Kapiteltexte deutsch - Vienna Guide Service
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OG2 G1 e2: Kapiteltext KT4-2: 1045x338mm 1 Aufklärung Die österreichische Aufklärung war das Projekt einer Elite aus Beamten und Juristen, vorbereitet durch die Verwaltungsreformen Maria Theresias. Das „josephi nische Jahrzehnt“ von 1780 bis zum Tod Josephs II. 1790 kennzeichnen tiefgreifende Reformen. Bereits 1781 brachte das Toleranzpatent die Gleichstellung der Religionen und die „erweiterte Pressefreiheit“ eine Lockerung der Zensur. Österreich galt als Musterland des aufgeklärten Absolutismus: Deutsche Autoren wie Lessing und Wieland überlegten nach Wien zu über siedeln. Bei der Bevölkerung stießen die radikalen Maßnahmen allerdings auf Widerstand. Für die Literatur folgenreich war die Entscheidung, im multiethnischen Habsburgerreich (Hoch-)Deutsch als Staatssprache zu etablieren. Das Burgtheater wurde zum „deutschen Nationaltheater“ erklärt, und Mozart sollte das anspruchsvolle deutsche Singspiel etablieren. Schrift steller wie Franz Christoph von Scheyb orientierten sich noch am deutschen Sprachreformer Johann Christoph Gottsched. Der bedeutendste österreichische Aufklärer Joseph von Sonnenfels reagierte auf Kritik an den hiesigen Verhältnissen, die durch die jüngeren Berliner Aufklärer rund um Friedrich N icolai geübt wurde, bereits mit seiner eigenen moralischen Wochenschrift: Der Mann ohne Vorurtheil nutzte die in der Aufklärung beliebte Figur des fremden Wilden, um die Zustände vor Ort zu kommentieren. Auch literarisch hatten die deutschen Aufklärer wenig Verständnis für die Neigung der österreichischen Autoren zu Parodien und „Bouffonerien“ wie Franz Xaver Hubers Der blaue Esel oder die Fortführung von Voltaires Candide in Johann Pezzls Faustin. OG2 H4 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 2 Im Schatten Napoleons Nachdem Österreich 1805 dem dritten Koalitionskrieg gegen Napoleon beigetreten war, wurde Wien in Folge zwei Monate lang von den Franzosen besetzt. 1809 rüstete Österreich neuerlich gegen Napoleon. In den Schlachten am Bergisel behauptete sich der Tiroler Volksaufstand unter Andreas Hofer gegen die Truppen Napoleons und ihre bayrischen Verbündeten. Ein Gedicht des deutsch-jüdischen Schriftstellers Julius Mosen über die Hinrichtung Andreas Hofers ist heute die Landes hymne Tirols. Als die Franzosen Anfang Mai 1809 neuerlich Wien erreichten, leistete eine Bürgerwehr Widerstand – mit dabei der junge Franz Grillparzer. Wenige Wochen später fügte Erzherzog Carl Napoleon die erste Niederlage zu. „Die Donner Asperns habens ausgesprochen [...] Napoleons Waffenzauber war ge brochen“, dichtete Nikolaus Lenau später. Im Juli 1809 unterlagen die Österreicher Napoleon bei Deutsch- Wagram. Nach den Napoleonischen Kriegen kam es beim Wiener K ongress 1814/15 zur politischen Neu ordnung Europas. Während der Kriege entstanden viele patriotische Gedichte, am populärsten wurden Heinrich Joseph von Collins Wehrmannslieder. Adolf Bäuerles Posse Die Bürger in Wien (1813) setzt sich satirisch mit der Besetzung der Stadt auseinander. Mit dem Paraplui macher Chrysostomus Staberl schuf er eine neue volks tümliche Theaterfigur. Ein Jahr später folgte mit Die Fremden in Wien eine weitere Posse über den Hausbe sitzer Habersack, der als Quartiervermieter an Teilnehmer des Wiener Kongresses gute G eschäfte machen will. Die Faszination Napoleons als Inbild des erfolgsorientier ten Machtmenschen hat immer wieder literarische Verar beitungen angeregt – bis hin zu Ernst Jandls Dekonstruk tion des Mythos Napoleon im Sprechgedicht ode auf N. OG2 H5-H5.1, e5 Leuchtkasten in der Rundung, Kapiteltext KT3: 1185x338mm 3 Bewegung im Stillstand: Das Biedermeier Nach den Napoleonischen Kriegen kam es beim Wiener Kongress 1814/15 zu einer politischen Neuordnung E uropas. Das Ziel war eine Wiederherstellung der Verhältnisse, die vor der Französischen Revolution geherrscht hatten. Maß geblichen Anteil an der Umsetzung hatte Fürst M etternich. Mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 setzte er die Einschränkung jeglicher politischer Betätigungen durch. Nationale und liberale S trömungen wurden rigoros bekämpft. Die Freiheit der Presse und der Universitäten wurde massiv beschnitten, eine strenge Zensur für sämtliche Veröffentlichungen eingeführt. Das Bürgertum zog sich ins Privat- und F amilienleben zurück; Spaziergänge in der Natur gehörten zur neuen Bescheidenheit. Das zwiespältige Lebensgefühl des Biedermeier brachte Franz Grillparzer in seinem dramatischen Märchen Der Traum ein Leben (1834 uraufgeführt) zum Ausdruck: Der Ausbruch aus der Enge einer idyllischen Lebenswirklichkeit ist nur im Traum möglich. Der Traum gerät zum Alptraum, am Ende steht die Aussöhnung mit den Verhältnissen. Nikolaus Lenau schrieb auf Deutsch, sah sich jedoch als ungarischer Autor. Im Werk dieses bedeutendsten österreichischen Lyrikers der Zeit vereinen sich Pessimismus und Kritik. Sein Gedichtzyklus Schilflieder (1832) ist getragen von einer melancholischen Grundstimmung. Einen Ersatz für politische Mitsprache fand die Bevölkerung im Theater. Besonders beliebt waren Auf führungen von Ferdinand Raimund und Johann Nestroy. Nestroy gelang es trotz der strengen Zensur, Seitenhiebe gegen Metternich und den Obrigkeitsstaat zu führen. Offene Kritik am herrschenden System übte Anastasius Grün mit dem a nonym veröffentlichten Gedichtband Spaziergänge eines Wiener Poeten (1831). Eine Abrechnung mit seinem Heimatland stellt auch Charles Sealsfields 1828 in London erschienener fiktiver Reisebericht Austria as it is dar. OG2 I2 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 4 Franz Grillparzer: Schriftsteller und Beamter Der Schriftsteller Ferdinand Kürnberger verfasste wenige Tage nach Franz Grillparzers Tod im Jahr 1872 einen Nachruf. Er warnte vor der posthumen Verein nahmung des Dichters: „Und das ist die Lebensmaske Grillparzers: ausgesandt als ein flammendes Gewitter, um die Luft Österreichs zu reinigen, zieht er über Österreich hin als ein naßgraues Wölkchen, am Rande mit etwas Abendpurpur umsäumt. Und das Wölkchen geht unter!“ – Der Melancholiker und Zweifler, der Schriftsteller, der Machtverhältnisse, auch zwischen Männern und Frauen, Gewalt, individuellen Größenwahn und nationalistische Verblendung beschrieben hatte, wurde zum österreichischen Klassiker: viel gelobt und wenig gelesen. 1811 versuchte Grillparzer erstmals, eine Stelle in der k.k. Hofbibliothek zu erlangen; der Wunschtraum, ibliothekar zu werden, scheiterte aber. 1815 trat er B bei der Hofkammer, dem späteren Finanzministerium, in den Staatsdienst und erhielt 1832 die Stelle eines Hofkammerarchivdirektors. Im Revolutionsjahr 1848 erfolgte sein Um zug in das neue Archivgebäude, das heutige „Grillparzerhaus“. Das Verhältnis des für eine auf geklärte monarchische Ordnung eintretenden Dichters zur Realverfassung des Habsburgerstaates blieb zwiespältig. Bereits das während einer Italienreise im Jahr 1819 ent standene religionskritische Gedicht Campo vaccino hatte ihn in Konflikt mit den Metternichschen Zensurbehörden gebracht. Diese Konflikte sollten andauern. Andererseits stellte er sich mit seinem Lobgedicht auf Feldmarschall Radetzky 1848 auch auf die Seite der Reaktion. Der Widerspruch zwischen Kunst, Politik und individueller Lebensführung, bereits Thema der frühen Tragödie Sappho (1817), beschäftigte Grillparzer ein Leben lang. OG2 I7 e2: Kapiteltext KT1: 1595x338mm 5 1848: Gescheiterte Revolution Im Jahr 1848 kam es in Europa zu revolutionären Aufständen gegen die überkommene restaurative Ordnung. Vehement wurden bürgerliche Rechte eingefordert. Auch im gesamten Habsburgerreich kam es zu Unruhen, die heftigsten fanden in Wien statt. Angeführt von der sogenannten „Nationalgarde“, einer Bürgerwehr, und Studenten brach am 13. März 1848 die Revolution aus. Staatskanzler Fürst Metternich, verhasste Symbolfigur der Restauration, trat noch am selben Tag zurück und floh nach England. Kaiser Ferdinand I. machte am 15. März erste Zugeständnisse: Er versprach die Abschaffung der Zensur und eine Staatsverfassung. Die ohne Beteiligung des Volkes erarbeitete Verfassung führte erneut zu Unruhen. Teile der Arbeiterschaft schlossen sich der Protestbewegung an. Zu einem letzten großen Aufstand kam es im Oktober, als Revolutionäre den Abmarsch kaiserlicher Truppen gegen das aufständische Ungarn zu verhindern suchten. Für kurze Zeit brachten sie Wien in ihre Gewalt. Zuletzt wurde der Widerstand jedoch von der kaiserlichen Armee gebrochen. Die Errungenschaften der Märzrevolution gingen nach der Thronbesteigung Kaiser Franz Josephs I. im Dezember 1848 fast zur Gänze verloren. Die konservativen Kräfte gewannen w ieder die Oberhand. Künstler und Schriftsteller standen der Revolution gespalten gegenüber. Während Franz Grillparzer die Entwicklung mit Zurückhaltung beobachtete, feierte Eduard von Bauernfeld die Abschaffung der Zensur. Seine Enttäuschung über die weitere Entwicklung verarbeitete er in der satirischen Komödie Die Republik der Thiere (1848). Auch hier enden die Ereignisse mit dem Sieg der Restauration. Eine spöttische Abrechnung mit den ersten Monaten der Revolution ist Johann Nestroys Stück Freiheit in Krähwinkel, das am 1. Juli 1848 am Carltheater in Wien uraufgeführt wurde. Die Bürger des kleinen Orts Krähwinkel wollen auch ihre Revolution haben. Diese erstickt jedoch beinahe am Provin zialismus. Zu einer regelrechten Familienangelegenheit wurde das Jahr für die Komponisten Johann Strauss Vater und Sohn. Dem Revolutions-Marsch des Jüngeren setzte der Ältere den Radetzky-Marsch entgegen. OG2 I9 e2: Kapiteltext KT4-1: 1120x338mm Große literarische Stoffe wie Don Juan oder Faust stehen in jeder Epoche für neue Deutungen zur Disposition, und bis heute arbeiten sich Autorinnen und Autoren daran ab. 6 Don Juan undFaust „Wenn ich einen Faust schreiben wollte“, meinte der österreichische Schriftsteller Heinrich Joseph von Collin, „so würde ich, um meinem Princip von Vermeidung der Trostlosigkeit getreu zu bleiben, zum Contrast die Zuflucht n ehmen“. Collin beabsichtigte, seinem Faust keinen Mephisto, sondern einen gottesfürchtigen Mönch zur Seite zu stellen – dieses Werk blieb allerdings ungeschrieben. Ein Autor, der sich