Generation Erasmus
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47569_US_DAAD_Erasmus.qxd 21.08.2008 13:00 Uhr Seite 1 Von Oktober 2005 bis März 2006 ERASMUS-Stipendiatin in Istanbul ERASMUS LEONIE NEUMANN Generation Deutsch-Sein war vorher ein vager Begriff gewesen. Fast hätte ich bestritten, dass an mir überhaupt etwas spezifisch deutsch sei. Seit ich weiß, wieviel mir Bildung, Sozialsystem, Rechtsstaat und die Kultur der offenen Sachdiskussion bedeuten, ist er mir klarer. Generation ERASMUS Auf dem Weg nach Europa ERASMUS-Studierende über ihre Erfahrungen an Hochschulen in Europa Ein Lesebuch 47569_US_DAAD_Erasmus.qxd 21.08.2008 13:00 Uhr Seite 2 Der DAAD ist eine gemeinsame Einrichtung der deutschen Hochschulen und fördert deren internationale Beziehungen mit dem Ausland. Der DAAD nimmt seit 1987 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) die Aufgaben einer Nationalen Agentur für ERASMUS wahr (http://eu.daad.de). DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:27 Uhr Seite 1 Generation ERASMUS – Auf dem Weg nach Europa DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:27 Uhr Seite 2 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:27 Uhr Seite 3 Generation ERASMUS Auf dem Weg nach Europa ERASMUS-Studierende über ihre Erfahrungen an Hochschulen in Europa Ein Lesebuch DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:27 Uhr Seite 4 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 5 INHALT 9 Vorwort 12 Stefan Bufler (Großbritannien) »Hey, Stef, come along!« 20 Anna Lehr (Großbritannien) Zwischen den Kulturen – Ein Jahr in Birmingham und seine Folgen 32 Nicole Lichtschlag (Niederlande) Amsterdam 40 Janina Victor (Niederlande) Auf nach Den Haag – so weit weg? 46 Sabine Brambach (Finnland) Erfahrungen aus dem Hohen Norden 56 Birgit Kraus (Finnland) Einmal Norden – immer Norden? Aber ja! 66 Jutta Singer (Finnland) Von Nordlichtern und multikulturellen Saunagängen 74 Mario Zetzsche (Litauen) Was fremd ist, danach hat man Gelüst 84 Dennis Gerstenberger (Portugal) Ein deutsch-portugiesischer Spagat 92 Gudrun Chazotte (Spanien) No me digas! Mit ERASMUS in Salamanca 100 Franziska Fleischer (Spanien) ›Generation ERASMUS‹ – Europa wächst zusammen 5 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr GENERATION ERASMUS 110 Bianca Köndgen (Spanien) Land, mir so fremd wie keines 120 Felicitas Kusters (Spanien) Zuhause in Europa 128 Carola Ossenkopp (Spanien) Vom International Summer Village zur International Summer University 136 Christoph Thalhammer (Ungarn) Ungarn: Eine ›andere‹ Erfahrung 142 Sonja Miekley (Bulgarien) Ein Semester in Bulgarien – oder wie man Dinge des alltäglichen Lebens zu schätzen lernt 150 Szymon Kowalski (Deutschland) Internationale Freundschaften bauen die Zukunft 158 Leonie Neumann (Türkei) Erfahrungen eines langen türkischen Winters 172 Katja Kordels (Italien) Tourismusmanagement in Rimini 180 Fabian Kracht (Italien) Ein Jahr Mailand – gemischte Erfahrungen, positives Resümee 190 Daniel Eisenmenger (Belgien) Mehr als Bier und Fritten 198 Mirco Heller (Frankreich) Von Straßburg über Berlin nach Mexiko 6 Seite 6 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 7 INHALT 210 Daniel Mietchen (Frankreich) ERASMUS als Entscheidungshilfe: Arzt in Entwicklungsländern oder biophysikalische Forschung? 220 Marina Neumaier (Frankreich) »Erstens kommt alles, wie es will, und zweitens immer anders.« 226 Thomas Terbeck (Frankreich) Völkerverständigung, Bildung und persönliche Chance 240 Jessica Wilzek (Frankreich) Asterix erobert Rom und ich Frankreich 248 Peter Wollny (Frankreich) Paris – eine Erfahrung fürs Leben – dank ERASMUS 254 Eva Zils (Frankreich) … da, wo die Lyoner herkommt 7 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 8 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 9 VO RW O RT »Europa entsteht in den Köpfen und Herzen.« 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge ist dieser programmatische Satz im Zeichen gescheiterter Referenden und einer deutlichen Euroskepsis in verschiedenen Ländern der Europäischen Union aktueller denn je. Es gibt aber auch unbestrittene Erfolgsgeschichten der EU. Das ERASMUS-Programm, das in diesem Jahr seinen zwanzigsten Geburtstag feiert, zählt dazu. Über 1,7 Millionen Studierende konnten bisher mit ERASMUS einen Teil ihres Studiums im europäischen Ausland absolvieren, darunter rund 270.000 deutsche Studenten und Studentinnen. Bis 2012 sollen mit dem Programm 3 Millionen Studierende in Europa unterwegs gewesen sein. Die Generation ERASMUS ist inzwischen zu einem Synonym für europäische Erfahrung und das Zusammenwachsen Europas geworden. Um einer breiteren Öffentlichkeit einen Einblick in die spannenden persönlichen Erlebnisse und europäischen Erfahrungen von deutschen ERASMUS-Studierenden zu geben, hat der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), der seit Beginn des Programms im Jahre 1987 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung die Aufgaben einer Nationalen Agentur wahrnimmt, anlässlich des Jubiläums von ERASMUS das vorliegende Lesebuch erstellt. Die Idee, ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Programm um eine Darstellung ihrer Erfahrungen zu bitten, entstand im 9 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 10 GENERATION ERASMUS Zusammenhang mit einer Tagung, die der DAAD gemeinsam mit dem Pädagogischen Austauschdienst (PAD) durchgeführt hat. Unter der Überschrift »Einmal Ausland – immer Ausland?« wurde die Frage erörtert, ob sich Auslandsaufenthalte in der Schulzeit positiv auf die Mobilitätsbereitschaft im Studium auswirken. Einige Autorinnen und Autoren bestätigen diese Vermutung, und bei anderen ist zu sehen, welche entscheidende Bedeutung Auslandserfahrungen in Kindheit und Jugend für den späteren Entschluss, im Ausland zu studieren, gewinnen kann. Die Beiträge belegen aber noch wesentlich mehr. Denn der ERASMUS-Aufenthalt an einer ausländischen Hochschule, die Begegnung dort mit Kommilitonen aus vielen anderen Ländern und die Internationalität des gemeinsamen Studierens und Lebens hat das Interesse an weiteren Auslandsaufenthalten geweckt und dazu geführt, nach dem Abschluss des Studiums an der deutschen Heimathochschule wieder ins Ausland zu gehen, nicht selten um dort bessere berufliche Chancen zu nutzen. Die Begegnung mit der Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen hat bei den ERASMUS-Studierenden häufig die Einstellung zu ausländischen Kommilitonen verändert bis hin zum persönlichen Engagement für die ausländischen Gaststudierenden an den deutschen Hochschulen. Oft setzt der Auslandsaufenthalt auch ein Nachdenken über die eigene – deutsche Identität in Gang: »Mir ist im Ausland bewusst geworden, wer ich bin und woher ich komme. Erst im Unterschied zu anderen erkennt man die eigene Kultur«. Diese Erfahrung von Katja Kordels kommt auch in anderen Beiträgen zum Ausdruck. Das Bewusstwerden der eigenen Wurzeln ist somit auch ein Ergebnis des ERASMUS-Aufenthalts – und gleichzeitig bildet dies eine positive Grundlage für nachfolgende Stationen im Ausland. 10 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 11 VO RW O RT Die Essays sind sehr persönlich gehalten und deshalb umso einleuchtender in ihrer Wirkung. Alle Autorinnen und Autoren betonen die deutliche Veränderung, die sie an sich selbst beobachten, wenn die Neugier, die Aufgeschlossenheit und die Weltoffenheit ergänzt werden um das Selbstbewusstsein, das aus der Bewältigung der Schwierigkeiten erwächst, die ein Auslandsaufenthalt auch mit sich bringt. Die Entwicklung einer Art europäischen Lebensgefühls, so schwer dieses im Einzelnen zu beschreiben ist, verbindet sich mit einer deutlich wahrgenommenen Prägung der Persönlichkeit. Auf dem Weg nach Europa – das ist zunächst der Aufbruch von Zuhause, aus den vertrauten Lebensverhältnissen. Viele Beiträge zeigen aber, dass ihre Verfasser schon in Europa angekommen sind. Für sie steht das Resümee von Bianca Köndgen: »ERASMUS hat mich zu dem gemacht, was ich bin: weltoffen, ständig unterwegs in Europa, flexibel in meinen Denkweisen, zuhause in verschiedenen Sprachen und Gedankenwelten.« Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser aus allen Generationen. Abschließend danke ich allen, die an der Entstehung dieses Lesebuchs mitgewirkt haben. Mein besonderer Dank gilt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Europäischen Kommission, deren finanzielle Unterstützung, diese Publikation erst ermöglicht hat. Dr. Siegbert Wuttig Leiter der Nationalen Agentur für EU-H ochschulzusammenarbeit 11 DAAD_ERASMUS_IN_070411 STEFAN BUFLER 12 11.04.2007 11:35 Uhr Seite 12 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 13 GROSSBRITANNIEN »Hey, Stef, come along!« Ein kühler Oktobertag im Norden Englands. Im Gegenlicht der letzten Sonnenstrahlen treten die Backsteingiebel der in langen Reihen angeordneten »terraced houses« immer deutlicher hervor. Ich suche nach Nummer 53. Irgendwo hier muss es sein. Mit einem »Hey, Stef, come along« wurde ich zu einer Party in das von meinen englischen Kommilitonen bewohnte Haus eingeladen. Nachdem auch die obligatorische Zusatzbemerkung »Bring some booze« nicht gefehlt hatte, bewege ich mich nun mit einem »sixpack« in der Hand auf ein nicht gerade respektierlich aussehendes Wohngebäude zu, aus dem schon von Weitem das dumpfe, rhythmische Stampfen einer Stereoanlage zu vernehmen ist. Das muss es sein. Ich öffne die Türe, trete in einen dunklen Gang und bahne mir meinen Weg an einigen mir unbekannten Personen vorbei durch Alkoholdämpfe und Zigarettendunst zum ›living room‹ des Gebäudes. Der Raum ist abgedunkelt und fast leer. In der Mitte befindet sich eine Industriepalette mit diversen Getränkedosen sowie Wein- und Ciderflaschen. Eine kleine Tischlampe auf dem Boden spendet ausreichend Licht, um meinen Beitrag zum Getränkelager an der richtigen Stelle abzuladen und mir selbst eine Dose Bier zu genehmigen. Die laute Musik aus dem Nebenzimmer macht auch hier eine Unterhaltung fast unmöglich. Dennoch bemühe ich mich um Kontakt mit den anderen Partygästen. Schließlich bin ich erst vor wenigen Tagen nach einer abenteuerlichen Zug- und Schiffsreise hier in Preston 13 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 14 STEFAN BUFLER angekommen, um einen einjährigen Auslandsaufenthalt als ERASMUS-Student an der Lancashire Polytechnic (heute: University of Central Lancashire) zu beginnen. Ich setze mich auf den Teppichboden zu einer Gruppe dunkler Gestalten, muss aber bald feststellen, dass die Voraussetzungen für eine anregende Konversation aus den nahe liegenden Gründen denkbar ungünstig sind. So bleibt es vorerst bei dem Bier und einem ersten, aber glücklicherweise nicht dem letzten Eindruck, den ich von meinem Gastland und seinen Bewohnern gewinnen sollte. Das hier beschriebene Erlebnis liegt nun siebzehn Jahre zurück und, um den Befürchtungen des Stipendiengebers gleich vorzugreifen sowie meine englischen Kommilitonen nicht in ein schlechtes Licht zu rücken, sei an dieser Stelle erwähnt, dass unser Studienalltag nicht nur aus derlei ›Belustigungen‹ bestand. Dennoch bleiben von einem Studienjahr im Ausland nicht nur die dort erworbenen akademischen Weihen, sondern eben auch viele Erinnerungen an recht ›profane‹ Erlebnisse und Erfahrungen, die, wie ich meine, ganz entscheidend zur Persönlichkeitsentwicklung eines Studierenden beitragen. Im Ausland ist vieles anders als gewohnt und anders als erwartet: »Warum gibt es bei Boots eigentlich keine Schuhe?« Im Ausland leben ist sperrig und manchmal auch etwas ungemütlich: »Wie dichte ich mein bay window ab?« Fern der Heimat muss man ständig improvisieren: »Wie benütze ich mein Handwaschbecken ohne entweder zu erfrieren oder mich zu verbrühen?« Die neue Sprache ermöglicht neue Gedanken: »What is the secret of English humour?« Und die eigene Position wird in Frage gestellt: »Wenn die den Humor gepachtet haben, besitze ich dann überhaupt keinen?« Kurz gesagt: Wer im Ausland studiert, wird zunächst völlig verunsichert und muss sich neu erfinden. Das ist nicht nur gesund, es tut auch gut und macht Spaß! 14 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 15 GROSSBRITANNIEN Als ich 1989 nach Beendigung meines Grundstudiums im Studiengang Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Augsburg den Entschluss fasste, für ein Jahr nach England zu gehen, war mir mit Sicherheit die Tragweite dieser Entscheidung für meinen weiteren Lebensweg nicht bewusst. Wohin hat dieser Weg geführt? Heute lebe ich wieder in Augsburg, wo ich seit vier Jahren als Professor für Kommunikationsdesign und Corporate Branding an derselben Hochschule tätig bin, von der aus ich damals mein ERASMUSAbenteuer begann. Soweit noch nicht ungewöhnlich. Ich schreibe diese Zeilen in meinem Arbeitszimmer, in dem sich mindestens so viele englische Bücher befinden wie deutsche. Auch noch nicht sehr außergewöhnlich. Mit meiner irischen Frau habe ich gerade auf Englisch die Einkaufsliste durchgesprochen und unsere Tochter wurde heute Mittag zweisprachig begrüßt, als sie von der Schule heimkam. Auf unserem Frühstückstisch steht ein Glas Marmite neben einer Packung Weetabix und jeden Sonntag gibt es Ei mit »soldiers« (in Streifen geschnittener Toast mit Butter). Damit, denke ich, unterscheiden wir uns nun doch vom deutschen Durchschnittshaushalt. Die Frage, ob es besser ist, wenn Santa Claus die Geschenke am Morgen des 25. Dezember abliefert oder das Christkind an Heiligabend vorbeischaut, ist übrigens noch nicht abschließend geklärt. Und das alles wegen eines Auslandsjahres in Nordengland? Nicht ganz! Preston war für mich eine Art britische Initialzündung, die mir insgesamt elf ereignisreiche Jahre auf der Insel bescherte. In Nordengland wurde aus dem aufgeweckten, aber doch recht 15 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 16 STEFAN BUFLER deutlich von der Kindheit und Jugend in einer Allgäuer Kleinstadt geprägten jungen Mann eine Person, die auf dem ›internationalen Parkett‹ neue Entfaltungsspielräume entdeckte und das Selbstbewusstsein entwickelte, diese zu nutzen. Hinzu kam, dass das Kommunikationsdesign in Großbritannien weltweit Maßstäbe setzt und ich somit die Gelegenheit bekam, den »Meistern« auf die Finger zu schauen, um das Erfolgsgeheimnis dieser Nation zu ergründen. Mein heutiges Verständnis von dem, was gutes Design ausmacht, wurde in England nachhaltig geprägt und als Hochschullehrer versuche ich deshalb, mein ›Publikum‹ für eine Mischung aus deutschen Tugenden und britischer Exzentrik zu begeistern. Kein Wunder also, dass sich noch während meines Studienaufenthaltes in Preston der Wunsch regte, den begonnenen Weg nach meinem Studienabschluss in Augsburg fortzusetzen. Und so kam es auch. Im Herbst 1992 begann ich ein zweijähriges Postgraduate Studium in Graphic Design am Royal College of Art in London, das ich mit dem Master of Arts abschloss. Ich bin mir heute ziemlich sicher, dass ich ohne die Erfahrungen, die ich als ERASMUS-Student machen durfte, nicht die Chance bekommen hätte, an dieser renommierten Hochschule zu studieren und somit auch meine berufliche Laufbahn anders verlaufen wäre. Dazu gehören auch die acht arbeitsintensiven Jahre, die ich im Anschluss an mein Studium in der englischen Hauptstadt verbrachte. Ich war als Designer, Design-Tutor am London College of Printing & Distributive Trades, Creative Director und Geschäftsführer einer Agentur für Corporate Branding und Unternehmenskommunikation für Auftraggeber aus den verschiedensten Branchen und Ländern tätig. Alles schien möglich, vieles war möglich und so manches ergab 16 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 17 GROSSBRITANNIEN sich einfach – wie beispielsweise das kurze Gespräch mit Prince Charles oder die Chance, bei der Fußball-Europameisterschaft 1996 in Wembley dabei zu sein, als die deutsche Mannschaft England im Elfmeterschießen aus dem Turnier warf. In dieser Zeit lernte ich auch meine heutige Frau Noeleen kennen und im Jahr 2000 wurde unsere Tochter Hanna in London/Paddington geboren. Beide haben inzwischen den durch unseren Umzug nach Augburg im Jahre 2002 bedingten Kulturschock gut überstanden und fühlen sich in ihrer neuen Heimat recht wohl. Vielleicht auch 17 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 18 STEFAN BUFLER deshalb, weil wir die alte Heimat mit nach Augsburg gebracht haben und täglich zwischen den Kulturen pendeln. Diesen interkulturellen Unruhezustand habe ich stets als eine Bereicherung für mein Leben und eine Inspirationsquelle für meine Arbeit empfunden. Und weil Unruhe auch Berührungen und Kontakte zur Folge hat, fühlen wir uns heute mit vielen Menschen in den verschiedensten Ländern freundschaftlich verbunden. Ich kann also heute feststellen, dass es mir scheinbar gelungen ist, effektivere Strategien zur Kontaktaufnahme als die eingangs geschilderten zu entwickeln. Keine Frage – mein ERASMUSStudienaufenthalt hat mein Leben nachhaltig und vor allem positiv geprägt. Darauf sollte ich jetzt eigentlich mit jemandem anstoßen. Irgendwo im Haus befinden sich doch noch ein paar Pint-Gläser. 18 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 19 GROSSBRITANNIEN STEFAN BUFLER Wer im Ausland studiert, wird zunächst völlig verunsichert und muss sich neu erfinden. Das ist nicht nur gesund, es tut auch gut und macht Spaß! 19 ANNA LEHR ANNA LEHR, GEB. 198 0 IN MAINZ. MAG ISTE R IN AN DER UNIVERSIT KUN STG ESCHICHTE UND ANG ÄT MAINZ. ERASMU LISTIK S-A UFE AUGUST 2004 UNIVER NTH ALT : SEPTEMBER 2003 SITY OF BIRMINGHA BIS M, BIRMINGHAM, GRO SSBRITANNIEN. 20 Seite 20 10:28 Uhr 11.04.2007 DAAD_ERASMUS_IN_070411 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 21 GROSSBRITANNIEN Zwischen den Kulturen – Ein Jahr in Birmingham und seine Folgen Mein Aufenthalt in Birmingham, England, von September 2003 bis August 2004 hat alle meine Erwartungen übertroffen, in jeder Hinsicht. Nie geplant, war es wohl der »Erwarte nichts, dann wird es besser, als du denkst, und du wirst nicht enttäuscht werden«-Effekt. Anfang 2003 sah ich mich gefangen in einem Studium, das für mich eine Notlösung war, da meine anderweitigen Ambitionen auf eine Bühnenkarriere an den Aufnahmeprüfungen unzähliger Schauspielschulen gescheitert waren. Da ich sonst nicht so recht wusste, was ich machen sollte, schleppte ich mich seit dem Wintersemester 2000 lustlos durch mein Magister-Studium der Kunstgeschichte und Anglistik, und obwohl einiges wirklich Spaß machte und ich nie schlechte Ergebnisse erzielte, sah ich keine Zukunft für mich und die Kunstgeschichte. Eine Freundin bemerkte allerdings eines Tages wenig feinfühlig, dass mein Anglistik-Studium ohne einen Auslandsaufenthalt herzlich wenig wert sei, und drängte mich, eine Bewerbung an ERASMUS zu senden. Klischee oder nicht, das angeforderte (handschriftliche) Motivationsschreiben wurde innerhalb einer Nacht verfasst und zusammen mit den anderen Unterlagen einen Tag vor Bewerbungsschluss abgegeben. Ich hatte die ganze Angelegenheit schon fast vergessen, als mir eine Kommilitonin ganz aufgeregt berichtete, dass »ich dabei sei«, sich mein Name unter den Auserwählten befand. Ich war schon immer ein sehr großer England-Fan gewesen und war positiv über- 21 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 22 ANNA LEHR rascht, dass ich tatsächlich für meine Erstwahl Birmingham nominiert worden war – meine Entscheidung für diese Stadt war in erster Linie durch die Dauer des Aufenthalts bestimmt. Fünf Monate für die anderen englischen Städte erschienen mir lächerlich und die veranschlagten neun Monate für Birmingham versprachen eine angemessene Herausforderung und Hoffnung auf eine Lösung für meine unbefriedigende Situation. Durch diese eher zufällige Entscheidung hatte es mich dann nach Birmingham verschlagen. Aus neun Monaten wurde ein Jahr, und danach stand der Entschluss fest: ich will mein Studium erfolgreich in Deutschland beenden und dann nach Birmingham zurückkehren. Denn ich hatte Gefallen gefunden: an meinem Studium, an der Stadt und vor allem an meinem jetzigen Partner, einem waschechten »Brummie«. Wir nahmen eine über zwei Jahre währende anstrengende Fernbeziehung auf uns mit dem Ziel, nach Abschluss meines Studiums in Birmingham zusammen zu ziehen. Ich wusste anfangs rein gar nichts über Birmingham, außer dass alle, die ich fragte, diesen Ort als unglaublich hässliche Industriestadt beschrieben. Aber die Metropole hatte mich in ihren Bann gezogen. Eine Reihe von Faktoren ließen mein ERASMUS-Jahr so unvergesslich werden, und rückblickend kann ich sagen, dass ich erwachsener geworden bin, offener und abenteuerlustiger. Zum einen hatte ich ungemeines Glück, mit Hausgenossinnen zusammen zu ziehen, die teilweise heute noch zu meinen besten Freundinnen gehören. Zum anderen hatten mich die Seminare, die ich an der University of Birmingham belegte, und meine Professoren »aufgeweckt«. Zuvor kunstgeschichtlich gezwungenermaßen im Mittelalter gefangen, konnte ich nun Seminare und Vorlesungen zur modernen und zeitgenössischen Kunst belegen – und hatte Blut geleckt. Für 22 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:28 Uhr Seite 23 GROSSBRITANNIEN ANNA LEHR Eine Reihe von Faktoren ließen mein ERASMUS-Jahr so unvergesslich werden, und rückblickend kann ich sagen, dass ich erwachsener geworden bin, offener und abenteuerlustiger. 23 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 24 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 25 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 26 ANNA LEHR mich stand jetzt fest, dass ich hinauswollte in die große aufregende Kunstwelt. Noch während meines Englandaufenthalts arbeitete ich als freiwillige Mitarbeiterin im Barber Institute of Fine Arts, das sich unter einem Dach mit der kunstgeschichtlichen Fakultät auf dem Campus in Birmingham befindet. Dabei konnte ich erste Erfahrungen im museumspädagogischen Bereich sammeln. Im Anschluss bewarb ich mich für diverse Praktika und konnte auch direkt eine Woche nach meiner Rückkehr nach Deutschland ein zweimonatiges Praktikum im Frankfurter Städel antreten, das zu weiteren studentischen Aushilfsjobs im selben Haus führte. Langsam, aber sicher kristallisierte sich der Bereich heraus, in dem ich heute beschäftigt bin. Denn seit Ende August arbeite ich nun in Birminghams erstem interaktiven Wissenschaftsmuseum, dem ›Thinktank‹. Die Jobbeschreibung traf genau auf das zu, was ich mir nach meinem Studium vorstellte: kein öder Schreibtischjob, sondern ständiger Kontakt mit Menschen, in einem Museum, das Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft unter einem Dach vereint. Meine Jobbezeichnung lautet ›Gallery Enabler‹, und das ist auch genau das, was ich größtenteils tue. Ich ermögliche (›to enable‹) den Besuchern, die Galerien zu verstehen. Das Museum besteht aus vier Etagen, die jeweils in verschiedene Galerien unterteilt sind. Die beiden Untergeschosse befassen sich mit der Vergangenheit und zeigen in der Galerie zur Stadtgeschichte Birminghams (1066 bis heute) historische Gebrauchsgegenstände. Die zweite Galerie befasst sich mit Technik, Manufaktur und Transport der vergangenen Zeiten und zeigt unter anderem einen original Spitfire-Kampfbomber und eine der ältesten noch funktionierenden Dampfmaschinen, die Smethwick Engine von ca. 1750. Die beiden oberen Geschosse setzen sich thematisch mit der Gegenwart und 26 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 27 GROSSBRITANNIEN Zukunft auseinander und weisen unter anderem eine naturhistorische Abteilung und ein Planetarium auf. Da ein großer Teil der Ausstellungsstücke die Interaktion der Besucher erfordert, um den jeweiligen Sachverhalt vollends verstehen zu können, erkläre ich den Besuchern die jeweiligen Funktionen, biete Hintergrundwissen an und gehe auf Fragen ein. Des Weiteren führe ich Schulgruppen, erarbeite Informationsblätter zu einzelnen Exponaten, assistiere in Workshops und lerne ständig etwas Neues, zum Beispiel eine Einführung in die britische Zeichensprache, um mit tauben Besuchern kommunizieren zu können. Was mir sicherlich geholfen hat, in Birmingham Fuß zu fassen, war die Tatsache, dass ich während meines Auslandssemesters von Anfang an nicht im Glashaus der internationalen Studenten gefangen war. Ich hatte auf eigene Faust Seminare belegt, die mir keinen Schein garantierten und an welchen ich als einzige internationale Studierende teilnahm. Der Vorteil hiervon war, dass ich das unkomplizierte, respektvolle und fruchtbare Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden noch unmittelbarer miterleben konnte. In Seminaren mit in der Regel um die 15 Teilnehmern kann der Stoff ganz anders diskutiert werden als in den anonymen Veranstaltungen in Deutschland. 27 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 28 ANNA LEHR Davon abgesehen genoss ich zwar die unzähligen Partys und teilte das relativ unkomplizierte Leben der internationalen ERASMUS-Teilnehmer, war aber immer darauf bedacht, noch etwas vom »richtigen« Leben in »Brum« mitzubekommen, das sich außerhalb der Seifenblase des (von Eltern, Uni und ERASMUS finanzierten) Studentenlebens abspielte. Und das konnte ich hervorragend in Birminghams berühmt-berüchtigtem Nachtclub »The Works« tun, in dem ich 2–3 mal in der Woche als Barfrau arbeitete, um mich mitzufinanzieren. Die harten, langen Nächte machten irre viel Spaß, vor allem weil die Schicht mit dem ca. 40-köpfigen Multikulti-Team nie langweilig wurde. Vom afrikanischen Auswanderer bis zur chinesischen Studentin, von einem iranischen Doktoranden bis zu einem jamaikanischstämmigen ehemaligen Mitglied der Royal Air Force und einer Französin mit algerischen Wurzeln war dieser Arbeitsplatz ein Mikrokosmos der ganzen Stadt, deren Vielschichtigkeit auch heute noch eine sagenhafte Faszination auf mich ausübt. Was Birmingham eben so besonders macht, ist die Vielfalt der Kulturen und das Aufeinandertreffen so vieler verschiedener Anschauungen und Hautfarben. Birmingham wird 2012 die erste europäische Stadt sein, deren Anteil der nicht-weißen Bevölkerung bei über 50 % liegt. Zum größten Teil ist dieses Zusammenleben der verschiedenen Kulturen schwierig, anstrengend, ja sogar frustrierend, aber wenn es dann einmal klappt, ist es einzigartig. Ich kann mich glücklich schätzen, in so einer Umgebung zu leben und zu arbeiten, denn ich kann mir hier vor Ort unmittelbar ein Bild machen von den Themen, die die Welt bewegen: die von dem Labour-Politiker Jack Straw ausgelöste »Schleier-Debatte« – er warf muslimischen Frauen, die einen Vollschleier tragen, vor, sich absichtlich von der Gesellschaft auszugrenzen – , nimmt ganz andere Ausmaße an, wenn man tatsächlich alltäglich Kontakt mit vollständig verschleierten Lehrerinnen hat, die jedes Mal, wenn sie 28 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 29 GROSSBRITANNIEN mit den Schülern sprechen, ihren Schleier lüften und ihn dann blitzschnell wieder fallenlassen, wenn sie mit einem unserer männlichen Kollegen sprechen. Auch unmittelbar in meinem Privatleben ist das »Kulturenproblem« immer präsent. Da mein Freund afro-karibischer Herkunft ist und ich die einzige weiße Person in seiner ganzen (sehr großen) Familie bin, kam es schon öfters zu unausgesprochenen Konflikten von Seiten seiner ferneren Verwandtschaft, die traumatische Erfahrungen in den 1960ern mit weißen Engländern machen musste. Ein ganz anderes Problem ist es auch noch, in England als Deutsche zu leben. Im Großen und Ganzen überwiegen hier die positiven Erfahrungen, besonders auch mit älteren Briten, wobei manche zwar den Krieg miterlebt haben, mir aber dennoch in einer respektvollen, freundlichen Art begegnen. Doch wirklich schockierend ist es teilweise, wenn ich Schülergruppen durch das Museum führe und ihnen in unserer historischen Abteilung die britischen Kampfflugzeuge erkläre. Argwöhnisch nach der Herkunft meines Akzents befragt, der immer noch, wenn auch nur sehr leicht, wahrzunehmen ist, verziehen sich die 10-jährigen Gesichter zu Herablassung und Ekel, und es kommt immer wieder das gleiche Statement: »You bombed and killed us«. Wenn ich dann sachte darauf eingehe, dass nicht wirklich ich das war und der Krieg allgemein schrecklich war, stoße ich auf taube 29 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 30 ANNA LEHR Ohren. In solchen Momenten fällt meine positive Weltanschauung in punkto Völkerverständigung in sich zusammen wie ein Kartenhaus. So schwer es hier in »Brum« ist, sich der ganzen Problematik völlig zu entziehen (jeden Tag Diskussionsrunden im Fernsehen über das Zusammenleben verschiedener Kulturen, erbitterter Schlagabtausch verschiedener Meinungen in den Leserbriefen der Tageszeitungen, »no go areas« für Leute anderer Hautfarben in Gebieten, die ausschließlich von einer einzigen ethnischen Gruppe bewohnt werden, Schlägereien und Messerstechereien zwischen »verschiedenfarbigen« Gangs), so grandios ist es, wenn man all dies hinter sich lässt und bereit ist, die positiven Seiten dieses Zusammenlebens zu erforschen. Es sind die Begegnungen mit Menschen wie meinen Kollegen hier im Thinktank, die das Leben so faszinierend machen: meine Kollegin aus dem Jemen zum Beispiel, die Kopftuch trägt, von uns allen am lebhaftesten über gut aussehende Männer diskutiert, den Ramadan einhält, ihren Doktor in Biologie hat und meine Vorstellung von der völlig unterdrückten moslemischen Frau gründlich widerlegt. Ich habe mich immer als vorurteilsfreien Menschen gesehen, der, von einem liberalen Elternhaus geprägt, offen allen neuen Dingen entgegentritt. Aber ich bin immer wieder überrascht, wie ich hier tagtäglich viele meiner Überzeugungen hinterfrage und meine Gedanken und Einstellungen neu ordnen muss. Birmingham ist tough and rough, eine ständige Herausforderung. Alles ist hier anstrengend, aber dafür auch doppelt so aufregend. Und ich glaube, das ist es auch, was die Stadt ausmacht. Birminghams offensichtlichster Charakterzug ist nun mal ohne Zweifel seine ethnische Vielfalt, und das äußert sich in den verschiedensten Bereichen. Zunächst ist Birmingham natürlich berühmt für seine einzigartige südasiatische Küche: das so genannte Balti wurde hier von Einwan- 30 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 31 GROSSBRITANNIEN derern aus Kaschmir ›erfunden‹ und besteht im Grunde aus allen möglichen Zutaten, die in einem glühend heißen eisernen Topf (Balti) serviert werden. In Tanzstudios werden Kurse zum BollywoodDancing angeboten; The Drum ist ein Theater, das sich ausschließlich aus Produktionen mit afrikanischen und afro-karibischen Ensembles und Künstlern zusammensetzt, und in nächster Nähe zur Stadtmitte befindet sich Chinatown. Es ist auf jeden Fall anstrengend, hier zu leben. Sowohl im privaten als auch im gesellschaftlichen und beruflichen Bereich. Als Geisteswissenschaftlerin in einem Museum wie dem Thinktank zu arbeiten, das neben historischen Exponaten vor allem naturwissenschaftlichen und technischen Fragen nachgeht, ist natürlich eine besondere Herausforderung. In der Schule habe ich Physik so schnell wie möglich abgewählt, weil ständig nur irgendwelche elektronische Schaltkreise zusammengebaut wurden und sich mir die dahinter verborgene Logik niemals erschloss. Hier arbeite ich mit enthusiastischen Astrophysikern und Biochemikern zusammen und beginne zu verstehen, dass Naturwissenschaft nicht immer langweilig sein muss. Trotzdem – obwohl die Arbeit hier sehr abwechslungsreich ist und das Arbeitsklima nicht besser sein könnte – möchte ich nur etwa ein Jahr im Thinktank bleiben und danach vorzugsweise in einem ähnlichen Umfeld arbeiten, das sich aber mit bildender Kunst befasst. Birmingham werde ich aber wohl erst einmal treu bleiben und die nächsten Jahre hier verbringen. Ich möchte irgendwann wieder nach Deutschland zurück, aber für den Moment bleibe ich hier und versuche, mit dieser ganz besonderen Stadt, die mein Leben verändert hat, Schritt zu halten. 31 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 NICOLE LICHTSCHLAG 11:35 Uhr Seite 32 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 33 NIEDERLANDE Amsterdam Von September 2002 bis März 2003 studierte ich zwei Trimester lang Jura an der Vrije Universiteit in Amsterdam. Ich war schon immer neugierig auf andere Länder. So nahm ich während meiner Schulzeit freiwillig an drei Schüleraustauschen teil und hätte auch noch an einem vierten teilgenommen, wenn sie sich nicht zeitlich total überschnitten hätten. So war ich in Toulouse und in Cavaillon. Ich wollte an einem vierteljährigen Austausch mit Kanada teilnehmen. Leider hat dies nicht geklappt, und so boten sich ›nur‹ sieben Wochen Australien (Brisbane) an. Also wollte ich natürlich auch während meines Studiums ins Ausland, um dort zu studieren. Amsterdam habe ich mir ausgesucht, weil es dort englischsprachige Studiengänge gab, es nicht so weit entfernt von Heidelberg war, ich dort auch nur zwei von drei Trimestern (sieben Monate) studieren konnte und die Lebenshaltungskosten nicht so hoch wie in Großbritannien sind. Großbritannien wäre viel zu teuer gewesen, und man hätte dort mit ERASMUS mindestens ein Jahr studieren müssen. Nach Frankreich wollte ich nicht gehen, da mein Französisch zu schlecht ist. Alternativ wäre ich auch nach Schweden gegangen, aber Amsterdam als Hauptstadt klang dann doch interessanter als Göteborg. So konnte mich mein Freund in Amsterdam mehrmals besuchen kommen. Ich war zuvor noch nie in Amsterdam gewesen, deshalb war ich sehr gespannt. 33 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 11:35 Uhr Seite 34 NICOLE LICHTSCHLAG Prägend war für mich die Erfahrung, eine Ausländerin zu sein. Zwar bin ich äußerlich nicht so aufgefallen, aber ich konnte die Menschen auf der Straße nicht verstehen, da ich nicht so gut Holländisch spreche. Es war sehr schwer, zu Einheimischen Kontakt zu bekommen, aber ich war immer auf der Suche nach ›Opfern‹, an denen ich mein schlechtes Holländisch ausprobieren konnte. So lernte ich in dem Schwesternwohnheim, in dem ich ein Zimmer bewohnte, ein holländisches Trio kennen, dessen Mitglieder am Ende meines Aufenthaltes ganz überrascht waren, dass ich nun auf Niederländisch ganze Sätze sprechen konnte. Ansonsten habe ich sehr viel über China, Vietnam, Südafrika usw. gelernt. In Amsterdam studierten die Austauschstudenten zusammen mit den Studenten aus dem Masterstudiengang, der zur Hälfte aus Chinesen bestand. Jetzt kann ich mit Stäbchen essen und kenne die chinesische, vietnamesische und die italienische Küche sehr gut, da wir oft zusammen gegessen haben. Ansonsten habe ich meine freie Zeit damit verbracht, die Niederlande zu erkunden. Im Alltag redete ich sehr viel Englisch, so dass ich dann auch auf Englisch träumte und dachte. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass es so viele kulturelle Missverständnisse geben kann. So wussten meine chinesischen Freunde beispielsweise nicht, dass man unter einen Schlafsack normalerweise eine Luftmatratze legt, da Camping in China total unüblich ist. Auf diese Idee bin ich gar nicht gekommen; so haben wir geschickt aneinander vorbei geredet, weil sie dach- 34 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 35 NIEDERLANDE NICOLE LICHTSCHLAG Der Auslandsaufenthalt hat mein Selbstverständnis nicht verändert. Vielleicht habe ich aber mehr Verständnis entwickelt für Ausländer und ihre Probleme, sich hier zu integrieren. 35 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 36 NICOLE LICHTSCHLAG ten, dass meine Luftmatratze für eine weitere Person bestimmt sei. Und schließlich stand ich in Groningen mit meinem Schlafsack ohne Luftmatratze – aber zum Glück hat mich eine Weißrussin in ihr großes Doppelbett aufgenommen. Mein Aufenthalt in Amsterdam entsprach insofern meinen Erwartungen, als sich mein Englisch verbesserte. Mit solch einer asiatischen ›Dominanz‹ hatte ich jedoch nicht gerechnet. Auch hätte ich eine bessere Organisation des Aufenthaltes erwartet. So bekam ich irgendwann einen Brief, dass ich mich doch bitte selber um ein Zimmer kümmern möge, obwohl die ERASMUS-Studenten normalerweise Zimmer in den Studentenwohnheimen bekommen. Jeglicher Versuch einer Kontaktaufnahme scheiterte an wochenlangen Sommerferien des Internationalen Büros der Universität, die mir natürlich nicht mitgeteilt wurden. Hinzu kommt, dass in Amsterdam Wohnungsnot herrscht, so dass Wohnraum sehr teuer und schwer zu bekommen ist. So konnte ich schlecht schlafen und war schon drauf und dran, früher nach Amsterdam zu fahren, um mir ein Zimmer zu suchen. Dies kollidierte allerdings mit meinem Urlaub in Spanien. Nach dem Urlaub telefonierte ich stundenlang mit der Universität, um meine Chancen auf einen Platz im Wohnheim zu erfragen. Schließlich bekam ich eine Woche vor meinem Studienbeginn die Mitteilung, dass ich nun doch ein Zimmer für 275 Euro in einem Schwesternwohnheim bekommen hätte. Meine Berufswahl hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon getroffen: ich wollte Jura studieren und studierte es nun auch. Der Auslandsaufenthalt hat meine Berufswahl insofern beeinflusst, als ich mir vorstellen könnte, auch auf dem Gebiet des internationalem Rechts zu arbeiten. Zur Zeit mache ich mein Referendariat, das mit dem zweiten Staatsexamen abschließt, in Heidelberg. Erst dann beginnt für mich das 36 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 37 NIEDERLANDE richtige Berufsleben. Der Auslandsaufenthalt hat mein Selbstverständnis nicht verändert. Vielleicht habe ich aber mehr Verständnis entwickelt für Ausländer und ihre Probleme, sich hier zu integrieren. So setze ich mich als Integrationsbegleiterin für Migranten ein; beispielsweise versuche ich, einem jungen Iraker zu helfen. Manches läuft in den Niederlanden besser als hier. Dort fahren viel mehr Menschen Fahrrad und schützen so die Umwelt. Deshalb gibt es dort auch bessere Radwege, und ich als Radfahrerin habe mich nicht so als Verkehrshindernis gefühlt. Es gibt auch gezielte Förderung der Schulen mit hohem Ausländeranteil, damit die Migranten besser integriert werden. Auch gibt es in den Niederlanden eine Jahreskarte für Museen, die es auch ärmeren Menschen ermöglicht, sämtliche staatlichen Museen im Land zu besuchen. Ansonsten bleibt festzuhalten, dass die Universität dort viel besser mit Computern (selbstverständlich mit Internetzugang) für die Studenten ausgerüstet war. Auch mussten wir viel mehr in Gruppen oder allein Referate vorbereiten und auch mündliche Prüfungen ablegen. In Deutschland schreibt man immer nur Klausuren und muss sich vor dem Staatexamen nicht mündlich am Unterricht beteiligen, Referate halten oder gar in Gruppen zusammenarbeiten. Im Vergleich zu dem deutschen Jurastudium wird man also viel besser auf den späteren Berufsalltag vorbereitet, da man dann auch mit anderen zusammenarbeiten und auch frei reden können muss. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass in Deutschland einige Verbesserungen notwendig sind. Am wichtigsten ist für mich die Erkenntnis, dass andere Länder und ihre Bewohner anders ›ticken‹ als die Deutschen zuhause. So können sehr viele kulturelle Missverständnisse auftreten, die zu den sprach- 37 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 38 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:29 Uhr Seite 39 NIEDERLANDE lichen Unzulänglichkeiten hinzukommen. Ich finde es zum Beispiel sehr wichtig, anderes Essen erst einmal auszuprobieren, bevor man es als unappetitlich ablehnt. Nach einem Selbstversuch habe ich festgestellt, dass man die Ohren eines Schweins tatsächlich essen kann und es auch nicht so schlecht schmeckt. Oder was hätten Sie gemacht, wenn ihre chinesischen Freunde damit ankommen, Sie mit erwartungsvollen braunen Augen angucken und stolz fragen, ob Sie diese leckere Spezialität probieren wollen? Andere chinesische Spezialitäten wie z.B. Sauerkraut waren mir dann schon vertrauter. Dank meines Aufenthaltes kann ich jetzt viel besser Englisch reden und schreiben und sogar ein bisschen Holländisch. Ich bin auch froh, dass ich Amsterdam kennen gelernt habe. Ich habe in Amsterdam viele ausländische Freunde gefunden und mit einigen immer noch per Email Kontakt. So können wir uns dann hoffentlich irgendwann einmal gegenseitig besuchen. Mein persönliches Fazit: Die Welt kann nur zusammenwachsen, wenn es ihre Bewohner auch tun. 39 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 13:27 Uhr Seite 40 JANINA VICTOR Janina Victor, geb. 1975 in Reinbek. Magister in Europäis che Studien an der Universität Osnabrück. ERASMUS-Aufentha lt: September 1996-April 1997 an der Univ ersiteit van Maastricht, Nied erlande. 