Barmherzigkeit_szabo - Katholische Akademie in Bayern

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Barmherzigkeit_szabo - Katholische Akademie in Bayern
Kanonisches Recht und Barmherzigkeit aus der Perspektive des
orientalischen Kirchenrechts
Péter SZABÓ
(Budapest/Nyíregyháza – Ungarn)
Einleitung
Zuallererst möchte ich Ihnen meinen Dank für die Einladung zu diesem
beachtenswerten akademischen Ereignis aussprechen. Es ist mir eine Ehre,
meinen Beitrag in Gegenwart zweier so angesehener Kanonisten als
Hauptvortragende an diesem Nachmittag präsentieren zu dürfen. Zugleich danke
ich den Organisatoren aufrichtig dafür, in dieser bedeutenden und aktuellen
Thematik die Aspekte des orientalischen Kirchenrechts mit zu berücksichtigen.
Vermutlich hat Prof. Pree diese Entscheidung unterstützt, zumal in seinem
überaus beachtlichen akademischen Schaffen Themen des orientalischen
Kirchenrechts in den letzten Jahren einen wachsenden Stellenwert eingenommen
haben.
Mehrere grundlegende monographische Studien befassen sich mit dem Begriff
und der praktischen Anwendung der „Barmherzigkeit“ in der Westkirche.1 Eine
Art „Definition“ bzw. eine präzise Kurzbeschreibung gibt Thomas von Aquin.2
Will man die Problematik aus orientalischer Perspektive untersuchen, so stellt
sich als erste Frage, ob „Barmherzigkeit“ dort in genau demselben Sinne
verstanden wird wie im Westen. Darauf gibt es gewiss keine kurze Antwort.
Schon diese Art der Fragestellung selbst ist östlichem Denken fremd, das von
Natur aus weniger an formalen Definitionen interessiert ist. Hierzu darf ich eine
brillante Bemerkung von Yves Congar in Erinnerung rufen, derzufolge die
Orientalen bzw. die Orthodoxie „not only does not need to define but (rather)
needs not to define“.3
Obwohl die östlichen Quellen oft von Barmherzigkeit sprechen, reflektieren sie
eine zwar inhaltlich reichhaltige, aber begrifflich wenig durchdrungene Idee,
1
Pier Giovanni CARON, „Aequitas“ romana, „misericordia“ patristica ed „epicheia“ aristotelica nella dottrina
dell’“aequitas“ canonica, Milano 1971; Thomas SCHÜLLER, Die Barmherzigkeit als Prinzip der
Rechtsapplikation in der Kirche im Dienste der salus animarum: ein kanonistischer Beitrag zu
Methodenproblemen der Kirchenrechtstheorie, Würzburg 1993; Walter KASPER, Barmherzigkeit: Grundbegriff
des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens, Freiburg-Basel-Wien 2012.
2
Summa Theologiae II-II q. 30. Thomas zufolge ist Barmherzigkeit die „compassionate sorrow at another’s
misfortune together with a will to alleviate it, it is genuine love in relation to an unhappy being. The encounter of
love and misery gives birth to mercy, which is therefore one of the essential forms of charity, situated in the very
heart of the Christianity”: J. M. PERRIN, “Mercy”, in: New Catholic Encyclopedia, Second Edition, Washington
2003 (NCE) , 504.
3
Yves CONGAR, Diversità e comunione, Assisi 1983, 91.
1
wie sich aus der einschlägigen Literatur unschwer feststellen lässt.4 Vor etwa 50
Jahren beendete William Frazier, um ein Beispiel zu nennen, seine Dissertation
zum Thema „The Pre-Eminence of Divine Mercy according to Greek Fathers“
mir den Worten: in diesen Schriften „hardly ever does the idea of God’s mercy
rise fully to the surface and receive the express and minutely calculated attention
that other dogmatic questions enjoyed… For the patristic approach to divine
mercy we have more an attitude of thought than a consciously organized body
of teaching”. 5 Aber damit nicht genug. Eine beeindruckende Gestalt der
syrischen Tradition, Isaak von Ninive, z.B., hielt Gerechtigkeit und
Barmherzigkeit für diametral entgegengesetzt und daher für absolut miteinander
unvereinbar.6 Gewiss sind überraschende Sichtweisen der göttlichen
Barmherzigkeit kein ausschließliches Erbe der östlichen Kirchenväter, wie so
manche großartige (aber doch eher rätselhafte) Stelle bei Ambrosius von
Mailand belegt.7 Ich denke, diese knappen Hinweise belegen klar, dass es
unmöglich ist, die Weite (und die dementsprechende begriffliche
Ungenauigkeit) der Idee der Barmherzigkeit, wie sie in den östlichen Quellen
anzutreffen ist, auf eine klare und fest umrissene formale Definition zu
reduzieren. Diese und ähnliche Kostbarkeiten der patristischen Tradition können
nicht einfach beiseite gelassen werden; aber aus dem eben genannten Grund
taugen sie kaum als verlässlicher Ausgangspunkt für eine – noch dazu zeitlich
eng limitierte – rechtliche Betrachtung.
Schließlich erweist sich „Barmherzigkeit“ in gewisser Weise der „oikonomia“
ähnlich. Doch bekanntlich nehmen diese Ausdrücke je nach Zeit und Kontext
unterschiedliche Bedeutungsnuancen an. Da wir an diesem Nachmittag die
Ausführungen eines hervorragenden Experten über theoretische Aspekte der
Barmherzigkeit hören werden, erachte ich es nicht als meine Aufgabe, dieselben
Gesichtspunkte anzusprechen. Vielmehr möchte ich einige typische Beispiele
barmherzigen Umgangs, die wir im östlichen Kirchenrecht vorfinden, in
Erinnerung rufen und kurz erörtern.
Im Sinne dieser Vorbemerkungen möchte ich meine Ausführungen in drei
Schritten präsentieren: (1) Die Barmherzigkeit als unermesslicher Strom
göttlicher Gnade; mit einigen Beispielen aus dem orientalischen
Sakramentenrecht; (2) Barmherzigkeit als heilsame pädagogische „Strenge“ zur
Bekehrung des Sünders; (3) Barmherzigkeit als Bereitschaft, jemandem in
4
Beispiele: B. FRAZIER, The Pre-Eminence of Divine Mercy according to the Greek Fathers, Rome 1959;
Basilio PETRÀ, Misericordia divina e misericordia umana nella tradizione ortodossa, in: Maurizio MARIN –
Mauro MANTOVANI (a cura di), “Eleos”: l’affanno della ragione tra compassione e misericordia, Roma 2002,
225-243.
5
FRAZIER, The Pre-Eminence (Anm. 4) 140.
6
ST. ISAAC THE SYRIAN, Homily Fifty-One, in: The Ascetical Homilies of Saint Isaac the Syrian (Holy
Transfiguration Monastery), Boston 1984, 244.
7
„Ambrose, in an astonishing statement, wrote that God did not rest from creating until he had made men, for
now he could exercise his mercy, ‚there now being someone whose sins he could forgive’ (in Hex 6. 10)”: T. G.
WEINANDY, “Mercy of God”, in: NCE (Anm. 2) 507.
2
großer Not zu helfen: praktische Bedeutung bei begrenzter theoretischer
Erfassbarkeit.
1. Barmherzigkeit als unermesslicher Strom göttlicher Gnade
Der vor Kurzem im Diccionario General de Derecho Canónico erschienene
Artikel über Barmherzigkeit („misericordia“) listet etwa dreißig Canones auf,
die als Ausdruck von Barmherzigkeit im CIC/1983 angesehen werden
können. Diese Bestimmungen betreffen hauptsächlich schwierige Situationen
oder gehören zum Strafrecht.8 Mit gewissen Änderungen finden sich diese
Normen auch im CCEO/1990.
