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Tango in
Montevideo
Als Tango-Tanzpaar am Rio de La Plata
Erfahrungsberichte, aufgezeichnet von Eckart Haerter
Eckart Haerter
Tango in Montevideo
Erfahrungsberichte
"Einen neuen Mann würde ich sofort finden,
einen neuen Tango-Tanzpartner vielleicht nie."
Ulrike Haerter, Tangotänzerin
Tango in
Montevideo
Als Tango-Tanzpaar am Rio de La Plata
Erfahrungsberichte
aufgezeichnet von Eckart Haerter
2. bearbeitete Auflage
Göttingen 2013
Tango in Montevideo : als Tango-Tanzpaar am Rio de
La Plata ; Erfahrungsberichte / aufgezeichnet von
Eckart Haerter. –
2. bearb. Aufl.
Göttingen : Göttinger Tango-Info, 2013
160 S. : zahlr. Abb.
Alle Übersetzungen von Eckart Haerter
Copyright © 2013 Ulrike & Eckart Haerter
ISBN
www.haerter-tango.info
E-Mail: uye@haerter-tango.de
Tel:: +49 – (0) 551 - 57883
Titelbild (vordere Umschlagseite) © Festival internacional Viva el
Tango, Montevideo: Ulrike & Eckart Haerter bei einem Auftritt im
Cabildo von Montevideo.
Bild hintere Umschlagseite © Udo Rzadkowski
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Unser Dank gilt den uruguayischen Tangomusikern, mit denen die
Zusammenarbeit immer eine grosse Freude war.
Darunter ganz besonders:
Marino Rivero (1935 – 2010), Gabriela Díaz, Raúl Montero,
Miguel Villasboas und Hugo Díaz (1947 – 1998)
Ebenso danken wir der Tango-Kulturorganisation Joventango für
die mehrmalige Einladung zum internationalen Festival Viva el Tango
in Montevideo. Die freundliche Selbstverständnlichkeit, mit der wir
integriert wurden, hat uns Montevideo zur Tango-Heimat gemacht.
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Tango in Montevideo
Skyline von Montevideo (Blick nach Westen)
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Anreise
Genau drei Stunden braucht der Buquebus, die Fähre über den Rio
de La Plata, um Buenos Aires und Montevideo zu verbinden. Schon
bei der Ausfahrt aus dem Hafen von Buenos Aires, wenn die Skyline
der 12-Millionen-Stadt am Horizont entschwindet (Bild oben), beginnen die Uhren langsamer zu ticken. In Montevideo sind dann endgültig die Hektik und der Geräuschpegel von Buenos Aires vergessen.
Südamerika, der Rio de La Plata, die beiden Ursprungsstädte des
Tangos, die sich an seinem nördlichen und südlichen Ufer schräg
gegenüber liegen.
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Ulrike und ich haben auch häufig die Flugverbindung zwischen Buenos Aires und Montevideo genutzt, in beiden Richtungen, sowohl mit
der Aerolíneas Argentinas als auch mit der uruguayischen PLUNA
(als sie noch nicht abgewickelt war). Seit unserem ersten Besuch
1990 haben sich die wirtschaftlichen Verhältnisse hier deutlich verschlechtert.
Der Flug dauert nur eine halbe Stunde. Aber wenn man den 13stündigen Nonstop-Flug von Deutschland durchgestanden hat, und
man am liebsten nie mehr einen Flieger besteigen würde, dann ist die
Schiffsfahrt auf dem Rio de La Plata die weitaus angenehmere Art zu
reisen.
Dass Buenos Aires die alles überstrahlende Weltmetropole des Tangos ist, bleibt unbestritten. Doch selbst viele Tangotänzer wissen
nicht, wie stark das kleine Uruguay den Tango künstlerisch mitgeformt hat, besonders auf dem Gebiet der Musik. Es ist also keineswegs so, dass man den Tango kennt, wenn man ihn nur in Buenos
Aires erlebt hat (womöglich nur an einem Wochenende als Abstecher
von Brasilien). Nein, so einfach ist es nicht. Allein für Buenos Aires
sollte man ein paar Wochen ansetzen.
Beide Geburtsstädte des Tangos unterscheiden sich ganz erheblich
in Grösse, Temperament und Charakter sowie in den künstlerischen
Ausdrucksformen des Tangos. Atmosphärisch sind beide Städte
sogar deutliche Gegensätze. Buenos Aires ist harte Realität, Montevideo ein Traum, fast unwirklich in unserer Zeit. Ich glaube, es gibt
auf dem ganzen Erdball keine andere Millionenstadt, die so beschaulich wirkt, und die, dem Weltgeschehen scheinbar entrückt, der eigenen Fantasie weiten Raum lässt.
In Argentinien und Uruguay benutzt man für den Tango auch die
Bezeichnung Tango de las dos orillas (Tango der beiden Ufer), oder
auch, vorzugsweise in Uruguay, die Wendung Tango rioplatense
(Tango vom Rio de La Plata) um zu betonen, dass der "argentinische“ Tango nicht nur nach Buenos Aires gehört, sondern genauso
nach Montevideo, wo er zeitgleich seinen Ursprung und seinen eige-
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nen Weg nahm. Folgerichtig hat die UNESCO 2009 den Tango zum
immateriellen Weltkulturerbe beider Länder erklärt.
In einem seiner schönsten Tangos, Canción del Plata – Das Lied
vom La Plata, nennt der uruguayische Tangosänger und Tangoliedermacher Raúl Montero das Verhältnis der beiden Hauptstädte zueinander "ein Liebeslied“, un canto de amor .
Das Schicksal wollte es, dass Montevideo für Ulrike und mich zu
unserer Tangoheimat geworden ist. Denn dort hatten wir unsere
schönsten Tangoerlebnisse und unvergessliche Tanzauftritte. Und
unter den Tangomusikern in Montevideo haben wir dauerhafte
Freunde gefunden.
Foto © Festival internacional Viva el Tango, Montevideo
Improvisieren zu Live-Musik bei einem Auftritt im Cabildo von
Montevideo
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Ankunft
Für mich ist Montevideo so etwas wie ein Zufluchtsort. Schon bei der
Ankunft überkommt mich ein Gefühl der Ruhe und Entspanntheit.
Auf wundersame Weise scheinen
sich hier der ganze Stress und alle
Unbilden des Alltags in der steten
Brise vom Rio de La Plata zu
verflüchtigen.
Es ist wie ein tiefes Eintauchen in
Tango-Poesie. Auf dem Tisch am
Fenster, eine Flasche Rotwein...
kraftvoller Vino tinto uruguayo aus
der Traube Tannat…der Blick auf
den grauen La Plata... die fast
statische Ruhe der grossen
Frachtschiffe, die in seiner Mündung ein- und ausfahren... die Palme am Ufer, die mich seit Jahren
erfreut... die wechselnden Farben der Wassermassen: milchkaffeebraun, mal grau, manchmal fast schwarz, seltener ein stählernes
Blau... Jugendliche spielen Fussball auf der Grünfläche an der
Rambla... Tangoklänge… die Stimme von Olga Delgrossi mit Nostalgias – Sehnsucht.
Und Homero Manzis Verse aus seinem Tango Che Bandoneón steigen aus der Erinnerung herauf:
Esas tremendas ganas de llorar
que a veces nos inundan sin razón
y el trago de licor, que obliga a recordar
si el alma está en "orsai“…
Diese ungeheure Lust zu weinen,
die uns manchmal überflutet ohne Grund,
und der Schluck Schnaps, der zur Erinnerung zwingt,
wenn die Seele im Abseits steht…
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Das ist der Tango … und Montevideo fast ein magisches Wort …
Montevideo ist Kontemplation, die ganze Stadt atmet Tangostimmung. Hier wird man auf sich selbst zurückgeworfen, und man reflektiert im Spiegel der Erkenntnis seine eigene Bedeutungslosigkeit.
Doch bei Rotwein, Rindfleisch und Salat gewinnt man festen Boden
zurück und stärkt sich für kommende Herausforderungen des Lebens
und für neue Erlebnisse in der Welt des Tangos.
Das Restaurant
Danubio Azul ("Blaue
Donau“) in Montevideo
ist eine Parrilla, ein für
Argentinien und Uruguay typisches GrillRestaurant.
Auf dem Grill (Bild
rechts) wird, das Asado, das Nationalgericht der beiden
Tangoländer hergestellt:
Gegrilltes Rindfleisch in allen Variationen. Auch das Wort Parrillada
bezeichnet das auf dem Grill, der Parrilla, erzeugte Ergebnis.
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Die Poesie der Stille
Montevideo ist mit seinen etwa 1,3 Millionen Einwohnern die einzige
Grossstadt Uruguays. Auf der einen Seite begrenzt vom Meer, das
hier immer noch Rio de La Plata genannt wird, auf der anderen Seite
von der Pampa. Rinder, Schafe, Gauchos, das Meer und darüber der
weite Himmel. Es ist der Reiz des Unspektakulären, der den dafür
empfänglichen Reisenden in diesem Land so besonders anrührt.
Romildo Risso (1882 – 1946)
Die Poesie seiner Heimat hat der montevideanische Dichter Romildo
Risso in der kargen Tiefgründigkeit seiner "gauchesken“ Poeme
eingefangen.
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Seine Milonga Los Ejes de mi carreta - Die Achsen meines Karrens –
ist in Text und Musik ein Beispiel höchster Tangokunst. Karg wie die
Pampa, umfängt sie eine ganze Welt des Gefühls.
Los Ejes de mi Carreta
(Milonga gauchesca)
Letra: Romildo Risso
Música: Atahualpa Yupanqui [Pseud.]
Porque no engraso los ejes
me llaman abandonao ...
Si a mí me gusta que suenen,
¿pa' qué los quiero engrasaos?
Es demasiado aburrido
seguir y seguir la huella,
andar y andar los caminos
sin nada que me entretenga.
No necesito silencio,
yo no tengo en quién pensar.
Tenía, pero hace tiempo,
ahura ya no tengo ná.
Los ejes de mi carreta
nunca los voy a engrasar ...
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Die Achsen meines Karrens
(Milonga nach Gauchoart)
Text: Romildo Risso
Musik: Atahualpa Yupanqui [Pseud.]
Weil ich die Achsen nicht schmiere,
nennt man mich nachlässig ...
Doch wenn mir ihr Quietschen gefällt,
warum sie dann schmieren?
Es ist viel zu langweilig,
der Spur nur zu folgen und zu folgen,
und die Wege zu gehen und zu gehen,
ohne etwas, das mich zerstreut.
Ich brauch keine Ruhe,
hab auch an niemand zu denken.
Es gab mal jemand, vor langer Zeit...
doch jetzt ist niemand mehr.
Die Achsen meines Karrens,
die werd ich niemals schmieren ...
Mir sind vier herausragende Aufnahmen dieser Milonga bekannt: die
geniale gesungene Interpretation von Roberto Goyeneche, die instrumentalen der beiden uruguayischen Bandoneonvirtuosen Marino
Rivero und Hugo Diaz und die sehr gut zum Tanzen geeignete Aufnahme von Francisco Canaro mit dem Sänger-Duo A. Arenas / E.
Lucero. Hugo Diaz’ Aufnahme (mit Gitarrenbegleitung) ist ein Meisterwerk sensibler Einfühlsamkeit. Marino Rivero macht auf seinem
Solo-Bandoneon aus der "Milonga gauchesca“ ein hochvirtuoses und
zugleich seelenvolles Konzertstück. Der ebenfalls in Uruguay geborene Francisco Canaro, spielt, wie alle Tangueros wissen, VollblutTango für Tangotanzpaare (in diesem Fall in Form einer Milonga).
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Der Müllsammler mit seinem Karren gehört zum Strassenbild in
Montevideo
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La Cumparsita
La Cumparsita ist der Tango schlechthin. Rund um den Erdball gilt er
als die Hymne des Tangos. In Argentinien ist La Cumparsita häufig
die krönende Zugabe nach einer Tangoshow. In Uruguay ist das fast
zwangsläufig so. Denn dieser berühmteste Tango der Welt stammt
nicht etwa aus Argentinien, sondern aus Uruguay. Sein Komponist
heisst Gerardo Matos Rodríguez (geb. 1897 in Montevideo, gest.
1948 ebd.). La Cumparsita ist wahrscheinlich der weltweit am häufigsten gespielte Tango, von ihm existieren unzählige Interpretationen.
Jeder Uruguayer ist stolz darauf, dass diese Musik, die in der ganzen
Welt zum Inbegriff des Tangos wurde, eine uruguayische Schöpfung
ist. Und so hat La Cumparsita in Uruguay fast den Status einer zweiten Nationalhymne.
Nach alter Tradition wird auch als Abschluss einer Milonga, also einer
öffentlichen Tango-Tanzveranstaltung, als letzter Tango La Cumparsita gespielt.
Die meisten Menschen, auch solche, die sich für Tango nicht interessieren, kennen zumindest seine Melodie. Selbstverständlich verlangt
auch der polnische Dramatiker Sławomir Mrožek in der Regieanweisung zu seinem turbulenten Bühnenstück "Tango“, dass am Schluss
La Cumparsita getanzt wird, mit allen möglichen Figuren. Das Stück
habe ich seinerzeit in London, in einer hochklassigen Aufführung im
Theaterviertel an der Shaftesbury Avenue gesehen. Ja, La Cumparsita ist der Inbegriff des Tangos.
Ursprünglich hatte Matos Rodríguez die Melodie für den Karnevalsumzug komponiert, dem in Uruguay eine grosse ethnokulturelle Bedeutung zukommt. Die Comparsa ist eine Gruppe im Karnevalsumzug, Cumparsita die mundartliche Verkleinerungsform.
Verschiedene Texte wurden zu dieser Musik geschrieben, von denen
der Text von Pascual Contursi (Si supieras ..) der bekannteste geworden ist. Dieser Text ist auch der am häufigsten gesungene und
aufgenommene. Meines Wissens hat Gerardo Matos Rodríguez
jedoch keinen einzigen der Fremdtexte autorisiert und (erst später)
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seinen eigenen Text geschrieben, der vielleicht aufgrund seiner sehr
weitgehenden Gefühligkeit nicht dieselbe Beliebtheit erfahren hat wie
der Geniestreich seiner Musik.
Matos Rodríguez’ Text, den in Europa kaum jemand kennt, ist auch
nur wenige Male eingespielt worden, aber für die Kenntnis der Geschichte des Tangos und der Stadt Montevideo ist er von historischem Interesse.
Der Text ist aber auch deshalb höchst interessant, weil er zeigt, welche Gefühle der Komponist seiner eigenen Musik unterlegt hat. Vielleicht gibt das auch einmal solchen Journalisten zu denken, die frei
von Kenntnissen aber umso wichtigtuerischer daher schwadronieren,
wie der vom Göttinger Tageblatt, der 2007 bei dieser Musik von "erotischer Spannung“ schwafelte. Und auch die anderen an dem Abend
getanzten Stücke hatten mit Erotik nicht das geringste zu tun. Von
einem seriösen Journalisten muss man erwarten können, dass er
sich vorbereitet, wenn er auf unbekanntem Gebiet arbeiten soll.
La Cumparsita
(Tango)
Letra y Música: Gerardo Matos Rodríguez
La Cumparsa de miserias sin fin
desfila en torno de aquel ser enfermo
que pronto ha de morir de pena...
por eso es que en su lecho
solloza acongojado,
recordando el pasado
que lo hace padecer.
Abandonó a su viejita
que quedó desamparada
y loco de pasión,
ciego de amor,
corrió tras de su amada,
que era linda, era hechicera,
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de belleza era una flor.
Que admiró su querer,
hasta que se cansó
y por otro lo dejó.
Largo tiempo después,
cayó al hogar materno
para poder curar su enfermo
y herido corazón,
y supo que su viejita santa,
la que el había dejado
el invierno pasado,
de frío se murió.
Hoy ya solo, abandonado
a lo triste de la suerte,
ansioso espera su muerte
que bien pronto ha de llegar...
Y entre la triste frialdad
que invade al corazón,
sintió la cruda sensación de su maldad...
Entre sombras se le oye respirar
sufriente...
al que antes de morir sonríe
porque una dulce paz le llega;
sintió que desde el cielo
la madrecita buena,
mitigando sus penas,
sus culpas perdonó...
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La Cumparsita
(Tango)
Text und Musik: Gerardo Matos Rodríguez
Der Karnevalszug des Elends ohne Ende
zieht vorbei an einem Kranken,
der bald vor Kummer sterben muss.
Deshalb schluchzt er verzweifelt
in sein Kissen,
wenn er sich der Vergangenheit erinnert,
die ihn so leiden macht.
Er liess sein altes Mütterchen
unversorgt im Stich
und verrückt vor Leidenschaft,
blind vor Liebe,
zog er zu seiner Geliebten,
die schön war und bezaubernd,
von der Schönheit einer Blume.
Wie genoss sie seine Liebe,
bis sie ihrer müde wurde
und ihn mit einem anderen verliess.
Lange Zeit danach,
kehrte er zum mütterlichen Herd zurück,
um seine Krankheit zu kurieren
und sein verletztes Herz..
Doch er erfuhr, dass sein heiliges Mütterchen,
das er verlassen hatte,
im vergangenen Winter
durch die Kälte gestorben war.
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Heute, allein und verlassen,
in seinem traurigen Los,
erwartet er sehnsüchtig seinen Tod,
der nun sehr bald kommen muss.
Und in der traurigen Kälte,
die sein Herz beschleicht,
fühlt er zutiefst sein grauenhaftes Elend.
In der Dunkelheit hört man
sein gequältes Atmen ...
doch kurz bevor er stirbt, da lächelt er,
weil ihn ein süsser Friede überkommt;
er fühlte, dass aus dem Himmel
sein gutes Mütterchen,
seine Schmerzen von ihm nahm
und ihm seine Schuld vergab. ...
Die Uraufführung von "La Cumparsita“ durch das Orchester Roberto
Firpo fand 1917 im Café La Giralda statt, das an genau der Stelle
stand, wo sich heute das Wahrzeichen Montevideos, der Palacio
Salvo erhebt.
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Der Palacio Salvo an der Plaza Independencia. Seit Ende der 1920er
Jahre ist er das Wahrzeichen Montevideos. An seiner Stelle befand
sich früher das tango-historische Café La Giralda.
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Am Fuss des Palacio Salvo steht ein Schaukasten mit einem Foto
des nicht mehr existierenden Cafés La Giralda. Darunter wird in spanischer, portugiesischer und englischer Sprache erklärt, dass hier im
Jahre 1917 die "kulturelle und Volkshymne Uruguays“ vom Orchester
Roberto Firpo uraufgeführt wurde.
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Miguel Villasboas und sein Sexteto típico
Für das grandiose, weltbekannte Tangoorchester des Pianisten Miguel Villasboas aus Montevideo (Bild oben) ist La Cumparsita der
Identifikationstitel, der auf fast keiner seiner zahlreichen CDs fehlt.
Bei diesem Orchester handelt es sich um ein Orquesta típica, ein
"typisches“ Tangoorchester. Damit ist die Art der Instrumentalbesetzung gemeint, deren Klang man am Rio de La Plata als besonders
tangogemäss empfindet, nämlich Bandoneon, Geige, Kontrabass und
Klavier. Im Sextett, wie hier bei Miguel Villasboas, werden Bandoneon und Geige doppelt besetzt. (Die 7. Person auf dem Bild ist ein
Moderator).
Man trifft aber auch bei Orchestern mit anderen Instrumenten auf die
Bezeichnung "típica“, wenn sie die traditionelle Musik vom Rio de La
Plata spielen.
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Miguel Villasboas, international bekannter Tangopianist und Orchesterleiter, spielt vorzugsweise für Tänzer. Das ist in der heutigen weltweiten Tangoszene durchaus nicht selbstverständlich. Seine besondere Spezialität sind rhythmisch klare und melodisch betörende Milongas und Valses ("Valsecitos“), bei denen es einen echten Milonguero nicht auf seinem Stuhl hält.
Dass die uruguayische Hauptstadt auch ganz eigene Klänge des
Tangos hervorgebracht hat, die man so in Buenos Aires nicht hört,
das beweist Miguel Villasboas mit
seiner Tangomusik. Zweifellos spielt
er die unbekümmertsten Tangos der
Welt. Geradezu fröhlich im Klang
und forsch im Tempo, sind diese
Tangos Lebensfreude pur. Miguel
Villasboas spielt hauptsächlich für
Tänzer und orientiert sich bei seinen
Tangointerpretationen konsequent
am früheren Tango, als vom
"traurigen Gedanken, den man tanzen kann" (nach Enrique Santos
Discépolo) noch nicht die Rede sein konnte. Seine Valsecitos und
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Milongas sind hinreissend schön anzuhören und eine Freude, sie zu
tanzen.
Zu Ulrikes und meinen schönsten Erinnerungen an Montevideo gehören unsere öffentlichen Auftritte mit dem Sexteto típico Miguel Villasboas. Keiner dieser Auftritte konnte geprobt oder in irgendeiner Weise vorbereitet werden. Es gilt als selbstverständlich, dass ein Tangotanzpaar einen sehenswerten Auftritt auch ohne vorherige Probe
tanzen kann.
Das ist Tangotanzen ohne Netz und doppelten Boden in der improvisierten, echten Interaktion mit dem Orchester, wobei man dem
sachkundigen einheimischen Publikum natürlich etwas bieten soll.
Aber so macht Tangotanzen wirklich Spass, weil es kreativ ist, weil
man Platz hat und sich nicht aus Rücksicht auf andere Tanzpaare
zurücknehmen muss.
Überhaupt waren alle Auftritte zur Livemusik einheimischer Tangomusiker, an einem Geburtsort des Tangos, das absolut Beste, was
wir in unserem Leben als Tangueros gemacht haben. Und es war
auch notwendig. Heute fragen wir uns, wie wir den Tango Argentino
ohne diese Erfahrungen authentisch und glaubhaft hätten unterrichten können.
In 25 Jahren Praxis als Tango-Tanzpaar und Tango-Lehrerpaar hat
sich Ulrike und mir immer wieder bestätigt, dass es im Grunde nur
auf eins allein ankommt, nämlich:
Wie man selber tanzt.
Ein Tangolehrer, der noch so schön erklären kann, ist unglaubwürdig,
wenn er das, was er erklärt, nicht auch meisterhaft tanzen kann.
Wir haben in Deutschland das Phänomen, dass es unter den HobbyTangotänzerinnen und Hobby-Tangotänzern, nicht wenige gibt, die
den Tango nicht einfach um seiner selbst willen geniessen und lieben
können, sondern die darüber hinaus das Bedürfnis verspüren, aus
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dem tänzerischen Durchschnitt herauszuragen und in der Welt des
Tangos zu den Tonangebenden zu gehören..
Nun, wenn die notwendige Begabung und das Talent vorhanden
sind, steht der Erfüllung dieses sehnlichen Wunsches nichts im Wege. Wer als Tangotänzer Maestro werden will, wird sich nicht scheuen, die Ausbildung bei einem namhaften argentinischen oder uruguayischen Maestro zu absolvieren und sich in praktischer Arbeit
weiter zu qualifizieren.
Wem allerdings bewusst ist, dass seine tänzerische Begabung für
den Weg zum Maestro nicht ausreicht, kann es als Buchautor, Blogger, Tango-DJ, Tango-Fotograf, Organisator von Tangoveranstaltungen oder Milongas und mit vielem anderen versuchen, seinem Namen Bekanntheit zu verschaffen. Auf diese Weise hat schon so mancher seinen inneren Frieden gefunden.
Bedenklich wird es erst, wenn sich durchschnittliche Tangotänzer und
mittelmässige Kenner der Tangokultur anheischig machen, sich als
Tangolehrer zu betätigen. Das ist zwar nicht verboten, aber es ist
unseriös und respektlos gegenüber der komplexen und tiefgründigen
Kulturschöpfung eines anderen Volkes. Das muss einmal ganz klar
ausgesprochen werden.
Nur ein Beispiel: Wie kann ein Tango“lehrer“ mit gutem Gewissen
das Gehen, das Caminar unterrichten, wenn er es selbst nicht beherrscht, und nur die entschärfte Form tanzen kann, die fürs durchschnittliche Tangoschul-Publikum ersonnen wurde, damit die Schülerinnen und Schüler nicht aus Frust den Unterricht aufgeben.
Es ist meine Meinung zum Tango-Tanzunterricht, dass der Lehrer ein
Maestro sein muss, der auch als Maestro unterrichtet und wie ein
Maestro tanzt. Wie weit er damit kommt, ist eine ganz andere Frage.
Er muss seine Schüler aber dadurch ernst nehmen, dass er ihnen
meisterhaftes Können anbietet und vortanzt und nicht das Können
eines Tangoschülers als das Lernziel vorgibt.
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Ich möchte nicht missverstanden werden. Durchschnitt ist Normalität
und völlig in Ordnung. Nur wer sich selbst als Lehrer bezeichnet und
andere belehren und leiten will, muss mehr bieten.