40 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 13:27 Uhr Seite 41 NIEDERLANDE Auf nach Den Haag – so weit weg? Aufgeregt saßen wir alle in der Informationsveranstaltung über das nahende Auslandssemester. Die Zeit der Entscheidung war angebrochen. Poitiers, Maastricht, Leeds? Allesamt gingen wir weg, und wir wollten es auch: das Pflicht-Auslandssemester in unserem Studiengang mit dem wohlklingenden Titel »Europäische Studien« war immerhin ein wichtiger Grund gewesen, dieses Studium überhaupt auszusuchen. Poitiers, Maastricht, Leeds … Maastricht fand ich damals mit Abstand am spannendsten. Wer spricht schon Niederländisch? Eine kleine Herausforderung war immer gut, es sollte ja schließlich nicht langweilig werden. Also ein Lehrbuch Niederländisch gekauft, und auf ins Abenteuer. In Maastricht angekommen, gab es eine kleine Überraschung: die angekündigten englischsprachigen Module, mit denen ich hätte beginnen sollen, waren irgendwie ein Missverständnis. Alléén Nederlandse cursussen in september! Nach einigen Wochen unter Wasser in der neuen Sprache entspannten sich meine verkrampften Fäuste langsam, trockneten die Frustrationstränen und konnte ich dem Unterricht langsam folgen, ohne meine Hörsaalnachbarn abzulenken durch ständiges Blättern im Wörterbuch. Ich habe noch ein starkes Gefühl von persönlichem Triumph in Erinnerung an mein erstes auf Niederländisch gehaltenes Referat. Das Land war mir einfach sympathisch. Die Sprache brachte mich in den ersten Wochen beinahe ständig zum Lächeln. Qualität schrieb 41 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 42 JANINA VICTOR man auf Niederländisch mit Kw am Anfang! Die Züge waren fröhlich kanariengelb, die Ampeln lustig schwarz-weiss gestreift, was schön kontrastierte mit den knallroten Briefkästen. Die meisten Menschen waren freundlich und unkompliziert. Ein Problem bekamen die Niederlande und ich erst an dem Tag, an dem ich nach dem Unterricht mein Fahrrad losschließen wollte und entdeckte, dass das riesengroße Kettenschloss zerschnitten am Boden lag. Das Fahrrad stand noch da. Offensichtlich war ich schneller vom Unterricht zurück, als der Dieb hatte schneiden können. Meine niederländischen Kommilitonen lachten, sagten »willkommen in den Niederlanden« und klopften mir gratulierend auf die Schulter, da mein Fahrrad ja immerhin noch da war. Ich dagegen stand stocksteif da und starrte nicht-begreifend auf das zerschnittene Schloss in meinen unbeweglichen Händen. Ich befand mich in einem Land von brutalen SchlossZerschneidern und Fahrraddieben. Der Unterricht – man muss es einfach sagen – war besser als zuhause. Ans »problemorientierte Lernen« in der »Studienlandschaft« der Bibliothek musste ich mich zwar erst gewöhnen, aber ich erinnere mich durchaus noch an den Stoff, was ich nicht behaupten kann vom Stoff meiner zahllosen Referate an meiner Heimatuni. Die Professoren waren interessiert und ansprechbar. Auch der Empfang beim Auslandskoordinator war herzlicher, als ich es kannte von den Mitarbeitern des Auslandsamtes meiner Heimatuni. Deren Verhalten hatte ich immer interpretiert als Test: es sollten eben nur die durchsetzungsfähigsten Studenten ins Ausland gelangen. Das machte ja schließlich auch Sinn. Kurzum, mein ERASMUS-Aufenthalt in den Niederlanden war eine gute Zeit. Das stand mir noch scharf vor Augen, als es zwei Jahre später, nach der Magisterarbeit, Zeit wurde, auf Jobsuche zu gehen. 42 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 43 Inzwischen hatte ich bei einem Aufenthalt von sechs Monaten in Brüssel ein Kontrastprogramm genossen: Brüssel hatte zwar viel mehr Charme und Grandeur als Maastricht, aber es war auch dreckig, die Fahrkartenautomaten funkionierten nicht, jedes dritte Haus stand kurz vor dem Einsturz, und die vier Bevölkerungsgruppen (Wallonen – Flamen – Immigranten aus Afrika – Europäische Bürokraten) lebten komplett nebeneinander her. Das war nichts für mich. Tja, was macht eine Geisteswissenschaftlerin, die einen Job sucht? 1999 kaufte sie sich Zeitungen. ZEIT, FAZ, vielleicht noch die Süddeutsche. Und dann begann sie, sich Sorgen zu machen. Wie bekam man denn in Deutschland einen Job? Es standen ja fast keine geeigneten Annoncen in den Zeitungen! Ja, in den Niederlanden, da war das anders. Da standen die Zeitungen voll; auch Ministerien und andere Staatsdienste rekrutierten ihr Personal einfach über die Tageszeitung. 43 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 44 JANINA VICTOR Also gut. Wenn Deutschland mich nicht braucht, dann eben nicht. Es muss ja nicht Deutschland sein. Ich hatte schließlich schon vier Mal in verschiedenen Ländern studiert. Wie schwierig kann es sein, dort auch zu arbeiten? Einen Neustart musste ich ja ohnehin machen. Meine Auslandserfahrung bot mir in dem Moment ganz deutlich eine Chance, die ich anders nicht gesehen und ergriffen hätte. Gesagt, getan. Die Volkskrant, die ich am Osnabrücker Hauptbahnhof kaufte, hatte diese Woche eine besonders interessante Anzeige vom Stadtrat von Amsterdam. Drei Wochen später hatte ich den Job. Ich war frischgebackener Office Manager eines neuen Büros, das dem Internet zum Durchbruch verhelften sollte bei den Diensten der Gemeinde. Einen Raum und einige Kollegen gab es schon. Computerbeschaffung und Arbeitsplan waren mir überlassen. Die ersten Monate meines ersten Jobs waren die bisher schwersten meines Lebens. Ein Neuanfang im Ausland, Eintritt ins Berufsleben, ein Arbeitsplatz, der erst noch aufgebaut werden musste, ein Telefon, das klingelte und auf Niederländisch beantwortet werden wollte. Und der neue Wohnort natürlich. Ich hatte nicht gerechnet mit der Amsterdamer Wohnungsnot. In Deutschland ist es schwer, einen Job zu bekommen. Wer eine Wohnung sucht, schnippt dagegen einfach mit den Fingern. In den Niederlanden ist es genau umgekehrt, und darauf hatte mich mein ERASMUS-Aufenthalt nicht vorbereitet. Nachdem ich mich wochenlang herumgeschlagen hatte mit Niederlassungserlaubnissen, Wartelisten für Mietwohnungen (Durchschnittswartezeit Amsterdam: acht Jahre) und kurz vorm Verzweifeln war, fand ich eine Wohnung in Almere. Auch das war pures Glück: eine Praktikantin der Wohnungsbaugenossenschaft hatte sich am Telefon verplappert, dass gerade eine Wohnung frei geworden war, und ich hatte sofort zugeschlagen. Als ich kam, um den Vertrag zu unterschreiben, hatte die Praktikantin schon Telefonverbot. 44 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 45 NIEDERLANDE Wer zu einem Niederländer »Almere« sagt, bekommt unweigerlich skeptische Blicke zurück. »Hast Du denn gar nichts anderes finden können?« lautet die Gegenfrage. Almere ist eine künstliche Stadt auf künstlichem Land. Die wassergewandten Niederländer haben einfach einen Deich quer durchs IJsselmeer gebaut und dann alles Wasser von der einen Seite auf die andere gepumpt. Trara! Neuland! Platz für eine neue Stadt! Nach zwei Jahren fühlte ich mich zwar in den Niederlanden zuhause, aber Job und Stadt waren doch nicht das Wahre. Mein alter Wegweiser in die Zukunft, die Volkskrant, brachte zum Glück erneut Abhilfe. Nuffic, da wollte ich gern arbeiten. Stimulieren von akademischer Mobilität? Ich fand, dass ich darüber durchaus mitreden konnte. Nuffic suchte gerade einen Spezialisten für Mobilitätshemmnisse, das heisst: Visa, Aufenthaltsgenehmigungen, Arbeitserlaubnisse. Darüber wusste ich zwar nichts, aber wenn ich in ein neues Land ziehen und mir die Sprache aneignen kann, kann ich auch ein neues Fachgebiet erlernen und von Almere nach Den Haag ziehen, fand ich. Nuffic fand das zum Glück auch. Meine Amsterdamer Kollegen machten große Augen – Den Haag? So weit weg? Ich musste laut lachen. Inzwischen arbeite ich schon fünf Jahre bei der Nuffic. Mit Studenten habe ich wenig direkten Kontakt, dafür aber umso mehr mit den Mitarbeitern der Unis, die im Umfeld der Auslandsämter arbeiten. Da ich akzentfrei Niederländisch spreche, wissen meine Arbeitskontakte zumeist nichts über meinen Hintergrund. Alle paar Monate gibt mir das irgendwo auf einem Kongress die schöne Gelegenheit, zu erzählen, dass ich selbst auch als ERASMUS-Studentin in die Niederlande gekommen und jetzt immer noch da bin; so kann es gehen, und das alles dank des unermüdlichen Einsatzes von Leuten, wie sie sich hier auf dem Kongress treffen. Es ist immer wieder schön, dann die überraschten und stolzen Gesichter der Teilnehmer zu beobachten. 45 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 46 SABINE BRA M B A C H , GEB . 1981 IN LANDS BERG AM LECH . DIPL. IN KOM MUNIKATIONS DESIGN AN D ER FACHHOCH SCHULE MÜNC HEN. ERASMUSA U F E N T H A LT : AUG-DEZ 200 3 AN DER UN IVERSITY OF AP PLIED SCIENCE S IMATRA, FINNL AND. 46 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 47 FINNLAND Erfahrungen aus dem Hohen Norden Während ich für mein Abitur im Jahre 2000 gelernt habe, träumte ich bereits davon ins Ausland zu gehen. Ein Jahr »Au Pair« wäre eine günstige Gelegenheit gewesen. Allerdings hat mir, denke ich, derzeit noch der Mut gefehlt, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen; doch drei Jahre später war die Neugierde groß genug. Zu diesem Zeitpunkt studierte ich Kommunikationsdesign an der Fachhochschule München. Eine Kommilitonin fragte mich, ob ich mit ihr für ein Auslandssemester nach Finnland kommen wolle. Was zunächst mit einer spaßeshalber mit »ja« beantworteten Frage begonnen hatte, wurde etwa 3 Monate später zur Wirklichkeit. Doch selbst im Flugzeug auf dem Weg nach Joensuu, einer Stadt im Osten Finnlands, in der wir unseren Aufenthalt mit einem Finnisch-Sprachkurs begannen, konnte ich es noch nicht glauben. Mein Traum war Wirklichkeit geworden! Endlich hatte ich den Mut gefunden, aus meinem 3000-EinwohnerDorf zu entfliehen; Freunde und Familie hinter mir zu lassen und über den gewohnten Tellerrand hinauszublicken. Durch die Verbindung meines Aufenthaltes mit einem Auslandsstudium war zumindest gewährleistet, dass sich mein Studium nicht weiter hinauszögern würde. »Warum ausgerechnet Finnland?« war eine der mir am häufigsten gestellten Fragen. Ehrlich gesagt, war der Grund recht einfach: Ich hatte nicht besonders viel Auswahl. Der Fachbereich meiner Universität hatte lediglich ein Austauschabkommen mit einer Universität, die sich in Imatra, Finnland, befand. Finn- 47 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 48 SABINE BRAMBACH land ist bekannt für gutes Design und Architektur. Nokia und Alvar Aalto schießen mir da sofort durch den Kopf. Ein weiterer, ausschlaggebender Punkt war, dass ich zur Zeit meiner Entscheidung mit meinem Studium in München recht unzufrieden war. Ich hoffte, es gäbe einen Platz, an dem ich mehr lernen würde. Ich wollte mehr lernen, andere Dinge sehen und neue Erfahrungen sammeln. Zunächst muss ich zugeben, dass meine Erwartungen und der erste Eindruck von der Universität sich sehr voneinander unterschieden. In Deutschland studierte ich Kommunikationsdesign, eine Mischung aus Fotografie, Grafikdesign, Neuen Medien, Malerei und Film. Je nach Interessensgebiet konnte man sich mit Projekten spezialisieren. Der erste große Unterschied zur finnischen Universität bestand darin, dass das Kurssystem wochenweise aufgebaut war. Somit belegte man ein Fach als einen Block über eine Periode von ein bis drei Wochen und wechselte anschließend zum nächsten Fach. Es gab somit keine über das ganze Semester andauernde Vorlesung. Der zweite große Unterschied war, dass die Kurse auf traditionelle Kunst und ihre unterschiedlichen Techniken ausgerichtet waren. AquarellMalerei, Portrait-Malerei, Fotografie, Aktzeichnen usw., um nur einige Fächer zu nennen. Somit fiel es mir schwer, Fächer zu finden, die sich mit meinem Stundenplan in Deutschland vereinbaren ließen. Allerdings ließ meine Wahl viel Freiraum für Experimente und im Laufe des Semesters kam ich mit künstlerischen Disziplinen in Kontakt, die ich sonst nie ausprobiert hätte. In meinem Landschaftsmalerei-Kurs beispielsweise entstanden Werke, die ich mit Sicherheit hätte verkaufen können. Meine Performance Art-Klasse zeigte mir, dass das eine Richtung ist, die ich mit Sicherheit nie einschlagen werde, auch wenn ich dabei lernte, meine Schüchternheit zu überwinden. Ich liebte alle Fotografie-Klassen und 48 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 49 FINNLAND Zu meiner ursprünglichen Neugierde kamen Aufgeschlossenheit und Eigenständigkeit hinzu und die Überzeugung, dass man ein Ziel, das man sich gesetzt hat, auch in der Realität erreichen kann. SABINE BRAMBACH 49 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 50 SABINE BRAMBACH besonders die Tatsache, dass das gesamte Material von der Universität bezahlt wurde. Somit waren der Experimentierfreude keine Grenzen gesetzt. Trotz der Tatsache, dass sich das Programm der Universität in Imatra sehr stark von dem meiner deutschen Uni unterschied, denke ich, dass mir dieses Semester in beruflicher Hinsicht weitergeholfen hat. Ich entwickelte meine Fähigkeiten im Bezug auf Fotografie weiter und fand heraus, dass das ein Feld ist, auf das ich mich später konzentrieren möchte. Darüber hinaus kam ich mit einigen künstlerischen Disziplinen in Kontakt, die ich sonst nie kennen gelernt hätte – und das Wichtigste an dieser Tatsache für meinen weiteren Weg ist, dass ich herausfand, dass keine dieser Disziplinen mein zukünftiges Arbeitsfeld sein wird. In dieser Zeit wurde mir klar, dass Grafikdesign die Richtung ist, in die ich mich weiter entwickeln möchte. Die verschiedenen künstlerischen Techniken werden auch in Zukunft immer wieder in meinen Arbeiten auftauchen, ein handwerkliches Können, das sehr hilfreich sein kann. Möchte man allerdings in beruflicher Hinsicht mehr aus seinem Auslandsaufenthalt machen, sollte man sich genau nach dem Kursprogramm erkundigen, bevor man sich für eine Uni entscheidet – falls es eine Wahl gibt. Doch sind nicht nur die Erkenntnisse in Bezug auf mein Studium Gold wert. Viel größere Bedeutung haben für mich die persönlichen Erfahrungen. Und die sammelt man von der ersten Sekunde an. Die Tatsache, dass ich das Abenteuer mit einer Freundin angetreten habe, machte einiges einfacher, doch manchmal auch schwieriger. Ein Punkt war, dass meine Freundin die Angewohnheit hatte, bei jeder Gelegenheit Deutsch zu reden. Unter uns beiden sah ich kein Problem 50 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 51 FINNLAND darin, aber wenn man sich inmitten eines Kreises von internationalen Freunden befindet, ist es den anderen gegenüber sehr unhöflich, da man sie von vornherein aus dem Gespräch ausschließt. Die Tatsache, dass die Uni so klein war, machte es einfach, Leute kennen zu lernen. So lernte ich auch viele Suomis, wie die Finnen sich selbst nennen, kennen. Meiner Erfahrung nach sind Finnen von sich aus sehr schüchtern und zurückhaltend. Aber wenn man den ersten Schritt gemacht hat, trifft man auf die nettesten und hilfsbereitesten Menschen, die man sich nur vorstellen kann. Ein Auslandsaufenthalt bedeutet immer, den ersten Schritt zu machen. Es fängt mit der Entscheidung für ein Studium im Ausland an, und diese Entscheidung muß umgesetzt werden; das bedeutet, den Papierkram zu erledigen, bevor man sich dann wirklich auf das Abenteuer einlassen kann. Zunächst fiel mir das ein wenig schwer. Von Natur aus neugierig, aber auch zurückhaltend und schüchtern, stand ich täglich vor neuen Herausforderungen. Doch genau dies und die Tatsache, dass ich bereit war, die Probleme zu überwinden, ließen mich wachsen und stärkten meine Persönlichkeit ungemein. Ich überwand nicht nur meine Schüchternheit und lernte, auf wildfremde Leute zuzugehen, die noch dazu nicht meine Sprache sprachen, sondern ich entwickelte zunehmend ein gutes Gefühl, Menschen einzuschätzen, und lernte darüber hinaus, mit Konfliktsituationen umzugehen. Ich traf auf viele sehr unterschiedliche Menschen, sowohl im Studium als auch im Volleyballverein und in der Freizeit. Diese Erfahrung lässt mich immer noch lachen. Die Englischkenntnisse meiner Mitspieler hielten sich in Grenzen, aber wir fanden trotzdem immer einen Weg, uns zu verständigen. Die Tatsache, dass ich in einer sehr kleinen Stadt gelandet war, machte es einfach, Einheimische kennen zu lernen. Dadurch erfuhr ich viel über ihr Leben 51 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 52 SABINE BRAMBACH und ihre Kultur. Eine Rundreise, die wir teilweise mit einer finnischen Freundin und ihrem Freund absolvierten, gab uns noch weitere Einblicke. Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass der Auslandsaufenthalt in Finnland mein Leben grundlegend verändert und in andere Bahnen geleitet hat. Hätte ich mich damals anders entschieden und nicht den Mut gefunden, dann würde ich in diesem Moment, in dem ich dies schreibe (an und für sich hätte ich gar keine Gelegenheit, diesen Text zu verfassen), in einem kleinen verträumten bayerischen Dorf sitzen. Nicht, dass ich das als schlecht bewerten würde, doch sitze ich im Augenblick in San Francisco. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland beschloss ich nämlich recht bald, dass ich, wenn sich die Gelegenheit ergeben würde, gerne wieder ins Ausland gehen würde. Deshalb bewarb ich mich für ein Fulbright-Stipendium. Zu meinem Erstaunen gehörte ich zu den Auserwählten, und mir wurde ein weiteres Studienjahr hier in San Francisco ermöglicht. Dieses Jahr verlängere ich momentan mit einem Praktikum in einem Grafikdesign-Studio, bevor ich Mitte März 2007 wieder deutschen Boden betreten werde. Mein Aufenthalt in Finnland , der durch das Erasmus-Stipendium unterstützt wurde, hat mir bei meiner Bewerbung für das Stipendium weitergeholfen. Nicht nur hat er bewiesen, dass ich wirkliches Interesse daran habe, ins Ausland zu gehen, vielmehr erwiesen sich in dem von der Kommission geführten Interview meine Englischkenntnisse und meine Erfahrungen anscheinend als sehr überzeugend. Meine Englischkenntnisse sind selbstverständlich in meinem weiteren Leben von besonderer Bedeutung. Darüber hinaus denke ich, dass der Aufenthalt mich in meiner Persönlichkeit und Lebenseinstellung 52 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 53 FINNLAND geprägt hat. Zu meiner ursprünglichen Neugierde kamen Aufgeschlossenheit und Eigenständigkeit hinzu und die Überzeugung, dass man ein Ziel, das man sich gesetzt hat, auch in der Realität erreichen kann. Ein weiterer interessanter Faktor ist die Veränderung des Begriffs ›Heimat‹. Durch einen längeren Aufenthalt in einem fremden Land – und nicht nur einen kurzen Besuch – lernt man dessen Kultur, Bräuche, Menschen und Eigenarten kennen. Damit wird einem auch der Unterschied zum eigenen Land bewusst. Man beginnt, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen, Gewohntes in Frage zu stellen, zu vergleichen und gleichzeitig sein eigenes Herkunftsland besser kennen zu lernen. Obwohl uns in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg der Patriotismus »ab«-erzogen wurde, bin ich inzwischen doch ein wenig stolz darauf, Deutsche zu sein. Denn der Vergleich machte mir bewusst, wie viele gute Seiten Deutschland eigentlich hat. An dieser Stelle sei nicht nur das gute Essen erwähnt. In Finnland war mein Heißhunger auf Brezen sogar so groß, dass ich selbst Brezen gebacken habe. Vor allem aber halte ich fortschrittliches Denken, Vorausplanung und das Entwickeln neuer Energieressourcen für Gebiete, auf denen Deutschland weltweit die Nase vorne hat. 53 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 54 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 55 DAAD_ERASMUS_IN_070411 BIRGIT KRAUS 56 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 56 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 57 FINNLAND Einmal Norden – immer Norden? Aber ja! Auch in der heutigen globalisierten Welt sind Auslandsaufenthalte noch immer etwas Besonderes. Sie erweitern unseren Horizont und zeigen uns eine andere Welt, in der wir nicht nur neue Menschen kennen lernen. Bei der Rückkehr in die Heimat haben wir uns verändert, sehen nicht nur uns selbst, sondern auch unser Land mit anderen Augen. Möglichkeiten, zumindest einige Monate im Ausland zu verbringen, gibt es viele, auch für unterschiedliche Lebensphasen. Ob als Austauschschüler, als Fremdsprachenassistent oder als ERASMUSStudent – die Palette ist weitgefächert und wird nahezu jedem Bedürfnis gerecht. Es ist alles eine Frage der Organisation und der Kenntnis der vorhandenen Angebote. Im Folgenden möchte ich von meinen Erfahrungen in Finnland berichten. Kein anderes Land hat mich und meinen Weg mehr geprägt, obwohl ich auch in den USA und Frankreich längere Zeit gelebt bzw. gearbeitet habe. Ich werde erzählen, wie ich in den Norden gekommen und vom Norden geprägt worden bin, wobei ich vor allem auf meinen ERASMUS-Aufenthalt in Helsinki im Frühjahr 1999 eingehen werde. 1992 bin ich zum ersten Mal eher zufällig nach Finnland gereist, und zwar als Sommer-Au pair. Mein ursprüngliches Ziel war Frankreich gewesen, aber da gab es keine entsprechenden Angebote nur für den 57 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 58 BIRGIT KRAUS Sommer. Zu diesem Zeitpunkt war mein Wissen über Land und Leute sehr eingeschränkt. Ich hatte eine vage Vorstellung von einem weitläufigen Land im Norden, wo die Sommer kurz und die Winter lang sind und wo die Menschen eine seltsame Sprache sprechen, die sehr schwer zu lernen sei. Außerdem hatte ich wegen eines Aufenthalts als Austauschschülerin in den USA losen Kontakt zu einer gleichaltrigen Finnin und war entsprechend neugierig. Die Folgen waren mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, aber sie waren gravierend. Der herrliche Sommer im Norden und die aufgeschlossenen Menschen, denen ich begegnete, haben in mir den Wunsch nach mehr Wissen über Land und Leute geweckt. In den folgenden Jahren bin ich deshalb immer wieder in den Norden gefahren. Ich habe dort nicht nur Urlaub gemacht, sondern auch an der Sommeruniversität in Helsinki Sprachkurse besucht. Die Wahl meiner Studienfächer sowie meines Studienorts Greifswald war ebenfalls vom Norden beeinflusst. Aus historischen Gründen verfügen Universität und Stadt über enge Kontakte zu den nordischen Ländern, sodass ich verschiedene Interessen miteinander vereinen konnte. So war ich für mein erstes Schulpraktikum 1995 wieder in Helsinki, kam 1997 nochmals als Sommer-Au pair nach Finnland und besuchte mit Unterstützung des DAAD einen weiteren Sommersprachkurs. Zum Ende meines Studiums konnte ich mir im Rahmen der ERASMUS-Partnerschaft zwischen dem 7. und 8. Semester (Januar bis April 1999) auch den lang gehegten Traum erfüllen, in Helsinki zu studieren. Mit meinen Dozenten in Greifswald hatte ich abgesprochen, dass ich sowohl im Winter- als auch im Sommersemester über das erlaubte Maß hinaus fehlen durfte. Wieso eigentlich Helsinki? Und warum ausgerechnet im Winter? Dafür gab es sowohl studientechnische als auch private Gründe. Das 58 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 59 FINNLAND Nordische Institut der Universität Greifswald verfügte über einen ERASMUS-Platz in Helsinki. Dieser Studienplatz befand sich zwar nicht an der Universität selbst, sondern an der Schwedischen Handelshochschule Hanken; dazu später mehr. Helsinki ist eine wunderschöne Stadt mit einer ausgezeichneten Infrastruktur. Die Stadt hat zwar nur ca. 500.000 Einwohner, bietet aber alle kulturellen Annehmlichkeiten einer jeden Hauptstadt. Neugierig war ich auch auf den Winter, denn zuvor hatte ich das Land nur im Sommer bereist. Bei Freunden war außerdem just in der Zeit in der WG ein Zimmer frei, sodass ich nicht im Studentenwohnheim wohnen musste. Mein Ziel war es, mit einem längeren Auslandsaufenthalt zum einen meine Sprachkenntnisse nachhaltig zu verbessern, zum anderen das Thema meiner Hausarbeit für die Erste Staatsprüfung festzulegen und Material zu sammeln. Dafür bot sich Helsinki mit den schon erwähnten Institutionen an. Außerdem wollte ich mehr über das finnische Universitätssystem erfahren. Wie bei jedem Auslandsaufenthalt gab es auch hier Höhen und Tiefen, was bei mir allerdings nicht mit irgendwelchen Kulturschocks zusammenhing, denn ich kannte Finnland schon vorher gut genug, um zu wissen, worauf ich mich einließ. Schlichtweg fantastisch waren und sind die Bibliotheken der Stadt mit ihrer reichhaltigen Ausstattung. Ich konnte sehr viel Literatur einsehen und später verwerten und im Laufe der Zeit mein Hausarbeitsthema weiter eingrenzen. In sprachlicher Hinsicht gab es für mich einen gewaltigen Schub, was nicht zuletzt mit der Geduld und Korrekturfreudigkeit meiner Freunde, aber auch mit den von mir besuchten Lehrveranstaltungen zusammenhing. Dazu gehörten finnisch-französische Übersetzungskurse, ein Finnischkurs für Fort- 59 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 60 BIRGIT KRAUS geschrittene sowie Vorlesungen und Seminare zur Übersetzungswissenschaft an der Universität Helsinki. Darüber hinaus nahm ich an einem Schwedischkurs der Schwedischen Handelshochschule Hanken teil. Bei meiner Rückkehr wurden mir alle meine Veranstaltungen, wenn auch teilweise unter Auflagen, anerkannt. Besonders beeindruckend war für mich der finnische Winter, der zu Beginn des Jahres 1999 mit Rekordtemperaturen, auch im Süden, aufwartete. Wochenlang verharrte das Thermometer weit unter –10°C, der Spitzenwert lag bei –27°C. Rund um die Uhr wurden Schneemassen mit Lastwagen aus der Stadt transportiert, auf dem Eis konnte man Ski laufen und an den meist sonnigen Tagen einfach das Dasein draußen genießen, natürlich vermummt in einem wahren Kleiderberg. Etwas überrascht war ich von meiner Studiensituation. Ich hatte die Funktion des ERASMUS-Platzes nämlich so verstanden, dass ich zwar offiziell an der Schwedischen Handelshochschule Hanken in Helsinki eingeschrieben würde, aber an der Universität Helsinki Finnisch studieren könnte. Es stellte sich nach meiner Ankunft jedoch schnell heraus, dass dem nicht so war. Das International Office von Hanken war von meinen persönlichen Plänen nicht begeistert, denn man ging davon aus, dass ich an dortigen wirtschaftswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen teilnehmen würde. Persönliche Vorsprachen bei den zuständigen Dozentinnen und Dozenten der Universität Helsinki ermöglichten mir dann aber die Teilnahme an den dortigen Lehrveranstaltungen. So konnte ich doch noch die für mich sinnvollen Vorlesungen und Seminare besuchen. Bedauerlicherweise erhielt ich bei diesen Verhandlungen seitens der Schwedischen Handelshochschule Hanken keinerlei flankierende Unterstützung. 60 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 61 FINNLAND Doch konnte ich dem Aufenthalt in Hanken auch eine positive Seite abgewinnen: So kam ich aus meiner »Lehrerwelt« heraus. Es war interessant, im Rahmen der ERASMUS-Freizeitaktivitäten mit Studierenden aus verschiedenen europäischen Ländern zusammenzutreffen, die zudem als Wirtschaftswissenschaftler aus einem für mich eher unbekannten Fachbereich kamen. Im Winter 1999 und auch später sind mir diverse Dinge ins Auge gefallen, die mit meinem ERASMUS-Studium an sich nichts zu tun hatten, die ich aber trotzdem für erwähnenswert halte: Zunächst einmal nehmen die Finnen die Beherrschung der Landessprache durch Ausländer sehr positiv auf. In manchen europäischen Ländern wird es dagegen als (zu) normal angesehen, dass der aus- 61 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 62 BIRGIT KRAUS ländische Besucher die jeweilige Sprache gut beherrscht. Die Sprache ist ein entscheidender Schlüssel zur finnischen Kultur und den Menschen. Man kann sich zwar problemlos mit Englisch verständigen, aber ohne Finnischkenntnisse ist eine wirkliche Integration nicht möglich. Dieses Phänomen konnte ich sehr gut am Beispiel der ERASMUS-Studenten der Schwedischen Handelshochschule Hanken beobachten, von denen meines Wissens nach niemand vernünftig Finnisch oder Schwedisch gelernt hat. Die meisten besuchten immerhin mit mir den fakultativen Schwedischkurs, in dem soviel Schwedisch vermittelt wurde, dass sie nicht ganz verloren im Alltag waren. Verschiedene ausländische Studenten beklagten sich dennoch, dass es schwer sei, mit Einheimischen in Kontakt zu kommen und dass sie daher zwangsläufig unter sich blieben. Leider gab es die Unart, alle Ausländer getrennt von den Finnen unterzubringen, sodass für mich der Eindruck einer Isolierung entstand. Selbstverständlich ist in Finnland die Berufstätigkeit der Frau. Wegen der Betreuungsmöglichkeiten ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr viel besser gewährleistet als in Deutschland. Deswegen werden Frauen ermutigt, Kinder zu bekommen. Gleichberechtigung hat in Finnland eine lange Tradition; schließlich haben die finnischen Frauen schon 1905 – und damit als erste in Europa (!) – das Wahlrecht erhalten. Des Weiteren möchte ich die Bescheidenheit der Finnen erwähnen. Man nimmt sich dort selbst nicht zu wichtig. Vielmehr geht es darum, wie man ist, und nicht, wie man zu sein scheint. Dieses Verhaltensmuster konnte ich zwei Jahre später im Dezember 2001 im Rahmen eines neuerlichen Studienaufenthalts beobachten, als die Ergebnisse der PISA-Studie veröffentlicht wurden. Die guten Resultate der finnischen Schüler wurden nicht stolz herumposaunt, 62 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 63 FINNLAND BIRGIT KRAUS Die Sprache ist ein entscheidender Schlüssel zur finnischen Kultur und den Menschen. Man kann sich zwar problemlos mit Englisch verständigen, aber ohne Finnischkenntnisse ist eine wirkliche Integration nicht möglich. 63 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 64 BIRGIT KRAUS sondern man fragte sich erstaunt, ob die finnischen Schüler wirklich so gut waren. Generell ist Studieren in Finnland sehr empfehlenswert, wobei ich oben schon die Wichtigkeit der Sprachbeherrschung hervorgehoben habe. Finnland ist ein aufgeschlossenes modernes Land, das über ein hohes Ausbildungsniveau verfügt und auch im Blick auf die Lebensqualität äußerst attraktiv ist. Der ERASMUS-Aufenthalt in Helsinki sollte entscheidend für meinen späteren beruflichen Werdegang sein. Im Lauf der vier Monate in Helsinki habe ich mit dem Gedanken gespielt, mein Lehramtsstudium in Deutschland abzubrechen und in Finnland mit anderen Schwerpunkten weiterzustudieren. Da ich nur noch ein knappes Jahr bis zur Ersten Staatsprüfung hatte, habe ich mich dennoch anders entschieden, zumal es dann Probleme mit dem BAföG-Amt gegeben hätte. Den Traum eines weiteren Finnlandaufenthaltes nach Ende des Studiums erfüllte mir der DAAD mit einem Stipendium für das Studienjahr 2001/2002 an der Universität Vaasa. Mit dem ERASMUS-Aufenthalt an der Universität Helsinki lernte ich eine neue Fachwelt kennen. Ich hatte schon früher Übersetzungskurse besucht, jedoch ohne theoretisches Handwerkszeug. Dieses erhielt ich im Frühjahr 1999 und konnte beim Schreiben der Hausarbeit für die Erste Staatsprüfung ungemein von diesem Hintergrundwissen profitieren. Für mich ist die Übertragung von Bedeutungen aus einer Sprache in eine andere immer noch faszinierend; einen vollständigen Wechsel in die Übersetzungswissenschaft habe ich nicht vollzogen. Beruflich kamen mir meine Auslandsaufenthalte als DAAD-Lektorin in Straßburg (2004 bis 2006) zugute. Für eine effiziente Studienberatung sind eigene Erfahrungen unerlässlich. Will man andere Menschen motivieren, ins Ausland zu gehen, so sollte man wissen, 64 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:30 Uhr Seite 65 FINNLAND wovon man spricht. In dieser Hinsicht halte ich die Vorbildfunktion von Lehrerinnen und Lehrern in der Schule für ausgesprochen wichtig. Mein jetziger Arbeitsplatz liegt wieder im Inland, hat aber immer noch mit meinen Auslandsaufenthalten zu tun. Im Zentrum für Lehrerbildung der TU Darmstadt bin ich für die Evaluation der neuen modularisierten Lehramtsstudiengänge verantwortlich. Des Weiteren berate ich auch Lehramtsstudierende über Möglichkeiten, ins Ausland zu gehen. Auf Grund meiner Ausbildung und meiner Aufenthalte innerhalb und außerhalb Europas verfüge ich über eine differenzierte Sicht auf Bildungssysteme, die mir hilft, den Bologna-Prozess und seine Hintergründe besser zu verstehen. Wohin mich mein Weg als nächstes führt, weiß ich nicht. Vielleicht gehe ich noch einmal in ein ganz neues Land, vielleicht kehre ich auch in den Norden zurück. Vielleicht bleibe ich auch in Deutschland, ich warte einfach ab. Fakt ist jedenfalls, dass der erste längere Aufenthalt im Ausland nicht unbedingt der letzte sein muss, wie meine persönliche Erfahrung zeigt. Ist man einmal in eine fremde Kultur und deren Sprache eingetaucht, sinkt die Hemmschwelle, sich auf weitere Länder und deren Sprachen einzulassen. Des Weiteren möchte ich erwähnen, dass die Chancen, in Auslandsprogramme – etwa beim DAAD – aufgenommen zu werden, steigen, wenn die Bewerberin oder der Bewerber schon einige Zeit im Ausland verbracht hat, also über interkulturelle Kompetenz verfügt. Ähnliches gilt auch für spätere Berufstätigkeiten. Ein Arbeitgeber wird niemanden ins Ausland schicken, der weder über Sprachkenntnisse noch über Auslandserfahrungen verfügt. In einem vereinten Europa ist es jedenfalls wichtig, sich nicht nur auf (s)einen Kulturkreis zu beschränken. Ich wünsche mir, dass in Zukunft noch mehr Kommilitonen einen ähnlichen Weg wählen, wie ich ihn gegangen bin. 65 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 JUTTA SINGER Jutta Singer, geb. 1979 in Berlin. Diplom in Informatik an der FH Furtwangen. ERASMUS-Aufenthalt: August-Dezember 2003 an der Hochschule Oulou Polytechnic, Oulou, Finnland. 66 10:31 Uhr Seite 66 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 67 FINNLAND Von Nordlichtern und multikulturellen Saunagängen Ende August 2003 war es endlich soweit. Ich landete mit einem kleinen Flugzeug auf dem Flughafen von Oulu und konnte es noch nicht richtig glauben, dass ich nun in Finnland angekommen war – einem Land, das in Europa selten beim Namen genannt wird und auf das ich deswegen umso neugieriger war. Mein erster Eindruck von Finnland und seinen Menschen war sehr positiv und er ist es bis heute geblieben. Es war noch viel wärmer, als ich dachte, aber der Herbst war schon im vollem Gange. Die Straßenzüge vom Flughafen zum Studentenwohnheim in Oulu waren mit gelbgefärbten Birkenbäumen gesäumt, ummalt von einem wahnsinnig blauen Himmel. Ich kam in Pullover und langen Hosen an, der finnische Student, der mich vom Flughafen abholte kam in Badelatschen und Shorts daher. Sein Auto war zu zwei Drittel mit leeren Bierflaschen gefüllt – übrigens das einzige Klischee, das sich erfüllte –, so dass mein Gepäck und ich gerade noch Platz darin finden konnten. Er brachte mich zum Studentenwohnheim, in dem ich eine Vierer-WG mit zwei polnischen Austauschstudentinnen und einer Ungarin bezog. Wir waren ein bunter, aufgeregter Haufen, und jede Stunde kamen mehr neue Studenten aus Frankreich, Polen, Spanien, Ungarn, Großbritannien und Rumänien, Italien usw. an. Schon da wusste ich, dass es eine der besten Entscheidungen war, die ich je getroffen habe. Seit Ende meines Grundstudiums der Medieninformatik stand für mich fest, unbedingt die Gelegenheit zu einem längeren Studienauf- 67 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 68 JUTTA SINGER enthalt zu nutzen, um ein anderes Land und dessen Menschen besser kennen zu lernen, als es in Urlauben möglich ist. Wegen ERASMUS fiel meine Wahl auf ein europäisches Land, da es eine große Erleichterung bei der Organisation war, besonders finanzielle Fragen betreffend. Dass ich mich schließlich für Finnland entschied, hatte mehrere Gründe: Das finnische Bildungssystem hat einen hervorragenden Ruf und die Auswahl an englischsprachigen Studienmöglichkeiten ist groß. Auch im Alltag in Finnland ist die Berührung mit Englisch allgegenwärtig, da ausländische Fernsehbeiträge und Kinofilme nicht synchronisiert werden. Die Mehrheit der Bevölkerung spricht sehr gut Englisch. Für mich als angehende Medieninformatikerin war auch ausschlaggebend, dass ich auch viel über mein Fach und die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten erfahren konnte. In Finnland sind das Internet und dessen Nutzung wegen der geringen räumlichen Besiedlung in weiten Teilen des Landes viel präsenter und selbstverständlicher, als es in Deutschland vor drei Jahren war bzw. immer noch ist. So war es z. B. keine große Sache, dass Vorlesungen via Videokonferenz über das Internet gehalten wurden, damit auch Studenten in einem entfernteren Ort von der Oulu Polytechnic (entspricht einer Fachhochschule in Finnland) daran teilnehmen konnten. Sehr viel Einfluss auf meine Entscheidung für Finnland hatten auch geografische Gesichtspunkte. Ich wählte mit Oulu einen Ort, in dem es in den Wintermonaten nur wenig Tageslicht, dafür umso höhere Minusgrade gibt. Die Vorstellung, in der Nähe vom nördlichen Polarkreis in den Wintermonaten zu leben, fand ich äußerst reizvoll, und das war es auch. Ich habe Nordlichter und Rentiere gesehen, hatte angefrorene Wimpern vom Fahrradfahren bei minus 18 Grad und die obligatorischen Eisfüße. Aber dafür gibt es in meiner Erinnerung auch wunderbare Eindrücke von riesigen Eisschollen am Strand 68 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 69 FINNLAND und unvergesslichen Sonnenuntergängen um zwei Uhr mittags. Ich habe auch erlebt, dass selbst im Dezember in Finnland der Schnee bis auf einen zusammengeschobenen Restschneehaufen schmelzen kann. Wenn es mir zu kalt wurde, konnte ich mich jederzeit in der hauseigenen Sauna des Studentenwohnheimes aufwärmen. So wurden gemeinsame Saunaabende mit meinen Mitbewohnern eine feste Größe in meinem Alltag. Hier kamen wir zusammen und redeten am Anfang über unsere ersten Erlebnisse und später über anstehende Projekte und Prüfungen. Wir haben auch viel gemeinsam unternommen. Es gab Ausflüge zum Weihnachtsmann-Dorf in Rovaniemi, zu Vogelbeobachtungen 69 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 70 JUTTA SINGER an der Küste und in die größeren Städte Südfinnlands, z. B. Helsinki, Turku oder Tampere. Von meinen Mitbewohnern habe ich viel darüber erfahren, wie sie Deutschland sehen. Sie hatten viele Fragen zur Einheit und »wie das nun war mit Berlin und der Mauer«. Dass der westliche Teil von Berlin wirklich wie eine Insel in einem anderen Staat gelegen hatte, konnten sie sich nur schwer vorstellen. Sehr einprägsam war für mich, zu erleben, dass sie sich viele Gedanken über ihre Zukunft in ihren Heimatländern machten. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht so viel über Chancen und mögliche Probleme, eine Arbeit zu finden, nachgedacht. Seitdem blieb der Eindruck aber in mir hängen, dass es trotz aller Schwierigkeiten, die es in Deutschland gibt, in anderen Ländern bedeutend mehr Probleme im Alltag zu überwinden gilt. Die Tatsache, dass viele Osteuropäer meines Jahrgangs als erste Fremdsprache Deutsch lernen, überraschte mich sehr. Im Anschluss an meinen Auslandsaufenthalt konnte ich feststellen, dass ich nicht nur sehr viel über Finnland und die finnische Kultur erfahren habe, sondern dass sich gleichzeitig auch meine Eindrücke von der europäischen Vielfalt Europas durch das Zusammenleben mit den anderen Austauschstudenten vervielfältigt haben. Ich finde es wunderbar, in einem internationalen Umfeld sowohl beruflich als auch privat zu leben. Neben meinen Freundschaften und Bekanntschaften mit anderen ERASMUS-Studenten habe ich auch einige nette Finnen kennen gelernt. Die schönste Begegnung war auf einem Ausflug zu einer nahe gelegenen Insel, als die Zugvögel auf ihrer Reise nach dem Süden dort haltmachten. Mit einer Freundin aus Japan nahm ich daran teil. Wir fielen natürlich sofort als NichtEinheimische auf und verbrachten einen schönen Tag mit finnischen Naturfreunden und der Vogelbeobachtung per Fernglas und selbst geräuchertem Fisch zum Lunch. Abends trafen wir uns dann noch zu 70 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 71 FINNLAND Dinge auf den Punkt zu bringen und Probleme klar zu strukturieren, ist eine Stärke der Deutschen. Dafür sind wir teilweise vielleicht doch zu sehr auf die Sache konzentriert und vernachlässigen die Bedeutung des Zwischenmenschlichen im Berufsleben. JUTTA SINGER 71 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 72 JUTTA SINGER einem Salmiakki (finnischer Lakritzschnaps). Vielleicht lag es an der selteneren Gelegenheit im Norden von Finnland, Menschen von außerhalb zu treffen, aber wann immer die jungen Leute darauf aufmerksam wurden, dass ich nicht aus Finnland kam, waren sie sehr herzlich, aufgeschlossen und interessiert, mich und meine Freunde näher kennen zu lernen. Für die Person, die ich heute bin, war mein kurzes Leben in Finnland wichtig und formend. Zwar habe ich auch während meines Studiums in Deutschland selbständig, von meinem Elternhaus abgenabelt gelebt, aber das in einem fremden Land zu tun mit einer Landessprache, die man nicht spricht, ein paar Kilometer weiter von Zuhause weg, ist noch einmal etwas anderes. Mein Auslandssemester hat mich gestärkt und mir gezeigt, dass ich fähig bin, mich auf viele unterschiedliche Menschen und Situationen einzustellen. Sich mit 23 Jahren ein Zimmer mit einem völlig fremden Menschen zu teilen oder im Supermarkt plötzlich vor dem Regal zu stehen und keine Ahnung zu haben, welches von den Tetrapacks nun die Milch ist, hat mir gezeigt, dass ich mit Humor und Aufgeschlossenheit das Beste aus jeder Situation herausholen kann. So kann ich heute sagen, dass ich mich gerne unbekannten Situationen stelle und die damit verbundenen Herausforderungen gerne annehme. Ich denke, das liegt daran, dass ich mit meinem Abenteuer Finnland so viele schöne Erinnerungen verbinde. In meinem Berufsleben, im Vertrieb eines mittelständischen Unternehmens im Onlinemarketing, habe ich fast täglich mit ganz unterschiedlichen Menschen zu tun, die individuell beraten werden wollen. Morgens ist noch nicht abzusehen, welche Ereignisse der Tag bereit hält und oft leitet mich meine Intuition. Beim Small Talk sowie für tiefer greifende Gespräche ist es für mich sehr hilfreich, dass ich trotz meines jungen Alters situationsbedingt reagieren kann 72 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 73 FINNLAND und mich sicher im Umgang mit Menschen fühle. Vor allem bei Geschäftsgesprächen, die nicht in Deutsch geführt werden, profitiere ich von der seit Finnland mir vertrauten Fähigkeit, mich in Englisch auszudrücken. Mein Auslandsaufenthalt in Finnland hat mir gezeigt, dass es der beste Weg ist, auf Leute einfach zuzugehen und authentisch zu sein. Gesprächsthemen und die sehr wichtige Sympathie im Geschäftsleben ergeben sich dann meist von ganz allein. Durch Niederlassungen der Firma im europäischen Ausland sowie den USA und China stehe ich auch mit Kollegen anderer Kulturen und Nationen in Kontakt und arbeite mit ihnen an kleinen Projekten. Es ist oft deutlich, dass wir ganz unterschiedliche Ansätze haben, eine Aufgabe anzugehen, und dass wir in der Kommunikation miteinander andere Schwerpunkte setzen. Ich möchte jetzt keine altbekannten Klischees aufzählen, nur soviel: Dinge auf den Punkt zu bringen und Probleme klar zu strukturieren, ist eine Stärke der Deutschen. Dafür sind wir teilweise vielleicht doch zu sehr auf die Sache konzentriert und vernachlässigen die Bedeutung des Zwischenmenschlichen im Berufsleben. Ich bin mir dieser Tatsache bewusst und versuche immer, etwas gegen zu steuern. Wieder einmal für eine längere Zeit im Ausland zu leben, reizt mich heute noch genauso wie damals. Dass ich nun in einem Unternehmen arbeite, das international agiert und Zusammenarbeit mit Kollegen anderer Nationalitäten bietet sowie ein Austauschprogramm für die Mitarbeiter bereit hält, ist vorerst ein schöner Kompromiss. Oulu war eine sehr schöne Zeit in meinem Leben und einen Teil davon werde ich mir immer bewahren. 73 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 74 MARIO ZETZSCHE MARIO ZETSCHE, GEB. 1980 IN POTSDAM. BACHELOR IN WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN (KULTUR UND MANAGEMENT ) AN DER FH ZITTAU/GÖRLITZ. ERASMUS-AUFENTHALT: OKTOBER 2002 BIS MÄRZ 2003 VILNIUS ACADEMY OF FINE ARTS, VILNIUS, LITAUEN. 74 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 75 LITAUEN Was fremd ist, danach hat man Gelüst Studienwahl des Auslandssemesters Integraler Bestandteil meines absolvierten Bakkalaureusstudiums »Kultur und Management« an der Hochschule Zittau/Görlitz (FH) ist ein akademischer Auslandsaufenthalt im dritten Semester von Oktober 2002 bis März 2003. Die Lage von Görlitz als Studienort ist ein Aufruf, weiter nach Osten zu blicken. Görlitz ist nicht nur die östlichste Stadt Deutschlands mit liebevoll restaurierter Altstadt, gleich über den Grenzfluss Neisse hinweg liegt das lebendige polnische Gegenstück Zgorcelec. Dieser Stadtbereich zeugt von Geschäftigkeit und Aufbruch. Der Studiengang hat früh erkannt, welches Potential ein Blick über die Grenze und weiter in die neuen EU-Ostmitgliedsstaaten in sich birgt. Die verschiedenen Matrikel des Studienganges zeugen daher von polnischen, tschechischen oder beispielsweise lettischen Kommilitonen. Nach den ersten zwei intensiven Semestern mit Projekten, Workshops, Vorlesungen und studentischem Leben, durch die Görlitz vertraut geworden ist und aus Fremden Freunde geworden sind, wird es Zeit, neue Sicht- und Lebensweisen kennen zu lernen. In diese Phase passt hervorragend ein Auslandssemester! Während der überwiegende Teil meiner Kommilitonen den Süden Europas, Neapel, Italien, oder Salamanca, Spanien, als Ort für das Auslandssemester bevorzugte, zog es letztlich nur die wenigsten Interessenten nach Ost- 75 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 76 MARIO ZETZSCHE europa. Tschechien, Polen, Rumänien und Litauen wurden schließlich als Ziel nur von Wenigen gewählt, die als ›sonderbar‹ galten. Aber ist der Wunsch, diese Länder zu wählen, so eigenartig? Mein Ziel war es, ein Land zu erkunden, das zu den jungen aufstrebenden EU-Mitgliedsländern gezählt wird, immense Umbrüche erfahren hat, von dem aber oft hinreichende Kenntnisse fehlen. Was könnte also mehr locken, als ein Land für das Auslandssemester zu wählen, das sich im Übergang zu unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Formen befindet? Mittlerweile ist es kaum mehr möglich, die Nachrichten über Osteuropa zu verdrängen. Innovative Reformbestrebungen, wirtschaftlicher Aufschwung mit atemberaubenden Quoten, Investitionseifer deutscher Unternehmen, aber auch soziale Missstände, Korruption und politische Querelen sind nicht mehr aus der Medienlandschaft zu verbannen. Aber wie sind die Bedingungen vor Ort und welche Hürden sind zu überwinden bzw. welche Richtung nimmt die Veränderung? Eine Mischung, die sicher keine Sommerstrand-Atmosphäre verspricht, dafür aber viel Energie, Aufbruchstimmung und Eigeninitiative verlangt. Italien oder Spanien schienen mir daher keine wirkliche Alternative zu sein. Mein Entscheidung fiel damit auf die litauische Hauptstadt Vilnius und die Vilnius Academy of Fine Arts. Weiterhin lockte mich als Bachelorstudent das Angebot, in einem Masterstudiengang zu studieren und damit eine akademische Steigerung zu erfahren. Ein Argument war auch, dass der Studiengang UNESCO Chair for Culture Management and Culture Policy durch die UNESCO gefördert und damit durch eine hoch renommierte Kulturinstitution unterstützt wird. Die Vilnius Academy of Fine Arts war ebenso eine akademische Perle. Was kann es Besseres geben, als als Kulturmanager an einer Kunstakademie zu studieren, wenn das Interesse der bildenen Kunst gilt? 76 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 77 LITAUEN Es gehört auch zum Studienprogramm in Görlitz, eine slawische Sprache zu lernen. Da ich Russisch gewählt hatte, war es meine Hoffnung, mit dem Aufenthalt auch diese Sprachkenntnisse auszubauen. Unterstützung Die finanzielle Seite eines Auslandsaufenthalt ist nicht unerheblich und soll daher auch Erwähnung finden. Da der Aufenthalt integraler Bestandteil des Studiums war, wurde schon langfristig das Hochschulamt für Auslandsangelegenheiten eingespannt. Informationen zu den Ländern, den Hochschulen und den Finanzierungshilfen wurden vermittelt. So wurden wir mit dem ERASMUS-Programm bekannt, mit dessen Unterstützung ich das Wintersemester 2002/ 2003 in Vilnius, der Hauptstadt Litauens, verbringen konnte. Erfahrungen Für viele Bekannte und Freunde in der Heimat gehörte es zu den Standardfragen, ob ich denn nun Russisch sprechen könnte. Interessant, dass dies einer meiner eigenen Gründe war, das Land zu wählen. Während des einmonatigen Sprachkursaufenthaltes in Kaunas im Sommer 2002 wurde mir allerdings sehr schnell bewusst, dass Litauen nicht geeignet ist, um Russisch zu lernen. Von dieser Vorstellung habe ich mich also schnell gelöst. In Litauen spricht man Litauisch – eine so simple wie folgenreiche Erfahrung. Auch wenn der Sprachkurs in jeglicher Hinsicht ein Erfolg war – hier lernte ich Freunde kennen, zu denen ich immer noch engen Kontakt pflege –, ist doch klar zu unterstreichen, dass es die Sprache in sich hat. Erleichtert wird aber jeder, der sich auch nur marginal damit beschäftigt, feststellen, dass es immer wieder ein Türöffner ist, wichtige Redewen- 77 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 78 MARIO ZETZSCHE dungen und Alltagsbegriffe zu beherrschen. Es wird leichter, den Einheimischen ein Lächeln zu entlocken und Alltagshürden erfolgreich zu meistern. Auf der anderen Seite sprechen viele Litauer sehr gut Englisch und nicht wenige Deutsch. Betrachtet man allerdings die Größe Litauens mit seinen knapp 3,5 Mio. Einwohnern, kann die Kenntnis auch als Wissensnische verstanden werden, die, ergänzt um Russischkenntnisse, sicher für internationale Unternehmen attraktiv ist. Beeindruckend empfand ich das Verhältnis der litauischen Studenten zum Studium. In Litauen ist es üblich, eine Studiengebühr zu zahlen mit, verglichen mit deutschen Verhältnissen, hohen Gebühren. Im Falle meines Kurses betrug die Semestergebühr 2000 USD. Ein Betrag, der unter den Lebensverhältnissen vor Ort eine erhebliche Hürde darstellt. Meine Kommilitonen teilten sich damit in Studenten aus wohlhabenden Verhältnissen und Studenten, die sich das Studium selbst finanzieren mussten. Eine staatliche Förderung – wie in meinem Fall – fällt sehr bescheiden aus. Dies hatte zur Folge, dass das Studium zwangsweise eher nebenher, neben der Arbeit und der Familie absolviert wird. Erstaunlich war auch, dass sehr oft nicht nur einer Arbeitstätigkeit, sondern bis zu drei Erwerbsarbeiten nachgegangen wurde und trotzdem studentische Projekte möglich waren. Ein bleibender Eindruck, der mich nach meinen eigenen Leistungen fragen läßt. Mir wurde damit vor Augen geführt, welche Möglichkeiten hingegen deutsche Studenten haben, einen Studienplatz zu belegen und sich auf das Studium zu konzentrieren. Meine eigene Motivation, mich außerhalb des Studiums zu engagieren und beruflich tätig zu werden, wurde hier erst richtig gefördert. Eine der sicher wertvollsten Erkenntnisse für meine berufliche Laufbahn. Die geforderte Flexibilität, die hier abverlangt wird, ist in einigen Punkten als absolutes Plus zu verbuchen. Die häufig berufliche Tätigkeit der Dozenten fördert ein Maximum an beruflicher Nähe, zeigt 78 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 79 LITAUEN aber dennoch schnell die Grenzen auf. Es ist immer noch Praxis, dass das akademische Personal so schlecht bezahlt wird, dass es üblich ist, Tür an Tür mit den Lehrkräften im Studentenhostel zu wohnen oder dass die Studenten sehr oft dem Studium fern bleiben, um nicht den Arbeitsplatz zu verlieren. Da ich das Studium an der Kunstakademie in Vilnius wegen der Nähe zu den jungen Künstlern gewählt hatte und ich sehr an zeitgenössischer Kunst interessiert bin, war es einfach, hier Kontakte zu knüpfen. Die enge Verbindung des Studiengangs zu Kunst- und Kulturinstitutionen hat es dann ermöglicht, dass ich meinen Wunsch wahr machen konnte, am Contemporary Art Centre in Vilnius drei Monate ein Praktikum zu absolvieren. Dieser Einblick hat mir geholfen, interessante Kontakte zu knüpfen, die ich bis heute aufrecht erhalten konnte und die ich nun durch meine Tätigkeit in Riga für die Planung des Museums für Zeitgenössische Kunst Lettlands nutzen konnte. Ich denke, dass diese zusätzliche Erfahrung ein großer Gewinn war, der mich näher an den Lebensalltag der Litauer gebracht und mir einige Erfahrungen im Fundraising ermöglicht hat. Diese zusätzliche Erfahrung kann ich nur empfehlen. Nicht nur die Sichtweise eines lockeren Auslandsaufenthaltes wird spätestens hier gebrochen, auch unterschiedliche Arbeitsweisen können erfahren werden. Der Lebensalltag außerhalb des Studiums und des Praktikums war auch sehr erlebnis- und erkenntnisreich. Ich lernte hier einheimische, aber auch finnische, deutsche, lettische oder japanische Freunde kennen, mit denen ich nach wie vor engen Kontakt pflege und die ich auch in beruflichen Fragen konsultieren kann. Eine sehr gute Freundschaft hat sich zu einer litauischen Mitstudentin entwickelt, die dann ein Auslandssemester an meiner Hochschule in Görlitz absolviert hat und nun dauerhaft im Kultursektor in Deutschland tätig ist. Sie hat 79 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 80 durch ihren Auslandsaufenthalt ein so starkes Interesse für Deutschland entwickelt, wie ich es durch mein Semester in Vilnius für die baltischen Länder entwickelt habe. Während des litauischen Sprach- und Kulturkurses haben wir Exkursionen zu wichtigen litauischen Kulturstätten unternommen und so die bewegte Geschichte des Landes kennen gelernt. Dabei sticht besonders der Stolz der Litauer auf ihren Großfürsten Mindaugas im 13. Jahrhundert hervor, der als einziger König in die litauische Geschichte einging und durch die Einigung der fünf Fürstentümer Litauens berühmt wurde. Weiterhin sind die Kurische Nehrung mit ihrem feinen Sandstrand und die Besichtigung des Thomas MannHauses, der Berg der Kreuze, aber auch die UNESCO-geschützte Altstadt von Vilnius erwähnenswert. Die Jazzkneipen, das Künstlerviertel Uzupis, die Schriftstellerbar und das CAC sind dabei ein Muss. 80 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 81 LITAUEN Berufswahl Das Praktikum im Contemporary Art Centre (CAC) von Januar bis Februar 2003 in Vilnius war ein Türöffner, um weitere Projekte und Tätigkeiten mit praktischen Erfahrungen und Kontakten zu verbinden. Deshalb konnte ich in Deutschland zur Erstellung eines Wirtschafts- und Marktingkonzeptes des Sächsischen Industriemuseums beratend meine Erfahrungen einbringen und stieß auf Interesse bei der »documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH«, bei der ich dann ein Praktikum absolvierte. Das Auslandssemesters an der Vilnius Academy of Fine Arts und das Praktikum im CAC hilft mir momentan als Türöffner, um leichter mit Künstlern und Kulturorganisatoren aus Litauen in Kontakt zu kommen. Da sowohl die Akademie als auch das CAC einen exellenten Ruf auch über die Grenzen genießen, ist es nicht schwer, mit diesen Auslandserfahrungen auf Interesse zu stoßen. Mein Interesse hat mich nun wieder in die baltischen Länder geführt, anfänglich wegen des Aufbaustudiums im internationalen Masterstudiengang »Medien- und Kulturmanagement« an der lettischen Kulturakademie. Während dieser Zeit hat sich eine Stelle bei der State Agency »The New Three Brothers« bei dem Museum für zeitgenössische Kunst im Sammlungsaufbau als Sammlungsmanager ergeben. Die Stelle wird von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. durch ein Fellowship für Innovation in der Kultur gefördert. Damit kann ich nun auf meine baltische Spezialisierung verweisen, da ich nicht nur hier arbeite, sondern der Sammlungsfokus auf den gesamten Ostseeraum ausgedehnt ist. Wie üblich, bin auch ich neben dieser Tätigkeit an weiteren Projekten beteiligt, um immer wieder ein Standbein zu gewinnen. Die berufliche Perspektive, die sich mir hier bietet, hätte 81 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 82 MARIO ZETZSCHE ich in Deutschland sicher nur schwer erhalten, wenn ich die aktuellen Diskussionen um die Generation »Praktikum« verfolge. Dies zeigt allein die Tatsache, dass hier der Begriff des Praktikanten nicht bekannt ist. Es gibt nach wie vor Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern, um Wachstumsperspektiven der einheimischen und internationalen Unternehmen zu erfüllen. Dabei ist auch die Akzeptanz für junge Mitarbeiter in Führungspositionen hoch. Diese Kombination macht es möglich, dass ich nun ehemalige litauische, aber auch meine aktuellen lettischen Kommilitonen in beachtlichen Positionen antreffe. Litauen, ein Land für diejenigen, die in Görlitz als Sonderlinge angesehen wurden? Sicher nicht, betrachtet man die aufgeführten Chancen. Flexible Studienmöglichkeiten, wertvolle Lebenserfahrungen und exellente Berufsaussichten sind hier möglich und werden sicher jeden in den Bann ziehen, der ein wenig Eingeninitiative zeigt und experimentierfreudig ist. Daher möchte ich dem DAAD sehr herzlich für die Unterstützung dieses ›Abenteuers‹ danken. Das Bisherige versperrt dem Kommenden den Weg. Die Gegenwart ist die Zukunft. Die Ziele sind am ehesten auffindbar, wenn man gar nicht an sie denkt. Robert Walser 82 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 83 LITAUEN Die berufliche Perspektive, die sich mir hier bietet, hätte ich in Deutschland sicher nur schwer erhalten, wenn ich die aktuellen Diskussionen um die Generation »Praktikum« verfolge. MARIO ZETZSCHE 83 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 DENNIS GERSTENBERGER 84 10:31 Uhr Seite 84 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 85 PORTUGAL Ein deutschportugiesischer Spagat Meine erste große Fahrt, die mich als Anderthalbjährigen nach Brasilien brachte, ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Fotos zeugen davon, wie ich als Kind mit meinem Bruder unter Aufsicht unserer Mutter auf dem Ozeandampfer spiele. An viele Ereignisse meines ersten knapp siebenjährigen Auslandsaufenthalts im Süden Brasiliens kann ich mich jedoch noch sehr gut erinnern. Eingeschult wurde ich in São Leopoldo, dort ging ich anderthalb Jahre auf eine brasilianische Schule, ehe meine Familie zurück nach Deutschland zog und ich erneut ein Fremder war, selbst in meinem Geburtsland, das aber im Laufe der Zeit meine erste Heimat wurde. Als vorteilhaft erwies sich, dass unsere Eltern seit jeher nur deutsch mit uns gesprochen hatten, so konnte ich meine Muttersprache besser lernen und beherrschte sie bald. Seit diesem ersten Aufenthalt in Südamerika ist unsere Familie in beiden Kontinenten beheimatet. Ein zweiter Aufenthalt in Brasilien, diesmal nur für sechs Monate, zwang mich als Zwölfjährigen erneut, die Umwelt mit den Augen eines Fremden zu sehen. Auch der Besuch der Schule war ein neues Abenteuer, auf das ich mich einlassen musste. Die Zeit in Brasilien hat mich so entscheidend geprägt, dass ich mich viele Jahre später, nach Abschluss meines Studiums in Essen, entschloss, zu meiner damaligen Freundin nach Rio de Janeiro zu ziehen. Inzwischen sind wir verheiratet und haben einen kleinen Sohn, der beide Staatsangehörigkeiten besitzt und beide Sprachen lernt – sowohl die deutsche 85 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:31 Uhr Seite 86 DENNIS GERSTENBERGER als auch die brasilianische. Ich arbeite als Assistent in der Bibliothek des Goethe-Instituts, wo ich Auskunft über die deutsche Kultur gebe. Ohne meine Brasilien-Erfahrungen als Kind wäre ich nicht gelandet, wo ich jetzt bin. Ohne mein Auslandsjahr als ERASMUS-Student in Coimbra, Portugal, sicherlich auch nicht. Warum ich gerade Coimbra ausgesucht habe? Eigentlich ein Zufall. Ich hatte während des Studiums schon länger den Wunsch verspürt, mal wieder in ein anderes Land zu gehen. Eine Bewerbung beim DAAD um ein Stipendium nach Australien blieb leider erfolglos. Glück hatte ich jedoch, dass ich einen Tag vor Bewerbungsschluss den Aushang sah, der zu einem Auslandsjahr mit dem ERASMUS-Programm in Europa einlud. Angeboten wurde auch, nach Portugal zu gehen, was sich aufgrund meines Lebenslaufs geradezu anbot. Ein kurzes Gespräch mit Herrn Krauss, dem damaligen ERASMUS-Beauftragten der Uni Essen, das Einreichen der erforderlichen Bewerbungsunterlagen am folgenden Tag, und schon war mein nächster Auslandsaufenthalt gebucht, da nicht genügend Studenten den Absprung wagen und viele ERASMUS-Partneruniversitäten weniger Bewerber als Stellen haben, da die meisten Interessenten entweder nach England oder Irland wollen. Außerdem war ich nicht liiert, was sich ebenfalls als Glücksfall herausstellte, weil ich mich womöglich sonst nicht losgeeist hätte. Während der Schul-, Zivildienst- und Studienzeit war ich immer wieder verreist, war in fast allen Ländern Europas gewesen, war in Asien, Nord- und Südamerika unterwegs, hatte mehr als 40 Länder bereist. Trotzdem bekam die Zeit als Austauschstudent in Portugal ein ganz besonderes Gewicht, und das aus vielerlei Gründen. Zunächst war da meine nicht ganz gewöhnliche Anreise mit dem Fahrrad: 3600 km radelte ich bis zu meiner neuen Uni, ein unglaubliches Erlebnis, das mir Selbstvertrauen gab, auch schwierige Aufgaben zu bewältigen, mir zudem die Grenzen meiner physischen Belastbarkeit 86 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 87 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 88 DENNIS GERSTENBERGER und ein Gefühl für die europäische Weite bescherte. Noch wichtiger war die Zeit als Student in einem anderen Land; sie lehrte mich, Deutschland und Europa aus einem anderen Blickwinkel (gewissermaßen von unten her) zu betrachten. Zwar sitzt Portugal gleichermaßen wie Deutschland im europäischen Boot, ist aber wirtschaftlich gesehen eher am anderen Ende anzusiedeln. Und dennoch spürte man eine Euphorie, da der wirtschaftliche Aufschwung nach der Militärdiktatur langsam eingesetzt hatte und sich das Land seit den 80er Jahren allmählich befreit und moderner wird. Als Student lebt man an einem Ort, hat viel mehr Zeit, sich an die Verhältnisse zu gewöhnen, bekommt ein intensives Gefühl für eine Stadt und das Land, das man als Reisender nicht erhält, da man als solcher von einer ständigen Aufbruchstimmung getrieben wird. Bleibt man jedoch an einem Ort, lernt man die Bewohner des Landes kennen, hat selber eine feste Adresse, die zu einem richtigen Zuhause wird, freundet sich mit Studenten an, lernt ihre Sitten kennen und gewinnt dadurch z.B. einen Einblick in eine ganz andere Lebensweise, die den deutschen Studenten doch sehr fremd ist. Feste Klassengefüge, gemeinsame Feiern, gemeinsames Sparen über die gesamte Studienzeit auf das große Abschiedsfest hin, gemeinsames Lernen der Kommilitonen, Treffen in Restaurants, traditionsreiche Kleiderordnungen, Fado-Musik und andere Rituale gehören zu den studentischen Aktivitäten, die den meisten deutschen Studenten fremd sein dürften. Die zehn Monate in Coimbra werde ich nie vergessen, sie waren unwahrscheinlich schön. Noch heute fallen mir viele spannende Geschichten ein, es war ein lehrreiches und ergiebiges Jahr. Beispielsweise wurde ich während der Karnevalszeit überfallen, mitten in der Nacht. Ich ging sofort zur Polizei, die den Täter kurze Zeit später schon dingfest gemacht hatte und mir meine Wertsachen zurückgab. Auch suchten die Polizisten um 4 Uhr morgens mit mir nach dem 88 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 89 PORTUGAL Erinnerungsfoto meiner Freundin, das ich immer bei mir trug, das aber während des Überfalls aus meinem Portemonnaie gefallen war. Eigentlich kein schönes Erlebnis, aber interessant war doch, dass die Vorladung zur Polizei im Briefkopf mit einer Adresse versehen war, die seit zwei Jahren nicht mehr stimmte. Diese Art von Informationsschwierigkeiten begegnen mir auch hier in Brasilien ständig; ich habe in Portugal gewissermaßen meine Lehrjahre absolviert. Auch andere unkonventionelle Verhaltensweisen begegneten mir: so hatten wir über die gesamte Zeit keinen Mietvertrag, er war nur mündlich, per Handschlag und bei einigen Gläsern Wein besiegelt worden. Die Abschiedsfeste der ERASMUS-Studenten, die im Laufe der Zeit zu einer großen Familie zusammengewachsen waren, erwiesen sich ebenfalls als außerordentlich lustig. »Kommst du auch zur Party heute Abend?« »Klar, ich bin ja selber der Gastgeber!«, so hieß es in der letzten Woche vor der Abreise. Schließlich meldeten sich statt der geplanten 40 Leute etwa 150 an, so dass wir die Party kurzerhand auf die Straße verlegen mussten. Ohne Genehmigung und ohne Elektrizität, aber dafür mit Calimocho und bester Laune, bis die Polizei unsere friedliche Versammlung auflöste, als die alkoholischen Getränke gerade alle waren. Und schließlich konnte ich während meines Auslandsstudienjahres meine Portugiesischkenntnisse aufbessern, da ich während der vielen Jahre in Deutschland doch einiges vergessen hatte und auch feststellen musste, dass meine Grammatik zu wünschen ließ. Neben der portugiesischen Perspektive erfährt man auch noch einiges über andere Kulturen, da gerade diese von mir ausgesuchte Stadt Scharen von ERASMUS-Studenten aus fast allen europäischen Ländern anzieht. Nicht nur das: auch Japaner, Angolaner und – Sie werden es erraten – Brasilianer trifft man dort, es ist ein kultureller Meltingpot, in dem ich mich unglaublich wohl gefühlt habe. 89 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 90 DENNIS GERSTENBERGER Den Heimweg nahm ich erneut radelnd in Angriff, gab aber aus zeitlichen Gründen auf halbem Weg auf, denn meine heutige Frau, die ich Jahre zuvor bei einer Reise kennen gelernt hatte, erwartete mich in Brasilien. Aus der fünfeinhalbjährigen platonischen Brieffreundschaft entwickelte sich mehr, wir waren ein Paar und zunächst doch getrennt, da ich mein Studium noch nicht beendet hatte. Drei Jahre lang sahen wir uns wenig, da sie in Brasilien und ich in Deutschland lebte. Im Endspurt meines Studiums in Essen hatte ich auch dem Angebot von Herrn Krauss, ERASMUS-Beauftragter zu werden, nicht widerstehen können. Von 2001 an bis zu meinem Studienabschluss betreute ich ERASMUS-Gaststudenten in Essen, gab ihnen praktische Hilfe bei der Ankunft und bot zudem ein Landeskundeseminar an, um unseren Gästen die Kultur des Ruhrgebiets näher zu bringen. Ohne die Erfahrungen, die ich als Gaststudent in Coimbra gemacht hatte, hätte ich den Job nicht annehmen können, denn ich konnte mich gut in die Situation der ERASMUS-Studenten hineinversetzen und wusste einigermaßen, was sie brauchen und wie ihr Leben als Fremde ablaufen würde. Glück hatte ich auch, dass ich bei einem meiner Kurzurlaube in Brasilien das Goethe-Institut in Rio de Janeiro aufsuchte und mich dort um einen Praktikumsplatz bewarb. Meine Kenntnis beider Kulturen, die relativ guten Portugiesischkenntnisse, die Aufgeschlossenheit auch schwierigen Situationen gegenüber und der Wille, Deutschland auch für ein Gehalt als Ortskraft zu verlassen, gaben mir die Möglichkeit, zunächst ein Praktikum, dann eine feste Stelle im Institut anzunehmen. Wer hätte gedacht, dass ich einst als Bibliothekar arbeiten würde? Dabei stand schon in den Blättern zur Berufskunde des Berufsinformationszentrums, die ich vor vielen Jahren während der Schulzeit erhielt, dass die meisten Philosophen nach Abschluss des Studiums als Lehrer tätig werden. Gleich gefolgt von 90 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 91 PORTUGAL der Gruppe der Bibliothekare. Konkrete Vorstellungen hatte ich zugegebenermaßen nicht, als ich mich für das Studium der Philosophie immatrikulierte. Heute aber zehre ich von meinem Studium genauso wie von den vielen Auslandsaufenthalten, die mir das Leben in einem fremden Land vereinfacht haben. Der Wunsch, weitere Länder kennen zu lernen, lebt in mir weiter. Bestimmt werde ich einst aus Brasilien fort gehen, ich würde gerne zurück nach Europa, eventuell nach Portugal. Spanien wäre ebenfalls schön, auch wenn ich da anfangs Verständigungsschwierigkeiten hätte. Portanhol spreche ich aber schon, dank meines Jahres in Coimbra, da ich mit zwei Spaniern in einer WG wohnte und durch sie die spanische ERASMUS-Fraktion kennen lernte. Ich bin selber gespannt, wohin mich mein Leben noch führen wird. Eine endgültige Entscheidung, wo es mir am besten gefällt, habe ich nicht getroffen und werde dies wahrscheinlich auch nie tun. 91 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 92 GUDRUN CHAZOTTE Gudrun Chaz otte, geb. 1968 in Münster. Magister in Geschichte, Politikwisse nschaft und Spanisch an der Universität zu Köln. ERASMUS-Aufe nthalt: WS 1992/ 93 an der Universität Salamanca, Spanien. 92 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 11:39 Uhr Seite 93 SPANIEN No me digas! Mit ERASMUS in Salamanca In Spanien studieren? Immer, jederzeit, aber wie? Als Magisterstudentin mit Spanisch im Nebenfach wollte ich das viel zitierte Land für eine längere Zeit hautnah erleben. Welche Möglichkeiten gab es? Ganz auf eigene Faust? Stipendium beantragen? Ich habe mich für ERASMUS entschieden, den Weg so zwischendrin. Ein ERASMUS-Stipendium verlangt Mühe, akzeptable Leistungen, ausgefüllte Formulare und ein Vorstellungsgespräch beim Akademischen Auslandsamt. Der Aufwand schien mir, wie so vielen anderen Studierenden auch, vertretbar. Partnerstadt der Universität Köln im ERASMUS-Programm war Salamanca, eine mittelgroße Stadt in Zentralspanien. Die Hochschule hat einen guten Ruf und eine ruhmreiche Geschichte. Zudem wird in der Region das »reine« Spanisch gesprochen, kein Dialekt. Eine gute Wahl für meinen Auslandsaufenthalt. Entsprechend freute mich der Bewilligungsbescheid sehr, ebnete er mir doch den Weg ins »gelobte Land«. Wegbereiter ERASMUS Woran erkennen Sie ERASMUS-Stipendiaten zu Semesterbeginn in Salamanca? Sie gehen lässig an den Warteschlangen zur Einschreibung vorbei, denn die Formalitäten sind bereits geregelt. Das ist der 93 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 94 GUDRUN CHAZOTTE ganz große Vorteil dieses Stipendiums. Die finanzielle Unterstützung ist gering, enthält aber doch Bonbons wie einen Intensivsprachkurs zu Beginn des Aufenthalts. Dicht gedrängt mit vielen anderen ausländischen Studierenden bereiteten wir uns auf die sechsmonatige Studienzeit vor. Salamanca ist international. Ich habe dort problemlos Menschen aus zahlreichen Ländern kennen gelernt. Es existiert eine große multinationale Gemeinschaft, die genug Kontakte für das soziale Wohlbefinden bietet. Spanier finden sich in dieser Gruppe allerdings selten. Immerhin galt Spanisch als gemeinsame Sprache, meistens jedenfalls. Ein Leben vor ECTS Das Studium in Spanien gleicht in vielen Aspekten eher dem Schulunterricht als dem Vorlesungsbetrieb in Deutschland. Die Inhalte waren teils sehr interessant, der Unterricht auf Spanisch in jedem Fall ein fachlicher Gewinn. Studientechnisch war dieser Auslandsaufenthalt allerdings ohne großen Nutzen. Anders als im System von Bachelor- und Masterstudiengängen ist im Magisterstudiengang die Abschlussprüfung beim Professor an der deutschen Hochschule maßgeblich. Es wurde mir dringend angeraten, wenigstens ein Hauptseminar bei diesem Prüfer an der Universität Köln abzulegen. Ich brauchte nur einen Schein im Nebenfach Spanisch, warum also viel Zeit und Mühe darauf verwenden, eine zusätzliche Prüfung in Salamanca abzulegen? Mir ging es darum, Land und Leute kennen zu lernen. Im normalen Hochschulbetrieb war das eher schwierig, auch weil die spanischen Studierenden meiner Kurse vielfach deutlich jünger waren. Andere Wege waren gefragt. 94 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 95 SPANIEN Ich rege mich nicht mehr so leicht über Menschen auf, die sich »anders« verhalten. GUDRUN CHAZOTTE 95 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 96 GUDRUN CHAZOTTE Singen und Wohnen, Wege zum Ziel Der Universitätschor von Salamanca und die Camerata Vocal wurden mir zur zweiten Heimat bei meinem Aufenthalt. Wir probten und gingen danach gemeinsam in unsere Bar. Ich habe Freunde gefunden, mit denen ich auch die Wochenenden verbringen konnte. Stets in Erinnerung bleiben sicher durchfeierte Nächte in diversen Salsa-Bars. Über diese Kontakte kam ich auch zu einer Wohngemeinschaft(WG), in der immerhin zwei Spanier lebten. Kochrezepte lernte ich kennen, spanische Umgangsformen und insbesondere bekam ich Einblicke in die spanische Mentalität. So lernte ich wichtige kleine Unterschiede im Verhalten zu deuten und zu verstehen. Wirklich integriert in die spanische Gesellschaft war ich aber nie. Ich wurde herzlich aufgenommen und habe durch Chor und WG viel persönliche Zuwendungen erhalten, blieb aber immer Gast im Land. Auslandsaufenthalte prägen. Manchmal mehr, manchmal weniger Ich spreche fließend Spanisch, das ist ein messbarer Erfolg meines Auslandsaufenthaltes. Ebenso wichtig ist aber aus meiner Sicht, dass ich interkulturelles Verstehen gelernt habe. Ich rege mich nicht mehr so leicht über Menschen auf, die sich »anders« verhalten. Jede Person ist in ihrem Umfeld zu sehen. Spanier z.B. leben vielfach in dominanten Familienstrukturen. Sie sind geduldiger als wir und improvisieren viel öfter. Sechs Monate lang konnte ich diese Mentalität teils beobachten, teils miterleben. Das hat mich verändert. Wirklich geprägt hingegen hat mich ein einjähriger Arbeitsaufenthalt in Frankreich. Als Sprachassistentin an einem Gymnasium in einer französischen Kleinstadt hatte ich keine internationale Gemeinschaft, in die ich mich flüchten konnte. Ich musste im Lehrerkollegium Fuß fas- 96 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 97 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 98 GUDRUN CHAZOTTE sen und vor den Schülern bestehen. Der Kontakt zum Gastland war viel intensiver und dadurch prägender. »Europa macht Schule« – eine gute Idee ERASMUS-Studierende brauchen Gelegenheiten zum unmittelbaren Kontakt. Ausländische Studierende in Deutschland erhalten diese Möglichkeit ab 2007 durch ein Projekt, das von ehemaligen ERASMUS-Stipendiaten initiiert wurde. Unter dem Titel »Europa macht Schule« werden europäische Studenten an deutsche Schulen vermittelt, um ihr Heimatland vorzustellen. Auf Grund meiner Erfahrung eine gute Idee. Hier wird ausländischen Studierenden der direkte Kontakt in deutsches Leben gegeben. Sie werden aus der rein internationalen Gesellschaft an der Hochschule herausgeholt. Schulkontakte können weite Kreise ziehen. Durch ein ähnliches Projekt an einer Kölner Grundschule ist eine chinesische DAAD-Stipendiatin mittlerweile an sämtlichen Klassenfesten beteiligt und wird auch über den Schulrahmen hinaus in Familien eingeladen. Ich würde mir diese Begegnungsinitiative europaweit, also auch für deutsche Studierende im Ausland, wünschen. Internationales Studium, internationaler Arbeitgeber? Ich arbeite beim Deutschen Akademischen Austausch Dienst(DAAD). Ich hoffte zu Recht, hier meine Auslandserfahrungen und Sprachen nutzen zu können. Derzeit organisiere ich Großprojekte für Experten aus Entwicklungsländern. Mein Bewusstsein für verschiedene Mentalitäten hilft bei dieser Arbeit ebenso wie meine Sprachkenntnisse. Ich versuche stets, die Verschiedenheit der Menschen bei den Planungen im Blick zu halten. Im Projekt selbst, wenn die auslän- 98 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 99 SPANIEN dischen Gäste für eine Woche durch den DAAD in Deutschland betreut werden, ermöglichen mir die Sprachkenntnisse einen guten persönlichen Zugang zu den Experten. Es fällt ihnen in ihrer Muttersprache leichter, mich anzusprechen. Wichtige Details erfahre ich manchmal nur dadurch. Es ist ein internationales Umfeld, in dem ich mich bewege. Die Kernaufgabe des DAAD ist der internationale Austausch. Viele meiner Kollegen waren im Studium oder während der Berufstätigkeit im Ausland. Mit zwei Auslandsaufenthalten bin ich keine Exotin, ganz im Gegenteil. Eine eigentlich verblüffende Frage wurde mir sowohl von Kollegen wie auch von Experten aus Entwicklungsländern gestellt: »Waren Sie denn nur in Europa?« 99 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 FRANZISKA FLEISCHER 100 10:32 Uhr Seite 100 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 101 SPANIEN ›Generation ERASMUS‹ – Europa wächst zusammen Die Motivation, ein Auslandssemester in Spanien zu absolvieren, resultierte aus meinem dreijährigen Aufenthalt in Barcelona mit meiner Familie. Als Achtjährige war ich mit meiner Familie an die Costa Brava gezogen, wo mein Vater an der Deutschen Schule unterrichtete und ich Spanisch lernte. Nach drei Jahren ging es zurück nach Deutschland. Am Gymnasium gab es allerdings keine Möglichkeit, Spanisch zu wählen. Nach dem Abitur wollte ich gerne mein Spanisch verbessern. Zum Glück hatte ich noch Freunde in Spanien, und zusammen mit den Erinnerungen an die Schulzeit in Barcelona wuchs mein Fernweh. Ich wollte herausfinden, ob meine Erinnerungen an das Land mit der Realität übereinstimmten; ich wollte einen Teil meines Studiums im spanischsprachigen Ausland absolvieren. Die Frage nach einem Auslandsaufenthalt hat darum grundsätzlich auch die Wahl meiner Hochschule beeinflusst. Erzählungen von Studenten von vor allem großen Universitäten schreckten mich bei der Hochschulwahl ab: Urlaubssemester beantragen, langwierige bürokratische Hürden überwinden, um vielleicht für ein Auslandssemester zugelassen zu werden und dabei wahrscheinlich wenig Hilfestellung von Seiten der Heimathochschule zu bekommen. In einem »Schnupperstudium« an der Fachhochschule Hof erfuhr ich, dass im dortigen Studiengang Internationales Management ein Auslandsjahr integriert ist. Die Kontakte zu den Partnerhochschulen im Ausland seien nicht anonym, sondern fänden auf einer persön- 101 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr FRANZISKA FLEISCHER FRANZISKA FLEISCHER Und so kam es schon mal vor, dass man sich auf Spanisch mit einem Schweden bei irischem Guinness über deutsche Autos austauschte. 