Ansehen - bei der Zeitschrift für Sozialreform (ZSR)
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Christian Marschallek Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel1 Trotz deutlicher Erfolge bei der Ausweitung der privaten zu Lasten der staatlichen Alterssicherung ist Großbritannien kein Beispiel für eine Politik nach dem Motto: „Weniger (Wohlfahrts-)Staat!“ Eine Analyse der britischen Alterssicherungspolitik von 1985 bis heute zeigt, dass trotz aller Privatisierungserfolge nicht von einem generellen Bedeutungsverlust des Staates für die Alterssicherung gesprochen werden kann, wenn man die Dimensionen Leistungserbringung, Regulierung und Koordinierung betrachtet. Besonders im Bereich der staatlichen Regulierung privater Vorsorge spielt der Staat eine immer größere Rolle („Regulierungsstaat“). Zudem lässt sich eine Ausweitung redistributiver Elemente des „Leistungsstaats“ feststellen. Die mangelnde Koordinierung staatlicher und privater Alterssicherungsprogramme steht einer Ausweitung privater Vorsorge entgegen. 1. Einleitung Die Frage nach dem richtigen Verhältnis von staatlichen und privaten Anteilen im „Altersvorsorgemix“ beherrscht seit einigen Jahren auch den deutschen Diskurs der Alterssicherung. Oft wird dabei auf Großbritannien als Beispiel für eine weitreichende Privatisierung der Altersvorsorge verwiesen: Großbritannien gilt als der liberale Wohlfahrtsstaat schlechthin, in dem die staatliche 1 Besonderer Dank gilt Carla Bethmann, Martin Nonhoff, den Kolleginnen und Kollegen aus dem DFG-Projekt „REGINA – Staatliche Regulierung privater Alterssicherung in Europa“ unter Leitung von Lutz Leisering und Ulrike Davy (www.unibielefeld.de/soz/regina), den beiden anonymen Gutachtern und den Teilnehmenden der Konferenz „Transformation of the Modern State“, Berlin, 16.-18.9.2005 für hilfreiche Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Aufsatzes, dem Forschungsnetzwerk Alterssicherung für die gewährte finanzielle Unterstützung sowie den befragten Experten für ihre Geduld und Auskunftsfreude. ZSR, 51. Jahrgang (2005), Heft 4, S. 416-447 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel Alterssicherung im Vergleich zur privaten Vorsorge2 nur eine relativ geringe Rolle spielt und in dem sogar eine Labour-Regierung ein noch größeres Gewicht privater Renteneinkommen anstrebt (DSS 1998). Doch ein solcher liberal verklärter Blick auf Großbritannien täuscht. Zwar fanden dort in den vergangenen 20 Jahren wiederholt Reformen des Alterssicherungssystems statt, die von deutlichen Einschnitten im Bereich der Sozialversicherungsrenten und der Förderung privater Vorsorge geprägt waren. Von einer geringen oder gar abnehmenden Bedeutung des Staates für die Alterssicherung zu sprechen, hieße allerdings, eine doppelte Entwicklung zu übersehen, die parallel zur teilweise sehr erfolgreichen Ausweitung der privaten Vorsorge verlief: So wandelte sich Großbritannien einerseits in der leistungsstaatlichen Dimension seiner Alterssicherungspolitik zu einem nun wesentlich stärker interpersonell umverteilenden Wohlfahrtsstaat, während andererseits zugleich die regulierungsstaatliche Dimension vorher ungeahnte Ausmaße annahm. Insgesamt sind daher, so meine These, die letzten zwei Jahrzehnte britischer Alterssicherungspolitik geprägt von einer wachsenden Bedeutung des Staates für die Alterssicherung, gekoppelt mit einem Wandel der britischen Wohlfahrtsstaatlichkeit. Das Beispiel Großbritannien ist für die Diskussion hierzulande instruktiv, weil sich die britische Alterssicherungspolitik einem Bündel von Herausforderungen gegenübersieht, das sich auch für die bundesdeutsche Situation am Horizont abzeichnet: So geht es erstens darum, einen angemessenen regulativen Rahmen für die private Vorsorge zu finden (Regulierungsstaat). Zweitens ist die Funktion des Staates als Erbringer von Rentenleistungen neu zu definieren (Leistungsstaat). Drittens schließlich müssen die unterschiedlichen (staatlichen und privaten) Alterssicherungsprogramme koordiniert werden. Jenseits aller wissenschaftlichen Diskussionen ist Letzteres auch und vor allem für den zukünftigen politisch-praktischen Erfolg der Alterssicherungspolitik von entscheidender Bedeutung. Wenn man alle drei angesprochenen Dimensionen staatlichen Eingreifens – Regulierung, Leistungserbringung, Koordinierung – ins Auge fasst, dann wird rasch deutlich, dass der beliebte Slogan „Weniger (Wohlfahrts-)Staat!“ letztlich nichts anderes heißt als „Eine andere (Wohlfahrts-)Staatlichkeit!“, die keineswegs eine 2 Private Alterssicherung meint im Folgenden immer betriebliche und individuellprivate Vorsorge. 417 Christian Marschallek geringere Präsenz und Verantwortlichkeit des Staates mit sich bringt. Die hier vorgenommene Analyse des britischen Alterssicherungssystems, das vermeintlich konsequent am Motto „Weniger (Wohlfahrts-)Staat!“ ausgerichtet ist, kann genau das zeigen. Empirisch stütze ich meine Untersuchung teilweise auf 31 Experteninterviews, die ich im Rahmen eines international vergleichenden Forschungsprojekts (siehe Fn. 1) in den Jahren 2004 und 2005 mit Akteuren im Bereich der britischen Alterssicherungspolitik geführt habe. Hierzu zählen Abgeordnete mit besonderer Expertise im Bereich der Altersvorsorge, Politikberater sowie Vertreter von einschlägigen Ministerien, Regulierungsbehörden, Berufs- und Interessenverbänden und Anbietern privater Alterssicherung.3 Das britische Rentensystem gilt als eines der komplexesten der industrialisierten Welt (HoL 2003: 45). Dies und der lange Zeitraum, auf den ich mich beziehe, erfordern zunächst eine umfassende Beschreibung dieses Arrangements und seiner Veränderungen seit Beginn der 1980er Jahre (2). Ich werde dann die unterschiedlichen Funktionen des Staates in diesem System diskutieren (3), bevor ich einige Schlussfolgerungen – auch in Hinblick auf Deutschland – ziehe (4). 2. Zwei Jahrzehnte Alterssicherungsreformen 2.1 Das System der Alterssicherung zu Beginn der 1980er Jahre Die Basis des britischen Alterssicherungsarrangements bildet die Grundrente (Basic State Pension). Sie wird durch einkommensabhängige Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Selbstständigen finanziert.4 Die Leistungen sind nur von der Dauer, nicht aber der Höhe der Beitragszahlungen abhängig.5 Eine volle Grundrente wird Männern nach 44 3 Vielfach geben die Experten ihre persönliche Einschätzung wieder, die nicht der ihrer Organisation entsprechen muss. Ein häufiger Arbeitgeberwechsel ist unter den Experten üblich. Dabei kommen vielfach auch (scheinbar) extreme Übergänge vor, etwa von der Gewerkschaft zum Versicherungsverband oder von einer Regulierungsbehörde zu einem Interessenverband. 4 Selbstständige zahlen einen Pauschalbeitrag (PPI 2005: 13). 5 Unter bestimmten Bedingungen werden Beitragszeiten gutgeschrieben (PPI 2005: 13). 418 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel Beitragsjahren gewährt, Frauen nach 39 Jahren.6 Sie entsprach bis 1980 etwa 20 Prozent des Durchschnittslohns. Die Leistungen werden seither nur noch gemäß der Preissteigerung erhöht (Davis 1997: 9-10). Abbildung 1: Das britische Alterssicherungssystem 1978 bis 1987 Grundsicherung Zusatzrente weitergehende Vorsorge (staatlich, obligatorisch) (staatlich oder privat, obligatorisch) (privat, freiwillig) • Grundrente (Basic State Pension – BSP) • bedarfsabhängige Leistungen Sozialhilfe (Income Support) • andere Versicherungs• staatlich SERPS (State Earnings und Sparprodukte Related Pension Scheme) • privat („contracted-out“) Betriebsrentenpläne (mit Leistungszusage) Quelle: eigene Darstellung Eine staatliche Zusatzrente, genannt SERPS (State Earnings-Related Pension Scheme), ergänzte die Grundrente. Auch sie wurde durch Sozialversicherungsbeiträge finanziert. Ansprüche konnten jedoch nur von abhängig Beschäftigten erworben werden, und nur innerhalb bestimmter Bemessungsgrenzen (Earnings Limits). Eine volle SERPS-Rente entsprach ursprünglich einem Viertel der durchschnittlichen individuellen Bemessungsgrundlage der 20 Jahre mit dem höchsten Einkommen. Die Leistungen waren preisindexiert. Das Rentenalter für beide staatlichen Programme betrug 60 Jahre für Frauen und 65 für Männer (Davis 1997: 10). Neben der staatlichen Alterssicherung haben betriebliche Alterssicherungspläne in Großbritannien traditionell eine große Bedeutung.7 Ihre Einrichtung stellt eine freiwillige Leistung8 des Arbeitgebers dar. In der Regel werden sie als Treuhandfonds (Trusts) errichtet. Im Gegensatz zu der in 6 Wenn das Rentenalter für Frauen zwischen 2010 und 2020 sukzessive auf 65 Jahre erhöht wird, gleichen sich auch die notwendigen Beitragszeiten für Männer und Frauen an. 7 Zu Details der betrieblichen Altersversorgung in Großbritannien und ihrer wohlfahrtsstaatlichen Regulierung vgl. Blömeke (2004). 