Zuerst möchte ich mich einigen Charakteristika des orientalischen
Sakramentenrechts zuwenden. Wenn es wahr ist, dass der unermessliche
Strom der Gnade eine besondere Äußerung der göttlichen Barmherzigkeit,
wie sie durch die Kirche vermittelt wird, ist, dann kann die früher und
leichter mögliche Spendung von Sakramenten als typischer Ausdruck davon
und als Instrument dafür angesehen werden. Auf diesem Gebiet gibt es einige
augefällige Unterschiede zwischen dem orientalischen und dem lateinischen
Kirchenrecht, die auch in den beiden Codices ablesbar sind.
Ein erster erwähnenswerter Unterschied besteht darin, dass der CCEO die
Spendung der Taufe eines Kindes nicht-katholischer Eltern, die es in ihrem
eigenen Glauben erziehen wollen, erlaubt. C. 868 § 1, 2° CIC hingegen
schließt, jedenfalls nach seinem Wortlaut, diese Möglichkeit aus. (Man
könnte jedoch auch argumentieren: der einzige Zweck dieser lateinischen
Norm ist es, die Taufe eines Kindes indifferenter katholischer Eltern hintan
zuhalten; folglich betrifft das Verbot nicht das ungetaufte Kind von
Nichtkatholiken, die ihrem eigenen Glauben, auch für die Erziehung des
Kindes, treu bleiben wollen.9)
Wohl bekannt ist, dass die orientalischen Kirchen auch im Falle der KinderTaufe alle Initiationssakramente zusammen spenden. Können wir diese Praxis als Ausdruck von Barmherzigkeit deuten? Ich denke, folgende Passage
aus dem Lehramt Leos XIII. bietet uns hier eine beachtenswerte Richtlinie:
In den Seelen der Kinder finden sich Keime böser Neigungen, die, wenn sie
nicht schnellstmöglich entfernt werden, nach und nach stärker werden, die
Unerfahrenen verlocken und in den Abgrund zerren. Daher müssen die
8
Ana Lía BERCAITZ DE BOGGIANO, „Misericordia“, in: Diccionario General de Derecho Canónico,
Pamplona 2012, Bd. V, 414 – 417.
9
Vgl. Marco BROGI, Ulteriori possibilità di „communicatio in sacris“?, in: Antonianum 60 (1985) 459-477; s.
auch: CONFERENCIA EPISCOPAL ESPANOLA, Orientaciones para la atención pastoral de los católicos
orientales en España, LXXXI Asamblea plenaria, 17/21 noviembre de 2003: Ius Ecclesiae 18 (2006) 839-860,
844, Nr. 19.
3
Gläubigen vom Kleinkindalter an mit der Kraft von oben ausgestattet werden,
die das Sakrament der Firmung hervorzubringen bestimmt ist, in der, wie es der
Doctor Angelicus treffend ausdrückt, der Heilige Geist geschenkt wird zur
Stärkung für den geistlichen Kampf und der Mensch auf geistlicher Ebene in das
Reifealter geführt wird. Auf diese Weise werden die heranwachsenden
Gefirmten empfänglicher für die Lehre, und geeigneter, daraufhin die
Eucharistie zu empfangen, von der die reichste Frucht herkommt.“10
Daraus ergibt sich klar, dass selbst Kleinkinder der Firmgnade wirklich
bedürfen.11 Eine Sakramentenpraxis, welche diesem Bedürfnis gerecht wird,
kann folglich mit Recht als barmherzig bezeichnet werden. Thomas RincónPérez stellt diesbezüglich zutreffend fest: der springende Punkt liegt darin klar
zu machen, dass das Sakrament (der Firmung) nicht deshalb empfangen wird,
weil die Person im Glauben bereits erwachsen ist, sondern um es zu werden.12
Eine ähnliche Überzeugung kommt bei der Zulassung von Kindern zur Hl.
Kommunion zum Tragen. Wenn die Eucharistie eine wahre Speise ist, so
können auch Kinder auf sie nicht verzichten, wie dies auch die LiturgieInstruktion der Kongregation für die Orientalischen Kirchen unterstreicht.13
Wir können weitere Besonderheiten der ostkirchlichen Sakramentendisziplin
finden, die wohl klare und unbestreitbare Ausdrucksformen von
„Barmherzigkeit“ sind, nämlich das Verlangen, Not leidenden Personen zu
helfen.14
Im Unterschied zu den angeführten, wohl bekannten Beispielen können wir dem
CCEO/1990 eine echte Neuheit entnehmen, die in der Tat einen hervorragenden
Ausdruck dieser Haltung darstellt. Obwohl dieser Tatbestand bislang von den
Kommentatoren15 bedauerlicherweise übergangen wurde, verlangt das
orientalische Gesetzbuch – anders als der CIC (c. 1004 § 1) – für die Spendung
der Krankensalbung nicht mehr die Erlangung des Vernunftgebrauches. Daher
10
Lateinischer Originaltext: LEO XIII, Ep. „Abrogata“ vom 22. 6. 1897, in: GASPARRI – SERÉDI (Hg.),
Codocis Iuris Canonici Fontes, Bd. III, Romae 1925, 515 f. (Nr. 634). (Hervorhebungen vom Verfasser)
11
Das scheint indirekt auch durch mehrere mittelalterliche Quellen der Lateinischen Kirche bestätigt zu werden:
Michaele MACCARRONE, L’unità del battesimo e della cresima nelle testimonianze della liturgia romana dal
III al XVI secolo, in: Lateranum n.s. 51 (1985) I, 88-152.
12
„The issue lies in making it clear that the sacrament is not received because the person is already an adult in
the faith, but precisely in order to become so”, in: Ernest CAPARROS (Hg.), Exegetical Commentary on the
Code of Canon Law, Montreal – Chicago 2004, Bd. III/1 549.
13
KONGREGATION FÜR DIE ORIENTALISCHEN KIRCHEN, Instr. „Il Padre incomprensibile“ vom 6. 1.
1996, in: Enchiridion vaticanum 15, Bologna 1996, Nr. 51. Siehe: Cyril VASIL’, La comunione eucharistica die
bambini prima dell’uso della ragione. Differenze nella prassi sacramentale fra Chiese d’Oriente e d’Occidente.
Motivo di divisione oppure un’occasione di approfondimento e di crescita ecclesiale?, in: Hartmut ZAPP –
Andreas WEIß – Stefan KORTA (Hg.), Ius canonicum in Oriente et in Occidente. FS für Carl Gerold FÜRST
zum 70. Geb., Frankfurt/M. 2003, 759 – 789.
14
Vgl. BERCAITZ DE BOGGIANO, Misericordia (Anm. 8) 414.
15
Z.B. George NEDUNGATT (Hg.), A Guide to the Eastern Code. A Commentary on the Code of Canons of
the Eastern Churches, Roma 2002, 528 (Dimitrios SALACHAS).
4
kann sogar dieses Sakrament Kindern – auf Bitte ihrer Eltern – gespendet
werden.16
Nachdem die mögliche physische Heilungswirkung dieses Sakraments in dem
Sinne, dass es zur Linderung der Leiden effektiv beitragen kann, wieder
entdeckt wurde, bedarf diese Neuerung im CCEO keiner weiteren Erklärung.
Vielmehr stellt sich die Frage, ob die parallele lateinische Bestimmung, welche
weiterhin die Erlangung des Vernunftgebrauchs als Voraussetzung verlangt,
noch als der Grundanforderung der Barmherzigkeit, einem wesentlichen
Charakteristikum des kanonischen Rechts, gerecht werdend angesehen werden
kann. Kurz gesagt: Man kann fragen, ob es richtig ist, einem Kind die (neulich
wieder entdeckte) beruhigende und heilende Wirkung dieses Sakraments aus
dem einfachen Grund vorzuenthalten, dass das Kind bislang noch keine Sünde
begangen haben konnte.
