Kapiteltexte deutsch - Vienna Guide Service

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Kapiteltexte deutsch - Vienna Guide Service
OG2 G1 e2: Kapiteltext KT4-2: 1045x338mm
1
Aufklärung
Die österreichische Aufklärung war das Projekt einer
­Elite aus Beamten und Juristen, vorbereitet durch die
Verwaltungsreformen Maria Theresias. Das „josep­h­i­
nische Jahrzehnt“ von 1780 bis zum Tod Josephs II.
1790 kennzeichnen tiefgreifende Reformen. Bereits
1781 brachte das Toleranzpatent die Gleichstellung
der Religionen und die „erweiterte Pressefreiheit“ eine
Lockerung der Zensur. Österreich galt als Musterland
des aufgeklärten Absolutismus: Deutsche Autoren wie
Lessing und Wieland überlegten nach Wien zu über­
siedeln. Bei der Bevölkerung stießen die radikalen
­Maßnahmen allerdings auf Widerstand.
Für die Literatur folgenreich war die Entscheidung, im
multiethnischen Habsburgerreich (Hoch-)Deutsch als
Staatssprache zu etablieren. Das Burgtheater wurde zum
„deutschen Nationaltheater“ erklärt, und Mozart sollte
das anspruchsvolle deutsche Singspiel etablieren. Schrift­­
steller wie Franz Christoph von Scheyb orientierten sich
noch am deutschen Sprachreformer ­Johann Christoph
Gottsched. Der bedeutendste österreichische Aufklärer
Joseph von Sonnenfels reagierte auf Kritik an den
­hiesigen Verhältnissen, die durch die jüngeren Berliner
­Aufklärer rund um Friedrich N
­ icolai geübt wurde, bereits
mit seiner eigenen moralischen Wochenschrift: Der Mann
ohne Vorurtheil nutzte die in der Aufklärung beliebte
­Figur des fremden Wilden, um die Zustände vor Ort
zu kommentieren.
Auch literarisch hatten die deutschen Aufklärer wenig
Verständnis für die Neigung der österreichischen
­Autoren zu Parodien und „Bouffonerien“ wie Franz
­Xaver ­Hubers Der blaue Esel oder die Fortführung
von Voltaires Candide in Johann Pezzls Faustin.
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2
Im Schatten
Napoleons
Nachdem Österreich 1805 dem dritten Koalitionskrieg
­gegen Napoleon beigetreten war, wurde Wien in Folge
zwei Monate lang von den Franzosen besetzt. 1809
­rüs­tete Ös­terreich neuerlich gegen Napoleon. In den
Schlach­ten am Bergisel behauptete sich der Tiroler
Volksauf­stand unter Andreas Hofer gegen die Truppen
Napoleons und ihre bayrischen Verbündeten. Ein Gedicht
des deutsch-jüdischen Schriftstellers Julius Mosen über
die Hinrichtung Andreas Hofers ist heute die Landes­
hymne Tirols. Als die Fran­z­osen Anfang Mai 1809
­neuerlich Wien erreich­­ten, leis­­tete eine Bürgerwehr
­Widerstand – mit dabei der j­unge Franz Grillparzer.
­Wenige Wochen später fügte Erzherzog Carl Napoleon
die erste Niederlage zu. „Die Donner Asperns habens
ausge­­spro­chen [...] Napoleons Waffenzauber war ge­
brochen“, ­dichtete Nikolaus Lenau später. Im Juli 1809
unter­lagen die Österreicher Napoleon bei Deutsch-
Wagram. Nach den Napoleonischen Kriegen kam es
beim Wiener K
­ on­­gress 1814/15 zur politischen Neu­
ordnung Europas. Während der Kriege entstanden viele
patriotische ­Ge­­­­dichte, am populärsten wurden Heinrich
Joseph von Collins Wehrmannslieder. Adolf Bäuerles
­Posse Die Bürger in Wien (1813) setzt sich satirisch mit
der Besetzung der Stadt aus­einander. Mit dem Paraplui­
macher Chrysostomus Staberl schuf er eine neue volks­
tüm­liche Theaterfigur. Ein Jahr später folgte mit Die
Fremden in Wien eine weitere Posse über den Haus­be­
sitzer Habersack, der als Quar­tiervermieter an Teilnehmer
des Wiener Kongresses gute G
­ eschäfte machen will.
Die Faszination Napoleons als Inbild des erfolgsorientier­
ten Machtmenschen hat immer wieder literarische Verar­
beitungen angeregt – bis hin zu Ernst Jandls Dekons­tru­k­
tion des Mythos Napoleon im Sprechgedicht ode auf N.
OG2 H5-H5.1, e5 Leuchtkasten in der Rundung, Kapiteltext KT3: 1185x338mm
3
Bewegung
im ­Stillstand:
Das Biedermeier
Nach den Napoleonischen Kriegen kam es beim Wiener
­Kongress 1814/15 zu einer politischen Neuordnung E
­ uropas.
Das Ziel war eine Wiederherstellung der Ver­hältnisse, die
vor der Französischen Revolution geherrscht hatten. Maß­
geblichen Anteil an der Umsetzung hatte Fürst M
­ etternich.
Mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 setzte er die
­Einschränkung jeglicher politischer Betätigungen durch.
­Nationale und liberale S
­ trömungen wurden rigoros
­bekämpft. Die Freiheit der Presse und der Universitäten
­wurde massiv beschnitten, eine strenge Zensur für sämtliche
Veröffentlichungen eingeführt. Das Bürgertum zog sich
ins Privat- und F
­ amilienleben zurück; Spaziergänge in der
­Natur ge­hörten zur neuen Bescheidenheit.
Das zwiespältige Lebensgefühl des Biedermeier brachte
Franz Grillparzer in seinem dramatischen Märchen Der Traum
ein ­Leben (1834 uraufgeführt) zum Ausdruck: Der Ausbruch
aus der Enge einer idyllischen Lebenswirklichkeit ist nur im
Traum möglich. Der Traum gerät zum Alptraum, am Ende
steht die Aussöhnung mit den Verhältnissen. Nikolaus Lenau
schrieb auf Deutsch, sah sich jedoch als ungarischer Autor.
Im Werk dieses bedeut­endsten österreichischen Lyrikers der
Zeit vereinen sich Pessimismus und Kritik. Sein Gedichtzyklus
Schilflieder (1832) ist getragen von einer melancholischen
Grundstimmung. ­Einen Ersatz für politische Mitsprache fand
die Bevölkerung im Theater. Besonders beliebt waren Auf­
führungen von Ferdinand Raimund und Johann Nestroy.
­Nestroy gelang es trotz der strengen Zensur, Seitenhiebe
­gegen Metternich und den Obrigkeitsstaat zu führen. Offene
Kritik am herrschenden System übte Anastasius Grün mit
dem a
­ nonym veröffentlichten Gedichtband Spaziergänge
­eines Wiener Poeten (1831). Eine Abrechnung mit seinem
Heimatland stellt auch Charles Sealsfields 1828 in London
erschien­ener fiktiver Reisebericht Austria as it is dar.
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4
Franz Grillparzer:
Schriftsteller und
Beamter
Der Schriftsteller Ferdinand Kürnberger verfasste
­wenige Tage nach Franz Grillparzers Tod im Jahr 1872
­einen Nachruf. Er warnte vor der posthumen Verein­
nahmung des Dichters: „Und das ist die Lebensmaske
Grillparzers: ausgesandt als ein flammendes Gewitter,
um die Luft Österreichs zu reinigen, zieht er über
­Österreich hin als ein naßgraues Wölkchen, am Rande
mit etwas Abendpurpur umsäumt. Und das Wölkchen
geht unter!“ – Der Melancholiker und Zweifler, der
Schriftsteller, der Machtverhältnisse, auch zwischen
­Männern und Frauen, Gewalt, individuellen Größen­wahn und nationalistische Verblendung beschrieben
­hatte, wurde zum österreichischen Klassiker: viel
gelobt und wenig gelesen.
1811 versuchte Grillparzer erstmals, eine Stelle in der
k.k. Hofbibliothek zu erlangen; der Wunschtraum,
­ ibliothekar zu werden, scheiterte aber. 1815 trat er
B
bei der Hofkammer, dem späteren Finanzministerium,
in den Staatsdienst und erhielt 1832 die Stelle eines
Hofkammer­archivdirektors. Im Revolutionsjahr 1848
­erfolgte sein Um­
­­ zug in das neue Archivgebäude, das
­heutige ­„Grill­parzerhaus“. Das Verhältnis des für eine auf­
geklärte monar­chische Ordnung eintretenden Dichters zur
Real­verfassung des Habsburgerstaates blieb zwiespältig.
­Bereits das während einer Italienreise im Jahr 1819 ent­
standene religionskritische Gedicht Campo vaccino hatte
ihn in Konflikt mit den Metternichschen Zensurbehörden
gebracht. Diese Konflikte sollten andauern. Andererseits
stellte er sich mit seinem Lobgedicht auf Feldmarschall
­Radetzky 1848 auch auf die Seite der Reaktion. Der
­Widerspruch zwischen Kunst, Politik und individueller
­Lebensführung, bereits Thema der frühen Tragödie
­Sappho (1817), beschäftigte Grillparzer ein Leben lang.
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5
1848:
Gescheiterte
Revolution
Im Jahr 1848 kam es in Europa zu revolutionären Aufständen
gegen die überkommene restaurative Ordnung. Vehement
­wurden bürgerliche Rechte eingefordert. Auch im gesamten
Habsburgerreich kam es zu Unruhen, die heftigsten fanden
in Wien statt. Angeführt von der sogenannten „Nationalgarde“,
­einer Bürgerwehr, und Studenten brach am 13. März 1848
die Revolution aus. Staatskanzler Fürst Metternich, verhasste
­Symbolfigur der Restauration, trat noch am selben Tag zurück
und floh nach England. Kaiser Ferdinand I. machte am 15. März
erste Zugeständnisse: Er versprach die Abschaffung der Zensur
und eine Staatsverfassung. Die ohne Beteiligung des Volkes
­erarbeitete Verfassung führte erneut zu Unruhen. Teile der
­Arbeiterschaft schlossen sich der Protestbewegung an.
Zu einem letzten großen Aufstand kam es im Oktober, als
­Revolutionäre den Abmarsch kaiserlicher Truppen gegen das
aufständische Ungarn zu verhindern suchten. Für kurze Zeit
brachten sie Wien in ihre Gewalt. Zuletzt wurde der ­Wider­stand jedoch von der kaiserlichen Armee gebrochen. Die
­Errungenschaften der Märzrevolution gingen nach der
­Thronbesteigung Kaiser Franz Josephs I. im Dezember
1848 fast zur Gänze verloren. Die konservativen Kräfte­
­gewannen w
­ ieder die Oberhand.
Künstler und Schriftsteller standen der Revolution gespalten
gegenüber. Während Franz Grillparzer die Entwicklung mit
Zurückhaltung beobachtete, feierte Eduard von Bauernfeld
die Abschaffung der Zensur. Seine Enttäuschung über
die weitere Entwicklung verarbeitete er in der satirischen
­Komödie Die Republik der Thiere (1848). Auch hier enden
die Ereignisse mit dem Sieg der Restauration. Eine spöt­tische Abrechnung mit den ersten Monaten der Revolution
ist Johann Nestroys Stück Freiheit in Krähwinkel, das am ­
1. Juli 1848 am Carltheater in Wien uraufgeführt wurde.
Die Bürger des kleinen Orts Krähwinkel wollen auch ihre
­Revolution haben. Diese erstickt jedoch beinahe am Provin­
zialismus. Zu einer regelrechten Familienangelegenheit wurde
das Jahr für die Komponisten Johann Strauss Vater und Sohn.
Dem Revolutions-Marsch des Jüngeren setzte der Ältere den
Radetzky-Marsch entgegen.
OG2 I9 e2: Kapiteltext KT4-1: 1120x338mm
Große literarische Stoffe wie Don Juan oder Faust stehen
in jeder Epoche für neue Deutungen zur Disposition, und
bis heute arbeiten sich Autorinnen und Autoren daran ab.
6
Don Juan
undFaust
„Wenn ich einen Faust schreiben wollte“, meinte der ­­
österreichische Schriftsteller Heinrich Joseph von Collin,
„so ­würde ich, um meinem Princip von Vermeidung der
­Trost­losig­keit getreu zu bleiben, zum Contrast die Zu­­flucht n
­ ehmen“. Collin beabsichtigte, seinem Faust keinen
­Mephisto, sondern einen gottesfürchtigen Mönch zur Sei­te
zu stellen – dieses Werk blieb allerdings ungeschrieben.