8 Bis 1988 konnten die Arbeitgeber die Mitgliedschaft ihrer Beschäftigten in der betrieblichen Alterssicherung verbindlich machen (Davis 1997: 20). 419 Christian Marschallek Deutschland lange verbreiteten Bilanzrückstellung sind diese Treuhandvermögen und ihre Verwaltung formal unabhängig von dem Unternehmen, welches die betriebliche Vorsorge für seine Mitarbeiter anbietet und für mögliche Defizite einstehen muss. Die betriebliche Alterssicherung wurde von einem Occupational Pensions Board beaufsichtigt, welches sich aus Vertretern von Arbeitgebern und -nehmern sowie des Aktuarsverbandes zusammensetzte (vgl. Bonoli 2000: 61). Mitglieder betrieblicher Alterssicherungspläne konnten sich von SERPS befreien lassen (Contracting-out). Dies resultierte in einem Rabatt beim Sozialversicherungsbeitrag (Contracting-out Rebate) und war steuerlich begünstigt. Voraussetzung für das Contracting-out war, dass der Betriebsrentenplan wenigstens die Guaranteed Minimum Pension (GMP) in Aussicht stellte. Die GMP entsprach annähernd den SERPS-Leistungen und stellte somit sicher, dass betrieblich Versicherte im Alter nicht schlechter gestellt waren als SERPS-Mitglieder. Auch im Falle des Contracting-out bestand Anspruch auf die volle SERPS-Leistung, vermindert um die GMP. Da keine Pflicht zur Indexierung der GMP bestand, übernahm SERPS den Inflationsausgleich für die Contracted-out-Betriebsrenten (O’Higgins 1986: 138). Aufgrund dieser Situation kommt O’Higgings (1986: 139) zu der Einschätzung, dass [t]he 1975 settlement of the shape of the British pension package can […] be characterized as a structure of subsidized competition: the state created a structure within which private provision could compete with state provision on more-than-equal terms. […] The state […] undertook to pay for guarantees which the private sector (because of factors like uncertainty, timescale, etc.) felt unable to provide for. Der regulative Rahmen um die private Alterssicherung war zu jener Zeit noch sehr weit und es gab eine klare Zusage des Staates, welches Leistungsniveau er mit Hilfe staatlicher Sozialversicherung gewähren würde. Dies sollte sich in den kommenden 20 Jahren ändern. Ich werde mich nun diesen Prozessen zuwenden, deren Ergebnis in Abbildung 2 (gegenüber) überblicksartig dargestellt ist. 2.2 Die Ausweitung privater Vorsorge (I): Die Reformen von 1985/86 Die konservative Regierung unter Margaret Thatcher war darum bemüht, die langfristigen Kosten von SERPS zu begrenzen. Die ursprünglichen Planungen 420 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel Abbildung 2: Das britische Alterssicherungssystem 1988 bis heute Grundsicherung Zusatzrente weitergehende Vorsorge (staatlich, obligatorisch) (staatlich oder privat, obligatorisch) (privat, freiwillig) • Grundrente (Basic State Pension – BSP) • bedarfsabhängige Leistungen – Sozialhilfe (Income Support) – Minimum Income Guarantee (ab 1999) – Pensions Credit (ab 2003) • andere staatliche Leistungen • staatlich • Additional Voluntary – SERPS (bis 2002) Contributions – State Second Pension (Höherversicherung in (ab 2002) der betrieblichen Alterssicherung, Personal • privat Pensions oder Stakehol(„contracted-out“) der Pensions) – Betriebsrentenpläne (mit Leistungszusage) • andere Versicherungsoder und Sparprodukte – Betriebsrentenpläne (mit Beitragszusage) (ab 1988) oder – Personal Pension (ab 1988) oder – Stakeholder Pension (ab 2001) Quelle: eigene Darstellung sahen die Abschaffung des Programms vor, zugunsten eines Systems, in dem jede Person in einen betrieblichen oder individuellen Rentenplan einzahlt (DSS 1985a: 24). Es ging dabei um mehr als nur eine Beschneidung der staatlichen Altersvorsorge: The Government accept the need to tackle the open-ended commitments of SERPS. But we do not believe it would be right to respond on a purely negative basis by simply ending or restricting SERPS without putting anything in its place (DSS 1985b: 5; Hervorh. d. A.).9 Einwände verschiedenster Organisationen führten zu einer Abschwächung der Pläne (Bonoli 2000: 71-78). Statt SERPS ganz abzuschaffen wurden die Leistungen lediglich deutlich gekürzt, allerdings mit langen Übergangsfristen (DSS 1985c). SERPS wurde nur noch auf Basis des Einkommens über die 9 Ähnlich wurde interessanterweise auch im Vorfeld der deutschen „Riester-Reform“ 2001 argumentiert. 421 Christian Marschallek gesamte Erwerbsphase berechnet und die Ersatzrate von 25 auf 20 Prozent gesenkt. Contracting-out war nun auch jenen Personen möglich, die Mitglieder eines Betriebsrentenplans mit Beitragszusage waren oder sich für eine der Personal Pensions entschieden, die von Versicherungen, Banken und anderen Finanzdienstleistern angeboten wurden. Auch hierbei handelte es sich um freiwillige Arrangements. Als Bedingung für das Contracting-out wurde ein Mindestbeitrag in Höhe des Beitragsrabatts bei der Sozialversicherung festgelegt. Die Leistungen beider Arrangements mussten grundsätzlich verrentet werden. Jener Teil des Vermögens, der sich aus dem Rabatt generierte (protected rights), musste in eine Rente auf Unisex-Basis umgewandelt werden, die wenigstens einen Inflationsausgleich von bis zu drei Prozent und eine Hinterbliebenenrente in Höhe einer halben Versichertenrente vorsah (Daykin 2001: 2). Auch diese Regelungen dienten dazu, die Standards von SERPS im Bereich der privaten Vorsorge annähernd sicherzustellen. Contracting-out wurde durch großzügige finanzielle Anreize gefördert. Innerhalb der ersten fünf Jahre erhielten Personen, die erstmalig in eine Personal Pension einzahlten, einen zusätzlichen Sozialversicherungsrabatt von zwei Prozentpunkten (DSS 1985c: 5). Darüber hinaus waren Beiträge zur privaten Alterssicherung steuerfrei. Andererseits mussten contracted-out Betriebsrentenpläne nunmehr für einen begrenzten Inflationsausgleich der Guaranteed Minimum Pension sorgen (bis maximal drei Prozent jährlich), um die SERPS-Ausgaben für Betriebsrentner zu reduzieren (vgl. DSS 1985c: 4). Hier zeigt sich erstmals ein gegenläufiger Trend bei der fiskalischen Regulierung nichtstaatlicher Vorsorge. Die Situation von Mitgliedern eines Betriebsrentenplanes beim Arbeitsplatzwechsel sollte ebenfalls mittels staatlicher Regulierung verbessert werden. So mussten die vor dem Betriebswechsel erworbenen Ansprüche zukünftig bis zum Rentenbeginn mit einem Inflationsausgleich von bis zu fünf Prozent versehen werden. Bei Austritt aus einem Betriebsrentenplan konnte das vormalige Mitglied nun bestehende Anwartschaften zu einem neuen Arbeitgeber, in eine Personal Pension oder eine Leibrente transferieren lassen.10 10 Bevor diese Regelung in Kraft trat, wurden in drei Vierteln der Fälle lediglich die nominellen Eigenbeiträge des Beschäftigten (ohne Zinsen und Arbeitgeberanteil) zurückerstattet (Bonoli 2000: 64). 422 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel Auch wurden die Auskunftsrechte der Mitglieder privater Alterssicherungsprogramme verbessert (DSS 1985c: 5). Die Regierung war überzeugt, dass der Anlegerschutz einen Schlüssel zum Erfolg privater Altersvorsorge darstellte. Darum sollte ein neues Finanzdienstleistungsrecht Schutz vor Übervorteilung durch Anlageberater und irreführende Gewinnprognosen gewährleisten (DSS 1985c: 17). 