Hier scheint eine theoretische Bemerkung angebracht zu sein. Wir haben es hier
mit einer Norm zu tun, welche auf eine fehlgeleitete mittelalterliche Praxis17
zurück geht, die ihrerseits später durch das Sakramentsverständnis der
Scholastik mit seiner neuen und möglicherweise übertriebenen Betonung der
Wirksamkeit des sakramentalen Zeichens bekräftigt wurde. Nach dieser
Sichtweise muss das Zeichen, sofern richtig gesetzt, seine Wirkung immer
hervorbringen. Die konkrete Erfahrung aber hat gezeigt, dass Kranke, obwohl
Ihnen das Sakrament gespendet worden war, sich oftmals nicht von ihrer
Krankheit erholten.18 Daraus konnte auf spekulativer Ebene nur der Schluss
gezogen werden: Wenn einige Menschen trotz rechter Setzung des
sakramentalen Zeichens (das kraft seiner Natur immer wirksam ist) nicht
genesen, kann der Zweck des Sakraments nicht die Heilung sein; oder zwar die
Heilung, aber in einem ausschließlich spirituellen Sinne. Obwohl diese These
nach ihren eigenen Prämissen ganz und gar logisch ist, so widerspricht sie doch,
im Lichte der alten liturgischen Quellen und kirchlichen Praxis, einer
tausendjährigen Tradition. Außerdem scheint sie, was die Intention des Verbs
EGEÍREIN in Jak 5, 14 betrifft, die biblische Aussage einzuschränken, wenn
man diese alte Tradition zugrunde legt.
Diese Einseitigkeit im mittelalterlichen Verständnis der spezifischen Funktion
der Krankensalbung führt unseren Blick auf eine wohl bekannte, aber oft
missachtete Grundeinsicht der Theologie und des kanonischen Rechts: die
16
Ausführlich zu dieser Thmatik: Péter SZABÓ, Anointing of the Sick in the Eastern Traditions. Charakteristics
and Questions, in: Under the Protection of the Theotókos. Studies in Memory of Ivan ZUZEK S.J., Nyíregyháza
2015 (in Druck).
17
Vgl. Herbert VORGRIMLER, Buße und Krankensalbung, in: Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. IV/3,
Freiburg-Basel-Wien 1978, 220 ff.
18
Vgl. Zoltán ALSZEGHY, L’effetto corporale dell’estrema unzione: Gregorianum 38 (1957) 385-405 (389390); Gisbert GRESHAKE, The Anointing of the Sicks: The Oscillation of the Church between Physical and
Spiritual Healing: Concilium 1998/5, 81.
5
Notwendigkeit, stets so klar wie möglich zu unterscheiden zwischen der
geoffenbarten Wahrheit auf der einen, und anderen Erfordernissen, die sich nur
dem jeweiligen theologischen System (nicht aber der Offenbarung selbst)
verdanken, auf der anderen Seite. Wird dies nicht beachtet, kann sich, wie das
angeführte Beispiel zeigt, die „Methode“(das theologische System) oftmals
unbemerkt über die Offenbarungsquellen stülpen und unsere Kenntnis von deren
Inhalt verzerren.
Schließlich rufen wir in Erinnerung, dass die orientalische Disziplin, vielleicht
als eine der ausdrucksstärksten Bekräftigungen ihres barmherzigen Wesens,
keine Schwierigkeit sieht, eine geisteskranke Person nicht nur zur Taufe,
sondern selbst zu den Sakramenten der Firmung, Eucharistie und
Krankensalbung zuzulassen. Diese heikle Frage wird neuerdings auch in der
Lateinischen Kirche wieder aufgegriffen, wie eine Stelle im Apost.
Mahnschreiben Sacramentum caritatis (2007) zeigt, wo sich folgende
Aufforderung, die neu ist, findet: „Wo immer es möglich ist, soll die
eucharistische Kommunion geistig Behinderten zugänglich gemacht werden“;
sie „receive the Eucharist in the faith also of the family or the community that
accompanies them“ (Nr. 58). Obwohl sich ähnliche Richtlinien in vereinzelten
ortskirchlichen Dokumenten der Westkirche finden, scheint der Unterschied zur
Sichtweise der orientalischen Kirchen hier doch erheblich zu bleiben. In der
Lateinischen Kirche ist die Zulassung zur Eucharistie an die Voraussetzung
gebunden, dass der Empfänger „den Leib Christi von gewöhnlicher Speise
unterscheiden“ kann 19. Demgegenüber pflegt die Krankensalbung geistig
Behinderten auf derselben Grundlage und unter denselben Voraussetzungen wie
allen anderen Gläubigen gespendet zu werden.20 Folglich kann die
Krankensalbung solchen Personen üblicherweise nicht gespendet werden, da in
der lateinischen Kirche das Nichterreichen des Vernunftgebrauchs dem
entgegensteht (c. 1004 CIC). Während also diese lateinischen Normen eine
19
In diesem Sinne z.B. USCCB, Guidelines fort he Celebration of the Sacraments with Persons with Disabilities,
Nr. 20: http://www.usccb.org/beliefs-and-teachings/how-we-teach/catechesis/upload/guidelines-for-sacramentsdisabilities.pdf. Aber manche Autoren scheinen für eine etwas flexiblere Praxis zu sein: “Der Gesetzgeber äußert
sich nicht zu der Möglichkeit der Zulassung geistig Behinderter zur Erstkommunion, die den Vernunftgebrauch
nicht erlangt haben und voraussichtlich nicht erlangen werden. Nach dem Buchstaben des Gesetzes käme eine
Zulassung zur (Erst-)Kommunion in Todesgefahr nur in betracht, sofern die entsprechenden Voraussetzungen
des 913 § 2 vorliegen. Es ist aber zu bedenken, dass die Eucharistie zur Vollgestalt christlicher Initiation gehört
und das Kriterium der Erlangung des Vernunftgebrauches eine Entwicklung der abendländischen Tradition
darstellt, ohne dass eine andere Praxis (v.a. der Ostkirchen) verurteilt worden wäre. Der im allgemeinen in
Anbetracht der gewöhnlichen menschlichen Entwicklung abgewartete Vernunftgebrauch stellt für einen geistig
Behinderten eine Unmöglichkeit dar, an die er nicht gebunden sein kann (vgl. 6 Reg. Iur. in VI°). Weil die
Kommunion eine geistliche Stärkung eines Gläubigen bedeutet, wodurch sich letztlich auch ein Recht auf
Sakramentenempfang begründet, ist es angemessen, auch geistig Behinderte zur Erstkommunion zuzulassen,
sofern sie die Kommunion – obgleich nur anfanghaft – als geistliche Stärkung verstehen; die in 913 § 2
genannten Kriterien könnten analog angewendet werden“: Rüdiger ALTHAUS, in: MKCIC, c. 914, Rz. 5-6 (Juli
2004).
20
Siehe: USCCB, Guidelines (Anm. 19), Nr. 28: „Since disability does not necessarily indicate an illness,
Catholics with disabilities should receive the sacrament of anointing on the same basis and under the same
circumstances as any other member of the Christian faithful (cf. canon 1004).”
6
Feststellung der Eignung zum Empfang des Sakraments im Einzelfall verlangen
mit der Möglichkeit der Verweigerung, verlangt das orientalische Kirchenrecht
eine solche Feststellung keinesfalls.