Ein Autor, der sich an beiden Stoffen versuchte, ist Nikolaus
Lenau. Sein dramatisches Gedicht Don Juan blieb unvoll­
endet. Der junge Richard Strauss nahm das Fragment 1888
zur Grund­lage seiner Tondichtung Don Juan (Op. 20). Lenaus
Faust ist als Gegenstück zu Goethe angelegt. Aus dem Mann
der Tat, der den Optimismus des aufsteigenden Bürger­tums
ver­körpert, ist ein haltloser Sinnsucher geworden, der Lenaus
Lebensgefühl und das seiner Epoche wider­spiegelt. „Dieser
Faust ist Gemeingut der Menschheit“, schrieb Lenau 1833
­seinem deutschen Kollegen Justinus Kerner.
Albert Drachs 1942 im Exil entstandene Erzählung Das
Goggel­buch verknüpft einen faustischen Pakt mit dem
Don-Juan-Stoff. Xaver Johann Gottgetreu Goggel ist Diener
gleich zweier Don Juans – er buckelt nach oben und tritt
nach u
­ nten. Ein Ritter der traurigen Gestalt ist Robert
Menasses Don Juan de la Mancha, der durch die Gegen­wart
der 1970er Jahre s­ tolpert. Elfriede Jelineks Stück FaustIn
and out, ein „Sekun­där­drama“ zu Goethes Urfaust, setzt
bei der Tragödie Gretchens an. Gretchens Kerker wird zu
­jenem Kerker, in dem der österreichische Ge­schäftsmann
­Josef Fritzl seine Tochter über Jahrzehnte missbrauchte.
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7
Imaginationen
des Fremden
Die Fremde – das sind Orte des Unvertrauten, Orte
der ­Exotik, der Projektionen und Fantasien. Die Fremden –
das sind Menschen, deren Gegenwart als unheimlich,
­be­drohlich oder auch anziehend empfunden wird. Fremde
tauchen in l­iterarischen Texten regelmäßig auf, als Außen­
seiter oder Eindringlinge, aber auch als Ver­körperung der
Wünsche nach dem ganz Anderen, nach dem Neuen. Wer
als Fremder ­dar­gestellt und wahrgenommen wird, hängt
stark von den historischen, politischen und ­kulturellen
­Zusammenhängen ab.
In der österreichisch-ungarischen Monarchie waren es
immer wieder die Grenzgebiete – allen voran Galizien und
die Bukowina – und ihre Bewohnerinnen und Bewohner,
die als prototypische Fremde dargestellt wurden: sei es bei
Karl Emil Franzos unter dem bezeichnenden Titel Halb-Asien,
sei es in Joseph Roths Reportagen und in seinen Romanen
wie Radetzkymarsch. Nicht zuletzt ist das sogenannte
­„Kron­prinzenwerk“ auch eine Sammlung ethnografischer
­Dar­stellungen zum „wilden Osten“, der zwar Teil der
­Monarchie war, aber dessen Bevölkerung durch Aussehen,
Kleidung und Tradition von den herrschenden Gesellschafts­
schichten unterschieden wurde.
Der Balkan war und ist ein Imaginationsraum, der eng mit der
Geschichte und Literatur Österreichs verbunden ist. D
­ imitré
Dinev ist ein Beispiel für die Literatur von Autorinnen und
­Autoren, die aus einer slawischen in die deutsche S
­ prache
eingewandert sind und die sich auch mit der G
­ eschichte des
Donauraumes in literarischer Form auseinandersetzen. Sein
Epochen- und Familienroman Engelszungen (2003) ist ­dafür
ein herausragendes Beispiel; er verwebt die individuelle mit
der kollektiven Geschichte und füllt den Imaginationsraum
Balkan mit Geschichten und Figuren.
OG2 H10, e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
8
Adalbert Stifter
Adalbert Stifter, der andere österreichische Klassiker
neben Franz Grillparzer, war dem 19. Jahrhundert
­voraus, ohne beim Publikum des 20. Jahrhunderts
­jemals recht angekommen zu sein. Das liegt an der
­ästhetischen Radikalität dieses Schriftstellers und
­Malers. Seine viele hundert Seiten lange Bildungs­
geschichte Der Nachsommer (1857) – sie wird als
­„Erzählung“ bezeichnet – oder auch der im böhm­ischen
Mittelalter spielende ausufernde Roman Witiko
(1865–1867) fordern Leserinnen und Lesern einiges
ab. Sie werden für ihre Ausdauer mit einer Prosa
belohnt, die auf Thomas Bernhards Radikalkritik
vorausweist und in ihrer Beobachtungs­genauigkeit
ihresgleichen sucht. Ein Beispiel ist die Beschreibung
des hier im Modell nachgebauten „Rosenhauses“,
von dem alle Wege im Nachsommer wegführen
und auf das sie auch wieder hinführen.
Dass Stifter schwer zu fassen ist, liegt auch an der
Konstruktion einer Weltordnung, die völlig unberührt
scheint von den sozialen und gesellschaftlichen Zu­
mutungen der industriellen Revolution. Stifter stand
immer schon unter dem Verdacht, ein unpolitischer
Autor zu sein, eher ins Biedermeier gehörend als in eine
„realistische“ Epoche. In den späten Texten sind die
glücklichen Verhältnisse allerdings auf eine so obsessive
Weise in die Erzählungen eingebaut, dass sich bei der
Lektüre Misstrauen breit macht: So viel Gutes kann nicht
sein. Doch gibt es im Werk auch vielfältige Zeichen einer
gestörten oder einer ungreifbaren Ordnung – wie die
ungeheure Erschütterung, die die Sonnenfinsternis vom
8. Juli 1842 auslöste. Bei Stifter stecken der Schrecken
und das Erstaunen vor der Gleichgültigkeit der Natur­
gesetze ebenso tief wie der Schrecken vor der Gewalt
historischer Prozesse.
OG2 G10 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
9
Auf Reisen
Im Alter von 44 Jahren packte die Wienerin Ida
Pfeiffer die Reiselust, die sie bis zu ihrem Tod 1858
nicht mehr loslassen sollte. Nach ihrer letzten gefähr­
lichen Unternehmung in das kaum bekannte Madagaskar
starb sie an den Spätfolgen einer Malariainfektion. Ihre
im 19. Jahrhundert sehr beliebten Reiseberichte sind
­eindrucksvolle Schilderungen einer Frau, die allein und
mit wenig Geld rund 300.000 Kilometer zurücklegte
und in zum Teil schwer zugängliche Gebiete gelangte.
Sie liefern e
­ thnografische Fallstudien und geben Auf­
schluss über den Blick einer europäisch und bürgerlich
ge­prägten R
­ eisenden auf „fremde“ Menschen und
Länder. Ida ­Pfeiffer ­erweiterte die Sammlungen des
­Natur­his­torischen und des Völkerkundlichen Museums
in Wien um zahlreiche und bemerkenswerte Exponate,
allein im N
­ aturhistorischen Museum sind mehr als
4200 verzeichnet.
Alice Schalek hielt ihre Eindrücke nicht nur in Reisefeuille­
tons für die „Neue Freie Presse“ und in Büchern wie Indien­
bummel (1912) oder An den Höfen der Maharadschas (1929)
fest, sondern auch auf über 6000 Fotografien. Vom Beginn
des Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre reiste sie ebenfalls
um die ganze Welt und setzte sich in ihren Reportagen nach
dem Ersten Weltkrieg vor allem mit der Situation der F
­ rauen
und mit sozialen und politischen Veränderungen in den
­jeweiligen Ländern auseinander.
An den Texten beider Autorinnen lassen sich zentrale
­Aspekte von Reiseliteratur zeigen: die Neugier nach
­Unbekanntem sowie die Auseinandersetzung mit Fremd­
heits­­erfahrungen und die Begegnung mit unterschiedlichen
Wertesystemen. Dabei wird immer auch das Verhältnis
zwischen Europa und den kolonialisierten Ländern
­thematisiert.
OG2 G8 e2: Kapiteltext KT4-1: 1120x338mm
10
Über die Alpen –
Kyselak
Der Beamte, Wanderer und Alpinist Joseph Kyselak
gilt als einer der ersten Graffiti-Künstler. Dass es ihm
­gelang, während einer Audienz beim Kaiser seinen
­Namen auf dessen Schreibtisch zu verewigen, bleibt
eine Anekdote ohne Beleg. Sie macht jedoch a
­ ugen­scheinlich, weshalb Kyselak Gegenstand zahl­reicher
­Legenden, Anek­doten und Karikaturen, aber auch
eines avantgardistischen T
­ extes von Gerhard Rühm
und K
­ onrad Bayer wurde.
Der „kleine Wiener Steuerbeamte“, der als Akzessist
bei der k.k. allgemeinen Hofkammer tätig war, wollte
seinen Namen unbedingt berühmt machen: „Wäre er ein
großer Wiener Beamter gewesen, so hätte er zu diesem
Behufe sicherlich einen Weltkrieg anzuzetteln versucht.
Da er aber eben nur ein kleiner Wiener Beamter war,
so mußte er sich damit begnügen, seinen Namen auf
alle Felsgipfel, auf alle Festungswälle und auf alle Abort­­wände zu schmieren“ – so der rasende Reporter Egon
­Erwin Kisch. Von „schmieren“ kann allerdings keine Rede
sein, vielmehr ist an Kyselaks Schriftzügen die Sorgfalt
seiner typografischen Gestalt auffällig.
Kyselak hinterließ aber nicht nur seinen Schriftzug an
Felswänden und Mauern von Burgen, Ruinen und Kirchen
(18 dieser Signaturen sind erhalten und dokumentiert),
sondern auch eine ausführliche Beschreibung seiner 1825
unternommenen Fußreise durch das heutige Österreich
und Bayern. Dieser Reisebericht stellt für zahlreiche der
teils abgelegenen Orte die erste touristische Beschrei­
bung dar. Er steht prototypisch für eine Vielzahl an
Alpen­texten: von Ulrich Bechers Murmeljagd (1969)
über Werner Koflers Der Hirt auf dem Felsen (1991)
bis zu Martin Prinz' Über die Alpen (2010).
OG2 H7 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
11
Das Dorf
Das Spektrum literarischer Inszenierungen des Dorfes reicht
von der Idylle bis zur Satire. Das Dorf ist Austragungsort
ideologischer wie ästhetischer Auseinandersetzungen und
wird aus den unterschiedlichsten Perspektiven dargestellt.
Die adelige Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach
lässt viele ihrer Erzählungen im ländlichen Raum spielen:
Modernisierung und soziale Gegensätze z­ eigen das Dorf
im Umbruch. Der Bregenzerwälder Bauer Franz Michael
Felder wird durch sein nächte- und winterlanges intensives
Lesen zum Sozialreformer und Schriftsteller. Der Abonnent
in- und ausländischer Zeitungen findet in seinem Herkunfts­
dorf Schoppernau einige wenige Gleichgesinnte und mit
dem Leipziger Germanisten und Pädagogen Rudolf
­Hildebrand einen wichtigen Förderer in Deutschland. Das Dorf wurde bei einem Autor wie Karl Heinrich W
­ aggerl
zum Gegenpol der modernen, technisierten Großstadt –
zum Schauplatz eines antimodernen Programms,
in ­dessen Mittelpunkt Naturverbundenheit und das
Phantasma der Unberührtheit und zivilisatorischen­
­Unschuld standen. Ein Roman wie Brot (1930) ließ
sich sowohl in die austrofaschistische Propaganda
als auch in die nationalsozialistische Blut-und-BodenIdeologie einfügen. Dem stehen nach dem Zweiten
­Weltkrieg e
­ xperimentelle Darstellungen wie jene Ernst
Jandls oder radikal andere, negative „Heimatromane“
wie ­Thomas Bernhards Frost (1963) und Josef Winklers
­Trilogie Das wilde Kärnten (1979–1982) gegenüber.
Das Individuum ist Gefangener der beengten Ver­hält­nisse ­eines katholisch geprägten Landlebens.
Norbert G
­ strein und Felix Mitterer wiederum setzen
sich mit den einschneidenden Auswirkungen des
Massen­tourismus auf die dörflichen Strukturen
­auseinander.
OG2 F8 e2: Kapiteltext KT4-1: 1120x 338mm
Seit der Romantik organisierten Frauen der Oberschicht
­in­tellektuelle Zirkel, die als Kommunikationsforen fungier­­ten
und Möglichkeiten zu informellen Kontakten boten.