102 Seite 102 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 103 SPANIEN lichen Ebene statt, da es einen regelmäßigen Austausch von Studenten gebe. Da das Auslandssemester obligatorisch ist, konnte ich mir sicher sein, dass es klappt. Am Ende des Grundstudiums musste ich mich auf eine Partner-Hochschule festlegen, d.h. bis dahin konnte ich mir die Wahl noch gut überlegen. Dazu kamen die Gewissheit, mit dem ERASMUS-Programm keine Studiengebühren an der Auslandshochschule bezahlen zu müssen, einen Mobilitätszuschuss zu bekommen, und die Sicherheit auf Anerkennung der im Ausland erbrachten Studienleistungen an der FH Hof. Aus Erfahrungsberichten älterer Studenten entnahm ich, dass die Universität in Alicante bekannt war für ihre gute Organisation des Aufenthalts von Gaststudenten. Auch das überzeugte mich, und so ging es nach dem Grundstudium los nach Spanien. Die Wohngemeinschaft, die ich über die Vermittlung erhielt, teilte ich mit einem Flamen und einer Wallonin. Unsere Muttersprachen waren Niederländisch, Französisch und Deutsch, und so wurden wir uns schnell einig, dass Spanisch ›unsere‹ Sprache sein sollte. Mein erster Weg an der Universidad de Alicante führte mich zum Torre de Control. Dort ist die Sociedad de Relaciones Internacionales (das Auslandsamt) untergebracht, die sich um das Wohl der Gaststudenten kümmert: Organisation der Einführungswoche, Vermittlung von Wohnungen, Ausflüge nach Andalusien, Begegnungstreffs und Einteilung in die Spanischkurse gehören zu dessen Aufgaben. Die Einschreibung verlief zu meiner Überraschung reibungslos und schnell. Mein Name stand bereits im System, im Nu waren die nötigen Dokumente ausgedruckt. Mein Studentenausweis (den ich dann erst nach acht Wochen erhielt) diente auch zum Einloggen in den Rechnerräumen und als Bankkarte. 103 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 104 FRANZISKA FLEISCHER Der Campus der Universität Alicante ist eine kleine Stadt für sich: Die vielen Grünflächen, Brunnen und Palmen und die sehr moderne Architektur tragen neben der Aufgeschlossenheit der spanischen Studenten und dem tollen Service der Verwaltung dazu bei, dass ein Tag an der Uni sehr angenehm und schnell vorbei geht: Vor der Vorlesung konnte ich auf der campuseigenen Post meine Karten aufgeben, nach der Vorlesung bei der Bank Geld abheben und mich im Club Social (der Mensa) mit meinen Mitstudenten aus dem Kurs Economía de la Globalización treffen. Danach ging es mit den italienischen Freunden zum Flamencokurs in der großen Sportanlage. Die Vorlesungen waren je nach Professor unterschiedlich in Niveau und Intensität. Grundsätzlich war das Verhältnis zwischen Professor und Studenten informeller als in Deutschland, man duzt sich fast immer. Die Professoren hatten ein offenes Ohr für Gaststudenten und passten teilweise sogar ihren Vorlesungsstil den Bedürfnissen der Ausländer (der ERASMUS-Studenten) an. Meine spanischen Mitstudenten waren sehr hilfsbereit. Sie liehen mir ihre Mitschriften, halfen bei der Zusammenstellung des Stundenplans und boten sogar ihre Telefonnummer an. Spanier sehen Sprachschwierigkeiten oder Schwierigkeiten mit der Verständigung nicht als unüberwindliche Probleme, sondern als gegeben an und stellen die Person in den Mittelpunkt. Nicht die Herkunft ist entscheidend, sondern die persönliche Beziehung. Das Nachtleben, La Marcha, beginnt ab 22 Uhr: Meistens trafen wir uns in einer der zahlreichen Tapas Bars, bis sich die Gassen im Barrio mit Menschen füllten, wo es dann in einer Disco weiterging. Und so kam es schon mal vor, dass man sich auf Spanisch mit einem Schweden bei irischem Guinness über deutsche Autos austauschte. »Eres ERASMUS?« (Bist Du »ERASMUS« [-Student]? ) – war eine Frage, die man 104 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 105 SPANIEN bei Vorstellungsrunden öfter zu hören bekam. Diese Frage bedeutet letztlich nichts anderes, als dass das Austauschprogramm in Spanien nicht nur zum Programm, sondern zu einer Lebenseinstellung geworden ist. Beantwortet man diese Frage mit »ja«, weiß der Gesprächspartner nicht nur, dass man für ein oder zwei Semester von seinem Heimatland ins Ausland zum Studium gekommen ist und eine kleine finanzielle Unterstützung bekommt. Man weiß auch, welche Schwierigkeiten sein Gegenüber durchlebt hat: Abschied von den Liebsten, für viele die erste längere Zeit weg vom Elternhaus, Sprachschwierigkeiten bei der Wohnungssuche, die Herausforderung, den Vorlesungen folgen zu können, Wohnen in einer WG, Feiern mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und Mentalitäten aus der ganzen Welt, Besuche von daheim – ERASMUS verbindet! »Hoy hay una fiesta ERASMUS!« bedeutete eine bunte Mischung aus Studenten verschiedener Länder und viel Spaß. Auch in dieser Hinsicht hat mein Aufenthalt in Spanien meine Erwartungen sogar übertroffen. Die positiven Erfahrungen in Spanien haben mich später motiviert, ein Praktikum im spanischsprachigen Ausland zu absolvieren. Ich 105 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 106 FRANZISKA FLEISCHER bewarb mich bei Bayer in Mexico City und konnte dort in der Finanzabteilung ein sechsmonatiges Praktikum machen. Meine mittlerweile sicheren Spanischkenntnisse halfen mir sowohl im Privaten wie auch bei der Arbeit in der Abteilung sehr. Hier stellte ich fest, dass Mexiko und Spanien zwar die gleiche Sprache haben, die Geschichte und Kultur, das soziale Umfeld, die Politik, der Alltag, das Essen und Mentalität und vieles mehr jedoch sehr verschieden sind. Der Auslandsaufenthalt in Spanien zusammen mit dem Praktikum in Mexiko haben mich erkennen lassen, dass ich in jedem europäischen Land mehr zuhause bin als auf dem amerikanischen Kontinent. Europas Länder verbindet die gleiche Geschichte und ein dichtes Neben- und Ineinander von Kulturen und Sprachen, das fasziniert. Die Verknüpfung der Länder untereinander wächst: Eine gut funktionierende, vernetzte Infrastruktur ermöglicht ein schnelles Reisen zwischen den Ländern, die Niederlassungsfreiheit in der EU schafft die Freiheit und Flexibilität, um unkompliziert im Ausland leben und arbeiten zu können; geschäftliche und private Beziehungen gehen meist über die eigene Landesgrenze hinaus, in vielen Ländern bezahlt man mit derselben Währung, Flüge werden günstiger, Wege werden kürzer. Ohne Zweifel hat sich der Aufenthalt in Spanien auf meine Berufswahl ausgewirkt, denn so wurde mir zur Gewissheit, dass ich in einer internationalen Umgebung leben und arbeiten kann und will. Eine internationale Umgebung lebt durch die Vielfalt und den Ideenreichtum der Menschen in ihr. ERASMUS hat den Blick auf Europa gelenkt, nicht auf ein Land, aber auf Europa als Kontinent. Mit diesem Wissen im Hintergrund – und nach etlichen Absagebriefen von deutschen Großkonzernen – fiel es mir nicht schwer, meinen Lebenslauf in andere Länder zu schicken. Besonders leicht 106 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 107 SPANIEN geht das Bewerben in England und den Niederlanden: ein Anschreiben und der Lebenslauf auf Englisch per Email sind ausreichend. Innerhalb von zwei Wochen hatte ich drei Interviews und meine jetzige Stelle bei einer Softwarefirma in Rotterdam. Seit April 2005 lebe und arbeite ich in Rotterdam. In meinem heutigen Beruf bin ich für den Vertrieb und das Marketing von Softwareprodukten in Deutschland zuständig. Ich betreue Kunden und plane Messeauftritte. Unser Büro ist der europäische Hauptsitz. Das Vertriebsteam arbeitet mit IT-Händlern und Resellern aus fast allen europäischen Ländern zusammen. Unsere Partner arbeiten in Spanien, Frankreich, Polen, England, Kanada usw. Meine internationale Erfahrung kommt mir beinahe täglich zu Gute. Während Deutsche z.B. eine gewisse persönliche Distanz in der Geschäftsbeziehung schätzen, sind Niederländer schnell beim »Du«, in Spanien und Italien muss mehr Zeit darein investiert werden, Vertrauen in eine persönliche Verbindung aufzubauen. Die im Ausland erworbenen Kenntnisse sind förderlich für meinen Beruf: Nicht zuletzt wegen meiner Sprachkenntnisse bin ich seit diesem Jahr für das Channel Management, die Betreuung der Geschäftspartner in Spanien verantwortlich. Es ist auch interessant, Deutschland aus dem Ausland zu sehen. Ich habe es sehr zu schätzen gelernt, dass man sich in Deutschland auf das Wort eines Geschäftspartners verlassen kann, denn das ist nicht überall so. Deutsche stehen neuen Produkten zwar oft etwas zögerlicher und skeptischer gegenüber als Kunden aus anderen Ländern. Das macht jedoch ein Verkaufsgespräch gerade interessant. Zu meinem Arbeitsplatz fahre ich – ganz niederländisch – mit dem Fahrrad. Und doch: Je länger ich im Ausland bin, desto stärker werde 107 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:32 Uhr Seite 108 FRANZISKA FLEISCHER ich zur Lokalpatriotin: Keine andalusischen Tapas oder holländischen Poffertjes gehen über »a Paar Nürnberger Bratwürscht«! Im Sommer 2006 bin ich im Urlaub nach vier Jahren nach Alicante zurückgekehrt. Mein ehemaliger flämischer Mitbewohner aus der WG hat eine kolumbianische Freundin geheiratet und lebt in Alicante. In London habe ich meine wallonische Freundin wieder getroffen, die dort ein Masterstudium absolviert. Eine andere Kommilitonin hat einen Spanier geheiratet und verkauft Immobilien an englische Touristen. Eine spanische Freundin wiederum hat mich dieses Jahr in Rotterdam besucht: Unsere Generation lebt und arbeitet in Europa. Generation ERASMUS! 108 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 109 BIANCA KÖNDGEN Bianca Köndgen, geb. 1967 in Ibbenbüren. Magister in Anglistik und Romanistik an der Universität Trier. ERASMUS-Aufenthalt: Okt ’89 - März ’90 an der Universidad de Oviedo, Spanien. 110 Seite 110 10:33 Uhr 11.04.2007 DAAD_ERASMUS_IN_070411 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 111 SPANIEN Land, mir so fremd wie keines Anfang Oktober 1989. Sonntagmorgen, Halbschlaf. Seltsame Töne dringen an mein Ohr. Dudelsackmusik? Wo bin ich? Langsam wird es mir bewusst, ach ja, in Oviedo, Nordspanien. Aber Dudelsackmusik in Spanien? Kommt aus der Kneipe gegenüber. Spanien, unbekanntes Territorium. In England hatte ich Sprachkurse absolviert und ein Semester in Lancaster studiert, in Irland bin ich Au-pair-Mädchen gewesen, Praktika und premier grand amour in Frankreich. Nach zwei Jahren Romanistikstudium habe ich mich entschlossen, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen, trotz kaum vorhandener Sprachkenntnisse. Die zu erwerben, war in drei Spanischgrundkursen, jeder mit rund 50 Teilnehmern und je vier Stunden pro Woche, kaum möglich. Genau aus diesem Grund war ein Spanienaufenthalt bitter nötig. Der Kulturschock der ersten Wochen ist groß. Nichts ist, wie ich es erwartet hatte. Beim Stichwort ›Spanien‹ denken die meisten an glühende Sonne, kilometerlange Sandstrände, Gitarren und Stierkampf, Flamenco und Rotwein. Nichts dergleichen. Deutschland ist ja auch nicht ausschließlich von leder-behosten, jodelnden Maßkrugschwenkern besiedelt, die Kuckucksuhren verkaufen. Und der Norden Spaniens heißt: grüne Wälder, felsige Küsten, Buchten mit Sandstränden, die Bergkette Picos de Europa – und vor allem: keltische Kultur. Also Dudelsackmusik und sidra, Apfelwein. Diesen 111 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 112 BIANCA KÖNDGEN korrekt zweifingerhoch in besondere Gläser einzugießen, wobei man die Flasche in einer Hand über den Kopf hält und das Glas in Hüfthöhe in der anderen Hand, ist eine Kunst für sich. ERASMUS war kein Türöffner. Niemand in Relaciones Internacionales an der Universidad de Oviedo wußte, dass ich komme, niemand wusste, dass ich existiere, obwohl das Akademische Auslandsamt der Uni Trier meine Unterlagen geschickt hatte. Mit mir kamen zwei andere ERASMUS-Studentinnen aus Bochum nach über 24 Stunden Anreise fürs erste in einem Nonnenkloster unter, wenigstens ein Dach über dem Kopf. Die erste Woche in einem fremden Land war ganz und gar der Wohnungssuche gewidmet. Unzureichende Sprachkenntnisse bedeuteten: die Wohnungsanbieter legten am Telefon einfach wieder auf, weil sie nicht verstanden, was ich überhaupt von ihnen wollte. Die Konsequenz war, mit meinen neuen Freundinnen aus Cambridge und Münster immer nur Spanisch zu sprechen, koste es, was es wolle. Meine Vermieterin, eine herzensgute, leicht buckelige Schneiderin, wusch nicht nur meine Wäsche und zeigte mir, wie man tortilla de patatas macht, sondern brachte mir Spanisch bei. Auch wenn sie es selbst kaum richtig schreiben konnte. Die Wochenenden werden dazu genutzt, in den Bergen zu wandern, Küstendörfer zu erkunden, dem Rätsel Asturien, dem »anderen« Spanien auf die Spur zukommen. Ja, ich habe viel gesehen: Gijón, Santiago de Compostela, Léon, Madrid, Salamanca, Toledo, Avila. Aber den Menschen bin ich nicht näher gekommen. Meine überzogenen Erwartungen bezüglich der Warmherzigkeit ›der Spanier‹ wurden schnell enttäuscht: Ich habe gelernt, dass Spanier zwar auf Menschen zugehen und man leicht ins Gespräch kommt, dass aber der nächste Schritt genauso schwer ist wie in Deutschland: Freundschaften zu schließen und zu jemandem nach Hause eingeladen zu werden. Kontaktfreudigkeit ist nicht gleich Offenheit. 112 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 113 SPANIEN Ich habe gelernt, dass Spanier zwar auf Menschen zugehen und man leicht ins Gespräch kommt, dass aber der nächste Schritt genauso schwer ist wie in Deutschland: Freundschaften zu schließen und zu jemandem nach Hause eingeladen zu werden. BIANCA KÖNDGEN 113 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 114 BIANCA KÖNDGEN Zurück in Trier, ging ich schnurstracks zum Akademischen Auslandsamt und bot an, spanischen Studenten zu helfen, damit sie sich nicht so fremd fühlen sollten wie ich in ihrem Land. Dies war wohl die weitreichendste Entscheidung, die ich für meinen weiteren Lebensweg getroffen habe. Aus zunächst zwei Spaniern wurden mehr. Ich wurde Tutorin und gründete mit zwei Kommilitonen das »Internationale Zentrum an der Universität Trier(IZ)«. Ein Café, das jeden Tag geöffnet ist und in dem den internationalen Studenten immer Tutoren mit Rat und Tat zur Seite stehen. Tutorin im Auslandsamt und Leiterin des »IZ«, das umfasste auch die Organisation von Einführungskursen und die Planung und Abwicklung des kulturellen Semesterrahmenprogramms. Er hieß aber auch: 200 ERASMUSStudenten pro Jahr kennen mich. Viele Bekannte bedeutet nicht zwangsläufig, viele Freunde zu haben. Diesem Trugschluss verfallen viele Studenten in der Begeisterung des ERASMUS-Fiebers, werden aber wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, wenn die meisten Kontakte nach der Rückkehr ins Heimatland wieder einschlafen und ach so gute Freunde plötzlich wieder verschwinden. Die Lebenswege einiger Menschen, die ich im Studium betreut habe und die zu wirklichen guten Freunden geworden sind, und derer, die mit mir im IZ zusammengearbeitet haben, haben sie in multinationale Unternehmen oder deutsche Ministerien geführt oder Jobs in verschiedenen Abteilungen der EU-Kommission in Brüssel finden lassen. Ich machte noch einen kleinen Umweg bis zu meiner »Bestimmung«, der mich wieder nach Spanien führte. Sommer 1993, Studium beendet. Was nun? Ein Anschlag am schwarzen Brett der Anglistik: die Universität Murcia in Spanien sucht eine Lektorin für ›Deutsch als Fremdsprache‹. Schnelle Bewerbung, schnelle Antwort, und schon ist das Flugticket gekauft. Die Univer- 114 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 115 SPANIEN sität stellt den fünf Fremdsprachenlektoren (Englisch, Italienisch, Französisch, Deutsch und Arabisch) Unterkunft und Verpflegung in einem Colegio Major. Eine internatsähnliche Welt für sich mit eigenen Regeln. Wir erleben spanisches Studentenleben hautnah, von novatadas (Einführungsriten, in denen die Erstsemester reichlich gequält werden) über fiestas universitarias (wobei jede Fakultät ihren eigenen Heiligen und somit einen eigenen Feiertag hat) bis hin zu Examenszeiten, zu denen die Bibliothek überfüllt ist und alle mit rauchenden Köpfen über den Aufzeichnungen sitzen. »Poner los codos« nennt sich das, wörtlich übersetzt »die Ellenbogen aufstützen«, auf Deutsch »büffeln«. Ich lerne das spanische Universitätssystem auch von der anderen Seite kennen, als Lehrende, die den Alleinunterhalter gibt und sich bemüht, ihre Studierenden, die wiederum nur Frontalunterricht gewohnt sind, mit kommunikativen Übungen zum Reden zu bringen. Oft rede ich gegen Wände. In Murcia habe ich spanische religiöse Traditionen kennen gelernt, an Osterprozessionen der Semana Santa teilgenommen und mit meinen Freunden im Dörfchen Hellín in der Provinz Albacete die ganze Nacht von Gründonnerstag zu Karfreitag durch mir die Finger blutig getrommelt. Ich habe die Inbrunst der Menschen gespürt, das Leuchten in ihren Augen gesehen, wenn sie die Schönheit der Heiligenfiguren lobten, die sich mir niemals wirklich erschlossen hat. Die Essenz von Murcia (sowohl Stadt als auch Región Autónoma): Barocke Prachtbauten, Reisfelder und Weinberge im Norden, Sierras und trockene Mondlandschaften, riesige Agrarflächen der Huerta, auf denen das Gemüse, das wir hier im Supermarkt kaufen, unter Cellophanfolien angebaut wird, die Lagune des Mar Menor mit ihren Badewannenwassertemperaturen und die Küsten und Strände der Costa Cálida, Bergdörfer und Wallfahrtsort Caravaca de la Cruz im 115 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 116 Landesinneren. Und wieder die Erkenntnis: Spanien ist vielfältig. »Todo bajo el sol – alles unter der Sonne« (Slogan der spanischen Fremdenverkehrswerbung) und eben nicht reduzierbar auf Sangria und Bettenburgen. Ich habe Freundschaften fürs Leben geschlossen, auf Hochzeiten bis zum Morgengrauen getanzt und einen Einblick in ›die spanische Seele‹ bekommen, wenn es denn so etwas gibt. 116 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 117 SPANIEN Aus einem Jahr Lektorat wurden zwei. Dann wurde es Zeit, nach Deutschland zurückzukehren, denn ohne ›enchufe‹ (Vitamin-B) findet man schwer eine Arbeitsstelle. Meinen Traumberuf hatte ich schon während meines Studiums gefunden: Mitarbeiterin in einem Akademischen Auslandsamt. Nach einigen Monaten Zeitarbeit in Luxemburg und etwa 80 Initiativblindbewerbungen klappte es dann auch zum Januar 1996 mit der Stelle: Georg-Simon-Ohm-Fachhochschule Nürnberg. Eigenständige Abwicklung des SOKRATES-ERASMUS-Programms und der anderen Austauschsprogramme der Hochschule. Im Oktober 2001 Wechsel an die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Auch hier gehört das SOKRATES-ERASMUS-Programm zu meinem Aufgabenbereich, ist aber eine Aufgabe unter vielen vielen anderen. Mir aber mit die liebste. Für meine Tätigkeit an beiden Hochschulen gilt: Es erfüllt mich, jungen Menschen ein Gefühl des Willkommens geben zu können, ihnen die Angst zu nehmen, wegen meiner Kenntnis ihrer Kulturen und Universitätssysteme zu wissen, was ihnen »spanisch« bzw. wohl eher deutsch und fremd vorkommen wird. ERASMUS heißt für mich auch, täglich im Beruf zwischen Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Polnisch hin und her zu wechseln. Denn es fällt doch leichter, sein Herz in der Muttersprache ausschütten zu können. Das schönste Geschenk aber ist die Wehmut der Schützlinge beim Abschied nach einem Jahr in Erlangen oder Nürnberg, das ihnen dann zu einer zweiten Heimat geworden ist. Anfang 2006 gab ich den Teilarbeitsbereich Ausländerbetreuung ab und kümmere mich seitdem um die deutschen Studierenden, die ins Ausland geben, darunter 350 ERASMUS-Studierende. Ich sehe, dass sich manche Dinge zum Positiven verändert haben, einige aber immer noch im Argen liegen. Verbessert haben sich die Dienst- 117 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 118 BIANCA KÖNDGEN leistungen und die Beratungsangebote vieler International Offices der europäischen Universitäten. ERASMUS hieß für mich 1990: keinerlei Anrechung meiner Prüfungen aus Oviedo, zumindest nicht der Sprachpraxis. Unerfindlicherweise musste ich alle Hauptstudiumsübungen, die Phonetik, Landeskunde, Grammatik und Übersetzung betrafen, in Trier nochmals absolvieren. Anscheinend wurde in Spanien wohl nicht die ›richtige‹ Hispanistik unterrichtet, die eine Anerkennung erlaubt hätte. Mein eigenes Studium hat sich unnötigerweise um zwei Semester verlängert. Diese Erfahrung müssen auch heute noch ERASMUS-Studierende immer wieder machen. Hoffentlich kann der Bologna-Prozess diese Missstände beseitigen und gewährleisten, daß ein Auslandsstudium jetzt und in Zukunft keinen Nachteil mit sich bringt. Denn ein zügiges und zielgerichtetes Studium sollte im Vordergrund stehen, auch wenn die positiven Auswirkungen des ERASMUS-Aufenthaltes auf die Teilnehmer wie die Überprüfung eigener Denk- und Verhaltensmuster, das Bewusstwerden der eigenen Kultur und der fremden und nicht zuletzt die gelebte Alltagserfahrung unumstritten sind. Die Erfahrungsberichte meiner »Outgoer« enden fast alle mit dem Satz: »Es hat sich gelohnt«. Deshalb kann ich festhalten: Was sich in zwanzig Jahren ERASMUS-Programm nicht geändert hat, ist die Begeisterung der Rückkehrer über den Auslandsaufenthalt, über das multikulturelle ERASMUS-Feeling, über die bewegenden persönlichen Erfahrungen. Sie genauso wie ich gehören zur ›Generation ERASMUS‹. ERASMUS (in Spanien und daheim) hat mich zu dem gemacht, was ich bin: weltoffen, ständig unterwegs in Europa, flexibel in 118 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 119 LÄNDERNAME meinen Denkweisen, zuhause in verschiedenen Sprachen und Gedankenwelten. ERASMUS hat meinen Lebensentwurf entscheidend beeinflusst. Und was ist mit Spanien? Es ist mir schon lange nicht mehr »fremd wie keines«, sondern ein nicht unerheblicher Teil meines Wesens. Ein bunter Teil eines ständig erweiterbaren Mosaiks, dem in den letzten Jahren Polen hinzugefügt wurde. P. S.: ERASMUS zeigt sich für mich konkret in den daraus entstandenen gemischtnationalen Ehen in meinem engsten Freundeskreis. Eine Anregung: Unter den ganzen statistischen Daten, die die EU erfasst (und über deren Sinn wir als ausführende Verwaltungskräfte manchmal grübeln), fehlen genau diese: die der geschlossenen Ehen und der ERASMUS-Babies! Sind nicht sie Fleisch gewordene Manifestation des europäischen Gedankens? 119 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr FELICITAS KUSTERS Felicitas Kusters, geb Diplom in Architektur an der . 1979 in Hannover. ERASMUS-Aufenthalt: Win Universität Kassel. an der Universidad Politecntersemester 2002/03 ica de Valencia, Spanien 120 Seite 120 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 121 SPANIEN Zuhause in Europa Seit kurzer Zeit blicke ich aus meinem Büro auf das Tate Modern, die Themse und St. Pauls Cathedral. Seit zwei Monaten lebe ich auf der Insel, seit einem Monat arbeite ich in der Hauptstadt Englands als Architektin. Die ersten Eindrücke sind noch ganz frisch, dennoch fühle ich mich hier schon heimisch. Das geht schneller, wenn man Übung hat. London ist meine sechste Heimatstadt, England mein viertes Heimatland. Das Reisen liegt mir im Blut. Mein Vater war Seemann, ebenso sein Vater. Dessen Vater wiederum war Schmuggler, so wird es erzählt. Die mütterliche Seite ist bodenständiger. Hier finden wir Generationen von Gärtnern mit Haus und Hof. Ich stelle mir gerne vor, dass diese Gene später noch durchschlagen werden, wenn ich älter und gesetzter bin. Bisher genieße ich aber noch meine Freiheit, Europa als ein großes Land zu betrachten, in dem mein Wohnsitz durch meine eigene Entscheidung bestimmt wird. Das Recht dazu hat ja jeder EU-Bürger, alleine das Umsetzen ist nicht jedermanns Sache. Für mich war mein ERASMUS-Aufenthalt in Spanien eine Schlüsselerfahrung für diese Sehweise auf Europa. Meine Aufnahme in das Programm erfolgte nach dem Ausfüllen eines Antrages, in dem ich meine Daten, Sprachkenntnisse und meine Motivation für das Auslandsstudium angab. Der Umfang: ein Blatt Papier – das nenne ich minimalen bürokratischen Aufwand. Einen Monat später erfuhr ich 121 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 122 FELICITAS KUSTERS überglücklich, dass ich den Studienplatz meiner Erstwahl an der Universidad Politécnica de Valencia erhalten hatte. Von einigen Alumni erhielt ich die Empfehlung, die Anerkennung meiner Studienleistungen in Valencia vor der Abreise mit meinen Professoren abzusprechen. Zwar war das ECTS-System an der Universität Kassel noch nicht eingeführt, das Lehrpersonal erklärte sich jedoch auf dem informellen Weg bereit, die spanischen Leistungen anzuerkennen oder mich während meiner Abwesenheit sogar selbst zu betreuen. Wie ich später heraus fand, war dies möglich, wenn ich ein Urlaubssemester für mein Auslandsstudium beantragte. Unter dem Strich also ein Semester Gewinn für mein Studienkonto. Einen kleinen Gewinn konnte ich auch bei der Sparkasse verbuchen. Ein Aufenthalt im Ausland muss demnach keine finanzielle Belastung darstellen. Nach kurzer Suche meldete sich ein sympathischer Herr, der meine Wohnung in der Zeit meiner Abwesenheit belegen und bezahlen wollte. Vor dem Hintergrund, dass die Mieten in Valencia noch geringer sind als in Kassel und die sonstigen Lebenshaltungskosten ungefähr gleich, machte ich hier also ein leichtes Plus. Hinzu kam das Taschengeld von ERASMUS und, in meinem Fall, ein volles Hölderlin-Stipendium, mit dem meine Ausgaben gedeckt waren. Und ausgeben kann man viel im Ausland. Es gibt so viel Neues zu entdecken: Tapas Bars, Bodegas, Spiele des Valencias CF, die Dörfer der Umgebung Xátiva, Val d'Uixá, Sagunto, weiter entfernt gelegene Städte wie Barcelona, Madrid, Zaragoza und schließlich Regionen wie Andalusien mit den wunderbaren maurischen Gärten und Palästen. Die meisten dieser Reisen wurden durch eine ausgeprägte Vorliebe der Valencianos für »puentes«, Brückentage, ermöglicht. In meinem Jahr fielen scheinbar rein zufällig alle der zahlreichen Feiertage auf einen Donnerstag oder Dienstag. Zunächst versuchte ich, in deutscher 122 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 123 SPANIEN Gründlichkeit, an entsprechenden Freitagen oder Montagen den Vorlesungen beizuwohnen, nur um rasch heraus zu finden, dass ich ziemlich die einzige war, die auf so eine seltsame Idee kam. Dass der Motivationsverlust an Brückentagen die Dozenten einschloss, lernte ich dazu und passte mich ohne weiteren Widerstand an die spanischen Sitten an. Die längeren Reisen gaben mir einen ausschnittsweisen Einblick in die Kultur Spaniens – Gaudí, Picasso, La Virgen del Pilar, Flamenco, Tapas gratis zum Getränk, der starke Einfluss der maurischen Herrschaft. Die kurzen Ausflüge förderten das Verständnis der Comunidad Valencia und meine Identifizierung mit meiner neuen Heimatstadt – mittelalterliche Burgen, römische Amphitheater, das Bauernfest mit Köstlichkeiten der Region, ein unterirdischer Fluss. Aber das Schönste waren doch die Menschen, die ich kennen lernte. Im Ausland ist es ja oft schwierig, in die bestehenden Freundeskreise des Gastlandes aufgenommen zu werden. Wesentlich leichter ist es, die anderen Austauschstudenten kennen zu lernen, die in der gleichen Situation sind. Ich hatte Glück, dass ich über zwei Gruppenarbeiten in Kontakt mit einigen Spaniern kam. Sie brachten mir viel über Spanien bei, auch im Kontrast zu meinen deutschen Sichtweisen und Gewohnheiten. Um so überraschter war ich, als uns ein brasilianischer Freund über einen Kamm schor: Er beendete ein interkulturelles Zwiegespräch mit dem frustrierten Ausruf »Ihr seid komisch!«. »Komisch? Mag sein, aber wer ist denn ›Ihr‹«? –»Ihr Europäer!« Dies war das erste Mal, dass ich mit Spaniern, Franzosen, Polen und sogar Holländern in einen Topf geworfen wurde. Entsprechend überrascht reagierte ich auf diese Sichtweise des ›Externen‹, eines Südamerikaners. Aber dann dachte ich an die Zeit, in der ich in Vene- 123 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 FELICITAS KUSTERS FELICITAS KUSTERS ›Hier‹ ist also offensichtlich nicht Spanien, sondern Europa. 124 10:33 Uhr Seite 124 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 125 SPANIEN zuela gelebt hatte, und an die Mentalität, in die ich mich damals eingefunden hatte. Beim Vergleich zwischen Latinos und Südländern musste ich zugeben, dass mir die Spanier doch irgendwie vertrauter waren – ich nenne es mal ›europäischer‹: Zuverlässiger, aktiver, weniger chauvinistisch (auch wenn ich mich hier aus dem Fenster lehne). Nach diesem befriedigenden Vergleich fielen mir noch die Weihnachtsferien ein, in denen die Chilenen und Mexikaner unbedingt nach Paris, Rom und Norwegen reisen mussten, von Valencia aus. Die Begründung: »Wenn wir schon einmal hier sind.« ›Hier‹ ist also offensichtlich nicht Spanien, sondern Europa. Ein Europa, das im Verhältnis zu Asien oder Südamerika eine durchaus überschaubare Landmasse bietet. Selbst für Kurzstreckengewohnte ist das Reisen innerhalb Europas – nicht zuletzt durch die Billigflieger – so viel günstiger und schneller geworden, dass sich ein Wochenendausflug zur anderen Seite des Kontinents durchaus lohnt. Auch dies ist eine Einstellung, die ich mit über den Kanal genommen habe. Bei der Anreise zu Familienfesten macht es weder preislich noch zeitlich einen Unterschied, ob ich in London oder München wohne (was allerdings auch an der Deutschen Bahn liegt). Trotzdem wäre ein Besuch bei Verwandten und Freunden innerhalb Norddeutschlands natürlich einfacher. Derzeit genieße ich die Metropole, meine interessante Arbeit, die englische Sprache, den britischen Humor und sogar das Essen (schließlich gibt es hier phantastische indische Lokale), aber vielleicht setzen sich die Erbanlagen meiner Mutter doch noch irgendwann durch. 125 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 126 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 127 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 128 CAROLA OSSENKOPP Carola Ossenkopp, geb. 1972 in Lüneburg. Magister in Romanistik und Amerikanistik an der Universität Rostock. ERASMUS-Aufenthalt: Wintersemester 1997/98 und Sommersemester 1998 an der Universidad de Granada, Spanien. 128 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 129 SPANIEN Vom International Summer Village zur International Summer University Alles begann vor etwa 20 Jahren. Meine Eltern hatten aus der Zeitung erfahren, dass es ein internationales Kindercamp in meinem Wohnort geben sollte. Dafür wurden noch Gastfamilien für einige Tage gesucht. Und ehe ich michs versah, hatte ich – damals allein – noch zwei gleichaltrige Geschwister aus Costa Rica auf Zeit dazubekommen. Die beiden Mädchen sprachen schon ganz toll Englisch – ich hingegen hatte ja erst in der Schule mit Englisch angefangen. Das wollte ich auch. Ab diesem Sommer im Jahr 1983 wuchs der Wunsch in mir, die Welt zu erkunden und internationale Freundschaften aufzubauen. Die schöne Zeit mit den Mädchen aus Costa Rica noch im Gedächtnis, meldeten mich meine Eltern in dem Verein Children’s International Summer Village (CISV) an, und nachdem ich einen Sommer in einer schwedischen Gastfamilie gewohnt hatte und Anna aus Schweden mit zu mir nach Hause brachte, nahm ich jedes darauffolgende Jahr an Jugendaustauschen mit den USA und Kanada teil. Diese positiven Erfahrungen ermutigten mich, meinen Traum zu verfolgen, nach dem Abitur ein Jahr lang als Au-Pair in den USA zu arbeiten. Mein Jahr dort war eine wunderbare Erfahrung und ich merkte zum ersten Mal, wie wichtig ein Aufenthalt im Ausland zur Förderung der eigenen Persönlichkeit ist. Immer eine eher schüchterne Person, die Angst hatte, unbekannten Menschen zu begegnen, war ich nach diesem Aufenthalt viel offener und selbständiger geworden. 129 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 130 CAROLA OSSENKOPP Aus den USA zurückgekehrt, stand mein Studienwunsch fest: Sprachen und Literatur. Ich wollte mehr von fremden Kulturen erfahren und gleichzeitig meine Sprachkenntnisse vervollkommnen. So kam ich zur Universität Rostock und studierte Amerikanistik/ Anglistik und Romanistik mit Schwerpunkt Spanisch. Nun ja, einmal Ausland – immer Ausland. Für mich stand fest, dass ich nach meinem Grundstudium auf jeden Fall wieder in die USA musste. Ich wollte dort ein Austauschjahr als Studentin verbringen. So ging ich 1996 für ein Jahr an die East Tennessee State University. Ein anderes Studiensystem, ein Kennenlernen der Südstaatenkultur der USA, der Sprache: Es war ein sehr wertvolles Jahr für mich. Ich habe das amerikanische Studiensystem kennen gelernt und regen Austausch mit amerikanischen Studenten gehabt. So lernte ich viel über die amerikanische Kultur kennen, aber reflektierte auch meine eigene – deutsche – Kultur. Dann ging ich für ein Jahr als ERASMUS-Studentin nach Granada in Spanien. Wie es dazu kam? Nun, aus den USA zurückgekehrt, besuchte ich meinen Professor, um zu fragen, welche Kurse im nächsten Semester angeboten würden. Er schlug mir vor, doch meine Koffer gepackt zu lassen und einen ERASMUS-Aufenthalt einzulegen. Ich war baff. Natürlich wollte ich gerne nach Spanien gehen, aber so plötzlich? So nahm die Erfahrung »Einmal Ausland – immer Ausland« ihren Fortgang. Die amerikanische Kultur hatte ich ja nun zwei Jahre lang kennen gelernt und meine Englischkenntnisse perfektioniert. Aber Spanien macht mir schon ein bisschen Angst. Als ich in die USA ging, hatte ich wenigstens mehrere Jahre Englisch aufzuweisen. Spanisch hatte ich erst im Studium angefangen. Aber mein Professor hatte recht: 130 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:33 Uhr Seite 131 SPANIEN CAROLA OSSENKOPP Wenn man längere Zeit in einem anderen Land und in einer anderen Kultur gelebt hat, blickt man zunächst wie ein Fremder auf sein Heimatland. 131 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 11:36 Uhr Seite 132 Warum jetzt wieder eine Wohnung in Rostock suchen, wenn ich doch während der Semesterferien alles Nötige für meinen ERASMUS-Aufenthalt organisieren konnte. Auf Anraten meines Spanischprofessors ging ich an die Universidad de Granada in Andalusien. Bei den Amerikanern war Alles sehr gut organisiert gewesen. Schon eine Faxantwort auf meine Frage, wann denn das Semester beginnen würde, ließ mich ahnen, was mich in Spanien erwartete: Das International Office der Universität von Granada teilte mir Anfang September mit, dass es noch nicht fest stünde, wann genau die Vorlesungen anfangen würden und ich solle mich doch etwa Anfang Oktober in Granada einfinden. In Granada angekommen, merkte ich rasch, dass ich einiges in diesem Jahr lernen würde: ich wurde im Auslandsamt mit den Worten begrüßt, »Ah, du bist die aus Rostock. Hier, such dir eine Wohnung«. So machte ich mich mit der Liste von Wohnungsangeboten auf den Weg zur nächsten Telefonzelle. Das war auf der einen Seite eine der 132 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 133 SPANIEN schlimmsten Erfahrungen für mich. Mein Spanisch ließ ja wirklich zu wünschen übrig, und sich dann über Telefon zu verständigen, ist der Horror aller Fremdsprachenanfänger. Doch es gab noch mehr Studenten in meiner Lage, und so lernte ich meine zukünftige italienische Freundin Chiara kennen, mit der ich mir eine Wohnung suchte und das Jahr verbrachte. Wir wohnten in einem großen Haus im Zentrum von Granada. Unsere Vermieterin, eine ältere Dame, vermietete die 10 Zimmer an spanische und internationale Studenten und wohnte mit uns unter einem Dach. Wir lebten in einfachen Verhältnissen, aber es war eine tolle Atmosphäre. Das zeigte sich besonders, als der Winter kam. Es gab keine Heizung in dem Haus, und Winter in Granada können schon recht kalt werden. Die einzige Möglichkeit, die man abends in dem Haus hatte, war, ins Bett zu gehen oder sich an den Wohnzimmertisch zu setzen, denn unter dem Tisch befand sich der »Brasero«, eine Gasheizung. So verbrachten wir Abend für Abend die kalten Wintermonate – mit dem tollen Gefühl, wahre Gemeinschaft zu erleben. Im Nachhinein denke ich, dass ich dadurch, dass ich allein von meiner Universität nach Granada gegangen bin, so viel gelernt habe. Ich musste sofort Spanisch sprechen, um mich verständlich zu machen, und hatte so die Chance, schnell in die Sprache hineinzukommen. Ich lebte mit Spaniern und wurde so mit dem wirklichen spanischen Leben vertraut. Das ERASMUS-Jahr in Granada kann ich als das schönste Jahr in meinem Leben bezeichnen. Das wirkliche spanische Leben kennen zu lernen und das spanische Studiensystem zu erleben, hat mich akademisch und persönlich weitergebracht, und es ist unnötig zu erwähnen, dass ich meine Spanischkenntnisse vervollkommnen konnte. Ein weiteres Highlight für mich war, dass ich in der spanischen Literaturwissenschaft teilweise von berühmten spanischen 133 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 134 CAROLA OSSENKOPP Autoren unterrichtet wurde. Zusätzlich war es eine enorme Herausforderung für mich, Hausarbeiten und Klausuren in spanischer Sprache zu verfassen. Nach Rostock zurückgekommen, ging ich als erstes zum Akademischen Auslandsamt, um mich für den Aufenthalt zu bedanken. Dort wurde ich dann gefragt, ob ich mich nicht um ausländische Studenten in Rostock kümmern wolle. So wurde ich Mitglied der Lokalen ERASMUS-Initiative (LEI), bekam ein Zimmer im internationalen Studentenwohnheim und betreute meine 15 ausländischen Mitbewohner. Zusätzlich arbeitete ich als studentische Hilfskraft im Bereich des Ausländerstudiums im Akademischen Auslandsamt der Universität Rostock. Meine Auslandsaufenthalte haben mich geprägt und haben meinen Berufswunsch bestimmt. Ich wollte im internationalen Kontext in Deutschland tätig sein. Meine Stelle im Auslandsamt hat mir gezeigt, wie es geht. Und so fing ich nach dem Abschluss meines Studiums als stellvertretende Leiterin des International Office der Hochschule Fulda an. Eine Stelle, die ich nur wegen meiner Auslandserfahrung und meiner Tätigkeit als studentische Hilfskraft in Rostock bekam. Und jetzt? Jetzt koordiniere ich die Hessische Internationale Sommeruniversität an der Hochschule Fulda. Meine Erfahrungen im Ausland waren von enormer Bedeutung für meinen jetzigen Beruf. Ich weiß ja, wie man sich fühlt, wenn man als Student ins Ausland geht. Ich weiß ja, welche Wünsche man hat und wo Hilfe benötigt wird. Und das ist genau das, was ich als Ziel in meiner Arbeit sehe: Den Studienstandort Deutschland und den Austausch der Kulturen zu fördern, Studenten das wirkliche deutsche Leben und Studiensystem näher zu bringen und dazu beizutragen, dass sich der Aufenthalt so erfolgreich wie möglich gestaltet, sowohl fachlich und sprachlich als 134 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 135 SPANIEN auch in sozialer und integrativer Sicht. Die Herzlichkeit, die ich als Austauschstudentin erlebt habe, möchte ich nun selbst weitergeben. Ich kann wirklich nur jedem dazu raten, einen Auslandsaufenthalt während des Studiums zu absolvieren. Man lernt so Vieles dazu, von dem man ein Leben lang profitieren wird. Neben den Sprachkenntnissen und den akademischen Bereicherungen ist auch das persönliche Wachsen ein ganz entscheidendes Ergebnis eines Auslandsaufenthalts. Man muss sich oft durchbeißen, muss auch mal negative Erfahrungen machen und viel Arbeit auf sich nehmen. Was aber zählt und worauf man ein Leben lang zurück blicken kann, ist, stolz zu sein, dass man so etwas geschafft hat. Man hat tolle Erinnerungen gesammelt, Freunde fürs Leben kennen gelernt und die großartige Chance bekommen, in eine andere Kultur einzutauchen. Und das wird man nie vergessen. Die negativen Erfahrungen kann man sehr gut unter dem Stichwort ›schlauer geworden‹ verbuchen. So etwas kann keiner einem nehmen. Auch seine eigene Kultur sieht man plötzlich mit ganz anderen Augen. Wenn man längere Zeit in einem anderen Land und in einer anderen Kultur gelebt hat, blickt man zunächst wie ein Fremder auf sein Heimatland. Dies ist eine unglaublich spannende, aber auch wichtige Erfahrung. Man setzt sich durch einen Auslandsaufenthalt ganz intensiv mit seiner eigenen Kultur auseinander und lernt Eigenschaften seines Landes zu schätzen, aber auch kritisch zu sein. Es ist schön, wenn im Sommer die Studenten der Sommeruniversität nach Fulda kommen. Für mich ist es etwas Internationales in Deutschland und ein Gefühl, wieder mitten drin im Auslandsstudium zu sein. Aber dieses Mal stehe ich auf der anderen Seite. Ich bin jetzt diejenige, die den Studenten helfen kann, sich so schnell wie möglich zurecht zu finden und den Auslandsaufenthalt als unvergessliches Erlebnis zu erfahren. 