an beiden Stoffen versuchte, ist Nikolaus Lenau. Sein dramatisches Gedicht Don Juan blieb unvoll endet. Der junge Richard Strauss nahm das Fragment 1888 zur Grundlage seiner Tondichtung Don Juan (Op. 20). Lenaus Faust ist als Gegenstück zu Goethe angelegt. Aus dem Mann der Tat, der den Optimismus des aufsteigenden Bürgertums verkörpert, ist ein haltloser Sinnsucher geworden, der Lenaus Lebensgefühl und das seiner Epoche widerspiegelt. „Dieser Faust ist Gemeingut der Menschheit“, schrieb Lenau 1833 seinem deutschen Kollegen Justinus Kerner. Albert Drachs 1942 im Exil entstandene Erzählung Das Goggelbuch verknüpft einen faustischen Pakt mit dem Don-Juan-Stoff. Xaver Johann Gottgetreu Goggel ist Diener gleich zweier Don Juans – er buckelt nach oben und tritt nach u nten. Ein Ritter der traurigen Gestalt ist Robert Menasses Don Juan de la Mancha, der durch die Gegenwart der 1970er Jahre s tolpert. Elfriede Jelineks Stück FaustIn and out, ein „Sekundärdrama“ zu Goethes Urfaust, setzt bei der Tragödie Gretchens an. Gretchens Kerker wird zu jenem Kerker, in dem der österreichische Geschäftsmann Josef Fritzl seine Tochter über Jahrzehnte missbrauchte. OG2 J7, e2: Kapiteltext KT3: 1185x338mm 7 Imaginationen des Fremden Die Fremde – das sind Orte des Unvertrauten, Orte der Exotik, der Projektionen und Fantasien. Die Fremden – das sind Menschen, deren Gegenwart als unheimlich, bedrohlich oder auch anziehend empfunden wird. Fremde tauchen in literarischen Texten regelmäßig auf, als Außen seiter oder Eindringlinge, aber auch als Verkörperung der Wünsche nach dem ganz Anderen, nach dem Neuen. Wer als Fremder dargestellt und wahrgenommen wird, hängt stark von den historischen, politischen und kulturellen Zusammenhängen ab. In der österreichisch-ungarischen Monarchie waren es immer wieder die Grenzgebiete – allen voran Galizien und die Bukowina – und ihre Bewohnerinnen und Bewohner, die als prototypische Fremde dargestellt wurden: sei es bei Karl Emil Franzos unter dem bezeichnenden Titel Halb-Asien, sei es in Joseph Roths Reportagen und in seinen Romanen wie Radetzkymarsch. Nicht zuletzt ist das sogenannte „Kronprinzenwerk“ auch eine Sammlung ethnografischer Darstellungen zum „wilden Osten“, der zwar Teil der Monarchie war, aber dessen Bevölkerung durch Aussehen, Kleidung und Tradition von den herrschenden Gesellschafts schichten unterschieden wurde. Der Balkan war und ist ein Imaginationsraum, der eng mit der Geschichte und Literatur Österreichs verbunden ist. D imitré Dinev ist ein Beispiel für die Literatur von Autorinnen und Autoren, die aus einer slawischen in die deutsche S prache eingewandert sind und die sich auch mit der G eschichte des Donauraumes in literarischer Form auseinandersetzen. Sein Epochen- und Familienroman Engelszungen (2003) ist dafür ein herausragendes Beispiel; er verwebt die individuelle mit der kollektiven Geschichte und füllt den Imaginationsraum Balkan mit Geschichten und Figuren. OG2 H10, e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 8 Adalbert Stifter Adalbert Stifter, der andere österreichische Klassiker neben Franz Grillparzer, war dem 19. Jahrhundert voraus, ohne beim Publikum des 20. Jahrhunderts jemals recht angekommen zu sein. Das liegt an der ästhetischen Radikalität dieses Schriftstellers und Malers. Seine viele hundert Seiten lange Bildungs geschichte Der Nachsommer (1857) – sie wird als „Erzählung“ bezeichnet – oder auch der im böhmischen Mittelalter spielende ausufernde Roman Witiko (1865–1867) fordern Leserinnen und Lesern einiges ab. Sie werden für ihre Ausdauer mit einer Prosa belohnt, die auf Thomas Bernhards Radikalkritik vorausweist und in ihrer Beobachtungsgenauigkeit ihresgleichen sucht. Ein Beispiel ist die Beschreibung des hier im Modell nachgebauten „Rosenhauses“, von dem alle Wege im Nachsommer wegführen und auf das sie auch wieder hinführen. Dass Stifter schwer zu fassen ist, liegt auch an der Konstruktion einer Weltordnung, die völlig unberührt scheint von den sozialen und gesellschaftlichen Zu mutungen der industriellen Revolution. Stifter stand immer schon unter dem Verdacht, ein unpolitischer Autor zu sein, eher ins Biedermeier gehörend als in eine „realistische“ Epoche. In den späten Texten sind die glücklichen Verhältnisse allerdings auf eine so obsessive Weise in die Erzählungen eingebaut, dass sich bei der Lektüre Misstrauen breit macht: So viel Gutes kann nicht sein. Doch gibt es im Werk auch vielfältige Zeichen einer gestörten oder einer ungreifbaren Ordnung – wie die ungeheure Erschütterung, die die Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842 auslöste. Bei Stifter stecken der Schrecken und das Erstaunen vor der Gleichgültigkeit der Natur gesetze ebenso tief wie der Schrecken vor der Gewalt historischer Prozesse. OG2 G10 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 9 Auf Reisen Im Alter von 44 Jahren packte die Wienerin Ida Pfeiffer die Reiselust, die sie bis zu ihrem Tod 1858 nicht mehr loslassen sollte. Nach ihrer letzten gefähr lichen Unternehmung in das kaum bekannte Madagaskar starb sie an den Spätfolgen einer Malariainfektion. Ihre im 19. Jahrhundert sehr beliebten Reiseberichte sind eindrucksvolle Schilderungen einer Frau, die allein und mit wenig Geld rund 300.000 Kilometer zurücklegte und in zum Teil schwer zugängliche Gebiete gelangte. Sie liefern e thnografische Fallstudien und geben Auf schluss über den Blick einer europäisch und bürgerlich geprägten R eisenden auf „fremde“ Menschen und Länder. Ida Pfeiffer erweiterte die Sammlungen des Naturhistorischen und des Völkerkundlichen Museums in Wien um zahlreiche und bemerkenswerte Exponate, allein im N aturhistorischen Museum sind mehr als 4200 verzeichnet. Alice Schalek hielt ihre Eindrücke nicht nur in Reisefeuille tons für die „Neue Freie Presse“ und in Büchern wie Indien bummel (1912) oder An den Höfen der Maharadschas (1929) fest, sondern auch auf über 6000 Fotografien. Vom Beginn des Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre reiste sie ebenfalls um die ganze Welt und setzte sich in ihren Reportagen nach dem Ersten Weltkrieg vor allem mit der Situation der F rauen und mit sozialen und politischen Veränderungen in den jeweiligen Ländern auseinander. An den Texten beider Autorinnen lassen sich zentrale Aspekte von Reiseliteratur zeigen: die Neugier nach Unbekanntem sowie die Auseinandersetzung mit Fremd heitserfahrungen und die Begegnung mit unterschiedlichen Wertesystemen. Dabei wird immer auch das Verhältnis zwischen Europa und den kolonialisierten Ländern thematisiert. OG2 G8 e2: Kapiteltext KT4-1: 1120x338mm 10 Über die Alpen – Kyselak Der Beamte, Wanderer und Alpinist Joseph Kyselak gilt als einer der ersten Graffiti-Künstler. Dass es ihm gelang, während einer Audienz beim Kaiser seinen Namen auf dessen Schreibtisch zu verewigen, bleibt eine Anekdote ohne Beleg. Sie macht jedoch a ugenscheinlich, weshalb Kyselak Gegenstand zahlreicher Legenden, Anekdoten und Karikaturen, aber auch eines avantgardistischen T extes von Gerhard Rühm und K onrad Bayer wurde. Der „kleine Wiener Steuerbeamte“, der als Akzessist bei der k.k. allgemeinen Hofkammer tätig war, wollte seinen Namen unbedingt berühmt machen: „Wäre er ein großer Wiener Beamter gewesen, so hätte er zu diesem Behufe sicherlich einen Weltkrieg anzuzetteln versucht. Da er aber eben nur ein kleiner Wiener Beamter war, so mußte er sich damit begnügen, seinen Namen auf alle Felsgipfel, auf alle Festungswälle und auf alle Abortwände zu schmieren“ – so der rasende Reporter Egon Erwin Kisch. Von „schmieren“ kann allerdings keine Rede sein, vielmehr ist an Kyselaks Schriftzügen die Sorgfalt seiner typografischen Gestalt auffällig. Kyselak hinterließ aber nicht nur seinen Schriftzug an Felswänden und Mauern von Burgen, Ruinen und Kirchen (18 dieser Signaturen sind erhalten und dokumentiert), sondern auch eine ausführliche Beschreibung seiner 1825 unternommenen Fußreise durch das heutige Österreich und Bayern. Dieser Reisebericht stellt für zahlreiche der teils abgelegenen Orte die erste touristische Beschrei bung dar. Er steht prototypisch für eine Vielzahl an Alpentexten: von Ulrich Bechers Murmeljagd (1969) über Werner Koflers Der Hirt auf dem Felsen (1991) bis zu Martin Prinz' Über die Alpen (2010). OG2 H7 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 11 Das Dorf Das Spektrum literarischer Inszenierungen des Dorfes reicht von der Idylle bis zur Satire. Das Dorf ist Austragungsort ideologischer wie ästhetischer Auseinandersetzungen und wird aus den unterschiedlichsten Perspektiven dargestellt. Die adelige Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach lässt viele ihrer Erzählungen im ländlichen Raum spielen: Modernisierung und soziale Gegensätze z eigen das Dorf im Umbruch. Der Bregenzerwälder Bauer Franz Michael Felder wird durch sein nächte- und winterlanges intensives Lesen zum Sozialreformer und Schriftsteller. Der Abonnent in- und ausländischer Zeitungen findet in seinem Herkunfts dorf Schoppernau einige wenige Gleichgesinnte und mit dem Leipziger Germanisten und Pädagogen Rudolf Hildebrand einen wichtigen Förderer in Deutschland. Das Dorf wurde bei einem Autor wie Karl Heinrich W aggerl zum Gegenpol der modernen, technisierten Großstadt – zum Schauplatz eines antimodernen Programms, in dessen Mittelpunkt Naturverbundenheit und das Phantasma der Unberührtheit und zivilisatorischen Unschuld standen. Ein Roman wie Brot (1930) ließ sich sowohl in die austrofaschistische Propaganda als auch in die nationalsozialistische Blut-und-BodenIdeologie einfügen. Dem stehen nach dem Zweiten Weltkrieg e xperimentelle Darstellungen wie jene Ernst Jandls oder radikal andere, negative „Heimatromane“ wie Thomas Bernhards Frost (1963) und Josef Winklers Trilogie Das wilde Kärnten (1979–1982) gegenüber. Das Individuum ist Gefangener der beengten Verhältnisse eines katholisch geprägten Landlebens. Norbert G strein und Felix Mitterer wiederum setzen sich mit den einschneidenden Auswirkungen des Massentourismus auf die dörflichen Strukturen auseinander. OG2 F8 e2: Kapiteltext KT4-1: 1120x 338mm Seit der Romantik organisierten Frauen der Oberschicht intellektuelle Zirkel, die als Kommunikationsforen fungierten und Möglichkeiten zu informellen Kontakten boten. 