2.3 Sicherung der Rentenzusage: Die Reform 1995 In gewisser Hinsicht war die Politik der Thatcher-Regierung überraschend erfolgreich. Etwa zehn Jahre nach den 1986er Reformen waren rund die Hälfte der ursprünglichen Mitglieder aus SERPS ausgetreten. Insgesamt machten 68 Prozent der Beschäftigten vom Contracting-out Gebrauch, nur 17 Prozent verblieben in SERPS (Budd/Campbell 1998: 100).11 Bald zeigten sich jedoch auch Probleme dieses Politikansatzes. Ursprünglich hatte die Regierung erwartet, dass sich 500.000 Versicherte für eine Personal Pension entscheiden würden. Doch bereits bis April 1990 waren vier Millionen Verträge verkauft worden (Budd/Campbell 1998: 110). In Folge der großen Nachfrage und der erheblichen finanziellen Anreize entstanden dem Staat statt der erhofften Einsparungen durch die Förderung des Contracting-out in Personal Pensions Mehrausgaben von £10 Milliarden allein während der ersten zehn Jahre (Blake 2003: 335). Auch der angestrebte Anlegerschutz war wenig erfolgreich. Finanzielle Anreize und schlechte Beratung seitens der Versicherungsvertreter sorgten dafür, dass sich Hunderttausende für eine Personal Pension entschieden, obwohl für sie die Konditionen der staatlichen oder betrieblichen Alterssicherung erheblich besser waren. Diese Vorfälle wurden als Pension Mis-selling bekannt. Den Betroffenen wurde später Schadenersatz in Höhe von insgesamt 13,5 Milliarden Pfund zugesprochen (Blake 2003: 334-335). Ein zweiter Fall mangelnden Anlegerschutzes offenbarte sich nach dem Tod des schillernden Medienunternehmers Robert Maxwell. Dieser hatte große Summen aus der betrieblichen Alterssicherung seiner Unternehmen abgezweigt, um geschäftliche Transaktionen zu tätigen. Für die Versicherten 11 Die übrigen Beschäftigten waren nicht zusatzrentenpflichtig (Budd/Campbell 1998: 100). 423 Christian Marschallek bestand erhebliche Gefahr, ihre Betriebsrente zu verlieren. Diese Ereignisse stellten die Angemessenheit der rechtlichen Rahmung privater Alterssicherung in Frage. Eine von der Regierung eingesetzte Kommission kam zu dem Schluss, dass die berechtigten Erwartungen der Versicherten hinsichtlich der zugesagten Rentenleistungen gesetzlich geschützt werden müssten (Pension Law Review Committee 1993: 10). Vorschläge der Kommission wurden im Pensions Act 1995 umgesetzt und damit die staatliche Regulierung privater Altersvorsorge weiter vorangetrieben. So wurde das Occupational Pensions Board durch die Occupational Pensions Regulatory Authority (OPRA) mit weitreichenden Befugnissen ersetzt. OPRA konnte u.a. Ordnungsgelder verhängen oder die Herausgabe von Dokumenten verlangen (Blake 2003: 342). Für Betriebsrentenpläne mit Leistungszusage wurde eine Mindestdeckungsvorschrift (Minimum Funding Requirement – MFR) erlassen. Das MFR stellte aber keine Garantie dar, dass tatsächlich alle Verbindlichkeiten des Betriebsrentenplans erfüllt werden konnten (Ward 2003: 274). Ein Drittel der Treuhänder (Trustees) betrieblicher Altersvorsorgepläne waren nun von den Mitgliedern zu bestimmen (Blake 2003: 344). Ein Pension Compensation Board wurde geschaffen, um bei Verlusten durch illegale Handlungen und gleichzeitiger Arbeitgeberinsolvenz Kompensationszahlungen zu leisten (Davis 1997: 32). Die GMP als Mindestleistung für das Contracting out von Mitgliedern betrieblicher Alterssicherungspläne mit Leistungszusage wurde durch ein schwächeres Kriterium, den sogenannten Reference Scheme Test12, ersetzt. Dies bedeutete das endgültige Aus für den Inflationsausgleich privater Renten durch SERPS. Private Vorsorgepläne mussten nunmehr eine Inflationsanpassung von bis zu fünf Prozent leisten. Diese Maßnahme stand im Zusammenhang mit weiteren Schritten, die darauf abzielten, die Kosten von SERPS zu reduzieren. So wurde die Berechnungsformel geändert und das Rentenalter für Frauen langfristig auf 65 Jahre erhöht (Budd/Campbell 1998: 111). Im Pensions Act 1995 werden zwei Motive staatlicher Regulierung privater Altersvorsorge deutlich: die Reaktion auf (und zukünftige Verhinderung von) Unzulänglichkeiten des Marktes und die Begrenzung öffentlicher Ausgaben. 12 Der Reference Scheme, dem die Leistungen „weitgehend“ entsprechen müssen, zahlt pro Beitragsjahr ein Achtzigstel von 90 Prozent der Bemessungsgrundlage im Durchschnitt der letzten drei Beitragsjahre (Davis 1997: 28). 424 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel 2.4 Die Ausweitung privater Vorsorge (II): Die Reformen von New Labour Hinsichtlich des Ziels, die private Vorsorge auszuweiten, unterschied sich die Labour-Regierung nach 1997 nicht allzu sehr von ihren konservativen Vorgängerinnen. Staatliche Leistungen sollten vor allem den Bedürftigen zukommen, während alle anderen auf die private Vorsorge verwiesen wurden (DSS 1998: 3). Das langfristige Ziel bestand darin, dass 60 Prozent der Alterseinkommen aus privaten Quellen stammen und nur 40 Prozent vom Staat – eine Umkehr des damaligen Verhältnisses (DSS 1998). Im Bereich der staatlichen Alterssicherung sollten mit der Umwandlung von SERPS in die State Second Pension die Rentenansprüche von gering Verdienenden verbessert werden, indem die Ersatzraten für diese Personen angehoben wurden (für Details siehe Whitehouse 2002: 12; PPI 2005: 38-39).13 Die State Second Pension begünstigt auch jene, die wegen Elternschaft oder der Pflege von Familienangehörigen ihre Erwerbsarbeit reduzieren oder unterbrechen (The Pensions Service 2005: 9-11). Insgesamt ist die State Second Pension somit deutlich mehr auf interpersonelle Umverteilung orientiert als SERPS und gleicht sich zum Teil den Funktionsprinzipien der Grundrente an. Zur Verbesserung der Lage einkommensarmer Rentner wurde 1999 statt der bestehenden Sozialhilfe (Income Support) eine bedarfsabhängige Mindesteinkommensgarantie (Minimum Income Guarantee – MIG) deutlich oberhalb des Niveaus der vollen Grundrente eingeführt. Im Oktober 2003 wurde die MIG in den Pensions Credit überführt, welcher aus zwei Bestandteilen besteht. Der Guarantee Credit entspricht der MIG, der Savings Credit soll sicherstellen, dass Personen mit kleinen Ersparnissen besser gestellt sind als jene, die keine Vorsorge getroffen haben. Beim Guarantee Credit – wie schon bei der MIG – werden alle anderen Einkommen voll angerechnet, beim Savings Credit nur zu 40 Prozent14 (PPI 2005: 23-26). Dennoch ist es mög- 13 Personen, die sich zum Contracting-out entschlossen haben, erhalten im Alter einen Zuschuss aus der staatlichen Zusatzrente, welcher der Leistungsverbesserung der State Second Pension gegenüber SERPS entspricht. Voraussetzung hierfür ist, dass ihre jährlichen Einkommen zwischen £4.108 und £11.600 (betriebliche Alterssicherung) bzw. £26.600 (Stakeholder oder Personal Pension) liegen (The Pensions Service 2004: 4, Werte für 2004/5). 14 „For every £1 of income received that is above the level of the full BSP but below the level of the Guarantee Credit, the Savings Credit pays an additional benefit of 60p. 425 Christian Marschallek lich, dass bei Personen ohne volle Grundrente, die unter 65 und/oder Bezieher anderer bedarfsgeprüfter Leistungen sind (z.B. Housing Benefit), eigene Ersparnisse voll auf bedarfsgeprüfte Leistungen angerechnet werden (PPI 2005: 24; Brewer/Emmerson 2003: 12-13). Erneut versuchte man, mit Hilfe staatlicher Regulierung den Anteil privater Alterssicherung zu erhöhen. Um die Attraktivität des Contracting-out für Personen mit niedrigen und mittleren Einkommen zu erhöhen, wurden 2001 sogenannte Stakeholder Pensions eingeführt, die sowohl auf individueller als auch auf (über-)betrieblicher Basis organisiert sein können. Stakeholder Pensions sind in besonders starkem Maße reguliert und müssen eine Reihe von Mindeststandards erfüllen. Beispielsweise sind die jährlichen Verwaltungskosten auf ein Prozent des Vermögensbestandes begrenzt,15 der Mindestbeitrag beträgt nur £20 und Arbeitgeber mit mehr als fünf Beschäftigten, die keine betriebliche Alterssicherung anbieten, müssen ihren Mitarbeitern Zugang zu einem Stakeholder Plan gewähren (Emmerson 2003: 174). Dennoch sind auch Stakeholder Pensions freiwillige Arrangements. Weitere Regulierungsmaßnahmen betrafen die Finanzmarktaufsicht und die Finanzbildung. Die neu geschaffene Financial Services Authority (FSA) mit ihren weitreichenden Befugnissen ermöglichte eine weitergehende öffentliche Aufsicht über den Finanzdienstleistungssektor mitsamt der privaten Altersvorsorge (vgl. FSA 2005). Jedoch blieb für die betriebliche Alterssicherung weiterhin OPRA zuständig. Ein Regierungsprogramm mit dem Titel „Informed Choice“ (DWP 2004) verfolgt das Ziel, die Leute zu wohlüberlegten Entscheidungen auf dem Markt privater Altersvorsorge zu befähigen. 