Und noch ein Wort zum Begriff des Maestro. In Montevideo und Buenos Aires erkennt das sachkundige Publikum binnen Sekunden anhand weniger Bewegungen, ob ein Meisterpaar tanzt oder ein Möchtegern-Paar. Es geht nicht darum, eine Unzahl schwieriger Figuren
zu kennen. Die komplizierteste Figur ist nichts wert, wenn die Fähigkeit fehlt, damit die Musik zu interpretieren.
Beim meisterhaften Tangotanzen geht es um das harmonische, musikalische Zusammenspiel des Paares und seine Interpretation der
Musik. Alles andere ist zweitrangig.
Club Sudamérica
Morgens ruft Miguel Villasboas im Hotelzimmer an. Er lädt uns ein,
heute Abend in seinem Club einen Auftritt zu tanzen. Darauf freuen
wir uns sehr, denn Miguel haben wir lange nicht gesehen und nur per
Post miteinander Kontakt gehabt. Damals hatte ich noch Skrupel, ob
ich das Folgende veröffentlichen soll, weil ich dachte, wenn erst mal
die Tangotouristen im Club Sudamérica einfallen, dann wird seinem
einmaligen Ambiente der Garaus gemacht. Ich sage jetzt einfach mal
wie es ist und was im Grunde alle wissen. Die sensiblen ursprünglichen Eigenheiten und Besonderheiten eines Landes halten auf Dauer
Touristenmassen nicht stand. Die deutsche Abenteuer-Reisegruppe,
die im Tschad eine Dorfhochzeit filmt und in die Kochtöpfe guckt, ist
erst dann in Ordnung, wenn genau so selbstverständlich eine Reisegruppe aus dem Tschad in einem deutschen Dorf ausschwärmt, filmt
und in die Kochtöpfe guckt (möglichst in Brandenburg oder SachsenAnhalt!).
Inzwischen haben sich meine damaligen Bedenken erledigt. Den
Club Sudamérica gibt es in der Form nicht mehr. Aber gerade deshalb will ich mit meinem Bericht die Erinnerung an dieses Stück
Tangogeschichte lebendig halten.
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Damals fühlt man sich im Club Sudamérica in Montevideo um 80
Jahre Tangogeschichte zurückversetzt. Ein grosser Tanzsaal mit
einfacher Holzmöblierung und einem Publikum im Alter zwischen
(gefühlt) 50 und 90, das seinen Tango de Salón zelebriert zur Livemusik des Orquesta Típica von Miguel Villasboas! Ein einmaliges
Erlebnis. Seit hundert Jahren ist der Tango der Gesellschaftstanz
dieser Menschen, und nichts scheint sich hier seit den Anfängen
verändert zu haben. Nur dass an Stelle von Roberto Firpo jetzt Miguel Villasboas spielt.
Als wir eintreffen, begrüsst uns Miguel mit Herzlichkeit. Er lässt uns
von seinem Moderator ansagen, der dem Publikum auch etwas von
unserem Erfolg in Indien erzählt, wo Ulrike und ich im Vorjahr in Calcutta (heute: Kolkata), begleitet von Presse und Fernsehen, mit Auftritten und Workshops den Tango vom Rio de La Plata bekanntgemacht haben.
Dann tanzen wir Don Juan zur Livemusik von Miguels Orchester.
Danach werden wir vom Publikum mit Applaus und Einladungen zu
Getränken förmlich überschüttet. Wir sind überwältigt und gerührt…
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Gran Baile – Tangoball
Es war eine denkwürdige Nacht, von der unser Programmausschnitt
zeugt. Das letzte Wochenende des internationalen Tangofestivals
von Montevideo wird eingeleitet mit einem grossen Ball in der Halle
des Neuen Rathauses (Bild nächste Seite). Zwei uruguayische
Tangoorchester der Spitzenklasse spielen zum Tanz für hunderte
Tanzpaare und die versammelte Tangoszene von Montevideo. Beide
Orchester kennen wir bereits. Zur Musik des Orquesta Intertango Río
Negro hatten wir schon in Lissabon getanzt, und die Musiker begrüssen uns mit lautstarkem Halloh. Mit Miguel Villasboas verbindet uns
eine langjährige Bekanntschaft. Die Festivalleitung hatte Ulrike und
mich ausersehen, zur Musik beider Orchester – natürlich ungeprobt diverse Einlagen zu tanzen. Als Höhepunkt spielt zu später Stunde
das Orchester Miguel Villasboas.
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Ein Ort des Tangos. Der Palacio Municipal (Neues Rathaus) in Montevideo. Dessen weitläufige zentrale Halle (Atrio Municipal) wird auch
für grosse Tangobälle genutzt (s. Programm auf der vorigen Seite).
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Dieses Festival war unser drittes und letztes in Montevideo, und
dieser Showauftritt vielleicht der Höhepunkt unserer Tätigkeit als
Tangotanzpaar.
Unsere letzte Einlage soll ein Vals sein, und Miguel schlägt Desde el
alma vor, "Aus der Seele“. Wir sind sehr einverstanden, weil uns
auch so zumute ist, und wir tanzen diesen Vals cruzado absichtlich
ein bisschen exaltiert. Aber diese Verrücktheiten kommen beim Publikum besonders gut an. Entsprechend deutlich ist der Applaus und
es gibt laute "Otra“-Rufe nach einer Zugabe. Und jetzt spielt Miguel
La Cumparsita in seinem so mitreissenden Tempo und glasklarer
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Rhythmik, dass es uns gelingt, obwohl wir reichlich erschöpft sind,
noch einmal alles hineinzulegen.
La Cumparsita im Fernsehen
Aber wir haben in Montevideo auch schon 3 Jahre früher La Cumparsita aufgeführt.
An einem Samstagnachmittag erhalten wir die Einladung zu einem
Fernsehauftritt am nächsten Tag, dem Sonntag. Wir werden besonders darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der Mittagsshow
im Sender Canal 12 (Teledoce) um eine besonders beliebte Show
handelt, "die im ganzen Land gesehen wird“.
Und hier erleben wir jetzt, was es heisst, professionell Fernsehen zu
machen. Alles verläuft in höchstem Tempo. Wir treffen etwa eine
dreiviertel Stunde vor unserem Auftritt beim Sender ein, als die Sendung schon in vollem Gange ist. Eine dieser unsäglichen Shows mit
Glücksrädern- und Kugeln usw. Zwei schöne junge Frauen, die wohl
so etwas wie die Glücksfeen sind, bewegen sich buchstäblich im
Laufschritt zwischen zwei Senderäumen hin und her. Eine richtige
Garderobe gibt es nicht, wir müssen in einer Art Requisitenraum
warten.
Dann in die Maske. Das geht unglaublich schnell, und die Schminke
sitzt perfekt. Ulrike ist nie wieder so schnell und mit solcher Sicherheit
perfekt geschminkt worden. Dann ruft uns die Regie in den Saal.
Während der Dauer einer Werbepause bekommen wir Gelegenheit,
uns mit der Live-Band kurz abzustimmen. Was sollen wir spielen,
fragen sie, La Cumparsita? Na klar, was denn sonst, wir sind
schliesslich in Uruguay. Wir proben etwa 30 Sekunden, dann wieder
raus, die Show geht weiter.
Wenig später wieder rein in den Saal. Der Moderator stellt uns vor,
dann ertönt La Cumparsita. Als der Tanz vorbei ist, tobt das Publikum
vor Begeisterung und auch die Musiker applaudieren. In der Technik
zeigt man uns das Video. Wir sind ausserordentlich gut gefilmt worden, von verschiedenen Seiten, aus verschiedenen Perspektiven,
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zum Teil von oben, einfach professionell. Und das ganze praktisch
ohne richtige Vorübung. Alles improvisiert wie unser Tanzen. Nach
anderthalb Stunden sind wir wieder draussen in der Sonne.
An diesen Fernsehauftritt mussten wir denken, als wir einige Monate
später in Hamburg beim öffentlich-rechtlichen NDR auftraten. Dort
hatten wir zwar eine eigene Garderobe mit Obst, Schokoriegeln,
Mineralwasser, Sekt und einer Couch zum Hinlegen, aber die Vorbereitung für den eigentlichen Auftritt schleppte sich lähmend Stunde
um Stunde hin, mit dem Ergebnis, dass wir nach stundenlanger
Zwangspause schon fix und fertig waren und dann noch weit weniger
wirkungsvoll gefilmt wurden als beim kleinen Kommerzsender Teledoce in Montevideo. Auch die Damen aus der Maske mussten bis
kurz vor unserem Auftritt immer wieder noch einmal hinter die Bühne
kommen, um das Makeup zu verbessern.
In Montevideo glauben wir am Tag nach unserem Fernsehauftritt,
andere Menschen zu sein. Überall spricht man uns auf den Fernsehauftritt an. Wir werden auf der Strasse erkannt, wildfremde Menschen
zeigen uns ihre Begeisterung. Im Restaurant bekommen wir von dem
Tag an einen (noch) besseren Wein. Es ist unglaublich. Die Show
müssen wirklich alle gesehen haben. Und ich sage scherzhaft zu
Ulrike: "so wurden wir über Nacht berühmt“.
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Bild oben: La Casa de Becho in Montevideo, das Wohnhaus von
Gerardo Matos Rodríguez, dem Komponisten des berühmtesten
Tangos der Welt: La Cumparsita.
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Zugabe: Eine Begebenheit aus der Praxis in Deutschland
An unsere Auftritte mit La Cumparsita in Montevideo erinnerte ich
mich, als ich einmal als Tango-DJ im Tangosalon der Göttinger
MUSA La Cumparsita in der Interpretation von Miguel Villasboas
auflegte. Die Tanzfläche war recht gut gefüllt, und ich hatte vorher
(halb im Spass) noch durchs Mikro gewarnt, "Vorsicht! – mal sehen,
wer’s schafft“ (denn Villasboas spielt schnell). Woraufhin ein Tanzpaar sich sehr erheitert zeigte. Als die Musik verklungen war, sagte
ich wieder durchs Mikro, quasi entschuldigend: "Ich habe gewarnt“.
Worüber selbiges Tanzpaar sich noch mehr zu amüsieren schien.
Nun sah ich mich allerdings dem Paar gegenüber zu der Erklärung
genötigt, dass durchaus nicht alle Tanzpaare auf der Musik gewesen
waren, was das belustigte Paar bei sich selbst offensichtlich nicht
einmal bemerkt hatte.
Diese Begebenheit im MUSA-Tangosalon ist hierzulande durchaus
nicht aussergewöhnlich für das Geschehen auf Milongas. Es läuft
Tangomusik und Tanzpaare tanzen bzw. exekutieren irgendwelche
Figuren (durchaus auch schwierigere), nur haben die Tanzbewegungen wenig oder nichts mit der laufenden Musik zu tun. Und solch
ein Treiben hat dann letztlich auch mit dem Tango Argentino kaum
noch etwas zu tun.
Bei einem Tango wie La Cumparsita, besonders wenn er in einem so
stringenten Rhythmus und so schnell gespielt wird wie von Miguel
Villasboas, fällt es natürlich besonders auf, wenn die Tanzpaare mit
der Musik nichts anzufangen wissen. Und mehr noch, wie kann man
sich selbst als Tangotänzer bezeichnen, wenn man es nicht mal
schafft, die Hymne des Tangos, den berühmtesten Tango der Welt zu
tanzen?
Es kann lange dauern bis man/frau Tanguera / Tanguero geworden
ist, denn den Tango muss man sich erobern. Mit Lau- und Halbheiten
kommt man ihm nicht bei. Tango verlangt Hingabe. Ganzheitlich.
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Unser verehrter Lehrer Antonio Todaro in Buenos Aires sagte in
einem Interview den berühmt gewordenen Satz:
"Der Tango als Tanz ist das schönste, was es gibt. Man muss
ihn mit Kraft angehen, mit viel Zärtlichkeit und vielen Stunden
Arbeit“.
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Detail der Hauswand von Matos Rodríguez‘ Haus. Das Titelbild der
Partitur von La Cumparsita.
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Festivales
Für ein nicht argentinisches oder nicht uruguayisches Tango-Tanzpaar ist es eher unwahrscheinlich, auf dem freien Markt ein Engagement für einen internationalen Show-Auftritt zu bekommen. Dafür
warten schon zu viele argentinische Spitzenpaare in den Startlöchern. Ihr "Muttersprachler"-Bonus sei ihnen aber gern gegönnt.
Internationale Festivales (vergleichbar internationalen Kongressen)
bieten abseits des Marktes Tangokünstlern aller Länder die Gelegenheit zu wirklich grossen Auftritten auf internationaler Ebene. Doch zu
denen muss man natürlich auch eine Einladung bekommen..
Die Cumbres, an denen Ulrike und ich teilgenommen haben, waren
an Internationalität nicht zu überbieten. Ausser unseren SoloAuftritten in renommierten Theatern haben wir auf einem einzigen
Festival mehr professionellen Austausch mit anderen Tangokünstlern
aller Sparten und aus zahlreichen Ländern gehabt, als man normalerweise in seinem ganzen Leben haben würde.
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Der Weltgipfel des Tangos
Cumbre mundial del Tango (port. Cimeira mundial do Tango; dt.:
"Weltgipfel des Tangos“). Alle 2 Jahre in wechselnden Städten stattfindendes internationales Tangofestival unter argentinischer Organisation und Leitung. Die Benennung Weltgipfel wurde gewählt, weil
die teilnehmenden Tangokünstler die Stadt repräsentieren, aus der
sie kommen. So haben Ulrike und ich dreimal, in Montevideo, Lissabon und Sevilla, die Stadt Göttingen repräsentiert, als Ort, in dem die
Tangokultur gepflegt wird.
Der Zielsetzung dieses Festivals entspricht es, dass hier die Städte
nicht gegeneinander antreten, sondern sich als Tangostadt darstellen. Es ist also kein Wettbewerb, sondern eine Schau dessen, was
eine Stadt an Tangokunst zu bieten hat. Entsprechend hoch ist das
Niveau. Es sind immer höchstrangige, international bekannte Tangokünstler dabei. Zum Beispiel auch regelmässig Horacio Ferrer, der
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bedeutendste lebende Tangodichter. Hier wird der Tango um seiner
selbst willen gefeiert. Es gibt Tanzauftritte, Milongas, Konzerte, Ausstellungen, Vorträge und einige wenige Workshops.
Die Repräsentanten der Städte können aus allen Sparten der Tangokultur kommen. Es können Musiker (Sänger oder Instrumentalisten),
Maler, Dichter, Historiker und natürlich Tänzerinnen und Tänzer sein.
Die Materie bringt es mit sich, dass – natürlich – argentinische Künstler die Mehrheit stellen.
Die am Cumbre teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler werden
alle in ein und demselben Hotel untergebracht. Man trifft sich beim
Frühstück, in Montevideo mit Blick auf den Rio de La Plata, und plaudert mit Tangokünstlern aus aller Herren Länder. Auch Mittag- und
Abendessen werden an einem zentralen Ort eingenommen, wo auch
die allabendliche Milonga mit Livemusik stattfindet. In Montevideo ist
die Milonga allerdings, getrennt vom Restaurant, im Mercado de la
Abundancia, den ich weiter unten noch vorstelle. Ein besonders
stimmungsvoller, und geradezu zünftiger Schauplatz des authentischen Tangos.
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Cumbre Nr. 3
Das 9. Montevideo-Festival 1996 ist gekoppelt mit dem 3. Cumbre
Mundial del Tango, dem “Tango-Weltgipfel”. Zudem ist Montevideo in
diesem Jahr Kulturhauptstadt Südamerikas. Ein Mega-Event für
Uruguay mit über 500 Teilnehmern aus aller Welt. Musikern, Tänzern, Literaten, Malern, Historikern. Schon zu Hause wirft dieses
Ereignis seine Schatten voraus, was am Medienrummel zu erkennen
ist. Zeitungen aus Berlin und anderswo interviewen uns am Telefon,
das Göttinger Tageblatt bringt einen grossen Artikel mit Bild. Die
uruguayische Botschaft ruft an, um uns zu fragen, ob sie uns irgendwie bei den Reisevorbereitungen unterstützen kann. Wir benötigen
aber keine Hilfe, da wir als Tangueros erfahrene Reisende zum Rio
de La Plata sind. Schon 1990 waren wir zum ersten Mal in Montevideo und haben zur Live-Musik von Miguel Villasboas getanzt. Damals
aber noch nicht als Show-Tanzpaar.
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Bei der Eröffnung des Festivals im Mercado de la Abundancia sind
viele illustre Persönlichkeiten aus der Welt des Tangos zugegen.
Unter anderem werden wir dem bedeutendsten lebenden TangoPoeten, dem Uruguayer Horacio Ferrer, vorgestellt, ein malerischer
Mann mit Halstuch, hochhackigen Tangoschuhen und den erlesenen
Manieren des Tangueros, als er Ulrike mit Küsschen begrüsst.
Zwei Jahre später auf dem Cumbre in Lissabon und 2005 in Sevilla
beim gleichen Festival trafen wir erneut mit Horacio Ferrer zusammen, und ich habe ihm die 1. Auflage dieser Erinnerungen aus Montevideo und unser Homero-Manzi-Buch als Geschenk überreicht. In
Sevilla hat er auch unseren Auftritt bei der Eröffnungsveranstaltung
für die Medien gesehen.
Horacio Ferrer ist der Dichter des Librettos der Operita Maria de
Buenos Aires, zu der Argentiniens bedeutendster Komponist und
Erneuerer des Tangos, der Bandoneonvirtuose Astor Piazzolla, die
Musik geschrieben hat. Und es gibt wohl keinen Tanguero, der nicht
die Balada para un loco (die Ballade für einen Verrückten) des Duos
Ferrer/Piazzolla kennt.
2013 wurde Horacio Ferrer 80 Jahre alt. In einem Interview mit der
Zeitung Página 12 vom 10. Juni 2013 sagte er: “Ser tanguero es
una forma de transitar por la existencia, aun sin tocar un
instrumento, sin cantar ni bailar”
“Tanguero zu sein, ist eine Daseinsform, auch wenn man kein
Instrument spielt, nicht singt und nicht tanzt“.
Diesen Ausspruch hat Ferrer so oder ähnlich schon öfter getan. Auch
in deutschen Veröffentlichungen ist er wiederholt zitiert worden. Jetzt
hat er seine Erkenntnis erneut bekräftigt.
Es ist müssig zu versuchen, Ferrers Ausspruch intellektuell zu erklären, nach dem Motto: Was meint der Dichter mit seinen Worten. Tango ist Gefühl. Die Forderung: "Fühlt mal“, ist sinnlos. Das emotionale
Fühlen lässt sich nicht erklären.
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Und das bringt uns zwangsläufig zum Tango-Tanzunterricht. Wenn
man die vielen – zu vielen – deutschen Tangotanzpaare sieht, die mit
der Tangomusik und somit auch mit dem Tango nichts anzufangen
wissen, dann wird das Defizit augenfällig. Das soll weder ein Vorwurf
an die Tangolehrer noch an die Schüler sein. Denn das, was fehlt, zu
unterrichten, nämlich auch den getanzten Tango als gefühlten Umgang zwischen Mann und Frau, das ist das Schwerste. Und ob es
gelingt, ist Glückssache.
Es sind schon diverse Methoden ersonnen worden, um den Tango
Argentino als Tanz an Menschen der westlichen Industrienationen zu
unterrichten. Da gibt es Körperarbeit nach Feldenkrais, Alexandertechnik, Pilates, Yoga, die Anatomie gestützte Herangehensweise:
welcher Muskel ist bei welcher Bewegung angespannt, welche Teile
des Skeletts biegen sich in welche Richtung usw.
So kann man vielleicht erfolgreich Sportler, auch Tanzsportler theoretisch schulen. Aber der Tango Argentino ist kein Sport. Er ist ein
volkstümlicher Tanz, der sich zur Kunst weiterentwickelt hat. Die
gymnastischen und medizinischen Herangehensweisen sind allenfalls Hilfsmittel für hilflose Lehrer und für Schüler, die es gewöhnt
sind, über den Verstand angesprochen zu werden. Ich will nicht bestreiten, dass es möglich sein kann, damit Erfolge zu erzielen, denn
der Körper ist beim Tanzen ja zweifelsohne involviert. Aber diese
Hilfsmittel sind letztlich Umwege übers "Aussen“, während doch zuvörderst das "Innen“ erreicht werden muss.
Und wenn man von mir jetzt fordert: Dann sag doch, wie man es
besser macht, dann kann ich nur sagen: Ich weiss es nicht. Ich denke, in Einzelarbeit mit nur einem Paar, das sich mir ganz anvertraut,
könnte ich was schaffen, das in die richtige Richtung geht. Im Gruppenkurs unmöglich.
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Der Mercado de la Abundancia (Bild oben) ist eine Markthalle im
Zentrum von Montevideo – und noch viel mehr. Hier hat Joventango
seinen Sitz. Eine Organisation, die für den Tango in Montevideo und
darüber hinaus in ganz Uruguay Hervorragendes leistet.
Unter anderem ist Joventango Organisator des jährlichen internationalen Tango-Festivals Viva el Tango, an dem Ulrike und ich dreimal
als offizielles Tanzpaar teilgenommen haben. Eingeladen waren wir
sogar viermal, aber 1998 hatten wir uns schon für den Cumbre in
Lissabon entschieden und mussten auch noch im Herbst umziehen.
Im Mercado de la Abundancia gibt es regelmässig Milongas bei loderndem Asado-Feuer und viele andere hochklassige Tango-Veranstaltungen. Diese Markthalle in Montevideo ist ein authentischer
Schauplatz des Tangos am authentischen Ort.
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Über das Festival Viva el Tango im allgemeinen und über das MegaFestival 1996 im Besonderen schreibt Joventango in seiner Homepage:
[Auszugsweise inhaltliche Wiedergabe auf Deutsch]
"…es (das Festival) vereinigt während zehn Tagen die renommiertesten Künstler vom Rio de La Plata und aus Ländern wie Deutschland, Australien, Österreich, Belgien, Brasilien, Canada, Kolumbien,
Chile, USA, Spanien, Finnland, Frankreich, Japan, Peru, Venezuela
und anderen.
Der 3. Weltgipfel des Tangos im Jahr 1996, der Montevideo in die
Kulturhauptstadt Südamerikas verwandelte und den "Mercado de la
Abundancia“ in die Kathedrale des Tangos, war eine unserer [Joventangos] bedeutendsten Auszeichnungen seit unserem Bestehen und
der Stolz der Stadt Montevideo, deren Strassen überfüllt waren mit
einem enthusiastischen Publikum, das uns mit Freude und glühender
Tangobegeisterung bei allen Aktivitäten des Programms begleitete,
sowohl auf den öffentlichen Plätzen, als auch in den verschiedenen
Theatern und auf den Schauplätzen in den Stadtvierteln.“
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Unser erster Auftritt findet auf der ersten grossen Veranstaltung des
Festivals nach der Eröffnung am Vortage statt, im Punta Carretas
Shopping Center. Diese elegante Shopping Mall ist in einem ehemaligen Gefängnis, einer umgebauten Festung, eingerichtet und noch
ziemlich neu. Der ganze Stolz der Montevideaner.
Das ARD-Team ist unter der Leitung von Herrn Nuhn aus Buenos
Aires herübergekommen, interviewt uns, besonders Ulrike, vor laufender Kamera und filmt unseren Auftritt, der vom Publikum mit lautstarker Zustimmung aufgenommen wird. Die Aufnahmen gehen kurze
Zeit später in Deutschland über den Sender.
Zum Schluss tanzen wir Chiqué, nach der Aufnahme des argentinischen Tangopianisten Osvaldo Pugliese und seinem Orchester.
Pugliese ist erst im Jahr davor hochbetagt gestorben. Bevor wir be-
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ginnen, erkläre ich dem Publikum, dass wir diesen Tango zu Ehren
Osvaldo Puglieses tanzen.
Nach unserem Auftritt kommen mehrere Leute zu uns, um uns zu
sagen, wie sehr es ihnen gefallen hat. Es wird auch eine alte Dame
zu uns geführt, die uns mit Tränen in den Augen und Küsschen links
und rechts dankt. Es ist Señora Pugliese, die Witwe des grossen
Maestros. Ein bewegender Moment für Ulrike und mich in unserem
Tangueroleben.
Ein paar Jahre später werden wir in Buenos Aires im ältesten historischen Tangocafé der Stadt, dem Café Tortoni, Beba Pugliese vorgestellt, der Tochter des Maestros, die auch eine berühmte TangoOrchesterleiterin ist. Leider haben wir nur den grossen Maestro selbst
nie persönlich kennenlernen dürfen.
Am Abend begegnen wir im Foyer des Teatro Solís, dem grössten
und renommiertesten Theater der Stadt (Bild oben), einem hohen
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Beamten des uruguayischen Aussenministeriums. Señor Pombo
hatte sich schon nach unserem Auftritt im Punta Carretas Shopping
Center mit uns bekannt gemacht und uns seine Anerkennung ausgesprochen. Jetzt lädt er uns ein, die Veranstaltung zusammen mit ihm
und seiner Frau von ihrer Privatloge aus zu erleben. Wir danken für
die Ehre und erleben in der Tat einen unvergesslichen Tangoabend
mit dem argentinischen Quinteto Horacio Salgán.