12 Netzwerke – Der Salon Während des Wiener Kongresses war Fanny von Arnsteins Palais ein derartiger Treffpunkt. Karoline Pichler führte den Salon ihrer Mutter Charlotte von Greiner fort, in dem Größen der Aufklärung wie Aloys Blumauer, Joseph von Sonnenfels oder Ignaz von Born zu Gast gewesen waren. Bei Pichler verkehrten dann Ferdinand Raimund, Joseph Schreyvogel oder Franz Grillparzer; ihr Haus war Begegnungsort der deutschen Romantiker in Wien und Anlaufstelle für Durch reisende wie die französische Schriftstellerin Madame de Staël. In der Ringstraßenzeit wurde die Villa Josefine von Wertheimsteins und ihrer Tochter Franziska ein künstlerisches Zentrum; hier lasen Betty Paoli und Ferdinand von Saar ihre Texte vor wie auch der junge Hugo von Hofmannsthal. Bertha Zuckerkandl verfasste im algerischen Exil ihre Er innerungen in Form eines Telefonprotokolls mit F reunden, zu denen Gustav Klimt, Otto Wagner oder Arthur Schnitzler gehörten. In ihrem Salon lernte Alma Schindler 1901 ihren späteren Ehemann Gustav Mahler kennen; die Wiener Villa Alma Mahler-Werfels wurde dann ebenso ein Kontakt zentrum wie ihr Sommersitz südlich von Wien. An Eugenie Schwarzwalds Schule, dem ersten Mädchen gymnasium Österreichs, unterrichteten Künstler wie Oskar Kokoschka, Adolf Loos und Arnold Schönberg, die auch im Salon der Pädagogin verkehrten. Sie organisierte 1935 die erste L esung Elias Canettis und unterstützte Robert Musil, der sie im Mann ohne Eigenschaften in der Figur Ermelinda Tuzzis karikierte. Hilde Spiel, Absolventin der Schwarz waldschule, führte nach ihrer Rückkehr aus dem Exil die Tradition des literarischen Salons fort. OG1 ED9, e2 Kapiteltext Regalhaupt lang: 1347x439mm 13 Wien: Wege in die Moderne „Wien um 1900“ – diese schlagkräftige Formel wurde zur Signatur e iner Epoche. In den Jahren zwischen 1870 und dem Ersten W eltkrieg vollzogen sich fundamentale Umwälzungen. Sie betrafen g leichermaßen Lebensverhältnisse, Weltanschauungen und G laubenssätze. Die massenhafte Errichtung von Arbeiter- Zinshäusern in den Vorstädten und der architektonische Prunk der neu angelegten Ringstraße im Zentrum waren der für alle sichtbare Ausdruck der wirtschaftlichen und politischen Verände rungen. H ermann Bahrs U rteil zu den historistischen Stilbrüchen der Ringstraßen-Architektur ist eine Mischung aus Bewunderung und vernichtender Kritik: Die gesamte abendländische Kunst sei hier „nichts als ein ungeheurer Steinbruch von Motiven“ – „keine Null ist je mit solcher fruchtbarer Fülle gesegnet, niemals Nichts sagendes von einer so hinreißenden Beredsamkeit gewesen“. Die Kunst musste angesichts der Erkenntnisse der Naturwissen schaften und der sich beschleunigenden gesellschaftlichen ntwicklungen veraltet erscheinen. Ihre vielzitierte Krise rührte E von den Erschütterungen an ihrer Basis her: Tradition, Religion, die Sicherheiten bürgerlichen Lebens und die Geschlechter verhältnisse – alles stand zur Disposition. Ein gesteigertes Krisenbewusstsein trieb die kulturellen Leistungen der Wiener Moderne hervor. Diese sind um vieles weniger einheitlich als die Epochenbegriffe suggerieren. Gemeinsam ist ihnen eine Konzentration auf Fragen der Wahrnehmung: Wie ich die Welt sehe, mit der Betonung auf „sehe“, ist eine Sammlung von Prosaskizzen Peter Altenbergs ü bertitelt. Das Sichtbare liegt einerseits ganz an der Oberfläche der Dinge, zum anderen liegt es verborgen in der Traumwirklichkeit und wurde verschüttet von s prachlichen und gesellschaftlichen Konventionen. Die künstlerische Subjektivität und Sensibilität soll es mit ganz neuen Mitteln, mit unverbrauchten Bildern und Worten im und durch das Kunstwerk zeigen. OG2 CB9, e2 Kapiteltext Regalhaupt lang: 1347x439mm 14 Die vielsprachige M etropole Wien Als Zentrum eines vielsprachigen und multiethnischen Reiches zog Wien Zuwanderer aus allen Regionen und allen sozialen Schichten an. Um 1900 stammte etwa ein Drittel der 1,6 Millionen in Wien lebenden Menschen aus nicht deutschsprachigen Regionen der österreichisch-ungarischen Monarchie, allein aus Böhmen und Mähren waren es 410.000. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahr hunderts kamen auch immer mehr Schriftstellerinnen und Schrift steller in die Haupt- und Residenzstadt, deren Erstsprache nicht Deutsch war. Sie spielten wichtige Rollen in den kulturellen Transferbeziehungen, die zu einer anhaltenden Verflechtung Wiens mit den „Provinzen“ der Monarchie führten. In Wien entstanden zahlreiche Texte in anderen Sprachen, darunter so bedeutsame wie das Manifest ceské moderny (1895). Autoren wie Ivan Cankar porträtierten die Stadt und ihre M enschen, etwa in Hiša Marije Pomocnice (1904, deutsch: Das Haus zu Mariahilf). Gemeinsam mit Oton Župancic, der in Wien s tudierte, gilt Cankar als Begründer der modernen slowenischen Literatur. Mit der 1898 in Wien von Studenten ins Leben gerufenen Zeitschrift „Mladost“ („Jugend“) setzte außerdem eine kroatische Moderne ein. Der in Lemberg geborene Tadeusz Rittner schrieb sowohl auf Deutsch als auch auf Polnisch und berichtete in seiner Kolumne in der Krakauer Tageszeitung „Czas“ („Die Zeit“) einem polnischsprachigen Publikum aus dem Wiener Kultur- und Alltagsleben. Mit Za štestím (1894, deutsch: Dem Glück nach) erzählte der g rößtenteils in Pilsen/Plzen lebende Karel Klostermann „aus dem Leben der Wiener Böhmen“, wie es im Untertitel heißt. Klostermann hatte seine ersten Texte noch auf Deutsch geschrieben (Böhmerwaldskizzen, 1890), bevor er Tschechisch als Literatursprache wählte. Seine Hauptfiguren blieben aber w eiterhin Deutschsprachige. Auch heute leben und arbeiten in Wien viele zwei- und mehrsprachige Autorinnen und Autoren: von Julya R abinowich und Semier Insayif über Radek Knapp und Vladimir Vertlib bis zu Seher Çakır und Dimitré Dinev. OG2 A8, e2 Kapiteltext KT2: 1455x338mm 15 Letzte Tage der Menschheit: Der Erste Weltkrieg Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges erwies sich für die Schriftstellerinnen und Schriftsteller des österrei chischen Vielvölkerstaates als Prüfstein der eigenen intellektuellen und künstlerischen Positionen. Viele hatten das Gefühl, mit dem Krieg aus einer Phase der Dekadenz und der U nentschiedenheit herausgetreten zu sein: „Der Staat, d essen Unglück es war, seinen historischen Schwerpunkt verloren und e inen neuen noch nicht definitiv g efunden zu haben, ist für die Dauer der weltgeschichtlichen Krise dieser Sorge enthoben“ – so formulierte es Hugo von Hofmannsthal in einem Beitrag aus dem Jahr 1914 mit dem Titel Die Bejahung Österreichs. Die von ihm herausgegebene Österreichische Bibliothek – sie erschien zwischen 1915 und 1917 in insgesamt 26 Bänden – sollte dem Konzept e iner übernationalen, wiewohl (deutsch-) „österreichischen Idee“ eine geistige Basis verschaffen. In der „literarischen Gruppe“ des „k.u.k. Kriegsarchivs“ versammelte sich eine Reihe der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller – von Stefan Zweig über Alfred Polgar und Felix Salten bis hin zu Rainer Maria Rilke; Hugo von Hofmannsthal arbeitete im Pressebüro des „Kriegsfürsorgeamtes“, andere im „Kriegspressequartier“. Die publizistische Produktion Aus der Werkstatt des Krieges, wie ein Sammelband des Kriegsarchivs hieß, provozierte den Spott des „Fackel“-Herausgebers Karl Kraus. Sein einem „Marstheater“ zugedachtes Stück Die letzten Tage der Menschheit nimmt eine solitäre Stellung ein. Klarsichtiger und illusionsloser Kriegsgegner von Anbeginn an, ist Kraus' vielstimmige Satire eine unerbittliche Abrechnung mit den Verant wortlichen der Tragödie. Hier zeigt die missbrauchte prache ihr w S ahres Gesicht: „Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines.“ Georg Trakls letzte Gedichte Klage ( II ) und Grodek entstanden, kurz bevor er am 3. November 1914 in der Psychiatrischen Abteilung des Garnisonsspitals in Krakau starb. Trakl hatte im September 1914 eine der verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkrieges in Grodek bei Lemberg als Teil einer Sanitätskolonne miterlebt – verzweifelt und hilflos angesichts des massenhaften Sterbens. OG2 B8 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 16 Prag – Wien „Den Deutschen will ich setzen euch in Pelz, / Der soll euchknei pen, bis euch Schmerz und Ärger / Aus eurer Dumpfheit we cken, und ihr ausschlagt / wie ein gesporntes Pferd.“ Diese an die Bewohner der Prager Kleinseite gerichtete Drohung Otto kars aus Franz Grillparzers historischem Drama König Ottokars Glück und Ende (entstanden 1823) trug nicht zu dessen Beliebt heit bei den böhmischen Landsleuten bei. Mit der Niederschla gung des tschechischen Aufstands durch Fürst Windischgrätz im Juni 1848 in Prag ging der Traum vom tschechisch-deut schen Ausgleich in Trümmer, der tschechische Nationalismus nahm zusehends militantere Züge an. Die Studenten auf beiden Seiten o rganisierten sich in Geheimbünden und Burschenschaf ten, d enen liberale Lese- und Redehallen gegenüberstanden, die auch von Max Brod und Franz Kafka besucht wurden. Aus einer überwiegend deutschen wurde eine nahezu rein tschechische Stadt. Die Deutschsprechenden bildeten eine Minderheit von etwa 32.000 Personen, mehr als die Hälfte von ihnen Juden. Im Zentrum Prags wurde fast nur deutsch gesprochen, in der übrigen Stadt ausschließlich tschechisch. Die insuläre Lage befestigte die Eigenart des Prager Deutsch als dialektfreies, wortarmes Schriftdeutsch, vergleichbar nur mit dem Laibacher Deutsch. Während J ohannes Urzidil die durch die Reinheit bewirkte Isolation lobte, klagte Rilke, entweder „Kuchelböhmisch“ oder „Kucheldeutsch“ sprechen zu müssen. Der Sprachphilosoph Fritz Mauthner wurde durch das Nebeneinander von Deutsch, Tschechisch und Jiddisch in Prag zu seinen F orschungen angeregt. Seine Schriften übten großen Einfluss auf die österreichische Literatur der Jahrhundertwende aus. Trotzdem oder gerade weil Prag der Brennpunkt nationaler, sozialer und religiöser K onflikte innerhalb der Monarchie war, entwickelte sich hier eine deutsch-jüdische Literatur von Weltgeltung. OG2 A4 e2 Kapiteltext KT7: 995x338mm Zu den Merkmalen der österreichischen Literatur zählt die enge Verbindung zwischen Text, Bild und Musik. Insbesondere der Expressionismus ist stark geprägt von Doppelbegabungen wie Albert Paris Gütersloh oder Oskar Kokoschka. Dies trifft später etwa auch auf Gerhard Rühm zu, einen begeisterten Entdecker expressionistischer Texte und Proponen ten der Avantgarde-Bewegung ab den 1950er Jahren. 