist ein tiefes Unbehagen an der Moderne, das hier nahezu wöchentlich zu fernseh­
therapeutischer Verarbeitung drängt. Ein
schwacher Hoffnungsschimmer jedoch glimmt
auf, dass die deutschen Fernsehzuschauer irgendwann ihren Frieden mit der Architektur
unserer Zeit schließen werden: Bei der Darstellung der Polizeipräsidien nehmen immer mehr
Drehorte starke Motive der 1960er bis 1970er
Jahre auf – und das keineswegs nur als negativ
besetzte Angsträume. Auch immer mehr Kommissare wohnen endlich „modern“.
62
10 Fragen
Mehmet Kurtulus
wurde 1972 im
türkischen Usak
geboren. Er spielte
in verschiedenen
an
Mehmet
Kurtulus
Es war der Selbstmord eines Managers auf einem Fähranleger an der
Elbe. Der Mann saß auf einer Parkbank, nachts, während es regnete
und die Schiffe an ihm vorbeifuhren. Das Bild drückte genau die Gefühlswelt dieses Charakters aus. Alle Komponenten der Komposition
passten zueinander und es wurde zusätzlich mit Emotionen gefüllt.
5
Wie würden Sie kurz die Wohnung beschreiben, in der Cenk Batu lebt?
Die Mundsburg in Hamburg war Cenk Batus Adlerhorst. Er konnte
dort im 19. Stock die Stadt im Auge behalten und dennoch in Sicherheit – bedingt durch die Architektur und Anonymität – Kraft und Ruhe
schöpfen.
1
Welches Gebäude hat Sie bisher als Drehort am meisten beeindruckt?
Während der Dreharbeiten zu „Die Ballade von Cenk und Valerie“
standen die Drehtage in der Handelskammer in Hamburg an. Wir hatten eine Bande von durchgeknallten Brookern, denen wir im Film ein
„Zuhause“ geben mussten. Ich betrat also an dem Morgen die Handelskammer, die für uns eine Bank darstellen sollte. Ich hatte sehr wohl
die altehrwürdigen Mauern im Blick. All die Säulen und Bögen waren
mir nicht entgangen, doch das Gefühl des leichten Zweifels, ob es die
richtige Location sei, verflog im Nu mit dem Anblick des riesigen
Glasskubus, fast schwebend im Zentrum der Halle. Eine moderne
Enklave im Traditionellen. Genau richtig für unsere Story.
2
Welches Gebäude ist Ihnen als Drehort negativ in Erinnerung?
Das ist schwer zu sagen, denn in der Kunst liebt man alle Mosaik­teile, die gemeinsam das Ganze ergeben. Wenn zum Ausdruck der
Geschichte des Films ein besonders hässliches oder ein besonders
unangenehmes Gebäude gebraucht wird, kann es nicht hässlich genug
sein, verstehen Sie? Man wird es sowieso lieben.
3
An welchen Tatort erinnern Sie sich wegen interessanter Schauplätze?
Ich meine, „Auf der Sonnenseite“ bot dem Zuschauer ein Kaleidoskop an verschiedensten Welten und Milieus, konzentriert auf eine
einzige Stadt.
4
Welcher „Ort des Verbrechens“ ist Ihnen bei jenen Tatorten, bei denen Sie
mitgespielt haben, am stärksten in Erinnerung geblieben?
6
Wie würden Sie Batus Büro beschreiben?
Batus Büro war die Straße und die gesamte Hansestadt seine unendlichen Flure.
7
Ist Ihnen ein Polizeigebäude aufgrund seiner Architektur aufgefallen?
Da muss man nicht lange nachdenken – die Davidwache mit ihrer sehr
hanseatischen Struktur, die für Standfestigkeit, Tradition und Klarheit
steht. Für einige „Klienten“ springt da sogar noch so was wie ein Museumsbesuch im denkmalgeschützten Altbau raus. So hätte man auch
den kulturellen Teil abgedeckt.
8
Wo in „Ihrer“ Tatort-Stadt würden Sie gerne einmal drehen?
Der Fernsehturm in Hamburg hat für mich immer etwas „Spaceiges“.
Ich denke da nicht an einen Weltraum-Tatort, sondern versuche lediglich, seine Wirkung zu beschreiben.
9
Was sollte dort passieren?