In 25 Jahren Tangopraxis haben Ulrike und ich zahlreiche hochklassige Tangoveranstaltungen in Buenos Aires, Montevideo und vielen
anderen Städten in Europa miterlebt. Nicht wenige haben wir in
Deutschland auch selbst mitgestaltet oder auch selbst veranstaltet.
Von allen zu berichten, geht nicht. Aber diese, im Teatro Solís zu
Montevideo, ist uns ganz besonders im Gedächtnis geblieben.
Der legendäre argentinische Pianist Horacio Salgán, damals bereits
über 80, und weitere ältere Herren, darunter der ebenfalls hoch berühmte Tangogeiger Antonio Agri, zeigen was Tango ist. Selten hat
man Tango mit solcher Leidenschaft, einem solchen Feuer und solch
einer brillanten, unbeschreiblichen Mischung aus musikalischer Tradition und Moderne gehört wie an diesem Abend. Ein Triumph des
Tangos und der Alterslosigkeit. Der tosende Applaus im mehr als voll
besetzten Theater will nicht enden.
Auf einer Nebenbühne im Tratro Solís
An einem Nachmittag sollen die eingeladenen Tanzpaare auf einer
Nebenbühne im linken Flügel des Teatro Solís in einer kurzen Workshopsequenz dem Publikum ihre Art zu unterrichten demonstrieren.
Als Ulrike und ich dran sind, sage ich unter anderem "die Frau weiss
nie was kommt“. Diese Aussage, die ich natürlich noch präzisiere,
erheitert das Publikum hörbar. Ein paar Tage später, an einem anderen Schauplatz des Festivals, kommt ein Mann auf uns zu und sagt,
dass er bei unserer Demonstration im Teatro Solís dabei gewesen
sei. Das Publikum hätte gelacht, aber das, was ich gesagt hätte, sei
genau das Richtige gewesen. Wir sollten doch hier bleiben und Tango unterrichten.
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Club Bohemios
Es gehört zu den organisatorischen Details sowohl des Cumbre
mundial del Tango, des "Tango-Weltgipfels“, als auch zum Festival
Viva el Tango in Montevideo, dass die Künstlerinnen und Künstler,
sofern sie nicht eine vorbereitete Show anbieten, für die verschiedenen Veranstaltungen von der Festivalleitung zusammengestellt
werden.
Die Tangoveranstaltung im Club Bohemios ist eine der gelungensten
und rundesten, die wir jemals gemacht haben. Musiker sind die Sängerin Gillian und ihr Ehemann, der Bandoneonist Teddy Peiro aus
London. Sie ist Engländerin, er Argentinier. Dazu kommen die beiden
Uruguayer Fernando Olivera, Gitarrist, und der Sänger und Gitarrist
Alfredo Sadi, der in Buenos Aires lebt. Ulrike und ich sind das Tanzpaar aus Deutschland. Es geht also im wahrsten Sinne international
zu. Wir haben unsere Einlagen nach CD vorbereitet. Man muss aber
immer darauf gefasst sein, dass zumindest ein gemeinsamer improvisierter Auftritt aller beteiligten Künstler stattfindet.
An diesem Abend ist es wahnsinnig schwül, und dann geht ein
furchtbares Gewitter nieder. Uns kleben die klatschnassen Klamotten
auf der Haut und am Anfang ist auch noch das Mineralwasser knapp.
Wir wissen nicht, wie wir den Abend durchstehen sollen. Schliesslich
bringt jemand von den Organisatoren Mineralwasser, das wir in gewaltigen Mengen in uns reinschütten. Auf Wunsch der Organisatoren
eröffnen Ulrike und ich das Programm. Wir tanzen zur Musik eines
unserer Lieblingsmusiker: Osvaldo Pugliese.
An dieser Stelle möchte ich einflechten, dass in Uruguay das Publikum eine Darbietung nie in Passivität verfolgt. Vielmehr verhält es
sich wie Mitakteure. Man spürt förmlich hautnah die Reaktion, die
man beim Publikum auslöst. An diesem Abend merken wir gleich zu
Anfang, dass dieses Publikum noch intensiver mitgeht als sonst. Man
spürt die Bewegung, es gibt kommentierende Zwischenrufe. Diese
Interaktion mit dem Publikum inspiriert ungemein. Nach unserem
ersten Tanz Riesenapplaus.
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Dann sind die Musiker dran. Gillian singt bekannte Tangos auf Englisch, was beim Publikum ebenfalls sehr gut ankommt. Sie hat eine
angenehme, ansprechende Stimme und ihre Interpretation bringt in
die Tangos einen Hauch vom Sound angelsächsischer Barmusik.
Nicht unattraktiv. Am besten klingt in diesem Stil Hasta siempre
amor, was auf englisch unübertrefflich Good bye my love heisst. Das
Publikum ist begeistert, genauso wie von den uruguayischen Künstlern. Nie habe ich Ventarron so ergreifend authentisch gehört wie von
Alfredo Sadi, der diesen Tango ganz langsam singt, mit einer tiefen,
sonoren Stimme. (Zwei Jahre später lernen wir in Buenos Aires die
schöne Nichte des Komponisten von Ventarron kennen, die Schauspielerin Mónica Maffia).
Ulrike und Eckart im Club Bohemios
Foto oben und nächste Seite: Privatarchiv Fernando Olivera
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Zwischendurch tanzen Ulrike und ich die vorgesehenen Einlagen, die
mit heftigem Applaus quittiert werden. Am Schluss der Veranstaltung
ist der Applaus stürmisch, gemischt mit lauten "Otra“-Rufen (Zugabe),
und nun kommt es zum gemeinsamen improvisierten Auftritt aller
Beteiligten. Das ist der Höhepunkt. Danach kennt das Publikum kein
Halten mehr. Wir bekommen Standing Ovations. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer kommen anschliessend in die Garderobe, um
uns zu beglückwünschen. Felicitaciones allenthalben. Fotos werden
gemacht ....
Gillian, die in England auf eine lange Karriere im Showbusiness zurückblicken kann, spricht es aus, und wir alle stimmen ihr zu: Solche
Aufführungen, die so rundum gelungen sind, wo alles stimmt, und
man hinterher einfach glücklich ist, die gibt es nicht so oft…
Internationales Tango-Festival in Montevideo. Backstage im Club
Bohemios nach dem Auftritt. (Von links): Eckart Haerter (DE, Tanz),
Gillian Peiro (UK, Gesang), Teddy Peiro (AR, Bandoneón), Ulrike
Haerter (DE, Tanz), Fernando Olivera (UY, Gitarre). Leider fehlt auf
dem Bild der grandiose Tangosänger Alfredo Sadi (UY).
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Im Teatro Florencio Sánchez
Der Cerro ist der "Hügel“ von Montevideo, die höchste Erhebung der
Stadt, aber man muss schon genau hingucken, um die Stelle als
Erhebung wahrzunehmen. Oben auf dem Cerro befindet sich ein
kleines Militärmuseum mit schöner Aussicht. Im Teatro Florencio
Sánchez, das im Stadtteil Cerro gelegen ist, haben wir einen erwähnenswerten Auftritt, denn die Sängerin des Abends ist Elsa Morán,
eine der berühmtesten Tangosängerinnen Uruguays. Backstage
macht sich ein sehr nettes Tanzpaar mit uns bekannt. Es sind Alain
und Adriana, das Tanzpaar von Elsa Morán.
Ulrike und ich werden an diesem
Abend nach CDs tanzen, denn das
Live-Orchester ist zur Begleitung
von Elsa Morán da (Bild links). Als
wir unseren Auftritt absolviert haben,
warten wir in der Garderobe auf das
Ende der Vorstellung, um ins Hotel
zurückgebracht zu werden. Doch
plötzlich kommt ein Mitarbeiter der
Regie in die Garderobe und bittet
uns, ganz schnell wieder auf die
Bühne zu kommen. Wir sollen zusammen mit Elsa Morán auftreten,
da Alain und Adriana wegen einer
unerwarteten Unpässlichkeit nicht
tanzen können.
Elsa Morán befindet sich bereits auf der Bühne und hat schon mehrere Tangos gesungen. Als Ulrike und ich die Bühne betreten, ist der
Beifall des Publikums betont und spürbar herzlich, und was dann
kommt, ist wieder einer dieser wunderbaren, ungeprobten Auftritte wo
alles stimmt. Livemusik und tänzerische Improvisation, das lebendige
Zusammenwirken zwischen Sängerin, Musikern, Tänzern und nicht
zuletzt auch dem Publikum. In einer Gesangspause, als nur das
Orchester spielt, sehen wir zufällig, wie Elsa Morán mit dem Mikrofon
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in der Hand, unserer Tanzimprovisation strahlend zuschaut. Der
Schlussapplaus des Publikums ist sehr temperamentvoll.
Im Foyer des Theaters erwartet uns ein Kamerateam des argentinischen Tangosenders "Sólo Tango“ aus Buenos Aires, das im Saal
alles gefilmt hat. Jetzt werden noch die Künstler des Abends interviewt. Die letzte Frage an mich lautet, was bedeutet für Sie der Tango, und ich sage spontan was für uns beide gilt: "es mi vida“, er ist
mein Leben. Später erfahren wir, dass Sequenzen unseres Auftritts
und des Interviews mit Ulrike und mir in Buenos Aires ausgestrahlt
worden sind.
Damals können wir noch nicht ahnen, dass wir 2005 in Sevilla vor
laufender Kamera sogar für Sólo Tango singen werden, aber das ist
eine andere Geschichte…
Am folgenden Samstag hat Elsa Morán noch einen Auftritt vor dem
Mercado del Puerto, dem alten Markt am Hafen. Der Hafenmarkt ist
ein berühmter und beliebter Wochenend-Treffpunkt der Montevideaner, wo man draussen unter Sonnenschirmen an Tischen sitzen
kann oder drin an unzähligen Theken bei riesigen Mengen Rotwein,
Rindfleisch und Salat. Natürlich wird das Fleisch auf lodernden Holzkohlefeuern gegart. Draussen in der Sonne treten Tangosänger,
Musiker und Tänzer auf, kurz: hier pulsiert das pralle Tangoleben.
Für Elsa Morán und die Musiker ist eine hohe Bühne aufgebaut,
damit sie von überall her gut gesehen werden können. Und auf der
Bühne tanzen Alain und Adriana, die kürzlich im Teatro Florencio
Sánchez ihren Auftritt absagen mussten, und denen wir dadurch
einen unserer schönsten improvisierten Auftritte am authentischen
Ort, vor einheimischem Publikum und zur Livemusik einheimischer
Musiker verdanken.
Als Elsa Morán uns zufällig in der Menge entdeckt, winkt sie uns von
oben strahlend zu. Es ist diese familiäre Herzlichkeit unter den
Tangokünstlern In Montevideo, die einen hier so leicht heimisch werden lässt.
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Abstecher nach San José
Es giesst schon seit Stunden, und kein Ende ist abzusehen. Der
Himmel hängt voller schwerer schwarzer Wolken. Vor dem Hotel in
Montevideo wartet der Bus, der uns und das Berliner Orchester Tango Real nach San José bringen soll.
Die Fahrt durch die platte grüne Landschaft unter dem gewaltigen
grauen Himmel erinnert mich an die norddeutsche Heimat meiner
Kindheit. Wenn die grandiose Eintönigkeit nicht hin und wieder durch
eine Palme unterbrochen würde, könnte man sich nach Ostfriesland
versetzt fühlen.
San José (voller Name eigentlich: San José de Mayo) ist ein blitzsauberes Städtchen, wo Ulrike und ich, jetzt zur belebtesten Tageszeit, eigentlich einen Open-Air-Auftritt haben sollten. Auf den Auftritt
haben wir uns sehr gefreut, denn tanzen in engem Kontakt zum Publikum, hat sich für uns immer als sehr erfolgreich erwiesen. Aber
daran ist bei den unvermindert herabstürzenden Wassermassen
leider nicht zu denken.
Die Stadt hat nur ca. 36.000 Einwohner aber ein Theater, das Teatro
Macció, dessen Saal nicht kleiner ist als der Saal des Deutschen
Theaters in Göttingen. Auch in Form und Farben sind sich beide
Theatersäle verblüffend ähnlich.
Als wir backstage auf unseren Auftritt warten, bemerken wir plötzlich
eine Gedenktafel, die besagt [Zitat möglicherweise nicht wortgetreu]:
Acá Carlos Gardel brindó su último recital en el país
antes de morir...
(Hier hatte Carlos Gardel seinen letzten Auftritt in
Uruguay vor seinem Tod...)
Das war Tango total. Der Anprall geballter Tangogeschichte. Wir
durften auf derselben Bühne tanzen, auf der vor 63 Jahren Carlos
Gardel gesungen hat.
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In der Garderobe macht sich Malena Muyala, eine junge uruguayische Tangosängerin mit uns bekannt. Sie ist mit zwei Musikern und
Familienangehörigen
gekommen.
Malena ist
uns in ihrer
offenen,
natürlichen
Art auf Anhieb sympathisch. Ihr
späterer
Auftritt ist
sehr beeindruckend.
Sie ist eine
hochtalentierte, sehr ausdrucksstarke Tangointerpretin, die inzwischen verdientermassen auf eine steile Karriere zurückblicken kann.
Sie ist heute eine der bedeutendsten und geehrtesten Tangokünstlerinnen Uruguays. Das Bild oben (Foto gemeinfrei aus Wikipedia) ist
von 2009.
Ulrike und ich sind allerdings von den schlimmen Bühnenverhältnissen entsetzt. Unsere vorbereitete Choreographie können wir auf
dem klebrigen, leicht abschüssigen Boden nicht tanzen. Die Techniker spielen uns als Alternative verschiedene langsamere Tangos vor,
aus denen wir uns einen finnischen aussuchen, der erst am Vortag
bei einem Live-Auftritt der finnischen Musiker aufgenommen worden
ist. Aufgrund seiner dunkeltönigen Behäbigkeit erscheint uns dieser
Tango für diese Bühne besonders geeignet; er erweckt die Vorstellung von undurchdringlichen finnischen Nadelwäldern.
Fürs Publikum ist diese Darbietung verständlicherweise ein wenig
gewöhnungsbedürftig. Indes "ernten wir Applaus“ wie El País, Uruguays grösste Tageszeitung, später anmerkt.
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Natürlich habe ich auch die Musiker des (hervorragenden) deutschen Tango-Orchesters Tango Real
gefragt, ob wir nicht wenigstens einen Tango gemeinsam aufführen
wollen, sozusagen als gesamtdeutschen Beitrag. Aber dieses, offenbar ungeheuerliche, Ansinnen wird von den Musikern rundweg abgelehnt. Die uruguayischen Organisationsmitarbeiter können es nicht
fassen.
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Aber die Geschichte hat noch ein Nachspiel. Zwei Jahre später, auf
dem Tango-Weltgipfel in Lissabon, sind Ulrike und ich wieder dabei
und auch Tango Real. Aber hier wird von der argentinischen FestivalLeitung im Programm festgelegt, dass alle Showtanzpaare zusammen, also auch Ulrike und ich, auf der Bühne des Teatro da Trindade, einen gemeinsamen Auftritt mit Tango Real tanzen - improvisiert. Für uns eine "klammheimliche“ Gaudi, und ich sage scheinheilig
zu den Musikern, nun kommen wir ja doch noch in den Genuss, einmal mit Tango Real auftreten zu dürfen. Aber die stellen sich ganz
dumm: „Ja, war denn das nicht schon mal…?“
Es wurde ein schöner Auftritt aller Tanzpaare, zumal wir die Ehre
hatten, uns mit der Tango-Tänzerinnen-Legende Maria Nieves die
Bühne zu teilen. Über das Lissabonner Festival habe ich an anderer
Stelle schon ausführlicher berichtet.
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Nach dem Tangoabend im Teatro Macció in San José ist in einem
landestypischen Restaurant, dem Theater schräg gegenüber gelegen, eine lange Tafel gedeckt und das Asado-Feuer lodert. Hier feiern jetzt alle beteiligten Organisationsmitarbeiter, Techniker und
Künstler den Erfolg bei Rotwein, Rindfleisch und Salat. Asado, Rindfleisch jeder Art, gegart auf riesigem Holzkohlegrill, ist das Nationalgericht in Argentinien und Uruguay.
Unsere Runde ist ausgelassener Stimmung und die Uruguayer, deren Fleischkonsum (wie der der Argentinier) Weltspitze ist, machen
sich in selbstironischer Weise über uns Deutsche lustig wegen unserer "Gesunde-Ernährung-Manie“.
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Noch einmal im Punta Carretas Shopping Center (Bild vorige
Seite)
Es ist ein strahlender Tag, aber wie so oft in Uruguay bläst ein starker
Wind und deshalb ist es nicht besonders warm. Wie im Vorjahr haben
wir wieder einen Auftritt im Punta Carretas Shopping Center. Aber
diesmal nicht im Saal, sondern open Air auf einer hohen Bühne. Der
Innenhof ist voll besetzt.
Mehrere Leute kommen schon vor unserem Auftritt zu uns, um uns
zu sagen, dass sie uns schon vom vergangenen Jahr her kennen und
wie sie sich freuen, uns wieder tanzen zu sehen.
Der Applaus für unser Tanzen ist herzlich und stürmisch. Am Ende
verlangt das Publikum mit lauten Otra-Rufen eine Zugabe, und wir
bitten das uruguayische Trio Tango Sur, das hier ein Tango-Konzert
gibt, für uns einen Tango zum Tanzen zu spielen. Sie schlagen
Canaro en Paris vor. Die Schlussfigur dieses Tangos, die mit einer
starken Windböe zusammenfällt, hat die Kamera des Festivals festgehalten (Bild übernächste Seite).
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Anmerkung: Ulrike und ich haben nie, wenn uns vor einem spontanen, nicht geprobten Auftritt ein bestimmter Tango vorgeschlagen
wurde, abgelehnt oder um die Musik gefeilscht, auch wenn uns der
Tango vielleicht nicht sonderlich geeignet schien. Das hätten wir für
unprofessionell gehalten. Zudem konnten wir ja nicht wissen, ob die
Musiker einen von uns gewünschten Tango im Repertoire haben.
Ein solches Beispiel ist Canaro en Paris. Ein musikalisch sehr anspruchsvoller und sehr schöner Tango, der meist in der grandiosen
Interpretation von Osvaldo Pugliese gespielt wird (die mit der markanten schnellen Kontrabass-Sequenz). Aber als Musik für einen
Auftritt hätten wir ihn selbst nicht gewählt. Diesen Tango komponierte
ein Komponisten-Duo: Juan Caldarella (1891 – 1978) und Alejandro
Scarpino (1904 – 1970)
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Beim Cumbre 2005, dem Tango-Weltgipfel in Sevilla, sollten wir auf
der Vor-Eröffnungsveranstaltung für die Medien, auf einer kleinen
Bühne im weitläufigen Vestibül des Teatro Lope de Vega, einen
Auftritt improvisieren – nach CD, die in einem anderen Raum, ohne
Sichtkontakt zu uns, aufgelegt wurde. Die Festivalleitung wünschte
sich eine Milonga, was wir gerne zusagten. Welche, würden wir dann
ja hören.
Die Musik begann, und
was wurde gespielt –
keine Milonga, sondern
Canaro en Paris. Natürlich waren wir etwas wütend. Am Schluss sagte
Horacio Rebora, der argentinische Direktor des
Festivals, trocken: das
war keine Milonga. Nein,
sagten wir, das war Canaro en Paris.
Nichtsdestotrotz schrieb
die Zeitung Qué am
nächsten Tag über unseren unglücklichen Auftritt,
wir
wären
"zweifellos
bahnbrechend“ gewesen:
"Ulrike y Eckart sin duda
han roto moldes…“ Das
hat uns dann wieder versöhnt mit Canaro en Paris.
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Bild oben; Ausgeschnittenes Zitat aus der Zeitung Qué, Sevilla
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Improvisierter Auftritt zu Livemusik (Canaro en Paris) - Schlussfigur
mit Windböe
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Im Cabildo
Das historische Cabildo (Bild unten) entspricht etwa unserem "alten
Rathaus“. Auch in Göttingen wird das historische alte Rathaus unter
anderem für kulturelle Veranstaltungen genutzt. In Montevideo ist das
Cabildo zudem ein kleines historisches Museum.
Der geschichtsträchtige Ort und die ästhetische architektonische
Strenge der Innenräume tragen ausserordentlich zur Stimmung einer
Tangoveranstaltung bei (s. Bild nächste Seite).
Hier finden die Auftritte am Nachmittag statt. Wir tanzen wieder zunächst eine Choreographie nach CD, danach Improvisationen zum
Orchester von Julio Brum. Julio ist ein Tango-Liedermacher der jüngeren Generation, der seine Tangos als Sänger auch selbst interpretiert. Sehr lyrisch und versponnen, mit einem eigenwilligen, ungewohnten, dunklen Klang. Es scheint aber, als hätte Julio Brum sich
später anderen Musikstilen zugewandt. Eigentlich schade, denn
seine Musik bot eine bisher nicht dagewesene Farbschattierung aus
Montevideo im unerschöpflichen Spektrum der Tangomusik.
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Improvisierter Auftritt zu Livemusik – Schlussfigur
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Tangolokale
Ähnlich wie Deutschland und Österreich verstehen sich Argentinien
und Uruguay ethnisch und kulturell als Einheit. Das bedeutet aber
nicht, dass man den Tango vom Rio de La Plata gut kennt, wenn
man nur eine seiner Geburtsstädte kurz besucht hat. Die Unterschiede sind beträchtlich, und allein für die Erkundung des Tangos in Buenos Aires könnte man etliche Wochen ansetzen.
Das typische montevideanische Ess- und Showlokal Rancho Zeta ist
ziemlich klein und buchstäblich gerammelt voll. Der Stimmung tut das
keinen Abbruch. Im Gegenteil. Die Gäste sitzen an langen Tischen
(wegen der Fülle ziemlich eingepfercht), trinken und unterhalten sich
lautstark. Und die wichtigsten Künstler des Abends warten nicht etwa
unsichtbar in einer Garderobe auf ihren Auftritt, sondern sitzen mit
anderen Ehrengästen aus der Tangoszene an einem reservierten
Tisch zwanglos mitten drin. Mit an diesem Tisch sitzt, in formeller
Kleidung, auch der Geschäftsführer des Lokals und isst und trinkt mit
uns nach Herzenslust.
Das Mikrofon liegt griffbereit neben seinem Teller. Er erhebt sich nur,
wenn er von der Mitte der Tanzfläche aus, auf der auch die Vorführungen stattfinden, die nächste Nummer anzukündigen hat. Manchmal bleibt er aber auch einfach sitzen und macht seine Ansage vom
Tisch aus, damit das Essen nicht kalt wird ...
Die Show des Abends ist vielseitig und in ihrer ungezwungenen Art
so sympathisch wie ganz Montevideo. Zuerst tanzt eine Tanzgruppe
Tänze der Pampa, darunter den berühmten Malambo, wo Gauchos
gefährlich mit den Boleadoras wirbeln und ihre Kugeln in rasendem
Stakkato auf den Fussboden hämmern, während dumpfe Trommeln
dröhnen und junge Mädchen mit ihren hübschen Körpern einen liebreizenden Akzent setzen.
Mehrere Tangosängerinnen und Sänger singen bekannte Tangos
und ein argentinischer Bandoneonspieler lässt sein Instrument elegisch schluchzen. Dann tanzt sehr schön ein junges uruguayisches
Tangotanzpaar.
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Auch das Publikum bekommt zwischendurch Gelegenheit zu tanzen.
Schliesslich, als vorletzter Programmpunkt, sind Ulrike und ich an der
Reihe. Es wird für uns eine CD von Miguel Villasboas aufgelegt. Der
Maestro selbst sitzt neben uns am Tisch und ist sehr gespannt, weil
er weiss, dass nichts vorgeübt ist, dass wir alles improvisieren. Er
schlägt den Tango Felicia vor. Natürlich sind wir einverstanden.
Danach zeigt das Publikum im Rancho Zeta ohne Zurückhaltung,
dass unsere Interpretation von Felicia sehr gut angekommen ist.
Auch hier kommen am Schluss der Veranstaltung noch viele Zuschauer zu uns, um uns etwas Freundliches zu unserem Auftritt zu
sagen.
Olga Delgrossi
Foto © Tacuy.com
Die letzte Nummer der Show ist dann zugleich auch der Höhepunkt
des Abends. Olga Delgrossi, die grosse alte Dame des Tango Canción in Uruguay, singt Nostalgias, live begleitet von dem argentinischen Bandoneonspieler Gabriel Merlino. Es ist eine grossartige
Interpretation, wie man sie nur sehr selten zu hören bekommt. Ein
Tangoerlebnis. Die hohe Kunst der gesungenen Tangointerpretation.
Laute Ovationen am Schluss.
65
Felicia
Morgenröte über Montevideo
Zum Tango Felicia haben Ulrike und ich eine persönliche Beziehung.