12
Netzwerke –
Der Salon
Während des Wiener Kongresses war Fanny von Arnsteins
Palais ein derartiger Treffpunkt. Karoline Pichler führte den
Salon ihrer Mutter Charlotte von Greiner fort, in dem Größen
der Aufklärung wie Aloys Blumauer, Joseph von Sonnenfels
oder Ignaz von Born zu Gast ­gewesen waren. Bei Pichler
­verkehrten dann Ferdinand Raimund, Joseph Schreyvogel
oder Franz Grillparzer; ihr Haus war Begegnungsort der
deutschen ­Romantiker in Wien und Anlaufstelle für Durch­
reisen­de wie die französische Schrift­stellerin Madame de
Staël. In der Ringstraßenzeit wurde die Villa Josefine von
Wert­heim­steins und ihrer Tochter Franziska ein künstlerisches
Zentrum; hier lasen Betty Paoli und Ferdinand von Saar ihre
Texte vor wie auch der junge Hugo von Hofmannsthal.
Bertha Zuckerkandl verfasste im algerischen Exil ihre Er­­­­
in­nerungen in Form eines Telefonprotokolls mit F
­ reunden,
zu denen Gustav Klimt, Otto Wagner oder Arthur Schnitzler
gehörten. In ihrem Salon lernte Alma Schindler 1901 ihren
späteren Ehemann Gustav Mahler kennen; die Wiener Villa
Alma Mahler-Werfels wurde dann ebenso ein Kontakt­
zentrum wie ihr Sommersitz süd­lich von Wien.
An Eugenie Schwarzwalds Schule, dem ersten Mädchen­
gym­nasium Österreichs, unterrichteten Künstler wie ­Oskar
Kokoschka, Adolf Loos und Arnold Schönberg, die auch im
Salon der Pädagogin ver­kehrten. Sie organisierte 1935 die
erste L
­ esung Elias Canettis und unterstützte Robert Musil,
der sie im Mann ohne Eigen­schaften in der Figur Ermelinda
Tuzzis karikierte. Hilde Spiel, Absolventin der Schwarz­
waldschule, führte nach ihrer Rück­kehr aus dem Exil die
Tradi­tion des literarischen Salons fort.
OG1 ED9, e2 Kapiteltext Regalhaupt lang: 1347x439mm
13
Wien:
Wege in die Moderne
„Wien um 1900“ – diese schlagkräftige Formel wurde zur ­­
Signa­tur e
­ iner Epoche. In den Jahren zwischen 1870 und dem
Ersten W
­ eltkrieg vollzogen sich fundamentale Umwälzungen. Sie ­
be­trafen g
­ leichermaßen Lebensverhältnisse, Weltanschauungen
und G
­ laubenssätze. Die massenhafte Errichtung von Arbeiter-­
Zins­häusern in den Vorstädten und der architektonische Prunk
der neu ange­legten Ringstraße im Zentrum waren der für alle
­sichtbare Ausdruck der wirtschaftlichen und politischen Verände­
rungen. H
­ ermann Bahrs U
­ rteil zu den historistischen Stilbrüchen
der Ringstraßen-­Architektur ist eine Mischung aus Bewunderung
und vernichtender Kritik: Die gesamte abendländische Kunst sei
hier „nichts als ein ungeheurer Steinbruch von Motiven“ – „keine
Null ist je mit ­solcher fruchtbarer Fülle gesegnet, niemals Nichts­
sagendes von einer so hinreißenden Beredsamkeit gewesen“.
Die Kunst musste angesichts der Erkenntnisse der Naturwissen­
schaften und der sich beschleunigenden gesellschaftlichen
­ ntwicklungen veraltet erscheinen. Ihre vielzitierte Krise rührte
E
von den Erschütterungen an ihrer Basis her: Tradition, Religion,
die Sicherheiten bürgerlichen Lebens und die Geschlechter­
verhältnisse – alles stand zur Disposition. Ein gesteigertes
­Krisenbewusstsein trieb die kulturellen Leistungen der Wiener
Moderne hervor. Diese sind um vieles weniger einheitlich als
die Epochenbegriffe suggerieren. Gemeinsam ist ihnen eine
­Konzentration auf Fragen der Wahrnehmung: Wie ich die Welt
sehe, mit der Betonung auf „sehe“, ist eine Sammlung von
­Prosaskizzen Peter Altenbergs ü
­ bertitelt. Das Sichtbare liegt
­einerseits ganz an der Oberfläche der Dinge, zum anderen
liegt es ver­borgen in der Traumwirklichkeit und wurde ver­schüttet von s­ prachlichen und gesellschaftlichen Konventionen.
Die künstlerische Subjektivität und Sensibilität soll es mit ganz
neuen Mitteln, mit unverbrauchten Bildern und Worten im
und durch das Kunstwerk zeigen.
OG2 CB9, e2 Kapiteltext Regalhaupt lang: 1347x439mm
14
Die vielsprachige
M
­ etropole Wien
Als Zentrum eines vielsprachigen und multiethnischen Reiches
zog Wien Zuwanderer aus allen Regionen und allen sozialen
­Schichten an. Um 1900 stammte etwa ein Drittel der 1,6 Millionen
in Wien l­ebenden Menschen aus nicht deutschsprachigen Regionen
der ­österreichisch-ungarischen Monarchie, allein aus Böhmen und
­Mähren waren es 410.000. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahr­
hunderts kamen auch immer mehr Schriftstellerinnen und Schrift­
steller in die Haupt- und Residenzstadt, deren Erstsprache nicht
Deutsch war. Sie spielten wichtige Rollen in den kulturellen
­Transferbeziehungen, die zu einer anhaltenden Verflechtung
Wiens mit den „Provinzen“ der Monarchie führten.
In Wien entstanden zahlreiche Texte in anderen Sprachen,
darunter so bedeutsame wie das Manifest ceské moderny
(1895). Autoren wie Ivan Cankar porträtierten die Stadt und
ihre M
­ enschen, etwa in Hiša Marije Pomocnice (1904, deutsch:
Das Haus zu Mariahilf). Gemeinsam mit Oton Župancic, der
in Wien s­ tudierte, gilt Cankar als Begründer der modernen
slowenischen Literatur. Mit der 1898 in Wien von Studenten ins
Leben gerufenen Zeitschrift „Mladost“ („Jugend“) setzte außerdem
eine ­kroatische ­Moderne ein. Der in Lemberg geborene Tadeusz
Rittner schrieb sowohl auf Deutsch als auch auf Polnisch und
berichtete in seiner Kolumne in der Krakauer Tageszeitung „Czas“
(„Die Zeit“) einem polnischsprachigen Publikum aus dem Wiener
­Kultur- und Alltagsleben. Mit Za štestím (1894, deutsch: Dem
Glück nach) ­erzählte der g
­ rößten­teils in Pilsen/Plzen lebende
Karel Klostermann „aus dem Leben der Wiener Böhmen“, wie
es im ­Untertitel heißt. Klostermann hatte seine ersten Texte noch
auf Deutsch ­geschrieben ­(Böhmerwaldskizzen, 1890), bevor er
­Tschechisch als Literatur­sprache wählte. Seine Hauptfiguren ­
blieben aber w
­ eiterhin Deutschsprachige. Auch heute leben und
arbeiten in Wien viele zwei- und mehrsprachige Autorinnen und
­Autoren: von Julya R
­ abinowich und Semier Insayif über Radek
Knapp und Vladimir Vertlib bis zu Seher Çakır und Dimitré Dinev.
OG2 A8, e2 Kapiteltext KT2: 1455x338mm
15
Letzte Tage
der Menschheit:
Der Erste Weltkrieg
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges erwies sich für
die Schriftstellerinnen und Schriftsteller des österrei­
chischen Vielvölker­staates als Prüfstein der eigenen
­intellektuellen und künst­ler­ischen Positionen. Viele
­hatten das Gefühl, mit dem Krieg aus einer Phase der
Dekadenz und der U
­ nentschiedenheit herausgetreten
zu sein: „Der Staat, d
­ essen Unglück es war, seinen
­historischen Schwerpunkt verloren und e
­ inen neuen
noch nicht definitiv g
­ efunden zu haben, ist für die
­Dauer der weltge­schicht­lichen Krise dieser Sorge
­enthoben“ – so f­or­mulierte es Hugo von Hofmannsthal
in einem Beitrag aus dem Jahr 1914 mit dem Titel Die
­Bejahung Österreichs. Die von ihm herausgegebene
Österrei­chische Bibliothek – sie erschien zwischen
1915 und 1917 in insgesamt 26 Bänden – sollte dem
Konzept e
­ iner über­nationalen, wiewohl (deutsch-) „österrei­chischen Idee“ eine geistige Basis verschaffen.
In der „literarischen Gruppe“ des „k.u.k. Kriegsarchivs“
versammelte sich eine Reihe der bedeutendsten
­österreichischen Schriftsteller – von Stefan Zweig
über Alfred Polgar und Felix Salten bis hin zu Rainer
Maria Rilke; Hugo von Hofmannsthal arbeitete im
­Pressebüro des „Kriegsfürsorgeamtes“, andere im
„Kriegspressequartier“.
Die publizistische Produktion Aus der Werkstatt des
Krieges, wie ein Sammelband des Kriegsarchivs hieß,
provozierte den Spott des „Fackel“-Herausgebers
Karl Kraus. Sein einem „Marstheater“ zugedachtes
Stück Die letzten Tage der Menschheit nimmt eine
­solitäre Stellung ein. Klarsichtiger und illusionsloser
Kriegs­gegner von Anbeginn an, ist Kraus' vielstimmige
Satire eine unerbittliche Abrechnung mit den Ver­ant­
wort­lichen der Tragödie. Hier zeigt die missbrauchte
­ prache ihr w
S
­ ahres Gesicht: „Phrasen stehen auf
zwei Beinen – Menschen behielten nur eines.“
Georg Trakls letzte Gedichte Klage ( II ) und Grodek
­entstanden, kurz bevor er am 3. November 1914 in
der ­Psychiatrischen Abteilung des Garnisonsspitals
in ­Krakau starb. Trakl hatte im September 1914
eine der verlustreichsten Schlachten des Ersten
­Weltkrieges in Grodek bei Lemberg als Teil einer
­Sanitätskolonne ­miterlebt – verzweifelt und hilflos
angesichts des ­massenhaften Sterbens.
OG2 B8 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
16
Prag – Wien
„Den Deutschen will ich setzen euch in Pelz, / Der soll euch­knei­­­­
pen, bis euch Schmerz und Ärger / Aus eurer Dumpfheit we­
cken, und ihr ausschlagt / wie ein gesporntes Pferd.“ Diese an
die Be­wohner der Prager Kleinseite gerichtete Drohung Otto­
kars aus Franz Grillparzers historischem Drama König Ottokars
Glück und Ende (entstanden 1823) trug nicht zu dessen Beliebt­
heit bei den böhmischen Landsleuten bei. Mit der Niederschla­
gung des tschechischen Aufstands durch Fürst Windischgrätz
im Juni 1848 in Prag ging der Traum vom tschechisch-deut­
schen Aus­gleich in Trümmer, der tschechische Na­tion­alismus
nahm zu­sehends militantere Züge an. Die Stud­en­ten auf beiden
Seiten o
­ rganisierten sich in Geheim­bünden und Burschenschaf­
ten, d
­ enen liberale Lese- und Rede­hallen gegenüberstanden,
die auch von Max Brod und Franz Kafka besucht wurden.
Aus einer überwiegend deutschen wurde eine nahezu rein
tschechische Stadt. Die Deutschsprechenden bildeten eine
Minderheit von etwa 32.000 Personen, mehr als die Hälfte
von ihnen Juden. Im Zentrum Prags wurde fast nur deutsch
gesprochen, in der übrigen Stadt ausschließlich tschech­isch.
Die insuläre Lage befestigte die Eigenart des Prager Deutsch
als dialektfreies, wortarmes Schriftdeutsch, vergleichbar nur
mit dem Laibacher Deutsch. Während J­ ohannes Urzidil die
durch die Reinheit bewirkte Isolation l­obte, klagte Rilke,
­entweder „Kuchelböhmisch“ oder „Kuchel­deutsch“ sprechen
zu müssen. Der Sprachphilosoph Fritz Mauthner wurde durch
das Nebeneinander von Deutsch, Tschechisch und Jiddisch
in Prag zu seinen F
­ orschungen angeregt. Seine Schriften
­übten großen Einfluss auf die österreichische Literatur der
Jahr­hundertwende aus. Trotzdem oder gerade weil Prag
der Brennpunkt nationaler, sozialer und religiöser K
­ onflikte
­innerhalb der Monarchie war, entwickelte sich hier eine
deutsch-jüdische Literatur von Weltgeltung.