Eine gediegene Restaurantszene. Die Luft ist zum Schneiden. Es sind
mehrere „Parteien“ im Raum. Cenk Batu unter ihnen. Jemand läuft
und springt durchs Fenster in die Tiefe – ein optischer Leckerbissen –
aber es ist diesmal kein Selbstmord, sondern Flucht.
10
Bitte vervollständigen Sie diesen Satz: „Wenn in einem Tatort ein Architekt/eine Architektin vorkommt, dann ist er/sie meistens …“
..mit Brille.
Filmen von Fatih
Akin mit. 2004 produzierte Kurtulus
mit ihm ‚Gegen die
Wand“. Die Rolle
des Cenk Batu
übernahm er in
2008. 2011 erklärte
er, seinen Vertrag
nicht zu verlängern.
63
64
Essay
1
2
3
4
5
6
7
10
13
16
8
11
14
17
9
12
15
18
von
Udo Wachtveitl
‚Ach, Sie
sind
Architekt?
Toll!“
Im BR-Tatort
‚Im freien Fall“
gibt sich
Kommissar
Leitmayr als
Architekt aus.
Das passt, so
Udo Wachtveitl
in diesem Essay.
Denn Architekten schaffen
künstliche Welten – wie Filme.
D
as Geschäft der Tatort-Ermittler ist Aufklärung.
Sie sind auf der Seite des Rechts und sortieren
die Welt in Gut und Böse. Ihr Auftrag ist es,
stellvertretend für den Zuschauer, im Gefüge
der bundesrepublikanischen Wirklichkeit die
Räume des Unheimlichen – reale und psychologische – zu erkennen, zu erforschen und dem
Tod, der dort wohnt, die beängstigende Macht
zu nehmen. Denis Diderot, einer der prominentesten Aufklärer, formulierte die für das bürgerliche Schauspiel wichtigste Raumtheorie, nämlich die der „Vierten Wand“. Im Theater trennt
diese imaginierte, einseitig durchsichtige,
ansonsten aber undurchdringliche Wand die
Szene – den Guckkasten – vom Betrachter. Die
Akteure sind in ihrer Welt versunken, wissen
nicht, dass sie beobachtet werden, und haben
somit auch keinen Grund, dem Zuschauer
etwas vorzumachen.
Diese Theorie wurde nach einer wilden, experimentellen ersten Phase der Kinematografie
Anfang des 20. Jahrhunderts auch für den
Spielfilm zum vorherrschenden Paradigma. D.
W. Griffith, der amerikanische Filmpionier, hat
die Grundidee um die Metapher der Leinwand
bzw. des Bildschirms als „properly adjusted
window“ erweitert, ein „Fenster“, durch das
wir sehen könnten, was tatsächlich geschah. Es
erlaubt dem Betrachter, sich unabhängig von
den interpretierenden Auslegungen der Experten, ein eigenes Bild zu machen. Die Welt hinter diesem Fenster ist objektiv erkennbar, so die
Implikation. Verstärkt wird dieser Eindruck
durch die Tatsächlichkeitsvermutung, die man
dem technischen Filmbild beimisst.
Freilich haben Griffith selbst und andere Filmemacher nach ihm die suggestiven Möglichkeiten
des Mediums gezielt eingesetzt, um zu manipulieren. Die Frage nach der Wirklichkeit außerhalb des Guckkastens, hinter dem „Fenster“,
der Leinwand oder des Bildschirms, was also
schließlich jenseits der erlaubten Räume lauert,
ist selbstreflexives Spiel in vielen Filmen.
Die Tatort-Episode „Im freien Fall“ (2001) des
Bayerischen Rundfunks beginnt – untypisch
und zugleich themensetzend – im Schlafzim-
65
mer eines der Protagonisten. Kommissar Leitmayr wird durch einen Anruf, einen Ruf zum
Dienst, aus dem Schlaf in eine kalte, in blaue
Farbe getauchte Welt gerissen (1). Es ist ein
unruhiger Schlaf, man darf annehmen, er hat
schlecht geträumt. Er will an diesem Tag in dieser Welt nicht recht ankommen. Am Tatort
sehen er und seine Kollegen auf einem Glasdach – hinter der Scheibe – undeutlich die
Silhouette eines Toten. Im nächsten Schnitt
sehen wir sie in einem ungewöhnlichen Blickwinkel direkt von oben (2), die Kamera bewegt
sich leicht und zieht sich zurück. Wer schaut
da? Die regulären Erschließungswege des
Hauses bieten keinen Pfad an, von dem aus
sich diese perspektivische Bewegung ergäbe.
