Thüringer Verfassungsgerichtshof
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Thüringer Verfassungsgerichtshof
Thüringer Verfassungsgerichtshof Presse-Information Weimar, den 17.10.1997 Organstreitverfahren: Lantagsbeschluß zur Stasi-Überprüfung der Abgeordneten verfassungswidrig Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat am 17. Oktober 1997 das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. Juli 1997 erlassene Urteil in dem Verfahren VerfGH 18/95 verkündet. In diesem Organstreitverfahren hatten sich die Landtagsabgeordneten, Dr. Ursula Fischer, Almuth Beck und Konrad Scheringer, gegen den Beschluß des Thüringer Landtags vom 18. Mai 1995 gewandt. Der Beschluß betrifft die Einführung und Einleitung eines für alle Mitglieder des zweiten Thüringer Landtags obligatorischen, verdachts- und anlaßunabhängigen Verfahrens zur Überprüfung auf wissentliche, hauptamtliche oder inoffizielle Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit bzw. dem Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen DDR oder Beauftragten dieser Einrichtungen. Die Antragsteller hatten geltend gemacht, daß der Beschluß verfassungswidrig sei, weil er rechtswidrig in ihren durch Art. 53 Abs. 1 der Verfassung des Freistaats Thüringen gewährleisteten Abgeordnetenstatus eingreift. Der Verfassungsgerichtshof hat festgestellt, daß der angefochtene Landtagsbeschluß unvereinbar ist mit der durch die Thüringer Verfassung gewährleisteten Rechtsstellung eines Landtagsabgeordneten. Das Urteil geht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts davon aus, daß der Beschluß vom 18. Mai 1995 den Abgeordnetenstatus betrifft, weil allein die Tatsache eines eingeleiteten Überprüfungsverfahrens dadurch auf das Mandat einwirkt, daß im Falle einer festgestellten Stasi-Kooperation der Abgeordnete in seiner politischen Arbeit unter erheblichen öffentlichen Druck kommen kann, weil das Überprüfungsergebnis zwar nicht die persönliche Ehre des Abgeordneten, wohl aber dessen „Würdigkeit“ in Frage stelle, das Volk im Parlament zu vertreten. Es komme daher nicht darauf an, ob das für die Landtagsabgeordneten geltende Gesetz mit der Feststellung einer Zusammenarbeit notwendig den Mandatsverlust verbinde. Zugleich betont der Verfassungsgerichtshof, daß - wie bereits das Bundesverfassungsgericht in seinem den Bundestagsabgeordneten Gysi betreffenden Urteil vom 21. Mai 1996 und das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern in einem Urteil vom 11. Juli 1996 entschieden haben - der besondere politische und historische Anlaß des Überganges von der Diktatur zur Demokratie in der, ehemaligen DDR und der Vereinigung Deutschlands in Folge der Umbruchereignisse des Jahres 1989 ein Parlament berechtigt, zur Wahrung seiner Integrität und politischen Vertrauenswüdigkeit (zum Zwecke seiner „Selbstreinigung“, so das BVerfG in seinem Urteil vom 21. Mai 1996) die Überprüfung seiner Mitglieder auf eine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR bzw. seinem Nachfolger verbindlich festzulegen. Es sei auch nicht zu beanstanden, daß der angefochtene Landtagsbeschluß die Überprüfung nicht davon abhängig mache, daß bereits ein „Anfangsverdacht“ vorliege. Gerade die zwingende, verdachts- und anlaßunabhängige Prüfung bewirke, daß die Verfahrenseinleitung nicht zur Grundlage personenbezogener Schlüsse gemacht werden kann. Das Anliegen formaler Gleichbehandlung aller Abgeordneten rechtfertige auch eine wiederholte Überprüfung angesichts der Die vomVerfassungsgerichtshof herausgegebenen Presse-Informationen sind keine amtlichen Veröffentlichungen, sondern nur Arbeitsunterlagen für Journalisten Thüringer Verfassungsgerichtshof Kaufstraße 2 - 4 99423 Weimar Telefon: (0 36 43) 206 206 Telefax: (0 36 43) 206 224 Tatsache; daß mit fortschreitender Zeit die Auswertung des MfSAktenmaterials vollständiger und damit zuverlässiger werden. Der Verfassungsgerichtshof hat ein für alle Mandatsträger verbindliches Prüfungsverfahren jedoch nur dann mit der verfassungsrechtlichen Stellung eines Abgeordneten für vereinbar erachtet, wenn Einleitung und Durchführung des Prüfungsverfahrens in einer Weise geregelt seien, die den einzelnen Abgeordneten vor (politischem) Mißbrauch der ermittelten Informationen und persönlichen Daten schütze. Außerdem müßten den von der Überprüfung betroffenen Abgeordneten Beteiligungsrechte gewährleistet sein, welche über das rechtliche Gehör