Für uns war die Felicia nämlich "der letzte Tango in Montevideo", der
Tango unseres letzten öffentlichen Auftritts dort. Es war eine kleine,
intime Veranstaltung in einem Restaurant mit Tanzfläche. Das Lokal
knüppelvoll. Unter den Gästen befanden sich viele berühmte Tangokünstler, darunter Miguel Villasboas. Unvergesslich die hohe Tangokunst, als die grosse alte Dame des uruguayischen Tangos, die weltberühmte Olga Delgrossi, Nostalgias sang. Den Abend habe ich im
vorigen Kapitel beschrieben. Ulrike und ich sollten als vorletzte
Nummer des Showprogramms, wie immer ungeprobt, einen Tango
tanzen - diesmal freilich nach einer CD von Miguel Villasboas. Miguel
schlug Felicia vor und legte uns selbst die CD auf..
66
Den folgenden Tangotext mit dem Titel Felicia (ein Frauenname)
könnte man nach einer Stelle in seinem Text als insondable enigma
(unergründliches Rätsel) bezeichnen. So wollen wir uns denn an das
Mysterium herantasten. Da ist zunächst der Titel "Felicia", der Name
einer Frau. Aber im Text ist von keiner Frau die Rede. Lediglich der
Hinweis auf einen Abend der Verzweiflung. War das das Ende einer
Liebesbeziehung? Wir können es nur erahnen. Stattdessen verrät
uns der Autor, dass er eine bestimmte abgelegene Stelle der Küste
aufzusuchen pflegte, wo er das Spiel der Wellen beobachtete, die
ihm Trost brachten, wenn er dort mit sich allein sein Leid beweinte.
Später erfahren wir, dass er offensichtlich seine uruguayische Heimat
verlassen hat, mit der Gewissheit, nie mehr zurückzukehren. Mehrmals ist von seinen Augen die Rede, in denen verschiedene Bilder
ablaufen. Es sind die hartnäckigen Bilder seiner Erinnerung, die abwechselnd vor seinem inneren Auge erscheinen: das Grauen des
verzweifelten Abends und das Meer als Trost; die Morgenröte seiner
Heimat, an der er nicht mehr teilhaben kann, selbst wenn das Morgenrot der Fremde oder der Erinnerung ihm blendend in die Augen
tritt. Das Gedicht schliesst resigniert, indem der Autor ganz vom
Gesichtssinn ablässt und ihm nur noch die Erinnerung an die betörenden Düfte der uruguayischen Blumen verbleibt.
Auch dieses Bild sowie in der ersten Strophe die Metapher von den
"eigenwilligen Launen" der Wellen, könnte man als versteckte Anspielung auf eine Frau verstehen. Aber das ist blosse Spekulation.
Was wir allerdings sicher wissen, ist, dass sowohl der Textautor dieses sehr bekannten und beliebten Tangos, Carlos Mauricio Pacheco,
als auch der Komponist Enrique Saborido, Uruguayer waren. Uruguayer, die ihren Erfolg als Künstler in der argentinischen Metropole
Buenos Aires suchten und fanden. Leider verliert Uruguay bis heute
viele seiner besten Menschen, weil ausserhalb der Heimat einfach
bessere Arbeitsbedingungen bestehen. Die Schwesterstadt Buenos
Aires ist nicht weit, ist riesengross, und man spricht dieselbe Sprache. Deshalb ist Buenos Aires oft, besonders auch für Tangokünstler,
die erste Anlaufstelle.
67
Vom Tango Felicia sind mir drei verschiedene Interpretationen geläufig. Die erste vom Orchester Juan D'Arienzo (1900 - 1976). D'Arienzos Tangomusik gehört bis auf den heutigen Tag in Argentinien und
Uruguay zur beliebtesten Tango-Tanzmusik. D'Arienzo wurde auch
mit dem Beinamen El rey del compás ("König des Takts") geehrt.
Auch aus unserem Tangounterricht ist seine Musik nicht wegzudenken. Eine andere Interpretation von Felicia ist die des Orchesters
Lucio Demare (1906 - 1974). Auch Demares Musik ist nach wie vor
sehr lebendig. Felicia spielt er extrem langsam und besonders ausdrucksstark.
Im krassen Gegensatz dazu spielt das uruguayische Orquesta típica
Miguel Villasboas Felicia sehr schnell und temperamentvoll. Villasboas ist Pianist und leitet das beliebteste Tangoorchester Uruguays.
Als Tangomusiker ist er hoch geehrt. Er hat in Brasilien, den USA, in
Japan und Australien konzertiert und zahllose Tonträger eingespielt.
Villasboas hat sich nie von der lebendigen Basis des Tangos entfernt
und immer für Tänzer gespielt. Für Tangoorchester unserer Zeit ist
das durchaus keine Selbstverständlichkeit.
68
Felicia
(Tango)
Música: Enrique Saborido (1877 - 1941)
Letra: Carlos Mauricio Pacheco (1881 – 1921)
Allá en la costa apartada
donde cantan las espumas
el misterio de las brumas
y los secretos del mar,
yo miraba los caprichos
ondulantes de las olas
llorando mi pena a solas:
mi consuelo era el mirar.
Desde entonces en mi frente
como un insondable enigma
llevo patente el estigma
de este infinito pesar.
Desde entonces en mis ojos
está la sombra grabada
de mi tarde desolada:
en mis ojos está el mar.
Ya no tendré nunca aquellos
tintes suaves de mi aurora
aunque quizás se atesora
toda su luz en mis ojos.
Ya nunca veré mis playas
ni aspiraré de las lomas
los voluptuosos aromas
de mis flores uruguayas.
69
Montevideo. Blick auf den Rio de La Plata, davor die Rambla, die
Uferstrasse. Das Denkmal zeigt den südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfer von der spanischen Herrschaft Simón Bolívar (1783
– 1830)
70
Felicia
(Tango)
Música: Enrique Saborido (1877 - 1941)
Letra: Carlos Mauricio Pacheco (1881 – 1921)
Dort, an der abgeschiedenen Küste,
wo die Gischt singt
vom Mysterium des feinen Sprühnebels
und von den Geheimnissen des Meeres,
schaute ich mir immer
die eigenwilligen Launen der Wellen an.
Und mit mir allein, beweinte ich mein Leid:
Mein Trost war das Schauen.
Seit damals trage ich unverkennbar
auf der Stirn,
wie ein unergründliches Rätsel,
das Zeichen dieses unendlichen Kummers.
Seit damals liegt eingeprägt
vor meinen Augen
das Dunkel meines verzweifelten Abends:
In meinen Augen liegt das Meer.
Nie mehr wird mich das sanfte
Farbspiel meiner Morgenröte erfreuen,
auch wenn sich vielleicht
all ihr Licht vor meinen Augen sammelt.
Nie mehr werde ich meine Strände sehen
und nie mehr von den Hügeln
die betörenden Düfte meiner
uruguayischen Blumen atmen.
71
Abstecher nach Buenos Aires
Nur wenige Tage nach unserem Auftritt im Rancho Zeta in Montevideo sitzen wir in Buenos Aires mit Acho Manzi, dem Sohn des
Tangodichters Homero Manzi, in seinem Tangolokal Esquina Homero
Manzi "Homero-Manzi-Ecke“ (Bild unten). Dieses Lokal steht an der
historischen Ecke der Strassenkreuzung von San Juan und Boedo,
die Homero Manzi in seinem Tango Sur verewigt hat. Sur mit der
Musik von Aníbal Troilo ist Manzis berühmtester und wohl auch bester Tango. Die Ecke ist, wie das Lokal, nach dem Tangodichter benannt.
Tagsüber ist die Esquina Homero Manzi ein normales Café und Restaurant, abends werden dort auf der Bühne Tangoshows auf hohem
bis höchstem Niveau geboten. Die Esquina Homero Manzi ist ein
sehr schönes Lokal und gehört in Buenos Aires zweifellos zur sehr
gehobenen Kategorie. Es hat den für ein Tangolokal traditionellen
72
schwarz-weiss gefliesten Fussboden und eine Galerie, auf der ein
kleines Homero-Manzi-Museum eingerichtet ist. dort kann man aber
auch wie auf dem Rang eines Theaters sitzen. Unten im Saal an der
Theke werden verschiedenste, zum Teil sehr schöne Souvenirs verkauft. Unter anderem auch mein Buch "Ecken in Buenos Aires“ mit
deutschen Übersetzungen von Tango-Poemen Homero Manzis.
Essen und Wein sind, wie nicht anders zu erwarten, exzellent. Und
was auf der Bühne abläuft, ist eine der perfektesten Tangoshows, die
Ulrike und ich je gesehen haben. Absolute Weltspitzenklasse. Das
Live-Orchester in der typischen Besetzung Klavier, Geige, Bandoneon und Kontrabass spielt technisch perfekt, virtuos und leidenschaftlich im Ausdruck. Alle sind herausragende Musiker, denen
zuzuhören keine Minute langweilig wird. Eine Sängerin und ein Sänger, ebenfalls sehr gut, und zwei Tanzpaare, die eine Tanzshow
bieten, die höchstklassig ist in ihrer technischen Perfektion und choreographischen Vielfalt. Showtango vom Allerfeinsten, was auch für
Buenos Aires nicht immer selbstverständlich ist.
Obwohl die Tanzdarbietungen weitestgehend frei sind von zirzensischen und Ballett-Elementen, ist es letztlich unvermeidlich, dass bei
solch hochartifiziellen, durchchoreographierten Shows, die Abend für
Abend in der gleichen Weise ablaufen, etwas vom Sentido, von der
inneren Wahrheit des Tangos auf der Strecke bleibt. Auch dies gehört zur Unerfassbarkeit und Widersprüchlichkeit des Tangos, dass
er zur choreographierten Show animiert wie kein anderer Tanz, obwohl sein eigentliches Wesen die Improvisation ist. Wenn der Dinnerund Show-Abend (Cena y Show) in Montevideo schon fast einer
Peña glich, also einem Tangoabend unter Freunden, dann strahlt der
Abend in Buenos Aires eine gewisse Kühle aus. Zumal hier der Moderator des Abends, anders als in Montevideo, nicht mit im Publikum
sitzt. Er kommt auch nicht auf die Bühne, sondern hier tönt die gesamte Ansage der Show stets nur aus dem Off. Die konzentrierte,
fast zweistündige Show ohne Pause, dazu auf höchstem Niveau, ist
neben der grandiosen künstlerischen natürlich auch eine stupende
physische Leistung aller beteiligten Künstler. Aber ein Moderator ist
nie zu sehen. Das Publikum wird nicht ein einziges Mal direkt angesprochen.
73
Ähnliche Shows, mit einem ähnlich distanzierten Ambiente, haben wir
in Buenos Aires auch schon in früheren Jahren gesehen. Aber auch
in Buenos Aires gibt es intimere Tangolokale. Die Vielseitigkeit der
Tangoszene in der Weltmetropole des Tangos ist nicht zu überbieten.
Das Spektrum reicht von klein, intim und verrückt bis zu bombastischen Showtempeln. Die Esquina Homero Manzi hat eine sehr angenehme Atmosphäre, weil sie nach keiner Seite hin übertreibt. Auf die
fast familiäre Atmosphäre, die wir so oft in Montevideo genossen
haben, müssen wir aber an diesem Abend auch in Buenos Aires nicht
verzichten, denn Ulrike und ich sitzen am Ehrentisch zusammen mit
Acho Manzi, seiner Frau Marilú und ihrem Töchterchen Malena, die
damals gerade erst laufen lernte.
Die Homero
Manzi Ecke
in Buenos
Aires ist
eine der
wichtigsten
Tangoecken
überhaupt.
Der traditionelle Fussboden eines Tangolokals ist schwarz-weiss
gefliest, wie hier in der
Esquina Homero Manzi.
74
Montevideo: Angler an der Rambla, der Uferstrasse
75
Raúl Montero
Der Sänger, Tangokomponist und Textdichter Raúl Montero (Bild
unten), ebenfalls aus Montevideo, bietet mit seiner Musik einen solchen Kontrast zur Musik von
Miguel Villasboas, wie man
ihn sich krasser nicht vorstellen kann. Raúl Montero ist
ausgebildeter Opern- und
Liedersänger (Schubert,
Schumann). Dennoch kommt
ein uruguayischer oder argentinischer Sänger natürlich
um den Tango nicht herum.
So ist Raúl Montero schliesslich doch hauptsächlich Tangosänger geworden, der
auch viele Tangos komponiert und zum Teil auch getextet hat. Dabei sind ihm
wunderschöne Tangolieder
mit enger Verwandtschaft zur klassischen Musik gelungen. Eine
einzigartige Tangomusik, zu der es auch in Buenos Aires nichts Vergleichbares gibt. Darin zelebriert Montero eine lustvolle Melancholie,
oftmals zu den teils kryptischen Texten des uruguayischen Dichters
Enrique Estrázulas. An Tänzer denkt Raúl Montero mit seinen Kompositionen nicht. Braucht er auch nicht, denn auch ihm liegt der
Rhythmus im Blut und viele seiner Tangos lassen sich fantastisch
tanzen. Viele aber auch nicht, oder besser gesagt, manche seiner
Tangokompositionen setzen ein sehr fortgeschrittenes tänzerisches
Können voraus. Aber Tangos wie Magalí oder Hojas de Otoño
(Herbstblätter) sind ein Fest sowohl für die Ohren, als auch für Beine
und Gemüt.
Obwohl wir mit Raúl Montero sehr gut befreundet sind und schon so
manchen Abend bei Rindersteaks und gutem Rotwein miteinander
verbracht haben, hat sich nie die Gelegenheit zu einem gemeinsa-
76
men Auftritt ergeben. Dabei ist Raúl in den 80er Jahren, als wir uns
noch nicht persönlich kannten, sogar schon in Göttingen aufgetreten,
im Nörgelbuff, einem berühmten Göttinger Kellerlokal, als Trio zusammen mit Miguel Fernández (Bandoneon) und Toto Blanke (Gitarre). Wir waren dabei und erlebten einen hoch musikalischen und
stimmungsvollen Tangoabend mit Tangokünstlern der Spitzenklasse.
Bild oben: Ulrike und Raúl im Restaurant Danubio Azul (Blaue Donau) in Montevideo.
_________________________________________________
Dennoch haben wir mit Raúl sehr intensiv zusammengearbeitet,
wenn auch nicht tänzerisch. Mit zwei Publikationen, online im Internet
und gedruckt, haben wir von ihm gesungene Tangolieder im Original
und in meiner deutschen Übersetzung veröffentlicht. Darunter
natürlich Raúls Hymne, Canción del Plata, "das Lied vom La Plata”.
77
Canción del Plata
(Letra y música: Raúl Montero)
Dos ciudades una en cada orilla
por el Plata abrazadas las veo
Buenos Aires y Montevideo
con un tango y con la Cruz del Sur.
Es un canto que va por el agua
con notas de esperanza azul
Melodía de viento y oleaje
fueyes, violines, llenos de luz.
Canto de amor...
Canción de gaviotas y de sol
Juntos los dos,
sumergidos en este ensoñación.
Vamos así,
cruzando este río como mar...
Toda la emoción
siento en el pecho palpitar
Y al regresar
me hablarán las estrellas de vos
un canto de amor
porteño y oriental...
Y porque tanto nos parecemos
y por igual tantas cosas compartimos,
muchas broncas tuvimos y tenemos
como todos los hermanos queridos.
Toda una es nuestra gente, nuestra historia
las banderas son del mismo color....
Nos trenzamos en la tarde futbolera
y lloramos al son del bandoneón.
Canto de amor etc....
78
Das Lied vom La Plata
(Text und Musik: Raúl Montero)
Zwei Städte, an jedem Ufer eine,
umarmt vom La Plata, so sehe ich
Buenos Aires und Montevideo
mit einem Tango und dem Kreuz des Südens.
Es ist ein Lied, das mit dem Wasser strömt, mit
Tönen blauer Hoffnung.
Melodie des Windes und der Brandung,
Bandoneone, Geigen, alles voller Licht.
Ein Liebeslied...
Gesang von Möven und von Sonne.
Gemeinsam sind beide
in diesem Tagtraum erschienen.
So lasst uns denn den Fluss, der wie das Meer ist,
überqueren...
Alles Gefühl
spür ich, wie es aufwallt in der Brust
Und beim Wiederkehrn
erzählen mir die Sterne über dir
ein Liebeslied:
"Porteño und Orientale“ …
Und weil wir uns so gleichen
und miteinander zahllose Dinge teilen,
hatten und haben wir so manchen Zoff, wie alle
Brüder, die sich lieben.
Wir sind vom gleichen Volk, haben dieselbe Geschichte,
auch sind die Farben unserer Flaggen gleich.
Wir sind ausgelassen am Fussballnachmittag
und weinen beim Klang des Bandoneon.
Ein Liebeslied usw....
79
Das Tangolied Canción del Plata stammt von der gleichnamigen,
herrlichen CD Raúl Monteros:
Raúl ‚Ciruja’ Montero: Canción del Plata. Tabaré Records
Montevideo. Registro AGADU: RM 1929-2.
Diese CD ist ein Meisterwerk, ein Gesamtkunstwerk
des Tangos aus Musik,
Texten und Gesang. Mit
dem Titellied schuf Raúl
Montero in Musik und Text
eine Hymne auf seine Heimat am Rio de La Plata, in
der er mit betörender Musik
die uruguayische und die
argentinische Hauptstadt als
kulturell und menschlich
zusammengehörig besingt.
_________________________________________________
Anmerkung zu Porteño y oriental : Der Hafen (Puerto) Argentiniens
ist Buenos Aires. Und stolz nennen sich deren Einwohner Porteños
("die vom Hafen“ oder "Hafenbewohner"). Uruguay ist die "Republik
östlich des Flusses Uruguay“. Der offizielle Name lautet: República
oriental del Uruguay. Vergleichbar dem deutschen "Ossi" und "Wessi", das man nur schwer in gleicher Griffigkeit in andere Sprachen
übersetzen kann, sind hier mit der am Rio de La Plata geläufigen
Formel "Porteño y oriental" die Menschen und Dinge in Buenos Aires
und Montevideo gemeint]
80
Foto © Gelem Habiaga
Raúl Montero und Eckart Haerter in Raúls Haus in Montevideo im
Stadtteil Punta Carretas
_________________________________________________
Der folgende Tango aus Montevideo ist dem grossen uruguayischen
Tangodichter Horacio Ferrer und seiner Lebensgefährtin Lulú gewidmet. Solo de Tango, das "Tangosolo", ist einmal mehr in Musik und
Text ein Meisterwerk zur Feier der Melancholie. Ein Tango, den ich
ganz besonders schätze.
81
Solo de Tango
(Tango)
Música: Raúl Montero
Letra: Ignacio Suárez
a H. Ferrer y Lulú
Yo conozco esos días
de una pena infinita
Como un pozo de niebla
aquí en el corazón
Como un solo de tango
violín de la memoria
grisa/zules del alma
en una cerrazón
Hay días que lloviznan
los nombres del pasado
en los fríos vacíos
que la vida dejó
Sobrevolando oscuras
bandadas de tristezas
con las alas heladas
de adioses sin adiós
Hay días que la vida
golpea nuevamente
Con retumbar de clavos
en el viejo dolor
Y uno otra vez pregunta
e inclina la cabeza
abandonado y solo
a la buena de Dios
82
Montevideo. La Rambla, die Uferstrasse in der Stimmung des
"Tangosolos"
83
Tangosolo
(Tango)
Musik: Raúl Montero
Text: Ignacio Suárez
für H. Ferrer y Lulú
Ich kenne diese Tage
mit einem unendlichen Kummer.
Wie eine Grube voller Nebel
hier in meinem Herzen.
Wie ein Tangosolo
die Violine der Erinnerung,
Blaugrau der Seele
in einer dunklen Wolke.
Es gibt Tage, da regnen
die Namen der Vergangenheit
in die kalte Leere,
die das Leben hinterliess.
Dunkle Schwärme der Traurigkeit
fliegen darüber
mit Flügeln, die vereist sind
von den Abschieden ohne Lebwohl.
Es gibt Tage, wo das Leben
noch einmal dumpf
und dröhnend zuschlägt
in den alten Schmerz hinein.
Und man fragt wieder einmal
mit gesenktem Kopf,
verlassen und allein,
nach gar nichts mehr
84
Memoria de Punta Brava
(Milonga tangueada)
Música: Raúl Montero
Letra: Enrique Estrázulas - Raúl Montero
Cuña de Montevideo en las riberas del sol
canta el Río de la Plata con ecos de bandoneón
pensativas las chalanas, soñando La Virazón
y ahí están tus pescadores, Nautilus y Defensor.
De La Cárcel hoy vuelan notas y el Shopping Center triunfal
entre restos de cafúa emergió como un titán
memoria de Punta Brava, redes, corvinas y sal
por la boya del buen viaje garzas rosadas se van.
Latidos de la barriada, gaviotas del espigón
nocturno silbido largo y gatos en procesión
las quinielas de Cochelo son la ilusión del azul
y arden tangos y milongas en la taberna Salú.
Los museos, la Parva Domus, el Club de Remo Alemán,
el Tabaré y la Estacada son puntales del lugar,
campanas de la parroquia, iglesia herida en el son
es el temblor del progreso que agrietó… tu corazón.
Crisol de luna en el agua, prado arbolado y pulmón
pájaros trinando el aire de todo el campo de golf
emblemas del sur querido son de mi barrio el color
con las últimas cuartetas mi alma y mi musa te doy.
Vientos de Punta Carretas
torres, farola y juncal
sos resplandor de los cielos
y Marte bajando al mar
85
Im Hintergrund: Punta Brava, die "wilde" felsige Landspitze, die sich
wie ein Keil in den Rio de La Plata schiebt. Darauf zu erkennen der
Leuchtturm von Montevideo.
86
Das Viertel Punta Carretas von Montevideo liegt auf einer keilförmigen Landzunge, die in den La Plata hineinragt. Deren felsige
Spitze trägt den Namen Punta Brava, die wilde (oder rauhe) Spitze.
Das Stadtviertel gehörte (und gehört auch heute noch) zu den
schönsten und typischsten von Montevideo, ganz im Süden der
Stadt. Deshalb hat es in neuerer Zeit auch beträchtliche Veränderungen erfahren durch den Bau riesiger Wohntürme mit Komfortwohnungen. Der Baulärm war bisweilen so stark, dass die Glocken
der Gemeinde nicht mehr zu hören waren. Eine Stelle im Gedicht
bezieht sich darauf. Auch das relativ neue Sheraton Hotel wurde hier
erbaut (mit Meerblick).
Das frühere festungsartige Gefängnis wurde zu einem tatsächlich
sehr gelungenen Shopping Center umgebaut. Dass "Noten dort herausflogen" spielt darauf an, dass anfangs ein Tonstudio darin angesiedelt war. La Virazón ist ein Speiselokal. Nautilus und Defensor
sind bekannte Klubs. Bei der "Boje der guten Reise" handelt es sich
um einen bestimmten Punkt im Felsen. Parva Domus ist ein elitärer
Traditionsclub mit begrenzter Mitgliederzahl.
Und nur wer wirklich in dem Viertel zu Hause war, weiss, was mit
den "langen nächtlichen Pfiffen" und den "Katzen in Prozession"
gemeint ist. Es war das Mädchen Claudia, das ein Herz für Katzen
hatte. Mit ihren Pfiffen, die die Katzen genau kannten, rief sie die
nachts umher streunenden Tiere herbei um sie zu füttern. Tabaré und
Estacada sind Strassennamen.
Die Trauer um das Stadtviertel, das sich zum Negativen hin verändert
hat und in dem das ursprüngliche Heimatgefühl der Bewohner beschädigt worden ist, gehört zu den Hauptthemen des traditionellen
Tangos. Diese Tradition führt die Milonga tangueada Memoria de
Punta Brava von Raúl Montero und Enrique Estrázulas - nicht ohne
Grund - fort.
87
Erinnerung an Punta Brava
(Milonga-Tango)
Musik: Raúll Montero
Text: Enrique Estrázulas - Raúl Montero
Der Keil von Montevideo an den Ufern der Sonne;
es singt der Rio de la Plata mit dem Widerhall des Bandoneon.
Nachdenklich liegen dort die Kähne, es schläft "La Virazón"
und da drüben deine Fischer und "Nautilus" und "Defensor".
Aus dem Gefängnis flogen Noten, wurde das Shopping Center
höchst gefeiert.
Zwischen den Resten des Knastes steigt herauf wie ein Titan
die Erinnerung an Punta Brava: Netze, Barsche und Salz.
Über die "Boje der guten Reise" fliegen rosafarbene Reiher.
Der Pulsschlag des Stadtviertels, Möwen auf dem Felsensporn,
lange nächtliche Pfiffe und Katzen in Prozession.
Die Lottoscheine von Cochelo, die sind blaue Illusion,
und flammende Tangos und Milongas gibt‘s in der Taberna Salú.
Die Museen, der Parva Domus, der Club Remo Alemán,
Tabaré und Estacada sind markante Punkte dieses Orts.
Die Glocken der Gemeinde, ihr Klang erstickt, dass es die Kirche
kränkt, das ist das Beben des Fortschritts, bei dem dir das Herz
zerspringt.