Im Gestus beobachtender Erforscher, ausgestattet mit den passenden Utensilien wie Aufzeichnungsgerät und Gummihandschuhe, machen sich die Kommissare routiniert an ihre Arbeit an der Leiche (3). Während der weiteren
Erkundung des Tatorts lehnt sich Leitmayr
gegen ein Geländer. Doch dies ist kein sicheres
Haus, ein Haltepfosten löst sich aus der Verankerung (4). Leitmayr schwebt zwischen Himmel und Erde (5) und schafft es gerade noch,
sich auf ein Fenstersims zu retten (6). Auch
hinter dieser Scheibe liegt wieder eine reglose
Person. Eine schöne Frau – Anne Mars – schläft
da, leicht bekleidet, das Haar offen. Ihr Schlafzimmer ist in warmen Farben gehalten, weiche,
fließende Formen herrschen vor (7, 8). Leitmayr versucht, sich rettenden Einlass zu
verschaffen, es gelingt ihm nicht, sie ist die
Herrin dieses Raums. Schließlich öffnet sie das
Fenster, somnambul, ohne ein Wort zu sprechen. Später wird sie sagen, sie hätte das alles
für einen Traum gehalten (9).
In ihrem Schlafzimmer verliert Leitmayr die
Orientierung. Seine Bewegungen sind fahrig,
unbeholfen, inkompetent, er findet zunächst
den Ausgang nicht. Auch auf dem Weg nach
draußen zeigt sich noch einmal, wie gefährlich
dieses Haus ist: Er rutscht auf der Treppe aus
(10). Kurz bevor er ohnmächtig wird und aus
dem Rahmen kippt (11), nimmt die Kamera
den Zuschauer mit in einen eigentlich unzu-
92
Tatort
Architektur
von
Guido Walter
Fiese Typen
hinter
Glasfassaden
Im Tatort rangieren
Architekten am Ende der
Wertschätzungsskala.
Der Tatort ‚Architektur
eines Todes“ ist das
beste Beispiel der stereotypischen Darstellung
des Architektenberufs.
Wer im Glashaus wohnt,
ist kühl kalkulierend,
erfolgsverwöhnt und
lässt seine Kinder luxusverwahrlosen.
93
Der Opernturm in
Frankfurt steht im
Stadtteil WestendSüd gegenüber der
Alten Oper an der
Ecke Bockenheimer
Landstraße/Reuterweg. Die gelbbeige
Steinverkleidung
der Fassade fügt
ihn in das Gebäude-Ensemble am
Opernplatz ein.
94
Architektur
eines Todes
2009
Der Opernturm
ist 170 m hoch
und besitzt
42 Stockwerke.
Stadt:
Frankfurt
Team:
Charlotte
Sänger,
Fritz Dellow
Buch:
Judith
Angerbauer
Regie:
Titus Selge
Kamera:
Frank Blau
Szenenbild:
Károly
Pákozdy
Die Frankfurter
Tatort-Kommissare
Charlotte Sänger
und Fritz Dellwo
suchen nach Anett
Berger, der spurlos
verschwundenen
Assistentin der
Star-Architektin
Sofia Martens (Nina
Petri). Die bisexuelle Sofia sucht
in ihrer knappen
Freizeit im Internet
Kontakt zu anderen
Frauen. Für die
Aufrechterhaltung
der Fassade ist ihr
Mann Holger Martens (Stephan Bissmeier) zuständig,
der sich um Kinder
und Haushalt
kümmert. Doch die
Fassade bröckelt.
K
Opernturm
Schnitt
Architekt des
Frankfurter Opernturms ist Professor
Christoph Mäckler,
Projektentwickler
das US-amerikanische Unternehmen
Tishman Speyer
Properties, bekannt
durch das Sony
Center in Berlin.
Bis zum Jahr 2002
stand an der Stelle
das 1960 erbaute
Zürich-Haus, eines
der ersten Hochhäuser in Frankfurt.
2002 wurde das
Zürich-Haus sowie
weitere Gebäude
auf dem Grundstück abgerissen.
Grundsteinlegung
des Opernturms
war am 4. September 2007.
Das Sockelgebäude
mit sieben Stockwerken rundet das
Gesamtensemble
des Opernturms ab.
alt, herzlos, hart. Wer so tickt, der wohnt und
arbeitet bestimmt auch so. Im Tatort geht diese
Gleichung auf. Interior Design und Familienglück, das passt im Krimi nicht zusammen.