OG2 A4 e2 Kapiteltext KT7: 995x338mm
Zu den Merkmalen der österreichischen Literatur
zählt die enge Verbindung zwischen Text, Bild und
Musik. Insbesondere der Expressionismus ist stark
geprägt von Doppelbegabungen wie Albert Paris
Gütersloh oder Oskar Kokoschka. Dies trifft später
etwa auch auf Gerhard Rühm zu, einen begeisterten
Entdecker expressionistischer Texte und Proponen­
ten der Avantgarde-Bewegung ab den 1950er Jahren.
17
Expressionismus
und Avantgarde
Wortneufindungen, eine Verknappung der Sprache
und ein direktes Ansprechen des Hässlichen und
­Tabuisierten in verdichteten Bildern l­assen sich als
Elemente einer expressionistischen Formensprache
benennen. Texte wie Albert E
­ hren­steins Tubutsch
(1911) reagierten mit ihrer M
­ ischung aus Fin-de-­
siècle-Melancholie, Verzweiflung und ­satirischer
Schärfe ­seismografisch auf die ­Stimmungs­lage
in den Jahren vor dem „
­ Großen Krieg“. Einige Jahre
­später wird der Tonfall poli­tischer, das „O M
­ ensch“Pathos, wie es vor allem Franz Werfel anschlug, wich
einer politisch-aktion­is­tischen Haltung. Der vaga­­bun­dierende Dichter Hugo Sonnenschein („Bruder
Sonka“) machte mit Leo ­Trotzkis Konzept einer perma­­nen­ten Revo­lution in der e
­ igenen L
­ ebenspraxis Ernst.
Wichtigste Publikationsorte waren oft nur kurzlebige
Zeitschriften, die vor allem in der Umbruchszeit nach
1918 gegründet wurden. Psychoanalyse, Marxis­mus,
Tanztherapie, aktivistische Politik und Kunst machten
diese Jahre zu einem Experimentierlabor der Ideen
und künstlerischen Ausdrucksformen. Anfang der
1920er Jahre machte Dada Urlaub in Tirol. Wien
­wurde zum Exil für die ungarische Avantgarde,
­Architektur und Film zu wichtigen Impulsgebern.
OG2 B4 e2: Kapiteltext KT7: 995x338mm
Franz Kafka entstammte einer jüdischen Kaufmanns­
familie, die als Teil der deutschsprachigen Minderheit
in Prag lebte. Die dichten und anspiel­ungs­reichen
­Texte, die der Autor aus seiner Lebens­situa­tion her­aus
schuf, gehören heute zum Kanon der Welt­literatur.
Das Eigenschaftswort „kafkaesk“ hat Ein­gang in
den Duden gefunden. Auch in zahlreichen a
­ n­deren
Sprachen wird der Ausdruck verwendet, um darauf
hinzuweisen, dass an der modernen Wirklichkeit
­etwas in unergründ­licher Weise bedrohlich scheint.
18
Franz Kafka
Kafkas Werk ist mit den zentralen Themen des
20. Jahrhunderts verbunden. Seinen Erzählungen
­haftet etwas Rätselhaftes an. In Die Verwandlung
(entstanden 1912) erwacht die Hauptfigur Gregor
Samsa eines Tages in Gestalt eines monströsen
­Ungeziefers. Die Erzählung In der Strafkolonie
(­entstanden 1914) beschreibt, wie eine altertümliche
Maschine dem ­Delinquenten das Urteil in den Rücken
ritzt und ihn dabei tötet.
Die meisten Texte wurden erst nach Kafkas Tod von
seinem Freund, dem Schriftsteller Max Brod, heraus­
gegeben. Darunter auch das berühmte Romanfrag­
ment Der Process (entstanden 1914/15). Die Haupt­
figur des Buches, Josef K., gerät in die Mühlen der
Justiz, ohne je über seine Schuld aufgeklärt zu w
­ erden.
Die Schilderung der bürokratischen Apparate nimmt
teilweise slapstickartige Züge an. Am Ende stirbt
­Josef K. ohne eine Möglichkeit zur V
­ erteidigung oder
Gegenwehr. In Kafkas Tage­büchern und Briefen ver­
mitteln sich Einblicke in die von Schreibhemmungen
und Selbstzweifeln geprägten Antriebe seines
­Schreibens.
OG1 A1 e2: Kapiteltext KT2: 1455x338mm
19
1918: ­
Phantomschmerz und
Habsburgermythos
Ende 1918 kommt es unter dem Vorsitz des Sozial­
demokraten Karl Renner zur Bildung der ersten
­deutsch­österreichischen Regierung. Nach dem ver­
lorenen Krieg herrschen Hunger und Wohnungsnot,
hunderttausende Soldaten kehren desillusioniert und
ohne Perspektive von den Fronten heim. Die Inflation
entwertete das Geld, der Zusammenbruch erzeugte
eine tiefgreifende politische und ideelle Krise. Joseph
Roth, dessen Werk wie kein anderes als literarische
Verlustanzeige der Monarchie gelesen wird, beendete
seinen Roman Die Flucht ohne Ende (1927) über einen
Kriegsheimkehrer mit den Sätzen: „Er hatte keinen
­Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen
Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig
wie er war niemand in der Welt.“ Auf ganz andere
­Weise überflüssig fühlt sich der feinsinnige Graf
Hans Karl Bühl (Kari) in Hugo von Hofmannsthals
Gesellschafts­komödie Der Schwierige (1921); er ist
die Verkörperung von altösterreichischer Noblesse
und zugleich Ent­scheidungsschwäche.
Der Begriff „Habsburgermythos“ stammt vom
­ita­lienischen Germanisten und Schriftsteller Claudio
Magris. Er wurde zur einprägsamen Chiffre für die
­unterschiedlichen literarischen Bearbeitungen jenes
­immateriellen Erbes, das nach 1918 in unzähligen,
oft klischeehaften und stereotypen Bildern,
­Er­zählungen oder Erinnerungen kursierte. Franz
Theodor Csokors als „Requiem für Altösterreich“
­bezeichnetes Stück 3. November 1918 (1936)
stellt am Beispiel einer Gruppe österreichischer
­Offi­ziere, die die verschiedenen Völker der Mo­narchie
­repräsentieren, den Zerfall des alten Reiches und
­seiner Armee dar. Heimito von Doderers großer
­ oman Die Strudlhofstiege (1951) spielt im Wien der
R
Jahre 1910/11 und 1923 bis 1925. Das entscheidende
­Datum 1918 bleibt eine Leerstelle. Über die politische
Bruchlinie hinweg suggeriert der Roman eine Konti­
nuität im Alltag und Erleben. Fritz von H
­ erzmanovskyOrlandos literarischer Kosmos wird bevölkert vom
­liebenswerten, vertrottelten, genialen, berechnenden
und herzensguten Personal einer M
­ onarchie, die
längst in ein Traumreich entrückt ist.
OG1 B5, e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
20
Arbeiterbewegung
Literatur und Kunst hatten für die Arbeiterbewegung
­einen hohen Stellenwert: Sie sollten zu einer um­
fassenden Bildung der arbeitenden Klasse beitragen
und der Verbreitung sozialistischer Ideen dienen. So
wurde im „Roten Wien“ der 1920er Jahre das Netz
der Städtischen Büchereien erweitert, um für möglichst
alle Schichten und Altersstufen einen Zugang zu
­Büchern zu schaffen. Die sozialdemokratische Kunst­
stelle o
­ rganisierte die der Hochkultur verpflichteten
­Arbeitersymphoniekonzerte und sorgte für verbilligte
Theaterkarten. Arbeiterlieder und Arbeiterchöre
­gehörten zum fixen Bestand der präzise choreo­
grafierten Aufmärsche und Massenveranstaltungen.
Sinnbild für den sozialen Fortschritt waren die
­zahl­­reichen Gemeindebauten. Josef Luitpold Stern,
Leiter der sozialdemokratischen Bildungszentrale
und V
­ erfasser von Gedichten, und der Künstler
Otto Rudolf Schatz f­ eierten den sozialen Wohnbau
in ihrem Buch Die Neue Stadt (1926). Alfons Petzolds
Das rauhe Leben (1920) oder Adelheid Popps Kindheits­
erinnerungen Die ­Jugendgeschichte einer Arbeiterin,
von ihr selbst e
­ rzählt (1909) gehören zu einer Reihe
von auto­bio­grafischen Texten, die Armut im Wien
um 1900 ­eindrücklich darstellten und Wege aus dem
Elend ­aufzeigten. Auch in der Kinder- und Jugend­
literatur fand die soziale Frage ihren Niederschlag,
etwa in Hermynia Zur Mühlens proletarischem Märchen
Was ­Peterchens Freunde erzählen (1921), illustriert
von G
­ eorge Grosz. Darin erzählen Alltagsgegenstände
wie die Streichholzschachtel, der Eisentopf und die
­Bettdecke ihre „Lebensgeschichten“ und damit auch
von den sozialen Verhältnissen der Arbeiterschaft.
OG1 A4 e4: Kapiteltext KT3: 1185x 338mm
21
Robert Musil:
„Der
Mann ohne
Eigenschaften“
In dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil
wird der Unter­gang des alten Österreichs dargestellt, gespiegelt in
einer Vielzahl von F
­ iguren und in einer Form, die der essayistischen
­Betrachtung gegenüber dem pur­Faktischen oft ein Übergewicht
gibt. Die Hauptfigur des Buches ist Ulrich, der titel­gebende Mann
ohne Eigenschaften. Dem „Wirklichkeitssinn“ stellt er in der Betrach­
tung der Welt einen „Möglichkeitssinn“ zur Seite. Im August 1913
­beschließt Ulrich, sich ein Jahr „Urlaub vom Leben“ zu­nehmen. In
­ironischer Distanz betrachtet er die Vorbereitungen zum 70-jährigen
Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph, das 1918 gefeiert werden
soll. Da im gleichen Jahr der deutsche Kaiser Wilhelm II. sein
dreißigs­tes Regierungsjahr vollendet, bezeichnet sich der Kreis,
der die ­komplizierte Planung übernommen hat, als „Parallelaktion“.
Musil hat mit der Arbeit an dem Buch im Jahr 1921 begonnen und
an ihm bis zu seinem Tod im Genfer Exil geschrieben. Ein erster
Plan des damals noch als „
­ Spion“-Projekt bezeichneten Vorhabens
bestand darin, mit literarischen Mitteln die Gründe für den Aus­
bruch des Ersten Weltkrieges zu erforschen. Z
­ usehends wurde
­dieser Ansatz allerdings von der Notwendigkeit ­einer Reak­tion auf
die n
­ euen zeitgeschichtlichen Entwicklungen überlagert. Die ersten
beiden Bände des Mann ohne Eigenschaften erschienen in den
­Jahren 1930 und 1932 in Deutschland. Aus dem Nachlass Musils
gab Adolf Frisé dann 1943 in Lausanne den dritten Band heraus.
Die kaiserlich-königliche österreichisch-ungarische Monarchie
­bezeichnet M
­ usil in seinem Buch als Kakanien. Auch mit der Hof­
bibliothek (heute: Österreichische Nationalbibliothek) und der in
ihr verankerten geistigen Ordnung setzt sich der Autor in einem
­eigenen Kapitel auseinander. Die Werkmaterialien zu beiden
­Abschnitten, d
­ arunter auch Zeitungsausschnitte, auf die sich Musil
meist indirekt bezog, zeigen die Arbeitsweise des Schriftstellers
und die Orientier­ungs­systeme, die er verwendete, um sich in den
mehr als 5000 Manus­­­kript­blättern zurechtzufinden.
OG1 A6 e4: Kapiteltext KT3: 1185x338mm
22
Neues Volksstück:
„Geschichten aus
dem Wiener Wald“
Der österreichisch-ungarische Autor Ödön von Horváth
ließ die Tradition des Volksstückes in neuer Form wieder
­aufleben. 1931 wurde in Berlin sein berühmtestes Stück,
­Geschichten aus dem Wiener Wald, uraufgeführt. In ihm
zeigt der Schriftsteller das kurze Glück und den langen Fall
von M
­ arianne. Das Mädel aus Wien verlässt ihren behäbigen
­Verlobten, den Fleischermeister Oskar, und brennt mit einem
Hallodri namens Alfred durch. Dieser Mann bietet ihr und
dem ­gemeinsamen Kind jedoch keine Zukunft. Marianne
gerät ins Rotlichtmilieu und wird zwischenzeitlich von ihrem
Vater, dem Inhaber eines Zaubergeschäfts, verstoßen. Am
Ende ist die junge Frau wieder dort, wo sie am Anfang war.