Der Schmelztiegel des Mondes im Wasser, die Wiese mit Bäumen
als Lunge, hoch über der Weite des Golfplatzes jubilieren Vögel in
der Luft. Bilder des geliebten Südens, Farben des Viertels, mein
Zuhause. Und mit den letzten vier Versen schenke ich dir meine
Seele und meine Muse.
Die Winde von Punta Carretas,
Wohntürme, Leuchtturm und Binsenstrauchwerk.
Du bist der Abglanz des Himmels
und Mars, der hinabsteigt ins Meer.
88
Architektonische Schmuckstücke in Montevideo, die, wie mir scheint,
weniger werden. Wahrscheinlich hat hier eine grosse amerikanische
Fastfood-Kette zur Renovierung beigetragen.
89
Obelisken
Die Hauptstädte Argentiniens und Uruguays sind sich in vieler Hinsicht sehr ähnlich. Man spricht dieselbe Sprache, die Menschen
stammen von Einwanderern aus denselben Ländern ab, und in beiden Städten entstand zeitgleich, am Ende des 19. Jahrhunderts, der
Tango.
Doch die Schwesterstädte sind keine Zwillinge und weisen erhebliche
Unterschiede auf. Buenos Aires, mit mehr als 10 Millionen Einwohnern, ist bald zehnmal so gross wie Montevideo und ein tosender
Moloch, der nie schläft. Eine extrovertierte, pulsierende Metropole
voller Temperament und Anregung. Kein Milonguero kann sich der
Faszination dieser Welt-Tangometropole entziehen, die zugleich als
die heimliche Kulturhauptstadt Südamerikas gilt.
Montevideo, mit 1,3 Millionen Einwohnern auch nicht gerade eine
Kleinstadt, wirkt dagegen introvertiert, fast beschaulich, mit einer
Atmosphäre heiterer Melancholie, die eine entspannende Wirkung
auf die Psyche ausübt. Beide Städte besitzen als nationale Symbole
einen Obelisken. Eine schlanke, nach oben hin spitz zulaufende
Säule aus hellem Stein.
In Buenos Aires steht der Obelisk, als Erinnerung an die Stadtgründung, im absoluten Zentrum der Stadt, in der Mitte der Plaza de La
República (Bild nächste Seite).
90
Dort kreuzen sich die angeblich "breiteste Strasse der Welt“, die
Avenida 9 de Julio, und die Corrientes, die längste Strasse der Stadt.
Hier auf der Plaza, umtost vom 16-spurigen Verkehr, spielt sich alles
ab: die überschäumende Freude der Fussball-Fans oder die sich in
Gewaltakten entladende Wut über Massnahmen der Regierung, die
das Volk (zu Recht) als existenzbedrohend empfindet. Dieser Mittelpunkt der Stadt wird von ihren Einwohnern auch als ein Lebensmittelpunkt begriffen.
Er ist natürlich auch ein Platz des Tangos. Der Obelisk ziert viele, alte
und neue, Covers von Tango-CDs, Kassetten und LPs. Vor einigen
Jahren gab der in Buenos Aires geborene, weltbekannte Dirigent
Daniel Barenboim am Silvesterabend auf diesem Platz vor tausenden
begeisterter Zuschauer ein Tangokonzert mit dem Philharmonischen
Orchester von Buenos Aires. Die Showeinlagen tanzten – im klassischen Stil – Mora Godoy und Junior Cervila.
91
In Montevideo steht der Obelisk (Bild unten), als Erinnerung an die
erste Verfassung des Landes von 1830, ebenfalls auf einer vom
Autoverkehr umspülten Strassenkreuzung. Aber in der uruguayischen
Hauptstadt, befindet sich dieser Platz am Rande des Zentrums, das
hier in eine parkartige Stadtlandschaft übergeht.
Die Geschichte des Tangos ist auch die Geschichte seiner Geburtsstädte Buenos Aires und Montevideo, die sich am nördlichen und
südlichen Ufer des Rio de La Plata schräg gegenüber liegen. Erst
wenn man die unterschiedlichen Charaktere und Temperamente
beider Schwesterstädte kennengelernt hat, besitzt man ein vollständiges Bild des Tangos und seiner Heimat.
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Unter freiem Himmel
Zu unseren schönsten Erinnerungen gehört der Auftritt an einem
Sonnabend im Dezember in der Fussgängerzone an der Plaza Constitución in der Altstadt von Montevideo, direkt vor dem historischen
Cabildo, dem alten Rathaus (Bild nächste Seite). Es spielen wieder
zwei Live-Ensembles, nur nicht so grosse Besetzungen wie beim
grossen Ball des Vorabends im neuen Rathaus. Ein uruguayisches
Trio in der ganz klassischen Besetzung: Bandoneon, Klavier und
Kontrabass und das argentinische Trio Tangonave in der Besetzung
Klavier, Gitarre und Flöte. Die drei argentinischen Musiker erzählen
uns, dass sie im kommenden März in Deutschland sein werden, und
wir laden sie spontan ein, auf unserem "Literarischen Tango Café“ in
Göttingen zu spielen.
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Einschub: Auf der Veranstaltung in Göttingen mit Tangonave, bei der
Acho Manzi, der Sohn des grossen argentinischen Tangodichters
Homero Manzi (Sur, Malena), als Ehrengast anwesend ist, stellen wir
die 1. Auflage meines Buches "Ecken in Buenos Aires“ vor, in dem
ich 48 Tangos von Homero Manzi ins Deutsche übersetzt habe. Diese Tangoveranstaltung wird eine der schönsten, die Göttingen je
erlebt hat.
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Zurück nach Montevideo: Auf der Strasse vor der Plaza ist eine Bühne für die Musiker aufgebaut, davor ist auf dem Asphalt ein Platz frei
gelassen für die Tanzvorführung. Das Publikum hat es sich rund um
die Bühne bequem gemacht. Teilweise sitzen die Menschen auf
Stühlen am Rand der Tanzfläche, teilweise liegen sie auf dem Rasen
im Schatten der Bäume auf der Plaza. Es ist ein herrlicher Tag, sehr
warm und ein strahlend blauer Himmel. Wir tanzen mehrere Tangos
frei improvisierend zur Musik der beiden Trios - und das Publikum
zeigt sich ehrlich begeistert. In den Tanzpausen kommen immer
wieder Leute zu uns, die uns mit Küsschen rechts und links oder
einfach nur so Felicitaciones (Glückwünsche) aussprechen. Mehrmals bekommen wir Szenenapplaus bei ganz unspektakulären kleinen Verzierungen, wie zum Beispiel einem Amague. Und ein Mann
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spricht uns auf unser Gehen, das Caminar, an, das ihm so gut gefallen habe. Die Ganchos und all das seien Lujo, Luxus. Beim "Gehen“
zeige sich das wahre Können ...
Bild oben: Auch ein Schauplatz des Tangos in Montevideo, die Plaza
Constitución in heiterer Atmosphäre mit Blick aufs historische Cabildo
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Nachdem wir unsere Tango-Tanzimprovisationen beendet haben,
werden uns von Mitarbeitern des Festival-Komitees Anstecknadeln
verliehen mit dem Logo des diesjährigen Festivals: es ist ein Hut.
Dazu wird im folgenden Kapitel noch mehr zu sagen sein.
Es macht immer wieder grossen Spass, an einem Originalschauplatz
des Tangos zu tanzen, und es ist die Krönung, wenn man zur Livemusik einheimischer Tangomusiker tanzen darf, vor einheimischen
Zuschauern.
94
Hier vermittelt einem das Publikum das Gefühl, als gehörte man zur
Familie. Man tanzt dann auch gleich entspannter als vor einem feindselig eingestellten Publikum in Deutschland. Leider ist die deutsche
Neidkultur mittlerweile sprichwörtlich. Wer als Tangotänzer oder
Tangotänzerin etwas kann, sieht sich nicht selten massiven Attacken
von Neid, Missgunst und Gehässigkeit ausgesetzt. Das macht die
Arbeit in Deutschland nicht eben angenehmer; zuweilen nur schwer
erträglich. Ich muss aber klar und deutlich dazusagen, dass es eine
feindselige Atmosphäre nur gibt, wenn man vor Zuschauern der örtlichen Tangoszene tanzt. Darunter gibt es natürlich auch positive
Ausnahmen, aber in der Regel können es deutsche Tangotänzer
nicht ertragen, wenn ein deutsches Tangotanzpaar wirklich Tango
tanzen kann. Will sagen, auf dem Niveau von argentinischen und
uruguayischen Profis.
Auch deshalb haben wir Auftritts-Engagements, sei es zu Festivales
oder bei anderen Veranstaltern ausserhalb Göttingens, nur zu gern
angenommen.
Hier in Montevideo ist es ganz anders. Zum Beispiel gesellt sich an
diesem Vormittag eine junge Frau zu uns und stellt sich als Dra.
Santana López vor, Produktionsleiterin beim Fernsehsender Canal 5.
Sie hat soeben unsere Auftritte gesehen und engagiert uns spontan
für die Mittags-Show Entre Mates y Guitarras. Zu unserem allergrössten Bedauern können wir das Angebot nicht annehmen, weil wir
schon vor dem Termin abreisen müssen. Wir erzählen ihr aber, dass
wir schon einmal in einer Mittags-Show im uruguayischen Fernsehen
getanzt haben - allerdings im Konkurrenz-Sender Canal 12.
Als Ulrike und ich nach unserem Auftritt gehen, verabschiedet uns die
Menge mit Applaus. Es scheint wahr zu sein: in Montevideo haben
wir unsere Tangoheimat gefunden. Vor dem Restaurant La Pasiva
setzen wir uns an einen der Freilufttische im Schatten, bestellen
kaltes Bier und lauter schöne Dinge und geniessen den wunderbaren
Tag (Bild unten).
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Aussenbewirtschaftung des Restaurants La Pasiva an der Plaza
Constitución mit Blick auf einen der historischen Zeitungskioske, die
typisch sind für Montevideo. Im Hintergrund ein Turm der Kathedrale.
Im Vordergrund mein Bier.
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Ankündigung des internationalen Tango-Festivals durch die Stadt
Montevideo
97
Der Hut in der Welt des Tangos
Das Logo des 12. Internationalen Festivals Viva el Tango in Montevideo war ein Hut.
Mehr nicht. Damit
war alles gesagt.
Das Bild links zeigt
das Logo auf dem
Teilnehmerausweis
einer offiziellen Tänzerin des Festivals.
Bekanntlich gehörte
der Hut in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zur unverzichtbaren Ausstattung des korrekt
gekleideten Herrn.
Man kennt die Filme
aus den 30er, 40er
Jahren. Humphrey
Bogart mit Anzug
und Hut.
(Mein Vater ging bis an sein Lebensende, sobald das Wetter kühler
wurde, nicht ohne Hut aus dem Haus). In diese Zeit fiel auch die
Blütezeit des Tango Argentino. Tango de los 40, Tango der vierziger
Jahre, ist heute noch Fachausdruck und Synonym für den hoch entwickelten, klassischen (und damit zeitlosen) Tango vom Rio de La
Plata, den auch wir in Göttingen bis heute unerschütterlich, unbeirrt
und unerschrocken unterrichten. Damals wurde in Buenos Aires,
noch viel mehr als in unserer Zeit, Tango im Freien getanzt.
Dabei trugen die Männer natürlich Hut. Und meistens nahm man den
Hut auch in der Bar nicht ab. Das belegen viele Fotos von damals.
Mittlerweile ist das melancholische Motiv des einsamen Mannes mit
Hut, der an einer Laterne lehnt oder der, den Kopf in die Hand ge-
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stützt, gedankenversunken in einer Bar vor einem Kaffee sitzt, allgegenwärtig auf zahllosen Souvenirs aus Buenos Aires.
Inzwischen sind diese Motive längst Klischee. Aber mit diesen Klischees wird ein liebevoller und auch ein bisschen selbstironischer
Kult getrieben.
Heutzutage wäre es lächerlich, wenn man auf einer Milonga mit Hut
tanzen würde. Aber aus dem auf der Bühne getanzten Tango ist der
Hut auch heute noch nicht wegzudenken. Wer mit Hut tanzt signalisiert damit, dass mit seiner Darbietung die Zeit und der Stil des Tangos der 40er Jahre (und früher) wachgehalten werden sollen. (In
Klammern sei angemerkt, dass es auch solche "Showstars“ gibt, bei
denen das Tango-Outfit lediglich den Zweck einer Maskerade erfüllt).
Und dass der 40er-Jahre-Stil der eindrucksvollste und faszinierendste
ist, ein Tangotanzstil, der noch nicht durch Elemente von ausserhalb
des Tangos wie Ballett, Kunstturnen oder Eiskunstlauf verwässert ist,
darüber besteht, glaube ich, kein Zweifel. Einer der wenigen argentinischen Superstars des Tangos, der ausschliesslich den klassischen
Stil tanzt, und das mit höchster Virtuosität, ist Pablo Verón ("Tango
Lesson“). Bei ihm können Ulrike und ich genau sagen, welche Figuren er bei Antonio gelernt hat. Denn auch wir hatten das unschätzbare Glück, noch bei Antonio Todaro lernen zu dürfen; einem der allerletzten jener grossen Maestros, die noch den 40er-Jahre-Tango
massgeblich mitgeprägt haben. Das war wie Tango aus der Quelle zu
schöpfen.
Uns ist es Verpflichtung und Ehre zugleich, wenigstens einen kleinen
Teil dieses Vermächtnisses in unseren Kursstunden weiter zu vermitteln.
Es ist noch nicht lange her, als vor Beginn der FortgeschrittenenKursstunde der Tango Mi Buenos Aires Querido lief ("Mein geliebtes
Buenos Aires“), gesungen von Carlos Gardel. Ein Tanzpaar befand
sich schon auf der Tanzfläche, um etwas vorzuüben. Ich fragte sie,
ob sie denn das Lied kennen. Antwort: "Nö“. Erkennt ihr, wer da
singt? "Nö“.
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Ein Vorfall, den man in Buenos Aires und Montevideo nicht glauben
würde, weil er dort Gotteslästerung gleichkäme. Ich habe den beiden
dann in aller Schnelle erzählt von der berühmtesten Tangohymne auf
Buenos Aires, deren Text aus der Feder von Alfredo Le Pera stammt.
Dass der Film Cuesta Abajo ("Bergab“), in dem dieses Lied gesungen
wird, jedes Mal angehalten werden musste, weil das Publikum das
Lied immer und immer wieder hören wollte. Und dass der Sänger, der
auch die Musik komponiert hat, Carlos Gardel ist, der Tangosänger
schlechthin, ja, fast der Nationalheilige Argentiniens und Uruguays.
Natürlich ist Carlos Gardel ein Thema bereits in unserem Grundkurs,
aber es kriegen nicht immer alle alles mit, und es gibt Quereinsteiger
und viele andere Gründe für mangelnde Kenntnisse der Tangokultur.
Viele sind auch einfach nicht genügend interessiert und glauben uns
wohl auch nicht, dass es gerade beim Tango Argentino entscheidend
auf solches Detailwissen ankommt. Wer sprachlos und verständnislos dem gegenübersteht, was den Menschen am Rio de La Plata
heilig ist, wird kein guter Tangotänzer. Das kann ich allen, die brillante Tangotänzer werden wollen, versichern. Deshalb wird es ja auch
nichts, wenn ADTV-Tanzschulen Tango Argentino als ein juxiges
"Special" unterrichten, um sich dann wieder dem "richtigen" Tango zu
widmen.
Das Paar, von dem ich sprach, gehörte aber zu den besonders positiven Tangolernenden. Für manche, die beruflich oder im Studium
sehr eingespannt sind, ist auch die Fülle des Unterrichtsstoffes oftmals einfach zu viel.
Carlos Gardel, wurde 1890 als uneheliches Kind einer Büglerin in
Toulouse, Frankreich, unter dem Namen Charles Romouald Gardes
geboren. Noch als Kleinkind kam er mit seiner Mutter als Auswanderer nach Buenos Aires, und brachte es dank seiner aussergewöhnlichen musikalischen Begabung und einer begnadeten Stimme zum
legendärsten Tangosänger aller Zeiten. Es gibt ernst zu nehmende
Tangohistoriker, besonders Uruguayer, die die Richtigkeit des französischen Geburtsorts von Gardel bestreiten.
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Vielmehr sei er in der uruguayischen Stadt Tacuarembó geboren.
Und es gibt tatsächlich Dokumente, die das belegen. Aber auch diese
Unklarheit trägt zur Legendenbildung bei.
Vollends zur Legende wurde Carlos Gardel, als er 1935 in Medellín,
Kolumbien, mit seinem gesamten Team ums Leben kam, weil sein
Flugzeug vor dem Start verunglückte. Der Tod Carlos Gardels traf
das ganze Land wie ein Schock..
Die nationale Trauer war grenzenlos. Aber in den Herzen der
Porteños (den Bewohnern von Buenos Aires) lebt Carlos Gardel!
Sein Bild, seine Musik umgeben und begleiten einen in der argentinischen Hauptstadt permanent. Er lebt! Carlitos canta cada día mejor
("Karlchen singt jeden Tag besser“), sagt man. Oder man nennt ihn
auch resigniert: El Mudo (der Stumme), weil er ja doch in Wahrheit
nicht mehr unter uns ist.
Selbstverständlich sind auch Ulrike und ich auf unserer ersten Reise
nach Buenos Aires zu Carlos Gardels Grabmal auf dem Chacarita
Friedhof gepilgert, wo seine lebensgrosse Statue den Zeiten trotzt;
immer geschmückt mit frischen und vielen künstlichen Blumen und
zahllosen Gedenktafeln. Und Raucher, die Carlitos besuchen, klettern zu ihm hinauf und stecken ihm eine brennende Zigarette zwischen die Bronzefinger. Wie im Leben! Das ist ein bekanntes Ritual,
das wir selbst gesehen haben.
Und was hat das ganze mit dem Hut zu tun? Nun, die Musikerinnen
und Musiker, Tänzerinnen und Tänzer des 12. Internationalen Tangofestivals in Montevideo haben nicht gefragt. Das Logo ist nämlich
nicht nur ein Hut, sondern der Hut. Der Hut von Carlos Gardel.
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Das Logo des Festivals als
Anstecknadel
Carlos Gardel kam 1935 ums Leben, doch in Buenos Aires begegnet
man ihm auf Schritt und Tritt. Hier im Bild das grosse Eingangsreklameschild eines Restaurants, das nach Gardel benannt ist. Es zeigt
sein Bild mit "dem Hut“.
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Der Schlitz im Kleid
Foto Dagmar Härter
Bild: Ulrike & Eckart Haerter mit Hut und Schlitz im Kleid (1)
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Vor einigen Wochen hatte ich in einem Live-Interview mit dem Göttinger Stadtradio Gelegenheit, den Hörerinnen und Hörern den Sinn
des Schlitzes im Tangokleid der Frauen zu erklären. Der lange, hoch
hinaufreichende Schlitz im Kleid der Tangotänzerin hat ja nicht nur
eine eminent ästhetische, sondern auch eine ganz banal praktische
Bedeutung. Während eine Frau in einem langärmeligen, im Oberteil
züchtig hochgeschlossenen Kleid ohne jede Beeinträchtigung einen
ausdrucksstarken Tango tanzen kann, ist ohne eine grosszügige
Aussparung im unteren Teil des Kleides Tangotanzen nur sehr eingeschränkt möglich. Je nach Geschmack und Anforderungen sind auch
mehrere Schlitze im Kleid durchaus angebracht.
Man sagt, Tangotanzen spiele sich hauptsächlich hüftabwärts ab.
Das trifft, wie alle plakativen Schlagworte, zwar nicht hundertprozentig zu, beleuchtet aber den augenfälligsten Unterschied des Tango
Argentino zu den anderen hierzulande gepflegten Tänzen. In keinem
anderen Tanz der Welt geht es so hautnah um das Zusammensein
von Mann und Frau wie im Tango Argentino. Man spricht im Tango sogar von einer Rol masculino und einer Rol feminino, einer
männlichen und einer weiblichen Rolle. Und dieses Rollenspiel in
Freud und Leid, in ruhigen und leidenschaftlich stürmischen Zeiten
bildet der Tango in seinen Figuren und Bewegungen ab.
So verwundert es denn auch gar nicht, dass sich im Tango die besonders expressiven Szenen unterhalb der Gürtellinie abspielen. Wie
in keinem anderen Tanz der Welt verschlingen und verhakeln sich im
Tango die Beine von Mann und Frau im entfesselten Spiel der Leidenschaften. Nun mag mancher einwenden, so kann man doch auf
einer Milonga (dem Tangotanz als Gesellschaftstanz) gar nicht tanzen, man würde ja das gesamte Tanzgeschehen stören. Nun, das
stimmt natürlich. Deshalb ist vieles, was der Tango an Ausdrucksmöglichkeiten besitzt, auf einer gefüllten Tanzfläche nicht darstellbar.
Dort tanzt man den Tango de Salón, den Salontango, der auf ausladende und wirbelige Figuren ganz bewusst verzichtet. Der Salontango favorisiert die Ästhetik und Musikalität der Bewegung, das harmonische Zusammensein von Mann und Frau.
104
Von Harmonie kann man freilich auch dann sprechen, wenn sich
ein Langzeitehepaar in trauter Zweisamkeit im Regionalfernsehen
einen Beitrag über die Müllentsorgung in Nordhessen anschaut.
Aber in dieser Weise sollte man die Harmonie des Salontangos
nicht missverstehen, auch wenn vielleicht das eine oder andere
Tanzpaar einen solchen Vergleich herausfordern mag. Denn wenn es
Eigenschaften gibt, die man dem Tango Argentino nicht zuschreiben
kann, dann sind es Langweiligkeit und Ausdruckslosigkeit. Auch der
Salontango ist niemals langweilig. Die gesammelte Intensität des
Paars in der engen Umarmung, das konzentriert langsame Kreieren
der Tanzfiguren zur Interpretation der Musik, vermittelt einen hohen
Grad an Spannung. Doch das Leben besteht nicht nur aus Harmonie
in der Ruhe. Es hat auch stürmisch bewegte und leidenschaftliche
Phasen.
Ohne diese wäre auch der Tango Argentino unvollständig und seiner
wichtigsten und stärksten Ausdrucksmittel beraubt. Denn gerade die
komplexe Beinarbeit im Geschlechterkampf ist doch das, was die
unvergleichliche Faszination des Tango Argentino wesentlich mit
ausmacht.
Doch vergessen wir nicht: der Tango spielt mit dem sogenannten
Geschlechterkampf. In Wahrheit setzt dieses rasante Spiel der Beine
ein solches Höchstmass an Übereinstimmung zwischen Mann und
Frau voraus, wie es in keinem anderen Tanz der Welt gefordert wird.
Beklagenswerterweise wird der klassische Tango Argentino, von dem
ich bis hierher gesprochen habe, im heute vielfach praktizierten Tangotanz immer mehr verwässert.
Wohlgemerkt: unterschiedliche Figuren und Körperhaltungen wurden
im Tango Argentino schon immer unterrichtet. Jeder Lehrer hat da
seine Spezialitäten. Was ich aber in letzter Zeit vermehrt mit Betrübnis wahrnehme, ist, dass das Grundprinzip des Tangos, seine Essenz, seine Philosophie vielfach nicht mehr bekannt sind.
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Foto Raab
Bild: Ulrike & Eckart Haerter: mit Hut und Schlitz im Kleid (2)
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Nehmen wir einmal das ganz konkrete Beispiel der Tanzeröffnung. Eine Tänzerin des klassischen Tangos, also eine echte
Tanguera, wird, bevor wir uns in Bewegung setzen, mit mir den Abrazo, die Umarmung eingehen. Wir nehmen Kontakt auf, indem
sich die rechte Brustseite des Mannes und die linke Brust der
Frau berühren (sehr typisch ist auch, wenn sich zusätzlich die
Wangen berühren). Jetzt beginnen wir, mit unseren Körpern aufeinander zu lauschen, bis wir sicher sind, dass wir uns fühlen, dass
der Kontakt da ist. Ab jetzt sollte die Frau darauf gefasst sein, dass
von mir eine Bewegung nach links oder nach vorn oder nach rechts
oder nach hinten eingeleitet wird. Traditionell beginnt es im Salon
nach links (vom Mann aus gesehen).
Aber ich wollte das Beispiel nur prinzipiell verstanden wissen. Es
geht darum, dass die Frau schlafwandlerisch, meine Impulse aufnimmt und sie gemäss ihrer Frauenrolle mit ihren Bewegungen gestaltet, wobei ich sie mit meinen männlichen Bewegungen begleite und unterstütze. An keiner Stelle des Tanzes, das beginnt
schon mit dem ersten Schritt, darf die Frau eine bestimmte Bewegung, einen bestimmten Schritt oder einen bestimmten Übergang
erwarten.