17 Expressionismus und Avantgarde Wortneufindungen, eine Verknappung der Sprache und ein direktes Ansprechen des Hässlichen und Tabuisierten in verdichteten Bildern lassen sich als Elemente einer expressionistischen Formensprache benennen. Texte wie Albert E hrensteins Tubutsch (1911) reagierten mit ihrer M ischung aus Fin-de- siècle-Melancholie, Verzweiflung und satirischer Schärfe seismografisch auf die Stimmungslage in den Jahren vor dem „ Großen Krieg“. Einige Jahre später wird der Tonfall politischer, das „O M ensch“Pathos, wie es vor allem Franz Werfel anschlug, wich einer politisch-aktionistischen Haltung. Der vagabundierende Dichter Hugo Sonnenschein („Bruder Sonka“) machte mit Leo Trotzkis Konzept einer permanenten Revolution in der e igenen L ebenspraxis Ernst. Wichtigste Publikationsorte waren oft nur kurzlebige Zeitschriften, die vor allem in der Umbruchszeit nach 1918 gegründet wurden. Psychoanalyse, Marxismus, Tanztherapie, aktivistische Politik und Kunst machten diese Jahre zu einem Experimentierlabor der Ideen und künstlerischen Ausdrucksformen. Anfang der 1920er Jahre machte Dada Urlaub in Tirol. Wien wurde zum Exil für die ungarische Avantgarde, Architektur und Film zu wichtigen Impulsgebern. OG2 B4 e2: Kapiteltext KT7: 995x338mm Franz Kafka entstammte einer jüdischen Kaufmanns familie, die als Teil der deutschsprachigen Minderheit in Prag lebte. Die dichten und anspielungsreichen Texte, die der Autor aus seiner Lebenssituation heraus schuf, gehören heute zum Kanon der Weltliteratur. Das Eigenschaftswort „kafkaesk“ hat Eingang in den Duden gefunden. Auch in zahlreichen a nderen Sprachen wird der Ausdruck verwendet, um darauf hinzuweisen, dass an der modernen Wirklichkeit etwas in unergründlicher Weise bedrohlich scheint. 18 Franz Kafka Kafkas Werk ist mit den zentralen Themen des 20. Jahrhunderts verbunden. Seinen Erzählungen haftet etwas Rätselhaftes an. In Die Verwandlung (entstanden 1912) erwacht die Hauptfigur Gregor Samsa eines Tages in Gestalt eines monströsen Ungeziefers. Die Erzählung In der Strafkolonie (entstanden 1914) beschreibt, wie eine altertümliche Maschine dem Delinquenten das Urteil in den Rücken ritzt und ihn dabei tötet. Die meisten Texte wurden erst nach Kafkas Tod von seinem Freund, dem Schriftsteller Max Brod, heraus gegeben. Darunter auch das berühmte Romanfrag ment Der Process (entstanden 1914/15). Die Haupt figur des Buches, Josef K., gerät in die Mühlen der Justiz, ohne je über seine Schuld aufgeklärt zu w erden. Die Schilderung der bürokratischen Apparate nimmt teilweise slapstickartige Züge an. Am Ende stirbt Josef K. ohne eine Möglichkeit zur V erteidigung oder Gegenwehr. In Kafkas Tagebüchern und Briefen ver mitteln sich Einblicke in die von Schreibhemmungen und Selbstzweifeln geprägten Antriebe seines Schreibens. OG1 A1 e2: Kapiteltext KT2: 1455x338mm 19 1918: Phantomschmerz und Habsburgermythos Ende 1918 kommt es unter dem Vorsitz des Sozial demokraten Karl Renner zur Bildung der ersten deutschösterreichischen Regierung. Nach dem ver lorenen Krieg herrschen Hunger und Wohnungsnot, hunderttausende Soldaten kehren desillusioniert und ohne Perspektive von den Fronten heim. Die Inflation entwertete das Geld, der Zusammenbruch erzeugte eine tiefgreifende politische und ideelle Krise. Joseph Roth, dessen Werk wie kein anderes als literarische Verlustanzeige der Monarchie gelesen wird, beendete seinen Roman Die Flucht ohne Ende (1927) über einen Kriegsheimkehrer mit den Sätzen: „Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt.“ Auf ganz andere Weise überflüssig fühlt sich der feinsinnige Graf Hans Karl Bühl (Kari) in Hugo von Hofmannsthals Gesellschaftskomödie Der Schwierige (1921); er ist die Verkörperung von altösterreichischer Noblesse und zugleich Entscheidungsschwäche. Der Begriff „Habsburgermythos“ stammt vom italienischen Germanisten und Schriftsteller Claudio Magris. Er wurde zur einprägsamen Chiffre für die unterschiedlichen literarischen Bearbeitungen jenes immateriellen Erbes, das nach 1918 in unzähligen, oft klischeehaften und stereotypen Bildern, Erzählungen oder Erinnerungen kursierte. Franz Theodor Csokors als „Requiem für Altösterreich“ bezeichnetes Stück 3. November 1918 (1936) stellt am Beispiel einer Gruppe österreichischer Offiziere, die die verschiedenen Völker der Monarchie repräsentieren, den Zerfall des alten Reiches und seiner Armee dar. Heimito von Doderers großer oman Die Strudlhofstiege (1951) spielt im Wien der R Jahre 1910/11 und 1923 bis 1925. Das entscheidende Datum 1918 bleibt eine Leerstelle. Über die politische Bruchlinie hinweg suggeriert der Roman eine Konti nuität im Alltag und Erleben. Fritz von H erzmanovskyOrlandos literarischer Kosmos wird bevölkert vom liebenswerten, vertrottelten, genialen, berechnenden und herzensguten Personal einer M onarchie, die längst in ein Traumreich entrückt ist. OG1 B5, e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 20 Arbeiterbewegung Literatur und Kunst hatten für die Arbeiterbewegung einen hohen Stellenwert: Sie sollten zu einer um fassenden Bildung der arbeitenden Klasse beitragen und der Verbreitung sozialistischer Ideen dienen. So wurde im „Roten Wien“ der 1920er Jahre das Netz der Städtischen Büchereien erweitert, um für möglichst alle Schichten und Altersstufen einen Zugang zu Büchern zu schaffen. Die sozialdemokratische Kunst stelle o rganisierte die der Hochkultur verpflichteten Arbeitersymphoniekonzerte und sorgte für verbilligte Theaterkarten. Arbeiterlieder und Arbeiterchöre gehörten zum fixen Bestand der präzise choreo grafierten Aufmärsche und Massenveranstaltungen. Sinnbild für den sozialen Fortschritt waren die zahlreichen Gemeindebauten. Josef Luitpold Stern, Leiter der sozialdemokratischen Bildungszentrale und V erfasser von Gedichten, und der Künstler Otto Rudolf Schatz f eierten den sozialen Wohnbau in ihrem Buch Die Neue Stadt (1926). Alfons Petzolds Das rauhe Leben (1920) oder Adelheid Popps Kindheits erinnerungen Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin, von ihr selbst e rzählt (1909) gehören zu einer Reihe von autobiografischen Texten, die Armut im Wien um 1900 eindrücklich darstellten und Wege aus dem Elend aufzeigten. Auch in der Kinder- und Jugend literatur fand die soziale Frage ihren Niederschlag, etwa in Hermynia Zur Mühlens proletarischem Märchen Was Peterchens Freunde erzählen (1921), illustriert von G eorge Grosz. Darin erzählen Alltagsgegenstände wie die Streichholzschachtel, der Eisentopf und die Bettdecke ihre „Lebensgeschichten“ und damit auch von den sozialen Verhältnissen der Arbeiterschaft. OG1 A4 e4: Kapiteltext KT3: 1185x 338mm 21 Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“ In dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil wird der Untergang des alten Österreichs dargestellt, gespiegelt in einer Vielzahl von F iguren und in einer Form, die der essayistischen Betrachtung gegenüber dem purFaktischen oft ein Übergewicht gibt. Die Hauptfigur des Buches ist Ulrich, der titelgebende Mann ohne Eigenschaften. Dem „Wirklichkeitssinn“ stellt er in der Betrach tung der Welt einen „Möglichkeitssinn“ zur Seite. Im August 1913 beschließt Ulrich, sich ein Jahr „Urlaub vom Leben“ zunehmen. In ironischer Distanz betrachtet er die Vorbereitungen zum 70-jährigen Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph, das 1918 gefeiert werden soll. Da im gleichen Jahr der deutsche Kaiser Wilhelm II. sein dreißigstes Regierungsjahr vollendet, bezeichnet sich der Kreis, der die komplizierte Planung übernommen hat, als „Parallelaktion“. Musil hat mit der Arbeit an dem Buch im Jahr 1921 begonnen und an ihm bis zu seinem Tod im Genfer Exil geschrieben. Ein erster Plan des damals noch als „ Spion“-Projekt bezeichneten Vorhabens bestand darin, mit literarischen Mitteln die Gründe für den Aus bruch des Ersten Weltkrieges zu erforschen. Z usehends wurde dieser Ansatz allerdings von der Notwendigkeit einer Reaktion auf die n euen zeitgeschichtlichen Entwicklungen überlagert. Die ersten beiden Bände des Mann ohne Eigenschaften erschienen in den Jahren 1930 und 1932 in Deutschland. Aus dem Nachlass Musils gab Adolf Frisé dann 1943 in Lausanne den dritten Band heraus. Die kaiserlich-königliche österreichisch-ungarische Monarchie bezeichnet M usil in seinem Buch als Kakanien. Auch mit der Hof bibliothek (heute: Österreichische Nationalbibliothek) und der in ihr verankerten geistigen Ordnung setzt sich der Autor in einem eigenen Kapitel auseinander. Die Werkmaterialien zu beiden Abschnitten, d arunter auch Zeitungsausschnitte, auf die sich Musil meist indirekt bezog, zeigen die Arbeitsweise des Schriftstellers und die Orientierungssysteme, die er verwendete, um sich in den mehr als 5000 Manuskriptblättern zurechtzufinden. OG1 A6 e4: Kapiteltext KT3: 1185x338mm 22 Neues Volksstück: „Geschichten aus dem Wiener Wald“ Der österreichisch-ungarische Autor Ödön von Horváth ließ die Tradition des Volksstückes in neuer Form wieder aufleben. 