2.5 Schutz der Rentenansprüche und Systemvereinfachungen: Die Reformen 2004 In jüngster Vergangenheit kam es zu Insolvenzen zahlreicher Unternehmen, deren nicht ausreichend gedeckte Betriebsrentenpläne außerstande waren, alle The credit is then ‚tapered down‘ for additional income above the Guaranteed Credit level“ (PPI 2005: 3-4). 15 Nicht alle Kostenbestandteile fallen unter diese Begrenzung (Wynn 2001). Im April 2005 wurde die Grenze für die ersten zehn Jahre der Vertragslaufzeit auf 1,5 Prozent erhöht. 426 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel bestehenden Rentenansprüche zu erfüllen. Viele Beschäftigte standen nach jahrzehntelanger Mitgliedschaft praktisch ohne betriebliche Rente da. Auch auf diese Entwicklung wurde mit staatlicher Regulierung reagiert. Durch den Pensions Act 2004 wurde ein Pensionssicherungsfond (Pension Protection Fund – PPF) ins Leben gerufen, welcher eine bestehende Unterdeckung des Betriebsrentenplans im Falle einer Unternehmensinsolvenz ausgleicht. Der PPF wird durch risikoabhängige Abgaben der von ihm erfassten Altersvorsorgepläne finanziert. Staatliche Zuschüsse sind nicht vorgesehen (PPF 2005; DWP 2005b). Mit der Reform 2004 wurde jedoch auch eine Vereinfachung des regulativen Rahmens der privaten Altersvorsorge angestrebt. OPRA wurde von einer neuen Behörde (The Pensions Regulator) abgelöst, welche weniger bürokratisch, dafür aber risikobezogener und flexibler konzipiert ist. Auch das rentenbezogene Steuerrecht wurde vereinfacht. Acht unterschiedliche steuerliche Arrangements wurden durch ein einziges ersetzt. Die geschilderte Entwicklung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Zwei Jahrzehnte lang versuchten sowohl konservative als auch LabourRegierungen, die Gewichte in der Alterssicherung zugunsten der privaten Vorsorge zu verschieben. Sozialversicherungsrenten wurden beschnitten, der Umfang privater Alterssicherung mit Hilfe von regulativen Maßnahmen zur Förderung privater Vorsorge deutlich ausgeweitet. Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass das britische Alterssicherungssystem dadurch eine Komplexität erreicht hat, die besonders für Laien nicht mehr nachvollziehbar ist. 3. Die Funktionen des Staates in der britischen Alterssicherung Nach der nun vorgenommenen Rekonstruktion des britischen Alterssicherungssystems in seiner historischen Entwicklung sollen im Folgenden die Funktionen, die dem Staat für die Alterssicherung zukommen, in systematischer Weise dargestellt werden. Diese Funktionen sind die Bereitstellung staatlicher Leistungen (3.1), die Regulierung privater Altersvorsorge (3.2) und die Koordinierung unterschiedlicher Vorsorgeprogramme (3.3). 3.1 Staatliche Leistungen Hinsichtlich der staatlichen Leistungen gibt es einen klaren Trend zu mehr interpersoneller Umverteilung und einer Aufweichung des Beitragsprinzips 427 Christian Marschallek (vgl. hierzu auch Clasen 2001; Ring/McKinnon 2002; Hills 2004). Mit anderen Worten: Während die Regierung versucht, die Ausgaben für die staatliche Alterssicherung insgesamt zu begrenzen, steigt der Anteil zugunsten einkommensschwacher Rentner, gering Verdienender und Frauen durch die Reform der staatlichen Zusatzrente und durch bedarfsabhängige Leistungen (vgl. Hills 2004: 362). Unter New Labour wurden jene, die als unfähig zur Eigenvorsorge gelten, von Änderungen im Bereich der Sozialversicherungsrenten begünstigt, etwa durch die State Second Pension.16 Hiervon profitieren vor allem Niedrigverdiener und Frauen, letztere, da sie noch immer überdurchschnittlich häufig Erziehungs- und Pflegeaufgaben innerhalb der Familie wahrnehmen. Von diesen Maßnahmen abgesehen, lässt sich eine schwindende Generosität der Sozialversicherungsrenten im Verhältnis zu bedarfsabhängigen Leistungen beobachten (vgl. Hills 2004: 351). Das höhere Niveau der bedarfsabhängigen Mindestsicherung (MIG/Pensions Credit) verspricht Erfolge bei der Bekämpfung der Altersarmut (Taylor-Gooby et al. 2004: 589). Mit der Erhöhung der Leistungen vergrößerte sich aber gleichzeitig die Zahl der Berechtigten. Banks et al. (2002: 14) vermuten, dass 58 Prozent aller Haushalte mit mindestens einer Person ab 65 Jahren Anspruch auf wenigstens eine bedarfsabhängige Leistung haben. Schätzungen des Anteils berechtigter Personen im Jahr 2050 liegen zwischen 65 und 80 Prozent (HoL 2003: 47). Damit wird der Anspruch auf bedarfsabhängige Leistungen im Alter beinahe zum Regelfall. Allerdings sind die Nichtinanspruchnahmequoten mit bis zu einem Drittel recht hoch, insbesondere wenn die Ansprüche nur gering sind (DWP 2005a: 19, 22). 3.2 Staatliche Regulierung privater Vorsorge Es gerät zunehmend in den Blick der Wohlfahrtstaatsforschung, dass die Verfolgung wohlfahrtsstaatlicher Ziele nicht nur durch die unmittelbare Gewährung von Leistungen durch den Staat erfolgt. Die Bereitstellung der Leis16 Die von der Regierung eingesetzte Pensions Commission (2005) schlägt vor, die Grundrente in eine universelle, vorleistungsfreie Leistung umzuwandeln. Die State Second Pension soll durch eine Festschreibung der oberen Beitragsbemessungsgrenze ihren erwerbseinkommensbezogenen Charakter ganz verlieren. Hierdurch würde der Umverteilungscharakter der Sozialversicherung weiter gestärkt und das Beitragsprinzip geschwächt. 428 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel tungen kann auch sogenannten Wohlfahrtsmärkten (Taylor-Gooby 1999; Nullmeier 2001; 2003) übertragen werden, die einer besonderen sozialpolitischen Regulierung unterworfen sind (Leisering 2005). Die Privatisierung und Vermarktlichung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen stellt einen veränderten Modus der Wohlfahrtsproduktion dar, in dem die Erreichung sozialpolitischer Ziele nicht mehr länger unmittelbar dem Staat überantwortet wird, dieser aber dennoch mittelbar in der Verantwortung bleibt. Mit Blick auf die Altersvorsorge ist dies am deutlichsten dort der Fall, wo von staatlicher Seite in steigendem Maße Regulierungsaufgaben in Bezug auf die private Alterssicherung wahrgenommen werden. Die staatliche Regulierung privater Alterssicherung umfasst rechtliche (3.2.1), fiskalische (3.2.2) und pädagogische Elemente (3.2.3). Trotz der Ausweitung regulierungsstaatlicher Tätigkeit in allen drei Bereichen lassen sich jedoch auch Grenzen der Regulierung ausmachen (3.2.4). 3.2.1 Rechtliche Regulierung Die zunehmende Regulierung macht sich zuallererst in einer steigenden Zahl von Vorschriften in Hinsicht auf Organisationsstruktur, Finanzierung, Leistungsstandards, Information und Beratung im Bereich der privater Alterssicherung bemerkbar. Die Handlungen von Arbeitgebern, Treuhändern, Investmentmanagern, Versicherungsmathematikern, Buchprüfern und Finanzberatern sind in hohem Maße von staatlichen Regelungen bestimmt. Diese Vorgaben folgen staatlichen Zielvorstellungen, wie etwa die Begrenzung öffentlicher Ausgaben für staatliche und private Vorsorge (vgl. 3.2.2). Sie sind darüber hinaus aber auch als Reaktionen auf öffentliche Gerechtigkeitsvorstellungen (z.B. hinsichtlich der Behandlung von Arbeitsplatzwechslern in der betrieblichen Alterssicherung) und auf Fälle von Marktversagen (Maxwell-Skandal, Mis-selling, Betriebsrentenverluste bei Unternehmensinsolvenzen) zu begreifen. Mit seinen Eingriffen versucht der Staat sicherzustellen, dass Alterssicherungsleistungen in „angemessener“ Art und Weise bereitgestellt werden. Insofern vereinnahmt der Staat Alterssicherungsmärkte für Wohlfahrtszwecke und verwandelt sie so in staatlich regulierte Wohlfahrtsmärkte (vgl. TaylorGooby 1999; Nullmeier 2003). Man kann von einem Verschwimmen der Grenzen zwischen staatlicher und privater Vorsorge bzw. von einer Hybridisierung „privater“ Alterssicherung sprechen: „What has