Wie der Tanz weitergeht, merkt die Frau erst im Moment der Marca
(deutsch meist unzulänglich mit Führung übersetzt). Wenn eine Frau,
bevor der Kontakt zu mir überhaupt erst steht, schon von sich aus
anfängt, sinnlos mit einem Bein Ausschläge nach irgendwelchen
Seiten zu vollführen, dann ist der Tango schon tot, noch bevor er
angefangen hat. Als Tangotänzer kann man zwar damit umgehen
und den Tanz auch irgendwie ordentlich zu Ende bringen, aber das
hat dann mit dem Sentido, der tieferen Bedeutung des Tango Argentino, nicht mehr viel zu tun. Wir legen in unserem Tangotanzunterricht
einen Schwerpunkt auf die Kunst des getanzten Dialogs und schulen
ganz bewusst auch solche Ausdrucksformen, die auf einer vollen
Tanzfläche zwar keinen Platz haben, die aber dem Tango seine
unvergleichliche flirrende Spannung und sublimierte erotische Ausstrahlung verleihen.
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Vorige Seite: "Der Nachbar“ (El Vecino) aus Trinidad, Uruguay, ist
eine Wochenzeitung, die seit 20 Jahren erscheint und regelmässig
über die Tango-Festivales in Uruguay berichtet
Der Journalist Señor Pallares wurde uns bald persönlich bekannt,
denn er besuchte alle Veranstaltungen, auf denen wir tanzten und
nahm Kontakt zu uns auf. Der kleine Artikel, der in blumigen Worten
unsere Tanzkünste herausstellt, entstand nach einem Interview mit
uns. Das Foto schoss er bei einem open air Auftritt.
Herr Pallares brachte uns den Artikel selbst zum Abschied ins Hotel.
Auch das wieder ein Zeichen für die menschliche, fast familiäre Atmosphäre in Uruguay. Allerdings ist die Kopie ziemlich schlecht ausgefallen, so dass man die Partie mit Ulrikes Schlitz im Kleid nur sehr
undeutlich erkennen kann. Dabei wäre die Ansicht besonders wichtig
gewesen, natürlich für Lehrzwecke.
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Noch einmal in freier Luft – spontan
An einem Novembernachmittag sassen Ulrike und ich in der Altstadt
von Montevideo, draussen an einem der Tische eines Restaurants,
als ein alter Mann mit einer Gitarre auftauchte. Er trug einen vollen
weissen Bart, und man sah seinem bejahrten Anzug an, dass er
sorgsam instandgehalten wurde. Der Mann begann zu singen
„es la última farra de mi vida,
de mi vida, muchachos, que se va ...,
und seine alte, ein wenig zittrige Stimme schien wie geschaffen für
den wehmütigen Text, so dass sich eine eigenartig dichte Atmosphäre ausbreitete.
Die Leute an den anderen Tischen stimmten in das bekannte Tangolied mit ein, und wir als Tangotänzer konnten natürlich nicht widerstehen und begleiteten einen Teil des wirklich guten Vortrags mit ein
paar Tangoschritten auf dem Pflaster…
Passanten blieben stehen und applaudierten der Szene. Aus dem
Nichts heraus war eine 3-minütige Peña entstanden, an der alle Anwesenden beteiligt waren. Am Schluss gab jeder dem alten Tanguero
ein paar Pesos con mucho gusto. Auch das ist Tango in Montevideo
und wieder ein Beispiel dafür, dass man den lebendigen, nicht nachgemachten Tango, eben nur an seinen Ursprungsorten authentisch
leben und erleben kann.
Und das ist auch völlig normal, denn In Deutschland gäbe es keinen
Strassensänger, der Tangos singt, und keine Restaurantbesucher,
die einen alten Tango, mit dem sie aufgewachsen sind, mitsingen
können.
In Deutschland kennen ja nicht einmal die meisten Tangotänzer die
Texte der Tangos, die sie tanzen. Diese Aussage ist weder ein Vorwurf, noch Arroganz von mir. Es ist eine ganz normale Tatsache.
Denn die Texte sind fremdsprachig, viele durchsetzt mit Wendungen
aus dem Lunfardo. Auch ich würde das meiste davon beim blossen
Hören nicht verstehen.
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Deswegen haben wir es zu einem Schwerpunkt unserer Arbeit gemacht, wichtige Tangotexte ins Deutsche zu übersetzen. In unseren
Kursen lesen wir auch immer wieder mal den Text eines berühmten
Tangos auf Deutsch vor, den wir dann tanzen. Damit haben wir
schon 1989 angefangen.
Das ganze aufgebauschte Getue um den Tango, dieses Tangogedröhn in Deutschland ist leider oftmals nicht mehr als eine aufgesetzte Attitüde und Wichtigtuerei.
Wenn eine Frau meint, beim Tangotanzen demonstrativ die Augen
schliessen zu müssen, etwa nach dem Motto: "Seht doch nur, wie ich
den Tango fühle“, dann ist das Geschmackssache. Fatal ist es aber,
wenn das Paar dann nicht wenigstens gekonnt mit der Musik umzugehen versteht.
Fühlen tut man den Tango nur, wenn man die Musik fühlt. Ein Paar,
das nicht wirklich zur Musik tanzt, sondern neben der Musik, zeigt
öffentlich, dass es nichts fühlt, dass es nur so tut als ob. Sowas
nennt man heute gern modisch "Fake“, und der fliegt auf.
Der Text des folgenden Tangos, den der alte Mann in Montevideo
gesungen hat, gehört zu den alten, klassischen, ganz berühmten
Tangos. Ulrike und ich lieben ihn sehr. Und wir verbinden damit auch
diese Erinnerung. Wie man aus den Lebensdaten des argentinischen
Textdichters Juan Andres Caruso ablesen kann, ist dieser Tango
noch längst kein 40er-Jahre-Tango.
Zusammen mit der Musik des geborenen Uruguayers Francisco
Canaro, der so berühmt ist, dass man kein weiteres Wort über ihn
verlieren muss, ergibt sich eine dieser besonders geglückten Verbindungen aus Text und Musik, die La última copa, "Das letzte Glas“, zu
den unsterblichen Tangos macht.
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La última copa
(Tango)
Letra : Juan Andres Caruso (1890 – 1931).
Música: Francisco Canaro (1888 - 1964)
Eche amigo, nomás, écheme y llene
hasta el borde la copa de champán,
que esta noche de farra y de alegría
el dolor que hay en mi alma quiero ahogar.
Es la última farra de mi vida,
de mi vida, muchachos, que se va...
mejor dicho, se ha ido tras de aquella
que no supo mi amor nunca apreciar.
Yo la quise, muchachos, y la quiero
y jamás yo la podré olvidar;
yo me emborracho por ella
y ella quién sabe qué hará.
Eche, mozo, más champán,
que todo mi dolor,
bebiendo lo he de ahogar;
y si la ven,
muchachos, díganle
que ha sido por su amor
que mi vida ya se fue.
Y brindemos, nomás, la última copa,
que tal vez también ella ahora estará
ofreciendo en algún brindis su boca
y otra boca feliz la besará.
Eche, amigo, nomás, écheme y llene
hasta el borde la copa de champán,
que mi vida se ha ido tras de aquella
que no supo mi amor nunca apreciar.
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Das letzte Glas
(Tango)
Text: Juan Andres Caruso (1890 – 1931)
Musik: Francisco Canaro (1888 – 1964)
Giess ein, Freund, nur zu, giess ein und füll mir
das Glas bis zum Rand voll mit Champagner,
denn in dieser Nacht voll Geselligkeit und Frohsinn,
will ich den Schmerz, den ich in meiner Seele hab, ersäufen.
Es ist die letzte Runde meines Lebens,
des Lebens, Jungs, das jetzt vergeht .
Besser gesagt, das endet wegen jener,
die nie meine Liebe zu schätzen gewusst.
Ich liebte sie, Jungs, und ich liebe sie noch,
und niemals kann ich sie vergessen;
wegen ihr besauf ich mich,
und sie, wer weiss, was sie jetzt macht.
Kellner, giess mehr Champagner ein,
denn meinen ganzen Schmerz
will ich beim Trinken ersäufen.
Und wenn ihr sie seht, Jungs, dann sagt ihr,
dass es wegen ihrer Liebe war,
dass mein Leben jetzt vorbei ist.
Lasst uns nun mit dem letzten Glas anstossen
weil sie jetzt vielleicht auch
mit einem Trinkspruch ihren Mund anbietet,
und ein anderer glücklicher Mund sie küsst.
Giess ein, Freund, nur zu, giess ein und füll mir
das Glas bis zum Rand voll mit Champagner,
denn mein Leben ist vorbei wegen jener,
die nie meine Liebe zu schätzen gewusst
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Marino Rivero
Ein neuer Abschnitt unseres Tanguerolebens beginnt, als wir Marino
Rivero kennenlernen (Bild). René Marino Rivero, Uruguayer, ist
Komponist zeitgenössischer Musik, auch ultramoderner Tangos Nuevos, und nach vielfacher Meinung der grösste Bandoneonvirtuose der
Welt. Rivero lotet die Möglichkeiten des Bandoneons aus bis in die
Extreme. Seine Beherrschung dieses Instruments ist frei und souverän. Bei ihm kann das Bandoneon ätherisch klingen wie ein zarter
Geigenton und im Fortissimo brausen wie eine volltönende Orgel.
Die scheinbare Grenzenlosigkeit von Riveros Virtuosität auf dem
Bandoneon ist sicher nicht nur durch seine technische Perfektion zu
erklären, sondern auch durch die Tatsache, dass er als Komponist
kreativer Künstler ist. Dadurch wächst seinem Instrumentalspiel eine
Dimension zu, die eher einem schöpferischen Akt als einer Reproduktion gleichkommt. Dies ist auch der Grund dafür, dass Marino
Rivero nicht auf die Rolle als Tangointerpret eingeengt werden kann.
Rivero spielt Johann Sebastian Bach oder Edvard Grieg mit der gleichen Leidenschaft und Selbstverständlichkeit wie seine eigenen
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ultramodernen und ohrfremden Stücke, die er in seinen Konzerten
dem Publikum ungerührt zumutet.
Dass Marino Rivero als Uruguayer und Bandoneonist zuvörderst
auch Tangospieler ist, bedarf eigentlich keiner Erwähnung. Indes
entwickeln in seiner Interpretation auch alte traditionelle Tangos ein
Eigenleben, das sie wie Kompositionen aus einer neuen Zeit klingen
lässt.
Als Mensch ist Marino Rivero ungeheuer sympathisch. Seine künstlerischen Eitelkeiten, seine Egozentrik und seine Temperamentsausschläge nach allen Seiten stören uns in keinster Weise. Im Gegenteil.
Wir verstehen uns von Anfang an prächtig. Schon nach unserem
ersten gemeinsamen Abend in der Göttinger MUSA, als Ulrike und
ich ungeprobt einen Vals zu seiner Musik tanzen, verabreden wir auf
Marinos Anregung hin, dass wir künftig öfter zusammenarbeiten
wollen. Es ist "der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, zu der
ein Jahr später auch die Gitarristin Gabriela Diaz gehört, Marinos
Lebensgefährtin und Konzertpartnerin im Duo. Seitdem "somos una
familia“, sind wir eine Familie, wie Marino es auszudrücken pflegt.
Marino Rivero ist ein Weltklassemusiker mit jahrzehntelanger Tournee-Erfahrung. Von London bis Moskau, von Brasilien bis Canada
hat er auf grossen und kleinen Bühnen konzertiert und überall Erfolge
gefeiert. Mit Marino Rivero, manchmal als Solist, manchmal im Duo
mit Gabriela, treten wir mehrfach in Göttingen und im Rahmen zweier
gemeinsamer Tournee (1996 und 1997) in verschiedenen anderen
deutschen und österreichischen Städten auf.
Leider kann ein geplanter gemeinsamer Auftritt in Montevideo nicht
stattfinden. Mit Dr. Gebele, dem Kulturreferenten der deutschen Botschaft, haben wir wenige Tage zuvor in seinem Büro in der Botschaft
ein Projekt besprochen, das eine uruguayisch-deutsche Kulturveranstaltung werden soll. Die Anfahrt zur Botschaft mit dem Taxi kostet
ein paar Pesos mehr als wir es von Montevideo gewöhnt sind. Dr.
Gebele erklärt uns auch warum: vor wenigen Jahren ist die amerikanische Botschaft aus dem Zentrum in einen etwas abseits gelegenen
Neubau umgezogen. Selbstverständlich ist Deutschland diesem
116
Beispiel gefolgt, während alle anderen westlichen Länder mit ihren
Botschaften im Zentrum geblieben sind. Jetzt steht ein grosser Betonklotz am Fluss, das ist die amerikanische Botschaft, und in enger
Nachbarschaft daneben steht ein kleiner Betonklotz, die deutsche
Botschaft. Einbetonierte Symbolik.
Die Botschaft verfügt über einen sehr geeigneten Saal, in dem die
Veranstaltung stattfinden soll. Als Künstler der uruguayischen Seite
wollen Gabriela und Marino auftreten, auf deutscher Seite Ulrike und
ich. Das Publikum soll sich nur aus Gästen zusammensetzen, die von
der deutschen Botschaft besonders geladen werden. Es wird also
einen "Event“ mit repräsentativem Charakter geben.
Natürlich müssen wir die Bezahlung ansprechen, aber da macht uns
Dr. Gebele unmissverständlich klar, dass der Kulturetat der Botschaft
viel zu klein sei, um irgendeine Gage zahlen zu können. Als wir zu
bedenken geben, dass doch zwei hochrangige uruguayische Künstler
sehr zum Prestige der deutschen Botschaft beitragen würden, und
dass man wenigstens ihnen einen Anerkennungsbetrag zahlen sollte,
verweist Herr Dr. Gebele auf die leeren Kassen. Nun, Ulrike und ich
wissen, dass im Ausnahmefall auch Gabriela und Marino einmal
umsonst spielen würden, aus reiner Freude an einer schönen gemeinsamen Veranstaltung. Ich will es jetzt aber wissen und mache
Dr. Gebele den Vorschlag, da der deutschen Botschaft doch offenbar
am gesellschaftlichen Charakter der Veranstaltung gelegen ist, dass
die Botschaft, als Eigenbeitrag, am Schluss der Veranstaltung einfach nur ein paar Kästen deutsches Bier und ein paar Wursthäppchen reichen soll. Als auch dies für finanziell untragbar erklärt wird,
verabschieden Ulrike und ich uns betrübt. Unter diesen Umständen
können wir die Veranstaltung nicht machen.
Natürlich kann Dr. Gebele nichts dafür, aber wir finden es einfach
peinlich und unwürdig, wenn Deutschland, das in Südamerika mit
Bayer, Siemens, Mercedes Benz und BMW gleichgesetzt wird, sich
hier als arm und notleidend darzustellen versucht. Als Tangotänzer
haben wir gelernt, dass den Uruguayern und Argentiniern eine gewisse Grosszügigkeit bei repräsentativen Anlässen ein Herzensbedürfnis ist. Wir müssten uns für Deutschland in Grund und Boden
117
schämen, wenn wir bei einer solchen Veranstaltung der Deutschen
Botschaft die eingeladenen Gäste am Ende wieder nach Hause schicken würden, ohne ihnen wenigstens eine Flasche Warsteiner und
ein paar Wursthäppchen angeboten zu haben, insbesondere wenn
man schon nichts dabei gefunden hätte, die eingeladenen uruguayischen Künstler (und uns) ohne Gage auftreten zu lassen.
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Szenenwechsel: Fünf Jahre später, mitten im heissen Sommer, führen Ulrike und ich in Berlin, im Simón Bolívar-Saal des Ibero-Amerikanischen Instituts (IAI), gegenüber der Neuen Nationalgalerie, unser
"Literarisches Tango Café“ auf und präsentieren den Tango mit Musik-, Text- und Tanz. Im Publikum viele Latinos aus verschiedenen
Ländern, die sich uns aber erst am Schluss der Veranstaltung vorstellen. Die Schirmherrschaft über den Abend hat sehr gern die argentinische Botschaft übernommen.
Botschaftsrat Señor Gregorio-Cernadas mit Gattin ist zur Veranstaltung erschienen und hat trotz der angespannten wirtschaftlichen
Situation Argentiniens eine stattliche Anzahl Flaschen argentinischen
Rotweins mitgebracht, zu dem alle Anwesenden: Zuschauer, Veranstalter und Künstler am Schluss der Veranstaltung eingeladen werden.
"Vino de Honor“ nennt sich der kleine Empfang, und so klingt der
Abend in sehr angeregter Unterhaltung über die Kultur des Tango
Argentino stimmungsvoll aus. Ich glaube, dieses Beispiel zeigt sehr
deutlich, was die Menschen am Rio de La Plata – hier die Argentinier
– unter diplomatischer Gastfreundschaft verstehen.
Auch als sich Botschaftsrat Gregorio-Cernadas 2006 mit einem Empfang im Roten Rathaus aus Berlin verabschiedet, sind wir wieder
eingeladen, und wir sprechen kurz noch einmal über das gelungene
Literarische Tango Café im IAI.
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René Marino Rivero 26.12.1935 – 11.03.2010
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"Somos una familia“
Die Tangowelt und mit ihr die gesamte Musikwelt haben einen unersetzlichen Verlust erlitten. Marino Rivero ist tot. Er starb am 11. März
2010 in seiner Heimatstadt Montevideo. Marino Rivero, ein Ausnahmekünstler, ein
Genie, der
liebenswerte
Mensch und
Freund. René
Marino Rivero,
der immer
seinen zweiten
Vornamen
bevorzugte,
war als weltberühmter
Bandoneonvirtuose schon zu
Lebzeiten eine Legende. Vielen
Musikexperten galt er als der
grösste Bandoneonspieler aller
Zeiten. Zudem war er Komponist,
Pianist und Dirigent.
Ein bescheiden gebliebener
Mensch und Weltbürger zugleich.
Er hat in fast allen Musikmetropolen der Welt konzertiert, selbstverständlich in Berlin, Wien, London, Paris, Moskau, usw... Im Jahr vor seinem Tod noch in Kairo,
Beirut und Lissabon.
"Somos una familia“, "wir sind eine Familie“, das war immer Marinos
Spruch, seit wir gemeinsam mehrere Veranstaltungen bestritten
hatten. Und damit wollte er wohl auch das besonders vertraute Verhältnis zum Ausdruck bringen, das sich zwischen uns beiden Paaren
herausgebildet hatte. Marino und Gabriela Díaz aus Montevideo,
Ulrike und Eckart Haerter aus Göttingen. Gabriela war Marinos Lebensgefährtin und auf der Gitarre seine Partnerin im Duo.
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Gut verstanden haben wir uns von Anfang an. Als ich Marino zu
seinem ersten Göttinger Konzert vom Bahnhof abholte, war der Umgang zwischen uns schon nach wenigen Minuten so locker und herzlich, als würden wir uns seit langem kennen. Es war tatsächlich "der
Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, die nun durch den Tod
Marinos nur noch in unseren Gedanken weiterleben kann.
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Bilder vorige Seite: aus glücklichen Tagen in Montevideo. Bei Rotwein, Rindfleisch und Salat (und Mineralwasser) Ulrike und Marino,
Gabriela und Eckart.
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Wenn es um Marinos Kunst ging, war er egozentrisch, durchaus auch
egoistisch und nur wenig kompromissbereit. Das geht auch gar nicht
anders. Ein genialer kreativer Künstler muss seine Kunst durchsetzen
und kann dabei nicht auf zu viele Empfindlichkeiten anderer Rücksicht nehmen. Das galt bei Marino selbstverständlich auch für Tänzer. Wenn man nicht fähig gewesen wäre, nach seinen kunstvoll
arrangierten, konzertant gespielten Tangos zu tanzen, hätte man es
bleiben lassen müssen. Marino hätte seine Arrangements niemals zu
Gunsten der Tänzer geändert. Dabei konnte er, wenn er wollte, perfekt zum Tanzen spielen. Aber er wollte nicht.
Man weiss, dass sich die inneren
Spannungen
grosser
kreativer
Künstler oftmals in extravaganter
Lebensführung (Richard Wagner)
oder sonstigen ungewöhnlichen
Verhaltensweisen ein Ventil suchen.
So konnte sich Marino Rivero, wenn
ihn der Teufel ritt, einen Spass daraus machen, Leute mutwillig vor den
Kopf zu stossen, ohne allerdings
wirklich kränken zu wollen. Von
einer Begebenheit waren wir selbst
betroffen. Nach unserem ersten
Auftritt in Montevideo hatte sich uns
ein hoher Beamter des uruguayischen Aussenministeriums
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vorgestellt und uns eingeladen, in dem sehenswerten gefliesten Innenhof des Ministeriums einen exklusiven Auftritt zu tanzen. Der
Zufall wollte es, dass wir in der Lobby unseres Hotels, wo wir uns mit
Marino verabredet hatten, auch mit dem bewussten Beamten des
Aussenministeriums zusammentrafen. Der war nun Marinos nächstes
"Opfer“. Marino provozierte den korrekten Herrn solange mit dummen
Sprüchen, bis die Situation nicht mehr zu retten war. Am Morgen des
nächsten Tages wurden Ulrike und ich telefonisch vom Aussenministerium wieder ausgeladen ("wegen eines Fussbodenschadens“).
Das hätten wir Marino beinahe übel genommen.
Ein bekannter Tangomusiker, auch aus Montevideo, wusste zu erzählen, wie nach einer gemeinsamen Veranstaltung mit Marino, irgendwo im Ausland, sich zwei Beamte des argentinischen Konsulats
bei den Künstlern vorstellten. Und wie Marino sogleich los bölkte, wir
sind Uruguayer und haben bei dem und dem Fussballspiel 2 Tore
geschossen…. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass Marino sich
diebisch amüsiert hat über die konsternierten Gesichter der beiden
argentinischen Konsulatsbeamten, während der andere Musiker
verständlicherweise pottsauer war über Marinos Art von Humor, und
dass ihm als Uruguayer die Situation äusserst peinlich war.
Ulrike und ich haben sehr schnell gespürt, dass Marinos Eskapaden,
auch wenn er öfter mal den Clown machte, nur die äussere Fassade
waren, hinter der sich ein hochsensibler und verletzlicher Künstler
verbarg. In Wahrheit war Marino ein warmherziger, einfühlsamer und
grosszügiger Mensch; tolerant, welterfahren und mit echter Herzensbildung. Dabei hatte er einen Witz, dass wir manchmal vor Lachen
fast unterm Stuhl lagen.
Im Alter von 6 Jahren begann Marino das Bandoneonspiel zu erlernen, in das er hineinwuchs wie in eine Muttersprache. Seine virtuose
Spieltechnik vervollkommnete er bei dem berühmten Bandoneonspieler und –lehrer Barletta in Buenos Aires. Später galt Marino Rivero jahrzehntelang als der herausragendste Bandoneonspieler der
Welt und begnadeter Lehrer. In Montevideo gründete er das Taller de
Música Contemporánea (Werkstatt für zeitgenössische Musik) an
dem er bis zu seinem Tode Musiker ausbildete.
123
Seinen Workshop für Tangomusiker in der Göttinger MUSA werden
die damaligen TeilnehmerInnen wohl nie vergessen (Bild unten). Das
war pralles Tangoleben.
Damals konnte ich fasziniert miterleben, wie Marino den "deutschen“
Tangoklang der Gruppe, die sich aus allen Teilen der Republik zu-
sammengefunden hatte, innerhalb von zwei Tagen verwandelte in
den authentischen Klang vom Rio de La Plata.
Marino Rivero war ein Vollblutmusiker, der auch Klavier, Dirigieren
und Komposition studiert hatte. Seine grosse Liebe galt jedoch dem
Bandoneon. Seine Spieltechnik, für die er auch ein Lehrbuch verfasst
hat, erregte überall auf der Welt ungläubiges Staunen. Das Bandoneon (auf deutsch eigentlich: Bandonion) und spanisch korrekt mit
Akzent auf dem letzten o geschrieben, Bandoneón, stammt aus
Deutschland und gilt in Argentinien und Uruguay als die Seele des
Tangos.
Den zweiten Schwerpunkt seines Schaffens bildete das Komponieren. Marino Riveros ultramoderne Tangokompositionen weisen in
kosmische Sphären und lassen etwa einen Astor Piazzolla als erzkonservativ erscheinen. Tango ist bei Rivero nurmehr Idee, reine
Abstraktion. Futuristisch und faszinierend.
124
Konzerte mit Marino Rivero, als Solist oder im Duo mit Gabriela Díaz,
waren musikalische Ereignisse höchsten Ranges. In seinen Programmen mischte er gern traditionelle Tangos (natürlich arrangiert zu
virtuosen Konzertstücken) mit Musik von Astor Piazzolla und Johann
Sebastian Bach. Das waren tief die Seele berührende, hinreissende
Abende. Aus der volkstümlichen Ranchera "Las Margaritas“ (die
Francisco Canaro als Vals criollo spielt) verstand Marino durch kaum
merkliche Tempoverschiebungen, so als käme die Musik aus dem
bewegt pochenden Herzen, ein kleines Juwel zu machen, das zu
Tränen rührte. Gern spielte er auch seine eigenen futuristischen
Tangokompositionen, was allerdings nicht alle Veranstalter goutierten, denn nicht jedes Publikum ist dafür empfänglich. Anders war es
in Göttingen, woran man sehen kann, dass es keiner Weltstadt bedarf, um als Künstler auf ein Publikum zu treffen, das für Neues aufgeschlossen ist.