1931 wurde in Berlin sein berühmtestes Stück, Geschichten aus dem Wiener Wald, uraufgeführt. In ihm zeigt der Schriftsteller das kurze Glück und den langen Fall von M arianne. Das Mädel aus Wien verlässt ihren behäbigen Verlobten, den Fleischermeister Oskar, und brennt mit einem Hallodri namens Alfred durch. Dieser Mann bietet ihr und dem gemeinsamen Kind jedoch keine Zukunft. Marianne gerät ins Rotlichtmilieu und wird zwischenzeitlich von ihrem Vater, dem Inhaber eines Zaubergeschäfts, verstoßen. Am Ende ist die junge Frau wieder dort, wo sie am Anfang war. „Zu einem heutigen Volksstück gehören heutige Menschen“, meinte Horváth einmal. In seinen Stücken wird eine b esondere Form des Bildungsjargons wirksam. Die Figuren greifen Zitate aus Bibel, Dichtung oder Alltagsweisheiten auf und verkehren deren Sinn in ihr Gegenteil. Am Ende des Stückes fixiert Oskar das Schicksal von Marianne mit einem Satz: „Ich habe dir mal gesagt, Mariann, du wirst meiner Liebe nicht entgehn –“. In einer Synthese aus Ernst und Ironie entwickelt der Autor neue theatralische Formen, die mit dem traditionellen Volksstück nichts mehr zu tun haben. In den 1970er Jahren setzten Schriftsteller wie Peter Turrini und Felix Mitterer, später auch Werner Schwab diese Be strebungen fort. Auch hier steht die Form des Volksstückes nicht für eine u nreflektierte Heimatkunst, sondern für eine Tendenz radikaler literarischer Aufklärung. OG1 B7 e5: Kapiteltext KT4: 1095x 338mm 23 Genauigkeit und Seele Der „Wiener Kreis“ war eine international bedeutsame Gruppierung von Philosophen, Wissenschaftstheoretikern, Mathematikern und Nationalökonomen. Unter Führung von Moritz Schlick traf sich die Gruppe ab 1922 regelmäßig in Wien. Die meisten Mitglieder ver ließen mit wachsendem Einfluss der Nationalsozialisten das Land. Nachdem Schlick am 22. Juni 1936 auf der Philosophenstiege der Universität Wien von einem ehemaligen Studenten erschossen worden war, endeten die Treffen. Der philosophische Ansatz des Wiener Kreises wird als „Logischer Empirismus“ bezeichnet. Das Hauptanliegen war es, alle Bereiche wissenschaftlicher Tätigkeit auf exakte Begriffe und methodische Genauigkeit zu grün den. Die analytische Philosophie Ludwig Wittgensteins prägte den Ansatz entscheidend mit. Auf die österreichische Literatur übten Wittgenstein und der Wiener Kreis einen unmittelbaren und lange anhaltenden Einfluss aus. In Roberts Musils Mann ohne Eigenschaften sieht Ulrich die Welt in einen rationalen und einen emotionalen Teil auseinanderfallen. Zur Beseitigung des Widerspruchs schlägt er – ironisch – die Einrichtung eines „Erdensekretariats für Genauigkeit und Seele“ vor. Rudolf Brunngraber nutzte in seinem Roman Karl und das 20. Jahrhundert neue Methoden der Statistik. Hilde Spiel kommt in ihren Lebens erinnerungen auf den Wiener Kreis zu sprechen, Hermann Broch verarbeitete erkenntnistheoretische Positionen in seinem Epochenroman Die Schlafwandler, und Ingeborg Bachmann setzte sich mit Ludwig Wittgenstein und dem Wiener Kreis in mehreren Aufsätzen auseinander. OG B8 e2: Kapiteltext KT4: 1095x 338mm 24 Schieber und Spekulanten Während die alten Mittelschichten durch Krieg und Inflation verarmten, gelangten Kriegslieferanten, Schieber und Spekulanten zu enormem Wohlstand. Ihr demons trativ zur Schau gestellter Reichtum sorgte für sozialen Sprengstoff und trug zum Bild der „Goldenen Zwanziger jahre“ bei. Viele österreichische Romane der Zeit bezogen ihren Stoff aus tagesaktuellen Ereignissen und lieferten einen lange übersehenen Beitrag zur Literatur der „Neuen Sachlichkeit“. Selbst in der 1924 im Berliner Verlag Die Schmiede gegründeten Reihe Außenseiter der Gesellschaft – Die Verbrechen der Gegenwart, die repräsentativ ist für die neue Tatsachenliteratur, sind österreichische Autoren namhaft vertreten. Hugo Bettauer beschäftigte sich besonders intensiv mit den sozialen Problemen der Zeit, in Romanen wie Die freudlose Gasse (1924) ebenso wie in seinen eitschriftenprojekten. „Die Wirklichkeit hat ihre Mühe, Z diesem Erzähler nachzukommen“, er kann „gar nicht genug des literarischen Garns spinnen, in das ihm das Leben läuft“, schrieb Alfred Polgar 1924. Bettauer, der am 10. Mai 1925 Opfer eines rechtsradikalen Attentäters wurde, reagierte mit dem Roman Die Stadt ohne Juden (1922) auf die zunehmend antisemitische Stimmung, die oft vom Klischeebild des jüdischen Schiebers ausging. 1930 erschien im Berliner Malik-Verlag Upton Sinclairs Buch Das Geld schreibt. Eine Studie über amerikanische Literatur. Die Übersetzung stammt von Elias Canetti, der Schutzumschlag vom für seine politischen Fotomontagen berühmten Künstler John Heartfield. Die Geschichte der Zensur dieses legendären Schutzumschlages wirft nicht nur ein Schlaglicht auf den Kampf um Macht und Geld, sie ist auch ein Beispiel für den Witz der Buchmacher. OG1 A8 e5: Kapiteltext KT4: 1095x338mm Der Erste Weltkrieg zerrüttete die bürgerlichen Familien. Die Väter und Söhne waren gefallen oder kehrten des orientiert zurück, Kriegsanleihen und Inflation hatten die Familienvermögen vernichtet. Die jungen Frauen aber lernten in den Lazaretten eine neue Selbständigkeit kennen, und die Not der 1920er Jahre zwang sie in die Berufstätigkeit. 25 Die neue Frau Symbol für ihre neue Stellung in der Gesellschaft wurde das kurz geschnittene Haar, das mit dem Begriff „Bubi kopf“ gleich wieder verniedlicht wurde. In Feuilletons und Magazinen wurde intensiv an den Modellierungen des neuen Frauenbildes gearbeitet, und in der Literatur trat erstmals eine ganze Autorinnengeneration auf. Vicki Baum hat diese Entwicklung als Schriftstellerin wie Redakteurin der Lifestylemagazine des Ullstein Verlags ntscheidend mitgeprägt. Als im Oktober 1928 der e Vorabdruck ihres Romans über eine erfolgreiche Karrierefrau stud.chem. Helene Willfüer in der „Berliner Illustrirten Zeitung“ begann, stieg deren Auflage in der Folge um 200.000 Exemplare auf knapp zwei Millionen. Vicki Baum war damals „ein Begriff wie Melissengeist oder Leibniz-Kekse“, so Joe Lederer, die 1928 mit Das Mädchen George selbst einen Erfolgsroman vorgelegt hatte, der zwischen Klischee und Alltagswirklichkeit der „neuen Frau“ sorgfältig unterscheidet. Im selben Jahr erschien auch Mela Hartwigs Erzählband Ekstasen. Sie beschreibt – ähnlich wie Gina Kaus – Machtstrukturen im Verhältnis der Geschlechter und Fragen weiblicher Sexualität mit psychoanalytischem Blick. Alle hier genannten Autorinnen mussten 1938 ins Exil – was mit dazu beitrug, dass ihr Werk oft erst in jüngster Vergangenheit wiederentdeckt wurde. OG1 A9 e2: Kapiteltext KT2: 1476x338mm Anders als in Frankreich hegten deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Frühzeit des Films kulturkritische Vorbehalte gegen das neue Medium. Ab 1910 und besonders in den 1920er Jahren entfaltete der Film jedoch eine ungeheure Sogwirkung. Vor allem in Berlin entstand eine Filmindustrie USamerikanischen Zuschnitts. 26 Das Medium Film Vicki Baums Roman Menschen im Hotel (1929) wurde vor der Buchveröffentlichung im Ullstein-Verlag zunächst mit großem Erfolg in der „Berliner Illustrirten Zeitung“ abgedruckt. Mit der englischen Übersetzung unter dem Titel Grand Hotel begann der Siegeszug des Buches auch in den USA: 1930 wurde am Broadway in New York eine Theaterfassung herausgebracht, 1932 folgte der Film. Die szenische Struktur dieses „Kolpor tageromans mit Hintergründen“ – so der Untertitel – war entscheidend für seine Umsetzung auf dem Theater und im Film. Das Hotel ist die Bühne, auf der das Perso nal der 1920er J ahre seine Auftritte hat, vom fallierenden Baron bis zum Hilfsbuchhalter. 1915 erschien Gustav Meyrinks Bestseller Der Golem. In atmosphärisch dichten Beschreibungen ließ Meyrink das alte jüdische Ghetto in Prag wieder auferstehen. 1920 setzte Paul Wegener den Romanstoff in Szene. Der Golem, wie er in die Welt kam wurde zum ersten Welterfolg des expressionistischen Stummfilms. Es ist die psychoanalytische Struktur des Romans, vor allem das Doppelgänger-Motiv, das auch dem Film seine Suggestivkraft verleiht. Die Begegnungen mit dem Golem werden für den Erzähler zur Konfrontation mit den destruktiven Energien seines verdrängten Trieblebens. Die Verfilmung des Rosenkavaliers 1926 steht an der Schwelle zwischen Stumm- und Tonfilm. Hugo von Hofmannsthal, der das Libretto für die außerordentlich erfolgreiche Oper von Richard Strauss geliefert hatte, schwebte für die Verfilmung ein opulenter Bilderbogen aus der Zeit Maria Theresias vor. Die sich mehr an der Opernhandlung orientierende Filmfassung von Robert Wiene bezeichnete er als den „stümperhaftesten und plumpsten Film, den man sich denken kann“. Hier zeigt sich eine Erfahrung, die viele Autorinnen und Autoren bei der Verfilmung ihrer Werke machen mussten: nämlich ihr geringer Einfluss auf die filmische Umsetzung der literarischen Vorlagen. OG1 BC9 e4-e3: Kapiteltext hoch: 904x445mm 27 15. Juli 1927 Der Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 war ein prägendes Ereignis der Ersten Republik. In ihm entluden sich die politischen Widersprüche des jungen Staates in gewaltsamer Weise. Am Vorabend des Brandes sprach ein Geschworenengericht drei Mitglieder der Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs von der Anklage frei, bei einem Angriff auf eine sozialdemokratische Versammlung in dem kleinen b urgenländischen Ort Schattendorf zwei Menschen erschossen zu haben. Dieses Urteil löste einen Tag später heftige Proteste aus. Gegen Mittag versammelte sich vor dem Wiener Justizpalast eine große Menge von Demonstranten, einzelne drangen in die Räume ein und zündeten Akten und Mobiliar an. Der Wiener Polizeipräsident Johann Schober rüstete die Einsatz kräfte mit Gewehren aus Heeresbeständen aus. Nach Erteilung des Schießbefehls waren auf Seiten der Demonstranten 84 Todesopfer und bei der Exekutive fünf Tote zu b eklagen. In der österreichischen Literatur hat der Justizpalastbrand unübersehbare Spuren hinterlassen. Karl Kraus dokumentierte die Ereignisse in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ und forderte den Polizeipräsidenten auf Plakaten zum sofortigen Rücktritt auf. Elias Canetti bezog aus den Geschehnissen Material für seine große Abhandlung Masse und Macht (1960) und verar beitete das M otiv des Feuers in seinem Roman Die Blendung (1936). Heimito von Doderer w idmete dem Justizpalastbrand in seinem Roman Die Dämonen (1956) ein zentrales Kapitel. In Ingeborg Bachmanns Roman Malina (1971) kommt die weibliche Hauptfigur auf das Ereignis zu sprechen. Der Brand löst sich vom historischen Datum und wird zu einer Gesamt metapher österreichischer Befindlichkeit. OG1 D10, e2: Kapiteltext KT1: 1606x338mm 28 Faszination Berlin Im Wien der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg existierten für österreichische Autorinnen und Autoren nach einer kurzen Phase der Erholung kaum Arbeits- und Publikations möglichkeiten. „Es sind jetzt sehr viele Wiener in Berlin. Karawanen streben aus der österreichischen Wüste in die, trotz allem, oasegrüne Stadt“, schrieb Alfred Polgar 1922. Ab Mitte der 1920er Jahre kommt es zu einem regelrechten Brain-Drain: Schauspielerinnen und Schauspieler, Musikerinnen und M usiker, Regisseurinnen und Regisseure ebenso wie zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller suchten ihr Glück in der Kunst- und Medienschmiede Berlin. Die beiden wichtigsten Zeitschriften der Weimarer Republik – Stefan Großmanns „Tagebuch“ und Siegfried Jacobsons „Weltbühne“ – wurden von den Beiträgen der „Wiener“ ganz w esentlich mitbestimmt – von Albert Ehrenstein über Egon Friedell, Gina Kaus und Anton Kuh bis zu Alfred Polgar und Berthold Viertel. Sie berichten nicht mehr vorrangig aus Wien über Wiener Themen wie in der Vorkriegszeit, sie schreiben vielmehr in Berlin über das, was sie sehen und entdecken. Neben materiellen Beweggründen ist es vor allem die „amerikanische“ Atmosphäre der Stadt, die auch „Altösterreicher“ wie Joseph Roth in ihren Bann zieht. Hier, in der schnellen Metropole, ließen sich österreichische O perettenträume wie das Weiße Rößl mit den Mitteln e iner hochprofessionellen Unterhaltungsindustrie realisieren. In Berlin setzte der österreichische Emigrant Fritz Lang den Film Metropolis in Szene – die Vision der neuen Großstadt schlechthin. Berthold Viertels Bemerkung über Alfred Polgar, er habe in seinen Texten die „gefällige Form“ des Wiener Feuilletons „wie mit scharfer Säure aufgelöst“, mag nicht auf a lle Beiträge der Wienerinnen und Wiener in Berlin zutreffen; sie e nthält jedoch ein treffendes Bild für den Gegensatz z wischen dem althergebrachten Wien und der Modernität Berlins. 