emerged is a publicprivate hybrid as officials attempt to adapt the market to secure political ob- 429 Christian Marschallek jectives“ (Whiteside 2003: 32; vgl. auch O’Higgins 1986: 140-141; Altman 1992: 89-90). Wohlfahrtsmärkte für Altersvorsorge weisen Charakteristika auf, die staatlichen Alterssicherungsprogrammen in vielerlei Hinsicht ähnlich sind. So ist in Großbritannien die Mitgliedschaft in einem (staatlichen oder privaten) Zusatzrentenprogramm für abhängig Beschäftigte obligatorisch, es besteht ein Verrentungszwang und es sind dabei Unisex-Tarife und eine Hinterbliebenensicherung vorgeschrieben. Darüber hinaus wird mittels staatlicher Regulierung versucht, durch die Festsetzung von Mindeststandards auf die Leistungshöhe Einfluss zu nehmen. In Programmen mit Beitragszusage wird dieses Ziel indirekt über festgelegte Mindestbeiträge angestrebt. Des weiteren existieren Aufsichtsbehörden sowie ein staatlich initiierter Kompensationsfonds für Fälle von Marktversagen. Hierdurch soll die Sicherheit privater Alterssicherungsprogramme und der in ihnen angelegten Gelder garantiert werden. Interpersonelle Umverteilung als wichtiges Merkmal wohlfahrtsstaatlicher Alterssicherungsprogramme soll jedoch nach einhelliger Meinung der befragten Experten staatlichen Leistungssystemen vorbehalten bleiben. Unisex-Tarife und obligatorische Hinterbliebenensicherung werden daher von Experten aus dem Umfeld von Anbietern privater Altersvorsorge abgelehnt. Im Vergleich zu Deutschland, wo mit der „Riester-Rente“ und der „Eichelgeförderten“ betrieblichen Alterssicherung Bereiche umfassend sozialpolitisch regulierter privater Vorsorge geschaffen wurden (Nullmeier 2001; Berner 2004), fällt auf, dass die sozialpolitisch motivierten Regulierungselemente in Großbritannien eher Stückwerk und Resultat kurzfristiger Ad-hocReaktionen sind.17 Die Regulierung privater Alterssicherung scheint zuallererst von der Zielstellung beseelt, sicherzustellen, dass die Bürger tatsächlich und auf ausreichendem Niveau Privatvorsorge betreiben, damit sie im Alter möglichst nicht auf staatliche Leistungen zurückgreifen müssen. 3.2.2 Fiskalische Regulierung Staatliche Regulierung privater Altersvorsorge beschränkt sich nicht auf rechtliche Vorschriften. Sie umfasst auch die finanzielle Förderung privater Vorsorge. Bereits Titmuss (1987) verweist auf die Vergleichbarkeit unmittel17 Einige der sozialpolitisch motivierten Regulierungselemente, die in Deutschland üblich sind, gibt es in Großbritannien nicht, so etwa die kinderbezogene Förderung, wie sie bei der „Riester-Rente“ gewährt wird. 430 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel bar staatlicher Alterssicherungsprogramme und staatlicher Ausgaben für die private Alterssicherung, so genannter „fiscal welfare“. Letztere spielen für die Regulierung – insbesondere freiwilliger – privater Vorsorge eine wichtige Rolle, da die staatlichen Zuschüsse an die Einhaltung regulativer Standards gebunden sind (Altman 1992: 90; Hinrichs 2000: 356). In Anlehnung an Titmuss (1987) spreche ich hier von fiskalischer Regulierung. Diese kann verschiedene Formen annehmen. In Großbritannien sind vor allem Steuervorteile, der Sozialversicherungsrabatt im Falle des Contractingout und die nunmehr abgeschaffte Inflationsanpassung privater Vorsorgeleistungen durch SERPS zu nennen. Die Kosten hierfür sind erheblich. Direkten öffentlichen Leistungen für Personen im Rentenalter in Höhe von 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) (Emmerson 2003: 177, Werte für 2001/02) stehen Nettoausgaben von 1,6 Prozent des BIP für Steuervergünstigungen und den Sozialversicherungsrabatt zugunsten privater Vorsorge (Steventon 2005: 17, Werte für 2004/05) gegenüber, dies entspricht etwa einem Verhältnis von vier zu eins. Auch die nachgelagerte Besteuerung zählt zu den steuerlichen Vorteilen. Obwohl sie die Steuerpflicht lediglich aufschiebt, ist sie vor allem für jene lukrativ, die während des Erwerbslebens einem höheren Steuersatz als im Ruhestand unterliegen (vgl. Sinfield 2000: 153). Darüber hinaus besteht in der Regel die Möglichkeit, einen Teil des angesparten Vermögens als steuerfreie Einmalleistung zu beziehen. Diese Steuerbegünstigungen kommen überproportional jenen zugute, die auf Grund ihres Wohlstands wahrscheinlich auch ohne besondere Anreize Privatvorsorge betreiben würden. Somit steht sie in einem seltsamen Widerspruch zu dem Ziel, staatliche Ausgaben auf die Bedürftigen zu konzentrieren (vgl. Sinfield 2000: 141). Neben den Vorteilen nachgelagerter Besteuerung werden auch während der Akkumulationsphase Steuervorteile gewährt, denn Pensionsfonds sind von Steuern auf Zinsen und Kapitaleinkommen weitgehend ausgenommen. Seit 1997 ist jedoch die Befreiung der Altersvorsorgepläne von der Advanced Cooperation Tax auf Dividendenzahlungen aus Großbritannien aufgehoben (PPI 2005: 57). Neben dieser Begrenzung der Steuervorteile markiert auch die Übertragung der Kosten für die Inflationssicherung privater Vorsorge auf die Anbieter einen gegenläufigen Trend bei der fiskalischen Regulierung privater Vorsorge. Er ist Ausdruck eines Zielkonfliktes: Einerseits soll die staatliche Alterssi431 Christian Marschallek cherung durch die Ausweitung privater Vorsorge finanziell entlastet werden, andererseits erweist sich auch die Förderung privater Alterssicherung als kostenintensiv und induziert damit ausgabenmindernde Maßnahmen. Darüber hinaus besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel, private Altersvorsorge durch finanzielle Anreize zu fördern und der Sorge, Altersvorsorgeprogramme könnten von den Versicherten als Mittel zur Steuervermeidung missbraucht werden.18 3.2.3 Pädagogische Regulierung Staatliche Alterssicherungsleistungen werden, wie bereits dargestellt, in Großbritannien nur auf einem sehr niedrigen Niveau gewährt. Gleichzeitig betont die Regierung die Notwendigkeit privater Altersvorsorge und betrachtet diese als integralen Bestandteil der Alterseinkommen. Personen, für die private Vorsorge zumutbar erscheint, werden auf die Wohlfahrtsmärkte für Alterssicherung verwiesen (DSS 1998: 3). Die Vorsorgebemühungen der Briten werden von der Regierung aber als teilweise unzureichend eingeschätzt (DWP 2004: 5-6).19 Dies wird auf die mangelnde Fähigkeit vieler Personen zurückgeführt, wohlinformierte Entscheidungen über ihr Vorsorgeverhalten zu treffen. Zwar wurden staatlicherseits immer wieder die Auskunftsrechte der (potenziell) Versicherten gegenüber Arbeitgebern und Anbietern individuell-privater Alterssicherung ausgeweitet. Dennoch wird angenommen, dass viele Briten nicht wüssten, welche der vielfach erhältlichen Informationen vertrauenswürdig seien, dass sie diese nur schwer zu ihren individuellen Lebensumständen in Beziehung setzen könnten und dass sie sich über die Auswirkungen ihrer Vorsorgeentscheidungen im Unklaren wären (DWP 2004: 1). Unzureichende private Vorsorge wird somit auf die mangelnde Finanzbildung von Individuen zurückgeführt. Der pädagogischen Regulierung privater Alterssicherung kommt daher ein hoher Stellenwert zu. Der Staat ist aktiv bemüht, die individuellen Voraussetzungen für das Funktionieren von Wohlfahrtsmärkten zu schaffen. Denn grundsätzlich seien es die Individuen, die eigenverantwortlich über das Ausmaß ihrer Altersvorsorge bestimmen müssten. 18 Diese Spannung lässt sich bereits seit den 1920er Jahren nachweisen (vgl. Hannah 1986: 47). 19 Anders als in Deutschland, wo im Zuge der „Riester-Reform“ ein bestimmtes Gesamtversorgungsniveau aus staatlicher und geförderter privater Vorsorge angestrebt wurde, gibt es eine solche Zielsetzung in Großbritannien allerdings nicht (DWP 2004: 5). 