Marinos Zusammenarbeit mit uns wurde von ihm selbst angeregt,
nach seinem ersten Konzert in der Göttinger MUSA. Ich habe meine
sämtlichen Unterlagen durchsucht und leider nichts mehr darüber
finden können. Es muss etwa 1992 gewesen sein.
Marino beendete dieses tosend bejubelte Konzert mit einem Vals als
Zugabe. Dabei forderte er uns per Handzeichen auf, zu seiner Muaik
zu tanzen. Das taten wir. Danach, bei einem Glas Rotwein, meinte
Marino, man könnte doch mal etwas zusammen machen… .
So kam es, dass wir während unserer wichtigsten Auftrittsjahre, wenn
wir mit Musikern zusammengearbeitet haben, hauptsächlich mit Marino Rivero und Gabriela Díaz aufgetreten sind. 1996 im Rahmen
einer Deutschland/Österreich-Tournee, 1997 auf einer DeutschlandTournee und natürlich etliche Male in Göttingen, wobei wir zweimal
unsere eigene Veranstaltung "Das Literarische Tango Café“ mit einem Marino-Rivero-Konzert verbanden. Einmal verlegten wir eine
solche Veranstaltung in den Theaterkeller des Deutschen Theaters,
das DT-Bistro. Sie war binnen kürzester Zeit ausverkauft.
125
Das Bild oben aus der Berliner Morgenpost wurde vor einer gemeinsamen Veranstaltung in Potsdam aufgenommen, wo Marino als
Solist spielte, und wir Einlagen zu seiner Musik tanzten.
Ausgeschnittenes Zitat
aus der
126
Unsere erste gemeinsame Veranstaltung ausserhalb Göttingens
führte uns gleich tief in den Süden, ins österreichische Graz. Das war
im März 1996. Aber auch in Chemnitz, Leipzig, Lübeck, Bremen,
Essen, Ulm, Freiburg und anderen Orten hatten wir zusammen
denkwürdige Auftritte.
Marino zu Ehren haben Ulrike und ich im Mai 2006 in der Göttinger
MUSA unsere Choreographie zu seinem Tango Ciudad Vieja getanzt,
der live gespielt wurde vom Komponisten und Gabriela. Es war die
Welturaufführung unserer Choreographie, worüber Marino sich sehr
gefreut hat: Wir sind sehr froh, dass wir Marino diese Ehrung noch
erweisen konnten, denn es war unser letzter gemeinsamer Auftritt mit
ihm und Gabriela.
Marino nannte seine Musik Tango de Vanguardia (AvantgardeTango). Eine modernere, abstraktere Musik als diese wird vielleicht
nie wieder die Tangokultur bereichern. Kurz gesagt: sie ist "untanzbar" und aufgrund ihrer immensen Schwierigkeiten in spontaner Improvisation nicht angemessen zu bewältigen. Dieses eine Mal wollten
wir aber die Herausforderung und Marino Riveros ungeheurer Kreativität eine eigene Arbeit an die Seite stellen. Zu diesem Zweck erarbeiteten wir uns eine sorgfältig gestaltete Choreographie zu einer
Tangomusik, die nie zuvor getanzt worden war, und die wahrscheinlich nie mehr getanzt werden wird..
Über diese Veranstaltung erschien im im Göttinger Tageblatt eine
begeisterte Kritik von Birgit Nipkau.
127
Fantoches (Marionetten) heisst die CD von Marino Rivero und Gabriela Díaz. Sie enthält Candombes, Milongas und Tangos, komponiert
von Marino Rivero, darunter seinen ultramodernen Tango Ciudad
vieja (Altstadt), zu dem wir eine Choreographie erarbeitet und in
Göttingen getanzt haben.
Tangoliebhaber, die schon "alles kennen", sollten diese Musik anhören. Im Vergleich damit wirkt Piazzolla erzkonservativ.
Marino Rivero (Bandoneon), Gabriela Díaz (Guitar): "Fantoches"
as 20142. (p) & © artelier music Köln
128
_______________________________________________________
Marino arbeitete unermüdlich. Er komponierte ja nicht nur Tangos,
sondern auch zeitgenössische Musik anderer Art für unterschiedlichste Instrumente und Besetzungen. Daneben absolvierte er physisch und psychisch ungeheuer strapaziöse Tourneen, auf denen er
sich bis zur Erschöpfung verausgabte. Wir haben mehrmals Abende
erlebt, an denen er am Ende seiner Kräfte war. Aber er brauchte das.
Marino lebte vollständig in seiner Musik, und dass sie in der Welt zum
Klingen gebracht werde. Dabei hatte er immer wieder neue Ideen und
machte Pläne. Ulrike und ich sollten ihn und Gabriela noch auf vielen
Tourneen begleiten. Dafür hatte er sich für uns den Namen Cuarteto
Nuevo Tango ausgedacht.
Aus verschiedenen Gründen ist es dazu nicht mehr gekommen. Unter anderem spielte bei der Zusammenarbeit die Terminplanung eine
grosse Rolle. Marino und Gabriela lebten in Montevideo, so dass es
nicht möglich war, sie zum Beispiel zu einer einzigen Veranstaltung
129
mal eben nach Deutschland kommen zu lassen. Und wenn sie Tourneetermine hatten, dann war es für uns meist nicht möglich, hier in
Göttingen alles stehen und liegen zu lassen. Und auch wir hatten
unser eigenes abendfüllendes Programm, zu dem wir unbedingt die
darauf abgestimmte Musik brauchten.
Jetzt, da die Zeiten ruhiger geworden sind, hätte wohl noch einmal
etwas entstehen können, zumindest eine Veranstaltung in Göttingen…
Marino Rivero ist tot. Erschüttert denken wir an die geselligen Abende und die Konzerte mit ihm, von denen jedes ein besonderes Ereignis war und uns im Gedächtnis geblieben ist, als wäre es erst gestern
gewesen. Wie so oft in den Geschichten des Tangos, bleiben am
Ende nur die Erinnerungen.
Ich selbst bin nicht der Typ, der geeignet ist, viele Freunde um sich
zu scharen. Marino war einer.
Mein letztes Bild von Marino Rivero, aufgenommen am 25.09.2009 in
Punta Carretas, Montevideo. Mir gegenüber am Tisch Gabriela und
Marino. Wenn wir zusammen waren, ging es um Tango und Musik –
auch beim guten Essen – und an diesem Tag auch um alte Zeiten.
130
Hugo Díaz (1947 – 1998)
Zu den international führenden Tangomusikern aus Uruguay gehörte
auch der Bandoneonvirtuose Hugo Diaz (Bild links), der 1998 im Alter
von noch nicht ganz 51 Jahren viel zu früh verstarb. Seine Musik,
technisch herausragend und
von höchster
Sensibilität, setzte Massstäbe für
die Tangointerpretation in den
90er Jahren des
20. Jahrhunderts.
Mit Hugo Diaz
hatten Ulrike und
ich in Göttingen
mehrere besonders erfolgreiche
Tangoveranstaltungen, in denen wir die Tangoatmosphäre Montevideos lebendig werden liessen. Hugo, den ein argentinischer Musiker in einer E-Mail einmal als einen "kryptischen" Menschen bezeichnete, kamen wir menschlich sehr nahe, was bei seiner zurückhaltenden Art nicht selbstverständlich war.
Einmal spielte er, nach einer anstrengenden gemeinsamen Veranstaltung in der Göttinger MUSA, backstage für Ulrike noch Piazzollas
"Adios Nonino“.
Einen künstlerischen Höhepunkt erlebten wir mit Hugo Diaz bei unserem 1. Literarischen Tango Café, das im Theaterkeller des Deutschen Theaters stattfand, als Teil des kulturellen Beiprogramms des
damaligen Deutschen Bibliothekartags. Über diesen Abend erschien
im Göttinger Tageblatt eine der schönsten Kritiken, die wir je für eine
Veranstaltung bekommen haben. Geschrieben von Julia Otto.
131
Donato Racciatti (1918 – 2000)
Obwohl Ulrike und ich nie das Glück hatten, mit dem Orchester Donato Racciatti live zusammenzuarbeiten, soll dieses klassische uruguayische Tangoorchester doch nicht unerwähnt bleiben. Leider
haben wir Racciatti auch nie live gehört. Dafür ist seine Musik aber
aus unseren Kursen nicht weg zu denken. Insofern arbeiten wir doch
wenigstens mit seiner Musik.
Anders als Marino Rivero, Raúl Montero und Miguel Villasboas, die
alle eine ganz eigenständige, in ihrer Art einmalige Tangomusik machen, spielt Donato Racciatti durchaus konventionell; dabei aber
musikalisch auf hohem Niveau und zum Tanzen sehr gut geeignet.
Seine Sängerinnen und Sänger gehörten ebenfalls zu den besten
ihrer Zunft.
____________________________________________________
Dass wir mit so herausragenden Musikern wie Marino Rivero und
Gabriela Díaz, mit Miguel Villasboas und Raúl Montero (wenngleich
mit Raúl nicht tänzerisch) so eng zusammenarbeiten durften, empfinden Ulrike und ich als grosses Glück.
Uruguay ist reich an höchstklassigen Tangomusikern, von denen
viele im Ausland arbeiten und nur gelegentlich, etwa zur Teilnahme
an einem Tango-Festival, in ihre Heimat zurückkehren.
Zum Beispiel der Bandoneonist Raul Jaurena in New York, oder der
Sänger und Gitarrist Alfredo Sadi, der in Buenos Aires lebt, oder der
Bandoneonist Enrique Tellería in Barcelona. Besondere Erwähnung
verdient der Bandoneonspieler Romulo Larrea, der in Canada ein
Tangoorchester der Spitzenklasse aufgebaut hat. Hinreissend dessen Sängerin Veronica Larc mit ihrer sinnlichen tiefen Stimme. Von
Romulo Larrea bekamen wir in Montevideo als Geschenk eine fantastische Doppel-CD seines Orchesters.
132
Ausklang
Mit dem folgenden Tango aus Montevideo beenden wir unser zentrales Thema "Tango in Montevideo". Dieser Tango ist in Musik, Text
und gesungener Interpretation ein weiteres Beispiel für die unbegrenzte Vielseitigkeit und wandelbare Ausdrucksfähigkeit der Tangokunst. Montevideo vacía, "Leeres Montevideo“, könnte man auch der
klassischen Musik zuordnen, und sein Text sprengt den Rahmen der
reinen Volkstümlichkeit. Entsprechend hochrangig sind die beteiligten
Künstler.
Raúl Montero ist als früherer Opernsänger natürlich besonders befähigt, solche Musik zu interpretieren, und er tut es unvergleichlich. Der
Textdichter Enrique Estrázulas gehört zu den bekanntesten Dichtern
Uruguays. Über seinen Tangogedichten habe ich schon so manche
Stunde grübelnd verbracht. Eine Entdeckung war für mich der ebenfalls uruguayische Komponist (und Pianist) Jaurés Lamarque Pons
(1917 – 1982). Seine tief melancholische Musik zu Montevideo vacía
gefällt mir ausserordentlich.
Anmerkungen zum Text von Montevideo vacía
Isidore Lucien Ducasse (geb. 1846 in Montevideo, gest. 1870 in
Paris): französischer Dichter.
Líber Falco (1906 - 1955) : uruguayischer Dichter
Pedro Figari (1861 - 1938) uruguayischer Maler u. Politiker. U.a.
malte Figari eine ganze Serie von Candombe-Bildern in üppigen
Farben. Candombe ist eine folkloristische Tanzpantomime der
Schwarzen in Montevideo.
Alfredo de Simone (1898 - 1950): Maler; geb. in Italien, aufgewachsen und gestorben in Montevideo.
Joaquín Torres García (1874 - 1949): bedeutender uruguayischer
Maler (hat ein eigenes Museum in Montevideo)
Juan Carlos Onetti (1909 - 1994) : uruguayischer Schriftsteller mit
internationaler Geltung
133
Montevideo vacía
(Tango)
Música: Jaurés Lamarque Pons
Letra: Enrique Estrázulas
Oigo secretamente hasta el rumor del polen
ese orinar de mayo en las macetas
Obsesivo caer - todo es garúa
como la hembra que olvidé y no puedo
Oigo, no dudes que oigo abrir el día
los pavorreales de la primavera
los encallados vientres de navíos
el viento con arenas que regresan
Calles color Alfredo de Simone
huelen como a Ducasse
a Liber Falco muerto
Chimeneas de Torres sobreviven
tiembla Figari, el sur
Onetti, las botellas
Raquítica oración de ramas pobres
anuncian la invernada cenicienta
Ciudad mas triste que mis propias manos
mas que mi corazón, fruta sangrienta
Te estoy amando ahora, cuando te oigo
no sé como serás, ni como eras
134
Dieser Strassenzug In einem Barrio, einem Stadtviertel, von Montevideo, könnte von Alfredo de Simone (1898 – 1950) gemalt worden
sein. Etliche seiner Bilder von Strassen in Montevideo, besonders
des Barrio Sur (Südviertel) sind in diesen und ähnlichen Farben gemalt.
135
Leeres Montevideo
(Tango)
Musik: Jaurés Lamarque Pons
Text: Enrique Estrázulas
Ich höre still und leise sogar das Geräusch der Pollen
dieses Urinieren des Mais in die Pflanzenkübel.
Beharrliches Fallen - alles ist ein dünner Regenguss,
wie das Weib, das ich vergessen hab' und es doch nicht kann.
Ich höre, bezweifle nicht, dass ich den Tagesanbruch höre,
die Pfauen des Frühlings,
die gestrandeten Schiffsleiber,
den Wind mit Sand, der zurückkehrt.
Strassen in der Farbe von Alfredo de Simone
riechen wie nach Ducasse,
nach Liber Falco, der tot ist.
Die Schornsteine von Torres überleben,
es zittert Figari, der Süden,
Onetti, die Flaschen.
Das rachitische Gebet der armen Zweige
kündigt die aschgraue Winterzeit an.
Stadt, trauriger als meine eigenen Hände,
mehr als mein Herz, blutige Frucht.
Ich liebe dich jetzt, wenn ich dich höre,
ich weiss nicht, was aus dir werden wird, noch wie du warst.
136
Das weisse Gebäude rechts beherbergt das Museo Torres García,
das Museum für einen der bedeutendsten Maler Uruguays
137
Milonga
Dass man in Argentinien und Uruguay eine Tanzveranstaltung Milonga nennt, und dass auch eine musikalisch-tänzerische Variante
des Tangos als Milonga bezeichnet wird, das wissen alle Tangotänzerinnen und Tangotänzer. Wenn man versucht, sich bei verschiedenen Autoren über den Begriff Milonga noch weiter Klarheit zu
verschaffen, kristallisiert sich folgendes heraus: Es ist wahrscheinlich,
aber nicht völlig gesichert, dass das Wort Milonga (wie übrigens auch
der Begriff Tango) schwarzafrikanischen Ursprungs ist. Sicher ist
dagegen, dass man im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Uruguay die Gesänge und Wettstreite der Payadores, der Stegreifsänger, als Milonga bezeichnete. Milonga war also ein volkstümlicher
Gesang, zu dem Leute zusammenkamen und sich verlustierten.
In Buenos Aires ist ab etwa 1870 der Begriff "Milonga“ als Bezeichnung für eine Tanzveranstaltung belegt (Angaben nach Reichardt)
Reichardt, Dieter: Tango : Verweigerung und Trauer ;
Texte und Kontexte. (Suhrkamp Taschenbuch 1087)
Lizenzausg. d. Vervuert Verlags 1981. –
Wie der Tanz damals ausgesehen hat, wird wohl für immer im Dunkeln bleiben, denn Aufzeichnungen darüber gibt es so gut wie keine.
In der Bedeutung Tanzveranstaltung blieb der Begriff Milonga bis
heute erhalten, und er lebte auch fort, als man irgendwann anfing,
das, was man auf einer Milonga tanzte, Tango zu nennen. Als Milongueros bezeichnet man auch heute noch die Tangotänzer, die
aufgrund ihrer zuverlässigen Anwesenheit, ihres tänzerischen Könnens und ihrer Persönlichkeit die Atmosphäre eines Tangosalons
massgeblich prägen.
Eine Milonga-Renaissance setzte zu Beginn der 1930er Jahre ein,
als der Tangodichter Homero Manzi und der Komponist Sebastián
Piana in enger Zusammenarbeit eine Reihe der schönsten und berühmtesten neuen Milongas schufen. Tanzlieder, die in ihren Texten
und dem einfach strukturierten, meist schnellen 2/4 Takt an die Frühform des Tangos erinnern.
138
Nicht nur Homero Manzi, sondern auch viele andere Autoren bedienen sich seitdem in ihren Milongatexten der einfachen Sprache des
harten, aber empfindsamen Mannes der Pampa. Mit diesen Texten
und der meist rhythmisch klaren Musik, entstand mit der Milonga,
man könnte sagen, eine besonders volkstümliche, historisierende
Variante des Tangos, z.B. die Milonga Sentimental, Milonga del 900,
Milonga Triste. Die Texte der drei genannten Milongas und noch 15
weitere sind in dem Buch "100 Tangos von Homero Manzi“ enthalten,
das wir 2007 zum 100. Geburtstag des Dichters herausgegeben
haben. Die Musik zu diesen drei und zu fünf weiteren Milongas
schrieb Sebastián Piana. Wegen seiner herrlichen Milongamusik,
durch die er vor allem berühmt geworden ist, wurde in Buenos Aires
über den Komponisten auch gesagt, "er selbst ist die Milonga“ (él es
la milonga misma).
Dass Milonga und Tango bereits in der Frühzeit praktisch Synonyme
gewesen sind, berichtet schon Vicente Rossi in seinem 1926 erschienenen Buch Cosas de Negras. Im Kapitel über die Milonga sagt
Rossi: "Da Milonga und Tango ein und dasselbe sind, haben wir
praktisch in unserem Milonga-Kapitel über den Tango gesprochen.
Dieses Kapitel erschien in der deutschen Übersetzung
von Sonia Herrera in: Melancholie der Vorstadt: Tango.
Hrsg. vom Künstlerhaus Bethanien. Verlag Frölich &
Kaufmann, Berlin 1982
Genauso, nämlich: "Milonga ist Tango“, äussert sich auch Pepito
Avellaneda (1930–1996) in einem Video, das ich vor Jahren gesehen
habe und nurmehr aus dem Gedächtnis zitieren kann. Pepito war
jahrzehntelang bis zu seinem Tod einer der berühmtesten und beliebtesten Milongueros und Tangolehrer von Buenos Aires, zu dessen
besonderen Spezialitäten die Milonga gehörte. Die Milonga, die wir in
der Göttinger MUSA unterrichten, orientiert sich sehr eng am Tanzstil
von Pepito Avellaneda. Somit tanzen auch wir heute auf Milongamusik selbstverständlich Tango. Und obwohl man auf eine Milonga
weitestgehend dieselben Bewegungen, Schritte und Figuren tanzt
wie im "reinen“ Tango, erhält bei einem guten Tanzpaar die getanzte
Milonga einen völlig andersartigen Charakter.
139
Um den jeweiligen Stil einer Milonga hervorzuheben, wird den Titeln
oft noch eine besonders chrakterisierende Bezeichnung beigefügt. So
besagt zum Beispiel der Zusatz Milonga Candombe oder Milonga
Negra, dass die Handlung im Milieu der Schwarzen angesiedelt ist;
Milonga Criolla oder Milonga Campera meint eine "einheimische“
bzw. bodenständige, ländliche Milonga, so wie die Milonga Gauchesca sich in die Gefühlswelt der Gauchos hineinversetzt. Eine
Milonga Porteña spielt im Umfeld der Bewohner von Buenos Aires.
Die Uruguayer betrachten die Milonga als ihre ureigenste Kulturschöpfung, die von Montevideo aus nach Buenos Aires gelangte. So
äussert sich auch Vicente Rossi (s. Quellenang. vorige Seite). Und
wer wollte bestreiten, dass das Orquesta Típica des Pianisten Miguel
Villasboas die hinreissendsten Milongas spielt, die geradezu zum
Tanzen zwingen, wie zum Beispiel die Milonga Chamberguito de los
Gauchos ("der Schlapphut der Gauchos“) von Pascual Carabillo.
140
Milonga al revés getanzt. Foto © Stadtbücherei Innsbruck
Unser einziges Foto von einer getanzten Milonga – aufgenommen in
Österreich.
141
Der nächste Schritt
Schon das Kleinkind erfährt beim Laufenlernen, dass nach dem ersten der zweite Schritt folgt. Als Tänzer haben wir es nicht ganz so
leicht. Wenn man nicht weiss, wie und wohin der zweite Schritt gesetzt werden soll, sieht man alt aus. Und beim Tango Argentino wird
es noch komplizierter, denn schon der erste Schritt kann in verschiedene Richtungen gehen, und das ist noch längst nicht alles...
In einer unserer ersten Unterrichtsstunden bei Antonio Todaro in
Buenos Aires, als er uns durch eine seiner "aberwitzigen" Figuren
trieb, legte er schon am Anfang Wert darauf, dass wir auch die Musik
142
interpretieren. So gab er uns konkrete Hinweise, welche Sequenzen
er sich z.B. schneller getanzt vorstellte, más rápido, oder welche
Stellen er lieber sanft, suave, getanzt sehen wollte. Dabei hatten wir
damals bei so mancher Figur noch erhebliche Schwierigkeiten, überhaupt nur die Tanztechnik der Figur zu bewältigen, so dass an Musikinterpretation noch gar nicht zu denken war. Aber Antonio gab
eben Meisterklassen, auch wenn wir damals noch keine Maestros
waren. Er wollte seinen ausländischen Schülern, die ja meist nur eine
begrenzte Zeit in Buenos Aires sein konnten, so viel mitgeben wie
möglich, und er vertraute darauf, dass man sich seine Unterrichtsinhalte zu Hause hart erarbeitete.
Auch wenn wir heute natürlich unsere eigenen Musikinterpretationen
tanzen, hat uns Antonios Genie während der nachfolgenden 25 Jahre
immer wieder beflügelt und inspiriert. Gerade erst gestern haben
Ulrike und ich bei einer al-revés-Sequenz wieder einmal spontan
bewundert, wie genial Antonio war, bei dem wir damals diese vertrackte Kombination gelernt haben. Auf diese Weise lebt Antonio in
unserem Tanzen weiter, und sicherlich empfinden das die meisten
seiner oftmals hoch berühmten Schülerinnen und Schüler genauso.
Antonio war ein international berühmter Tangolehrer, der sich in
Buenos Aires seine Tanzpaare, die er unterrichtete, aussuchen konnte. Gruppenkurse gab er nicht. Zu jener Zeit feierte er gerade sein 45.
Jahr als Tangolehrer. In seinem Studio zeigte er uns den Zeitungsbericht, in dem sein Jubiläum gewürdigt wurde, und er lud uns ein,
abends an einem grossen Event zu seinen Ehren teilzunehmen.
Ich habe mich immer gegen das choreographierte Tangotanzen ausgesprochen. Wer nur festgelegte Folgen tanzen kann, ist noch kein
weit fortgeschrittener Tangotänzer. Deswegen wird im TangoArgentino-Tanzunterricht in aller Regel keine Choreographie unterrichtet. Die Tangolehrer vermitteln einzelne Tanzbausteine und verschiedene Übergänge. Damit steht den Kursteilnehmern das Material
zur Verfügung, um ihren eigenen Tango zu (er)finden. Auch wenn der
Weg dahin ein längerer ist. Profitänzer, wie z.B. das deutsche Fernsehballett des MDR, haben die Fähigkeit, sich eine abendfüllende
Tangoshow in schätzungsweise 4 Wochen anzutrainieren. Und zwar
143
auf einem Niveau, mit dem sie sich ohne weiteres in Buenos Aires
sehen lassen könnten. Trotzdem lassen sich echte Tangotänzer
davon nicht verblüffen.
Dem tänzerischen Können der Truppe zollen wir selbstverständlich
grossen Respekt, aber Tangotanzen ist das nicht. Vielmehr ist es das
theatermässig gespielte Tangotanzen. Zugegeben mit sehr guten
Schauspielerinnen und Schauspielern. Auf einer Milonga, also dem
freien Tangotanzen im Tanzsaal, wüssten diese hochklassigen Profitänzerinnen und Tänzer vermutlich nicht, was sie machen sollten,
denn die Show-Choreographien kann man auf der Milonga nicht
gebrauchen. Da heisst es für Mann und Frau gemeinsam, aus dem
Gefühl heraus, mit Base, Ochos und Ganchos immer wieder andere
Musik spontan in Tangobewegungen zu verwandeln.
Dennoch kann für Tangolernende das Erarbeiten einer Choreographie auch von Nutzen sein. Man lernt nämlich dabei das genaue
Zuhören, und man wird gezwungen, sich wirklich mit der Musik (und
möglichst auch mit dem Text) zu befassen, um schliesslich die am
besten passenden Tangobewegungen zu finden. Aber das ist nur der
erste Schritt. Zur Interpretation gehört schliesslich die Intensität des
sich Hineinbegebens. Tanzen wir schnell, langsam, mit hoher Geschwindigkeit, mit grossem Energieeinsatz, oder weich, verhalten,
lyrisch, zärtlich, in offener oder enger Haltung Wange an Wange.