Der rechtliche Unterschied erklärt sich unmittelbar aus der bereits erwähnten
Tatsache, dass die Orientalen diese Sakramente unabhängig vom Alter des
Empfängers (und folglich auch unabhängig vom eventuellen Fehlen des
Vernunftgebrauchs) spenden. Der entscheidende Grund jedoch liegt tiefer und
ist theologischer Natur. Tatbestände wie geistige oder körperliche
Behinderungen gelten im orientalischen Kirchenrecht nicht als taugliche Gründe
für die Verweigerung der eucharistischen Kommunion, und zwar aus der festen
Überzeugung, dass die Seele intuitiv das Empfangene zu erfassen und zu
verstehen vermag, auch wenn der Verstand dazu nicht in der Lage ist. Eben weil
die göttliche Eucharistie eine Gabe zur Heilung von Seele und Leib ist, darf sie
gerade im Falle behinderter Personen nicht verweigert werden.21
Wenn der barmherzige Wesenszug des kanonischen Rechts seinen
hauptsächlichen Ausdruck in seiner Flexibilität hat, die dazu dient, Personen den
Zugang zur sakramentalen Gnade zu eröffnen, die ihrer wirklich bedürfen, so
weisen die ostkirchliche und die lateinische Disziplin bis auf den heutigen Tag
darin beachtliche Unterschiede auf.22
2. Barmherzigkeit als pädagogische Strenge (rigor) im Dienste der
Bekehrung des Sünders
Die Vielschichtigkeit der Idee der Barmherzigkeit in der christlichen Tradition
tritt auch durch einen anderen Aspekt dieses Begriffes zutage, der des Öfteren
auch im Zusammenhang mit der aktuellen Bischofssynode angemahnt wird.
Demnach verlangt wahre Barmherzigkeit bisweilen eine korrigierende
Maßregelung, eher als Toleranz.23 Auf den ersten Blick könnte es als
unangebracht erscheinen, bei den Überlegungen über die Barmherzigkeit diese
„Strenge“ ins Spiel zu bringen. Jedoch bilden oikonomia und akribeia
untrennbare Dimensionen kirchlicher Praxis (sie „halten sich gegenseitig in der
21
Interessanterweise sind sich auch orthodoxe Autoren uneinig darüber, ob die Krankensalbung Personen
gespendet werden kann, die den Vernunftgebrauch nicht erlangt haben. Vgl. z.B. Jean DAUVILLIER, Extrêmeonction dans les Èglises orientales: Dictionnaire de droit canonique, Bd. V (1953) 740; Cyprian R.
HUTCHEON, The Euchelaion: Mystery of Restoration. Anointing in the Byzantine Tradition: Worship 76(2002)
31 -34.
22
Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die orientalische Disziplin für die sakramentale Lossprechung höhere
Anforderungen stellt: Péter SZABÓ, Coordinazione interecclesiale nell’amministrazione della penitenza:
Questioni intra-cattoliche sorte dal possibile rimando dell’assoluzione sacramentale nel diritto prientale, in:
George RUYSSEN (Hg.), La disciplina della penitenza nelle Chiese orientali. Atti del Simoposio tenuto presso il
Pontificio Istituto Orientale, Roma 3-5 giugno 2011, Roma 2013 (Kanonika 19), 357 – 399.
23
Siehe z.B.: Velasio DE PAOLIS, Los divorciados vueltos y los sacramentos de la Eucaristía y la Penitencia:
Ius Communionis 2 (2014) 203 – 248 (243); Walter KASPER, Mercy: The Essence of the Gospel and the Key to
Christian Life, New York – Mahwah 2014, 145 – 148.
7
Waage“24), und diese Komplementarität findet sowohl in den Canones als auch
in der gegenwärtigen Lehre ihre Bestätigung. Auch der erste Canon des
orientalischen Strafrechts (c. 1401 CCEO)25, eine auszugsweise moderne
Fassung des berühmten Canon 102 des Concilium Trullanum (692)26 , lässt
diesen doppelten Ansatz erkennen. Die korrektive Funktion kann manchmal
wirksame Sanktionen erfordern27, gerade um das ewige Heil des Sünders zu
sichern, doch trägt sie keine Züge der Vergeltung und sollte auch niemals
übertrieben angewendet werden.
Während das Strafrecht des CIC/1983 heute vielfach wegen seiner
Wirkungslosigkeit in der Kritik steht, scheint der CCEO selbst unter diesem
zentralen Gesichtspunkt einige bemerkenswerte Vorzüge aufzuweisen.
1. Während der lateinische Codex den Strafprozess einfach ausschließt,
wenn Hoffnung besteht, dass die Situation durch mitbrüderliche
Ermahnung, Zurechtweisung oder andere Wege pastoralen Bemühens
ausreichend bereinigt werden kann (c. 1341 CIC), sieht das orientalische
Gesetzbuch nur die Möglichkeit vor, von einem Strafverfahren Abstand
zu nehmen (c. 1403 § 1 CCEO). Mit anderen Worten: während im
lateinischen Codex keine Möglichkeit für einen Strafprozess besteht, wenn
es eine alternative Lösung gibt, ist der Hierarch gemäß CCEO nicht
verpflichtet, sondern nur ermächtigt, davon abzusehen. Vor allem aber:
Wenn es sich um ein Delikt handelt, das eine Strafe nach zieht, deren
Nachlass einer höheren Autorität vorbehalten ist, kann der Hierarch vom
Strafverfahren nicht absehen, außer er hätte von eben dieser Autorität die
Erlaubnis dazu erhalten (c. 1403 § 2 CCEO).
2. Eine zweite sehr bedeutsame, aber noch kaum bekannte und angewandte
Charakteristik des neuen orientalischen Strafrechts besteht darin, dass die
Autoritäten zum Nachlass keiner Strafe verpflichtet sind, solange nicht
der durch die Straftat angerichtete Schaden wieder gutgemacht ist.28 Im
Gegensatz zu c. 1358 § 1 CIC genügt es nach c. 1424 CCEO für die
Pflicht zum Erlass der Strafe (auch von „Medizinalstrafen“) noch nicht,
dass der Täter die Widersetzlichkeit aufgegeben hat, sondern es ist
zusätzlich verlangt, dass für die Behebung des Ärgernisses und des
24
Ladislas ÖRSY, In Search of Meaning of Oikonomia: Report on a Convention: Theological Studies 43 (1982)
315.
25
„Da Gott alles unternimmt, um ein verirrtes Schaf zurückzuführen, müssen jene, die von ihm die Binde- und
Lösegewalt empfangen haben, für die Krankheit derer, die sich verfehlt haben, die passende Medizin
verabreichen, sie in aller Geduld belehren, tadeln, beschwören, zurechtweisen, ja ihnen sogar Strafen
auferlegen, damit die durch das Delikt zugefügten Wunden geheilt werden, und zwar so, dass weder die Täter in
Verzweiflung getrieben noch die Zügel gelockert werden mit der Wirkung einer Auflösung des Lebens und einer
Verachtung des Gesetzes“ (c. 1401 CCEO).
26
Vgl. George NEDUNGATT – Michael FEATHERSTONE (Hg.), The Council in Trullo Revisited, Rome
1995 (Kanonika 6), 183 – 185.
27
KASPER, Mercy (Anm. 23) 147 mit Bezugnahme auf Ephraim den Syrer (Hymns Against Heresies,1):
„Sometimes it must hurt, just as the doctor causes pain in an operation and has to cut – not in order to harm, but
rather to help and to heal.”
28
Vgl. Nuntia 20 (1985) 7.