135 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 136 CHRISTOPH THALHAMMER er, alhamm . n oph Th Christ 7 in Münche rtschaft 7 i 9 w 1 s b . e ri geb in Bet Diplom H München. Feb-Jun 2002 rn. F a an der Aufenthalt: eszprém, Ung S U t V ä t i s ERASM r Unive an der 136 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 137 UNGARN Ungarn: Eine ›andere‹ Erfahrung Schon während der ersten Semester an der Fachhochschule München wurde ich auf das ERASMUS-Programm und seine Möglichkeit, ein Semester im Ausland zu verbringen, aufmerksam. Bei der Vorstellung der neuen Partneruniversität in Ungarn während der ERASMUSEinführungsveranstaltung habe ich mich dann entschieden, als erster Student der FH-München an dem Programm in Osteuropa teilzunehmen. Durch die Wahl der Universität in Veszprém in Ungarn wurde mir die Möglichkeit geboten, Kurse in Tourismus, Volkswirtschaftslehre und Management zu belegen sowie meine Diplomarbeit in Verbindung mit einem Praxisprojekt dort zu verfassen. Rückblickend habe ich diese Entscheidung nicht bereut. Dafür sprechen mehrere Gründe. Einerseits sind die Ungarn sehr gastfreundlich, hilfsbereit und an der westeuropäischen Kultur interessiert, und andererseits ist die schöne Umgebung Veszpréms mit dem Plattensee als naturnahem und touristisch gut erschlossenem Reiseziel vor allem im Sommer empfehlenswert. Das Umland von Veszprém und die Gegend um den Plattensee laden zu schönen Fahrradtouren ein. Nach Budapest sind es ca. 120 km, mit stündlichen Busverbindungen ab Veszprém. Zudem ist die Finanzierung des Lebensunterhaltes für einen deutschen Studenten in Ungarn im Vergleich zu Westeuropa einfacher. 137 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 138 CHRISTOPH THALHAMMER Nun zum Studentenleben in Ungarn und an der Universität. Der Kontakt zu den Professoren in Ungarn und zu meinem Ansprechpartner für die Organisation dort war schnell, problemlos und verbindlich hergestellt. Für mich persönlich eine wichtige Basis. Die Universität Veszprém – mit ca. 7.000 Studenten – hat in Ungarn einen exzellenten Ruf und zieht vor allem Studenten der Fachrichtungen Chemie und Tourismus aus dem ganzen Land an. Die Studiengänge sind sehr gut strukturiert und Zulassungsbeschränkungen meist mit einer Aufnahmeprüfung und einem Interview verbunden. Auch gibt es für ungarische Studenten viele Möglichkeiten, Auslandssemester in der ganzen Welt mit Stipendium (vor allem USA) zu absolvieren. Die Qualität des Studiums dort kann also mit der deutschen ohne weiteres gleichgesetzt werden. Jeder ERASMUS-Student, der sich für ein Auslandssemester in Ungarn entscheidet, bekommt einen Mentor der Universität zugewiesen, der sich in den ersten Wochen um fast alles kümmert. Die Studentenorganisation organisiert Ausflüge (z.B. Budapest), lädt zu Sportveranstaltungen und den typischen Studentenpartys ein. Meine Wohnung befand sich ungefähr 10 Minuten von der Universität entfernt in einer renovierten Zwei-Zimmer Wohnung neben dem Sportstadion. Von dort waren es nur fünf Minuten zu der beliebten Studentendisco »DC« (»Diak Center«). An der Universität gibt es viele Sportmöglichkeiten (z.B. Tennis, Schwimmen, Rudern/Segeln auf dem Plattensee) und ein FitnessCenter, das sich direkt in der Universität befindet. Von der Universität werden verschiedene Veranstaltungen für alle Studenten organisiert, deren Teilnahme sich lohnt (Dia-Vorträge, Ausflüge nach Budapest oder die Ruderregatta). Der Ort Veszprém – auch bekannt durch seine erfolgreiche Handballmannschaft – gliedert sich in eine Altstadt mit mehreren Ein- 138 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 139 UNGARN kaufsmöglichkeiten und verschiedenen Wohnvierteln mit alten Häusern aus der Zeit des Sozialismus und immer mehr neuen Wohnanlagen. Vor allem das Viertel um die Universität ist durch ältere Bauten, die teilweise renoviert sind, geprägt und erinnert an Wohnviertel in der DDR. Am Stadtrand findet man jedoch viele neu gebaute und schöne Einfamilienhäuser. Für größere gesundheitliche Probleme gibt es ein Krankenhaus im Ort. Zudem ist die Infrastruktur des Ortes mit mehreren Ärzten, Banken, Hotels, Restaurants und einem großen Einkaufscenter, »Tesco«, als sehr gut zu bezeichnen. Mir fällt nichts ein, was man vermissen könnte. Nun ein paar Details zum Studium: Ich war in den von mir gewählten Studienfächern und in dem für mich in Frage kommenden Studiensemester der einzige Student aus dem Ausland und hatte deswegen mit den Professoren einen »one-to-one«-Unterricht. Im Fachbereich Tourismus wählte ich die Kurse »Market Research in Tourism« und »Tourism and Hospitality Marketing«. Meine anderen beiden Kurse waren »Unternehmensführung« und »International Economics and Antitrust« im Fachbereich Betriebswirtschaft und Volkswirtschaftslehre. Zudem besuchte ich die Gastvorlesung von Prof. Zwerenz von der FH München zum Thema »SPSS in der Praxis«. Für einen qualifizierten Schein musste entweder ein Essay geschrieben oder eine mündliche Prüfung abgelegt werden. Freiwillig nahm ich sporadisch an Kursen des Fachbereichs English-Teaching – über amerikanische und englische Geschichte – teil, da mich dies privat auch interessierte. Bezogen auf mein Studium habe ich die belegten Kurse erfolgreich abgeschlossen und konnte durch eine Verlängerung des Studiensemesters mit meiner Diplomarbeit über »Projektmanagement in der 139 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 140 CHRISTOPH THALHAMMER CHRISTOPH THALHAMMER Ich bin mir sicher, dass diese – wohl etwas außergewöhnliche – Wahl bei vielen Gesprächspartnern und Personalverantwortlichen im Gedächtnis geblieben ist und unter anderem ein ausschlaggebender Grund für meine jetzige Anstellung war. 140 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 141 UNGARN Marktforschung anhand eines praxisorientierten Beispiels« beginnen. Dabei befragte ich mit anderen Studenten aus drei verschiedenen Universitäten rund um den Balaton insgesamt 2500 Touristen in 6 verschiedenen Sprachen, um das Tourismusverhalten am Plattensee zu erforschen. Die Befragung wurde von einem Marktforschungsinstitut in Balatonfüred, das für den staatlichen Entwicklungsrat arbeitet, gefördert. Das Semester in Ungarn hat mir sehr gut gefallen, da ich viele interessante Leute kennen gelernt habe und mich die einfache, aber dennoch glückliche Lebensweise der Ungarn persönlich bereichert hat. Leider sind die Abschluss- und Anrechnungsmöglichkeiten bei ERASMUS-Auslandssemestern in Osteuropa sehr begrenzt. Als ich mich nach Beendigung des Studiums um einen Arbeitsplatz beworben habe, bin ich in Vorstellungsgesprächen immer wieder gefragt worden, wieso ich mich für einen Auslandsaufenthalt in Ungarn entschieden habe. Ich bin mir sicher, dass diese – wohl etwas außergewöhnliche – Wahl bei vielen Gesprächspartnern und Personalverantwortlichen im Gedächtnis geblieben ist und unter anderem ein ausschlaggebender Grund für meine jetzige Anstellung war. Bei meinem ersten Arbeitgeber nach dem Studium betreute ich als Länderreferent mehrere Beteiligungsgesellschaften in Osteuropa und habe unsere dortigen Kollegen bei der Neukunden-Akquise und dem Umsatzaufbau in den neuen osteuropäischen Märkten – speziell nach Öffnung der europäischen Grenzen – unterstützt. Auch absolviere ich momentan – neben meiner beruflichen Tätigkeit als Vertriebsmitarbeiter eines der weltweiten Marktführer im internationalen Lampengeschäft – in Teilzeit ein Executive MBA-Programm mit einem Auslandsmodul in Asien. Den Reiz, etwas Neues anzugehen, werde ich hoffentlich nie verlieren. Bereut habe ich es bislang nicht. 141 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 142 SONJA MIEKLEY SONJA FRIEDERIKE MIEKLEY, GEB. 1983 IN STUTTGART-BAD CANNSTATT. BACHELOR IN EUROPEAN STUDIES AN DER UNIVERSITÄT MAGDEBURG. ERASMUS-AUFENTHALT: FEB–AUG 2003 AN DER ST. KLIMENT OHRIDSKI UNIVERSITÄT SOFIA, BULGARIEN. 142 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 143 BULGARIEN Ein Semester in Bulgarien – oder wie man Dinge des alltäglichen Lebens zu schätzen lernt Nachdem ich bereits in der zehnten Klasse ein Jahr im Ausland verbrachte, war der Gedanke, im Studium für ein Semester ins Ausland zu gehen, naheliegend. Wegen meines Studienschwerpunktes fiel die Wahl auf Bulgarien. Die Uni Magdeburg hatte zwar schon sehr lange ERASMUS-Verträge mit der Uni Sofia, jedoch wurden diese nur einseitig von bulgarischer Seite genutzt. So ging ich als erste Deutsche der Uni Magdeburg für ein Semester nach Sofia. In Sofia sieht der Studiengang European-Studies kein Auslandssemester vor. So traf ich dort auf Mitarbeiter im ERASMUS-Büro, die sich wunderten, dass eine Deutsche zum Studieren nach Sofia kommt. Das ERASMUS-Büro war generell eher auf Bulgaren, die ins Ausland wollten, spezialisiert und war deshalb mit Fragen zur Aufenthaltsgenehmigung in Bulgarien genauso überfragt wie ich selbst. Des Weiteren traf ich auf einen Wohnheim-Direktor, der nur DialektBulgarisch sprach und sich keine Mühe gab, daran etwas zu ändern. Und auf viele Bulgaren, die sich wunderten, dass ich als Deutsche aus dem Land, das einer der Träume aller Bulgaren ist, aus einem der Traumländer also, nach Bulgarien zum Studieren und nicht zum Urlaub ans Schwarze Meer komme. Dass die Organisation eines Semesters in Bulgarien so schwer sein könnte, hatte ich mir nicht vorstellen wollen. Die Probleme begannen schon bei den ersten Emails, die ich an die Professoren dort schrieb, 143 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 144 SONJA MIEKLEY denn mein Computer konnte die kyrillischen Schriftzeichen nicht direkt entschlüsseln, und so war dies schon eine erste Herausforderung. Mein Bulgarisch steckte nach drei Semestern noch in den Kinderschuhen. Nachdem ich das Problem der Entzifferung der kyrillischen Buchstaben gelöst hatte, kam das Problem, die jeweiligen Wörter im Wörterbuch zu suchen und zu verstehen, was in der Email steht. Die Beantragung des Visums machte einen persönlichen Besuch in der Botschaft in Berlin nötig. Die Erteilung des Visums war ein Geduldsspiel, und die bulgarische Botschaft (die ja eine Behörde ist) brachte mich schier zur Verzweiflung bei Nachfragen am Telefon. Drei Tage vor Abflug hatte ich dann auch meinen Pass mit dem dazugehörigen Visum. Die Verlängerung des Visums bei den bulgarischen Behörden glich einem zweimonatigen Marathon, den ich niemandem wünsche. Denn bulgarische Behörden-Formulare sind selbst für jemanden, der die Sprache etwas besser beherrscht, eine große Herausforderung, da man die amtlichen Abkürzungen für Grenzkontrollpunkt etc. nicht im normalen Sprachkurs lernt. Den Tag, an dem ich endlich meine Aufenthaltsgenehmigungs-Karte in der Hand hielt, werde ich nicht vergessen. Heute, nach dem EU Beitritt Bulgariens, sollten diese Geschichten der Vergangenheit angehören, auch wenn die Behörden nicht sehr viel moderner sind als vor vier Jahren. Nachdem diese und einige weitere Probleme mit Hilfe meiner Bulgarischlehrerin in Magdeburg gelöst wurden, machte ich mich im Februar 2003 auf den Weg nach Bulgarien. Dort angekommen, habe ich erst mal feststellen müssen, dass ich fast nichts verstand und dass es sehr kalt war. Dies war unter anderem auch deshalb der Fall, weil in Bulgarien die Heizkosten verhältnismäßig hoch sind und deshalb daran sehr gespart wird. Die Heizung im Studentenwohnheim funk- 144 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 145 BULGARIEN Der Wohnstandard und auch die sanitären Standards sind dort zwar weit unter unserem westlichen Niveau, aber ich habe dies gemacht, um das bulgarische Studentenleben kennen zu lernen. SONJA MIEKLEY 145 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:40 Uhr Seite 146 tioniert auch nur vom 1. November bis 15. März, egal wie warm oder kalt das Wetter ist. Da lernt man Wollsocken, Wollpullover etc. zu schätzen. Das Sprachproblem löste sich mit der Zeit und der Teilnahme am Sprachkurs Bulgarisch für Ausländer (jeden Tag vier Stunden). Im Anschluss an diesen Kurs hatte ich noch meine ›normalen‹ UniVeranstaltungen, in denen ich schnell Anschluss an Bulgaren fand. Sehr gewöhnungsbedürftig war für mich der weniger geordnete Ablauf der Lehrveranstaltungen; so kamen und gingen meine Kommilitonen, wann sie wollten. Auch wenn ich anfangs sehr viele Probleme beim Verstehen und natürlich beim Notizen-Machen hatte (da meine Vorlesungen komplett auf bulgarisch waren), habe ich doch sehr viel gelernt in diesem Semester. Den Großteil dessen habe ich zwar aus den von den jeweiligen Professoren zu diesem Thema 146 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:41 Uhr Seite 147 herausgegebenen Büchern gelernt, doch setzte bei einigen Abschnitten ein gewisser ›Wiedererkennungseffekt‹ des in den Vorlesungen Gehörten ein. Bei den Prüfungen am Ende des Semesters habe ich nicht von meiner Option, auf Englisch geprüft zu werden, Gebrauch gemacht, da ich die Fachbegriffe wie Rechtspersönlichkeit etc. eher auf bulgarisch als auf englisch wusste. Für mich sehr komisch war allerdings, dass die Prüfungen unter anderem auch sonntags stattfanden. Des Weiteren wird zu Beginn des Semesters ein Aufgabenblatt mit Fragen ausgeteilt. Dies sind die möglichen Prüfungsfragen, die in der Prüfung gestellt werden können. (Gut, wenn man weiß, dass genau dieses Blatt wichtig ist!) Entgegen meinem ursprünglichen Wunsch wurde ich in einer bulgarischen Familie untergebracht. Um mehr mit anderen Studenten in 147 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:41 Uhr Seite 148 SONJA MIEKLEY Kontakt zu kommen, bin ich dort im Stadtzentrum ausgezogen und in die Studentenstadt Studentskigrad am Stadtrand gezogen. Hier befindet sich ein Großteil der Studentenwohnheime aller sofioter Universitäten und Hochschulen. Der Wohnstandard und auch die sanitären Standards sind dort zwar weit unter unserem westlichen Niveau, aber ich habe dies gemacht, um das bulgarische Studentenleben kennen zu lernen. So teilten wir uns zu dritt eine Zwei-Zimmer Wohnung mit einer eingebauten Spüle (aber ohne Kühlschrank und Herd!), wurden aber mit einer unverbauten Sicht auf das VitoschaGebirge und die klare Luft am Gebirgsfuß entschädigt. Die Wohnung war spartanisch eingerichtet; es gab für jeden ein Bett, Tisch und Stuhl, und ich war froh, meinen eigenen dicken Schlafssack mitgebracht zu haben. Im Sommer während der alljährlichen Wartungsarbeiten gab es für sechs Wochen nur kaltes Wasser. Dies macht erfinderisch und trägt zur Kommunikation bei; denn wie bekommt man täglich warmes Wasser zum Duschen? Die Bulgaren, die schon länger in Studentskigrad wohnten, hatten so einige Tipps und Tricks auf Lager. Die Dichte der Läden, die rund um die Uhr geöffnet sind, Internetcafés, Kneipen und Restaurants, ist in diesem Stadtteil allerdings so hoch wie nirgendwo sonst in Sofia. Dank der vielen »99-PfennigLäden« hatte ich mir schnell einen Haushalt eingerichtet, der den mir folgenden Magdeburger ERASMUS-Studenten zur Verfügung stand. Mein Umzug nach Studentskigrad wurde mir durch die häufig verkehrenden billigen öffentlichen Verkehrsmittel sehr erleichtert. Mit dem städtischen Nahverkehr gelangt man von dort aus in 15 Minuten an die Talstation der Seilbahn in die Ski- und Gipfelregion des Vitoscha-Gebirges. In der Freizeit kann man in Bulgarien viel unternehmen; so bin ich mit einigen anderen ERASMUS-Studenten an den Wochenenden quer durchs Land gereist und habe sehr viele historische Stätten, das 148 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:41 Uhr Seite 149 BULGARIEN Rosenfestival (ein großes Fest zu Beginn der Rosenernte für die bulgarische Rosenölherstellung) und das Schwarze Meer erlebt, aber auch ab und zu einen Blick über Bulgariens Grenzen hinweg geworfen. Leider waren wir bei diesen Ausflügen meist nur Ausländer, da sich die Bulgaren trotz der für Westeuropäer günstigen Preise solche Ausflüge finanziell nicht oft leisten können. So habe ich viele Teile Bulgariens gesehen, die die meisten Bulgaren nur aus Geschichtsbüchern etc. kennen. Bei unseren vielen abendlichen Unternehmungen, seien es Opern-, Theater- oder Diskothekenbesuche, wurden wir jedoch meist von unseren bulgarischen Freunden begleitet. Ohne meine Erfahrungen während des Studiums hätte ich mir wahrscheinlich ein Praktikum in Sofia nicht vorstellen können, welches zu meiner ersten Anstellung führte. Ich möchte die schöne Zeit nicht missen, in der ich sehr viele neue Kontakte geknüpft habe, viel durch das Land gereist bin, viel gesehen habe, wodurch mir Bulgarien und die Mentalität der Leute vertraut und einige Eigenarten bekannt geworden sind. 149 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 S Z Y M O N KO WA L S K I 150 10:41 Uhr Seite 150 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:41 Uhr Seite 151 DEUTSCHLAND Internationale Freundschaften bauen die Zukunft Am 5. Dezember 2003 hat die Geschichte angefangen. Ich kann mich noch heute genau an das Datum erinnern. Ich saß damals mit meinen Freunden im Korridor der Universität in Krakau. Es war schon sehr spät und wir warteten auf die mündliche Prüfung. Alle waren schon sehr müde und verzweifelt. Draußen herrschte Winter, es war sehr kalt und schon lange Zeit dunkel. Auf dem Korridor konnte man meist nur Gespräche über Prüfungen und zukünftige Karrieren hören. Auf einmal haben wir gemeinsam mit meinen Freunden festgestellt, dass wir noch zu jung sind und noch etwas erleben wollen, bevor wir uns Sorgen um Familie und Arbeit machen. So ist die Idee, ins Ausland zu fahren und dort zu studieren, entstanden. Wir waren vier, und jeder von uns wollte in anderes Land fahren. Wir haben uns erkundigt, was es für Möglichkeiten gibt, um im Ausland zu studieren. So sind wir auf das ERASMUS-Programm gekommen. Ich habe mich für Deutschland entschieden. Es war kein Zufall, dass ich dieses Land gewählt habe. Als siebenjähriges Kind war ich zwei Jahre in München, wohin mein Vater zu Forschungszwecken mit seiner Familie, also auch mit mir übergesiedelt war. Dort habe ich die deutsche Grundschule besucht und habe den ersten Kontakt zu Deutschland, deutscher Kultur und den Menschen gehabt. Nach so vielen Jahren wollte ich als erwachsener, voll bewusster Mensch wieder nach Deutschland fahren. 151 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:41 Uhr Seite 152 S Z Y M O N KO WA L S K I So ist die Idee entstanden, dort als ERASMUS-Student zu studieren. Im Mai 2004 war schon klar, dass ich in Deutschland als ERASMUSStudent studieren werde. Es sollte die Hochschule (FH) in Mittweida in Sachsen sein. Der Ort war mir überhaupt nicht bekannt, aber voller Optimismus und mit ein bisschen Angst, was auf mich dort wartet, bin ich im September nach Mittweida gefahren. Über Deutschland und deutsche Kultur wusste ich schon damals ziemlich viel. Ein bisschen aus der Zeit, als ich als kleiner Junge in Deutschland lebte. Ziemlich viel habe ich auch im Goethe-Institut in Krakau gelernt. Aber alle Informationen über Deutschland waren entweder aus der Zeit, als ich klein war, oder es waren Informationen aus den Büchern oder von anderen Menschen. Deswegen sollte meine Reise für mich ein großes Ereignis und eine Herausforderung sein. Anfang September war ich schon in Mittweida, wo ich an einem Sommersprachkurs teilgenommen habe. Mittweida ist eine Studentenstadt; denn als ich dort Anfang September angekommen bin, war fast kein Mensch zu sehen. Die deutschen Studenten waren noch zuhause und sollten erst im Oktober kommen. Die ersten Leute, die ich auf dem Weg ins Wohnheim getroffen habe, waren sehr offen und hilfsbereit. Schnell habe ich mit Hilfe von Leuten aus Mittweida das Wohnheim, wo ich wohnen sollte, gefunden. Also das erste Problem wurde sehr schnell gelöst. »Jetzt beginnt mein großes Abenteuer« – , so waren meine ersten Gedanken, nachdem ich meine Sachen ausgepackt habe. »Aller Anfang ist schwer« – lautet ein deutsches Sprichwort. Es ist auch wahr. Es ist alles am Anfang neu, die Leute, die Umgebung, die Sprache. Man weiß nicht, womit man anfangen soll. Wenn man so viel Glück wie ich hat und schnell Leute trifft, die den Menschen helfen, dann ist es nicht so schwer. Schon in den ersten Tagen habe ich viele andere ausländische Studenten kennen gelernt. Von Anfang an haben wir uns richtig gut 152 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:41 Uhr Seite 153 verstanden. Obwohl manche von uns nicht so gut deutsch sprechen konnten, haben wir immer eine gemeinsame Sprache gefunden, um uns zu verstehen. Nach weniger als zwei Wochen waren wir schon eine richtige große ›Mittweida-Familie‹. Wir waren fast 24 Stunden pro Tag zusammen. Wir haben gemeinsam gekocht, gelernt, gefeiert. Jeder war ein Teil der Familie. Es waren Leute aus Polen, Spanien, Rumänien, Deutschland, Frankreich und Tschechien, und jeder fühlte sich fast wie zuhause. Dadurch dass wir eine große ›internationale Familie‹ waren, konnten wir viel über Länder und Kultur der anderen lernen. Jeder von uns war anders, hatte andere Erfahrungen, eine andere Kultur, eine andere Religion, andere Probleme, sprach eine andere Sprache; aber wir waren eine große Gruppe, für die Deutschland die zweite Heimat war. Hier haben wir uns getroffen, hier wohnten wir und hier haben wir gemeinsam das Leben geführt. Es waren keine Grenzen zwischen uns. 153 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:41 Uhr Seite 154 S Z Y M O N KO WA L S K I Von großer Bedeutung dafür, dass wir so gut uns verstanden haben, war vor allem die Hochschule in Mittweida und insbesondere Frau Marion Dienerowitz. Sie hat uns gezeigt, dass es keine Grenzen zwischen Ländern gibt, dass man gemeinsam viel Gutes machen kann, dass man einfach tolle Freunde auf der ganzen Welt finden kann. Der Kontakt mit den deutschen Studenten war auch intensiv. Aus Erzählungen von meinem Freunden, die früher in Deutschland studiert haben, habe ich gehört, dass man viel Zeit braucht, um in eine deutsche Gruppe reinzukommen. In Wirklichkeit war es nicht so schwer. Natürlich musste man am Anfang das Klischee von Polen besiegen. Leider haben überall auf der Welt die Medien eine große Macht und zeigen meistens die schlechten, negativen Sachen über bestimmte Länder und Leute. Zum Glück konnten wir durch die Möglichkeit, im Ausland zu studieren, die negativen Vorstellungen ändern und die anderen Länder von anderer Seite, als die Medien sie bieten, zeigen. So sind auch große Freundschaften zwischen uns und den deutschen Studenten entstanden. Aber ich bin als ERASMUS-Student nicht nur nach Deutschland gefahren, um dort Freunde zu suchen und die internationale Kultur kennen zu lernen. sondern auch oder vor allem, um dort zu studieren. Von dem Studium in Deutschland hatte ich überhaupt keine Ahnung. Jetzt kann ich sagen, dass das Studium in Deutschland wesentlich anders als in Polen aussieht. In polnischen Universitäten oder Hochschulen legt man großen Wert auf das theoretische Wissen. Im Unterschied dazu lernt man an den deutschen Hochschulen mehr praktische Sachen und man bereitet die Studenten auf die Arbeit in der Industrie vor. Viele deutsche Firmen arbeiten zusammen mit den Studenten. Man realisiert gemeinsam verschiedene Projekte. So eine Art von Lernen ist in Polen leider immer noch sehr selten. Im Unterschied zu 154 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:41 Uhr Seite 155 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:41 Uhr Seite 156 S Z Y M O N KO WA L S K I den deutschen Universitäten ist die Teilnahme an der Vorlesung in Polen Pflicht. Einen sehr großen Einfluss auf mein zukünftiges Leben und mein Verhalten hatte der Rhetorikkurs, den ich während des Studiums in Deutschland besucht habe. Der Rhetorikkurs war vor allem an der Praxis orientiert. Es wurden verschiedene Techniken vermittelt und eingeübt, die für das öffentliche Sprechen hilfreich sind. Besonders freies Sprechen, die Bewältigung von Redeangst, die Mimik und Gestik waren die Schwerpunkte, die mir später bei Vorstellungsgesprächen viel geholfen haben. Durch die Teilnahme habe ich auch die Angst, vor vielen Leuten zu sprechen, verloren. Schon heute kann ich als Mitarbeiter einer deutschen Firma den Einfluss des Aufenthalts auf mein Berufsleben gut beurteilen. Als ERASMUS-Student hatte ich nicht nur die Möglichkeit, in Deutschland zu studieren, sondern ich habe auch gelernt, die Leute besser zu verstehen. Die internationale Gruppe, die verschiedenen Kulturen haben mir geholfen, breiter auf die Welt zu schauen. Alle diese Erfahrungen haben mir auch Mut gegeben, die Welt besser zu erkennen und besser zu verstehen. Jeden Tag habe ich jetzt Kontakt zu den deutschen Arbeitskollegen. Wir verstehen uns sehr gut. Mit vielen sind auch Freundschaften entstanden. Ich bin sicher, dass mein Aufenthalt in Deutschland als ERASMUS-Student großen Einfluss darauf hatte. Ich habe auch gelernt, dass man vor Klischees, die über ein Land existieren, keine Angst haben soll. Man soll durch positives Verhalten Freundschaften mit den Leuten aufbauen. Meine Freunde sagen auch, dass ich jetzt (endlich) selbstsicherer geworden bin. Es ist bei mir also etwas Positives zu erkennen. Früher wurde ich als kleiner, verlorener Junge gesehen. Jetzt weiß ich genau, was ich vom Leben will. Das habe ich auch dem ERASMUS-Programm zu verdanken. 156 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:41 Uhr Seite 157 Die Zeit als ERASMUS-Student hat mir geholfen, die Welt positiv zu sehen, obwohl es manchmal schwer ist. Dieses positive Denken ist mir jetzt bei der Arbeit und auch im privaten Leben sehr behilflich. Viele Probleme kann man durch Offenheit gegenüber der Welt und den Menschen lösen. Diese Eigenschaft in mir hat der Aufenthalt in Deutschland als ERASMUS-Student gefördert. Jetzt weiß, ich dass man die Probleme nicht unbedingt allein lösen soll, sondern daß man Freundschaften pflegen muß, dann kommt die Hilfe bei Problemen von alleine. Das Abenteuer in Deutschland hat meine Persönlichkeit gebildet. Wenn jemand ein unwiederholbares Abenteuer erleben will, wo er richtige Freunde treffen kann und wo seine Persönlichkeit entdeckt und gebildet wird, dann kann ich das ERASMUS-Programm mit voller Verantwortung empfehlen. 157 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 Leonie Neumann, geb. 1982 in Nürnberg. Diplom in Textildesign an Burg Giebichenstein, Hochschule für Kunst und Design Halle, Halle (Saale). ERASMUS-Aufenthalt: Oktober 2005–April 2006 an der Mimar Sinan Fine Arts University, Istanbul, Türkei. 10:41 Uhr Seite 158 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 159 TÜRKEI Erfahrungen eines langen türkischen Winters Wo Orient und Okzident zusammenkommen, Ost und West, Islam und Christentum, da muss alles ganz besonders sein – das ist das hartnäckigste Vorurteil über Istanbul. Der Wirklichkeit begegnete ich dort in sieben Monaten: Der Winter ist lang, der Alltag hart und jeder macht sein Ding. Den Reiz dieser chaotischen 20-Millionen-Stadt, muss man suchen. Er liegt in ihren Dreckecken und in ihrem Kitsch, in ihrer Depression und ihrer Unvollkommenheit. Was man auf der Suche findet, verwirrt und fasziniert im gleichen Moment: Politiker, die trotzig wider sichtbare Tatsachen die moderne Türkei verkünden, während eine Lebenskultur dominiert, die in den Traditionen des Islam wurzelt. Dazu kommt unreflektierter Nationalismus, und die Lebensrealität der vielen einzelnen schließlich mäandert auf verschlungenen Bahnen zwischen all dem hin und her. Mein siebenmonatiger ERASMUS-Aufenthalt in Istanbul war eine genauso spannende und inspirierende wie anstrengende Zeit. Die Orientierung in einer visuell ganz andersartigen Umgebung voller interessanter Materialkontraste und ungewohnter Architektur war für mich als Textildesign-Studentin sehr reizvoll. Auf der Suche nach Spuren textiler Kultur und Geschichte im Mutterland von Samt und Seide stieß ich in Museen, kunsthandwerklichen Sammlungen und Antiquitätenbasaren auf meisterhafte Zeugnisse. Verwundert nahm ich daher die uneingeschränkte Gläubigkeit in die 159 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 160 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 161 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 162 LEONIE NEUMANN Zukunft billiger Massenproduktion an meiner Gasthochschule zur Kenntnis. Einen Kulturraum kennen zu lernen, in dem Textilien traditionell eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wird, war der fachliche Beweggrund für ein Auslandssemester in der Türkei gewesen. Wie sehr Farben und Muster die kulturelle Bindung von Menschen auszudrücken vermögen, wurde in Istanbul besonders deutlich für mich erkennbar: Eine große Mehrheit der Bevölkerung lebt seit weniger als einer Generationen erst in der Stadt. Fast jeder ist Zugezogener; vielen Neu-Istanbulern gilt es, die kulturelle Identität der kleinasiatischen Provinzen im Großstadt-Alltag zu bewahren, auch über die Dinge des täglichen Gebrauchs. Vom Mitteleuropäer sofort als gnadenloser Kitsch Empfundenes macht aus türkischer Sicht ein Heim oft erst wohnlich. Teppich, Tischtuch und Teekanne sind immer gemustert und bilden einen farbenfrohen Anblick. Der ungezwungene Umgang mit tausend und einem Muster, die völlig sorglose Kombination von allem und jedem miteinander prägt die Schaufenster und Märkte, die Wohnzimmer, die ganze Stadt. In diesem Umfeld entdeckte ich für mich darstellende Muster: Während meines bisherigen Studiums waren mir diese fremd gewesen, für den Gebrauch in Deutschland erschienen sie mir als ungeeignet und austauschbar. Dass gemusterte Stoffe Menschen mehr bedeuten können als ein bisschen modischen Chic, die Erinnerung an eine vergangene Heimat zum Beispiel oder den Traum von etwas Grün zwischen sieben Hügeln aus Beton, lernte ich in Istanbul. Ich belegte also Kurse im Musterentwurf, hantierte mit Hellblau, Ocker und Grün gleichzeitig und setzte schließlich einen Entwurf als sechsfarbigen Siebdruck um. Bemerkenswert ist das vor allem, weil den Werkstattkapazitäten an der Mimar Sinan Universität mit der Umschreibung als ›begrenzt‹ bereits geschmeichelt wäre: im Fachbereich Textildesign gab es für die vielen Studenten – dreißig neue pro Semester 162 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 163 TÜRKEI im Vergleich zu den sechs, die an meiner deutschen Hochschule pro Jahr zugelassen werden – einen einzigen Tisch zum Drucken. Umso glücklicher war ich, trotz der beengten Verhältnisse und ohne Computer meinen Entwurf umsetzen zu können. Der autoritäre Umgangston an der Uni, der es gebot, selbst unsinnige Aufgabenstellungen nicht zu hinterfragen, und die kurzen Öffnungszeiten der Uni, die auf eine politische Kontrolle über studentische Aktivitäten abzielte, stellten für effektives Arbeiten eine große Einschränkung dar. Also beschränkte ich meinen Aufenthalt dort auf ein sinnvolles Maß und zog viel mit der Kamera herum. Fasziniert von den Extremen der überfüllten Stadt, stieß ich auf meinen Erkundungswegen immer wieder auf unglaubliche Ansichten. Die verstopften Strassen mit ihren hunderte Meter langen Pfützen, die schwarzen Abgaswolken, die aus den Schornsteinen der BosporusFähren quellen und die im nasskalten Winter verrottenden Holzhäuser sind typische Eindrücke meines Alltags in Istanbul. Alternde Infrastruktur, die noch ältere überwuchert, schafft eine einzigartige Patina, in der Neues schon fast frivol wirkt. Menschen, die allabendlich mit müden Gesichtern in überfüllten Bussen wie moderne Karawanen durch die Stadt schaukeln, die blondierten Schönen, die im Gucci-Viertel mit Kreditkarten aus den Taschen ihrer LeopardenMäntel hantieren, während in der Parallelstraße in einer illegal erbauten Siedlung aus schiefen Hüttchen, die von nasser Wäsche und Familienmitgliedern überquellen, der Rauch von Holzkohlen steigt; das waren Themen, die mich zu vielen Fotografien inspirierten. Auf dem täglichen Heimweg durch ein Markt-Viertel sammelte ich die Seitenwände zerlegter Obst- und Gemüsekisten. Im Hochschulkurs »Textilkunst« verbaute ich diese zu einer Installation. Etwas, das für die Händler nur Müll ist, wurde durch Rekombination und Hängung zu etwas Neuem. Das gebrauchte, teilweise verschmutzte Holz 163 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 164 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 165 TÜRKEI mit den farbenfrohen Aufdrucken spiegelte in seiner Neuordnung im Flächenzusammenhang die eigentümliche Schönheit türkischer Marktkultur wider. Die Kommilitonen waren von meiner Idee überrascht, von dem fertigen Objekt aber doch angetan. Zum »AbfallSammeln« war ich mehr inspiriert als zur Anfertigung romantischer Zeichnungen – Istanbul ist ja auch nur in raren oder konstruierten Momenten im idyllischen Sinne ›schön‹. Im Fachbereich »Traditionelles Kunsthandwerk« wählte ich Kurse im »Klassischen Marmorieren«: Hier lernte ich viel über die unendliche Vielzahl osmanischer Ornamente und filigraner Muster, die sich als Folge des Bilderverbots ausgeformt hatten. Außerdem studierte ich verschiedene Techniken des Teppich-Knüpfens – jedem Türkeiklischee entsprechend. Seltsamerweise fand ich den passenden Kurs im Fachbereich Kunst, das Textildesign fühlte sich für sämtliche Aufgaben außerhalb der Gestaltung von Mode-Stoffen nicht zuständig. In der Kunst wiederum war man auf bildhafte Tapisserien-Weberei eingestellt, so dass es mich Überredungskunst kostete, kostbare Wolle dafür verwenden zu dürfen, banale Noppen-, Lücken- und Wellenstrukturen auszutesten, anstatt etwa ein monumentales Angela-MerkelPorträt zu weben. Die Erforschung traditioneller Techniken zur Erzeugung neuer Ausdrucksweisen, also der analytischen Auffassung des Bauhauses und meiner deutschen Ausbildungsstätte zu folgen, half mir sehr, mich in den zwiegespaltenen ideologischen Auffassungen über alt und neu und Tradition und Moderne zu bewegen, die Kunst und Design in der Türkei zur Zeit vereinnahmen. Im Kurs für »Modestoff-Weberei« im Fachbereich Textildesign dagegen war Wolle kein Thema. Oberflächen-Experimente am TastenWebstuhl sollten auf jeden Fall unter Einbeziehung bunter »EffektFäden« stattfinden, etwas, das ich vermutlich nie von allein angefasst hätte. Schon der Ausflug mit den türkischen Kommilitonen zum 165 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 166 LEONIE NEUMANN Einkauf auf dem »Faden-Basar« war es aber wert: Dort saßen Menschen in den Galerien und im Innenhof plaudernd vor Ständen voller bunter Garnknäueln beisammen und wickelten von Hand Fäden von großen auf kleine Spulen. Gerade hatten sie erkannt, dass der aktuelle Stromausfall einer von den längeren zu sein schien und dass die Spulmaschinen noch ein Stündchen still stehen würden. Zwischen Gejammer über die Politik und Klatsch über die Nachbarn wurde Tee gereicht, die Pop-Songs aus den Radios schwiegen, und ein paar Sonnenstrahlen verliehen dieser mitten am Tag plötzlich entstandenen Ruhepause etwas von einer Oase. Die Weberei-Aufgabe macht mir am Ende viel Spaß, besonders wegen der Gesellschaft meiner neugierigen und lieben türkischen Kommilitonen. Diese versuchten nicht nur, mir den Webstuhl vor meiner Nase und das Phänomen Istanbul zu erklären, sondern auch die komplizierten Machtverhältnisse an türkischen Hochschulen. Die Erfahrung, herzliche Freundschaften über kulturelle Unterschiede hinweg zu schließen, bedeutet mir viel und entschädigt für viele Unannehmlichkeiten, mit denen ich als Austauschstudentin in der Türkei konfrontiert war. Korruption und Unberechenbarkeit der Hochschulbürokratie machten es etwa unmöglich, einen Studentenausweis und die damit verbundenen finanziellen Vorteile zu erhalten. Die Ausstellung einer simplen Studienbescheinigung, deren Fehlen vom deutschen Auslands-Bafög-Amt mit Nichtauszahlung der monatlichen Rate sanktioniert wurde, erforderte einen wochenlangen, kraftraubenden Kampf. In zahllosen Diskussionen mit einer völlig resignierten türkischen Auslands-Sekretärin, die in allen Angelegenheiten nur müde eine Stufe nach oben verwies, erweiterte ich nicht nur mein Vokabelfeld »Beschweren«, sondern lernte fürs Leben, wie allumfassend Hierarchien lähmen, die längst zum Selbstzweck geworden sind. Negativ war außerdem das kommentarlose Ausbleiben jeder 166 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 167 TÜRKEI Hilfe bei der Suche nach einer Unterkunft auf dem verstopften Mietmarkt Istanbuls. Die wenigen ERASMUS-Studenten der Uni sind allein jedoch der hemmungslosen Abzocke ausgeliefert, die Ausländern gegenüber am Bosporus grassiert. Fantasie-Mietpreise und etliche Begegnungen der dritten Art während der Suche nach bezahlbarem Wohnraum in zweifelhaften Stadtteilen waren die Folge, der gesamte Aufenthalt wurde verkompliziert. Umso stolzer war ich, selbst ein Zimmer gefunden und mir in sieben Monaten einen Weg durch das kulturelle und moralische Dickicht Istanbuls gebahnt zu haben. Ich bewundere den Balanceakt, den junge Leute dort täglich zwischen den Ansprüchen nach Bildung einerseits und einem traditionellen und sehr wenig auf den einzelnen als Individuum bezogenen Familiengefüge andererseits vollführen müssen, stets hin und her gerissen zwischen Weltoffenheit und nationalistischem Reflex. Als Ausländerin zu leben, ist anders, lernte ich. So sehr ich die Gastfreundschaft meiner Freunde genoss, die mich sogar zu Familienfesten wie dem Zuckerfest zum Ende der Fastenzeit einluden, so verhasst waren mir die ständige männliche Anmache und die dummen Vorurteile, die viele Türken über unsere Kultur haben. Den Wert von Bildung für den fairen Umgang miteinander im Alltag, ihren zivilisatorischen Effekt auf den einzelnen, lernte ich vor allem dadurch kennen, dass sich in Gesichtern voller Gier und Abscheu vor »westlicher Morallosigkeit« keine Spur davon fand. Die Fähigkeit zu differenzieren und sachlich zu argumentieren, selbst dann noch, wenn es um Politik oder Geschichte geht, sehe ich nach meinem Auslandssemester nicht mehr als selbstverständlich an. Sprachkenntnisse, erfuhr ich, öffnen einem die Türen zu den Herzen anderer Menschen: Der Gemüseladenbesitzer, die alte Dame auf dem Nachbarplatz im Bus, jeder war verblüfft über mein bisschen Türkisch. Viele interessante und persönliche 167 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 168 LEONIE NEUMANN Gespräche begannen aus dieser Situation heraus. Wer der türkischen Sprache Aufmerksamkeit entgegenbringt, so erklärte man mir, tut das auch den Türken gegenüber. Tatsächlich wurde ich viel besser respektiert als ›sprachlose‹ Ausländer. Ein Wirt im überteuerten TouristenViertel fasste nach der Schrecksekunde darüber, dass ein dunkelblondes Mädchen seine Sprache konnte, den Sachverhalt so zusammen: »Du kannst türkisch? Dann kriegst Du natürlich Rabatt!«. In Istanbul leben Arme, Reiche, Religiöse und Atheisten in verschiedenen Stadtvierteln. Jeder versucht, so wenig wie möglich mit den anderen zu tun zu haben. Misstrauen prägt das Klima. Sobald es aber gelingt, zum einzelnen Menschen vorzudringen, ist die Neugier groß. Spricht man dann noch wider Erwarten türkisch, haben die Fragen kein Ende mehr: Was man als Ausländerin hier mache, an welcher Uni, warum, und überhaupt: »Wo ist eigentlich Deine Familie?