Und so steht der Tatort-Architekt im Sakko
hinter Glasfronten und denkt über seine Missetaten nach. Im Eigenheim am Bodensee oder
im Büro des 26. Stockwerks eines Hochhauses
in Frankfurt am Main.
Ein Büro, wie es die Firma Prof. Christoph
Mäckler Architekten (CHM) besitzt. Der Panoramablick über Frankfurt ist grandios. Durch
milchige Scheiben schweift der Blick über das
Häusermeer. Ein akrophobisches Szenario.
Wie geschaffen für die Darstellung eines Architektenbüros im Tatort. „Die kamen hier rein,
sahen den Ausblick und sagten sofort: Das ist
es!“, erinnert sich eine Mitarbeiterin vom Büro
Prof. Christoph Mäckler Architekten und erzählt, wie das Tatort-Team im Vorfeld verschiedene Architekturbüros aufsuchte und
dann den Hinweis bekam: „Gehen Sie doch
mal zu Mäckler, das wäre doch so ein typisches
Architekturbüro.“ Sie zeigt aus dem Fenster.
„Hier sieht man den Opernturm, ein Projekt
unseres Büros, der ja eine Rolle in dem Tatort
damals spielte.“ Mächtig ragt der 42 Stockwerke umfassende, 170 Meter hohe Opernturm mit
seiner siebengeschossigen Blockrandbebauung
auf. Damals, 2009, war der Opernturm im
Rohbau. Tatort-Kenner sehen noch die arme
Architekten-Assistentin Anett Berger (Julia
Dietze) in luftiger Höhe kauern. Denn um ihr
Schicksal geht es in der Tatort-Episode „Architektur eines Todes“, die 2009 bei CHM gedreht
wurde.
„Architektur eines Todes“ ist das beste Beispiel
der stereotypischen Darstellung des Architektenberufs im Tatort. Er oder Sie ist kühl kalkulierend und erfolgsverwöhnt. Gefühlskalt und
weinerlich zugleich: Star-Architektin Sofia
Martens (Nina Petri) sitzt mit einer Schnittwunde heulend im Auto, während ihre Assistentin von Unbekannten entführt wird. Aufgefallen ist das Negativklischee im Tatort, sagt
die Architektin. „Architekten sind meist die
smarten Typen, manchmal etwas zwielichtig.
95
Jemand, der Sakko und Jeans trägt und im
Sportwagen vorfährt.“ Die Klischeehaftigkeit
macht sie noch an einem weiteren Umstand
fest. „Wir hatten eine Vielzahl von Modellen
hier stehen. Die Tatort-Leute hatten aber ihre
eigenen Modelle dabei, sehr miniaturhaft, mit
Häuschen und Autos. Wie man sich als Laie ein
Architekturmodell eben so vorstellt.“ Eines
habe der Tatort „Architektur eines Todes“ aber
gut rübergebracht: dass der Beruf des Architekten sehr, sehr arbeitsreich ist.
Gedankt wird das nicht. Wie Barbara Gärtner
in der „Süddeutschen Zeitung“ schreibt, sitzt
beim Tatort der Böse meist im Glashaus. Die
Kamera schwelge förmlich in langen Fahrten
entlang der breiten Fensterfronten, hinter denen
Angeber, Aufschneider, Schönheitschirurgen,
Waffenschieber und Drogendealer leben. Laut
Gärtner müssten wenige Requisiten herhalten,
um ein Leben zu erzählen. Ein ganzer Lebensstil werde so im deutschen Fernsehkrimi diskreditiert. Der Tatort bediene Neidinstinkte
nach oben. Wenn die schon das Geld für große
Kunst und einen Interior Designer haben, so
Gärtner, dann lassen sie – anders als wir Biomarktcardbesitzer – wenigstens ihre Kinder
luxusverwahrlosen. Und so führt der Architekt
sein von Profitgier und Statusdenken zerrissenes Leben im Tatort fort. Im Münchner Tatort
„Das Glockenbachgeheimnis“ (2009) schwadroniert der sinistre Architekt Feuerberg (Martin Umbach) über seine Visionen eines „München der Zukunft“. Im einstigen Arme-LeuteRevier Münchens will er ein Seniorenheim für
besser Betuchte errichten. Ein Alibi für die Tatzeit kann er natürlich nicht vorweisen. Ein solches hat der „angesehene Architekt“ Peter
Huck im Tatort „Lockruf“ (1978) zwar. Kenner
wissen aber: Regisseur Wolfgang Becker hätte
die Rolle wohl kaum mit Fiesling-Darsteller
Herbert Fleischmann besetzt, wenn da nicht
noch was nachkommt. Und im Lindholm-Tatort „Der letzte Patient“ (2010) gerät Architekt
Sallwitz (Jan Messutat) in den Verdacht, eine
alleinstehende Ärztin in ihrer Praxis umgebracht zu haben. Das Videotagebuch der Toten
offenbart: Architekt Sallwitz steht auf Gewaltspielchen ...