8
Schadens angemessen Vorsorge getroffen ist. Gem. c. 1358 § 1 CIC kann
dem Täter, der die Widersetzlichkeit aufgegeben hat, der Strafnachlass
nicht verweigert werden. Die Unterschiede sind unübersehbar: während
im lateinischen Recht bei Medizinalstrafen nach Aufgabe der
Widersetzlichkeit und dem Versprechen zur Behebung von Ärgernis und
Schaden keine Möglichkeit besteht, den Strafnachlass auszusetzen,
ermöglicht das orientalische Recht die Aufrechterhaltung einer solchen
Strafe solange, bis der gesamte durch das Delikt verursachte Schaden
behoben ist, wie dies auch die Aussagen aus dem Kodifikationsprozess
klar belegen.29
3. Schließlich garantiert ein wichtiger dritter Faktor die Wirksamkeit des
orientalischen Strafrechts: die bedeutende Strafgewalt höherer
Autoritäten. Gegenwärtig scheint diese im CCEO nur auf folgende zwei
Kompetenzen beschränkt zu sein: (1) die Zuständigkeit des Patriarchen in
Strafsachen der Kleriker seines Patriarchats, ausgenommen Bischöfe30,
und (2) die Möglichkeit, den Strafnachlass höheren Autoritäten
vorzubehalten (c. 1423 § 1 CCEO). Doch ist nach den orientalischen
Traditionen die Strafgewalt höherer Instanzen noch breiter, nämlich so,
dass die Patriarchalsynoden ermächtigt sind (oder zumindest sein sollten),
auch gegen Bischöfe vorzugehen. Obwohl der CCEO diese zuletzt
genannte Kompetenz aus rein praktischen Gründen nicht der Synode der
Bischöfe zuwies31, wird dies möglicherweise in der Zukunft geschehen –
jedenfalls könnte es geschehen – wegen der wachsenden Zahl von
Bischöfen in vielen dieser Kirchen.32
Kurz gesagt, gibt das orientalische Strafrechtssystem den kirchlichen
Autoritäten deutlich mehr Möglichkeiten nicht nur in der Verhängung von
Strafen, sondern zuallererst in der Aufrechterhaltung medizinaler
Strafsanktionen.33
Wenn wahre Barmherzigkeit anstatt Toleranz manchmal Strenge verlangt,
dann können die dargestellten Charakteristika des orientalischen Strafrechts
(größere Entscheidungsfreiheit der Autorität und höhere Effizienzgarantien)
mit Recht als klare Anzeichen eines Strafrechts verstanden werden, das den
Anforderungen der Barmherzigkeit besser gerecht wird.
29
Nuntia 20(1985) 10 und 37; vgl. auch: SZABÓ, Coordinazione (Anm.22) 357 ff.
Cc. 89 § 1, 1060 § 1, 2° CCEO.
31
Vgl. Ivan ZUZEK, The Patriarchal Structure According th the Oriental Code, in: Clerance GALLAGHER
(Hg.), The Code of Canons of the Oriental Churches. An Introduction, Rome 1991, 48.
32
Zu interessanten Vorschlägen in dieser Richtung de lege ferenda: Biju VARGHESE, A Study on the Penal
Competence of the Supra- Episcopal Authorities in CCEO: Continuity and Discontinuity; Challenges and
Proposals, Rome 2015.
33
Das orientalische Strafrecht weist noch weitere Charakteristika auf, welche seiner Effizienz zugute kommen:
c. 1414 § 1 CCEO – c. 1321 §§ 1-2 CIC; c. 1414 § 2 CCEO – c. 1321 § 3 CIC; c. 1420 CCEO – c. 1357 CIC; c.
1421 CCEO – c. 1360 CIC.
30
9
3. Barmherzigkeit als Bereitschaft Notleidenden zu helfen: praktische
Relevanz mit nur begrenzter theoretischer Erfassbarkeit?
Die wichtigste Dimension des hier zu erörternden Begriffes kam bislang noch
nicht zur Sprache. Obwohl die vorhin behandelten Aspekte ebenso zu seinem
reichhaltigen Inhalt gehören, wurde die eigentliche und hauptsächliche
Bedeutung von „Barmherzigkeit“ (ÉLEOS) – jene, die auch in den jüngst sich
intensivierenden Diskussionen eine große Rolle spielt – noch nicht
angesprochen. Auch wenn es nicht leicht ist, den exakten Inhalt des Begriffes in
Worte zu fassen, so ist seine Grundidee zuallererst gerichtet auf eine
ungeschuldete, sich großzügig verschenkende Wohltätigkeit gegenüber den
Armen und Leidenden, auf die Bereitschaft zu helfen, Linderung des Leids zu
verschaffen, das Erforderliche zur Verfügung zu stellen, Beistand zu leisten und
zur Vervollkommnung des Lebens zu verhelfen,34 selbst wenn das ganz und gar
unverdient ist, wie das auch eine Stelle bei Johannes Chrysostomus bestätigt:
„Bei den Menschen entbehrt die Gerechtigkeit der Barmherzigkeit; bei Gott aber
ist es nicht so: dort verbindet sich die Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit, und
zwar so sehr, dass die Gerechtigkeit selbst „Barmherzigkeit“ (philanthropía)
genannt wird“.35
Nach der Sichtweise der Kirchenväter, die bis in die Zeit Gratians auch im
Westen geteilt wurde, war misericordia nicht eine innere Komponente der
aequitas, sondern eine sittliche Tugend, und, als Ausdruck von Erbarmen
(indulgentia), ein nichtjuristisches Gegenstück zur Gerechtigkeit.36 Wie Basilio
Petrà unterstreicht, bildet Barmherzigkeit im Denken der Väter einen präzisen
und wesentlichen Verständnisschlüssel für die christliche Existenz sowohl im
Verhältnis zu Gott als auch zum Nächsten; einen in der Bibel verankerten
Ausdruck mit Ähnlichkeiten zu verwandten Termini wie philanthropía, agapé,
eikón, theósis, eleemosyné.37 In diesem Paradigma gründet das Verhältnis
zwischen Gott und Mensch auf dem Kriterium der philanthropía, und nicht in
Kriterien der Vergeltung. Dies beeinflusst offensichtlich auch das patristische
Verständnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als korrelative Konzepte.
Isaak von Ninive wagt zu sagen: Gott ist nicht gerecht, weil er nicht einer
vergeltenden bzw. verteilenden Gerechtigkeitslogik folgt, sondern im Gegenteil
der Logik unermesslicher Barmherzigkeit.38 Allem Anschein nach liegt genau in
diesem nicht retributiven Verständnis von Gerechtigkeit – mit anderen Worten:
in der Anerkennung des Vorranges der Barmherzigkeit gegenüber der strafenden
Gerechtigkeit- das prägende Charakteristikum der orientalischen Sichtweise;
34
FRAZIER, Pre-Eminence (Anm. 4) 147.
PG 55, 448.
36
CARON, Aequitas (Anm. 1) 33-34; ID., Aequitas est iustitia dulcore misericordiae temperata, in: Giovanni
DIURNI – Antonio CIANI (Hg.), Lex et iustitia nell’utrumque ius, radici antiche e prospettive attuali. Atti del
VII Colloquio internazionale romanistico-canonistico, 12-14 maggio 1988, Roma 1989, 288.
37
PETRÀ, Misericordia (Anm. 4) 242.
38
PETRÀ, Misericordia (Anm. 4) 242; vgl. oben, Anm. 6.