„Zu einem heutigen Volksstück gehören heutige Menschen“,
meinte Horváth einmal. In seinen Stücken wird eine b
­ eson­dere Form des Bildungsjargons wirksam. Die Figuren greifen
Zitate aus Bibel, Dichtung oder Alltagsweisheiten auf und
verkehren deren Sinn in ihr Gegenteil. Am Ende des Stückes
fixiert Oskar das Schicksal von Marianne mit einem Satz:
„Ich habe dir mal gesagt, Mariann, du wirst meiner Liebe
nicht ­entgehn –“. In einer Synthese aus Ernst und Ironie
­ent­wickelt der Autor neue theatralische Formen, die mit
dem tradi­tionellen Volksstück nichts mehr zu tun haben.
In den 1970er Jahren setzten Schriftsteller wie Peter Turrini
und Felix Mitterer, später auch Werner Schwab diese Be­
strebungen fort. Auch hier steht die Form des Volksstückes
nicht für eine u
­ nreflektierte Heimatkunst, sondern für eine
Tendenz ­radikaler literarischer Aufklärung.
OG1 B7 e5: Kapiteltext KT4: 1095x 338mm
23
Genauigkeit
und Seele
Der „Wiener Kreis“ war eine international bedeutsame Gruppierung von Philosophen, Wissenschafts­­theo­­re­tikern, Mathematikern und Nationalökonomen.
Unter Führung von Moritz Schlick traf sich die Gruppe
ab 1922 regel­mäßig in Wien. Die meisten Mitglieder ver­
ließen mit wachsendem Einfluss der Nationalsozialisten
das Land. Nach­dem Schlick am 22. Juni 1936 auf der
Philo­sophen­stiege der Universität Wien von einem
­ehe­maligen Studenten erschossen worden war,
endeten die Treffen.
Der philosophische Ansatz des Wiener Kreises wird als
„Logischer Empirismus“ bezeichnet. Das Haupt­anliegen
war es, alle Bereiche wissenschaftlicher Tätigkeit auf
­exakte Begriffe und methodische Genauigkeit zu grün­
den. Die analytische Philosophie Ludwig Wittgensteins
prägte den Ansatz entscheidend mit.
Auf die österreichische Literatur übten Wittgenstein
und der Wiener Kreis einen unmittelbaren und lange
an­halt­en­den Einfluss aus. In Roberts Musils Mann ohne
­Eigen­schaften sieht Ulrich die Welt in einen rationalen
und ­einen emotionalen Teil auseinanderfallen. Zur ­­­­Be­sei­tigung des Widerspruchs schlägt er – ironisch – die
Einrichtung eines „Erdensekre­ta­riats für Genauigkeit
und Seele“ vor. Rudolf Brunngraber nutzte in seinem
­Roman Karl und das 20. Jahrhundert neue Methoden
der Statistik. Hilde Spiel kommt in ihren Lebens­
erinnerungen auf den Wiener Kreis zu sprechen,
­Hermann Broch verarbeitete erkenntnis­theoretische
­Positionen in seinem Epochenroman Die Schlafwandler,
und Ingeborg Bachmann setzte sich mit Ludwig
­Wittgenstein und dem Wiener Kreis in mehreren
­Aufsätzen auseinander.
OG B8 e2: Kapiteltext KT4: 1095x 338mm
24
Schieber und
Spekulanten
Während die alten Mittelschichten durch Krieg und In­fla­tion verarmten, gelangten Kriegslieferanten, Schieber
und Spekulanten zu enormem Wohlstand. Ihr demons­
trativ zur Schau gestellter Reichtum sorgte für sozialen
Spreng­stoff und trug zum Bild der „Goldenen Zwanziger­
jahre“ bei. Viele österreichische Romane der Zeit be­­zo­gen ihren Stoff aus ­tagesaktuellen Ereignissen und
­lieferten einen lange über­sehenen Beitrag zur Literatur
der „Neuen Sachlich­keit“. Selbst in der 1924 im Berliner
Verlag Die Schmiede gegründeten Reihe Außenseiter
der Gesell­schaft – Die Verbrechen der Gegenwart,
die ­repräsentativ ist für die neue Tatsachen­­literatur,
sind ­österreichische Autoren namhaft vertreten.
Hugo Bettauer beschäftigte sich besonders i­ntensiv
mit den sozialen Problemen der Zeit, in Roma­nen
wie Die freudlose Gasse (1924) ebenso wie in seinen
­ eit­schriften­­projekten. „Die Wirklichkeit hat ihre Mühe,
Z
diesem Erzähler nachzukommen“, er kann „gar nicht
­genug des literarischen Garns spinnen, in das ihm das
­Leben läuft“, schrieb Alfred Polgar 1924. Bettauer, der
am 10. Mai 1925 Opfer eines rechtsradikalen Attentäters
­wurde, reagierte mit dem Roman Die Stadt ohne Juden
(1922) auf die zunehmend antisemitische Stimmung, die
oft vom Klischeebild des j­üdischen Schiebers ausging.
1930 erschien im Berliner Malik-Verlag Upton Sinclairs
Buch Das Geld schreibt. Eine Studie über amerikanische
Literatur. Die Übersetzung stammt von Elias Canetti, der
Schutzumschlag vom für seine politischen Fotomontagen
berühmten Künstler John Heartfield. Die Geschichte der
Zensur dieses legendären Schutzumschlages wirft nicht
nur ein Schlaglicht auf den Kampf um Macht und Geld,
sie ist auch ein Beispiel für den Witz der Buchmacher.
OG1 A8 e5: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
Der Erste Weltkrieg zerrüttete die bürgerlichen Familien.
Die Väter und Söhne waren gefallen oder kehrten des­
orientiert zurück, Kriegsanleihen und Inflation hatten ­
die Familienvermögen vernichtet. Die jungen Frauen
aber lernten in den Lazaretten eine neue Selbständigkeit
­kennen, und die Not der 1920er Jahre zwang sie in die
Berufstätigkeit.
25
Die neue Frau
Symbol für ihre neue Stellung in der Gesellschaft wurde
das kurz geschnittene Haar, das mit dem Begriff „Bubi­
kopf“ gleich wieder verniedlicht wurde. In Feuilletons
und Magazinen wurde intensiv an den Modellierungen
des neuen Frauenbildes gearbeitet, und in der Literatur
trat erstmals eine ganze Autorinnengeneration auf.
Vicki Baum hat diese Entwicklung als Schriftstellerin wie
Re­dak­teurin der Lifestylemagazine des Ullstein Verlags
­ ntscheidend mitgeprägt. Als im Oktober 1928 der
e
­Vorabdruck ihres Romans über eine erfolgreiche
­Kar­riere­frau stud.chem. Helene Willfüer in der „Berliner
­Illustrirten Zeitung“ begann, stieg deren Auflage in der
Folge um 200.000 Exemplare auf knapp zwei Millionen.
Vicki Baum war damals „ein Begriff wie Melissengeist
oder Leibniz-Kekse“, so Joe Lederer, die 1928 mit Das
Mädchen George selbst einen Erfolgsroman vorgelegt
hatte, der zwischen Klischee und Alltagswirklichkeit der
„neuen Frau“ sorgfältig unterscheidet. Im selben Jahr
­erschien auch Mela Hartwigs Erzählband Ekstasen. Sie
beschreibt – ähnlich wie Gina Kaus – Machtstrukturen ­
im Verhältnis der Geschlechter und Fragen weiblicher
Sexualität mit psychoanalytischem Blick. Alle hier
­ge­nannten Autorinnen mussten 1938 ins Exil – was
mit dazu beitrug, dass ihr Werk oft erst in jüngster
­Vergangenheit wiederentdeckt wurde.
OG1 A9 e2: Kapiteltext KT2: 1476x338mm
Anders als in Frankreich hegten deutschsprachige
­Autorinnen und Autoren in der Frühzeit des Films
­kulturkritische Vorbehalte gegen das neue Medium.
Ab 1910 und besonders in den 1920er Jahren ent­fal­tete der Film jedoch eine ungeheure Sogwirkung.
Vor allem in Berlin entstand eine Filmindustrie USameri­kanischen Zuschnitts.
26
Das Medium Film
Vicki Baums Roman Menschen im Hotel (1929) wurde
vor der Buchveröffentlichung im Ullstein-Verlag zunächst
mit großem Erfolg in der „Berliner Illustrirten Zeitung“
abgedruckt. Mit der englischen Übersetzung unter
dem Titel Grand Hotel begann der Siegeszug des
Buches auch in den USA: 1930 wurde am Broadway in
New York eine Theaterfassung herausgebracht, 1932
folgte der Film. Die szenische Struktur dieses „Kolpor­
tageromans mit Hintergründen“ – so der Untertitel –
war entscheidend für seine Umsetzung auf dem Theater
und im Film. Das Hotel ist die Bühne, auf der das Perso­
nal der 1920er J­ ahre seine Auftritte hat, vom fallierenden
Baron bis zum Hilfsbuchhalter.
1915 erschien Gustav Meyrinks Bestseller Der Golem.
In atmosphärisch dichten Beschreibungen ließ Meyrink
das alte jüdische Ghetto in Prag wieder auferstehen.
1920 setzte Paul Wegener den Romanstoff in Szene.
Der Golem, wie er in die Welt kam wurde zum ersten
Welterfolg des expressionistischen Stummfilms. Es ist
die psychoanalytische Struktur des Romans, vor allem
das Doppelgänger-Motiv, das auch dem Film seine
­Suggestivkraft verleiht. Die Begegnungen mit dem
­Golem werden für den Erzähler zur Konfrontation
mit den destruktiven Energien seines verdrängten
­Trieblebens.
Die Verfilmung des Rosenkavaliers 1926 steht an der
Schwelle zwischen Stumm- und Tonfilm. Hugo von
­Hofmannsthal, der das Libretto für die außerordentlich
erfolgreiche Oper von Richard Strauss geliefert hatte,
schwebte für die Verfilmung ein opulenter Bilderbogen
aus der Zeit Maria Theresias vor. Die sich mehr an der
Opernhandlung orientierende Filmfassung von Robert
Wiene bezeichnete er als den „stümperhaftesten und
plumpsten Film, den man sich denken kann“. Hier zeigt
sich eine Erfahrung, die viele Autorinnen und Autoren
bei der Verfilmung ihrer Werke machen mussten: nämlich
ihr geringer Einfluss auf die filmische Umsetzung der
­literarischen Vorlagen.
OG1 BC9 e4-e3: Kapiteltext hoch: 904x445mm
27
15. Juli 1927
Der Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 war
ein prägendes Ereignis der Ersten Republik. In ihm entluden
sich die poli­tischen Widersprüche des jungen Staates in
­ge­walt­samer Weise. Am Vor­a­bend des Brandes sprach
ein Geschwor­en­en­­gericht drei Mitglieder der Frontkämpfer­ver­einigung Deutsch-Österreichs von der Anklage frei, bei
einem Angriff auf eine ­sozialdemokratische Versammlung
in dem kleinen b
­ urgenländischen Ort Schattendorf zwei
­Menschen erschossen zu haben.
Dieses Urteil löste einen Tag später heftige Proteste aus.
Gegen Mittag versammelte sich vor dem Wiener Justizpalast
eine große Menge von Demonstranten, ­einzelne drangen
in die Räume ein und zündeten Akten und Mobiliar an. Der ­
Wiener Polizei­präsi­dent Johann Schober rüs­tete die Einsatz­
kräfte mit Gewehren aus Heeresbeständen aus. Nach Er­teil­ung des Schießbefehls war­en auf Seiten der Demonstranten
84 Todes­opfer und bei der Exekutive fünf Tote zu b
­ eklagen.
In der österreichischen Literatur hat der Jus­­­­­tizpalastbrand
­unübersehbare Spuren hinter­­lassen. Karl Kraus dokumentierte
die Ereignisse in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ und forderte
den Polizeipräsidenten auf Pla­katen zum sofortigen Rücktritt
auf. ­Elias Canetti bezog aus den Geschehnissen Material für
seine große Abhandlung ­Masse und Macht (1960) und verar­
beitete das M
­ otiv des Feuers in seinem Roman Die Blendung
(1936). ­Heimito von Doderer w
­ idmete dem Justiz­palastbrand
in seinem ­Roman Die Dämonen (1956) ein zentrales Kapitel.
In Ingeborg Bachmanns Roman Malina (1971) kommt die
weibliche Haupt­figur auf das Ereignis zu sprechen. Der Brand
löst sich vom his­torischen Datum und wird zu einer Ge­samt­­­
metapher österreichischer Befindlichkeit.
OG1 D10, e2: Kapiteltext KT1: 1606x338mm
28
Faszination Berlin
Im Wien der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg existierten
für österreichische Autorinnen und Autoren nach einer
kurzen Phase der Erholung kaum Arbeits- und Publikations­
möglichkeiten. „Es sind jetzt sehr viele Wiener in Berlin.
­Karawanen streben aus der österreichischen Wüste in die,
trotz allem, oasegrüne Stadt“, schrieb Alfred Polgar 1922.