96
Tatort
Stadt
Vor über 40 Jahren, im
Jahr 1970, war der Tatort
erstmals im Fernsehen zu
sehen. In der Krimireihe
geht es vordergründlich
um die Aufklärung von
Verbrechen. Um Opfer,
Täter und Ermittler.
Wenn man seine Perspektive aber auf die Entwicklung von Stadt und
Architektur in Deutschland richtet, geben die
frühen Tatorte aus heutiger Sicht retroperspektivische Einblicke in
verloren gehende oder
bereits verschwundene,
urbane Milieus und Lebenswirklichkeiten. Sie
offenbaren, wie etwa bei
der städtischen Silhouette von Duisburg, dramatische Änderungsprozesse. Deutsche Städte
97
und Landschaften in den
Vordergrund zu rücken,
war im föderalen Rundfunksystem durchaus
gewollt. ‚Landeskunde
als Thriller“ nannte das
Jochen Vogt in ‚Tatort
– der wahre deutsche
Gesellschaftsroman“. Die
Langlebigkeit der Serie
aber sahen die Produzenten des Tatorts 1970
nicht voraus. Ohne ihre
Absicht entwickelte sich
die Reihe zum Zeitzeugen
des Strukturwandels, der
das Erscheinungsbild und
die Architektur deutscher
Großstädte bis heute
prägt. Der Tatort konserviert die Ansicht auf
Gebäude, Restaurants,
Bahnhöfe und ganzer
Straßenzüge der 1970er
und 1980er Jahre.
Seite
98
Seite
108
Seite
116
Seite
122
Seite
130
Seite
136
Seite
146
Duisburg
Essen
Frankfurt
Berlin
Münster
München
Hamburg
98
Tatort
Duisburg
von
Guido Walter
Duisburg
Eine Stadt
verschwindet
Als Götz George als
Hauptkommissar Horst
Schimanski 1981 an einem diesigen Morgen
zum ersten Mal aus dem
Fenster seiner Wohnung
im 14. Stock eines Hochhauses sah, erblickte er
eine imposante Industriekulisse. Heute hat sich
der Rauch der Schlote
weitgehend verzogen.
99
Schauplatz
Tatort
Exklusive
Interviews
mit
dem Architekten
Stefan Behnisch
dem Regisseur
Dominik Graf
und
dem TatortSchauspieler
und Arzt
Joe Bausch
www.callwey.de
ISBN
978-3-7667-2052-8
ISBN 978-3-7667-2052-8
,!7ID7G6-hcafci!
Protzige Villen, düstere
Tunnel, verwahrloste
Hafengegenden – kaum
eine Krimireihe spielt
so raffiniert mit Formen
räumlicher Inszenierung
wie der Tatort. Dieses
Buch zeigt, wie die Kult­
reihe Architektur und
Urbanität nicht nur verarbeitet, sondern zum
Hauptdarsteller macht.
Unsere Autoren Udo
Wachtveitl, Alexander
Gutzmer, Guido Walter
und Oliver Elser begeben
sich auf eine architektonische Spurensuche
der erfolgreichsten
deutschen Krimireihe.
In spannenden Vor-OrtReportagen, fundierten
Interviews und grossen
Bildstrecken decken
sie auf, welche Rolle
Stadt, Gebäude, Innenräume für Schimanski,
Odenthal und Co. schon
immer spielten und bis
heute spielen.
Beweisaufnahmen: ein
architektonischer Blick
hinter die
Kulissen des
LieblingsKrimis der
Deutschen
Ermittlungen:
fesselnde
Reportagen über
legendäre
Tatort-Episoden –
und darüber,
wie diese die
Geschichte ihrer
Stadt schreiben
Observationen:
die Arbeits- und
Wohnsituation
der Kommissare
Analysen:
spannendes
Insiderwissen
der Filmemacher –
und wie Archi­tektur zum
filmischen
Stilmittel wird