« Ich lernte offene Neugier zu schätzen. Der reservierten Deutschen in mir wurde sie zwar manchmal zu viel, im anonymen Großstadtalltag brachte sie mich aber mit vielen Leuten und ihrer Sicht auf das Leben in Kontakt. Heute gehe ich selbst direkter mit Ausländern um. Die meisten freuen sich, ins Gespräch zu kommen und erzählen gern von ihrer Heimat, wie ich nun weiß. Mein Aufenthalt in der Türkei bot mir einen neuen Blickwinkel auf Europa – den von außen. Für die Türkei ist der schwierig: politisch sitzt sie zwischen allen Stühlen, verkeilt zwischen den Forderungen der EU und den religiösen Ideologien der Nachbarn Syrien und Iran. Junge Türken und Türkinnen leiden darunter, dass die von Europäern als selbstverständlich angesehene Freizügigkeit des Reisens für sie nicht gilt und sie sich mit überteuerten Visa und arroganten Konsulaten herumplagen müssen. Insgesamt hat mich mein Auslandssemester in der Türkei sehr bereichert, auch wenn es mich gelegentlich überforderte. Die autoritäre 168 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 169 TÜRKEI Ein Wirt fasste nach der üblichen Schrecksekunde darüber, dass ein dunkelblondes Mädchen seine Sprache konnte, den Sachverhalt so zusammen: »Du kannst türkisch? Dann kriegst Du natürlich Rabatt!«. LEONIE NEUMANN 169 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 170 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 171 TÜRKEI Struktur der türkischen Gesellschaft, die verschachtelte Kommunikation und die ständige nationale Selbstbeweihräucherung machten mir Probleme. Ich wurde zur aufmerksamen Beobachterin, auch meiner eigenen – deutschen – Identität. Deutsch-Sein war vorher ein vager Begriff gewesen. Fast hätte ich bestritten, dass an mir überhaupt etwas spezifisch deutsch sei. Seit ich weiß, wie viel mir kostenlose Bildung, Sozialsystem und Rechtsstaat und die Kultur der offenen Sachdiskussion bedeuten, ist er mir klarer. Inzwischen blicke ich mit liebevollen Augen auf mein Heimatland, die endlosen Selbstanalysen seiner Bewohner und seine schönen Bibliotheken, auf das also, was ich vermisst habe. Die Freiräume und die Förderung an meiner Hochschule weiß ich jetzt viel mehr zu schätzen, vor allem den Luxus von guter Ausstattung und von auf Augenhöhe mit dem Professor geführten Diskussionen. Die Zeit in der Türkei hat mich selbstbewusster und durchsetzungsfähiger gemacht und meinen Horizont für andere Kulturen erweitert. In der Zukunft wäre ich weiteren Auslandsaufenthalten nicht abgeneigt, langfristig sehe ich mein Leben aber im Land meiner Sprache und meiner Familie. 171 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 172 KATJA KORDELS Katja Kordels, geb. 1977 in Teheran/Iran. Dipl. Betriebswirtin (FH) an der Fachhochschule München. ERASMUS-Aufenthalt: Wintersemester 1999/00 an der Università di Bologna, Italien. 172 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 173 ITALIEN Tourismusmanagement in Rimini ERASMUS-Programm – ein Studiensemester an einer europäischen Austauschhochschule verbringen –, das passte genau zu mir, wie die Faust aufs Auge. Meine Entscheidung hatte wenig mit der Tatsache zu tun, dass potentielle Arbeitgeber Wert auf Auslandserfahrung legen könnten. Auch dass die Chancen auf ein Vorstellungsgespräch steigen könnten, weil es im Lebenslauf gut aussieht, wenn man mal im Ausland war, war nicht von besonderer Bedeutung. Nein, für mich war es der Auslandsaufenthalt an sich, die Konfrontation mit einem fremden Land, der Umgang mit neuen Menschen, ihrer Kultur und Sprache. Eine weitere Möglichkeit, die Lebenssituation an einem anderen Ort kennenzulernen, überzeugte mich davon, unbedingt am ERASMUS-Programm teilzunehmen. Der Wunsch, für einige Zeit ins Ausland zu gehen, wurde mir im wahrsten Sinne des Wortes bereits in die Wiege gelegt. Meine Eltern hielten sich zum Zeitpunkt meiner Geburt für drei Jahre im Auftrag einer großen deutschen Firma in Teheran auf. Von klein auf hatten wir Kontakt zu Familien und Personen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten und für einige Zeit im Ausland waren. Schnell war mir klar, daß es sich es um einen besonderen Menschenschlag handelt. Der Versuch, sich im Ausland zu integrieren und festzustellen, dass man trotz aller Bemühungen doch immer anders bleiben wird, prägt auf eine ganz besondere Weise. Man lernt Weltoffenheit, Toleranz und auch, die eigene Kultur zu hinterfragen, Selbstverständ- 173 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 174 KATJA KORDELS lichkeiten nicht mehr als solche hinzunehmen und viele Dinge mehr, die wohl allgemein als Horizonterweiterung beschrieben werden. Ich nehme an, dass potentielle Arbeitgeber eben diese Werte unter ihren Bewerbern suchen und dass sich deshalb ein Auslandsaufenthalt im Lebenslauf immer gut macht. Beim Tourismusmanagement-Studium lag es nahe, jede Möglichkeit zum Auslandsaufenthalt zu nutzen. Ein großer Teil aller Studenten entschied sich für eine spanische Hochschule. Spanisch sprach ich aber bereits fließend (nach einem neunmonatigem Aufenthalt in Buenos Aires direkt nach dem Abitur), also bot es sich an, die zwei theoretischen Jahre Italienisch als AW-Fach einem ersten Praxistest zu unterziehen, und ich entschied mich für die Universität von Bologna. Schnell merkte ich, dass sich die Kenntnisse unserer Professoren über die Partneruniversität in Grenzen hielten und niemand vor mir von unserer Hochschule nach Bologna gegangen war. Also war ich völlig auf mich alleine gestellt, um den Informationsbedarf und die Organisation abzudecken. Aber es ist Teil der Erfahrung, sich in bestimmten Situationen alleine zurecht zu finden und nach Lösungen zu suchen, anstatt auf die Hilfe anderer zu warten. Durch Zufall erfuhr ich während meiner Vorbereitungen, dass sich die Fakultät für Tourismusmanagement der UNIBO gar nicht in Bologna, sondern in Rimini befand; das ergab ja auch einen gewissen Sinn beim Studienfach Tourismus. Ich kann mir schwer ein besseres Gastland als Italien für das ERASMUS-Programm vorstellen. Die Menschen gehen vom ersten Augenblick auf einen zu (besonders die männlichen Exemplare) und man knüpft sofort Kontakt zu anderen Studenten und Studentinnen. Die Kenntnisse im Hinblick auf organisatorische Details waren auch bei den Zuständigen in Rimini sehr elementar, aber die italienischen 174 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:42 Uhr Seite 175 ITALIEN 175 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 176 KATJA KORDELS Kollegen überspielten die fehlende Kenntnis locker mit ihrem Charme und mit ihrer Gabe zur Improvisation. Meine Italienischkenntnisse waren zu Beginn noch nicht besonders gut, und am ersten Tag begleitete ich einige Kommilitonen, die ich soeben kennengelernt hatte, in eine Vorlesung, bei der ich nicht einmal das Thema verstand. Ich war froh darüber, dass ich beim Zusammenstellen meines Studienplans auf diese Vorlesung verzichten konnte. Einer der grundsätzlichen Unterschiede zwischen meiner Heimat- und der Gasthochschule war der Umfang der Kurse. So belegte ich normalerweise pro Semester bis zu zehn Fächer, in Italien lag ich mit drei Kursen im Durchschnitt, und die Woche war bereits gut ausgelastet. Ich war beeindruckt von der Qualität der Vorlesungen, von der ich mir auf Grund von Erfahrungen aus anderen Ländern in meinem Studienfach nicht allzu viel erwartet hatte. Das halte ich für einen weiteren Grund, Italien als besonders gut geeignetes ERASMUS-Gastland zu empfehlen. Ein weiterer Unterschied waren die mündlichen Prüfungen, es gab kaum schriftliche. Die Verbesserung meiner Sprachkenntnisse in wenigen Monaten kam mir ebenso zu Gute wie das Verständnis der Professoren für meine Situation, und somit konnte ich das Semester mit drei akzeptablen Noten abschliessen. Ich hatte mich inhaltlich mit sehr interessanten und wertvollen Dingen der Fachrichtung Tourismus beschäftigt. Während unsere Kurse in München die Themen eher breit angelegt behandelten, als in die Tiefe zu gehen, war es an dieser Hochschule umgekehrt. Somit entsprach der ERASMUS-Aufenthalt voll meinen Vorstellungen oder übertraf diese sogar. Fachlich hatte ich genauso dazugelernt wie auch die Möglichkeit genutzt, dasselbe Studienfach in einem anderen Umfeld zu betrachten. Trotz der kleinen Unterschiede erstaunte mich auch, wie ähnlich der Studienplan war. Das stärkte mein Vertrauen zum Studienfach, denn wenn sich die Studienpläne 176 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 177 ITALIEN in zwei unterschiedlichen Ländern derart ähneln, dann werden wir sicherlich mit diesem Studienplan bestmöglich auf das Berufsleben in der Branche vorbereitet. Das ERASMUS-Programm in Italien beeinflusste meine Berufswahl nicht direkt, aber die Erfahrung hilft mir bei der Arbeit in einem internationalen Umfeld in vielerlei Hinsicht. Seit dem Abschluss meines Studiums bewege ich mich auf internationalem Terrain: Teneriffa, Mexiko, Brasilien, Argentinien und seit Oktober 2006 Palma de Mallorca. Der Geschmack am Ausland ist geblieben, wozu auch die wirtschaftliche Situation in Deutschland ihren Beitrag geleistet hat. Dabei werde ich mit Aufgaben konfrontiert, bei denen mir die langjährige Auslandserfahrung sehr zu Gute kommt. Ich führe ein neunköpfiges spanisches Mitarbeiterteam; da ist es sehr wichtig, sich in 177 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 178 KATJA KORDELS die Situation und Kultur jedes einzelnen einfühlen zu können. Dabei hilft es sehr, sich in verschiedenen Umfeldern zurechtgefunden zu haben. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur kulturellen Empathie ist ein Baustein der guten Zusammenarbeit. Mir ist im Ausland bewusst geworden, wer ich bin und woher ich komme. Erst im Unterschied zu anderen erkennt man die eigene Kultur, deren Vor- und Nachteile, ihre Schwächen und Stärken. Nur wenn man sich seiner Herkunft bewusst ist und den Ursprung für Verhaltensweisen kennt, kann man seine Stärken ausbauen und an den Schwächen arbeiten. Besonders in Zeiten globaler Entwicklung und in einem vereinten Europa sind diese Erkenntnisse wichtig, um Kernkompetenzen zu entwickeln. Diese haben wenig mit dem Fachwissen zu tun, sind aber ausschlaggebend für jede Tätigkeit, die mit Menschen zu tun hat. Die Gefahr besteht darin, auf seiner Kultur zu beharren und nicht an deren Entwicklung teilzunehmen. Am Klischee »Deutsche sind im Ausland deutscher als in Deutschland« ist meiner Meinung nach viel Wahres dran, und es ist vor allem auf Sitten und Gebräuche der Ausgewanderten übertragbar. So pflegen zum Beispiel Mitglieder der deutschen Kolonien in Brasilien und Argentinien, die während des zweiten Weltkriegs ausgewandert sind, deutsche Traditionen, die in Deutschland schon längst nicht mehr praktiziert werden. Genauso verhält es sich mit den nach USA ausgewanderten Mexikanern. Wegen des fehlenden Kontaktes und der Nicht-Teilhabe an der 178 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 179 ITALIEN Weiterentwicklung der Ursprungskultur bei gleichzeitigem Bedürfnis, die eigene Kultur am Leben zu erhalten, entsteht ein Vakuum, in dem sich die mitgebrachte Kultur konserviert. Jeder verändert sich während der und durch die Zeit im Ausland. Man lernt überdurchschnittlich dazu; die Umstände fordern dazu auf, sich anzupassen und darüber nachzudenken, warum bisher angewandte Regeln und Werte hier nicht gelten. Es beginnt der Zweifel, ob man selbst oder das Umfeld auf dem richtigen Weg ist, und schon befindet man sich in einem umfangreichen Prozess der Selbstreflexion, die dazu führt, dass man sich selber besser kennen lernt und hinterfragt. Unter den wichtigsten Erträgen des ERASMUS-Programms befindet sich auf jeden Fall die verbesserte Sprachkenntnis, aber auch die soziale Kompetenz, die so schwer in klaren Worten zu umschreiben ist. Einmal Ausland, immer Ausland – das trifft insbesondere auf mich zu. Ich suche die Herausforderung, immer wieder neue Kulturen kennen zu lernen, kann bisher nicht genug bekommen von dem Gefühl, das Umfeld und mich selbst zu hinterfragen, um es zu verstehen und um in ihm zu bestehen. Auslandsaufenthalte lassen sich durch keine andere Erfahrung ersetzen und sind außerdem besonders gut mit dem Studium zu kombinieren. Für mich war das ERASMUS-Programm eine Chance, die ich nicht auslassen konnte, und ich würde jedem raten, die Möglichkeit zu nutzen und daran teilzunehmen, um ähnliche Erfahrungen zu machen. 179 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 11:36 Uhr FABIAN KRACHT Fabian Kracht, geboren 1979 in Tübingen. Diplom-Kaufmann an der Universität Mannheim. ERASMUS-Aufenhalt: Wintersemester 2001/02 und Sommersemester 2002 an der Università Commerciale Luigi Bocconi, Mailand. 180 Seite 180 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 181 ITALIEN Ein Jahr Mailand – gemischte Erfahrungen, positives Resümee Warum Italien? Für einen Student der Wirtschaftswissenschaften bietet sich ein Studium in den USA an, dem Land, das den Begriff ›Business School‹ geprägt hat und bis heute die Maßstäbe in der Ausbildung zukünftiger Führungskräfte setzt. Seit einem neunwöchigen USA-Austausch während meiner Schulzeit war mir jedoch klar, dass die USA trotz aller Vorzüge und guten Erfahrungen, die ich als Fünfzehnjähriger gemacht habe, für mich keine Option für das Auslandsstudium war. Zu gewöhnungsbedürftig erscheinen mir einige Besonderheiten des ›American way of life‹. Mein familiärer Hintergrund mit dem großelterlichen Ferienhaus am Lago Maggiore und zwei Onkeln, die nach Italien ausgewandert sind, haben mich vielmehr dazu bewogen, ein ERASMUS-Jahr in Italien anzustreben. Ich wollte gerne einmal »richtig« leben in dem Land, das ich aus mehreren Reisen zu kennen glaubte. Vorbereitung Bereits früh im Grundstudium stand die Entscheidung fest, mich um ein ERASMUS-Stipendium für die Mailänder Università Commerciale Luigi Bocconi zu bewerben. Meine Mannheimer Alma Mater bietet zwar Austauschprogramme mit mehreren italienischen Partneruni- 181 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 182 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 183 ITALIEN versitäten an, ich wollte aber gerne in die norditalienische Metropole und an der dortigen Renommee-Universität studieren. Da für einen der ERASMUS-geförderten Studienplätze Grundkenntnisse in der Landessprache obligatorisch waren, begann ich ab dem zweiten Semester mit Studium-Generale-Sprachkursen, um mir eine Grundlage im Italienischen zu schaffen. Vor der eigentlichen Bewerbung um den Studienplatz ging ich zusätzlich für vier Wochen nach Perugia an die dortige Università per stranieri und belegte einen Intensivkurs in Italienisch. Das Ganze hatte ich mir auch als »Generalprobe« für ein Jahr Mailand vorgestellt. Im Nachhinein würde ich dies wegen des kurzen Zeitraums und der sehr unterschiedlichen Lebensweisen in den beiden Städten jedoch nicht mehr so sehen. Unabhängig davon war der Kurs in Perugia sehr sinnvoll, da ich mein Italienisch auf ein Niveau brachte, mit dem ich mir zutraute, mich in Mailand durchschlagen zu können. Entsprechend glücklich war ich, als ich Anfang 2001 die Zusage für einen ERASMUS-geförderten Studienplatz an meiner Wunschuniversität Bocconi in den Händen hielt. Gemischte Gefühle in der Lombardischen Hauptstadt Schon kurz nach der Ankunft wird klar, dass Mailand keine »typische« italienische Stadt ist. Tagsüber prägen die Angestellten der vielen Konzerne, großen und kleinen Unternehmen und Banken das Stadtbild in den Straßen und der Metro, den Straßenbahnen und den Bussen. Meiner Meinung nach ist Mailand deswegen tagsüber vergleichbar mit anderen Geschäftsmetropolen Europas wie London oder Frankfurt. Abends finden sich viele der Angestellten in den Bars der Stadt zum Aperitivo ein, einem besonderen Phänomen Mailands: Zwischen circa 18 und 21 Uhr bieten hunderte von Bars eine happy 183 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 184 FABIAN KRACHT hour mit Getränken zu reduzierten Preisen an, zu der ein GratisBuffet von Salaten und warmen sowie kalten Gerichten aufgefahren wird. Mit diesem Angebot locken die Gastronomen Gäste während der eigentlich ›toten‹ Zeit zwischen Feierabend und Abendessen in ihre Bars. Inzwischen gibt es diese Art des Aperitivo auch in anderen Regionen Italiens, erdacht und perfektioniert wurde das Konzept allerdings in Mailand. Nach Ende der happy hour gehen die Milanesen Abendessen, entweder zuhause oder in einem Restaurant. Anschließend beginnt das Mailänder Nachtleben, das mit dem Londons, New Yorks oder Barcelonas vergleichbar ist. Dies alles entspricht nicht dem eher gemütlichen Lebensstil »typischer« italienischer Städte wie Bologna, Florenz, Perugia, Neapel und – zumindest teilweise – auch Rom. Wer dies erwartet, kann trotz der vielen Vorzüge Mailands einer gewissen Enttäuschung nicht entgehen. Und so ging es auch mir in den ersten Wochen meines Aufenthalts. Zwar genoss ich den morgendlichen Capuccino mit Brioche an der Bar in der Nachbarschaft, die schöne Sprache und die vielen Möglichkeiten einer Großstadt. Die erwartete Liebe zu Mailand stellte sich jedoch nicht ein. Alles war viel hektischer, dreckiger und stressiger, als ich es mir vorgestellt und aus Italienreisen zu kennen geglaubt hatte. Hinzu kam, dass mir der Anschluss an italienische Studenten nur sehr langsam gelang. Einerseits existieren natürlich bereits feste Freundeskreise, in die sich zu integrieren nicht einfach ist. Andererseits waren wir insgesamt über 150 Austauschstudenten, für die viele Feste und Aktivitäten an den meisten Tagen der Woche veranstaltet werden. Das förderte das Wir-Gefühl der scambisti und half auch sehr, sich in der Stadt einzuleben. Es verleitete aber auch dazu, das eigene Umfeld auf diese Gruppe zu beschränken. 184 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 185 ITALIEN Zusätzlich machte ich folgende Erfahrung: Mein Italienisch wurde besser, und spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem ich das italienische Fernsehen und die Alltagskonversationen in der Straßenbahn und auf der Straße verstand, löste sich meine (im Nachhinein zugegebenermaßen naive) Vorstellung auf, dass Italien nur aus der Hochkultur von Dante, da Vinci und Verdi bestehe. In früheren Urlauben hatte ich Italienisch immer als sehr schöne und melodische Sprache empfunden. Das war sie auch jetzt noch. Aber aus irgendeinem Grund desillusionierte es mich, die italienische Version von »Big Brother« im Fernsehen zu sehen, Flüche im Bus zu verstehen und Artikel über Cellulitis von Fernsehstars in der Gratis-Metrozeitung zu lesen. In Deutschland war es mir selbstverständlich, dass wir uns in der Sprache Goethes und Schillers über seichte und wenig weltbewegende Themen auseinandersetzen, in Italien enttäuschte mich dasselbe Phänomen aus irgendeinem Grund. So war ich bei meiner Heimreise nach dem Sommersemester, das kurz vor Weihnachten mit den Klausuren endet, nicht unglücklich, eine gewisse Zeit wieder auf bekanntem Terrain verbringen zu können. Bei meiner Rückkehr nach Mailand Mitte Januar hatte sich meine Wahrnehmung allerdings deutlich geändert. Bereits mit Einfahrt in die Stazione Centrale, den Mailänder Hauptbahnhof, stellte sich ein Gefühl der Rückkehr-in-die-Heimat ein. Obwohl sich an den Rahmen- 185 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 186 FABIAN KRACHT FABIAN KRACHT Jeder (…) kennt die Mailänder Business School und ihren Ruf. Und von diesem Augenblick an gilt man als erfolgreicher Geschäftsmann – auch wenn man unrasiert in einem winzigen Fiat Cinquecento mit Zweimannzelt unterwegs ist. 186 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 187 ITALIEN bedingungen nichts geändert hatte (außer den vier Weisheitszähnen, die mir in der Winterpause gezogen worden waren), erlebte ich mein zweites Semester vollkommen anders. Vielleicht hatte ich die Eindrücke der ersten Monate über Weihnachten verdaut und mein Bild von Italien bzw. Mailand entsprechend korrigiert; auf jeden Fall freute ich mich, wieder da zu sein. Alles, was mich vorher gestört hatte, hatte ich wohl inzwischen innerlich akzeptiert und konnte deshalb die vielen guten Seiten Mailands im Frühjahr und folgenden Sommer nun voll genießen. Und für die Tage, an denen ich doch einmal genug von Mailand hatte und mal wieder etwas anderes sehen wollte, gab es viele lohnende Reiseziele: Bologna, die alte Universitätsstadt, Florenz als Zentrum der italienischen Renaissance, Pisa mit dem wieder begehbaren Turm, Lucca, auf dessen mittelalterlicher Stadtmauer sich eine Rundfahrt mit einem vor Ort gemieteten Fahrrad empfiehlt, die oberitalienischen Seen, die Schweizer Alpen, Genua, dessen Ruf viel schlechter ist, als die Stadt mit dem schönen, von Renzo Piano umgebauten Hafen es nahe legt, und viele mehr. Mein absolutes Lieblingsreiseziel jedoch ist die Ligurische Küste südlich von Genua. Dort war ich während meines Austauschjahres auch dreimal. Nachwirkungen meines ERASMUS-Jahres International genießt die Bocconi einen sehr guten Ruf. Dieser Ruf kommt mir im Beruf hin und wieder zu Gute. Außerhalb der Geschäftswelt gelten normalerweise jedoch eher Mailand als Stadt und Italienisch als Sprache als die außergewöhnlichen und interessanten Aspekte meines ERASMUS-Jahres. Werde ich allerdings in Italien gefragt, warum ich Italienisch spreche, und auf meine Antwort, dass ich ein Jahr in Italien studiert habe, 187 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 188 FABIAN KRACHT weiter gefragt, an welcher Universität das denn gewesen sei, erlebt man einen bemerkenswerten, manchmal fast schon unangenehmen Wandel in der Wahrnehmung des Gegenübers. Jeder, vom Campingplatzaufseher bis hin zum Lederjackenverkäufer auf dem Wochenmarkt, kennt die Mailänder Business School und ihren Ruf. Und von diesem Augenblick an gilt man als erfolgreicher Geschäftsmann – auch wenn man unrasiert in einem winzigen Fiat Cinquecento mit Zweimannzelt unterwegs ist. Abgesehen von dieser auf Italien begrenzten Nachwirkung meines Auslandsstudiums kommen mir im Berufsleben maßgeblich zwei Erfahrungen des Auslandsaufenthalts zu Gute: Eine Sensibilisierung für die kleinen und großen Unterschiede unterschiedlicher Lebensweisen sowie das Wissen um meinen erlebten Wandel in der Wahrnehmung Mailands. Ich arbeite in der internen Unternehmensberatung eines internationalen Bauzulieferers. Meine Abteilung betreut Tochtergründungen im Ausland, Optimierungsprojekte in bestehenden Tochtergesellschaften sowie komplette Restrukturierungen von Tochtergesellschaften. Zu meinen bisherigen Projekten gehört beispielsweise der Aufbau einer Tochtergesellschaft in Kasachstan, was die Erstellung eines Business Plans, die formale Gründung, die Personalsuche vor Ort, aber auch den tatsächlichen Bau eines Büros und zugehöriger Lagerflächen beinhaltet. In einem anderen Projekt beschäftige ich mich mit der Optimierung von Logistikprozessen in den sechs Niederlassungen unserer Tochtergesellschaft in den USA. Dazu gehören eine Ist-Analyse der bestehenden Prozesse vor Ort, die Festlegung notwendiger Veränderungen und deren anschließende Implementierung in den sechs Regionen. Diese Projekte bringen viel Kommunikation und Zusammenarbeit mit Menschen anderer 188 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 189 ITALIEN Kulturkreise mit sich. Ich glaube, dass mir insbesondere auch die Erfahrungen aus Italien dabei helfen, mein jeweiliges Gegenüber besser zu verstehen bzw. dieses zumindest zu versuchen. Auch wenn Italien auf den ersten Blick nicht sehr verschieden von Deutschland zu sein scheint (Europa, christlich-geprägt etc.), bestehen im täglichen Leben feine, aber teilweise wichtige Unterschiede, die ich nur durch den längeren Aufenthalt im Land zu erkennen begonnen habe. Und die Einsicht, dass diese Unterschiede fast immer und überall bestehen und dass man versuchen sollte, sie zu erkennen, um dann bewusst damit umgehen zu können, hilft mir heute sehr. Die zweite für mich wichtige Erfahrung meines Auslandsjahres besteht darin, dass ich die anfängliche Phase der Enttäuschung letztlich überwunden habe. Ich glaube, dass mich diese Erkenntnis gestärkt hat und dass ich dadurch zwar nicht vor ähnlichen Phasen gefeit bin, damit aber vielleicht etwas besser umgehen kann. Ich versuche heute, mir keine zu festen Vorstellungen von einer bevorstehenden Situation zu machen oder zumindest offen mit Abweichungen von meinen Erwartungen umzugehen. Resümee Auch wenn ich mein Erasmus-Jahr nicht als mein glücklichstes und fröhlichstes Jahr bezeichnen würde, möchte ich meine Zeit in Mailand nicht missen. Ich habe nicht nur viel über Italien gelernt, sondern auch viel über mich selbst erfahren. Insofern kann ich einen längeren Auslandsaufenthalt während des Studiums oder in der Schulzeit nur empfehlen. 189 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 190 DANIEL EISENMENGER Daniel Eise nmenger, geb. 1975 in Siegburg. 1. Staatsex amen in Französisch, Geschichte und Spanisch an der Universität Münster. 2. Staatsex amen am Studiensemin ar Trier. ERASMUS-Aufe nthalt: WS 1997/98 und SS 1998 an der Univ ersité Libr e de Bruxelle s, Belgien. 190 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 191 BELGIEN Mehr als Bier und Fritten Als Französischstudent und angehender Lehrer war es für mich selbstverständlich, dass ich einen Teil meines Studium im Ausland absolvieren wollte. Verbesserung der Sprach- und Landeskundekenntnisse waren das Ziel. Da man mir damals immer wieder versicherte, dass ich mit meiner Fächerkombination keine Stelle in der Schule bekommen würde, habe ich mich frühzeitig anders orientiert, habe Zusatzqualifikationen gesammelt und wollte deshalb auch nicht wie viele andere Lehramtsstudenten als Sprachassistent ins Ausland gehen, sondern dort studieren. Dafür bot sich das ERASMUS-Jahr an, um eine enorme Erleichterung bei den Formalitäten und zudem einen finanziellen Zuschuss zu erhalten, ohne den solch ein Jahr – zumindest für mich – gar nicht denkbar war. Das Romanische Seminar in Bonn bot damals Aufenthalte in verschiedenen französischen Städten und eben auch in Brüssel an. Einen Großteil der Urlaube mit meinen Eltern in der Kindheit hatte ich an der belgischen Küste verbracht, die keineswegs schön, aber mir sehr vertraut war. Auf den Autofahrten dorthin waren wir immer an Brüssel vorbeigefahren, das ich nur allzu gerne besichtigt hätte. Meine Eltern wollten sich jedoch nie mit dem Auto in den Brüsseler Straßendschungel wagen – Befürchtungen, die ich heute sehr gut verstehen kann. Sie vertrösteten mich darauf, dass ich das später einmal selber machen könnte, und stattdessen besichtigten wir zum wiederholten Male das idyllische Brügge. Kurzum: Mit der Bonner 191 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 192 DANIEL EISENMENGER ERASMUS-Ausschreibung sah ich meine Chance gekommen. Auch wenn man als Französisch-Student mit dem Ziel Belgien eher belächelt wird: Im Grundstudium hatte ich auch schon ein Referat über das belgische Französisch gehalten, und darüber hinaus war Brüssel die einzige wirkliche Großstadt im Angebot. Die Möglichkeit, für ein Jahr in einer Millionenstadt zu leben, erschien mir als willkommene Erweiterung meines Horizonts. Der Start in Brüssel war ein Sprachkurs, den die Uni in die letzten Wochen des Sommers vor Semesterbeginn gelegt hatte. Das stellte sich als gut gedacht, aber im Endeffekt als wenig sinnvoll im Blick auf Kontakte zu belgischen Kommilitonen heraus. Denn naheliegenderweise waren Ende des Sommers nur ausländische Studierende an der Uni und vornehmlich eben ERASMUS-Studierende. Das führte dazu, dass man schnell Freundschaften schloss, viel unternahm und zu Semesterbeginn schon viele Freunde aus ganz Europa hatte, bevor überhaupt gleichaltrige Belgier in Sicht kamen. Insofern ging es mir wie vielen anderen ERASMUS-Studierenden: Ich habe eine gute Zeit gehabt, viele Leute aus ganz Europa kennen gelernt, aber leider fast keine Belgier. Unterstützt wurde die ERASMUS-›Ghettoisierung‹ durch die belgische Wohnheimsverwaltung. Nach dem Sprachkurs zu Beginn des Semesters wurden wir ins frisch renovierte Wohnheim umgesiedelt. Eigentlich hatte ich mich bewusst für einen Wohnheimplatz entschieden, weil ich es aus Deutschland so kannte, dass dort ausländische Studierenden über den gemeinsamen Aufenthaltsraum und die gemeinsame Küche immer zumindest ein wenig Kontakt zu den einheimischen Studis bekamen. In Belgien wies man uns »ERASMEN« aber leider einen eigenen Gebäudetrakt zu, der vom belgischen Teil durch ein Treppenhaus getrennt war und sowohl eigene Sanitär- 192 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 193 BELGIEN einrichtungen als auch eine eigene Küche umfasste. Die Abschottung war perfekt. Als wir später erfuhren, dass die Zimmer der Belgier nicht nur größer, sondern auch günstiger waren, störte uns das nur noch geringfügig. Das Studium war durch das Akademische Auslandsamt gut organisiert. Obwohl die Belgier in der Regel nur ein Fach studieren, konnte ich in beiden Lehramtsfächern Kurse belegen und dort auch Scheine machen. Darüber hinaus wurden für die ERASMUS-Studenten eigene Kurse – auf Englisch! – in Aufbau und Funktionsweise der EU angeboten. Obwohl ich fleißig Scheine machte in dem einen Jahr, konnte ich diese trotz des Abkommens in Deutschland nicht in mein Studium einbringen. Insofern ein zusätzliches Jahr, zwei Semester mehr, sicher alles andere als verlorene Zeit, aber auch nicht das, was ich mir von dem Jahr versprochen hatte. Am Ende meines Brüsseler Jahres hatte ich mir überlegt, wegen meiner fachlichen Schwerpunktsetzung in Deutschland an eine andere Universität zu wechseln. Meine Wahl fiel auf Münster. Dort bestätigte man mir auch, dass man mir formal die in Brüssel erworbenen Hauptseminarscheine anerkennen müsse, legte mir jedoch nachdrücklich ans Herz, die entsprechenden Veranstaltungen vor Ort noch einmal zu besuchen, um ein gegenseitiges Kennenlernen mit dem dortigen Lehrpersonal zu ermöglichen, ohne das es im Examen schwierig würde. Ich denke jedoch, daß mir das Auslandsjahr neben den ohne Zweifel großen sprachlichen Fortschritten, den neuen fachlichen Horizonten und intensiven landeskundlichen Erfahrungen weitere Dinge mit auf den Weg gegeben hat, die für meine weitere persönliche und berufliche Entwicklung wichtig wurden. Im letzten Semester vor meiner Abreise hatte ich einen Niederländisch-Kurs an meiner Heimatuniversität belegt, um in diesem dreisprachigen Land alle dort 193 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 194 DANIEL EISENMENGER zusammentreffenden Kulturen kennen lernen zu können. Meine Niederländisch-Kenntnisse haben sich in dem Jahr so weit verbessert, dass ich gut in der Sprache zurecht komme und mir die kulturelle Vielfalt Belgiens in beiden Sprachen seitdem offen steht. Bislang hat es nie wieder eine Zeit gegeben, in der ich so intensiv ein so reiches Kulturleben wie in Brüssel mit seinen Theatern, Kinos und Museen habe genießen können wie in Belgien mit seiner kleinen und in jeder Hinsicht dichten Städtelandschaft. Um das Auslandsstudium finanzieren zu können, musste ich mir vor Ort auch eine Arbeit suchen. Glücklicherweise fand ich einen Job als studentische Hilfskraft im Auslandsstudio von RTL. Eine Tätigkeit, die es mir später erleichterte, weitere Erfahrungen im Bereich des Journalismus zu sammeln, den ich als Alternative zur Schule ins Auge gefasst hatte. Am Ende des Jahres fiel es schwer, von Brüssel wieder Abschied zu nehmen – trotz einiger Kilo, die ich dort zugenommen hatte – eine negative Folge des Versuchs, möglichst viele Bier-, Schokoladensorten und Frittensaucen innerhalb weniger Monate zu probieren. Viele der Bekanntschaften haben sich schnell gelöst. Im kleineren Kreis gab es noch einige Nostalgietreffen im geliebten Brüssel, und zum Glück hat sich der ein oder andere Kontakt bis heute erhalten. Über die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte ich direkt im Anschluss die Möglichkeit, an einem zehntägigen Seminar über den belgischen Föderalismus teilzunehmen und so meine landeskundlichen Kenntnisse zu vertiefen. An der Uni konnte ich innerhalb einiger Seminare sowohl in Literaturwissenschaft als auch in Geschichte 194 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 195 BELGIEN Obwohl ich fleißig Scheine machte in dem einen Jahr, konnte ich diese trotz des Abkommens in Deutschland nicht in mein Studium einbringen. DANIEL EISENMENGER 195 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 196 belgische oder niederländische Themenschwerpunkte setzen. Höhepunkt des Hauptstudiums war sicherlich ein Oberseminar mit Exkursion nach Brügge und Gent zum flämischen Städteraum im Mittelalter. Auch die Liste meiner Prüfungsthemen im ersten Staatsexamen zeugt von der andauernden Beschäftigung mit dem Benelux-Raum in beiden Fächern (u.a. französischsprachige Literatur Belgiens im 19. Jahrhundert, die Haltung der belgischen und der niederländischen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Geschichte der burgundischen Niederlande). Ausgehend von dem ERASMUS-Jahr in Brüssel, entstand in mir der Wunsch, nochmals ins Ausland zu gehen, dort zu leben und zu arbeiten. Nach dem 1. Staatsexamen erhielt ich die Gelegenheit zu einem dreimonatigen Praktikum an einem Gymnasium in Estland. Aus diesem ergaben sich verschiedene Kontakte nach Litauen und Polen, und so spielte in den ersten Jahren meiner Berufstätigkeit als Referendar und anschließend als Lehrer vor allem das Engagement für den Austausch mit Mitteleuropa eine entscheidende Rolle. An der 196 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 197 BELGIEN Schule in Bitburg ergab es sich dann aber, dass eine der Partnerstädte Bitburgs in Belgien liegt, und ich sah meine Chance, meine etwas eingerostete und in die Jahre gekommene Leidenschaft für dieses Land wieder aufzufrischen. Schulischerseits gab es seit Jahren keine Kontakte in das nur 80 km entfernte Arlon. Mittlerweile haben wir neben Exkursionen mit Schülern auch ein Internetprojekt mit einem dortigen Gymnasium durchgeführt. Ziel des Internetprojekts war das Kennenlernen der Partnerstadt, die trotz der kurzen Distanz keinem der Schüler bekannt war. Im vergangenen Jahr schließlich entschloss sich unsere Schule, sich auf europäischer Ebene für ein Comenius-Projekt zu interessieren. Auf einem Kontaktseminar in Warschau im November 2005 ergab sich schnell Kontakt zu den Vertretern der belgischen Schulen, mit denen wir nun seit Beginn des Schuljahres 2006/7 zusammen mit Kollegen aus Polen und Spanien ein Projekt zur Geschichte und Gegenwart der europäischen Union mit dem Titel »E(u)-motions – Mind the gap!« durchführen. Besonders erfreulich für mich war die Tatsache, dass es mir bei dem vorangehenden Kontaktseminar gelungen war, über sprachliche und inhaltliche Vermittlung sowohl eine flämische als auch eine wallonische Schule – sozusagen als »Mittler zwischen den Kulturen« – in diesem Projekt zusammenzubringen. Das erste Koordinationstreffen in Flandern hat im Herbst 2006 den Startschuss zum Projekt gegeben. Das letzte Treffen des Projekts in zwei Jahren wird wiederum in Belgien, im Herzen Europas, diesmal in Wallonien stattfinden. 197 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 198 MIRCO HELLER Mirco Heller, geb. 1979 in Bad Schwalbach. Diplôme in Etudes européennes am Institut d’Etudes Politiques, Université Robert Schuman, Strasbourg, Frankreich. Dort zunächst ERASMUS-Aufenthalt: September 2003 bis Juni 2004. 198 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 199 FRANKREICH Von Straßburg über Berlin nach Mexiko Da gibt es jene, die, sobald sie im Ausland leben, feststellen, dass sie sich in ihrer Heimat am wohlsten fühlen, und froh sind, wenn die Zeit in der Fremde wieder vorbei ist. Und dann gibt es diejenigen, die die Fremde für einige Zeit zu ihrer Heimat machen können und sich durch die Begegnung mit anderen Kulturen ihrer eigenen Kultur und Herkunft bewusster werden und vielleicht eine ganz neue, internationale Kultur annehmen. Wenn ich heute darüber nachdenke, wie es zu meinem bisher unsteten, ins Ausland strebendem Leben kam, welches mich nach Straßburg über Berlin schließlich nach Mexiko führte, fing alles 1994 während eines Schulaustauschs zwischen meiner Gesamtschule im hessischen Taunusstein und dem College Ribeyre in der Kleinstadt Cournon im französischen Zentralmassiv an. Dieser Schulaustausch legte wohl den Grundstock für meine Frankophilie und kulturelle Neugierde, derentwegen ich mich später während meines Studiums entschied, als ERASMUS-Student nach Straßburg zu gehen. Und warum ich dann nach Berlin zog und schließlich nach Mexiko kam, wird noch zu erzählen sein. Da mir die französische Sprache nicht sonderlich schwer fiel und ich begeistert war von der Möglichkeit, in dieser so fremden Sprache, Menschen kennen zu lernen, Freundschaften zu schließen und aufrecht zu erhalten, verbrachte ich im Anschluss an den besagten Schulaustausch nahezu jedes Jahr ein paar Wochen in Frankreich bei 199 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 200 MIRCO HELLER meiner Austauschfamilie, zu der ich noch heute herzlichen Kontakt pflege. Ebenso verbesserte sich natürlich durch diese regelmäßige kulturelle und sprachliche Immersion auch mein Französisch erheblich. Jahre später sagte mir mal ein älterer Herr in einem Straßencafe im israelischen Haifa, dass die Fähigkeit, die Sprache eines anderen Landes zu sprechen, der Schlüssel zu seiner Kultur sei. Seitdem kann ich nicht anders, als zu versuchen, meinen Schlüsselbund zu pflegen und zu erweitern. Während meiner Oberstufenzeit eröffnete sich mir die Gelegenheit, an einem Israelaustausch teilzunehmen, und dank meiner guten Erfahrungen mit Frankreich und einer immer stärker werdenden Neugierde auf andere Länder nahm ich natürlich daran teil. Dieser Austausch mit der Galili-Highschool in Kfar Saba brachte mir ebenso herzliche Freundschaften, insbesondere zu meinem israelischen Austauschpartner Shulem, sowie viele neue, ganz andere kulturelle Erfahrungen ein. Etwa zur gleichen Zeit erfuhr ich von der Möglichkeit, den Zivildienst auch im Ausland ableisten zu können, und nach den frischen positiven Erlebnissen in Israel bewarb ich mich bei einer kleinen Organisation in Schwäbisch-Gmünd, die Kontakte zu einem BehindertenDorf in Kishor nahe der libanesischen Grenze in Nordisrael unterhielt. Leider würden Ausführungen über das wundervolle Jahr, welches ich in Kishor verbrachte, den Rahmen dieses Essays sprengen und darüber das Hauptthema verfehlen, aber wenn ich zuvor bereits gerne im Ausland war, so führte das Jahr in Israel definitiv dazu, dass ich es zu lieben lernte, mich in einer anderen Kultur und in einer fremden Sprache für längere Zeit zu bewegen. 