Ab Mitte der 1920er Jahre kommt es zu einem regelrechten
Brain-Drain: Schauspielerinnen und Schauspieler, Musike­­r­innen und M
­ usiker, Regisseurinnen und Regisseure ebenso
wie zahl­reiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller suchten
ihr Glück in der Kunst- und Medienschmiede Berlin. Die
­beiden wichtigsten Zeitschriften der Weimarer Republik –
­Stefan Großmanns „Tagebuch“ und Siegfried Jacobsons
„Welt­bühne“ – wurden von den Beiträgen der „Wiener“
ganz w
­ esentlich mitbestimmt – von Albert Ehrenstein
über Egon Friedell, Gina Kaus und Anton Kuh bis zu
Alfred Polgar und Berthold Viertel. Sie berichten nicht
mehr ­vorrangig aus Wien über Wiener Themen wie in
der ­Vorkriegszeit, sie schreiben vielmehr in Berlin über
das, was sie sehen und entdecken.
Neben materiellen Beweggründen ist es vor allem
die „amerikanische“ Atmosphäre der Stadt, die auch
­„Alt­österreicher“ wie Joseph Roth in ihren Bann zieht.
Hier, in der schnellen Metropole, ließen sich öster­reich­ische O
­ perettenträume wie das Weiße Rößl mit den
Mitteln e
­ iner hochprofessionellen Unterhaltungsindustrie
reali­sieren. In Berlin setzte der österreichische Emigrant
Fritz Lang den Film Metropolis in Szene – die Vision
der neuen Großstadt schlechthin.
Berthold Viertels Bemerkung über Alfred Polgar, er
habe in seinen Texten die „gefällige Form“ des Wiener
Feuilletons „wie mit scharfer Säure aufgelöst“, mag
nicht auf a
­ lle Beiträge der Wienerinnen und Wiener in
­Berlin zutreffen; sie e
­ nthält jedoch ein treffendes Bild für
den Gegensatz z­ wischen dem alt­hergebrachten Wien und
der Modernität Berlins. 1933, mit der Machtergreifung der
Nazis, wurde aus dem ­Faszinosum Berlin ein Alptraum.
OG1 D9 e2: Kapiteltext KT1: 1606x338mm
29
Kabarett
1901 eröffnete Felix Salten im Theater an der Wien mit dem
„Jung-Wiener Theater zum lieben Augustin“ das erste Kabarett
in Wien. Der Beginn der Kabarettkultur in Österreich war aller­
dings wenig Erfolg versprechend. Nach nur sieben Vor­
stellungen wurde der Betrieb wieder eingestellt.
­ abarettistische Revuetheater zählt zu den wichtigsten Klein­
k
kunstbühnen Österreichs. In den 1920er Jahren sorgten dort
das kongeniale Duo Farkas / Grünbaum und Künstlerinnen
und Künstler wie Lina Loos, Armin Berg, Egon Friedell und
Hermann Leopoldi für ein volles Haus.
Erst ab 1906 entstand eine nachhaltige Kabarettszene. Eben­
falls im Theater an der Wien wurde das Kabarett „Hölle“­
­er­öffnet. Fritz Grünbaum und Karl Farkas feierten dort ihre
ersten Erfolge. Ein Jahr später wurde das „Theater und
­Kabarett Fledermaus“ in der Wiener Kärntnerstraße gegrün­det. M
­ itwirkende auf und hinter der Bühne waren u.a. Peter
­Altenberg, Alfred Polgar und Egon Friedell, der später auch
die künstlerische Leitung übernahm. Das „Fledermaus“
­bestand als Kabarett nur bis 1913 und ging danach in die
­Revuebühne „Femina“ über. 1912 eröffnete in der Wiener
Wollzeile das Kabarett „Simpl“. Das noch heute bestehende
1926 entstand das „Politische Kabarett“ der Sozialistischen
Veranstaltungsgruppe, das in dreizehn Programmen die
­Politik des konservativen Lagers attackierte. Zum Autoren-­
kollektiv gehörte u.a. Jura Soyfer, der in den 1930er Jahren
bei mehreren Theatern mitwirkte und dessen bekannteste
Stücke Der Weltuntergang oder Die Welt steht auf kein' Fall
mehr lang (1936) und Der Lechner Edi schaut ins Paradies
(1936) heute noch gespielt werden.
Ein ebenfalls erfolgreicher Kabarettautor jener Zeit war
­Peter Hammerschlag. Er verfasste für diverse Wiener Bühnen
satirische und groteske Texte und Gedichte. Bekannt wurde
Hammerschlag als Autor und Darsteller der Kleinkunstbühne
„Der liebe Augustin“, 1931 von der Schauspielerin Stella
­Kadmon im Souterrain des Café Prückel gegründet. Neben
seinen Texten veröffentlichte er auch zahlreiche Illustrationen
und Karikaturen. Fritz Grünbaum, Peter Hammerschlag und
Jura Soyfer kamen in den Konzentrationslagern der National­
sozialisten um.
OG1 C7 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
30
Bürgerkrieg und
Austrofaschismus
Am 4. März 1933 kam es zur sogenannten „Selbstaus­
schaltung des Parlaments“ infolge des Rücktritts der drei
­Nationalratspräsidenten. Der christlichsoziale Bundeskanzler
Engelbert Dollfuß nützte die Chance, um ein autoritäres,
an ständestaatlichen und faschistischen Ideen orientiertes
Herrschaftssystem einzuführen. In Abgrenzung zum
­Deutschen Reich verfolgte das Regime einen katholischen
Weg. Die Propaganda stellte Österreich als das bessere
Deutschland dar. Als Nachfolgeorganisation der Christlich­
sozialen Partei wurde die „Vaterländische Front“ gegründet,
die als Einheitspartei fungierte und die parlamentarische
­Demokratie ersetzte.
Nach Aufständen der Arbeiterbewegung kam es vom
12. bis zum 16. Februar 1934 zum Bürgerkrieg. Unter ­
Ein­satz von ­Militär und schweren Waffen zerschlug die
Regierung die letzten Strukturen der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei. Mehrere nationalsozialistische Terrorwellen
gipfelten am 25. Juli 1934 in einem Putschversuch, bei dem
die Sende­räume der Rundfunkanstalt RAVAG besetzt, das
Bundes­kanzleramt gestürmt und Dollfuß getötet wurde.
In der Literatur finden sich die unterschiedlichsten Spuren­
­jener Jahre. Die Lyrikerin Christine Busta e
­ r­hoffte sich
­augenscheinlich Vorteile als Mitglied der „
­ Vater­ländischen
Front“. Josef Weinheber, seit 1931 Mitglied der NSDAP,
bot 1933 den Nationalsozialisten seine Dienste an und bat
darum, ihm einen „Platz in der B
­ ewegung a
­ nzu­weisen“.
Fritz Habeck hielt die Ereignisse des F
­ ebruar 1934 in
seinem Tagebuch fest. Im selben Jahr wurde der G
­ roße
­Österreichische Staatspreis gestiftet. Der erste ­Preis­träger war Karl Heinrich Waggerl. Die Kunst­ideologie
des Stände­staates zeigt sich in der Dominanz l­ändlicher
und religiöser Themen.
OG1 D7 e2 Kapiteltext KT3: 1186x338mm
Am 15. März 1938 hielt Adolf Hitler auf dem Wiener Helden­
platz vor über 250.000 Menschen jene berühmt-berüchtigte
Rede, mit der die „Heimkehr“ Österreichs ins Deutsche
Reich auch symbolisch vollzogen wurde. Unmittelbar nach
dem ­„Anschluss“ setzten der gezielte Terror gegen die
­jüdische B
­ evölkerung und die Verfolgung politischer Gegner
ein. Am 1
­ . April 1938 ging der erste „Prominententransport“
ins K
­ onzentrationslager Dachau ab.
31
März 1938:
Der „Anschluss“
Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler beteiligten sich
­tatkräftig an der V
­ er­­herrlichung der nationalsozialistischen
Politik. Das vom 1936 gegründeten „Bund deutscher
­Schriftsteller Österreichs“ im Juni 1938 ­herausgegebene
­Bekenntnisbuch österreichischer Dichter enthält Hymnen
und Lob­gesänge auf Hitler und das Deutsche Reich. Bereits
beim ­XI. Kongress des­Inter­nationalen P.E.N.-Clubs im Mai
1933 in R
­ agusa (Dubrovnik) waren durch den Austritt der
­ azisympathisanten aus dem ­Österreichischen P.E.N. die
N
Trennlinien offensichtlich ­ge­worden.
Das 1962 entstandene Gedicht wien : heldenplatz von Ernst
­Jandl und das zum 50. Jahrestag des „Anschlusses“ 1988
am Wiener Burgtheater uraufgeführte Stück Heldenplatz
von T
­ homas Bernhard thematisieren die Massenhysterie rund
um die Rede Adolf Hitlers bereits im Titel. Ernst Jandl war
Ohren­zeuge des Chors fanatischer Stimmen gewesen, in
­seinem berühmtesten Gedicht verarbeitet er diese Erfahrung
mit den Mit­teln experimenteller Poesie: Das Gedicht spricht
von einer „aufs bluten feilzer stimme“ und einem „hünig
sprenkem stimmstummel“. Die Aufführung von Thomas
­Bernhards Stück löste einen einzigartigen (Theater-)Skandal
aus. Selten gelingt es literarischen Texten, eine politische
und moralische Aussage auf so überzeugende und wirkungs­
volle Weise ästhetisch umzusetzen.
OG1 C5 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
32
Lebensläufe
1938–1945:
NS-Karrieren,
Verfolgung und
Vernichtung
Unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs wurden
die bestehenden kulturellen Institutionen des Landes
zwangsweise der deutschen Reichskulturkammer
­ein­gegliedert. Diese Behörde, die dem Propaganda­
minis­terium von Joseph Goebbels unterstand, diente
der ­nationalsozialistischen Kulturpolitik als zentrales
­Instrument der Gleichschaltung.
Ein Leben in Opposition zum nationalsozialistischen
Machtapparat war im Reichsgebiet kaum möglich, denn
das totalitäre Regime regelte alle Agenden der Kultur.
Auch der Begriff der „inneren Emigration“ ist nur mit
großer Vorsicht zu verwenden. Gerade in Österreich
diente er nach 1945 oft dazu, Biografien von schuld­
haften Verstrickungen reinzuwaschen.
Um im Deutschen Reich publizieren zu können, mussten
Schriftstellerinnen und Schriftsteller Mitglied der Reichs­
schrifttumskammer sein. Etwa 800 österreichische
­Autorinnen und Autoren wurden nach genauer Prüfung
der politischen und rassischen Voraussetzungen aufge­
nommen. Etwa ein Zehntel von ihnen fand im Deutschen
Reich gute bis sehr gute Publikationsmöglichkeiten vor.
Einige unter ihnen gehörten von 1938 bis 1945 zu den
Spitzenverdienern der Branche.
Jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie
­politische Gegner wurden von den Nationalsozialisten
offen verfolgt. Unter den Millionen Opfern des Natio­nal­
sozialismus finden sich zahlreiche österreichische
­Autorinnen und Autoren. Einige von ihnen schrieben
noch in den Vernichtungslagern Gedichte. Die Litera­tur der Verfolgten wurde in Österreich relativ spät
­wie­derentdeckt, e
­ inige Namen sind bis heute nahe­zu
­unbekannt.
OG1 D6 e2: Kapiteltext KT4-1: 1120x338mm
32
Lebensläufe
1938–1945:
Flucht, Vertreibung
und Exil
„Adieu Europa“: Mit einem Fragment gebliebenen Roman­
projekt nimmt der Dramatiker und Romancier Ödön von
­Horváth Abschied. Nach dem „Anschluss“ Österreichs
an das Deutsche Reich wollte er in die USA emigrieren.
Auf dem Weg dorthin wurde er im Juni 1938 in P
­ aris von
einem herabstürzenden Ast erschlagen.
Bertha Zuckerkandl flüchtete aus Frankreich erschöpft
nach Nordafrika. Der spätere Rabbi und Dichter Elazar
­Benyoëtz aus Wiener Neustadt erreichte mit seiner Familie
als Kleinkind auf einem illegalen Schiff Palästina. Etwa
6000 jüdische Flüchtlinge aus Österreich erreichten als
­letzten Zufluchtsort das völlig fremde Shanghai.