1933, mit der Machtergreifung der Nazis, wurde aus dem Faszinosum Berlin ein Alptraum. OG1 D9 e2: Kapiteltext KT1: 1606x338mm 29 Kabarett 1901 eröffnete Felix Salten im Theater an der Wien mit dem „Jung-Wiener Theater zum lieben Augustin“ das erste Kabarett in Wien. Der Beginn der Kabarettkultur in Österreich war aller dings wenig Erfolg versprechend. Nach nur sieben Vor stellungen wurde der Betrieb wieder eingestellt. abarettistische Revuetheater zählt zu den wichtigsten Klein k kunstbühnen Österreichs. In den 1920er Jahren sorgten dort das kongeniale Duo Farkas / Grünbaum und Künstlerinnen und Künstler wie Lina Loos, Armin Berg, Egon Friedell und Hermann Leopoldi für ein volles Haus. Erst ab 1906 entstand eine nachhaltige Kabarettszene. Eben falls im Theater an der Wien wurde das Kabarett „Hölle“ eröffnet. Fritz Grünbaum und Karl Farkas feierten dort ihre ersten Erfolge. Ein Jahr später wurde das „Theater und Kabarett Fledermaus“ in der Wiener Kärntnerstraße gegründet. M itwirkende auf und hinter der Bühne waren u.a. Peter Altenberg, Alfred Polgar und Egon Friedell, der später auch die künstlerische Leitung übernahm. Das „Fledermaus“ bestand als Kabarett nur bis 1913 und ging danach in die Revuebühne „Femina“ über. 1912 eröffnete in der Wiener Wollzeile das Kabarett „Simpl“. Das noch heute bestehende 1926 entstand das „Politische Kabarett“ der Sozialistischen Veranstaltungsgruppe, das in dreizehn Programmen die Politik des konservativen Lagers attackierte. Zum Autoren- kollektiv gehörte u.a. Jura Soyfer, der in den 1930er Jahren bei mehreren Theatern mitwirkte und dessen bekannteste Stücke Der Weltuntergang oder Die Welt steht auf kein' Fall mehr lang (1936) und Der Lechner Edi schaut ins Paradies (1936) heute noch gespielt werden. Ein ebenfalls erfolgreicher Kabarettautor jener Zeit war Peter Hammerschlag. Er verfasste für diverse Wiener Bühnen satirische und groteske Texte und Gedichte. Bekannt wurde Hammerschlag als Autor und Darsteller der Kleinkunstbühne „Der liebe Augustin“, 1931 von der Schauspielerin Stella Kadmon im Souterrain des Café Prückel gegründet. Neben seinen Texten veröffentlichte er auch zahlreiche Illustrationen und Karikaturen. Fritz Grünbaum, Peter Hammerschlag und Jura Soyfer kamen in den Konzentrationslagern der National sozialisten um. OG1 C7 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 30 Bürgerkrieg und Austrofaschismus Am 4. März 1933 kam es zur sogenannten „Selbstaus schaltung des Parlaments“ infolge des Rücktritts der drei Nationalratspräsidenten. Der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nützte die Chance, um ein autoritäres, an ständestaatlichen und faschistischen Ideen orientiertes Herrschaftssystem einzuführen. In Abgrenzung zum Deutschen Reich verfolgte das Regime einen katholischen Weg. Die Propaganda stellte Österreich als das bessere Deutschland dar. Als Nachfolgeorganisation der Christlich sozialen Partei wurde die „Vaterländische Front“ gegründet, die als Einheitspartei fungierte und die parlamentarische Demokratie ersetzte. Nach Aufständen der Arbeiterbewegung kam es vom 12. bis zum 16. Februar 1934 zum Bürgerkrieg. Unter Einsatz von Militär und schweren Waffen zerschlug die Regierung die letzten Strukturen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Mehrere nationalsozialistische Terrorwellen gipfelten am 25. Juli 1934 in einem Putschversuch, bei dem die Senderäume der Rundfunkanstalt RAVAG besetzt, das Bundeskanzleramt gestürmt und Dollfuß getötet wurde. In der Literatur finden sich die unterschiedlichsten Spuren jener Jahre. Die Lyrikerin Christine Busta e rhoffte sich augenscheinlich Vorteile als Mitglied der „ Vaterländischen Front“. Josef Weinheber, seit 1931 Mitglied der NSDAP, bot 1933 den Nationalsozialisten seine Dienste an und bat darum, ihm einen „Platz in der B ewegung a nzuweisen“. Fritz Habeck hielt die Ereignisse des F ebruar 1934 in seinem Tagebuch fest. Im selben Jahr wurde der G roße Österreichische Staatspreis gestiftet. Der erste Preisträger war Karl Heinrich Waggerl. Die Kunstideologie des Ständestaates zeigt sich in der Dominanz ländlicher und religiöser Themen. OG1 D7 e2 Kapiteltext KT3: 1186x338mm Am 15. März 1938 hielt Adolf Hitler auf dem Wiener Helden platz vor über 250.000 Menschen jene berühmt-berüchtigte Rede, mit der die „Heimkehr“ Österreichs ins Deutsche Reich auch symbolisch vollzogen wurde. Unmittelbar nach dem „Anschluss“ setzten der gezielte Terror gegen die jüdische B evölkerung und die Verfolgung politischer Gegner ein. Am 1 . April 1938 ging der erste „Prominententransport“ ins K onzentrationslager Dachau ab. 31 März 1938: Der „Anschluss“ Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler beteiligten sich tatkräftig an der V erherrlichung der nationalsozialistischen Politik. Das vom 1936 gegründeten „Bund deutscher Schriftsteller Österreichs“ im Juni 1938 herausgegebene Bekenntnisbuch österreichischer Dichter enthält Hymnen und Lobgesänge auf Hitler und das Deutsche Reich. Bereits beim XI. Kongress desInternationalen P.E.N.-Clubs im Mai 1933 in R agusa (Dubrovnik) waren durch den Austritt der azisympathisanten aus dem Österreichischen P.E.N. die N Trennlinien offensichtlich geworden. Das 1962 entstandene Gedicht wien : heldenplatz von Ernst Jandl und das zum 50. Jahrestag des „Anschlusses“ 1988 am Wiener Burgtheater uraufgeführte Stück Heldenplatz von T homas Bernhard thematisieren die Massenhysterie rund um die Rede Adolf Hitlers bereits im Titel. Ernst Jandl war Ohrenzeuge des Chors fanatischer Stimmen gewesen, in seinem berühmtesten Gedicht verarbeitet er diese Erfahrung mit den Mitteln experimenteller Poesie: Das Gedicht spricht von einer „aufs bluten feilzer stimme“ und einem „hünig sprenkem stimmstummel“. Die Aufführung von Thomas Bernhards Stück löste einen einzigartigen (Theater-)Skandal aus. Selten gelingt es literarischen Texten, eine politische und moralische Aussage auf so überzeugende und wirkungs volle Weise ästhetisch umzusetzen. OG1 C5 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 32 Lebensläufe 1938–1945: NS-Karrieren, Verfolgung und Vernichtung Unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs wurden die bestehenden kulturellen Institutionen des Landes zwangsweise der deutschen Reichskulturkammer eingegliedert. Diese Behörde, die dem Propaganda ministerium von Joseph Goebbels unterstand, diente der nationalsozialistischen Kulturpolitik als zentrales Instrument der Gleichschaltung. Ein Leben in Opposition zum nationalsozialistischen Machtapparat war im Reichsgebiet kaum möglich, denn das totalitäre Regime regelte alle Agenden der Kultur. Auch der Begriff der „inneren Emigration“ ist nur mit großer Vorsicht zu verwenden. Gerade in Österreich diente er nach 1945 oft dazu, Biografien von schuld haften Verstrickungen reinzuwaschen. Um im Deutschen Reich publizieren zu können, mussten Schriftstellerinnen und Schriftsteller Mitglied der Reichs schrifttumskammer sein. Etwa 800 österreichische Autorinnen und Autoren wurden nach genauer Prüfung der politischen und rassischen Voraussetzungen aufge nommen. Etwa ein Zehntel von ihnen fand im Deutschen Reich gute bis sehr gute Publikationsmöglichkeiten vor. Einige unter ihnen gehörten von 1938 bis 1945 zu den Spitzenverdienern der Branche. Jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie politische Gegner wurden von den Nationalsozialisten offen verfolgt. Unter den Millionen Opfern des National sozialismus finden sich zahlreiche österreichische Autorinnen und Autoren. Einige von ihnen schrieben noch in den Vernichtungslagern Gedichte. Die Literatur der Verfolgten wurde in Österreich relativ spät wiederentdeckt, e inige Namen sind bis heute nahezu unbekannt. OG1 D6 e2: Kapiteltext KT4-1: 1120x338mm 32 Lebensläufe 1938–1945: Flucht, Vertreibung und Exil „Adieu Europa“: Mit einem Fragment gebliebenen Roman projekt nimmt der Dramatiker und Romancier Ödön von Horváth Abschied. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich wollte er in die USA emigrieren. Auf dem Weg dorthin wurde er im Juni 1938 in P aris von einem herabstürzenden Ast erschlagen. Bertha Zuckerkandl flüchtete aus Frankreich erschöpft nach Nordafrika. Der spätere Rabbi und Dichter Elazar Benyoëtz aus Wiener Neustadt erreichte mit seiner Familie als Kleinkind auf einem illegalen Schiff Palästina. Etwa 6000 jüdische Flüchtlinge aus Österreich erreichten als letzten Zufluchtsort das völlig fremde Shanghai. Die Vertreibung vollzog sich im Gefolge einer bereits vor 1938 einsetzenden Praxis der Ausgrenzung. Die Wege ins Exil führten nach England, wie im Falle Erich Frieds oder Hilde Spiels, außerdem nach Frankreich, wohin die Philosophin Hannah Arendt flüchtete, bevor sie im letzten Moment in die USA entkommen konnte. Der jüdische Anwalt und Schriftsteller Albert Drach mobilisierte im französischen Lager Rivesaltes all seinen Sprachwitz und all seine Verstellungskünste, um der Deportation zu entgehen. Die legendäre Salonière und Kulturvermittlerin Ein wesentlicher Teil des künstlerischen und intellektuellen Erbes Österreichs beruht auf den Leistungen der ins Exil getriebenen, größtenteils jüdischen Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ihre Erfahrungen und Leistungen bilden einen essenziellen Teil des österreichischen und europäischen kulturellen Erbes. Die Geschichte des Exils ist untrennbar mit dem Holocaust verbunden. Die Vernichtung ist der Schatten, der über allen Lebensgeschichten liegt. OG1 E2, e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 33 1945: Aufruf zum Misstrauen Nach Ende des Zweiten Weltkrieges gab es keine „Stunde Null“, weder in Deutschland noch in Österreich. Die histori sche Zäsur stellt sich heute als Übergang dar. „In der Tat brauchen wir nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben, in der Tat brauchen wir nicht voraus-, sondern nur zurückzublicken“, schrieb A lexander Lernet-Holenia 1945 aus seinem Refugium in St. Wolfgang an die Zeitschrift „Der Turm“. Während die einen die Österreich-Ideologie des Ständestaates restaurieren wollten, setzten andere wie die Zeitschriftenherausgeber Otto Basil und Ernst Schönwiese auf die (Wieder-)Entdeckung der internationalen Moderne. Diese wurde entscheidend mitgeprägt von aus dem Land Vertriebenen, etwa von Hermann Broch oder dem im Schweizer Exil gestorbenen Robert Musil. Manche wie die Publizistin und Schriftstellerin Hilde Spiel vollzogen eine langsame Heimkehr in ein widersprüchliches Land, in dem die Aufbruchstimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit bald von einem kulturfeindlichen Klima abgelöst wurde. Viele kehrten spät oder nicht mehr zurück. Eine junge Generation, unter ihnen H. C. Artmann, Michael Guttenbrunner, Friederike Mayröcker und Andreas O kopenko, begegnete der restaurativen Literatur mit Misstrauen und entdeckte für sich den Surrealismus und die Spielarten einer unkonventionellen Literatur. Das galt aber nicht für alle. Fritz Habeck, der Erfolgsschriftsteller der 1950er Jahre, schrieb realistische Romane über die prägende Erfahrung des Soldaten im Krieg, was ihn mit Ernest Hemingway verband. Ilse Aichingers Aufruf zum Misstrauen aus dem Jahr 1946 mit seinem Plädoyer für die Selbstverantwortung des Einzelnen und für sprachliche Sensibilität ist Ausdruck der ambivalenten politischen und mentalen Nachkriegsstimmung. OG1 E4, e4: Kapiteltext KT4-1: 1120x338mm Das Gedicht Todesfuge des 1920 in Czernowitz, Bukowina geborenen deutsch-jüdischen Lyrikers Paul Celan entstand Anfang 1945. Es ist einer der frühesten und wichtigsten Texte, die sich mit der Vernichtung der europäischen Juden auseinandersetzten. 34 NS-Terror und literarische A ufarbeitung Wie kann die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und der flächendeckende NS-Terror literarisch dargestellt werden? Der Philosoph Theodor W. Adorno prägte das Diktum, dass es „barbarisch“ sei, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben“. Davon ausgehend wurde in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 immer w ieder diskutiert, ob und mit welchen litera rischen Mitteln das unfassbare Geschehen beschreibbar ist. In der österreichischen Literatur setzte die literarische Aufarbeitung des Nationalsozialismus relativ spät ein. Hans L eberts großer Roman Die Wolfshaut (1960) schreibt die Verbrechen des Nationalsozialismus in einen zugleich mythischen und r ealistischen Kontext ein. In den nachfolgen den Jahrzehnten nahmen sich viele Autorinnen und Autoren der Thematik an. Diese Bücher wurden ab den 1970er Jahren auch von einer breiten literarischen Öffentlichkeit wahrgenommen. Während die österreichische Nachkriegs politik die Mitverantwortung bis in die 1980er Jahre leugnete und verdrängte, leistete die Literatur einen entscheidenden Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. In dieser Auseinandersetzung entwickelte die österreichi sche Literatur ein breites Formenspektrum. Es reicht von experimentellen A nsätzen (Andreas Okopenko, Heimrad Bäcker) über verschiedene Erzählformen (Peter Henisch, Marie-Thérèse Kerschbaumer, Martin Pollack, Robert Schindel, Christoph Ransmayr) bis hin zu den Textflächen Elfriede Jelineks. OG1 FG9, e2 Kapiteltext Regalhaupt lang: 1347x439mm 35 Literatur und Engagement Die österreichische Literatur hat den Ruf, unpolitisch zu sein. Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer (1857) kann als Ausflucht in idyllische Provinzwelten g elesen werden, Franz Grillparzers s chwankende Einschätzung der Revolution von 1848 und seine b ewahrende Haltung in Hinblick auf den habsburgischen Vielvölkerstaat können ebenfalls als Indizien z itiert werden. Auch der Zusammenbruch von 1918 hatte in Wien keine revolutionären Aufstände zur Folge, die etwa mit der Münchner Räterepublik und den Spartakuskämpfen in Deutschland vergleichbar wären. Die öster reichische Literatur reagierte auf die politischen U mwälzungen eher ästhetisch als mit e inem politisch-aktivistischen Programm. Auch die Proteste im Jahr 1968 hatten in Österreich oft aktionistischkünstlerischen Charakter. Mit einer gewissen Verzögerung im Vergleich mit a nderen euro päischen Ländern entwickelte sich in den 1970er und 1980er Jahren jedoch eine dezidiert politische Literatur. Ihr Spektrum reicht vom Dokumentarhörspiel bis zur Verbindung experimenteller F ormen mit politischen Statements. Autorinnen und A utoren traten vermehrt in die politische Arena und schufen mit ihren Auftritten und publizistischen S tellungnahmen eine kritische Gegenöffent lichkeit. K ulminationspunkte waren im Sommer 1976 die ArenaBewegung mit der Besetzung eines ehemaligen Schlachthofes in Wien; 1985 und in den Folgejahren die Proteste gegen die Kandidatur von Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten, der zur Symbol figur der verdrängten NS-Vergangenheit wurde. 1995 wurden mit der Ermordung von vier Menschen, die der Volksgruppe der Roma angehörten, Fremdenhass und die Ausgrenzung von Minderheiten für alle sichtbar und zu einem öffentlichen Thema. Josef Haslinger, oron R abinovici, Marlene Elfriede Jelinek, Robert Menasse, D Streeruwitz und a ndere w urden nicht selten zu angefeindeten und als Nestbeschmutzer diffamierten Leitfiguren eines a nderen und sich seiner Verantwortung bewussten Österreich. OG1 H9 e2: Kapiteltext KT4-1: 1120x338mm 36 Die Schule in der Literatur: Zöglinge und Erzieher Die zahlreichen Schul- und Internatsgeschichten der österreichischen Literatur sind geprägt von Disziplinierung und Zwang zu Gehorsam. In Friedrich Torbergs Roman Der Schüler Gerber endet der Macht kampf z wischen dem rebellischen Schüler und dem Lehrer Kupfer mit dem Selbstmord des Jugendlichen. Auch Florian Lipuš' Zögling Tjaž (1981) stürzt sich in den Tod. Er war aus dem Internat a usgeschlossen w orden, gegen dessen Lebens- und Sexualfeindlichkeit er sich vergebens gewehrt hatte. Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) thematisiert die psychischen wie die sozialen Konflikte J ugendlicher, die gerade an einem g eschlossenen Ort wie dem Inter nat mittels brutaler k örperlicher und s eelischer Gewalt ausgetragen werden. Einem Akt k ollektiver Gewalt von Internatsschülern geht auch M ichael Köhlmeier im Roman Die Musterschüler (1989) in einem harten echselspiel von Fragen und A W ntworten nach. Dieses Buch wie auch Barbara F rischmuths Die Klosterschule (1968) oder Josef Haslingers Der Konviktskaktus (1980) machen deutlich, welche Verletzungen eine autoritäre religiöse Erziehung hinterlassen kann. Schule, wie sie in diesen Büchern vorkommt, wird als Ort missverstanden, an dem es gilt, jeglichen individuellen Willen zu brechen. Im Mittelpunkt steht damit auch die Frage nach den Spielräumen und Entfaltungsmöglichkeiten, die Kinder und Jugendliche haben. Das Internat oder die Schule im Allgemeinen bilden einen gesellschaftlichen Mikrokosmos und sind von Machtkämpfen und autoritären Strukturen ebenso geprägt wie von Freundschaft und Solidarität. OG1 H8 e4: Kapiteltext KT4: 1095x338mm Ab Beginn der 1970er Jahre wird die Beschreibung vor allem ländlicher Arbeitswelten zu einem bestimmenden Thema der österreichischen Literatur. Die Wunschvor stellungen von Lebensglück und Lebenssinn scheitern an Verhältnissen, die auch noch Jahre nach dem Krieg geprägt sind von patriarchalisch-katholischen Strukturen, von Gewalt gegenüber Frauen und von der Abgeschlos senheit sozialer Milieus. 37 Arbeitswelten Mutter noch die Liebhaberinnen in Elfriede Jelineks gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1975 und auch nicht der Tischlerlehrling Melzer in Gernot Wolfgrubers Roman Herrenjahre (1976) verfügen über ihr Leben und ihre Sprache. Die Hausfrau und Ehefrau in Margit Schreiners Haus, Frauen, Sex (2001) ist Gegenstand e ines Dauermonologes des ehemaligen Ehemannes. Welche Möglichkeiten eines selbstbestimmten intellek Psychische wie physische Gewalt gegenüber „leibeigenen“ tuellen Lebens eröffneten sich für Frauen in den 1960er und 1970er Jahren abseits des gesellschaftlichen Mainstreams? Knechten und Mägden bestimmt Franz Innerhofers auto Damit setzt sich Marlene Streeruwitz' 2010 entstandener biografisch geprägten Roman Schöne Tage (1974). Auch Videoessay zum 35-jährigen Jubiläum von „AUF – eine FrauenJosef Haslingers Der Tod des Kleinhäuslers Ignaz Hajek zeitschrift“ auseinander. In die scheinbar schöne und saubere (1985) erzählt von der demütigenden Arbeit als Knecht. Arbeitswelt der Praktikantinnen, IT-Supporter und Key Peter Handkes Erzählung Wunschloses Unglück (1972) ist Account Manager führt Kathrin Rögglas mit dokumentari der Versuch, für die Biografie der Mutter, die Selbstmord schen Mitteln erarbeiteter Roman wir schlafen nicht (2004). begangen hat, eine Sprache zu finden. Weder Handkes OG1 G5 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 38 Das Theater und seine Wirkung Am 22. August 1920 wurden mit der Aufführung von Hugo von Hofmannsthals Stück Jedermann unter der Regie von Max Reinhardt die neu gegründeten Salzburger Festspiele eröffnet. Die Festspiele sollten in engem Bezug zur kulturellen Tradition Österreichs und zur Szenerie der Barockstadt Salzburg stehen – von den mittelalterlichen Mysterien- und Passionsspielen über die barocken Hoffeste bis zur bürgerlichen