200 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 201 FRANKREICH Zurück in Deutschland und nach einer sechsmonatigen Eingewöhnungsphase – denn der eigenen, ursprüngliche Kultur kann man sich nach längerer Zeit im Ausland auch manchmal entfremden – begann ich, an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz Politikwissenschaft und Romanistik zu studieren, weil mich Politik schon immer interessierte und ich eben bereits sehr gut Französisch sprach; ein Studiengang, den ich nach dem zweiten Semester um Öffentliches Recht erweiterte. Es erstaunt vermutlich nicht, dass für mich klar war, auch während meines Studiums für einige Zeit ins Ausland zu gehen, und glücklicherweise gibt es den DAAD mit seinem ERASMUSProgramm, die dies ermöglichen. Wegen meiner Studienfächer und meiner Vergangenheit wollte ich unbedingt nach Frankreich oder zumindest in ein französischsprachiges Land. Nun hat das Institut für Politikwissenschaft in Mainz aber nur eine Austauschuniversität in Frankreich und zwei weitere im französischsprachigen Teil der Schweiz, und so bewarb ich mich vorrangig für einen von zwei Plätzen am Institut d'Etudes Politiques (IEP) in Straßburg. Ich muss gestehen, dass mir Straßburg zur damaligen Zeit nicht als erste Wahl erschien, weil ich dachte, dass es durch seine grenznahe Lage und Geschichte bestimmt nicht so französisch ist, wie ich das von meiner Austauschfamilie en France profonde kannte. Meine Vorurteile sollten sich jedoch nicht bestätigen, als ich schließlich ausgewählt wurde und im September 2003 nach Straßburg zog, um dort vorerst ein Jahr als ERASMUS-Student zu verbringen. Waren meine bisherigen Auslandsaufenthalte eher binationaler Natur – d.h. ich als Deutscher begegne einem anderen Land mit seiner Kultur –, so war Straßburg die internationalste Erfahrung, die ich in meinem bisherigen Leben gemacht habe und vielleicht je machen werde. Austauschstudenten aus nahezu jedem europäischen Land (geographisch) samt Nord-, 201 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:43 Uhr Seite 202 MIRCO HELLER MitteI- und Südamerika, Japan, Russland und Afrika machten mein ERASMUS-Jahr, und ich bin überzeugt, jedes ERASMUS-Jahr, zu einem einmaligen Erlebnis, an das ich noch heute nostalgisch zurückdenke. Nun hatte ich zwar schon einige Auslandserfahrung, aber noch nie zuvor lernte ich so viele neue Menschen unterschiedlichster Kulturkreise und Muttersprachen kennen, und das Erstaunlichste war die Erkenntnis, dass wir uns alle ähnlich waren: weltoffen, mehrsprachig sowie neugierig auf den anderen und seine Kultur. Darüber hinaus saßen wir alle im gleichen Boot, d.h. wir sollten nun ein Jahr im französischen Universitätssystem mit seinen Eigenheiten studieren. War ich vorher überzeugt davon, Frankreich und seine Kultur zu kennen, so öffnete mir die Zeit in Straßburg die Augen. Nie hätte ich gedacht, dass mir Frankreich fremd vorkommen könnte, aber die verkrusteten französischen Universitätsstrukturen mit ihrem für uns Deutsche ungewöhnlich hierarchischen Lehrenden-StudierendenVerhältnis belehrten mich eines Besseren. Und dennoch entschied ich mich dafür, ein weiteres Jahr in Straßburg zu studieren, worauf ich noch zu sprechen komme. Straßburg stellt, außer dass es eine malerische, nicht zu große Stadt französisch-deutscher Prägung ist, als eine der Hauptstädte der europäischen Union wohl die ideale Umgebung für den europäischen Studentenaustausch dar. Am Institut d'Etudes Politiques de Strasbourg waren wir ungefähr hundertzwanzig Austauschstudenten, die in nahezu allen Kursen etwa ein Drittel der Studenten ausmachten. Die durch das Bureau des Relations Internationales de I’IEP organisierten Aktivitäten machten es leicht, die anderen, noch so fremden Studierenden kennen zu lernen, und man schloss bereits zu Beginn auf diese Weise neue Freundschaften, die sich während des restlichen 202 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 203 FRANKREICH Jahres vertiefen konnten und mitunter bis heute aufrecht erhalten werden. Ich persönlich bin mit allen besseren Freunden meines ERASMUS-Jahres in regelmäßigem Kontakt, zumal wir uns nun nach abgeschlossenem Studium wiederum in der gleichen Situation befinden, dem schwierigen Einstieg ins Berufsleben. 203 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 204 MIRCO HELLER Aber damals in Straßburg dachten wir nicht daran, sondern genossen die Zeit, die wir zusammen verleben konnten, und dies bedeutete natürlich auch feiern, auch wenn viele von uns daneben ernsthaft studierten. Ich kann den oft zu hörenden Vorwürfen, dass das ERASMUS-Jahr nur aus Party und Freizeit bestehe, aus eigenen Erfahrungen widersprechen. Denn ich selbst nutzte die Möglichkeit, durch gute Noten während meines ERASMUS-Jahres, ins Abschlussjahr des IEP aufgenommen zu werden, um dort ein Diplôme de I’IEP zu erwerben, welches einer Maîtrise gleichgestellt ist und nach der Bologna-Reform einem Bachelor-Abschluss mit erstem Masterjahr gleichkommt. Ohne das wunderbare erste Jahr in Straßburg hätte ich mich zusammen mit fünf weiteren, nun ehemaligen ERASMUS-Studenten bestimmt nicht für ein weiteres Jahr dort entschieden, und die meisten unserer Freunde beneideten uns, weil sie glaubten, dass wir ein weiteres ERASMUS-Jahr dort verbringen würden. Dem war jedoch nicht so, und glücklicherweise besuchten uns während des zweiten Jahres viele ERASMUS-Freunde, um die »guten alten Zeiten« zumindest für kurze Zeit wieder lebendig werden zu lassen. Das Abschlussjahr am IEP war geprägt von deutlich höheren Anforderungen und ›bosser‹, was soviel wie ›Büffeln‹ bedeutet; denn wir waren nun keine Austauschstudenten mehr, bei denen man ein Auge zudrückte, sondern wurden wie französische Studenten behandelt. Dies hatte jedoch den Vorteil, dass wir nun noch besser Französisch lernten und hauptsächlich zu französischen Kommilitonen Kontakt hatten, was als ERASMUS-Student deutlich schwieriger war. Na ja, und dann hielt ich nach einem entbehrungsreichen Jahr meinen französischen Universitätsabschluss mit Auszeichnung in den Händen. 204 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 205 FRANKREICH Schon während meines Studiums in Deutschland interessierte ich mich vor allem für Internationale Beziehungen, d.h. im Prinzip für alles, was in der großen weiten Welt politisch und wirtschaftlich zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren so passiert. Dieses Interesse wurde durch mein Studium der Etudes européennes in Straßburg, welches vorher Relations Internationales hieß und lediglich den Namen, nicht jedoch den Inhalt wechselte, noch vertieft. Die Tatsache, dass alle unsere französischen Kommilitonen, sich entweder für einen anschließenden Masterstudiengang oder um Praktika bewarben, um in die Berufswelt einzusteigen, hatte einen starken Einfluss auf mich, und ich begann mich zu fragen, ob ich überhaupt noch mein deutsches Studium abschließen und nicht doch vielleicht lieber früher als zu spät ins Berufsleben einsteigen sollte. Denn eines lernt man als deutscher und insbesondere männlicher ERASMUS-Student im Ausland sehr schnell: durch die längere Schulzeit als in vielen anderen europäischen Ländern (13 statt 12 Jahre) und den obligatorischen Wehr- oder in meinem Fall Zivildienst ist man als Deutscher älter als seine europäischen Mitbewerber auf Arbeitsplätze. Letztlich entschied ich mich für einen Mittelweg. Ich bewarb mich für ein Praktikum beim German Marshall Fund of the United States (GMF) in Berlin und wechselte an die Freie Universität dieser Stadt mit dem Vorsatz, sowohl berufliche Erfahrungen zu sammeln als auch mein deutsches Studium abzuschließen. Doch die Umsetzung dieses Vorhabens gestaltete sich schwieriger als gedacht, weil das spannende Praktikum als persönlicher Assistent von Dr. Ulrike Guerot, ihrerseits Europaexpertin beim GMF, eine Vollzeitstelle war. Dem doppelten Druck nicht gewachsen und auch des Studierens mittlerweile müde, schmiss ich das Studium in Berlin und konzentrierte mich voll und ganz auf meine Arbeit in dieser Organisation, die sich 205 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 206 MIRCO HELLER als überparteiliche Stiftung und Think Tank für transatlantische Zusammenarbeit und den Gedankenaustausch dies- und jenseits des Atlantiks einsetzt. Bedauerlicherweise gab es zu meiner Zeit jedoch keine Aussicht auf eine Stelle beim GMF, und nach monatelanger, unbezahlter Arbeit begann ich zunehmend, mich nach anderen Einstiegsmöglichkeiten in den Arbeitsmarkt umzusehen. Allerdings erschien mir die vage Aussicht, durch ein weiteres Praktikum eventuell in einen Job zu kommen, zu unsicher und außerdem wollte ich mit 26 Jahren endlich für meine Arbeit bezahlt werden, zumal es sich nur sehr schlecht ohne Geld leben lässt. Dabei hatte ich es, frisch aus der Uni kommend, noch gut, wenn ich mir andere Praktikanten beim GMF ansah, die bereits seit über zwei Jahren von einem Praktikum zum anderen wechselten, stets von der Hoffnung getrieben, endlich angestellt zu werden. Es ist anscheinend ein europäisches Phänomen, dass junge Absolventen gerne als un- oder gering bezahlte Praktikanten angestellt werden. Es gibt ja auch so viele gut ausgebildete, hoch motivierte junge Menschen, die angesichts der Lage bereit sind, ohne Gehalt zu arbeiten, um eventuell eingestellt zu werden oder zumindest Kontakte zu knüpfen, die ihnen in der nahen Zukunft zu einer Stelle verhelfen. Aber durch Jammern bekommt man auch keine Arbeit und schließlich entdeckte ich nach unzähligen Stunden im Internet auf einer Homepage für deutsch-französische Jobs die Anzeige einer kleinen Sprachschule in Tampico, Mexiko, die einen Französisch- und Deutschlehrer suchte, was mein Interesse sofort weckte. Ich hatte zwar schon vorher in Mainz und später in Straßburg Spanisch-Unterricht gehabt, die Praxis fiel mir jedoch allzu schwer, und ich wollte schon länger in einem spanischsprachigen Land leben, um diese Sprache bzw. diesen Schlüssel zu einem weiteren Kulturkreis zu ver- 206 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 207 FRANKREICH Es ist anscheinend ein europäisches Phänomen, dass junge Absolventen gerne als un- oder gering bezahlte Praktikanten angestellt werden. MIRCO HELLER 207 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 208 MIRCO HELLER bessern. Und nun bot sich die Gelegenheit dazu: ich hätte einen bezahlten Job, würde nebenbei mein Spanisch verbessern können und ein mir bisher völlig unbekanntes Land kennen lernen. Dennoch wollte ich auch nicht einfach so ins Blaue nach Mexiko aufbrechen und kontaktierte direkt Antonio, einen mexikanischen Freund aus meinem ERASMUS-Jahr in Straßburg, um seine Meinung über den genannten Job zu erfahren. Als er dann schließlich das Angebot für »ziemlich gut« erachtete und mir darüber hinaus seine Unterstützung in Mexiko anbot, kaufte ich ohne weitere Überlegungen mein Flugticket. Und nun lebe ich hier in Mexiko. Die letzten sechs Monate arbeitete ich in Tampico, einer Industriestadt am Golf von Mexiko, als Deutsch-, Französisch- und Englischlehrer in einer kleinen Sprachschule. Meine Arbeit mit unterschiedlichen Alters- und Niveaustufen war eine kulturell und menschlich sehr wertvolle Erfahrung. Wir alle hatten ja einmal Lehrer, und es ist schon komisch, wenn man sich selbst in dieser Rolle wiederfindet und seine Lehrer von damals verstehen kann, den Frust erlebt, wenn Schüler nicht zuhause lernen und man alles dreimal erklären muss, nur um dann festzustellen, dass beim vierten Mal mancher Schüler es immer noch nicht behalten hat. Nach sechs Monaten in Tampico und wegen der zwischenzeitlich viel flüssiger gewordenen spanischen Sprachkenntnisse, entschied ich mich jedoch, nach Mexiko-Stadt zu ziehen. Obwohl mir die Arbeit als Sprachlehrer sehr viel Spaß gemacht hat, möchte ich nun meinen Berufswunsch, in einem internationalen politischen oder wirtschaftlichen Kontext zu arbeiten, weiterverfolgen, getrieben von der Hoffnung, dass europäische Absolventen es hier vielleicht leichter haben als auf der eigenen Seite des Atlantiks. 208 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 209 FRANKREICH Im Rückblick wäre ich ohne mein ERASMUS-Jahr in Straßburg vermutlich nicht in Berlin und letztlich auch nicht hier in Mexiko gelandet. Und ich weiß, dass es vielen meiner ERASMUS-Freunde, die es in den Libanon, nach Kenia oder Mali verschlagen hat, genauso erging. Und wir sind alle nicht unglücklich deswegen, im Gegenteil: »Einmal Ausland, immer Ausland« scheint unser selbst gewählter Lebensstil geworden zu sein. 209 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 210 .n rer b Dr. m Hu f au e/S aa r be de le. rA Dipl an om in Biophysik n. nw end z unge nan an n der Magnetreso de rU am niv Ins ersi titu té de t Ja Paris III-Denis Diderot cqu es M onod (C NRS). DANIEL MIETCHEN at ll .D Ha ani old n i ü el M 4 t-U ik ietchen, geb. 197 bio niv hys P ke e rsitä log n üc r 8 t Berlin; Promotion i isc b he ar 99 Fest d t Sa t1 ä s t i k s u ö un rper an der Univer ER ug A ASM 8 199 US-Au fenthalt: Februar 210 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 211 FRANKREICH ERASMUS als Entscheidungshilfe: Arzt in Entwicklungsländern oder biophysikalische Forschung? Als ich anfing, meine erste Fremdsprache zu lernen, war ich neun Jahre alt und kannte niemanden persönlich, mit dem ich mich nicht auf Deutsch hätte unterhalten können, was sich direkt in einer recht geringen Motivation niederschlug, mich mit anderen Sprachen zu befassen. Das änderte sich erst, als mir knapp fünf Jahre später die Hausaufgabe gestellt wurde, einen Vortrag über eine Puschkinsche Erzählungssammlung zu halten, welche mir nur im Original zugänglich war. Nie zuvor hatte ich ein Buch in einer Fremdsprache gelesen, doch da mir meine Lehrerin dies offensichtlich zutraute, wagte ich das Abenteuer und wurde nach einigen Dutzend eher durchgearbeiteten als gelesenen Seiten durch eine sich allmählich einstellende neue Art von Lesevergnügen belohnt, welche hauptsächlich auf dem Erkennen sprachlicher Strukturen und daraus resultierender Stilmittel beruhte, die es im Deutschen nicht gibt. Dieses Erlebnis hat mich fasziniert und wesentlich dazu beigetragen, dass sich meine Interessen auf Fremdsprachen auszudehnen begannen, ehe ich zum 1. September 1989 schließlich an eine Spezialschule mit dem neusprachlichen Schwerpunkt Tschechisch/Französisch wechselte. Aus diesem Anlass hatte ich die Möglichkeit eines späteren Auslandsaufenthaltes erstmalig ernsthaft durchdacht und mich mit dem Gedanken angefreundet, einige Zeit in der Sowjetunion oder der Tschechoslowakei zu studieren. Die dramatischen politischen Umwälzungen jenes Herbstes wirkten sich auf praktisch alle Lebensbereiche aus und wurden für mich vor 211 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 212 DANIEL MIETCHEN allem durch Veränderungen im Schulalltag konkret erfahrbar, beispielsweise durch die Verlängerung der Schulzeit auf 13 Jahre, die Ersetzung von Tschechisch durch Latein und den Wegfall der bisher im Rahmen von Schülergesellschaften oder Bezirksklubs an den Universitäten angebotenen Lehrveranstaltungen für Schüler. Die Hochschullandschaft wurde ebenso grundlegend umstrukturiert, und in diesem Zusammenhang blieb lange unklar, unter welchen Bedingungen die Aufnahme eines Studiums möglich sein würde und ob mein damals nur an der Berliner Humboldt-Universität (HU) angebotenes Wunschfach Biophysik bestehen bleiben würde oder nicht. Mit Beginn des Biopysik-Studiums an der Humboldt-Universität im Herbst 1994 häuften sich Kontakte zu Kommilitonen, die bereits eine Zeit lang im Ausland gewesen oder von dort gekommen waren, um hier in Berlin zu studieren. Dabei tauchten immer wieder der DAAD und das ERASMUS-Programm der Europäischen Union als institutionelle Förderer studentischer Mobilität auf, was mich anregte, mich über beide zu informieren. Im direkten Vergleich erschien mir dabei der Bewerbungsprozess für das ERASMUS-Programm als wesentlich über- und durchschaubarer, weshalb ich ihm anfänglich mehr Aufmerksamkeit widmete. Dem Institut für Physik der Berliner Humboldt-Universität standen einige für mich thematisch interessante ERASMUS-Austauschplätze zur Verfügung, doch gehörte ich formal dem Institut für Biologie an. Dessen damals fünf ERASMUS-Austauschplätze waren mit meinen Sprachkenntnissen kompatibel und erschienen mir sämtlich als kulturell sehr attraktiv, wiesen jedoch keine klaren Bezüge zur Biophysik auf. Allerdings sah die Studienordnung im Hauptstudium eine sogenannte Studienjahresarbeit vor, und so bot es sich an, den Auslandsaufenthalt für diese erste eigene Forschungsarbeit zu nutzen. Als Thema 212 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 213 FRANKREICH DANIEL MIETCHEN … dabei brachte mir jede Rückkehr Paris ein weiteres Stück näher. 213 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 214 hatte ich dafür »intrazelluläre Transportprozesse entlang von Mikrotubuli« ins Auge gefasst, da dies eine geeignete Fortsetzung meiner bisherigen Labortätigkeit am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin darstellte. Nach intensiver Recherche fand ich eine Arbeitsgruppe, die sich mit genau diesem Thema an einem der in Frage kommenden Orte beschäftigte, und zwar im Herzen von Paris, wo ich mir gut vorstellen konnte zu leben. Zwischen dem Erhalt der Nachricht, dass meine Bewerbung um den Austauschplatz an der UFR (Unité de Formation et de Recherche) de Biochimie an der Université de Paris VII – Denis Diderot erfolgreich war, und dem dortigen Studienbeginn lag dann mein erster längerer studienbezogener Auslandsaufenthalt. Dabei handelte es sich um das im Rahmen meines Medizinstudiums vorgeschriebene Pflegepraktikum, das ich am Azal-Krankenhaus in der jemenitischen Hauptstadt Sana'a absolvieren wollte, um meine persönliche Eignung für die einzige ernsthaft erwogene berufliche Alternative zur biophysikalischen 214 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 215 Forschung zu testen – eine ärztliche Tätigkeit in Entwicklungsländern. Die Internationalität beider Optionen war mir dabei sehr willkommen. In Sana'a wohnte ich in einer WG mit einem jemenitischen und zwei saudischen Ärzten, arbeitete in der Neurochirurgie, auf der Intensivstation und in der Notaufnahme in arabisch-, englisch- und russischsprachigen Teams, erkannte die stets komplett verschleierten Krankenschwestern nach einigen Wochen auch, wenn sie mir auf der Straße begegneten, und erlebte meine ersten Operationen, Geburten, Reanimationen und Todesfälle sowie die Reaktion des medizinischen Personals und der Angehörigen darauf. An meinem letzten Tag in Sana'a erhielt ich einen Brief aus Paris, worin mir recht bürokratisch mitgeteilt wurde, dass ich nicht der gewünschten Mikrotubuli-Arbeitsgruppe zugewiesen worden war, sondern einer, die sich am gleichen Institut mit der Reaktionskinetik von Hammerkopf- Ribozymen (einer bestimmten Form katalytischer RNA) beschäftigte – einem Thema, worüber ich wenig wusste und 215 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 216 welches bei mir wenig Begeisterung auslöste. Jedoch lag ein aktueller Review dabei, geschrieben von meinen künftigen Kollegen. Nach kurzem Zwischenaufenthalt in Berlin stand ich eine Woche später, Anfang Februar 1998, meinem neuen Arbeitsgruppenleiter am Institut Jacques Monod gegenüber, welcher mich mit einem ausgedehnten Monolog in die mit einem Nobelpreis bedachte Thematik der katalytischen RNA einführte und mir zu guter Letzt für das herannahende Wochenende zwei Doktorarbeiten zu lesen mitgab. Mein Französisch war als zu umfassend eingestuft worden, um in einen der für ERASMUS-Studenten vorgesehenen Sprachkurse zu gelangen, doch damit chemische Forschungsarbeiten zu lesen war eine echte Herausforderung. Noch mehr allerdings beschäftigte mich die Frage, ob ich nicht doch lieber nach Berlin zurückkehren und an einer mir mehr liegenden Problematik arbeiten sollte. Diese innere Spannung wurde noch verstärkt durch den abrupt erfahrenen Wechsel aus der sehr gruppenorientierten jemenitischen Gesellschaft ins anfänglich sehr anonyme Paris. 216 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 217 FRANKREICH Hauptgrund für meine Entscheidung zu bleiben war schließlich die Internationalität der Arbeitsgruppe, zu welcher Franzosen, Russen und Bulgaren sowie ein algerischer Laborassistent gehörten, welche sich untereinander auf Englisch, mit mir aber zumeist in ihrer Muttersprache verständigen konnten und mich trotz teilweise bestehender Vorurteile gegenüber Deutschen sehr herzlich aufnahmen. Im übrigen machten sie mich mit allen Deutschen bekannt, die zwischenzeitlich am Institut weilten – eine Aktivität, auf die weder ich noch die anderen Betroffenen besonderen Wert legten, was wiederum die Initiatoren der Begegnungen verwunderte. Aus einer davon hat sich allerdings eine wissenschaftliche Kooperation entwickelt, die bis heute andauert. Mit Semesterbeginn lernte ich andere Studenten kennen, von denen einige ebenfalls via ERASMUS-Programm hergekommen waren und teilweise sehr unterschiedliche Perspektiven auf grundlegende Parameter des Zusammenlebens wie Verkehrsregeln oder Tagesablauf mitbrachten. Mit ihnen gemeinsam die französische Hauptstadt samt ihrer Universitäts-, Forschungs-, Kultur-, Tourismus- und Bürokratielandschaft und nicht zuletzt ihrer Bewohner, zu denen nun auch wir zählten, im sich saisonal verändernden Alltag wahrzunehmen und näher kennen zu lernen, entwickelte sich zu einem Erlebnis ganz besonderer Natur. Neben der Laborarbeit besuchte ich noch einige Kurse, wofür ich die Zustimmung sowohl meines Arbeitsgruppenleiters als auch des Studienbüros benötigte, welche ich nicht in allen Fällen erhielt. Insbesondere wurden mir biophysikalische Lehrveranstaltungen verwehrt, die auf dem gleichen Campus (Jussieu, bekannt als der wohl größte zusammenhängende Astbestbau der Welt), nur formal an der Université de Paris VI – Pierre et Marie Curie, stattfanden, aber ebenso z.B. die Teilnahme an einem Trommelkurs. Letzteren besuchte ich 217 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 218 DANIEL MIETCHEN trotzdem und lernte dabei auch Franzosen kennen, die an anderen Fakultäten studierten. Durch sie entdeckte ich die Comic-Kultur für mich neu und erhielt interessante Einblicke in das Leben in den Rand- und Vorstädten. Nach einigen Wochen hatte ich mich so weit in die Kinetik der Hammerkopf-Ribozyme eingearbeitet, dass ich begann, Spaß daran zu haben und eigene Experimente zu planen. Auch hatte ich inzwischen aus Berlin die Rückmeldung erhalten, dass mein neues Thema für die Studienjahresarbeit akzeptabel war, und so begann für mich eine sehr angenehme Zeit in Paris, nur unterbrochen durch gelegentliche Ausflüge mit dem Eurostar nach London, eine Radtour rund um Korsika, eine Exkursion nach Gdańsk sowie ein marokkanischfranzösisches Workcamp in Fès, welche nicht nur jeweils für sich schöne Erlebnisse bedeuteten, sondern mir auch mit jeder Rückkehr Paris ein weiteres Stück näher brachten. Die meisten meiner ERASMUS-Kommilitonen, von denen einige durch viele gemeinsame Aktivitäten – vor allem Kochen und Diskussionen sowie deren Kombination – über die Monate zu Freunden geworden waren, mit denen ich teilweise noch heute in Kontakt stehe, kehrten eher zurück als ich, doch Ende August reichte ich meine Studienjahresarbeit ein, verließ Paris und begab mich nach Berlin, um bald darauf die erste Diplomprüfung abzulegen. Bisher hatte ich Biophysik und Medizin parallel studiert und damit die unvermeidliche berufliche Spezialisierung hinausgeschoben. Der direkte Vergleich zwischen aufeinanderfolgendem Krankenhaus- und Forschungspraktikum sollte mir bei dieser schwierigen Entscheidung helfen, was er auch tat, wenngleich nicht nur bewusst: Ich hatte im Jemen erfahren, dass genügsame Menschen bei geeigneten Umweltbedingungen recht gut ohne Bildung in unserem Sinne 218 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 219 FRANKREICH leben können, aber auch zu verstehen begonnen, dass Entwicklungshilfe, wenn sie sich auf Medizin konzentriert, langfristig nur Symptome behandeln, jedoch keine Ursachen beheben kann. Wissenschaft wiederum fasziniert in sich und kann Ursache-Folge-Beziehungen mit teilweise beeindruckender Detailgenauigkeit abbilden, ist allerdings – gerade in den experimentellen Disziplinen – auf dem Wege dahin von vielerlei Parametern abhängig, die allzu oft mit politischen Grenzen korrelieren und somit die notwendige globale Perspektive auf die dringendsten wissenschaftlichen Fragestellungen verbauen. Ich habe mich letztendlich für die Biophysik entschieden, bin dabei der medizinischen Forschung allerdings stets verbunden geblieben. Nach der Rückkehr aus Frankreich führten mich Forschungsaufenthalte noch mehrfach ins Ausland. Zunächst verbrachte ich ein knappes Jahr in Japan, während dessen ich mir in Vorbereitung auf meine Diplomarbeit mehrere biophysikalische Themengebiete genauer ansah und außerhalb des Labors einerseits das Fremdsein noch deutlicher erlebte, als dies im Jemen oder in Frankreich der Fall gewesen war, andererseits durch meine Taiko-Trommelgruppe auch sehr intensiven privaten Kontakt zu Nicht-Studenten und NichtPatienten erhielt, von denen wiederum kaum jemand Japan je verlassen hatte. Meine methodische Dissertation fertigte ich am FraunhoferInstitut für Biomedizinische Technik im saarländischen St. Ingbert an, wobei ich einige der Experimente dafür mit Förderung durch den DAAD in Südkorea durchführte und einen Teil der Resultate an meinem ehemaligen ERASMUS-Institut in Paris präsentierte. Während jener Jahre setzte ich meine Beschäftigung mit Sprache und Musik fort, und deren biologische Evolution bildet mittlerweile meinen thematischen Arbeitsschwerpunkt. 219 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 220 MARINA NEUMAIER Marina Neumaier, geb. 1984 in Dachau. Diplom in Betriebswirtschaft an der FH München. ERASMUS-Aufenthalt: September 2004-Februar 2005 an der Ecole Supérieure de Commerce Chambéry, Frankreich. 220 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 221 FRANKREICH »Erstens kommt alles, wie es will, und zweitens immer anders.« Im Wintersemester 2004/2005 habe ich als Gaststudentin ein Semester an der »ESC – Ecole Supérieure de Commerce Chambéry, Savoie«, einer Privatuniversität im Südosten Frankreichs, verbracht. Eigentlich hatte ich zuvor noch nie mit dem Gedanken gespielt, einmal ins Ausland zu gehen, aber es kommt für gewöhnlich »erstens alles, wie es will, und zweitens immer anders«. Ich sehe mich noch heute mit meiner Schwester Ramona und einer Freundin/ Kommilitonin im Kino sitzen: L'Auberge Espagnol. Damals hatten wir bereits an einer Infoveranstaltung des ERASMUSBüros der FH München teilgenommen. Ich war zu der Veranstaltung eigentlich nur mitgegangen, weil meine Freundin für ein Semester nach Ungarn gehen wollte, und hatte dann dort wie alle interessierten StudentInnen einen Bogen ausgefüllt und mich für das ERASMUSAuslandssemester beworben. Spätestens nach dem Kinobesuch jedoch stand mein Entschluss fest. Auch meine Schwester, die zu dieser Zeit ihre Ausbildung beendete, habe ich damit angesteckt, und so kam es dass sie, während der selben Zeit, die ich in Chambéry verbrachte, für ein Jahr als AuPair nach Mailand gegangen ist. Welches Land für mich in Frage kommen würde, war klar: Frankreich – was denn sonst! Bereits in der Schule habe ich Französisch geliebt und Englisch gehasst. Auch an der FH habe ich von Beginn an Fran- 221 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 222 MARINA NEUMAIER zösisch anstatt Englisch gewählt, da ich damals noch immer gedacht habe, dass ich um Englisch herumkommen und es später einmal nicht brauchen würde. Tja. Zu dem Zeitpunkt hätte ich auch nicht gedacht, dass ich meine Diplomarbeit einmal auf Englisch schreiben werde. Französisch ist zwar meine dritte Fremdsprache nach Latein und Englisch, aber diese Sprache hat mich von Beginn an fasziniert. Mein erster Wunsch-Ort, den ich auch zugesagt bekam, war Chambéry – nahe an den Bergen, das war wichtig für mich als aktive AlpinSportlerin. Mit meinen 2-jährigen Französisch Kenntnissen fuhr ich dann im September 2004 nach Frankreich und merkte sehr schnell, dass es ein Sprung ins kalte Wasser war. Aber ich liebe Herausforderungen und wachse gerne mit ihnen. Ich war die einzige deutsche Studentin in dem Semester, in das ich eingestuft wurde, und mit meinen 20 Jahren (mit Abstand) die jüngste unter den ERASMUS-Studenten. Mein ERASMUS-Semester war bisher »the best time of my life« und auch die Zeit, die mich am meisten geprägt hat. Ich habe nicht nur meine sprachlichen Kenntnisse verbessert, vielmehr habe ich mich persönlich weiterentwickelt. Zum Beispiel lernte ich schnell, mich in einem fremden Land zurechtzufinden, die sprachlichen Barrieren zu überwinden sowie sich ohne Eltern und Familie durchzuboxen. Ich konnte so viele neue Eindrücke und Erlebnisse gewinnen, dass ich nicht einmal Heimweh bekommen habe, ganz im Gegenteil, ich hätte die Zeit am liebsten angehalten. Wohl eines der Schlüsselerlebnisse für mich war das »Weekend d'intégration«: Zu Beginn des Semesters ist die ganze Hochschule in den Süden Frankreichs ans Meer gefahren, um dort die neuen Studenten in »ihre Gemeinschaft aufzunehmen« und einige gemeinsame Tage zu verbringen, um sich gegenseitig kennen zu lernen. 222 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 223 FRANKREICH Wow, so etwas habe ich noch nie gesehen, das muss man auf jeden Fall erlebt haben! Meine Erwartungen wurden bei meinem ERASMUS-Aufenthalt weit übertroffen, was zum einen die gute Betreuung vor Ort ausmachte (es wurden Veranstaltungen und Ausflüge für die ERASMUSStudenten organisiert und es war immer ein Ansprechpartner da) und zum anderen die Studenten der ESC. Ich war überwältigt, wie gut ich integriert und akzeptiert wurde, und das als Ausländerin. Außerdem habe ich in Frankreich sehr gute Freundinnen gefunden (Asma, Céline und Carla), zu denen ich noch heute in engem Kontakt stehe. Mein Auslandssemester an der ESC hat seitdem mein Leben verändert. Ich wollte nicht länger nur in Deutschland bleiben, sondern mehr von der Welt sehen und neue Kulturen kennen lernen. So war ich bereits während meines Auslandsaufenthaltes in Frankreich wieder auf der Suche nach Möglichkeiten, »abroad« zu gehen. Durch mein anschließendes Praktikum bei PwC München verdeutlichte sich mir immer mehr, dass es mindestens genauso wichtig war, Englisch gut zu beherrschen, und mir wurde bewusst, dass ich einiges zu tun hatte, um mein Englisch auf Vordermann zu bringen. Im Anschluss daran absolvierte ich dann ein 2-monatiges Praktikum in den Sommersemesterferien in Vancouver, Kanada. Mit dem Englisch hat es nach einer Weile recht gut geklappt, und ich fing an, auch an dieser Sprache Gefallen zu haben. Die Zeit verging wie schon bei meinem ERASMUS-Semester viel zu schnell und irgendwie konnte ich nun nicht mehr genug kriegen von der Auslandsluft. Durch meine bisherige Auslandserfahrung bekam ich die für mich einmalige Chance, meine Diplomarbeit in Kanada zu schreiben, was meine derzeitige Tätigkeit ist. Im August 2006 bin ich dann zusammen mit meinem Freund Daniel nach Kanada und wir haben vor, ca. ein Jahr hier zu bleiben, 223 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 224 MARINA NEUMAIER bevor der nächste Lebensabschnitt für uns beginnt. Vor der Abreise nach Vancouver hatte ich bereits nach einem Job in Deutschland gesucht für die Zeit nach unserem Kanada-Jahr. So ergab sich, dass ich bereits für nächsten Herbst ein gutes Angebot »für meinen Traumjob« erhielt und noch vor unserem Abflug den Arbeitsvertrag unterzeichnen konnte. Durch meinen Aufenthalt in Frankreich hat sich einiges verändert, vor allem dadurch, dass man sich persönlich weiterentwickelt und viel dazulernt. Ich habe z.B. die Einstellung, die ich bisher gegenüber ausländischen Studenten an unserer Hochschule eingenommen habe, überdacht und fortan immer versucht, ein Ansprechpartner und Helfer für ausländische Kommilitonen zu sein. Man bekommt auch einen anderen Bezug zur eigenen Heimat, zur Familie und zu den Freunden, und man lernt Dinge, die man bisher als selbstverständlich angesehen hat, zu schätzen. Die wichtigsten Erträge durch meinen ERASMUS-Aufenthalt: • Die Faszination und das Abenteuer, ›Ausland‹ zu entdecken. • Land und Leute und das Leben in einem fremden Land kennen zu lernen. • Freunde ›around the globe‹ zu finden, mit denen man in einer anderen Sprache kommunizieren kann. • Auf eigenen Beinen zu stehen, sich durchzuschlagen und die Erkenntnis, dass man es wieder mal geschafft hat. And finally, I can only say »GO ERASMUS« and I hope everybody will enjoy their stay abroad as much as I did! Cheers! 224 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 225 FRANKREICH Mein ERASMUS-Semester war bisher »the best time of my life« und auch die Zeit, die mich am meisten geprägt hat. MARINA NEUMAIER 225 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 k, geb Terbec s a m o h n. T chn Lüne 1972 i r in Geschi e t Magis agogik und niU d te, Pä gie an der ASR o Soziol t Bochum. E ä t i s : lt ver 6/97 fentha MUS-Au emester 199 s Winter mersemester ité s m und So der Univer s i n a a l e 7 b 9 19 is Ra eich. o ç n a r ankr de F rs, Fr de Tou 10:44 Uhr Seite 226 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 227 FRANKREICH Völkerverständigung, Bildung und persönliche Chance Tours, im geschichtsträchtigen Tal der Loire, an einem sonnigen Freitag im September 2006: Adrian, der argentinische Besitzer unseres ehemaligen Wohnzimmers »Au temps du Roi«, der Bar auf dem malerischen Place Plumereau im Herzen des mittelalterlichen Stadtkerns, traut seinen Augen nicht. Aber wir sind es wirklich! Nach und nach füllt sich unser Tisch, und wir alle werden mit einem großen »Salut!« und diversen Freigetränken begrüßt: der Historiker und Stipendienspezialist José Luis aus Zaragossa, der Psychologe und Weltenbummler Albert aus Barcelona, der in den letzten Jahren nicht nur Indien als Backpacker ausgiebig bereiste, sondern den es »off the beaten track« auch nach Syrien, Iran, Afghanistan und zuletzt Georgien zog; der Quebecois Hilal, Rechtsanwalt mit libanesischen Wurzeln, mein Namensvetter Thomas aus dem schönen Ruhrgebiet, seines Zeichens Lehrer aus Passion, Frankreichkenner und vor allem (nicht nur) mein Mann für alle Fälle bei Wortfindungsschwierigkeiten; die Biologin Mayte aus Malaga, mein Konterpart hinsichtlich der von mir so geliebten Konzertbesuche, die trotz (bzw. vielleicht auch gerade wegen) einer vor fünf Jahren erlittenen, halbseitigen Teillähmung glücklicherweise so viel spricht wie nie zuvor, und ich. Etwas verspätet trudeln noch der in der Nähe von Tours auf dem Schloss seiner Eltern aufgewachsene spanische Franzose Santi sowie Jésus aus Valencia ein, der zu unserem Erstaunen trotz seines ihn charakterisierenden, überdurchschnittlich ausgeprägten Schlaf- 227 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 228 THOMAS TERBECK bedürfnisses mittlerweile durch die halbe Welt jettet, um Medizintechnik zu verkaufen. Auch Yannick, Leiter einer der örtlichen Sprachschulen, schaut kurz vorbei. Obwohl wir uns zum Teil seit mehreren Jahren nicht gesehen haben, verschwenden wir nur sehr wenig Zeit auf das – für die Kohorte Ü30 anscheinend international übliche – Frage-und-Antwort-Spiel zu den Themen ›beruflicher Erfolg‹, ›Kinder‹ und ›Immobilien‹. Stattdessen widmen wir uns schnell dem Wesentlichen: dem einzigartigen Moment, dem guten Essen und den Getränken, unserer gemeinsamen Vergangenheit in Tours, aber vor allem unserer aller Lieblingsbeschäftigung, dem sinnfreien Palaver. Wir müssen uns nicht erklären, wir kennen uns, haben uns intensiv kennen gelernt in Seminaren, bei Adrian, auf Partys, aber nicht zuletzt in der Résidence de Grandmont, einem auf den ersten bis dritten Blick eher gewöhnungsbedürftigen Studentenwohnheim, fünf Kilometer nördlich des Stadtzentrums gelegen. Nach einer langen Nacht beginnen wir den zweiten Tag unseres zehnjährigen ERASMUS-Geburtstagstreffens am frühen Nachmittag mit einem Nostalgie-Tripp in den Parc de Grandmont. Ist schon komisch, wieder das Gebäude zu betreten, welches man neun Monate lang sein Zuhause genannt hat. Insbesondere, weil sich anscheinend nichts verändert hat: wie zuvor teilen sich auf jeder der vier Etagen der insgesamt acht Gebäude jeweils 36 Studierende einen Kühlschrank, zwei Kochplatten, vier Duschen und vier Toiletten, wobei für die nicht vorhandenen Toilettenbrillen und die Reinigung an Wochenenden offensichtlich noch immer das Geld fehlt. Obwohl das Semester noch nicht begonnen hat, brennt Licht in D 206, meinem (ehemaligen) Domizil. Der derzeitige, höchstens 18jährige Bewohner weiß nicht so genau, ob er mir Einlass gewähren soll, entschließt sich dann aber doch dazu, dem alten Mann einen Blick zu gönnen: Es ist 228 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 229 FRANKREICH der totale Wahnsinn! Selbst die 30 Millimeter dicke Spanplatte, die ich mir aus gesundheitlichen Gründen für wenige Francs anfertigen ließ, um dem Hängemattenkomfort des völlig durchgelegenen Maschendraht-Lattenrosts und der damit verbundenen Umarmung durch die Matratze aus den späten 70er Jahren zu entgehen, ist noch existent. Keine Zeitmaschine dieser oder einer anderen Welt könnte bessere Arbeit leisten. Anhand der Heftzweckenlöcher in den Wänden wäre es sogar ein Leichtes, meine Fotos und Poster wieder originalgetreu zu arrangieren. Nur meine Gefühlswelt ist grundverschieden: Während der Anblick von D 206 und die damit verbundenen Erinnerungen in mir nunmehr ein wohliges Kribbeln, ja Begeisterung hervorrufen, lief mir beim ersten Betreten dieses Zimmers ein kalter Schauer über den Rücken. Tours, 200 Kilometer westlich von Paris, an einem regnerischen Montagnachmittag, Mitte September 1996: nach zehnstündiger Reise und viel zu langen Diskussionen mit diversen, tendenziell unfreundlichen, vor allem aber sehr schnell sprechenden Mitarbeiterinnen des örtlichen Studentenwerks, die zu meinem Erschrecken nicht nur über keinerlei Fremdsprachenkenntnisse verfügen, sondern mich überdies erst in drei Wochen erwarteten und daher mehrere Stunden mit dem Gedanken spielen, mir nun keinen Wohnheimplatz zuzuweisen, scheine ich endlich am Ziel angekommen: Résidence de Grandmont, Bâtiment D, Chambre 206. Als auch die intensive Gesichtskontrolle und ›Einweisung‹ durch eine grimmige Concierge überstanden ist, lasse ich mich völlig erschöpft auf mein ›neues‹, viel zu kurzes Bett fallen. »Das soll es nun sein?«, frage ich mich. »Leben wie Gott in Frankreich?« Savoir vivre habe ich mir anders vorgestellt. Ganz anders! Mein erster Gedanke: »Aus diesem maximal acht Quadratmeter kleinen 229 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 230 THOMAS TERBECK THOMAS TERBECK Dass ich während meines Studiums einen längeren Auslandsaufenthalt machen würde, war mir bereits vor meiner Immatrikulation klar. 230 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 231 FRANKREICH Loch musst du so schnell wie möglich wieder heraus!« Mein zweiter Gedanke: »Ruhig Brauner! Erst einmal schlafen, und dann sieht die Welt vielleicht schon anders aus.« »It’s not right, it’s not wrong, it’s just different!