35
10
dies im Gegensatz zum westlichen Verständnis, dem es stärker um eine Balance
der beiden göttlichen Eigenschaften geht. Diese Position ist gewiss hilfreich, um
das Risiko einer Trivialisierung der christlichen Berufung hintan zu halten. (Im
Lichte mehrerer patristischer Quellen könnte man aber die Frage erheben, ob
diese ängstlich auf pädagogische Gerechtigkeit bedachte Sichtweise tatsächlich
allen diesbezüglich vorfindbaren biblischen Daten gerecht wird.39)
Obwohl es nicht meine Aufgabe ist, eine Wahl zu treffen, sondern über diese
dritte und hauptsächliche Dimension der Barmherzigkeit zu reflektieren, ziehe
ich es vor, mich an die östliche Auffassung zu halten und eine praktische
Annäherung an den Begriff zu suchen, anstatt mich dem hoffnungslosen
Versuch auszusetzen, den Begriff präzise zu definieren und seine rechtlichen
Implikationen exakt zu fassen. Wie wir gesehen haben, kann die Übung der
orientalischen Kirchen auf diesem Gebiet, vorausgesetzt sie ist wirklich
orientalisch, nicht anders als praktisch ausgerichtet sein.40
Es ist zu bedenken, dass der orientalische Ansatz, auch wenn er an begrifflicher
Klarheit und systematischer Geschlossenheit zu wünschen übrig lässt, in seinem
leidenschaftlichen Engagement für die unermüdliche Suche nach praktischen
Konsequenzen der göttlichen Barmherzigkeit, im Dienste der Sendung der
Kirche und schlussendlich des Heiles, beispielhaft und aufschlussreich zugleich
ist. Der orthodoxe Ansatz der „oikonomia“ als typisch barmherziger Umgang
mit unlösbaren Situationen in Bezug auf das Heil, der die Glaubenswahrheiten
voll und ganz aufrechterhält, ist gekennzeichnet durch die permanente
Erforschung der realen Grenzen dieser unabänderlichen Wirklichkeit.41 (Die
hinter dieser Einstellung stehende Grundmotivation kann man wohl in folgender
Kernfrage zusammenfassen: Was verlangt Christus als die Inkarnation der
Barmherzigkeit für das menschliche Verhalten, wenn der Mensch auch unter
diesem wesentlichen Gesichtspunkt wahres Ebenbild Gottes bleiben will.)
In diesem Punkt ist es nicht meine Absicht, die rätselhafte zeitgenössische
Theorie und Praxis orthodoxer Oikonomia zu beschreiben. Dazu liegen bereits
zahllose Untersuchungen vor.42 Anstatt dessen möchte ich versuchen, den vorhin
39
Auch die westliche Position stößt auf Kritik, zumal sie sehr leicht zu einem ungebührlich anthropomorphen
Verständnis der göttlichen Gerechtigkeit führt, auf Kosten seiner grenzenlosen Barmherzigkeit; vgl. Péter
SZABÓ, Il matzrimonio canonico nelle Chiese orientali, in: Matrimonio canonico e culture, Città del Vaticano
2015 (Studi Giuridici 113) 147 – 149.
40
Es ist ein typischer Zug der orthodoxen Herangehensweise, dass sie ihren Blick auf die konkrete Person des
oikonomos und auf seine Kompetenz richtet, anstatt auf die abstrakte Idee der Oikonomia als solche; vgl. ÖRSY,
In Search (Anm. 24) 317.
41
Es gibt Grenzen für die Anwendung der oikonomia; sie darf das Dogma nicht verfälschen. Daher muss der
oikonomos, bevor er handelt, feststellen, ob er frei ist zu handeln oder nicht: ÖRSY, In Search (Anm. 24) 317.
Oikonomia und Barmherzigkeit können nicht vollständig miteinander identifiziert werden, doch weisen sie
essentielle Ähnlichkeiten auf: beide sind theologischer Natur und beide besitzen eine nachsichtige Funktion
gegenüber der Strenge des Rechts.
42
Z.B.: SCHÜLLER, Die Barmherzigkeit (Anm. 1); Pablo GEFAELL, Foundations and Limits of Oikonomia in
the Oriental Tradition: Folia canonica 3 (2000) 101-115.
11
dargestellten Ansatz innerhalb der engen Grenzen einleitender Überlegungen auf
ein konkretes Problem anzuwenden, das heute wieder im Mittelpunkt der
Diskussion steht: den Ausschluss geschiedener Wiederverheirateter vom
Eucharistieempfang. Mit anderen Worten: Beseelt von diesem
Entdeckungsinteresse, möchte ich in aller Kürze einige „Flexibilitätsfaktoren“ in
Erinnerung rufen, um zu sehen, ob sie eventuell hilfreich sein könnten, im
katholischen Kontext eine barmherzigere Praxis zuzulassen.
Ob die Anforderung der Barmherzigkeit ein Rechtssystem beeinflussen kann,
hängt offenkundig primär von der Tiefe und Genauigkeit unserer Einsicht in das
göttliche Recht und die Offenbarung ab. Auch wenn diese knappen
Überlegungen keine in jeder Hinsicht verlässlichen Antworten bieten können, so
erscheint dieser Frageansatz in einem Diskurs über die Barmherzigkeit aus
orientalischer Perspektive als unverzichtbar.
Katholischerseits sieht man sich gegenwärtig in der Pflicht, die Effizienz der
Ehenichtigkeitsverfahren zu steigern, damit die Nichtigkeit einer Ehe präziser
oder besser gesagt auf weniger kompliziertem Wege festgestellt werden kann.
Ein möglicher weiterer Schritt in dieser Richtung könnte es sein, unter genau
bestimmten Voraussetzungen eine Nichtigerklärung im forum internum zu
gestatten.43
Diese Bemühungen helfen aber nicht, wenn eine Person, deren erste Ehe gültig
ist, unschuldig von ihrem/seinem Partner verlassen worden ist und wieder
geheiratet hat. Nach katholischer Tradition liegt hier ohne Zweifel eine
irreguläre Situation vor (nichteheliche Geschlechtsgemeinschaft mit einer dritten
Person); dennoch scheint sie nach Barmherzigkeit zu verlangen. Hier erhebt sich
die wohl bekannte Frage, ob – im Lichte aller der Offenbarung diesbezüglich zu
entnehmender Daten – die betroffene Person tatsächlich nur wählen kann
zwischen Heldentum, 44 Leben als Single oder voller Enthaltsamkeit in der
zweiten Ehe – wobei alle diese Alternativen zwangsweise auferlegt werden,
gegen seinen/ihren Willen. Will man der göttlichen Barmherzigkeit treu bleiben,
so wäre hier zu fragen, ob in dieser besonderen Situation es wirklich Christus
selbst ist (sog. „göttliches Recht“), der den Ausschluss eines solchen more
uxorio zusammen lebenden Paares vom Eucharistieempfang verlangt, oder ob
sich diese Folge nur aus der Kohärenz des von Menschen erdachten
theologischen Lehrgebäudes ergibt.
43
Es ist nicht zu leugnen, dass diese Vereinfachung auch ernsthafte Risiken nach sich ziehen kann.
Vgl. SZABÓ, Il matrimonio (Anm. 39) 130 – 131; Helmuth PREE, Kirchenrecht und Barmherzigkeit –
Rechtstheologische und Rechtstheoretische Aspekte (4.), in dieser Zeitschrift.
44
12
Die „Oikonomia“, wie sie heutzutage im Bereich orthodoxer Ehen Anwendung
findet, wäre kaum auf das kanonische Recht übertragbar.45 Aber eine von
Barmherzigkeit geprägte Einstellung, wie sie der orthodoxen Praxis zugrunde
liegt, müsste keineswegs als mit der katholischen Disziplin unvereinbar
angesehen werden, wenn diese sich von der gesamten Botschaft des
Evangeliums inspirieren lässt.