Oder lösen wir einmal die Umarmung, den Abrazo, ganz auf. Maestros variieren ihren Tanz ständig in dieser Weise.
Eine Choreographie als Instrument der Schulung kann die Augen
öffnen für das, was beim kreativen Tangotanzen möglich und eigentlich auch notwenig ist, wenn man der grossartigen Musik und auch
den Texten gerecht werden will.
Tangotanzen ist Musikinterpretation. Wenn man ausserdem weiss,
worum es im Text geht, ist das eine zusätzliche Interpretationshilfe.
144
145
Neulich las ich die folgende Bemerkung des grossen Dirigenten
Wilhelm Furtwängler (1886 - 1954):
Alles reproduktive Musizieren verdirbt den Charakter.
Es ist zuerst echt, muss aber dann notwendig falsch
werden, wenn es zum Selbstzweck erhoben wird, da
Erlebnisse sich nicht mit Routine beliebig wiederholen
lassen. Alle wirklich Grossen haben noch andere Ressourcen, aus denen sich die Kraft ihrer Reproduktion erneuert.
Dabei fiel mir auf, dass wir es als Tangotänzer mit genau demselben
Problem zu tun haben, und zwar immer dann, wenn wir - ob gezwungenermassen oder freiwillig - Choreographien tanzen. Der Tango als
Tanz ist ein intensives körperliches und emotionales Erlebnis, das
eine Frau und ein Mann während 3 Minuten miteinander teilen. Das
Erlebnis besteht aber nicht darin, dass wir etwas uns Bekanntes,
oftmals Wiederholtes ein weiteres Mal in gleicher Weise abspulen.
Jeder getanzte Tango ist einmalig und daher nicht wiederholbar.
Deshalb ist es mir schon immer zuwider, ja fast unmöglich gewesen,
eine Choreographie zu tanzen. Allerdings gibt es Situatonen, in denen eine Choreographie dennoch unverzichtbar sein kann. Darauf
komme ich weiter unten noch zurück.
Seiner Intention und seinem Charakter nach ist der Tango Argentino
reinste Improvisation. Denn gerade das Kreieren des Tanzablaufs im
Augenblick des Tanzens gehört wesentlich zum Spiel zwischen Mann
und Frau dazu und sollte sogar von den Zuschauenden miterlebt
werden. Es kommt manchmal vor, dass Ulrike und ich am Schluss
eines getanzten Tangos finden, dass uns da gerade spontan eine
bühnenreife Interpretation gelungen ist, die wir uns eigentlich ohne
Veränderung für einen späteren Auftritt bewahren sollten. Und wenn
wir sie dann noch einmal tanzen wollen, geht es nicht. Derselbe Tango fällt beim zweiten Mal einfach anders aus, ob wir es wollen oder
nicht. Denn der Augenblick, der uns gemeinsam die Inspiration für
gerade diese und keine andere Tanzgestaltung eingegeben hat, ist
unwiederbringlich dahin. Dafür ist dann aber die Wiederholung desselben Tangos mit anderen Bewegungen ein echtes, neues Erlebnis
und keine Konserve. Es ist tatsächlich so, dass man ein wunderbares
146
Tangoerlebnis haben kann, ohne sich auf einer Bühne zu exponieren
oder sich inmitten der Menschenmenge auf einer Milonga zu bewegen. Unter vier Augen, zu zweit allein, ohne Ablenkung durch eine
Öffentlichkeit, kann das Erlebnis sogar besonders tief und intensiv
sein.
Trotzdem braucht man als Tangotänzer beides, die Intimität und die
Gemeinschaft. Das gilt überhaupt für jede Kunst. Künste können
nicht allein im Verborgenen gedeihen. Ob Schriftsteller, Maler, Musiker, Schauspieler oder Tänzer - jeder muss und will erleben, wie
seine Kunst vor der Öffentlichkeit besteht. Wer darüber hinaus mit
seiner Kunst Geld verdienen muss, hat keine andere Wahl, als sich
der Öffentlichkeit zum Frass vorzuwerfen. Zudem ausgeliefert den
mehr oder weniger kundigen und mehr oder weniger wohlwollenden
Kritikern.
Wenn ich auf die vergangenen zwei Jahrzehnte unserer Arbeit zurückblicke, bin ich froh und dankbar, dass wir bei der Mehrzahl unserer Auftritte improvisiert tanzen mussten, wie bei den meisten Auftritten in Montevideo. Und der Reaktion der anwesenden Medienvertreter konnten wir entnehmen, dass oftmals völlig unvorbereitete
Auftritte die stärkste Wirkung erzielt haben. In Sevilla wussten wir
noch eine Minute vor dem Auftritt nicht, nach welcher Musik wir tanzen würden. Schliesslich wurde uns eine Milonga angesagt, aber
stattdessen ohne Vorwarnung der Tango "Canaro en Paris" gespielt.
Spontaner geht's nicht. Und gerade dieser Auftritt hat eine Journalistin zu einem Interview mit uns veranlasst, das zu einem kleinen Zeitungsartikel mit Bild führte.
In Montevideo, im Teatro Florencio Sánchez, wurden wir nach unserem Auftritt, als wir gerade wieder unsere Strassenschuhe anziehen
wollten, noch einmal auf die Bühne gebeten, wo die Tangosängerin
Elsa Morán mit ihrem Orchester noch ihren Auftritt hatte. Auf ihren
Wunsch sollten wir noch einen Tango zu ihrer Musik tanzen. Natürlich völlig ungeprobt und ungeplant. Der Auftritt wurde vom argentinischen Tango-Fernsehsender Sólo Tango gefilmt (der uns danach
auch interviewte) und später in Buenos Aires gesendet.
147
Ich könnte noch von sehr vielen ähnlichen Beispielen berichten. So
sind auch unsere eigenen Veranstaltungen, wenn wir mit dem "Literarischen Tango-Café" unterwegs waren, fast immer aus dem Ruder
gelaufen. Der Ablauf hat meist, im Austausch mit dem Publikum, eine
Eigendynamik entwickelt, bei der wir unser ursprünglich geplantes
Konzept zugunsten einer lebendigen, spontanen Improvisation gekippt haben. Der Veranstaltung hat das nie geschadet.
Unsere praktische Erfahrung hat mich davon überzeugt, dass es
auch beim öffentlich getanzten Tango Argentino längst ein Bedürfnis
gibt nach dem Wahren, Echten, Ungekünstelten. Deshalb ist der
Tango kein Tanz, der vor ein Riesenpublikum in gigantischen Hallen
oder grossen Theatern gehört. Der Tango kommt aus den Kaschemmen, aus den kleinen Tangobars am Flussufer, und da gehört er hin
und nicht ins Staatstheater, wenn er seine authentische Wirkung
entfalten soll, die unter die Haut geht.
Trotzdem hat es schon sehr frühzeitig auch den sogenannten Bühnentango gegeben, für den zwangsläufig andere Gesetze gelten. Für
grosse, geplante, durchorganisierte Shows kommt man um Choreographien nicht herum. Bei einer total extrovertierten, theatergemässen Darbietung mit grossem Ensemble muss ein festgelegter und
vielfach geprobter Ablauf das Gelingen der Gesamtveranstaltung
garantieren. Keiner darf sich dabei auf die Inspiration des Augenblicks verlassen.
Der eingangs zitierte Wilhelm Furtwängler war klassischer Musiker
und in seiner Eigenschaft als Dirigent ausschliesslich reproduzierend.
Was er mit "anderen Ressourcen" meinte, aus denen die "Grossen"
neue Kraft für ihre Reproduktionen schöpfen, war bei ihm seine Arbeit als Komponist. Furtwängler, der allgemein als bedeutendster
Dirigent des 20. Jahrhunderts gilt, war demnach der Auffassung,
dass es praktisch unmöglich ist, ein und dasselbe Konzert zum x-ten
Male ohne Verlust an seelischer Substanz zu spielen. Dass also die
Wiederholung, bei der die ursprüngliche Empfindung verloren gegangen ist, eine Täuschung darstellen muss.
148
149
Und hier kommt jetzt Furtwänglers etwas überspitzt formulierte Aussage zum Tragen, dass alles reproduktive Musizieren den Charakter
verdirbt. Und auf den Tanz von Choreographien bezogen, kann ich
Furtwängler nur aus vollem Herzen beipflichten. Als Tangotänzer sind
wir per se keine reproduzierenden, sondern schöpferische Interpreten, aber bei manchen Bühnenveranstaltungen, die auf das präzise
Funktionieren geplanter Handlungsabläufe angewiesen sind, müssen
Choreographien sein. Die Folge ist, dass man die grossen TangoShowveranstaltungen, auch die berühmtesten, fast immer mit dem
leisen Gefühl verlässt, dass irgend etwas gefehlt hat. Und damit
wollte sich Furtwängler bei seinen Konzerten nicht zufrieden geben.
Der Grund für das Versagen von Choreographien ist leicht erklärt:
Eine Choreographie wird vorher erdacht und von Auftritt zu Auftritt
wiederholt. Die Improvisation dagegen entsteht erst während des
Tanzens aus dem augenblicklichen Gefühl heraus und kann nicht
wiederholt werden.
So ist eine Choreographie auch eine Schutzeinrichtung für den professionellen Auftritt, der auch dann gelingen muss, wenn kein Gefühl
vorhanden ist und durch Routine ersetzt werden muss. Gelegentlich
haben auch Ulrike und ich Choreographien entwickelt und getanzt,
wenn die Veranstaltung es erforderte.
Zum Beispiel 2006, als wir in der Göttinger MUSA unseren letzten
Auftritt hatten mit den uruguayischen Tangomusikern Marino Rivero
(Bandoneon) und Gabriela Díaz (Gitarre) aus Montevideo. Darüber
habe ich oben im Kapitel Marino Rivero berichtet.
Einen anderen Auftritt mit mehreren Nummern, die wir choreographiert hatten, tanzten wir bei einem Tango-Konzert mit dem Göttinger
Symphonieorchester in der Göttinger Stadthalle. Was uns an diesem
Abend besonders gefiel, war das professionelle Umfeld, das sehr zur
Entspannung beigetragen hat.
Normalerweise sind wir es bei unseren Auftritten gewöhnt, dass wir
uns vorher nicht in einer bequemen Garderobe sammeln und ent-
150
spannen können, sondern dass wir bis kurz vor Beginn unseres Auftritts noch tausenderlei organisatorische Dinge mit den Veranstaltern
klären müssen, vom Mikro bis zum Fussboden, vom Glas Wasser bis
zur Pausenplanung und der Lage der Toilette usw. Solche Abende
sind sehr anstrengend. Bei den internationalen Festivales wird einem
das Organisatorische natürlich abgenommen, aber oftmals sind die
Bedingungen bei den einzelnen Veranstaltungen alles andere als
ideal.
In Montevideo haben wir uns mit dem Berliner Tango-Tanzpaar Ulrike
Schladebach und Stefan Wiesner unterhalten. Die erzählten uns,
dass sie normalerweise nur unter den besten Bedingungen auftreten.
Wir konnten dagegen setzen, dass wir es gewöhnt sind, unter den
denkbar schlechtesten Bedingungen aufzutreten. Einen Vorteil hat
das allerdings, man ist durch nichts mehr zu erschüttern.
Vom Ambiente her bevorzuge ich eindeutig die Intimität der kleinen
Kaschemme, auch wenn deren Bedingungen miserabel sind. Die
schlecht beleuchtete Tango-Bar am Flussufer, in dem ein kleines
Conjunto um einen Bandoneonspieler mit Hingabe traditionelle Tangos spielt, passt einfach besser zum authentischen Tango als das
Staatstheater mit Sinfonieorchester.
Trotzdem geniesst man dann solche Abende wie den mit dem Göttinger Symphonieorchester, eingebunden in die Bequemlichkeit der
Routine eines Konzertabends mit warmer Garderobe, schnell erreichbarer Toilette, ausreichendem Platz auf der Bühne und einem
Mitarbeiter-Team, dem alles Organisatorische obliegt.
Auch zur Musik eines Sinfonieorchesters zu tanzen, macht grossen
Spass, zumal sich die sinfonische Art der Tangodarbietung längst
weltweit etabliert. hat. Ich habe vom Barenboim-Konzert in Buenos
Aires erzählt, und auch in Montevideo haben wir ein Open-Air-Tangokonzert mit dem städtischen Sinfonieorchester erlebt. Der Tango ist
eine Volkskultur auf höchstem Niveau und von einer schier unbegrenzten Vielseitigkeit in Musik, Literatur und Tanz. So ist es nicht
verwunderlich, dass viele Menschen dem Tango ihr Leben gewidmet
haben.
151
Montevideo, Plaza Independencia. Ganz links das Denkmal für den
Freiheitskämpfer und Nationalhelden Artigas, das Gebäude mit Turm
ist der Palacio Salvo, das Wahrzeichen Montevideos. Rechts in der
Mitte das historische Regierungsgebäude, ganz rechts noch zu sehen das neue Regierungsgebäude und Präsidentensitz.
152
Montevideo, Plaza Independencia: die Ansicht gegenüber
153
Montevideo: an der Rambla mit Blick nach Osten auf die Playa
Ramírez, einen der Stadtstrände von Montevideo
154
Alle Urheber der Fotos werden bei den Fotos im Text genannt.
Todos los autores de las fotos son mencionados con las fotos en el texto
_________________________________________________
Wir danken den folgenden Personen bzw. Institutionen für die Erlaubnis der
Bildnutzung
Agradecemos a los personas siguientes e instituciones respectivamente por
el permiso para usar las fotos
Berliner Morgenpost: Ulrike y Eckart juntos con Marino Rivero
Diario de la República, Montevideo: Elsa Morán
Diario Qué, Sevilla: Los Haerter
Göttinger Tageblatt:: Marino Rivero y Gabriela Díaz juntos con Ulrike y
Eckart
Gelem Habiaga: Raúl Montero y Eckart Haerter juntos
Dagmar Härter: Ulrike y Eckart bailando
Joventango Montevideo: Todas las fotos del Festival internacional Viva el
Tango, excepto en el Club Bohemios.
Archivo privado de Fernando Olivera: Fotos en el Club Bohemios
Nicolás Piaggio: Ulrike y Eckart bailando
W. Raab: Ulrike y Eckart bailando
rtv, Deutscher Supplementverlag GmbH, Nürnberg Standard-Tanzpaar
Udo Rzadkowski: Ulrike und Eckart in Tanzhaltung
Stadtbücherei Innsbruck: Ulrike und Eckart bailando Milonga
Tacuy.com : Olga Delgrossi
Periódico semanal El Vecino, Trinidad, Uruguay: Ulrike y Eckart bailando
Archivo privado de Miguel Villasboas: Fotos de Miguel Villasboas y su
Orquesta
Wikipedia (dominio público / gemeinfrei): Malena Muyala
Aufnahme von Hugo Díaz: Privat
Porträt von Romildo Risso aus: Risso, Romildo: Con las riendas sueltas. - 1.
ed., Buenos Aires : Assoc. de Cult. Tradicion. del Rio de la Plata, 1955.
Aufnahmen von Marino Rivero: Archivo privado Gabriela Díaz
Alle Fotos von Montevideo und Buenos Aires © Eckart Haerter
Alle in Montevideo aufgenommenen Tanzfotos von Ulrike und Eckart entstanden live bei Auftritten in öffentlichen Veranstaltungen..
155
Ulrike und Eckart Haerter : Tangobiographische Notizen
(eine Auswahl)
1988
Göttingen: Beginn mit Tango-Argentino-Tanzkursen. Ab
1989 professionell
1989
Wittenberg, Kulturhaus Maxim Gorki: Tanz-Auftritt als Mitglieder einer Kulturdelegation der Stadt Göttingen.
1990
Göttingen, Junges Theater: Tanz-Auftritt im Rahmen des
"Kulturmarathons“.
Göttingen: (Oktober) Gründung des MUSA-Tango-Salons
als ständige Veranstaltung am Sonntag. Besteht bis heute.
1995
Calcutta (Kolkata): Diverse Tanz-Auftritte und Workshops.
Die Auftritte im Night Club des Park Hotels wurden von Delhi
Television aufgezeichnet.
Göttingen, Deutsches Theater, Theaterkeller (DT-Bistro):
Zusammen mit Hugo Díaz, Montevideo (Bandoneon): Das
Literarische Tango-Café. Konzert, Tanz und Text.
1996
Graz, Leipzig, Essen, Chemnitz u.a.: Zusammen mit
Marino Rivero, Montevideo (Bandoneon) und teilweise auch
mit Gabriela Díaz, Montevideo (Gitarre) Deutschland / Österreich-Tournee
Montevideo, (diverse Bühnen): Als offizielles Tanzpaar
Teilnahme am 3. Weltgipfel des Tangos (3ª Cumbre Mundial
del Tango) gekoppelt mit dem 9. Festival internacional Viva
el Tango von Montevideo.
San José, Uruguay, Teatro Macció: Tanz-Auftritt.
Montevideo: Fernsehauftritt bei Teledoce in Montevideo
Göttingen, Deutsches Theater (DT-Keller): "Bandoneon –
Seele des Tangos". Marino Rivero, Montevideo (Bandoneon), Gabriela Díaz, Montevideo (Gitarre), Ulrike & Eckart
Haerter, Göttingen (Tanz).
156
1997
Montevideo, (diverse Auftrittsorte): Als offizielles Tanzpaar
Teilnahme am 10. Festival internacional Viva el Tango.
Berlin: Show-Autritt auf einer Veranstaltung der argentinischen Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas
Potsdam, Bremen, Freiburg u.a.: Tournee mit Marino
Rivero und Gabriela Díaz.
Hamburg: Fernsehauftritt beim NDR
1998
Lissabon, Teatro da Trindade: Als offizielles Tanzpaar
Teilnahme am 4. Weltgipfel des Tangos (4a Cimeira mundial do Tango).
1999
Montevideo, diverse Auftrittsorte: Als offizielles Tanzpaar
Teilnahme am 12. Festival internacional Viva el Tango in
Montevideo.
2000
Göttingen, MUSA: Präsentation der 1. Auflage unseres
Buches Ecken in Buenos Aires mit Tangotexten von Homero Manzi, übersetzt von Eckart Haerter. Live mit dabei: Acho
Manzi, der Sohn des Dichters. Die Livemusik spielte das argentinische Trio TANGONAVE.
Leipzig, Zimmertheater Kosmopolitan: Aufführung unserer
Tanz- und Lese-Show Das Literarische Tango-Café.
Bregenz, Österreich, Vorarlberger Landesbibliothek, Kuppelsaal: Das Literarische Tango-Café. Tanz und Text.
2001
Berlin, Ibero-Amerikanisches Institut (IAI), Simón-BolívarSaal: mit freundlicher Unterstützung der Botschaft der
Republik Argentinien Das Literarische Tango-Café mit
Tanz und Text unter dem Titel: Ein Abend zu Ehren von
Homero Manzi – Una Noche en Homenaje a Homero
Manzi.
Köln, Stadtbibliothek: Das Literarische Tango-Café. Tanz
und Text.
Montevideo, Lokal Rancho Zeta: Tanz-Auftritt im Rahmen
einer Veranstaltung mit Dinner,Tanz und Show.
157
2002
Dresden, Semperoper (Kleine Bühne): Premiere der
Tangooper Porqué… porqué … Tango Orfé mit Tangotexten
von Homero Manzi in der Übersetzung von Eckart Haerter
Ratingen, Velbert, Herten, Leverkusen u.a.: Das Literarische Tango-Café. Tanz und Text.
2004
Innsbruck, Stadtbücherei: Das Literarische Tango-Café.
Tanz und Text.
Gütersloh, Stadtbibliothek: Das Literarische Tango-Café.
Tanz und Text.
2005
Sevilla, Teatro Lope de Vega: Als offizielles Tanzpaar Teilnahme am 6. Weltgipfel des Tangos (6a Cumbre mundial
del Tango).
Cottbus, Stadtbibliothek: Das Literarische Tango-Café.
Tanz und Text.
2006
Göttingen, MUSA: Cuarteto Nuevo Tango: Marino Rivero,
Montevideo (Bandoneon), Gabriela Díaz, Montevideo
(Gitarre), Ulrike Haerter und Eckart Haerter, Göttingen
(Tanz): Tangokonzert mit Welturaufführung unserer Choreographie zu Marinos ultramodernem Tango: Ciudad vieja.
2007
Göttingen: zum 100. Geburtstag des argentinischen Tangodichters Homero Manzi (1907 – 1951) erscheint unser Buch
100 Tangos von Homero Manzi. Übersetzungen von Eckart
Haerter.
Göttingen, Stadthalle: Tanz-Auftritt bei einem TangoKonzert.mit dem Göttinger Symphonieorchester unter der
Leitung von Hermann Breuer.
Giessen, Stadtbibliothek: Das Literarische Tango-Café.
Tanz und Text
2008
Göttingen: Das Literarische Tango-Café.Tanz und Text.
158
2009
Buenos Aires: Teilnahme an der Vor-Premiere für geladene
Gäste des Films Poeta en la Tormenta ("Dichter im Sturm")
über das Leben des Tangodichters Homero Manzi. Dabei
letztes Zusammentreffen mit seinem Sohn Acho Manzi.
Montevideo: Mit dem Tangosänger und Tango-Liedermacher Raúl Montero Vorbereitung eines Heftes mit neuen
uruguayischen Tangos in deutscher Übersetzung (s. 2011).
2010
Frankfurt am Main, Frankfurter Buchmesse, EhrenGastland Argentinien. Zusammen mit einem Abteilungsdirektor des argentinischen Kulturministeriums Präsentation einer argentinischen Sonderausgabe unseres Buches
100 Tangos von Homero Manzi (s. 2007). Mit Livemusik des
Conjuntos Lídia und Luis Borda.
2011
Göttingen: Es erscheint das 2009 in Montevideo
projektierte Heft: Bailando junto al río ("Tanzend am Fluss")
mit uruguayischen Tangos, übersetzt von Eckart Haerter
2012
Göttingen: 3. erweiterte und verbesserte Auflage unseres
Buches: Ecken in Buenos Aires.
2013
Göttingen: Tango in Montevideo : Erfahrungsberichte /
aufgezeichnet von Eckart Haerter.2. bearb. Aufl.
160 S. ; zahlr. Abb.
.
159
Veröffentlichungen von Ulrike & Eckart Haerter
Ecken in Buenos Aires = Esquinas porteñas
: Tangos, Milongas, Valses und Canciones /
von Homero Manzi ; ausgewählt, ins Dt.
übertr. und mit Anm. vers. von Eckart Haerter
Verfasser: Manzi, Homero (1907-1951)
3., neubearb. u. erw. Aufl.
Göttingen : Tango Productions Ulrike &
Eckart Haerter, 2012
276 S. : Ill. ; 21 cm
Text span. und dt.
Paperback ; Preis: 9,80 EUR + Versand:
12,30 EUR.
ISBN 978-3-9809306-6-6
______________________________________________________
Raúl "Ciruja" Montero: Canción del Plata
Montevideo : Tabaré Records, 1997
Umfang: 1 CD; 44:46 Min. ; 12 cm
Das Booklet zur CD
Das Lied vom La Plata : Tangolyrik aus Uruguay von Enrique Estrázulas, Raúl
Montero, Ignacio Suárez, Roberto Bianco und aus Argentinien von Gloria
Marcó = Canción del Plata / hrsg. und ins Dt. übertr. von Eckart Haerter
Anmerkung: Text in span. und dt. Sprache
ISBN 3-9809306-1-0
Preis (CD + Booklet): 9,- €. Keine Versandkosten
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Ulrike und Eckart Haerter sind
ein deutsches Tango-Tanz- und
--Lehrerpaar. Ausgebildet wurden sie hauptsächlich in Buenos
Aires bei dem legendären Maestro Antonio Todaro.
Heute verfügen sie über eine
25-jährige Praxis als Vermittler
der Tangokultur vom Rio de La
Plata. 20 Jahre nutzten sie auch
für Auftritte in und ausserhalb
Deutschlands. Darunter zahlreiche Auftritte auf den Bühnen
von Montevideo, der Hauptstadt
Uruguays. Montevideo ist zeitgleich mit Buenos Aires Ursprungsstadt
des Tangos.
"Der Tango aus Argentinien und Uruguay, kurz Tango Argentino genannt, ist die Kulturschöpfung der Menschen am Rio de La Plata", sagt
Ulrike Haerter. "Wir als Deutsche wollten authentisch Tango tanzen,
deshalb haben wir uns in Buenos Aires den grossartigen Antonio Todaro
als unseren Lehrer ausgesucht. Dass wir später in Montevideo, der anderen Ursprungsstadt des Tangos, auftreten konnten, zusammen mit
einheimischen Tangomusikern und vor einheimischem Publikum, war
eine Erfahrung, die uns zusätzliche Bestätigung gegeben hat für unsere
Arbeit in Deutschland. "
Eckart Haerter hat die Erfahrungsberichte aufgezeichnet und Im vorliegenden Buch zusammengestellt.
ISBN