« sage ich mir dann auch ganz diplomatisch am nächsten Morgen, als ich mich trotz eines gewissen Notstandes spontan entscheide, doch zunächst einmal die Toiletten im Stadtzentrum zu erkunden. Dieser weise – wenngleich nicht immer wahre – Spruch hatte mir schon während meines HighSchool-Aufenthalts in den USA das eine oder andere Mal weitergeholfen. Warum sollte das nicht wieder klappen? Ist doch schließlich alles nur Einstellungssache! Und ich bin ja freiwillig hier. Also: positiv denken! Vier extrem lange, weil sehr einsame Tage später helfen mir auch diese schlauen Sprüche nicht mehr weiter. Ich hänge bereits in einem Loch, einem sehr tiefen Loch. Das Semester beginnt erst in drei Wochen, und meine quasi nicht vorhandenen Französischkenntnisse machen die Kontaktaufnahme zu meinen durchschnittlich fünf Jahre jüngeren, vor allem aber sehr reservierten Zellengenossen nicht gerade leichter. Natürlich hatte ich mit Anpassungsschwierigkeiten und Kulturschock gerechnet, aber nicht in dem Maße bzw. zu einem so frühen Zeitpunkt. Ich war mir sicher, durch mein keineswegs reibungslos verlaufenes Schüleraustauschprogramm und meine langen Rucksackreisen durch viele Länder dieser Welt bestens für mein Abenteuer in Frankreich gerüstet zu sein. Aber nun habe ich bereits nach wenigen Tagen das beklemmende Gefühl, in Isolationshaft zu sein – und alles falsch gemacht zu haben. Dabei hatte man mich gewarnt. Dass ich während meines Studiums einen längeren Auslandsaufenthalt machen würde, war mir bereits vor meiner Immatrikulation klar. Wann, wohin und mit welchem Programm, stand in den ersten 231 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:44 Uhr Seite 232 THOMAS TERBECK Semestern jedoch noch völlig in den Sternen. Spätestens seit meinem High-School-Aufenthalt südlich von Seattle war ich infiziert von dem Fernwehvirus. Und meine Rucksacktouren durch Südamerika, Südostasien, Australien, Neuseeland und weite Teile Europas taten ihr übriges. Als es dann mit großen Schritten auf die Zwischenprüfung zuging, mussten Entscheidungen getroffen werden: Da bei mehrmonatigen Auslandsaufenthalten für mich das Kennenlernen und Erleben einer mir fremden Kultur absolute Priorität genießt, fielen alle Länder, in denen ich schon ausgiebig Erfahrungen sammeln durfte, von vornherein unter den Tisch. Darüber hinaus sollte es auch sprachlich zu neuen Ufern gehen, weswegen das englischsprachige Ausland aus dem Rennen war. Weil meine Spanischkenntnisse zu diesem Zeitpunkt zwar stark verbesserungswürdig, jedoch für eine Alltagskommunikation völlig ausreichend waren, drängte sich Frankreich nun förmlich auf. Schließlich hatte ich während meiner Schulzeit nur zwei kurze Jahre Französischunterricht genossen, und an eine Konversation in dieser für mich so schwierigen Sprache war bisher nicht zu denken. »Jetzt oder nie« hieß folglich meine Devise, und außerdem passte Frankreich auch bezüglich meines Studienschwerpunktes ›Neueste Geschichte‹ sehr gut ins Konzept. Es konnte schließlich nicht schaden, auch mal den 1. und 2. Weltkrieg sowie die Nachkriegszeit aus der Perspektive eines unserer direkten Nachbarn vermittelt zu bekommen. Nun musste eine Möglichkeit gefunden werden, diesen Auslandsaufenthalt möglichst kostenneutral zu gestalten. Die erste Adresse dafür: der DAAD. Schnell war ein passendes Programm gefunden, und alles schien gut zu laufen, bis mir im Sprachtest ›Französisch‹ zwar ein einigermaßen passabler Grundwortschatz ›Spanisch‹ bescheinigt wurde, mir aber vor dem Hintergrund des ›Schwarzen Lochs‹ in der französischen Sprache meine Kommunikations- und 232 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 233 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 234 THOMAS TERBECK Studierfähigkeit für Frankreich abgesprochen wurde. Schade war das schon, aber völlig unerwartet traf mich dieses – durchaus nachvollziehbare – Urteil natürlich nicht. Jetzt griff Plan B: Da an unserer Fakultät die Frankophilie anscheinend nicht sehr ausgeprägt war, gab es in der Regel stets mehr ERASMUS-Plätze als Bewerber. Und da mich die Sorbonne zwar reizte, die Lebenshaltungskosten in Paris aber meinen finanziellen Rahmen gesprengt hätten, durfte ich mich über einen Platz in Tours freuen. Und da saß ich nun, in meiner Zelle, und hatte endlos Zeit, darüber zu philosophieren, ob ich das Ergebnis des Sprachtests nicht hätte anders bewerten sollen und ob ich nicht doch in Spanien, England oder im dänischen Roskilde, wo meine Freundin zur selben Zeit ihr ERASMUS-Jahr verbrachte, besser aufgehoben gewesen wäre. Mein Selbstwertgefühl tendierte innerhalb weniger Tage gegen Null, und erste depressive Züge wären für einen Spezialisten bestimmt auszumachen gewesen. Doch dann kippte mein Befinden innerhalb von wenigen Wochen glücklicherweise wieder in die richtige Richtung: um die Zeit bis Semesterbeginn zu überbrücken, belegte ich einen Sprachkurs. Und abgesehen davon, dass ich dadurch endlich unter Leute kam, schaffte es Yannick erstaunlich schnell, mich zum Reden zu bringen. Parallel dazu kamen immer mehr ERASMUS-Studenten aus ganz Europa im Wohnheim an, und man hatte sofort das Gefühl, nicht mehr allein im Boot zu sitzen. Relativ schnell zeigte sich auch, dass der grenzwertige Wohnkomfort in unseren Zimmern auch einen entscheidenden Vorteil hatte: alle Welt hielt sich im Treppenhaus auf oder versammelte sich um die zwei Kochplatten. So lernte ich dort respektive in den Ende Oktober startenden Sprach- und Kulturkursen für ERASMUS-Studierende in den nächsten Wochen José Luis, Mayte, Sergio und all die anderen kennen. Da sich ihre Französischkenntnisse zu Beginn des Aufent- 234 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 235 FRANKREICH halts nicht grundsätzlich von meinen unterschieden, kamen mir nun meine Spanischkenntnisse nicht ungelegen, und wir schufen unsere ›langue ERASMUS‹, die vor allem die Franzosen zum Teil vor größere Probleme stellte. Und sonst? Nein, ich habe durch das ERASMUS-Programm nicht nur Freunde fürs Leben gefunden, deren ›harten Kern‹ ich durchschnittlich alle zwei Jahre sehe, in der Regel immer dort, wo José Luis gerade wieder ein Forschungsstipendium aufgetan hat. Ich habe eine für mich sehr schwierige Sprache sprechen gelernt und im Wohnheim, an der Universität sowie in den Bars und Restaurants ein Stück französische Kultur erlebt. Zum Teil bin ich in meinen oft gar nicht so negativen Vorurteilen bestätigt worden, aber nicht selten wurden mir völlig neue Perspektiven eröffnet. Gerne hätte ich mehr französische Kommilitonen kennen gelernt, aber die waren in der Regel während der Woche mit dem Studium beschäftigt und am Wochenende bei ihren Eltern. Selbst akademisch war das ERASMUS-Programm ein voller Erfolg: Nein, ich habe keinen einzigen Schein mit nach Hause gebracht, aber das war auch nicht mein Ziel. Stattdessen habe ich erlebt, wie an der Université François Rabelais Geschichte und Soziologie gelehrt und gelernt wird. Und immer dann, wenn mir zu viel Wahrheit von der Kanzel verkündet wurde und die kontroverse Diskussion aus meiner Sicht viel zu kurz kam, diskutierten José Luis und ich uns die Köpfe heiß. Darüber hinaus hatte ich viel Zeit, mich jenseits von Pflichten und Konventionen mit Dingen zu beschäftigen, die mir vorher eher fremd waren: Schlösser, Jazz, Wein, Käse, Mittelalter. Hätte ich ohne meinen ERASMUS-Aufenthalt sonst je erfahren, dass der Mann hoch zu Ross, dem ich als Kind in jedem November mit meiner Laterne hinterher gelaufen bin, tatsächlich gelebt hat und Bischof in Tours war? 235 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 236 Nicht zuletzt habe ich meine bewusst nicht zu knapp bemessene freie Zeit in Frankreich dazu genutzt, mir ein paar Gedanken zu machen. Dabei kam mir die Idee, das Handbuch ›Fernweh‹ zu verfassen, mit dem ich – eher unbewusst – den Grundstein für meinen jetzigen Beruf legte: Als Autor des umfangreichsten Ratgebers zum Schüleraustausch, den ich noch während meiner Studienzeit fertig stellte und selbst verlegte, war von einem Tag auf den anderen mein Rat bei der Organisation von mehrmonatigen Auslandsaufenthalten gefragt. Seit nunmehr acht Jahren gehe ich der mich sehr erfüllenden, überaus dankbaren Aufgabe nach, als unabhängiger Bildungsberater, Verleger, Referent und Veranstalter der bundesweit stattfindenden Jugendbildungsmessen JUBI meine Erfahrungen an fernwehinfizierte Schüler und Studierende weiterzugeben – und ich kann damit 236 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 237 FRANKREICH sogar meinen Lebensunterhalt bestreiten. Mein ERASMUS-Aufenthalt mit all seinen Facetten hat somit – wie auch alle anderen meiner Auslandsaufenthalte – auf seine Art nicht unerheblich dazu beigetragen, dass ich ein Leben führen darf, wie ich es mir vorstelle. Mehr kann man von einem Programm nun wirklich nicht erwarten. Adrian meint übrigens, die ERASMUS-Studenten hätten sich in den letzten zehn Jahren stark verändert. Es würde weniger gefeiert, mehr gelernt. Wenn er Recht hat, wird diese neue Generation sicherlich viele Scheine mit nach Hause bringen. Aber bleibt dafür nicht auch einiges auf der Strecke? 237 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 238 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 239 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 240 JESSICA WILZEK JESSICA WILZEK, GEB. 1980 IN HOLZMINDEN. DIPLOM IN WIRTSCHAFTSROMANISTIK AN DER UNI GIEßEN. ERASMUS-AUFENTHALT: SEPT.’02 BIS MÄRZ’03 AN DER UNIVERSITÉ DE BOURGOGNE, DIJON, FRANKREICH. 240 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 241 FRANKREICH Asterix erobert Rom und ich Frankreich Was mache ich hier eigentlich? Warum bin ich hier? Diese Fragen stellte ich mir, während ich auf einem unbequemen Designerstuhl in einer kleinen Bankfiliale nicht weit von meinem Wohnheim und dem Campus der Uni Dijon hin und her rutschte. Ich hatte nicht so richtig verstanden, was die etwas ungeduldige Bankangestellte von mir wollte, und fühlte mich jetzt unwohl, weil ich ungefähr hundert Seiten Dokumente unterschrieben hatte und eigentlich nicht wusste, was da drinnen stand. Selbst die Seiten zu unterschreiben, war nicht einfach: erst nach der dritten Unterschrift hatte ich verstanden, dass man »lu et approuvé« noch mal handschriftlich dazuschreiben sollte, obwohl es schon über dem Kästchen für die Unterschrift stand. Ich war in Frankreich. Endlich wieder. Diesmal für ein ganzes Semester. Frankreich war das Land meiner Träume seit einem ersten und bis zu meinem ersten Schüleraustausch einzigen Urlaub in Frankreich. Ich war noch klein, aber ich liebte es, mit meinen Eltern in die Bäckerei zu gehen und Baguette und Croissants zu kaufen. Zu meinen Erinnerungen aus diesem Urlaub gehört auch ein sandiger Platz neben unserem Hotel, auf dem Männer Boules spielen. Damals wusste ich natürlich noch nicht, was das für ein seltsames Spiel ist, in meinen Augen haben die einfach ohne Sinn die Kugeln in den Sand geschmissen. Das hat mich als Kind fasziniert. In der Schule habe ich dann Französisch gewählt, weil ich wusste, dass es einen Austausch gab, und ich unbedingt wieder nach Frank- 241 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 242 JESSICA WILZEK reich wollte. Später in der Oberstufe habe ich zusätzlich an einem Pilotprojekt meiner Schule teilgenommen, das einen sechswöchigen Austausch mit Montpellier vorsah. Von diesem Austausch habe ich immer noch Freunde. Meine Austauschpartnerin von damals und ich haben uns seitdem jedes Jahr getroffen, mal in Deutschland, mal in Frankreich. Schließlich habe ich Französisch als Studienhauptfach gewählt, und es war klar, dass ich gern längere Zeit in Frankreich verbringen wollte. Nach meinem Vordiplom bin ich dann in mein ERASMUSSemester an der Université de Bourgogne in Dijon aufgebrochen. Und da saß ich nun in der Bank, völlig überfordert, sprachlich und vielleicht auch kulturell, und fragte mich, warum ich das getan hatte. Ich muss zugeben, dass ich mir alles einfacher vorgestellt hatte. Ich hatte erwartet, mit der Sprache gut zurecht zu kommen und mich auch sonst eigentlich schon auszukennen. Aber plötzlich stellten sich Kleinigkeiten wie die Eröffnung eines Kontos, die Immatrikulation, Beantragung von Wohngeld oder auch der Besuch eines Frisörs als Herausforderung dar. Zuerst das Konto: Ich wusste schon ziemlich bald nach meiner Ankunft, dass ich ein RIB brauchen würde, ohne zu wissen, was genau das ist und vor allem, wo man das bekommt. Bald fand ich heraus, dass RIB nicht die französische Form von R.I.P. ist, so wie ich anfangs vermutete und was mich vollständig verwirrt hatte. Statt Rest in Peace also Relevé d’identité bancaire. Um ein RIB zu bekommen, muss man ein Konto eröffnen, nicht etwa sterben. Das RIB brauchte ich für die CAF (Caisse familiale de l’allocation). Wer sich jetzt bereits in den französischen Abkürzungen verloren fühlt, der kann ein bisschen nachempfinden, wie es mir ging. Obwohl ich Französisch schon als Leistungskurs hatte und dieses Fach nun 242 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 243 FRANKREICH studierte. Obwohl ich schon in der Schule an zwei Austauschprogrammen mit Frankreich teilgenommen hatte. Ich hatte mich wirklich gut vorbereitet gefühlt, ich hatte schon Freunde in Frankreich, mein Französisch war nicht schlecht … oder doch? Die Vokabeln der französischen Bürokratie hatten mich stark ins Zweifeln gebracht. Zur CAF geht man, wenn man Wohngeld beantragen möchte. Die ERASMUS-Studenten der letzten Semester hatten mir geraten, dorthin so schnell wie möglich nach meiner Ankunft zu gehen, damit ich es noch rechtzeitig für den laufenden Monat bekommen würde. Toller Tipp, dachte ich, und bin etwas ahnungslos und nur mit meinem Personalausweis ausgestattet zur CAF gegangen. Dort erklärte man mir geduldig, dass ich zuerst ein RIB bräuchte. Gut. Dann eine Bestätigung meines Wohnheims; die brauchte ich, wie sich herausstellte, auch für die Kontoeröffnung. Gut. Für die Kontoeröffnung sollte ich aber auch eine Immatrikulationsbescheinigung vorweisen. Und um die Immatrikulationsbescheinigung zu bekommen, brauchte ich eine Carte de séjour, eine Art Aufenthaltsgenehmigung. Oder brauchte ich die Immatrikulationsbescheinigung, um die Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen? Mir schwirrte der Kopf. Ich fühlte mich wie Asterix und Obelix in »Asterix erobert Rom«, als sie bei der achten Aufgabe eine »Formalität verwaltungstechnischer Art« erledigen sollen. Sie werden von einem Beamten zum nächsten geschickt, ohne jemals eine Antwort zu bekommen und ohne herauszufinden, wohin sie zuerst hätten gehen sollen. Ich war kurz davor zu verzweifeln. Für die Carte de séjour musste man persönlich in der Préfecture vorbeischauen, mehrere Stunden anstehen, mindestens vier Fotos mitbringen, in schwarz-weiß und bunt, und bloß nicht vergessen, am Eingang eine Nummer zu ziehen. Beim ersten Mal bin ich böse beschimpft worden, weil ich mich, ohne mich darüber zu wundern, 243 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 244 JESSICA WILZEK dass so viele Leute auf Stühlen herumsitzen und warten, hinter den Mann am Schalter gestellt hatte. Es kann allerdings passieren, dass die Préfecture Mittagspause macht, bevor die eigene Nummer dran kommt, und man also noch mal wiederkommen muss. Oder es passiert etwas Unvorhergesehenes, wie in meinem Fall: kurz bevor meine Nummer dran war, wurde Bombenalarm ausgerufen und die Préfecture für den restlichen Tag geschlossen. Ich muss sagen, dass ich diese Aufgaben mit der Bank, der CAF und der Préfecture nicht so schnell gelöst habe wie Asterix und Obelix und mir am Anfang immer mal wieder die Frage gestellt habe, warum ich das auf mich nahm. Dafür hatte ich meinen Freund für ein halbes Jahr in Deutschland zurückgelassen? Dafür hatte ich Geld gespart, mein Zimmer zwischenvermietet? Ja, ich muss sagen, am Anfang war es schwierig. Letztlich habe ich natürlich sowohl meine Carte de séjour als auch mein Konto und sogar Wohngeld bekommen. Ich habe Unmengen an Passfotos gemacht, irgendwann routiniert überall immer erstmal eine Nummer gezogen (am Bahnhof muss man das nämlich auch) und mich irgendwann größeren Herausforderungen wie dem Besuch beim Frisör gestellt. (Wie will man jemandem erklären, wie er die Haare schneiden soll, ohne die Begriffe für ›Pony‹, ›Stufenschnitt‹, ›fransig‹, ›Strähnchen‹ oder ›kinnlang‹ zu kennen? Ganz einfach: gar nicht, man lässt einfach machen, zeigt vielleicht pantomimisch ein bisschen was, aber vertraut sonst ganz mutig auf den Geschmack der französischen Frisöre). Heute frage ich mich nicht mehr, wieso ich damals nach Frankreich gegangen bin, sondern eher, was passiert wäre, hätte ich es nicht getan. Ich wäre nicht dort, wo ich jetzt bin –, nämlich wieder in Frankreich. 244 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 245 FRANKREICH Heute frage ich mich nicht mehr, wieso ich damals nach Frankreich gegangen bin, sondern eher, was passiert wäre, hätte ich es nicht getan. Ich wäre nicht dort, wo ich jetzt bin –nämlich wieder in Frankreich. JESSICA WILZEK 245 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 246 JESSICA WILZEK Noch während meines Auslandssemesters habe ich mich für ein Praktikum in Frankreich beworben. Im gleichen Jahr im Herbst habe ich dann fünf Wochen als Praktikantin beim Radiosender RCF in SaintEtienne gearbeitet. Ich habe Interviews geführt und die Verkehrsnachrichten gesprochen. Ohne mein Auslandssemester wäre das wahrscheinlich sprachlich nicht möglich gewesen, und vor allem hätte ich es mir nicht zugetraut. Nach und nach hatte ich es geschafft, die Geheimnisse von CAF, RIB und Co. zu lüften. Das hat mir Mut gemacht, mehr zu versuchen. Es hat mir gezeigt, dass man alles irgendwie hinbekommt, wenn man nur oft genug fragt. Nach meinem Praktikum in Frankreich habe ich als Praktikantin bei dem DAAD-Informationszentrum in Tiflis, Georgien, gearbeitet. Ein derart exotisches Ziel hätte ich mir vor meinem Auslandssemester niemals zugetraut. Die Organisation meines Aufenthalts dort, Stipendienbewerbung, Visa, Zimmersuche, Flug machte mir keine Angst mehr. Und diesmal sprach ich nicht einmal die Landessprache. Nach der Abgabe meiner Diplomarbeit habe ich mehrere Wochen in den USA verbracht, bevor ich wieder nach Frankreich gegangen bin. Jetzt arbeite ich als DeutschMobil-Lektorin für ein Jahr in Caen. Das ERASMUS-Semester war ein erster Schritt ins Unbekannte, oder war es vielleicht sogar schon der Schüleraustausch? Diese Erfahrungen haben mich auf den Weg gebracht hat, den ich jetzt gehe. Sie haben mir die Angst genommen, meine Ziele, verschiedene Länder zu erleben, Sprachen zu lernen, Menschen aus anderen Kulturen zu treffen und unter ihnen sogar Freunde zu finden, zu verwirklichen. Wegen meiner Erfahrungen im Ausland habe ich überhaupt erst neue Ziele entwickelt, z.B. Praktika im Ausland zu machen oder sogar im Ausland zu arbeiten. 246 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 247 FRANKREICH Und ebenso wichtig war für mich, dass ich durch den ganzen Papierkram, dem ich ausgesetzt war, großes Verständnis, ja Bewunderung für meine ausländischen Kommilitonen in Deutschland bekommen habe. Es mag sein, dass Deutschland und Frankreich sich in manchen Dingen unterscheiden, aber in bürokratischen Abläufen sind wir uns schon sehr ähnlich, worüber ich mir vor meinem ERASMUS-Semester nicht ganz klar war. Im Auslandssemester habe ich neue Freundschaften geschlossen, viele wichtige Erfahrungen gemacht, etwa die, nicht gleich aufzugeben, wenn ich etwas auf Anhieb nicht verstehe, zu fragen, auch mal ein Risiko einzugehen (wie beim Frisör), über den eigenen Schatten zu springen, sich etwas zuzutrauen, weiterzugehen. Die Bedingungen, um ein Konto zu eröffnen, sind heute immer noch die gleichen, genauso wie die der CAF. Aber mittlerweile gibt es schon keine Carte de séjour mehr. Den Freund von damals habe ich übrigens immer noch, und ich scheine ansteckend zu sein: Mittlerweile war er selbst für sechs Monate im Ausland und plant noch mal einen Auslandsaufenthalt für seine Diplomarbeit. Das wäre dann nach meinem Jahr in Frankreich. Wer weiß, vielleicht gehe ich mit? Ich kenne so viele Länder noch nicht und die Organisation eines Auslandsaufenthalts schreckt mich nicht mehr ab. 247 DAAD_ERASMUS_IN_070411 PETER WOLLNY 248 11.04.2007 10:45 Uhr Seite 248 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 249 FRANKREICH Paris – eine Erfahrung fürs Leben – dank ERASMUS Nachdem ich während meiner Schulzeit bereits drei mal die Möglichkeit hatte, nach Frankreich zu kommen, wollte ich auch während des Studiums diese Gelegenheit nicht verpassen. Bereits lange vorher habe ich mich informiert, welche Möglichkeiten es gibt, im Ausland zu studieren, auch wenn es während des Medizinstudiums eher unüblich war, ein Auslandssemester zu absolvieren. Der Begriff ›ERASMUS‹ war vielerorts zu hören, doch was ist das genau? Wer war eigentlich dieser ERASMUS? Was muss ich dafür tun, einen der heiß begehrten Plätze zu erhalten? In der Sprechstunde wurde mir anfangs gesagt, dass Lille die einzige Stadt in Frankreich sei, mit der man ein Austauschprogramm organisiere. Da mich diese Stadt nicht so gereizt hat, habe ich den Plan wieder etwas nach hinten geschoben und auch ernsthaft über andere Länder wie Norwegen oder Schweden nachgedacht. Aber mit Frankreich war ich doch durch meine Erfahrungen zur Schulzeit eher verbunden und wusste auch, dass ich hier weniger Sprachprobleme haben würde. Auf jeden Fall stand fest, dass ich ein Semester im europäischen Ausland verbringen will, um einfach mal über den Tellerrand hinausschauen zu können. Es kam aber dann doch anders, als erwartet. Gleich beim nächsten Besuch der ERASMUS-Sprechstunde wurde ich angesprochen: »Sie waren doch derjenige, der gerne nach Frankreich möchte, oder?«. Ich hatte tatsächlich das Glück, dass der ERASMUS-Koordinator der Justus-Liebig-Universität Gießen, PD Dr. Snipes, am Wochenende auf 249 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 250 PETER WOLLNY einer Tagung in Berlin war und dort die Koordinatorin aus Paris kennen gelernt hatte. Somit hatte ich als erster Student aus Gießen die Möglichkeit, nach Paris zu gehen. Das war eine große Freude, allerdings auch eine sehr große Herausforderung. Ich konnte nicht von den Erfahrungen anderer profitieren, sondern musste mir alles selbst organisieren. Von den Praktika über die Wohnung bis hin zur Einschreibung an der Universität. Frau Wright von der Universität Pierre et Marie Curie in Paris war mir zwar in vielen Punkten behilflich, aber um die meisten Dinge musste ich mich doch selbst kümmern. Es machte mir allerdings unglaublich viel Spaß, schon im Vorfeld auf französisch alles zu organisieren, auch wenn Vieles nicht immer einfach war und ich an wirklich kleinen Hürden manchmal fast aufgeben wollte. Dennoch habe ich am Ende alle bürokratischen Anforderungen erfüllt und konnte mich im April auf den Weg machen. Selbst eine Wohnung hatte ich mir von Deutschland aus organisiert, auch wenn mich die Mietpreise doch sehr schockierten. Ich wurde von Anfang an in das französische Studiensystem integriert und mit einer Gruppe französischer Studenten in die Kardiologie eingeteilt. Von Anfang an wurde ich eingebunden, und jeder war bemüht, mir bei meinen Startschwierigkeiten zu helfen. Innerhalb kürzester Zeit war ich in der Lage, meine eigenen Patienten aufzunehmen, sie zu betreuen und sie bei der Visite den Ärzten vorzustellen. Trotz aller Bedenken war mein Französisch von Anfang an völlig ausreichend. Ich konnte auch recht schnell Anschluss finden und selbstverständlich habe ich sofort weitere deutsche ERASMUSStudenten getroffen, über die ich dann jede Menge andere ausländische (ERASMUS-) Studenten kennen lernen konnte. Es war unglaublich toll, mit solch einer internationalen Truppe schöne Abende an der Seine, am Canal St. Martin oder in der Cité Universitaire zu 250 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 251 FRANKREICH verbringen. Das Spannende daran war, dass häufig Französisch die einzige gemeinsame Sprache war. Somit wurde auch unter den Deutschen sehr oft französisch gesprochen, damit jeder in der Gruppe der Konversation folgen konnte. Dieses internationale Flair war einfach beeindruckend und auch wirklich mein persönliches ›ERASMUSGefühl‹. Auch die Tatsache, einen französischen Vermieter zu haben, der fast ausschließlich ausländische Studenten als Mieter hatte, war sehr interessant. So hatte ich häufiger die Möglichkeit, mit ihm, seiner Familie und auch anderen Studenten über Land und Leute zu diskutieren. Anders hätte man sicher nur schwer einen Einblick in das Land bekommen können, da man ja doch die meiste Zeit mit Landsleuten oder anderen Ausländern verbringt. Alles in allem war dieses Semester definitiv das Schönste und Interessanteste in meiner Studienzeit und ich bin überzeugt, dass ich in diesen sechs Monaten mehr fürs Leben gelernt habe als in allen anderen Semestern zusammen. Wegen dieser positiven Erfahrung musste ich unbedingt noch einmal nach Frankreich zurück. Mir kam vor dem Praktischen Jahr (PJ) die Idee, eines der Départements d’outre mer (DOM) kennen zu lernen. Ich habe mich dort für ein viermonatiges Praktikum beworben und wurde mit offenen Armen empfangen. Das war natürlich ein ganz anderes Frankreich, als ich es bisher kennen lernen durfte, aber dennoch durchaus interessant zu sehen, wie Europa auch sein kann. Hier konnte ich meine Französisch-Kenntnisse noch mal deutlich verbessern und habe auch von dieser Zeit sehr profitiert. Als mein Studium dann im November 2005 zu Ende war, habe ich eine Stelle in Deutschland gesucht. Mir war eigentlich klar, dass ich in Frankreich keine Stelle als Assistenzarzt bekommen konnte, da die Studiensysteme sich doch gravierend unterscheiden. Der Gedanke, als Facharzt nach Frankreich auszuwandern, blieb allerdings immer 251 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 252 PETER WOLLNY im Hinterkopf. Zufällig entdeckte ich dann aber im Dezember 2005 eine Stellenanzeige mit dem Text »Notärzte für den grenzüberschreitenden Notarztdienst in Frankreich gesucht«. Das klang vielversprechend. Da die Notfallmedizin sowieso mein persönliches Steckenpferd ist, musste ich mich hier einfach bewerben. Der Gedanke, in beiden Ländern zu arbeiten, war wirklich spannend. Ich wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen und bekam letztlich die Stelle wegen meiner Erfahrungen, die ich in Frankreich schon gemacht hatte. Ursprünglich wurde jemand mit Erfahrung gesucht, die ich leider nicht bieten konnte, aber dank ERASMUS hat man mich dann eingestellt. Meine Sprachkenntnisse waren natürlich auch von Vorteil. In dieser Grenzregion ist es sehr wichtig, dass man beide Sprachen beherrscht. So habe ich auch einen deutlichen Vorteil gegenüber Franzosen, die ja häufig leichte Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben. Es gibt seit einigen Jahren schon ein Abkommen, dass nachts sowohl das deutsche Gebiet nahe der Grenze als auch der französische Sektor vom Notarzt in Frankreich abgedeckt wird. Ein bisher einmaliges Projekt, denn im Bereich der Notfallrettung gibt es leider immer noch Grenzen. Dies wird sich allerdings 2007 deutlich ändern. Das Krankenhaus befindet sich direkt hinter der Grenze in Wissembourg im Elsaß, was für mich den Vorteil brachte, dass ich in Deutschland wohnen kann und zur Arbeit jeden Tag nach Frankreich fahre. Wegen der geographischen Nähe zu Deutschland hat das Krankenhaus sogar eine sogenannte Weiterbildungsermächtigung für Deutschland, was mir den Weg zum Facharzt deutlich erleichtert. So spare ich mir endlos lange Wege bei der Anerkennung der im Ausland erbrachten Leistungen und Zeiten. Dennoch war der Beginn meiner Tätigkeit auch mit einigen Problemen verbunden, die ich so nicht erwartet hätte. Es war lange 252 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 253 FRANKREICH unklar, wo ich meine Steuern bezahlen muss, und auch die Einschreibung in die Ärztekammer in Frankreich brachte einige Probleme mit sich. Letztlich habe ich zwar alles Erforderliche erreicht, doch erst nach langer Zeit und viel Papierkrieg. Man muss allerdings auch dazu sagen, dass der Grenzgänger Deutschland-Frankreich doch eher der seltenere Fall ist. Umgekehrt gibt es weitaus mehr Menschen, die in Frankreich wohnen und in Deutschland arbeiten. Für mich persönlich war sowohl der ERASMUS-Aufenthalt als auch die bisherige Zeit im Elsaß eine absolute Bereicherung für mein Leben. Ich bin deutlich weltoffener geworden, habe viele Dinge gelernt und gesehen und bin viel flexibler geworden. Ich muss zwar definitiv einen Großteil meiner Facharztausbildung in Deutschland absolvieren, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, nach Frankreich zurückzukehren. Das hängt aber zum Großteil auch an den Arbeitsbedingungen und an der Bezahlung, die in unserem Nachbarland doch deutlich besser sind. Man kann also wirklich sagen, dass mein ERASMUS-Aufenthalt mein Leben geprägt hat und ich ohne diese Zeit niemals diesen Weg eingeschlagen hätte. 253 DAAD_ERASMUS_IN_070411 E VA Z I L S 254 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 254 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 11:36 Uhr Seite 255 FRANKREICH … da, wo die Lyoner herkommt Eines Nachts hatte ich einen Traum: Ich träumte, ich würde mit ERASMUS nach Frankreich gehen. Zu jener Zeit waren an der Trierer Universität Wintersemesterferien, ich hatte einen Ferienjob in München angenommen, und die Anmeldefristen für das ERASMUSProgramm waren schon längst vorbei. Also verwarf ich den Gedanken. Doch ließ mich der Traum nicht los, sodass ich nach einigen Tagen dennoch mit dem Trierer Akademischen Auslandsamt und dem zuständigen ERASMUS-Beauftragten aus der Romanistik Kontakt aufnahm. Ich befand mich beinahe am Ende meines Englisch- und Französischstudiums und ein Auffrischen meiner praktischen französischen Sprachkenntnisse war meiner Ansicht nach für mich dringend notwendig, denn Teile der Prüfungen sollten in der jeweiligen Fremdsprache abgehalten werden. Meine englischen Sprachfertigkeiten hatte ich bereits während eines vorherigen ERASMUS-Aufenthalts in England aufgebessert. Mit tatkräftiger Unterstützung des Auslandsamts konnte ich meine Bewerbung um einen Programmplatz in Frankreich noch einreichen und entschied mich für einen sechsmonatigen Aufenthalt in der Universitätsstadt Lyon an der Fakultät Jean Moulin Lyon III. Meine Bewerbung wurde angenommen, und so trat ich Anfang September 2002 mit einer Freundin in einem vollbepackten Auto den Weg nach Lyon an. 255 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 256 E VA Z I L S Um einen Wohnheimplatz hatte ich mich schon frühzeitig per Internet gekümmert und konnte auf diese Art die Anreise in aller Ruhe angehen. Nach einigen unnötigen Runden durch Lyons Vielfalt an Einbahnstraßen kamen wir tatsächlich am Zielort an. Das mir zugedachte Appartement war ungefähr dreimal so groß wie meine Wohnung in Trier, war voll eingerichtet und hatte sogar Töpfe, Besteck und andere nützliche Küchenutensilien. Eine Art ALDI gab es nur zwei Straßen weiter (Leader Price), und das große Einkaufszentrum am Bahnhof La Part Dieu lag in vertretbarer Fußgänger-Entfernung. Nach einem ersten Gewaltmarsch durch die gesamte Lyoner Alt- und Innenstadt sowie auf den Hügel, auf dem die Marienbasilika Fourvière errichtet worden ist, hatte ich einen ersten positiven Eindruck von der Stadt gewonnen und freute mich auf das, was mich an der Universität Lyon III erwartete. In der Einführungswoche für internationale Studenten lernte ich bereits viele Menschen kennen und traf auch weitere Studenten von der Trierer Universität. Wir alle wunderten uns sehr, in welch ernster Weise wir vom Dekan der linguistischen Fakultät begrüßt wurden: Dieser erklärte uns die französische Methode des Studiums und versicherte uns, dass sie sich mit Sicherheit von der uns bekannten Methode abheben würde. Wie wahr! Den ersten Vorgeschmack der »französischen Lehrmethode« bekamen wir noch am selben Tag, da wir einen Sprachkurs belegen mussten, an dessen Ende eine Prüfung stand, die jeden Studenten seinem Sprachniveau entsprechend einem Förderkurs zuteilte. Kurz vor dem eigentlichen Semesterbeginn stand mein Geburtstag an, und ich nutzte die Gelegenheit, alle Mitbewohner meines Wohnheimflurs einzuladen, um diese besser kennen zu lernen. Anschei- 256 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 257 FRANKREICH 257 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 258 E VA Z I L S nend hatte sich jedoch diese Neuigkeit im gesamten Wohnheim herumgesprochen, sodass meine ziemlich große Wohnung und der Wohnheimflur mit Feiernden gefüllt waren. Gegen Mitternacht verlegten wir die Party in eine Kneipe in der Stadt, und noch heute denke ich gerne an diesen Moment zurück, der eine Reihe von den ERASMUS-typischen Feten einläutete. Die Lehrveranstaltungen hatte ich mir in Hinblick auf meine bevorstehenden mündlichen Prüfungen ausgewählt. Ich war erstaunt, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit der Lehrstoff vorgetragen wurde, und hatte Mühe, Notizen zu machen und dabei noch etwas vom Gesagten mitzubekommen. Meine französischen Kommilitonen waren das schon gewöhnt (schließlich wird diese Art von Mitschreiben bereits in der Schule erlernt) und schrieben nicht nur fleißig mit, sondern gliederten die verschiedenen Punkte auf logische Art und Weise, hatten verschiedenfarbige Textmarker und unterstrichen einige Passagen fein säuberlich mit einem Lineal. Wirklich bemerkenswert. Von der Universitätsbibliothek war ich enttäuscht, denn es gab nicht viel Sekundärliteratur, und die wenigen Arbeitsplätze in dem überheizten Glasgebäude waren rund um die Öffnungszeiten belegt. Also schnappte ich mir ein paar Bücher und suchte mir andere Leseplätze. Hierbei stieß ich per Zufall auf einen Raum, in dem sich Studenten aus Fachbereichen der (Fremd-)Sprach- und Literaturwissenschaften in ihrer freien Zeit trafen. Dort war ebenfalls ein deutscher Student, der sein gesamtes Studium in Frankreich absolvierte. Er ermunterte mich, wieder vorbeizuschauen, und so verbrachte ich ab und an meine freie Uni-Zeit bei dieser Studentenvereinigung, in der vor allem französisch gesprochen wurde. Dies half mir, meine Sprachfertigkeiten zu erweitern, und ich lernte ebenfalls einiges aus dem alltäglichen Sprachgebrauch. 258 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 259 FRANKREICH Da die meisten französischen Studenten sehr stark mit ihrem Studium beschäftigt waren, traf man sie hauptsächlich innerhalb der Universitätsmauern. Daher machte ich mich auch außerhalb auf die Suche nach Kontakten zu Muttersprachlern. So schloss ich mich einem kleinen Verein in der Stadt an und freute mich, dass ich die bald neu gewonnenen Freunde aus Universität, Wohnheim und Verein zusammenbringen konnte. Gemeinsam gab es vor allem vor Weihnachten eine Menge zu erleben: Zum Fest Mariä Empfängnis am 8. Dezember (an dem Maria gedankt wird, dass sie Lyon vor der Pest bewahrt hat) wurde die Stadt anlässlich der Fête des Lumières in ein Lichtermeer getaucht: An verschiedenen Schauplätzen, vor allem bei der Opéra, dem Hôtel de Ville, der Place Bellecour, der Place des Terreaux und bei der gotischen Kirche St. Jean im Altstadtviertel waren Lichtspektakel zu bewundern, die oft mit Musik untermalt wurden. Das Lichterfest dauert mehrere Tage und ist zu einem wahren Touristenmagnet geworden. Ab Anfang Dezember fand ebenfalls der traditionelle Lyoner Weihnachtsmarkt auf dem Vorplatz des Bahnhofs Perrache statt. Neben den üblichen, überall bekannten Weihnachtsspezialitäten wie Glühwein, Lebkuchen und Geschenkartikeln gab es natürlich auch regionale Produkte wie beispielsweise die typische Lyoner Rosette de Lyon, eine Art Salami (die von mir im Titel genannte ›Lyoner‹ ist dagegen in Süddeutschland die Bezeichnung für eine Fleischwurst, deren Rezeptur ursprünglich aus Lyon stammt, wo diese Wurst jedoch Cervelat genannt wird). Als ich über die Weihnachtsferien zurück nach Deutschland fuhr, wurde mir bewusst, dass bereits mehr als die Hälfte meines ERASMUS-Aufenthaltes verstrichen war. Immer öfter dachte ich darüber nach, mein Arbeitsleben nach dem Studium in Lyon zu beginnen. Als 259 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr E VA Z I L S E VA Z I L S Ich war erstaunt, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit der Lehrstoff vorgetragen wurde, und hatte Mühe, Notizen zu machen und dabei noch etwas vom Gesagten mitzubekommen. 260 Seite 260 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 261 FRANKREICH zukünftige Magistra Artium in englischer und französischer Sprachund Literaturwissenschaft hätte ich nach Studienende eine Vielzahl von möglichen Karrierewegen, die ich beschreiten könnte. Ein festes Ziel hatte ich damals noch nicht vor Augen, doch ich wusste, meine Arbeit sollte etwas mit Fremdsprachen zu tun haben, mit dem Umgang mit anderen Menschen, mit redaktioneller Arbeit und dem Internet. Zugegeben, das erscheint auf den ersten Blick als eine ziemlich bunte Mischung. Aber das ist genau das, was ich heute beruflich mache, und obendrein mache ich das in Lyon. Doch wie kam es dazu? Nach den Weihnachtsferien genoss ich die restliche Zeit in Lyon, legte die notwendigen Prüfungen ab und kehrte schweren Herzens nach Trier zurück, um dort ebenfalls einige Examina zu absolvieren. Lange hielt es mich jedoch nicht in Deutschland, sodass ich mich während des Schreibens meiner Magisterarbeit um einen Praktikumsplatz in Lyon bemühte. Ich fand einen Platz in einem kleinen französischen Unternehmen, das auf internationaler Basis arbeitet und in dem viel Kontakt mit Deutschland gepflegt wurde. Meinen Aufenthalt finanzierte ich zum Teil mit Hilfe des LEONARDO-Projekts des DAAD. In dem Unternehmen kümmerte ich mich um den Inhalt der firmeneigenen Internetseiten und erstellte die ersten Kunden-Newsletter in deutscher Sprache. Darüber hinaus führte ich Recherchen und Berechnungen für eine Studie aus, die ich nicht nur verfassen, sondern auch vermarkten sollte. Schließlich wurde ich in die aktive Kundenakquise per Telefon eingearbeitet, wobei ich Telefonate nach Deutschland, Großbritannien, den USA, den Niederlanden und anderen Ländern führte. Zum Abschluss des Praktikums stand dann noch der Besuch der Personalmesse »Zukunft Personal« in Köln an, auf der ich Unternehmenskunden und Lieferanten traf. 261 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 262 E VA Z I L S Bei diesem Praktikum kamen mir die während meines ERASMUSAufenthalts gemachten Erfahrungen zu Gute, sodass ich mich ein Stück weit auf die französische Mentalität, die mich im Arbeitsumfeld erwarten würde, einstellen konnte. Es fiel mir leicht, mich auf neue Situationen und neue Menschen einzulassen, und ich fasste schnell Fuß im Team. Meine vorab erworbenen Sprachkenntnisse während des ERASMUS-Jahres – vor allem die umgangssprachlichen – halfen mir ebenfalls, mich leichter zurecht zu finden, denn die meisten Franzosen haben leider die Angewohnheit, sehr schnell zu sprechen, auch wenn man sie höflich darum bittet, langsam zu reden. Gegen Ende meines Praktikums wurde mir von meiner Firma eine Festanstellung angeboten, die ich gerne annahm. Heute arbeite ich noch immer in diesem Unternehmen und werde dort bald in mein drittes Jahr gehen. All diese schönen Erinnerungen und positiven Wendungen in meinem (Berufs-) Leben verdanke ich den europäischen Austauschprogrammen, für welche der DAAD die deutsche Agentur ist, vor allem dem ERASMUS-Programm, mit dessen Unterstützung ich meinen ersten längerfristigen Aufenthalt in Frankreich durchführen konnte. Mit einigen ERASMUS-Studierenden und Studenten anderer internationaler Austauschprogramme aus meinem 2002-Jahrgang bin ich noch heute in Kontakt. Für sie alle trifft der Ausspruch »Einmal Ausland, immer Ausland« in gleichem Maße zu wie für mich: Eine deutsche Freundin aus Berlin lebt und studiert nun in Irland, ein englischer Freund hat zwei Jahre in China verbracht, und ein kanadischer Freund ist ebenfalls nach Frankreich zurückgekehrt und hat seine Doktorarbeit in Paris vorbereitet. Was mich während meines Aufenthalts fasziniert hat und auch heute noch immer wieder beschäftigt, sind die kulturellen und gesell- 262 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 263 FRANKREICH schaftlichen Unterschiede, die mir auffallen, seit ich in Lyon lebe. Einige der schönsten Episoden gebe ich seit Anfang Februar 2006 auf meinem Blog im Internet zum Besten und rege damit Diskussionen über deutsch-französische Mentalitätsfragen an. Vielen Dank an ERASMUS! Ich wünsche dem europäischen Austauschprogramm weiterhin viele erfolgreiche Studienplatzvermittlungen im immer größer werdenden Europa! 263 DAAD_ERASMUS_IN_070411 11.04.2007 10:46 Uhr Seite 264 IMPRESSUM Herausgeber: DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst e.V. Kennedyallee 50 · 53175 Bonn www.daad.de Bildnachweis: Privatfotos der Autorinnen und Autoren, Pixelquelle.de, apply pictures, Digital Stock, Photo Alto, PhotoDisc, Erik Lichtenscheid, Peter Himsel/David Ausserhofer, Andreas Hub Nationale Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit Redaktion: Dr. Siegbert Wuttig, Dr. Bettina Morhard Gestaltung und Satz: LPG Loewenstern Padberg Gesellschaft für Kommunikation und Gestaltung bR, Bonn Druck: In Puncto Druck + Medien GmbH, Bonn 1. Auflage 2/07 – 3.000 2. Auflage 8/08 – 1.000 © DAAD Illustrationen und Composings: Christian Padberg Diese Publikation wurde aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und der Europäischen Kommission finanziert. Sie gibt nur die Meinung der Autoren wieder. Weder die Europäische Kommission noch das BMBF sind für eine mögliche weitere Verwendung der enthaltenen Informationen verantwortlich. 264