Um den Rahmen genau bestimmen zu können, innerhalb dessen Barmherzigkeit
Anwendung zu finden hat, kann es auch in der katholischen Kirche hilfreich
sein, die Reichweite des sog. „göttlichen Rechts“ näher zu erforschen. Dazu sei
folgendes in aller Kürze klargestellt. Die Kategorie selbst und auch der Inhalt
des „göttlichen Rechts“ sind in einem beachtlichen Ausmaß mehrdeutig und
unklar. Wir haben es nur in historisch-kontingenten Formen zur Hand. Daher ist
es niemals möglich, hinreichend genau zwischen ius divinum und ius humanum
zu unterscheiden. Für mache Autoren bleibt das göttliche Recht unbestimmt,
solange es nicht historisch Gestalt in einer bestimmten Formulierung
angenommen hat. Es seien dazu zwei Aussagen von Avery Dulles zitiert:
„Perhaps ius divinum may best be understood as something given only
inchoatively at the beginning – that is to say, as something that unfolds in the
history of the Church“ …. “Divine law [ … ] by its nature is general and
abstract, for otherwise it could not have universal and enduring validity. For this
reason divine law is open to a multiplicity of concrete actualizations.”46
Interessanterweise erfuhren in einigen Fällen im Laufe der Geschichte auch
Aussagen Jesu Christi selbst eine unterschiedliche Interpretation. So scheint die
Solidarität mit den Armen vom Evangelium her ein klares göttliches Gebot zu
sein, das sich auf unser Heil auswirkt, und nicht bloß ein evangelischer Rat zur
Vervollkommnung. Dementsprechend galten das Streben nach Reichtum, und
schon die einfache Weigerung Almosen zu geben, etwa 15 Jahrhunderte lang als
Diebstahl, und somit als „materia absolute gravis“. Dies war allgemeine Lehre
der patristischen und der scholastischen Tradition. Wohlhabende Poenitenten
konnten folglich nicht losgesprochen werden, zumindest theoretisch, solange sie
das widerrechtlich Angeeignete47 – sie galten nämlich nur als dessen Verwalter,
nicht als Eigentümer – nicht rückerstattet hätten. Das bedeutet: bis zum 16.
Jahrhundert wurde auch die Verletzung der distributiven Gerechtigkeit als
mögliche Quelle einer Todsünde angesehen, nicht nur die Verletzung der
kommutativen Gerechtigkeit, wie dies die späteren Handbücher der Moral taten.
45
Vgl. Péter SZABÓ, Famiglia e matrimonio nellÄOrtodossia, in: Myriam TINTI (Hg.), Famiglia e diritto nella
Chiesa, Città del Vaticano 2014 (Studi Giuridici 107) 217.
46
Avery DULLES, Jus divinum as an Ecumenical Problem: Theological Studies 38 (1977) 690, 694. Siehe auch:
Yves CONGAR, Ius divinum: Revue de droit canonique 28 (1978) 35 – 77; Teodoro JIMÉNEZ URRESTI, El
Ius divinum. I. Noción, grados y lógica de su estudio: Salmanticenses 39 (1992) 1, 35-77; Helmuth PREE, Ius
divinum between Normative Text, Normative Content, and Material Value Structure: The Jurist 56 (1996) 41-67.
47
Enrico CHIAVACCI, Furto: Nuovo Dizionario di teologia morale, hg. F. COMPAGNONI – G. PIANA,
Cinisello Balsamo (Mi.) 1990, 469-470; SZABÓ, Il matrimonio (Anm. 39) 142-144.
13
Obwohl ohne jeden Zweifel die patristische und scholastische Auffassung in
dieser Sache der entschiedenen Lehre Christi besser entsprach, gibt es nicht den
geringsten Hinweis darauf, dass Wohlhabenden wegen ihrer Habgier als
dauerhaft in Widerspruch zum Evangelium Lebenden, jemals der
Sakramentenzugang verweigert worden wäre. Ab der Manualistik wurde nicht
nur die Praxis, sondern auch die Lehre milder, und die Verletzung der
distributiven Gerechtigkeit galt im Allgemeinen nicht mehr als Materie für eine
Todsünde.48
Wie sind diese historischen Daten zu bewerten? Kann es sein, dass die Kirche
auf diesem Gebiet immer eine größere Flexibilität praktiziert hat als es vom
Wortlaut des Evangeliums her zulässig erschien? Dieses Beispiel scheint aber,
mit Blick auf die praktischen Konsequenzen, deutlich zu beweisen, dass
bisweilen selbst die Worte unseres Herrn einen Interpretationsspielraum
aufweisen.49
Obwohl das wahr zu sein scheint, bin ich mir dessen bewusst, dass die
gegenwärtigen Überlegungen betreffend den Zugang geschiedener
Wiederverheirateter zur Eucharistie durchaus auch ernst zu nehmende Risiken
beinhalten. Es könnte in der Tat zu einer gänzlichen Verschiebung des
traditionellen Systems der Moral hinsichtlich der Bewertung menschlicher
Handlungen führen, wobei die „deontologische“ Komponente an Bedeutung
verliert zugunsten der Relevanz der konkreten Situation und der persönlichen
Intention. Letzten Endes könnte das in einer gefährlichen Verwischung der
Grenzen zwischen dem, was moralisch gut und dem, was böse ist, enden.50
Meines Erachtens ist es genau dieser Punkt, in dem die gegenwärtige Diskussion
aus der orientalischen Sichtweise Nutzen ziehen könnte. Denn diese versteht es
besser, sich auf die unverdiente göttliche Barmherzigkeit zu verlassen und seine
Wohltaten auf praktischer Ebene anzunehmen, ohne bestrebt zu sein,
theoretische Erklärungsversuche zu ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit zu
geben. Schließlich handelt es sich um eine Wirklichkeit, welche ihrem Wesen
nach im Mysterium wurzelt (und daher kaum in ein spekulatives System
gepresst werden kann). Ein wunderbares Beispiel aus meiner Sicht für diesen
praktischen Sinn, eine Art docta ignorantia, stellt „Canon 9“ des Hl. Basilius
des Großen51 dar, einer der „Sacri Canones“, der sich aus zwei Gründen als
aufschlussreich erweist. Zuerst, weil die Stelle nicht sagt, das Paar lebe in einer
48
CHIAVACCI, Furto (Anm. 47) 470.
SZABÓ, Il matrimonio (Anm. 39) 146-147, 157.
50
SZABÓ, Il matrimonio (Anm. 39) 153-154.
51
„ … im Falle des Ehebruchs durch den Mann soll sich die Frau nicht von ihm trennen, wenn sie es aber will,
so kann sie es tun. Wenn hingegen die Frau sich trennt, und sie allein schuldig ist, verdient der Mann, der eine
andere Frau genommen hat, Vergebung, und wird die Frau, die mit ihm lebt, nicht verurteilt.“ Der Originaltext
in: COMMISSIONE PER LA REDAZIONE DEL CODICE DI DIRITTO CANONICO ORIENTALE, Fonti,
fasc. IX: Discipline générale antique (IV-IX s.), Périclès-Pierre JOANNOU (Bearbeiter), Bd. II: Les canons des
Pères Grecs, Grottaferrata 1963, 108-109.
49
14
echten (gültigen) Zweitehe; zweitens, weil sie es wagt, trotz der Irregularität der
Situation, in diesem Fall die Notwendigkeit eines barmherzigen Umgangs
anzuerkennen, wahrscheinlich bis hin zum Zugang zur Eucharistie.52
Ich denke, es ist nützlich, an dieser Stelle eine interessante Feststellung von
Walter Kard. Kasper in Erinnerung zu rufen, der zufolge die Barmherzigkeit der
hermeneutische Schlüssel für das Verständnis der Wahrheit ist.53 Dieser Ansicht
zufolge ist die Heilsmächtigkeit der Barmherzigkeit Gottes stärker als die
Gebrochenheit und Unzureichendheit der menschlichen Verfassung und wirkt
auch in ihr. Wenn auch eine einseitige Betonung dieser Sicht ernste Risiken in
sich bergen kann, so ist sie trotzdem hilfreich, um in Übereinstimmung mit
wesentlichen Aussagen der Hl. Schrift zu bleiben.54 Ein Beharren auf dem
Vorrang göttlicher Gerechtigkeit könnte zu einem allzu anthropomorphen
Gottesbild führen.55 Die an der Barmherzigkeit orientierte, optimistische
Sichtweise wird durch zahlreiche Quellen der orientalischen Traditionen
gestützt;56 doch im Licht der katholischen Lehre kann der endgültige Sieg des
Heilswillens Gottes nur Gegenstand unzerstörbarer Hoffnung sein, nicht aber als
sichere Überzeugung behauptet werden.57 Trotz der unübersehbaren
Schwierigkeiten sollte die bevorstehende Bischofssynode auch diese Nuancen
angemessen in Erwägung ziehen, wenn sie im vollen Sinne „katholisch“ sein
will.58 In aller Kürze gesagt, ist für die anstehende Frage zu überlegen, ob die
Forderung nach heroischer Einsamkeit (Enthaltsamkeit oder Verzicht auf
weitere Ehe), wenn sie vom unschuldig verlassenen Partner eingefordert wird,
im Lichte einer synoptischen Schau der Hl. Schriften und der Tradition,
tatsächlich als in jedem Falle geltendes göttliches Gebot anzusehen ist, dessen
Nichtbeachtung von der communio mit Gott, und deshalb ebenso von der
sakramentalen Gnade ausschließt.59
Alles in allem scheint eine intensivere Befassung mit dem Verständnis der
orientalischen Kirchen von der Barmherzigkeit Gottes als unumgänglich. Es ist
aber auch nicht zu leugnen, dass die Reichweite und die Grenzen konkreter
praktischer Schlussfolgerungen, die sich aus dieser Sicht ergeben, oft nicht
52
Henri CROUZEL, L’Église primitive face au divorce, Paris 1971 (Théologie historique 13) 147. Vgl. SZABÓ,
Il matrimonio (Anm. 39) 132-133, 155-157.