Die Vertreibung vollzog sich im Gefolge einer bereits
vor 1938 einsetzenden Praxis der Ausgrenzung. Die Wege
ins Exil führten nach England, wie im Falle Erich Frieds
oder Hilde Spiels, außerdem nach Frankreich, wohin die
­Philo­sophin Hannah Arendt flüchtete, bevor sie im letzten
Moment in die USA entkommen konnte. Der jüdische
­Anwalt und Schriftsteller Albert Drach mobilisierte im
­französischen Lager Rivesaltes all seinen Sprachwitz und
all seine Ver­stellungskünste, um der Deportation zu ent­gehen. Die l­egendäre Salonière und Kulturvermittlerin
Ein wesentlicher Teil des künstlerischen und intellektuellen
­Erbes Österreichs beruht auf den Leistungen der ins Exil
­getriebenen, größtenteils jüdischen Künstlerinnen und
­Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ihre
­Erfahrungen und Leistungen bilden einen essenziellen Teil
des österreichischen und europäischen kulturellen Erbes.
Die Geschichte des Exils ist untrennbar mit dem Holocaust
­verbunden. Die Vernichtung ist der Schatten, der über allen
Lebensgeschichten liegt.
OG1 E2, e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
33
1945: Aufruf
zum Misstrauen
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges gab es keine „Stunde
Null“, weder in Deutschland noch in Österreich. Die histori­
sche Zäsur stellt sich heute als Übergang dar. „In der Tat
brauchen wir nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume
eines Irren unterbrochen haben, in der Tat brauchen wir nicht
­voraus-, sondern nur zurückzublicken“, schrieb A
­ lexander
­Lernet-Holenia 1945 aus seinem Refugium in St. Wolfgang
an die Zeitschrift „Der Turm“. Während die einen die
­Öster­reich-Ideologie des Ständestaates restaur­ieren wollten,
setzten andere wie die Zeitschriftenheraus­geber Otto Basil
und Ernst Schön­wiese auf die (Wieder-)Entdeckung der inter­­nationalen Moderne. Diese wurde ent­scheidend mitgeprägt
von aus dem Land Vertriebenen, etwa von Hermann Broch
oder dem im Schweizer Exil gestorbenen Robert Musil.
Manche wie die Publizistin und Schriftstellerin Hilde Spiel
voll­zogen eine langsame Heimkehr in ein widersprüchliches
Land, in dem die Aufbruchstimmung der unmittelbaren
­Nachkriegszeit bald von einem kulturfeindlichen Klima
­ab­gelöst wurde. Viele kehrten spät oder nicht mehr zurück.
Eine junge Generation, unter ihnen H. C. Artmann, Michael
­Guttenbrunner, Friederike Mayröcker und Andreas O
­ kopenko,
begegnete der restaurativen Literatur mit Misstrauen und
entdeckte für sich den Surrealismus und die Spielarten einer
unkonventionellen Literatur. Das galt aber nicht für alle. Fritz
Habeck, der Erfolgs­schriftsteller der 1950er Jahre, schrieb
­realistische Romane über die prägende Erfahrung des
­Soldaten im Krieg, was ihn mit Ernest Hemingway verband.
Ilse Aichingers Aufruf zum Misstrauen aus dem Jahr 1946
mit seinem Plädoyer für die Selbstverantwortung des
­Einzelnen und für sprachliche Sensibilität ist Ausdruck der
ambivalenten politischen und mentalen Nachkriegsstimmung.
OG1 E4, e4: Kapiteltext KT4-1: 1120x338mm
Das Gedicht Todesfuge des 1920 in Czernowitz, Bukowina
­geborenen deutsch-jüdischen Lyrikers Paul Celan entstand
­Anfang 1945. Es ist einer der frühesten und wich­tigsten
Texte, die sich mit der Vernichtung der europäischen Juden
auseinandersetzten.
34
NS-Terror
und ­literarische
A
­ ufarbeitung
Wie kann die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und
der flächendeckende NS-Terror literarisch dargestellt werden?
Der Philosoph Theodor W. Adorno prägte das Diktum, dass es
„barbarisch“ sei, „nach Auschwitz ein Gedicht zu ­schreiben“.
Davon ausgehend wurde in der deutschsprachigen Literatur
nach 1945 immer w
­ ieder diskutiert, ob und mit welchen litera­
rischen Mitteln das unfassbare Geschehen beschreibbar ist.
In der österreichischen Literatur setzte die literarische
­Auf­arbeitung des Nationalsozialismus relativ spät ein.
Hans L
­ eberts großer Roman Die Wolfshaut (1960) schreibt
die ­Verbrechen des Nationalsozialismus in einen zugleich
­mythischen und r­ ealistischen Kontext ein. In den nachfolgen­
den Jahrzehnten nahmen sich viele Autorinnen und Autoren
der Thematik an. Diese Bücher wurden ab den 1970er
­Jahren auch von einer breiten literarischen Öffent­lichkeit
wahrgenommen. Während die österreichische Nachkriegs­
politik die Mitverantwortung bis in die 1980er Jahre leugnete
und verdrängte, leistete die Literatur einen entscheidenden
­Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.
In dieser Auseinandersetzung entwickelte die österreich­i­
sche Literatur ein breites Formenspektrum. Es reicht von
­experimentellen A
­ nsätzen (Andreas Okopenko, Heimrad
­Bäcker) über verschie­dene Erzählformen (Peter Henisch,
­Marie-Thérèse Kerschbaumer, Martin Pollack, Robert
­Schindel, Christoph Ransmayr) bis hin zu den Textflächen
­Elfriede Jelineks.
OG1 FG9, e2 Kapiteltext Regalhaupt lang: 1347x439mm
35
Literatur
und Engagement
Die österreichische Literatur hat den Ruf, unpolitisch zu sein.
Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer (1857) kann als ­
Aus­flucht in idyllische Provinzwelten g
­ elesen werden, Franz
­Grillparzers s­ chwankende ­Einschätzung der Revolution von 1848
und seine b
­ ewahrende Haltung in Hinblick auf den habsburg­ischen
Viel­völkerstaat können ebenfalls als Indizien z­ itiert werden. Auch
der Zusammenbruch von 1918 hatte in Wien keine revolutio­­nären
­Aufstände zur Folge, die etwa mit der Münchner Räterepublik und
den Spartakuskämpfen in Deutschland vergleichbar wären. Die öster­
reichische Literatur reagierte auf die politischen U
­ m­wälzungen eher
­ästhetisch als mit e
­ inem politisch-aktivistischen Programm. Auch
die Proteste im Jahr 1968 hatten in Österreich oft aktionistischkünstlerischen Charakter.
Mit einer gewissen Verzögerung im Vergleich mit a
­ nderen euro­­
päischen Ländern entwickelte sich in den 1970er und 1980er Jahren
jedoch eine dezidiert politische Literatur. Ihr Spektrum reicht vom
Doku­mentar­hörspiel bis zur Verbindung experimenteller F
­ ormen
mit politischen Statements. Auto­rinnen und A
­ utoren traten ­­
ver­mehrt in die politische Arena und schufen mit ihren Auftritten
und publi­zistischen S
­ tellungnahmen eine kritische Gegenöffent­
lichkeit. K
­ ulminationspunkte waren im Sommer 1976 die ArenaBewegung mit der Besetzung eines ehemaligen Schlachthofes in
Wien; 1985 und in den Folgejahren die Proteste gegen die Kandi­datur von Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten, der zur Symbol­
figur der verdrängten NS-Vergangenheit wurde. 1995 wurden mit
der Ermordung von vier Menschen, die der Volksgruppe der Roma
­angehörten, Fremdenhass und die Ausgrenzung von Minderheiten
für alle sichtbar und zu einem öffentlichen Thema. Josef Haslinger,
­ oron R
­ abinovici, Marlene
Elfriede Jelinek, ­Robert Menasse, D
­Streeruwitz und a
­ ndere w
­ urden nicht selten zu angefeindeten
und als Nest­beschmutzer diffamierten Leitfiguren eines a
­ nderen
und sich seiner Verantwortung bewussten ­Österreich.
OG1 H9 e2: Kapiteltext KT4-1: 1120x338mm
36
Die Schule
in der Literatur:
Zöglinge
und ­Erzieher
Die zahlreichen Schul- und Internatsgeschichten
der ­österreichischen Literatur sind geprägt von
­Diszipli­nierung und Zwang zu Gehorsam. In Friedrich
­Torbergs Roman Der Schüler Gerber endet der Macht­
kampf z­ wischen dem rebellischen Schüler und dem
­Lehrer Kupfer mit dem Selbstmord des ­Jugendlichen.
Auch Florian Lipuš' Zögling Tjaž (1981) stürzt sich in den
Tod. Er war aus dem Internat a
­ us­geschlossen w
­ orden,
gegen dessen Lebens- und ­Sexualfeindlichkeit er sich
vergebens gewehrt hatte. ­Robert Musils Roman Die
­Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) thema­tisiert
die psychischen wie die ­sozialen Konflikte J­ ugendlicher,
die gerade an einem g
­ eschlossenen Ort wie dem Inter­
nat mittels brutaler k
­ örperlicher und s­ eelischer Gewalt
ausgetragen werden. Einem Akt k
­ ollektiver Gewalt
von Internats­schülern geht auch M
­ ichael Köhlmeier
im ­Roman Die Musterschüler (1989) in einem harten
­ echselspiel von Fragen und A
W
­ ntworten nach. Dieses
Buch wie auch Barbara F
­ rischmuths Die Klosterschule
(1968) oder Josef ­Haslingers Der Konviktskaktus (1980)
machen deutlich, welche Verletzungen eine ­autoritäre
­religiöse Erziehung hinterlassen kann.
Schule, wie sie in diesen Büchern vorkommt, wird
als Ort missverstanden, an dem es gilt, jeglichen ­­
indi­­vi­duellen Willen zu brechen. Im Mittelpunkt steht
damit auch die Frage nach den Spielräumen und
­Ent­faltungsmöglichkeiten, die Kinder und Jugendliche
­haben. Das Internat oder die Schule im Allgemeinen
­bilden einen gesellschaftlichen Mikrokosmos und sind
von Machtkämpfen und autoritären Strukturen ebenso
geprägt wie von Freundschaft und Solidarität.
OG1 H8 e4: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
Ab Beginn der 1970er Jahre wird die Beschreibung vor
­allem ländlicher Arbeitswelten zu einem bestimmenden
Thema der österreichischen Literatur. Die Wunschvor­
stellungen von Lebensglück und Lebenssinn scheitern
an Verhältnissen, die auch noch Jahre nach dem Krieg
­geprägt sind von patriarchalisch-katholischen Strukturen,
von Gewalt gegenüber Frauen und von der Abgeschlos­
senheit sozialer Milieus.
37
Arbeitswelten
Mutter noch die Liebhaberinnen in Elfriede Jelineks
gleich­namigem ­Roman aus dem Jahr 1975 und auch nicht
der Tischlerlehrling Melzer in Gernot Wolfgrubers Roman
­Herrenjahre (1976) verfügen über ihr Leben und ihre
­Sprache. Die Hausfrau und Ehefrau in Margit Schreiners
Haus, Frauen, Sex (2001) ist Gegenstand e
­ ines Dauer­­mono­loges des ehemaligen Ehemannes.
Welche Möglichkeiten eines selbstbestimmten intellek­
Psychische wie physische Gewalt gegenüber „leibeigenen“ tuellen Lebens eröffneten sich für Frauen in den 1960er und
1970er Jahren abseits des gesellschaftlichen Mainstreams?
Knechten und Mägden bestimmt Franz I­nnerhofers auto­
Damit setzt sich Marlene Streeruwitz' 2010 entstandener
biografisch geprägten Roman Schöne Tage (1974). Auch
Videoessay zum 35-jährigen Jubiläum von „AUF – eine Frauen­­Josef Haslingers Der Tod des Kleinhäuslers Ignaz Hajek
zeitschrift“ auseinander. In die scheinbar schöne und ­saubere
(1985) erzählt von der demütigenden Arbeit als Knecht.
Arbeitswelt der Praktikantinnen, IT-Supporter und Key
Peter Handkes Erzählung Wunschloses Unglück (1972) ist
­Account Manager führt Kathrin Rögglas mit dokumentari­
der Versuch, für die Biografie der Mutter, die Selbstmord
schen Mitteln erarbeiteter Roman wir schlafen nicht (2004).
begangen hat, eine Sprache zu finden. Weder Handkes
OG1 G5 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
38
Das Theater
und seine Wirkung
Am 22. August 1920 wurden mit der Aufführung von
Hugo von Hofmannsthals Stück Jedermann unter der
­Regie von Max Reinhardt die neu gegründeten Salzburger
Festspiele eröffnet. Die Festspiele sollten in engem
Be­zug zur kulturellen Tradition Österreichs und zur
­Szenerie der Barockstadt Salzburg stehen – von den
mittelalter­lichen Mysterien- und Passionsspielen über
die barocken Hoffeste bis zur bürgerlichen Theaterkultur.