hinausgehend, dem Abgeordneten erlauben, aktiv an der Herstellung des Beweisergebnisses mitzuwirken. Durch entsprechende Regelungen sei sicherzustellen, daß die Bekanntgabe des ermittelten Sachverhalts den Umfang der Ermittlungen korrekt verlautbare und den Eigenarten des gewählten Verfahrens und der darin zugelassenen Beweismittel Rechnung trage. Schließlich gebiete der Verfassungsstatus eines Abgeordneten Regelungen darüber, wie die aus der Überprüfung gewonnenen Erkenntnisse unter Berücksichtigung des Zeitfaktors verwertet werden. Hierin stützt der Thüringer Verfassungsgerichtshof sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juli 1997 betreffs der Kündigung von Arbeitsverhältnissen wegen offenbar gewordener Stasi-Kooperation. Der mit der Organklage angegriffene Landtagsbeschluß vom 18. Mai 1995 enthalte - so der Verfassungsgerichtshof - keine Verfahrensregelungen, die den genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Betont wird darin, daß am 18. Mai 1995 nur beschlossen worden ist, das Verfahren zwingend und verdachtsunabhägnig durchzuführen und den Landtagspräsidenten mit der Einholung von Gauck-Auskünften zu beauftragen. Die vermißten Durchführungsregelungen könnten nicht dem Ältestenratsbeschluß vom 7. Mai 1991 entnommen werden, welcher den MfS-Überprüfungen der Mitglieder des ersten Thüringer Landtags zugrunde gelegen hat. Auf ihn nehme der Beschluß vom 18. Mai 1995 weder ausdrücklich Bezug, noch mache er ihn - ebensowenig wie ein Beschluß des Ältestenrats des zweiten Thüringer Landtags vom 9. Mai 1995 - sonstwie zu seinem Inhalt. Ein Rückkgriff auf diese Entscheidung und ein Rückgriff auf einen Ältestenratsbeschluß vom 13. Dezember 1994 scheiterten jedenfalls daran, daß die Ausgangslage der dort getroffenen Verfahrensregelungen sich darin nicht mit der des angefochtenen Beschlusses vergleichen lasse, weil sie von der Freiwilligkeit der Überprüfung ausgeht. Aber auch bei einer Fortführung der Bestimmungen vom Mai 1991 und Dezember 1994 wäre der Organklage stattzugeben gewesen, weil die genannten Ältestenratsbeschlüsse den von Verfassungs wegen gebotenen Schutz nicht gewährleisten. Dies legen die Entscheidungsgründe des Urteils im einzelnen dar. Der Verfassungsgerichtshof hat die Frage offengelassen, ob die Notwendigkeit wirksamer Schutzbestimmungen die verfassungsrechtliche Folge habe, daß ein zwingendes, verdachts- und anlaßunabhängiges Abgeordneten-Überprüfungsverfahren nur in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren geregelt werden könne, ob Art. 53 Abs. 1 der Thüringer Verfassung mithin dem Landtag verboten habe, die Überprüfung durch einen als Geschäftsordnungsregelung verstandenen „einfachen“ Beschluß anzuordnen. Der Gerichtshof weist insoweit lediglich hin auf die Rechtslage beim Bund und bei anderen Bundesländern sowie auf ein die Rechtsprechung wie die Verfassungslehre beherrschendes Verständnis von der Beschränkung der parlamentarischen Geschäftsordnungsbefugnis auf die Sachgebiete „Geschäftsgang und Disziplin“ und der daraus sich ergebenden Folge der Unzuständigkeit für Regelungen, die eine Veränderung des Status eines Abgeordneten, insbesondere seiner weiteren Mitgliedschaft im Landtag zur Folge haben können. Fordern danach Einleitung und Durchführung eines Überprüfungsverfahrens eine gesetzliche Grundlage, sei diese im Thüringer Landesrecht nicht zu finden. Auf § 1 Abs. 2 des Abgeordnetengesetzes vom 7. Februar 1991, wonach Abgeordnete ihr Mandat verlieren, wenn sie wissentlich als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter mit dem MfS zusammengearbeitet haben, Die vomVerfassungsgerichtshof herausgegebenen Presse-Informationen sind keine amtlichen Veröffentlichungen, sondern nur Arbeitsunterlagen für Journalisten Thüringer Verfassungsgerichtshof Kaufstraße 2 - 4 99423 Weimar Telefon: (0 36 43) 206 206 Telefax: (0 36 43) 206 224 könne nicht zurückgegriffen werden. Unterstelle man die keineswegs zweifelsfreie Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung, nenne sie doch nur die Gründe eines Mandatsverlustes, enthalte jedoch keine die Feststellung dieser Gründe betreffenden Verfahrensregelungen. Die vomVerfassungsgerichtshof herausgegebenen Presse-Informationen sind keine amtlichen Veröffentlichungen, sondern nur Arbeitsunterlagen für Journalisten Thüringer Verfassungsgerichtshof Kaufstraße 2 - 4 99423 Weimar Telefon: (0 36 43) 206 206 Telefax: (0 36 43) 206 224