53
Walter KASPER, Das Evangelium von der Familie. Die Rede vor dem Konsistorium, Freiburg i.B. 2014, 66.
54
Vgl. z.B.: Eph 1, 10; 1 Kor 3, 15; Mt 20, 1 – 16.
55
Vgl. oben Anm. 39.
56
Vgl. FRAZIER, The Pre-Eminence (Anm. 4) 148; PETRÀ, Misericordia (Anm. 4) 243; s. a. die folgende
Anm. 57.
57
Vgl. Hans Urs von BALTHASAR, Was dürfen wir hoffen? Einsiedeln ²1989; DERS., Kleiner Diskurs über
die Hölle: Apokatastasis, Einsiedeln-Freiburg i.B. 1999; Giandomenico MUCCI, L’inferno vuoto: La Civiltà
Cattolica 2008/II (19. April) 132-138; BENEDIKT XVI., Enz. „Spe salvi“ (2007) Nr. 45-47.
58
Vgl. Vat II UR 15e; 17b.
59
Siehe Anm. 43 sowie: Gianni COLZANI, „Ogni tua via è misericordia e verità“ (Tb 3,2). La misericordia nei
recenti dibattiti teologici e sinodali: La Rivista del Clero Italiano 96 (2015) 3, 199.
15
einmal im orthodoxen Kontext60 evident sind, obwohl die oben behandelte
überragende Bedeutung der Barmherzigkeit in den orientalischen Kirchen als
selbstverständlich betrachtet wird.
Schlussbemerkung
Ich muss gestehen, dass diese Ausführungen fragmentarische Züge aufweisen.
Das hat seinen Grund teilweise in der Natur der Barmherzigkeit selbst: einer
Wirklichkeit, die außerordentlich reich an Inhalt ist und sich einer einfachen
begrifflichen Bestimmung oder Beschreibung entzieht. Es handelt sich überdies
um ein heikles Argument, wenn es um die Folgen ihrer Anwendung auf
konkrete Fälle geht. Gleichwohl hoffe ich, dass es ungeachtet dieses Defizits
möglich ist, eine Art von Fazit als Ergebnis feststellen zu können.
1. Auch wenn orientalische Quellen oftmals von Barmherzigkeit sprechen,
reflektieren sie eine zwar reichhaltige, aber begrifflich wenig
durchdrungene Idee. Dies hindert jedoch nicht, sondern verhilft eher dazu,
dass Barmherzigkeit im Leben der orientalischen Kirchen wirksam
präsent und bestimmend ist. Der breiteste Anwendungsbereich von
Barmherzigkeit liegt in den orientalischen Kirchen dort, wo der
unermessliche Strom göttlicher Gnade zur Geltung kommt und die
kirchlichen Autoritäten verpflichtet sind, den Sündern durch Auferlegung
angemessener Sanktionen zur Bekehrung zu verhelfen. (Die
diesbezüglichen Unterschiede zwischen orientalischem und lateinischem
Kirchenrecht zeigen sich besonders deutlich daran, dass einerseits für den
Empfang der Firmung, der Kommunion und der Krankensalbung das
Erreichen des Vernunftgebrauches nicht vorausgesetzt ist, und
andererseits daran, dass es kein Recht auf Strafnachlass gibt, solange der
durch die Straftat verursachte Schaden nicht wieder gutgemacht ist.)
2. Eine weitere Charakteristik der „Barmherzigkeit“ hängt damit zusammen,
dass diese sich einer Definition entzieht. Daher lässt sie sich auch kaum in
ein bis ins kleinste Detail ausgearbeitetes theologisches System rationaler
Deduktionen integrieren. Dieser Charakterzug sollte stets bedacht werden,
andernfalls wir leicht in folgende unheilvolle Alternative geraten:
entweder es wird die wahre Bedeutung der Barmherzigkeit im Leben der
Kirche marginalisiert (aufgrund einseitiger Betonung der Deontologie),
oder es führt zu einem alarmierenden Ungleichgewicht in der Bewertung
menschlichen Verhaltens in der Moraltheologie (als Nebeneffekt einer
systematisch kohärenten Korrektur der erwähnten Einseitigkeit durch
einseitige Überbetonung teleologischer Aspekte).
60
Während einige orthodoxe Experten, z.B. Archondonis, der Oikonomia den Vorrang geben, halten andere, z.B.
L’Huillier, die Akribeia für vorrangig und lassen auf diese Weise für Lösungen aus Barmherzigkeit nur einen
relativ engen Raum. Myriam WIJLENS, Salus Animarum Suprema Lex: Mercy as a Legal Principle in the
Application of Canon Law? : The Jurist 54 (1994) 560-590, 563.
16
3. Der Stellenwert der Barmherzigkeit in der Praxis der Kirche hängt in
hohem Maße vom Verständnis des „göttlichen Rechts“ und der sich
daraus ergebenden Flexibilität ab. Aber das ist bei Weitem nicht der
einzige Faktor. Die mögliche Funktion von Barmherzigkeit wird ebenso
durch andere theologische Schwerpunktsetzungen stark beeinflusst. So
verhelfen beispielsweise die optimistischeren Sichtweisen ostkirchlicher
Theologie auf den Gebieten der Lehre über die Erbsünde,61 die
Soteriologie, die Eschatologie usw.62 gewiss dazu, der zentralen
Bedeutung der göttlichen Barmherzigkeit (und ihren möglichen
Konsequenzen für die kirchliche Praxis) für das Heil der Menschen
größere Beachtung zu widmen.
61
Zur eher strafenden und vergeltenden als erlösenden Gerechtigkeit in der Lehre des Augustinus, als ein „dark
shadow over the biblical message of God’s mercy“: Walter KASPER, Mercy: The Essence of the Gospel (Anm.
23) 98 ff.; ebenso: AA.VV., L’uomo e la sua salvezza V-XVII secolo. Antropologia Cristiana: creazione,
peccato originale, giustificazione e grazia, etica, escatologia: Storia dei Dogmi, Bd. II, Bernard SESBOÜÉ (Hg.),
Casale Monferrato 1997, 148 ff.
62
Zu einzelnen Aspekten: Karl Ch. FELMY, Die orthodoxe Theologie der Gegenwart: eine Einführung, BerlinMünster ³2014, 159-190, 300 ff.; Jean-Claud LARCHET, La vie après la mort selon la Tradition orthodoxe,
Paris 2001.
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