Hofmannsthal verband nach dem Zusammenbruch der
Donaumonarchie mit den Festspielen die Hoffnung auf
eine geistig-­kulturelle Neubestimmung der österreichi­
schen Identität.
König ­Ottokars Glück und Ende statt. Das Stück handelt
vom Beginn der Habsburgerherrschaft und enthält eine
­legendäre Lobrede auf Österreich. Die dramatische
­Bearbeitung ­eines österreichischen Gründungsmythos
­besaß ­wenige Monate nach Unterzeichnung des Staats­
vertrags ganz b
­ esonderen Symbolcharakter.
Im Burgtheater ereignete sich auch einer der größten
Theaterskandale des Landes. Das von Thomas Bernhard
aus Anlass der 50-jährigen Wiederkehr des „Anschlusses“
1988 geschriebene Stück Heldenplatz führte zu einer
­landesweiten Empörung. Vorab publizierte Textpassagen
lösten eine öffentliche Hetzkampagne gegen Autor
Im April 1945 wurde das Burgtheater durch einen ­­­Bom­­­ben­­­­- und Text sowie Regisseur Claus Peymann aus. Dass das
angriff vollständig zerstört. Die Wiedereröffnung des
­Theater wie kaum eine andere Kunstform polarisiert,
­Thea­ters an der Wiener Ringstraße fand am 15. Oktober
veranschau­lichen Stücke von Wolfgang Bauer, Ulrich
1955 mit Franz Grillparzers historischem Drama
­Becher, Peter Handke und Elfriede Jelinek.
OG1 H4 e2: Kapiteltext KT4: 1095x 338mm
Mehr als 45 Jahre lang währte der „Kalte Krieg“. Bis zur
Auflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion
im Jahr 1991 war die Welt in zwei ideologische Lager
­geteilt: auf der einen Seite die westlichen Demokratien
­unter Führung der USA , auf der anderen Seite die kom­
munistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion.
39
Kalter Krieg
und Apokalypse
Österreich bildete in der Nachkriegszeit eines der ersten
Konfrontationsfelder der Blockmächte, was sich n
­ achhaltig
auf Politik, Kultur und Gesellschaft auswirkte. Eine Reihe
von Büchern liefert scharfe Momentaufnahmen der gesell­
schaftlichen Atmosphäre jener Zeit, allen voran Milo Dors
und Reinhard Federmanns Gemeinschaftsromane wie etwa
Internationale Zone (1953). Federmanns Das Himmelreich
der Lügner (1959) sowie Robert Neumanns Die Puppen von
Poshansk (1952) zählen zu den bedeutendsten Romanen
über den Kalten Krieg. Mit der Ge­fahr eines nuklearen
Konfliktes und apokalyptischen Visionen setzte sich Marlen
Haushofer in ihrem Roman Die Wand (1963) auseinander.
Der Ost-West-Konflikt reichte weit in den Literatur­­­betrieb hinein. Friedrich Torbergs Zeitschrift „FORVM“
­erhielt – über den „Kongreß für kulturelle Freiheit“ –
ebenso finan­zielle Mittel vom amerikanischen Geheim­
dienst CIA wie die „Österreichische Gesellschaft für
­Literatur“. Letztere wirkte an einem Programm mit, das
von 1956 bis 1991 etwa 10 Millionen Bücher und Zeit­
schriften hinter den Eisernen Vorhang schickte, um den
Intellek­tuellen in Osteuropa den „geistigen Anschluss“
an den Westen zu ermöglichen. In diesem Kontext ist
auch die Kafka-Konferenz in Liblice bei Prag 1963 zu
­sehen, die ­einen Demokra­ti­sierungsprozess einleitete.
Kafka w
­ urde zum Vehikel für die Aufarbeitung der
­stalinistischen ­Vergangenheit.
OG1 G2 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
40
Todesarten
Todesarten – so nannte Ingeborg Bachmann ein 1962 begon­
nenes Projekt, das sie bis zu ihrem Tod 1973 in Rom verfolgte.
Der einzige abgeschlossene Text dieser „Studie aller mög­
lichen Todesarten“ ist der Roman Malina (1971). Der Titel ist
wörtlich zu ver­stehen, es geht um – alltägliche – Verbrechen
und um – ­alltägliche – ­Gewalt. Der private Lebens-Roman
ist nicht vom katastrophalen Welt­geschehen abzulösen. Von
­unmittelbarer physischer und p
­ sych­ischer Bedrohung u
­ nter
Wahrung der gesellschaft­lichen ­Kon­­­ven­­tionen ­erzählt der
sehr weit gediehene Roman Der Fall Franza. Die Fragment
gebliebenen Texte Requiem für Fanny G
­ oldmann und der
„Goldmann / Rottwitz Roman“ sowie die Erzählungen aus dem
Band Simultan (1972) sind e
­ benfalls dieser literarischen Ana­
lyse e
­ iner von Männern d
­ ominierten Weltordnung z­ uzurechnen.
Ausgangspunkt von Thomas Bernhards letztem publiziertem
Roman Auslöschung (1986) ist ein Unfall, bei dem die Eltern
und der Bruder Franz Josef Muraus umkommen. Der in Rom
lebende Murau sieht sich gezwungen, seinen „Herkunfts­
komplex“, der untrennbar mit dem in Oberösterreich
­ge­legenen Schloss Wolfsegg verbunden ist, zu verarbeiten.
Mit der Erzählung und dem Film Der Italiener besitzt der
­Roman eine bis Ende der 1960er Jahre zurückreichende Vor­­ge­schichte. Die im Roman auftretende Dichterin Maria ist eine
­Hom­mage an Ingeborg Bachmann. Maria, die „Römerin sein
will, gleich­zeitig Wienerin“, schreibt aus einem „gefähr­lichen
Gefühls- und Geisteszustand heraus ihre großen Dichtungen“.
Eine Klammer bildet Elfriede Jelineks Roman Gier (2000), der
eine der sieben Todsünden in den Mittelpunkt stellt und im
­Titel an eine Erzählung aus Simultan erinnert. J­ elinek hat das
Dreh­buch zu Werner Schroeters Verfilmung von Malina ver­
fasst, auf andere Weise führt sie Bernhards r­ adikale Kritik
an den – österreichischen – Verhältnissen und Bachmanns
Kampf um eine Position als schreibende Frau fort.
OG1 I5 e2 Kapiteltext KT4: 1095x338mm
41
Formationen
der Avantgarde
Am Rande des österreichischen Literaturbetriebes wuchs
in den 1950er Jahren in Wien eine neue literarische Jugend
­heran. Nicht der Roman, sondern die kleinen For­men der
Litera­tur waren ihre bevorzugten Ausdrucks­mittel. Mit Ge­
dichten traten Hertha Kräftner, René Altmann und Andreas
Okopenko hervor. Ernst Jandl zeigte sich der formalen Inno­­vation besonders aufgeschlossen. Mit seinen Lautge­dichten
wurde er später zu einem ersten Popstar der Literatur.
In den Arbeiten der Wiener Gruppe ist Literatur an
eine ­alternative Lebensform gebunden. Dandyhaft und
be­tont cool traten einzelne Mitglieder der Gruppe auf
und s­ etzten sich damit als Künstler in Szene. In Gemein­
schafts­­arbeiten erprobten die Autoren alternative Ver­
fahren der Texther­stellung. In internationalen Tendenzen
und v
­ erschütteten Traditionslinien der deutschsprachigen
­Literatur fanden die Autoren neue Bezugspunkte.
Die Wiener Gruppe war eine Avantgardebewegung im
­engeren Sinn. Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard
Rühm und Oswald Wiener versammelten sich Ende der
1950er Jahre um den etwas älteren H. C. Artmann. In
­„poetischen Acten“ und anderen Happenings verschafften
sie sich Aufmerksamkeit und in „literarischen cabarets“
­präsentierten sie ihre Texte als effektvolles Anti-Theater
auf der Bühne.
Mit dem Selbstmord Konrad Bayers 1964 fiel die Wiener
Gruppe auseinander. Radikalere künstlerische Aus­drucks­
formen des Wiener Aktionismus entwickelten sich. Nach
­einer Aktion zum Thema „Kunst und Revolution“ an
der Universität Wien im Jahr 1968 (vom Boulevard als
­„Uni­fer­kelei“ bezeichnet) emigrierte Oswald Wiener
nach Berlin. Dort konstituierte sich die österreichische
Avantgarde in e
­ inem neuen Umfeld.
OG1 I7 e5: Poetische Korrespondenzen: Kapiteltext KT3: 1185x338mm
Der Brief in der Literatur verfügt über eine lange Geschichte.
Seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts befreite er sich zu­
nehmend aus den Fesseln stilistischer Konventionen. Der
Brief wird zum Medium persönlicher Mitteilungen, die
­Schreiberinnen und Schreiber entwickeln individuelle
Ausdrucks­formen. Eine besondere Rolle spielten dabei
die Korres­pondenzen von Autorinnen und Autoren,
­beispielhaft sind die Briefwechsel Goethes.
43
Poetische
Korrespondenzen
Im 20. Jahrhundert entfaltet sich eine Form brieflicher Kom­
mu­nikation, in der Briefe Kunstcharakter gewinnen können.
Von den illustrierten Briefen der „Doppelbegabung“ Alfred
Kubin an seinen Verleger Reinhard Piper bis hin zu Postkar­
ten, deren begrenztes Format das Schriftbild beeinflusst.
„Korrespondenz“ meint aber nicht nur Briefe im engeren
­Sinne, sondern auch das Tagebuch, in das der Geliebte
­ ineinschreibt; ebenso gemeinsam verfasste Texte, wie
h
sie in der Anfangszeit beim schreibenden Paar Friederike
­Mayröcker und Ernst Jandl entstanden; oder den brieflichen
Austausch von Gedichten wie bei Ingeborg Bachmann und
Paul Celan, der auf die Grenzen des in Briefen Sagbaren
­hinweist. Immer geht es um die Selbstbestimmung im
­Austausch mit einem Gegenüber, davon zeugt in pointier­ter W
­ eise der Briefwechsel zwischen Hilde Spiel und
Thomas Bernhard.
Die Zeit der „poetischen“ Korrespondenzen ist weitgehend
­vorbei. Auch Autorinnen und Autoren kommunizieren via
E-Mail und Mobiltelefon, die Sphären des Privaten und Öffent­lichen verschwimmen in den sozialen Netzwerken. I­mmer
­weniger B
­ riefe finden Eingang in Archive. Das steigert den
auratischen Wert der überlieferten Korrespondenzen.
OG I8 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm
Was steht am Beginn eines literarischen Werkes? Ein
­detaillierter Bauplan oder ein hingeworfener Gedanke?
Wie vollzieht sich die Entwicklung eines Textes? In genau
geplanten Arbeitsschritten oder als freies Wachstum?
Welche Techniken verwenden Autorinnen und Autoren im
Schreiben? Wo und wie halten sie fest, was sie beschäf­
tigt? Schreibt man außerhalb des Arbeitszimmers anders
als am Schreibtisch? Wie und von wem werden Texte
­korrigiert? Wann und wo endet die Arbeit am Werk?
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Schreibprozesse
In diesem Kapitel werden prozesshafte Tätigkeiten im
Um­feld des Schreibens vorgestellt: von den Eindrücken,
die Peter Handke gewinnt, wenn er sich zu Fuß durch die
Landschaft bewegt, bis hin zur reinen Sprachtechnik des
Anagramms bei Elfriede Czurda. Planerische Entwürfe
­liegen Arbeiten von Heimito von Doderer, Ernst Jandl
und Robert Menasse zugrunde. Recherchematerialien
sam­meln sich bei Walter Kappacher und Andreas
­Okopenko. Die Handschrift von Gert Jonke verläuft wie
ein stetiger sprachlicher Fluss, in einem Zettelchaos droht
Friederike Mayröcker in ihrer Wohnung zu versinken.
Reinhard Priessnitz stellte an seine Gedichte die höchsten
formalen Ansprüche und gab sie nur zögerlich aus der
Hand. Arno Geiger überantwortet seine Prosa dem Lek­torat eines befreundeten Autors. Bei Elias Canetti zeigen sich
Techniken des wissenschaftlichen Schreibens: die Aus­ein­
andersetzung mit anderen Büchern in Exzerpt und Notiz.
Notizbücher von Schriftstellerinnen und Schriftstellern
sind oft aufwendig ge­staltet. Manchmal vermitteln diese
kleinen Kunstwerke den Eindruck, nicht allein als Hilfsmittel
für das Werk ­ge­dient zu haben, sondern bereits selbst für
die Nach­welt gemacht zu sein.