432 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel Eine zentrales Element im Bereich pädagogischer Regulierung privater Alterssicherung ist die „Informed Choice“ Kampagne (DWP 2002: 33-46; DWP 2004) ein. Sie umfasst eine Vielzahl von Komponenten. So soll die Nichtteilnahme an betrieblichen Alterssicherungsplänen verringert werden, indem die Leute zu aktiven Entscheidungen über eine (Nicht-)Mitgliedschaft und ihre Beitragshöhe veranlasst werden. Individuelle Rentenprognosen sollen zur Verdeutlichung der Auswirkungen bestimmter Entscheidungen mit unterschiedlichen Szenarien ergänzt werden. Auch ist die regelmäßige automatische Versendung von Rentenprognosen (für die staatliche Alterssicherung) geplant. Die Anbieter von Alterssicherungsplänen sollen – zunächst auf freiwilliger Basis – dazu bewegt werden, kombinierte Rentenprognosen zu erstellen, in denen staatliche und private Anwartschaften zusammengefasst werden (DWP 2004). „Informed Choice“ rekurriert auch auf eine umfassendere Kampagne der FSA zur Verbesserung der Finanzbildung (FSA 2003). Vorgeschlagen wird beispielsweise, Finanzbildung bereits in der Schule und im Rahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik zu vermitteln. Die mit der „Informed Choice“ Strategie vorgeschlagenen Maßnahmen sind zweifellos eine wichtige Funktionsvoraussetzung für Wohlfahrtsmärkte auf freiwilliger Basis. Allerdings stehen dem Erfolg einige Hindernisse im Weg, vor allem die hohe Komplexität des britischen Rentensystems in Verbindung mit teilweise geringen Rechenfertigkeiten der Bevölkerung. So sind 25 Prozent aller erwachsenen Briten nicht in der Lage, selbst einfachste Rechenaufgaben zu lösen (FSA 2003: 7). Die Vielzahl der Vorsorgemöglichkeiten und die Komplexität des britischen Rentensystems dürfte viele Verbraucher verwirren. Die Entscheidungssituation verkompliziert sich weiter durch die Aussicht, eventuell im Alter Anspruch auf bedarfsabhängige Leistungen zu haben (vgl. 3.3). Neben diesen praktischen Problemen hat die pädagogische Regulierung privater Alterssicherung, wie sie in Großbritannien betrieben wird, noch weitere Implikationen. Eine Politik, die die Leute aktiv auf die private Vorsorge verweist, kann den Staat im Falle eines Marktversagens in ernste Schwierigkeiten bringen und die Politisierung von Wohlfahrtsmärkten verschärfen (vgl. Nullmeier 2003: 968; Leisering 2005; Mann 2005). Als der Mangel an Schutzmechanismen für die Mitglieder betrieblicher Rentenpläne bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers offenbar wurde, formierten sich alsbald Protestmärsche, auf denen staatliche Kompensationen gefordert wurden (vgl. Pestridge 2003). Die Demonstranten verwiesen darauf, dass sie lediglich 433 Christian Marschallek getan hätten, was die Regierung von ihnen verlangte. Folglich sei der Staat für die Konsequenzen verantwortlich. 3.2.4 Grenzen der Regulierung: Abbau betrieblicher Alterssicherung und Contracting-back Wie ich dargelegt habe, nimmt die Regulierungstätigkeit des Staates in vielerlei Hinsicht zu. Doch zeigen sich zunehmend die Grenzen des Regulierbaren. Besonders deutlich wird dies einerseits am Rückzug der Arbeitgeber aus der betrieblichen Alterssicherung angesichts von „Über-Regulierung“, andererseits an der Abkehr der Versicherten von den Alterssicherungsmärkten aufgrund schlechter Renditen, unzureichender Förderung, mangelndem Vertrauen und der Intransparenz des Systems. Beide Entwicklungen bewirken eine Rückkehr einstmals privat Versicherter in die staatliche Zusatzrente (Contracting-back). Der Rückzug der Arbeitgeber aus der Alterssicherung mag überraschen, galt doch die betriebliche Alterssicherung lange als das Filetstück des britischen Rentensystems, als „one of the great welfare success stories“ (DSS 1998: 18). Da Betriebsrentenpläne vor allem in Aktien investierten, konnten während des Aktienbooms in den 1990er Jahren großzügige Betriebsrenten praktisch zum Nulltarif angeboten werden. Seit dem Börsen-Crash im Jahr 2000 bereitet die Finanzierung jedoch zunehmend Probleme. Hinzu kommen seit längerem steigende Ausgaben durch die zunehmende Lebenserwartung und die wachsende staatliche Regulierung mitsamt der Verpflichtung zu bestimmten Leistungsverbesserungen als Voraussetzung für das Contracting-out. Die steigende finanzielle Belastung der Unternehmen durch die betrieblichen Alterssicherungssysteme aufgrund dieser Entwicklungen wurde schlagartig deutlich, als das Accounting Standards Board den neuen Buchhaltungsstandard FRS 17 einführte. Durch ihn werden Defizite in der betrieblichen Altersvorsorge als Teil der Unternehmensbilanz ausgewiesen: „[F]inance directors have had some nasty shocks. They had no idea what all this would cost“ (Interview 1.2, Interessenverband im Bereich betrieblicher Alterssicherung). Zudem verfügen viele britische Unternehmen mit reifen Rentenplänen20 über weit weniger Vermögen als ihr Pensionsfond. Keinesfalls wären 20 Es handelt sich hierbei um bereits länger bestehende Rentenpläne, in denen eine Vielzahl der Versicherten schon Rentenbezieher sind. Durch deren vorherige Beitrags- 434 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel sie in der Lage, ein größeres Defizit in der betrieblichen Alterssicherung finanziell auszugleichen (vgl. Blackburn 2002: 44-45). All diese Entwicklungen beschleunigten den bereits länger andauernden Trend, dass Arbeitgeber ihre betrieblichen Rentenpläne schließen oder von Leistungszusagen auf Beitragszusagen umstellen und im Zuge dessen ihre Beitragszuschüsse reduzieren. Zukünftig werden Betriebsrenten niedriger ausfallen als in der Vergangenheit und die Risiken der Alterssicherung werden auf die Beschäftigten verlagert (Pensions Commission 2004: 85-125). Die Pensions Commission (2004: 85) geht davon aus, dass die Zahl der in Betriebsrentenplänen mit Leistungszusage versicherten Beschäftigten seit 1995 um 60 Prozent gefallen ist. Bridgen und Meyer (2005) betonen, dass veränderte Rahmenbedingungen diese Veränderungen nur unzureichend erklären. Sie verweisen auf den Einfluss von Unternehmensberatern und einen „Herdentrieb“ unter den Arbeitgebern, die dazu führen, dass unternehmerische Einzelentscheidungen, die in einem verminderten Engagement in der betrieblichen Vorsorge resultieren, als „Erfolgsmodelle“ kopiert werden und so den Abbau betrieblicher Alterssicherung vorantreiben. Befragt man die Experten nach ihren Deutungen der Gründe für die Abkehr der Unternehmen von der betrieblichen Altersvorsorge, betonen alle, dass hierfür eine Vielzahl von Faktoren entscheidend seien. Wenig überraschend akzentuieren Vertreter der Renten-Branche jedoch die Rolle staatlicher Regulierung, die sie zunehmend als Überregulierung empfinden. Hierdurch würden die Unternehmen über das Erträgliche hinaus belastet. Eine besonders drastische Darstellung lautet wie folgt: I think over many years the UK government has moved from supporting the private pensions sector to strangling it (Interview 2.1, Interessenverband Unternehmensberatung). Gleichwohl auch von Vertretern der Regierungspolitik Probleme bei der Regulierung betrieblicher Alterssicherung eingeräumt werden, betrachten sie einige der aus der Vorsorge-Branche stammenden Kritikpunkte als unangemessen. Dies sei an der Diskussion um die Belastung von betrieblichen Al- zahlungen wurde ein großer Kapitalstock aufgebaut. Im Vergleich dazu sind die andauernden Beitragszuflüsse gering. 