Theaterkultur. Hofmannsthal verband nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie mit den Festspielen die Hoffnung auf eine geistig-kulturelle Neubestimmung der österreichi schen Identität. König Ottokars Glück und Ende statt. Das Stück handelt vom Beginn der Habsburgerherrschaft und enthält eine legendäre Lobrede auf Österreich. Die dramatische Bearbeitung eines österreichischen Gründungsmythos besaß wenige Monate nach Unterzeichnung des Staats vertrags ganz b esonderen Symbolcharakter. Im Burgtheater ereignete sich auch einer der größten Theaterskandale des Landes. Das von Thomas Bernhard aus Anlass der 50-jährigen Wiederkehr des „Anschlusses“ 1988 geschriebene Stück Heldenplatz führte zu einer landesweiten Empörung. Vorab publizierte Textpassagen lösten eine öffentliche Hetzkampagne gegen Autor Im April 1945 wurde das Burgtheater durch einen Bomben- und Text sowie Regisseur Claus Peymann aus. Dass das angriff vollständig zerstört. Die Wiedereröffnung des Theater wie kaum eine andere Kunstform polarisiert, Theaters an der Wiener Ringstraße fand am 15. Oktober veranschaulichen Stücke von Wolfgang Bauer, Ulrich 1955 mit Franz Grillparzers historischem Drama Becher, Peter Handke und Elfriede Jelinek. OG1 H4 e2: Kapiteltext KT4: 1095x 338mm Mehr als 45 Jahre lang währte der „Kalte Krieg“. Bis zur Auflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion im Jahr 1991 war die Welt in zwei ideologische Lager geteilt: auf der einen Seite die westlichen Demokratien unter Führung der USA , auf der anderen Seite die kom munistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion. 39 Kalter Krieg und Apokalypse Österreich bildete in der Nachkriegszeit eines der ersten Konfrontationsfelder der Blockmächte, was sich n achhaltig auf Politik, Kultur und Gesellschaft auswirkte. Eine Reihe von Büchern liefert scharfe Momentaufnahmen der gesell schaftlichen Atmosphäre jener Zeit, allen voran Milo Dors und Reinhard Federmanns Gemeinschaftsromane wie etwa Internationale Zone (1953). Federmanns Das Himmelreich der Lügner (1959) sowie Robert Neumanns Die Puppen von Poshansk (1952) zählen zu den bedeutendsten Romanen über den Kalten Krieg. Mit der Gefahr eines nuklearen Konfliktes und apokalyptischen Visionen setzte sich Marlen Haushofer in ihrem Roman Die Wand (1963) auseinander. Der Ost-West-Konflikt reichte weit in den Literaturbetrieb hinein. Friedrich Torbergs Zeitschrift „FORVM“ erhielt – über den „Kongreß für kulturelle Freiheit“ – ebenso finanzielle Mittel vom amerikanischen Geheim dienst CIA wie die „Österreichische Gesellschaft für Literatur“. Letztere wirkte an einem Programm mit, das von 1956 bis 1991 etwa 10 Millionen Bücher und Zeit schriften hinter den Eisernen Vorhang schickte, um den Intellektuellen in Osteuropa den „geistigen Anschluss“ an den Westen zu ermöglichen. In diesem Kontext ist auch die Kafka-Konferenz in Liblice bei Prag 1963 zu sehen, die einen Demokratisierungsprozess einleitete. Kafka w urde zum Vehikel für die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit. OG1 G2 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm 40 Todesarten Todesarten – so nannte Ingeborg Bachmann ein 1962 begon nenes Projekt, das sie bis zu ihrem Tod 1973 in Rom verfolgte. Der einzige abgeschlossene Text dieser „Studie aller mög lichen Todesarten“ ist der Roman Malina (1971). Der Titel ist wörtlich zu verstehen, es geht um – alltägliche – Verbrechen und um – alltägliche – Gewalt. Der private Lebens-Roman ist nicht vom katastrophalen Weltgeschehen abzulösen. Von unmittelbarer physischer und p sychischer Bedrohung u nter Wahrung der gesellschaftlichen Konventionen erzählt der sehr weit gediehene Roman Der Fall Franza. Die Fragment gebliebenen Texte Requiem für Fanny G oldmann und der „Goldmann / Rottwitz Roman“ sowie die Erzählungen aus dem Band Simultan (1972) sind e benfalls dieser literarischen Ana lyse e iner von Männern d ominierten Weltordnung z uzurechnen. Ausgangspunkt von Thomas Bernhards letztem publiziertem Roman Auslöschung (1986) ist ein Unfall, bei dem die Eltern und der Bruder Franz Josef Muraus umkommen. Der in Rom lebende Murau sieht sich gezwungen, seinen „Herkunfts komplex“, der untrennbar mit dem in Oberösterreich gelegenen Schloss Wolfsegg verbunden ist, zu verarbeiten. Mit der Erzählung und dem Film Der Italiener besitzt der Roman eine bis Ende der 1960er Jahre zurückreichende Vorgeschichte. Die im Roman auftretende Dichterin Maria ist eine Hommage an Ingeborg Bachmann. Maria, die „Römerin sein will, gleichzeitig Wienerin“, schreibt aus einem „gefährlichen Gefühls- und Geisteszustand heraus ihre großen Dichtungen“. Eine Klammer bildet Elfriede Jelineks Roman Gier (2000), der eine der sieben Todsünden in den Mittelpunkt stellt und im Titel an eine Erzählung aus Simultan erinnert. J elinek hat das Drehbuch zu Werner Schroeters Verfilmung von Malina ver fasst, auf andere Weise führt sie Bernhards r adikale Kritik an den – österreichischen – Verhältnissen und Bachmanns Kampf um eine Position als schreibende Frau fort. OG1 I5 e2 Kapiteltext KT4: 1095x338mm 41 Formationen der Avantgarde Am Rande des österreichischen Literaturbetriebes wuchs in den 1950er Jahren in Wien eine neue literarische Jugend heran. Nicht der Roman, sondern die kleinen Formen der Literatur waren ihre bevorzugten Ausdrucksmittel. Mit Ge dichten traten Hertha Kräftner, René Altmann und Andreas Okopenko hervor. Ernst Jandl zeigte sich der formalen Innovation besonders aufgeschlossen. Mit seinen Lautgedichten wurde er später zu einem ersten Popstar der Literatur. In den Arbeiten der Wiener Gruppe ist Literatur an eine alternative Lebensform gebunden. Dandyhaft und betont cool traten einzelne Mitglieder der Gruppe auf und s etzten sich damit als Künstler in Szene. In Gemein schaftsarbeiten erprobten die Autoren alternative Ver fahren der Textherstellung. In internationalen Tendenzen und v erschütteten Traditionslinien der deutschsprachigen Literatur fanden die Autoren neue Bezugspunkte. Die Wiener Gruppe war eine Avantgardebewegung im engeren Sinn. Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener versammelten sich Ende der 1950er Jahre um den etwas älteren H. C. Artmann. In „poetischen Acten“ und anderen Happenings verschafften sie sich Aufmerksamkeit und in „literarischen cabarets“ präsentierten sie ihre Texte als effektvolles Anti-Theater auf der Bühne. Mit dem Selbstmord Konrad Bayers 1964 fiel die Wiener Gruppe auseinander. Radikalere künstlerische Ausdrucks formen des Wiener Aktionismus entwickelten sich. Nach einer Aktion zum Thema „Kunst und Revolution“ an der Universität Wien im Jahr 1968 (vom Boulevard als „Uniferkelei“ bezeichnet) emigrierte Oswald Wiener nach Berlin. Dort konstituierte sich die österreichische Avantgarde in e inem neuen Umfeld. OG1 I7 e5: Poetische Korrespondenzen: Kapiteltext KT3: 1185x338mm Der Brief in der Literatur verfügt über eine lange Geschichte. Seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts befreite er sich zu nehmend aus den Fesseln stilistischer Konventionen. Der Brief wird zum Medium persönlicher Mitteilungen, die Schreiberinnen und Schreiber entwickeln individuelle Ausdrucksformen. Eine besondere Rolle spielten dabei die Korrespondenzen von Autorinnen und Autoren, beispielhaft sind die Briefwechsel Goethes. 43 Poetische Korrespondenzen Im 20. Jahrhundert entfaltet sich eine Form brieflicher Kom munikation, in der Briefe Kunstcharakter gewinnen können. Von den illustrierten Briefen der „Doppelbegabung“ Alfred Kubin an seinen Verleger Reinhard Piper bis hin zu Postkar ten, deren begrenztes Format das Schriftbild beeinflusst. „Korrespondenz“ meint aber nicht nur Briefe im engeren Sinne, sondern auch das Tagebuch, in das der Geliebte ineinschreibt; ebenso gemeinsam verfasste Texte, wie h sie in der Anfangszeit beim schreibenden Paar Friederike Mayröcker und Ernst Jandl entstanden; oder den brieflichen Austausch von Gedichten wie bei Ingeborg Bachmann und Paul Celan, der auf die Grenzen des in Briefen Sagbaren hinweist. Immer geht es um die Selbstbestimmung im Austausch mit einem Gegenüber, davon zeugt in pointierter W eise der Briefwechsel zwischen Hilde Spiel und Thomas Bernhard. Die Zeit der „poetischen“ Korrespondenzen ist weitgehend vorbei. Auch Autorinnen und Autoren kommunizieren via E-Mail und Mobiltelefon, die Sphären des Privaten und Öffentlichen verschwimmen in den sozialen Netzwerken. Immer weniger B riefe finden Eingang in Archive. Das steigert den auratischen Wert der überlieferten Korrespondenzen. OG I8 e2: Kapiteltext KT4: 1095x338mm Was steht am Beginn eines literarischen Werkes? Ein detaillierter Bauplan oder ein hingeworfener Gedanke? Wie vollzieht sich die Entwicklung eines Textes? In genau geplanten Arbeitsschritten oder als freies Wachstum? Welche Techniken verwenden Autorinnen und Autoren im Schreiben? Wo und wie halten sie fest, was sie beschäf tigt? Schreibt man außerhalb des Arbeitszimmers anders als am Schreibtisch? Wie und von wem werden Texte korrigiert? Wann und wo endet die Arbeit am Werk? 44 Schreibprozesse In diesem Kapitel werden prozesshafte Tätigkeiten im Umfeld des Schreibens vorgestellt: von den Eindrücken, die Peter Handke gewinnt, wenn er sich zu Fuß durch die Landschaft bewegt, bis hin zur reinen Sprachtechnik des Anagramms bei Elfriede Czurda. Planerische Entwürfe liegen Arbeiten von Heimito von Doderer, Ernst Jandl und Robert Menasse zugrunde. Recherchematerialien sammeln sich bei Walter Kappacher und Andreas Okopenko. Die Handschrift von Gert Jonke verläuft wie ein stetiger sprachlicher Fluss, in einem Zettelchaos droht Friederike Mayröcker in ihrer Wohnung zu versinken. Reinhard Priessnitz stellte an seine Gedichte die höchsten formalen Ansprüche und gab sie nur zögerlich aus der Hand. Arno Geiger überantwortet seine Prosa dem Lektorat eines befreundeten Autors. Bei Elias Canetti zeigen sich Techniken des wissenschaftlichen Schreibens: die Ausein andersetzung mit anderen Büchern in Exzerpt und Notiz. Notizbücher von Schriftstellerinnen und Schriftstellern sind oft aufwendig gestaltet. Manchmal vermitteln diese kleinen Kunstwerke den Eindruck, nicht allein als Hilfsmittel für das Werk gedient zu haben, sondern bereits selbst für die Nachwelt gemacht zu sein.