435 Christian Marschallek terssicherungsplänen mit Leistungszusage durch die Beiträge zum Pensionssicherungsfonds verdeutlicht. We are talking about something like ten, fifteen Pounds per member per year. If you think of a member of an occupational scheme, […] a low income member earning 15,000 Pounds a year, the employer is paying a ten per cent contribution which isn’t high for a defined benefit scheme. That’s 1,500 Pounds a year […]. I cannot believe that anyone will say: “We will close this scheme because it’s 20 Pounds more.” […] If they say that’s the reason, that is an excuse for closing it, it’s not the reason (Interview 3.10, Ministerium). Regierungsnahe Akteure betonen eher das derzeit schlechte Finanzmarktumfeld als Problem für die betriebliche Alterssicherung und setzen auf eine langfristige Erholung in diesem Bereich. A lot of this is often on paper, it’s obviously the actuaries projecting what you may have to pay in the future. And so they suddenly find a billion Pound hole in their pension fund which isn’t a real hole but it is because the stock market is very low at the moment. But then the stock market could go up again. It’s important in pensions policy that you don’t panic because of the short-term vagaries of the market and then take decisions which in fact in the long term could actually be detrimental (Interview 2.2, Labour Party). Nicht nur die Anbieter, auch die Verbraucher ziehen sich von den Alterssicherungsmärkten zurück. Dies mag an der Komplexität des britischen Alterssicherungssystems liegen, welches für Laien nicht mehr verständlich ist, oder an der (vagen) Hoffnung auf bessere Alternativen. Solche Alternativen bestehen in der staatlichen Zusatzrente, für einige wohl auch in bedarfsgeprüften Leistungen. Viele Briten betrachten auch den Immobilienerwerb als Form der Alterssicherung. Darüber hinaus hat private Vorsorge in den letzten zwei Jahrzehnten einen zweifelhaften Ruf erworben. Verstärkt durch die mediale Aufmerksamkeit haben sich Vorfälle wie der Maxwell-Skandal, Mis-selling und Pensionsverluste durch Arbeitgeberpleiten negativ auf das Verbrauchervertrauen auch in anderen Bereichen privater Altersvorsorge ausgewirkt (Casey 2003). Der Rückzug von Anbietern und Versicherten von den Wohlfahrtsmärkten für Alterssicherung wird besonders offensichtlich, wenn man den derzeitigen Trend zum Contracting-back, dem Wechsel von der privaten in die staatliche 436 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel Zusatzrente, betrachtet. Das Consulting-Unternehmen Watson Wyatt schätzt die Zahl derer, die diesen Wechsel allein im Steuerjahr 2002/03 vorgenommen haben, auf 522.000. In 319.000 Fällen war der Wechsel von Leistungszusagen zu Beitragszusagen in der betrieblichen Alterssicherung ausschlaggebend (Knight 2004). Oft werden betriebliche Alterssicherungsarrangements dabei so umgestaltet, dass sie die staatliche Zusatzrente nicht mehr ersetzen, sondern nur noch aufstocken sollen. Dies stellt eine neue Form der Risikoteilung zwischen Unternehmen und Staat dar. Diese neue Partnerschaft in der Alterssicherung dürfte jedoch nicht den Vorstellungen der Regierung von einer „Partnership in Pensions“ (DSS 1998) entsprechen. Die übrigen 203.000 Personen kehrten aus Personal Pensions in die staatliche Zusatzrente zurück (Knight 2004). Sinkende Renditen und schlechtere Konditionen bei der Verrentung des Vorsorgevermögens lassen das Contracting-out in Personal oder Stakeholder Pensions auf dem derzeitigen Niveau des Sozialversicherungsrabatts sehr wahrscheinlich zu einem Verlustgeschäft für die meisten Versicherten werden (Which? 2005; OAC 2005). Dies liegt auch an den im Vergleich zur staatlichen Zusatzrente deutlich höheren Vertriebs- und Verwaltungskosten (Ward 2003: 273). Viele Anbieter legen daher ihren Kunden nahe, ihre Entscheidung für das Contracting-out zu überdenken. Ein Ministeriumsvertreter verwies jedoch auf das schwankende Marktumfeld, dem der Rabatt in der Sozialversicherung nur mit einigem zeitlichen Abstand folgen könne, und empfahl eine langfristigere Betrachtung. Vor einiger Zeit sei der Rabatt durchaus höher gewesen als versicherungsmathematisch gerechtfertigt. No one said: “It’s been so high, we want to give your money back.” Now they are saying: “It’s too low.” They should realise that in the end of this year, the beginning of next year, there’ll be another review of it and it will have to be put onto a basis that makes it work. So they should take a longer-term view rather than moan, as they often do (Interview 3.10, Ministerium). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Regulierung privater Alterssicherung offenbar nicht in der Lage ist, für das Ausmaß an Transparenz, Sicherheit und finanziellen Anreizen zu sorgen, welches die private Vorsorge für die Leute dauerhaft attraktiv erscheinen lässt. Gleichzeitig entfaltet sie Belastungswirkungen für die Anbieter privater Alterssicherung – insbesondere von Betriebsrentensystemen mit Leistungszusage –, die der Grund (oder 437 Christian Marschallek wenigstens die Begründung) für den Rückzug der Anbieter aus der privaten Vorsorge sind. Eine Lockerung regulativer Standards birgt jedoch die Gefahr, den Schutz der Versicherten und die Erwartbarkeit der privaten Rentenleistungen zu unterminieren (Hyde/Dixon 2004; Davy 2005). Hier zeigt sich ein Regulierungsdilemma. Die britische Alterssicherungspolitik, die vor allem auf freiwilliges Engagement auf staatlich regulierten Wohlfahrtsmärkten setzt, ist nunmehr mit der unintendierten Konsequenz konfrontiert, dass sich die Marktteilnehmer – Anbieter und Nachfrager – vom Markt zurückziehen. Dies geschieht nicht zuletzt deshalb, weil die unterschiedlichen Zeithorizonte von staatlichen Akteuren und Marktteilnehmern nur schwer zur Deckung zu bringen sind. 3.3 Staatliche Koordinierung der Alterssicherung: Die Grundrentendebatte Der Ausbau bedarfsabhängiger Leistungen hat zu erheblichen Koordinierungsproblemen zwischen staatlicher und privater Altersvorsorge geführt. Aus dieser Situation heraus hat sich eine Debatte darüber entwickelt, ob eine höhere Grundrente ohne Bedarfsprüfung diese Probleme lösen könnte. Derzeit führen individuelle Vorsorgebemühungen nicht unbedingt zu einem höheren Lebensstandard im Alter, da persönliche Ersparnisse möglicherweise ganz oder teilweise auf bedarfsgeprüfte staatliche Leistungen angerechnet werden. Zwar wird von den meisten befragten Experten angezweifelt, dass diese Überlegung tatsächlich das Sparverhalten der Briten beeinflusst. Schließlich könne kein Versicherter davon ausgehen, dass der Pensions Credit in seiner derzeitigen Form auch langfristig Bestand haben wird. Dennoch schrecken viele Verkäufer aus Angst vor erneuten Vorwürfen der Falschberatung und späteren Schadenersatzforderungen davor zurück, Vorsorgeprodukte an Personen zu verkaufen, die im Alter einen Anspruch auf bedarfsabhängige Leistungen haben könnten. [It is] very difficult to provide unambiguous financial advice for that half to three-quarter of the population who are likely to be eligible for the Pensions Credit during their retirement. FSA rules require that individual financial advice should be thorough and appropriate, but it is extremely difficult to provide such advice given the uncertainty of the way in which private savings may interact with the Pension Credit (HoL 2003: 47-48). 438 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel Die Ausgestaltung der staatlichen Alterssicherung hat also negative Effekte auf das Ausmaß privater Vorsorge. Viele Experten gehen davon aus, dass eine höhere staatliche Grundrente ohne Bedarfsprüfung die Koordinierung staatlicher und privater Vorsorge erheblich verbessern würde. Dies könne zu mehr privater Vorsorge führen. Befürworter einer höheren Grundrente argumentieren, dass diese die negativen Anreizwirkungen der Bedarfsprüfung verhindern würde, die einer verstärkten privaten Vorsorge entgegenstünden. [P]rivate provision should be able to build upon a solid state platform where people saving privately are not dis-incentivised by the current regime (Interview 1.7, anbieternaher Interessenverband). Darüber hinaus könnte eine höhere Grundrente das Alterssicherungssystem viel einfacher und transparenter machen. Dies würde sowohl die Beratung in Alterssicherungsfragen als auch die individuelle Vorsorgeentscheidung deutlich erleichtern. [V]irtually all people in the industry would like to see the state bedrock pension taking people clear of means-testing, so that the advisory process can be simple (Peter Tompkins, PricewaterhouseCoopers, zit. nach HoL 2003: 48). I’m not sure that more information and expecting consumers to behave like rational economic creatures is necessarily going to solve our problems in this country. And that’s why I come back to an universal subsistence pension that people can live on, that lifts them out of poverty. And then people will understand that if they want any more luxuries than that, they’re on their own and they’ve got to do something for themselves. And that is such a simple thing to understand, I think people could get their heads around that (Interview 1.2, Interessenverband im Bereich betrieblicher Alterssicherung). Forderungen nach einer höheren staatlichen Grundrente ungefähr auf dem Niveau der MIG bzw. des Guarantee Credits (oft verbunden mit einer Abschaffung oder Vereinfachung des Contracting-out) werden nicht nur von Wohlfahrtsverbänden und Verbraucherschützern, sondern auch von Arbeitgeberseite und dem Versicherungsverband vorgebracht (vgl. z.B. NAPF 2004; ABI 2005; CBI 2005). Derartige Vorschläge von Anbieterseite mögen überraschen, gelten diese Gruppen doch nicht als typische Fürsprecher einer Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Dass sie sich dennoch dafür aus439 Christian Marschallek sprechen, rührt auch daher, dass höhere staatliche Renten mit einer weniger intensiven Regulierung der privaten Vorsorge einhergehen können, da das System transparenter wäre und für die privat Versicherten insgesamt weniger auf dem Spiel stünde. Dies würde private Alterssicherung für die Anbieter attraktiver machen und, so wird argumentiert, die Verwaltungskosten senken. Das käme dann auch den Versicherten entgegen. Diese Annahme wird auch vom Wirtschaftsauschuss des House of Lords geteilt: We therefore recommend that as a top priority the Government should consider introducing a non-means-tested state pension paid on the basis of citizenship to all persons of pension age. We believe that the provision of this baseline state pension is a necessary element for the development of a more extensive system of voluntary pension saving in the United Kingdom. […] In addition to providing an adequate, simple and comprehensible pension for retirees, a non means-tested universal pension would enable the extremely complex system of “contracting out” to be abolished, thereby enormously simplifying the administration and regulation of occupational pension schemes (HoL 2003: 48, Hervorhebung i.O.). Allerdings steht die Regierung derartigen Vorschlägen zurückhaltend gegenüber. Diese würden zu höheren öffentlichen Ausgaben führen, ohne jedoch die Situation der Bedürftigen – der derzeitigen Empfänger des Pensions Credit – zu verbessern. I think that the government would like to have in place a system that the Pensions Credit […] would be phased out at some point in the future. It’s not something you can do very easily because it’s very expensive. […] And the lowest-income people do not gain at all because they remain in means-testing. All that money is in a sense dead-weight costs from the perspective of government. Billions of Pounds have to be spent getting everyone else more money before you even start to affect poor people. It’s a huge disincentive to do it (Interview 3.10, Ministerium). Der wohl interessanteste Aspekt der Grundrentendebatte ist die Tatsache, dass sie dem allzu einfachen Motto „Weniger (Wohlfahrts-)Staat!“ deutlich widerspricht: Mehr Leistungsstaat wird nicht nur zur Voraussetzung von weniger Regulierungsstaat, sondern auch von mehr privater Vorsorge. 440 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel 4. Schlussfolgerung Ist die britische Alterssicherungspolitik ein erfolgreiches Beispiel für eine Strategie, die auf „Weniger (Wohlfahrts-)Staat!“ setzt? Wohl kaum. Eine solche Argumentation hieße, den Wohlfahrtsstaat auf sein Ausgabevolumen für die unmittelbare Leistungserbringung zu reduzieren. Vielmehr gilt: Weniger ist mehr. Ein Zurückfahren staatlicher Sozialleistungsprogramme führt zum verstärkten Tätigwerden des Staates in anderen Bereichen. Dies wird aber nur deutlich, wenn man mehrere Dimensionen wohlfahrtsstaatlichen Eingreifens betrachtet: Leistungserbringung, Regulierung und Koordinierung. Die Leistungserbringung in der staatlichen Alterssicherung Großbritanniens ist nicht nur durch die Erosion der Sozialversicherungsrenten, sondern auch durch den Einbau von mehr interpersonell umverteilenden Elementen geprägt. Die 2001 in Deutschland eingeführte Grundsicherung im Alter in Verbindung mit dem wiederholten Absenken des Leistungsniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung weisen in eine ähnliche Richtung. Der Umfang staatlicher Regulierung privater Alterssicherung hat in Großbritannien während der letzten zwei Jahrzehnte erheblich zugenommen. Dies ist im Sinne eines breiten – auch handlungsermöglichende Elemente berücksichtigenden – Regulierungsbegriffes zu verstehen. Auch hier gibt es parallele, stärker sozialpolitisch motivierte Entwicklungen in Deutschland (vgl. Nullmeier 2001; Berner 2004). Der staatlichen Regulierung privater Alterssicherung sind jedoch Grenzen gesetzt. Trotz aller staatlichen Bemühungen sind Wohlfahrtsmärkte weder direkt politisch steuerbar noch kalkulierbar (Nullmeier 2003: 966). Veränderungen der Rahmenbedingungen können bei den Marktteilnehmern kurzfristige Verhaltensänderungen hervorrufen. Hierbei spielen Ansteckungseffekte bzw. „Herdenverhalten“ eine erhebliche Rolle (Casey 2003; Bridgen/Meyer 2005). Regulierung tendiert dazu, mehr Regulierung nach sich zu ziehen, sei es weil die bestehenden Regeln als unzureichend wahrgenommen werden oder weil sich die Rahmenbedingungen verändert haben (Altman 1992: 91). Dies führt dazu, dass die regulierte private Alterssicherung in Großbritannien von den Anbietern zunehmend als überreguliert und unattraktiv betrachtet wird. Für die Versicherten führt mehr Regulierung aber nicht automatisch zu mehr Sicherheit, wohl aber zu wachsender Konfusion, die auch mittels pädagogischer Maßnahmen zur Verbesserung der Finanzbildung nur schwer 441 Christian Marschallek überwunden werden kann. Zwar ist das deutsche Alterssicherungssystem deutlich einfacher gestaltet (es besteht keine Wahl zwischen staatlicher und privater Vorsorge), doch sollte die Bedeutung der Finanzbildung für den Erfolg privater Alterssicherung nicht unterschätzt werden. Eine Ausweitung privater Altersvorsorge setzt auch eine geeignete Koordinierung staatlicher und nicht-staatlicher Vorsorgeprogramme voraus. Hierbei spielt die Ausgestaltung der staatlichen Mindestsicherung eine zentrale Rolle. Dies ist für die deutsche Alterssicherungspolitik nicht ohne Relevanz. Immer breitere Bevölkerungsgruppen können im Ruhestand keine gesetzliche Rente oberhalb der Grundsicherung im Alter (Sozialhilfe) erwarten (Schmähl 2004: 176-178). Falls die staatlich geförderte private Vorsorge lediglich die Lücke zwischen Sozialversicherungsrente und Grundsicherung schließt, ohne den Betroffenen finanzielle Vorteile zu verschaffen, könnte dies zu erheblichen Akzeptanzproblemen führen. Es ist nicht auszuschließen, dass dann gegen Anbieter privater Vorsorge oder den Staat Vorwürfe der Falschinformation und Schadensersatzforderungen gerichtet werden. In Großbritannien kehren viele derer, die sich einst gegen die staatliche und für die private Alterssicherung entschieden hatten, wieder in die staatliche Zusatzrente zurück und sorgen für eine Ausweitung staatlicher Alterssicherung „durch die Hintertür“.21 Derzeit wird intensiv darüber diskutiert, ob höhere staatliche Renten gar eine Voraussetzung für das Funktionieren der Privatvorsorge auf freiwilliger Basis darstellen und somit in doppelter Hinsicht zur Überwindung der bestehenden „Vorsorgelücke“ (ABI 2004) beitragen können. Dass aber der Staat sich von seiner Verantwortlichkeit für die Alterssicherung befreien könnte, scheint ausgeschlossen. 21 Selbst die britische Regierung verfolgt derzeit nicht mehr aktiv die Zielvorstellung, den Anteil von staatlichen und privaten Alterseinkommen umzukehren: „It’s still on the agenda. But it’s perhaps in the appendix to the book of objectives“ (Interview 3.10, Ministerium). 442 Weniger (Wohlfahrts-)Staat? Britische Alterssicherungspolitik im Wandel Abkürzungsverzeichnis BIP: Bruttoinlandsprodukt FSA: Financial Services Authority GMP: Guaranteed Minimum Pension MFR: Minimum Funding Requirement MIG: Minimum Income Guarantee OPRA: Occupational Pensions Regulatory Authority SERPS: State Earnings Related Pension Scheme Literaturverzeichnis ABI, Association of British Insurers (2004): The state of the nation’s savings 2004. London: ABI. ABI, Association of British Insurers (2005): Serious about saving. The ABI agenda on state and private pension reform. London: ABI. 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