Faire Arbeit, faire Löhne - Ennepe-Ruhr

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Faire Arbeit, faire Löhne - Ennepe-Ruhr
Magazin der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung des Landes Nordrhein-Westfalen
G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH · Im Blankenfeld 4 · 46238 Bottrop,
Dezember 2013
PVSt. Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt
G.I.B.INFO 4 13
Impressum
(Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Wilfried Petri (Friseur- und
Kosmetikverband NRW), Bernhard Pollmeyer (MAIS NRW), Dr. Burkhard
Herausgeber: G.I.B. – Gesellschaft für innovative
Post (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Dr. Boris Schmidt
Beschäftigungsförderung mbH, Im Blankenfeld 4, 46238 Bottrop
(Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin), Dr. Thorsten Schulten (WSI),
Verantwortlicher Redakteur: Manfred Keuler
Rudolf Stüker (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Elisabeth
Redaktionskonferenz: Andrea Bosch, Dr. Friedhelm Keuken, Manfred Keuler,
Tadzidilinoff, Sarah Theres Weikamp, Silke Tornede, Michaela Trzecinski
Julia Mahler, Christiane Siegel, Benedikt Willautzkat
(agentur mark GmbH), Benedikt Willautzkat, Dr. Georg Worthmann
An dieser Ausgabe haben mitgewirkt: Britta Albertz (Verein „Jugend in Arbeit“),
Redaktionsanschrift und Bezugsadresse:
Andrea Becker (ver.di NRW), Uwe Becker (Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen
G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH
gGmbH), Karl Feldengut, Thomas Fonck (Landschaftsverband Rheinland), Ruth Girmes
Im Blankenfeld 4 | 46238 Bottrop M. A. (Universität Duisburg-Essen), Andrea Greiner-Jean (Produktionsschule Wolgast),
Tel.: 02041 767-0 | Fax: 02041 767-299
Martina Große Halbuer (Landschaftsverband Westfalen-Lippe), Thomas Heitzer (Netz-
E-Mail: mail@gib.nrw.de | Internet: www.gib.nrw.de
werk Lippe), Bernd Höller (agentur mark GmbH), Ulrike Joschko (Regionalagentur
Gestaltung: Andrea Bosch, G.I.B.
MEO), Jürgen Kempken, Astrid Kempmann (nomiko e. V.), Dr. Friedhelm Keuken,
Fotos: Arnd Drifte; Joe Kramer; Michel Koczy; kontakt@generation-
Rosemarie Klein (bbb Dortmund), Dr. Andreas Kletzander (Jobcenter Wuppertal), Jürgen
praktikum.at; (c) dpa: Karl-Josef Hildenbrand, Daniel Naupold und
Kockmann (Jobcenter Kreis Steinburt), Niko Köbbe (DGB), Elmar Kotthoff (Caritasver-
Stephanie Pilick; ddpimages: Oliver Lang/Michael Kappeler
band Hagen e. V.), Arnold Kratz, Frank Stefan Krupop, Eva-Maria Kunzig (freie Beraterin),
Titelfoto: Arno Burgi (c) dpa
Stephan Lorenz (Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg), Julia Mahler, Meinolf Melcher
Druck: Druckerei Schmidt, Lünen | ZKZ: K31228 | ISSN 1860 – 9384
(Kolping Bildungszentren Ruhr gGmbH), Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller (IAB), Michael
Bezugspreis: 7,00 EUR, zzgl. 3 EUR für Porto und Verpackung
Nölle (Kreishandwerkerscschaft Düsseldorf), Paul Pantel, Hildegard Pavenstädt-Palsherm
Erscheint vierteljährlich | Dezember 2013
Faire Arbeit, faire Löhne
Die Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH ist eine Einrichtung der Landesregierung NRW.
Sie unterstützt die Arbeitspolitik des Landes. Auch bei der Umsetzung des ESF ist die G.I.B. strategischer Partner des MAIS.
Bildungsträger im Übergangssystem • Produktionsschulen Gütersloh und Wolgast • Make-orBuy-Ansätze • 1.000 neue Außenarbeitsplätze • 15 Jahre Jugend in Arbeit • Prof. Dr. Dr. h. c.
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Möller: Ungleichheit • NRW-Landesschlichter • Generation Praktikum • SESAM
VORWORT
So viel vorab
Mindestlohn, Werkverträge, Leiharbeit – Themen, die das Arbeitsministerium seit dem Start der Landesinitiative „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“
besonders intensiv bearbeitet hat – sollen lt. Koalitionsvertrag von der neuen
Bundesregierung angegangen werden.
Höchste Zeit, möchte man meinen.
Leihbeschäftigung ist überwiegend
zweitklassig. Das Werkvertrags-Unwesen greift um sich. Der Sozialbericht
des Statistischen Bundesamtes 2013
zeigt ein wachsendes Armutsrisiko auf.
Die G.I.B. hat ein „Forum Lohnentwicklung“ organisiert und dazu eine
Studie zur Verdienstentwicklung in
Auftrag gegeben. In diesem Heft zeichnen wir die Entwicklung der Löhne und
des Niedriglohnsektors auf.
Besonders groß ist der lohnpolitische
Handlungsbedarf in der Friseurbranche. Die Beschäftigten rangieren am
Ende der Einkommensskala. Lesen
Sie unseren Bericht „Qualität statt
Lohndumping im Friseurhandwerk!“
Eher noch schlechter ist die Lage im
Wach- und Sicherheitsgewerbe. Hier
hat die Gewerkschaft ver.di im April
2013 in einem bundesweit beachteten Tarifkonflikt und nach massivem
Streik beachtliche Lohnerhöhungen
für die Beschäftigten und insbesondere für die unteren Lohngruppen durchgesetzt. Über den Verlauf der Tarifauseinandersetzungen und die Gründe für
den gewerkschaftlichen Erfolg sprachen
wir mit Andrea Becker. Die ehemalige
Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur ist
heute Abteilungsleiterin beim Landesbezirk NRW der Vereinten Dienstleis­
tungsgewerkschaft (ver.di).
Eine wichtige Rolle in diesem Tarifkonflikt spielte Bernhard Pollmeyer. Der
Landesschlichter NRW, eine unparteiische Institution, die es nur bei uns
gibt, stellt im Interview die Bedeutung
seiner Institution vor und verdeutlicht
zugleich seinen Leitsatz bei der Moderation von Tarifauseinandersetzungen:
„Kein Wettbewerb über den Lohn!“
Warum etwa das Thema Mindestlohn
in Deutschland so kontrovers diskutiert wird und wie andere europäische
Länder das regeln, haben wir mit Dr.
Thorsten Schulten vom Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Institut
in der Hans-Böckler-Stiftung besprochen. Schulten ist Referent für Arbeitsund Tarifpolitik in Europa und Mitglied der Kommission, die das Land
beim Thema „Mindestlohn für die öffentliche Auftragsvergabe“ berät.
Unser Interview mit Prof. Dr. Dr. h. c.
Joachim Möller komplettiert die Artikel zum Thema Faire Arbeit in diesem
Heft. Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB)
in Nürnberg, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit,
zeigt eindringlich die gesellschaftspolitische Dimension auskömmlicher
Löhne und einer gerechten Verteilung
von Markteinkommen auf und befindet: „Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer und ökonomischer Wert.“
Die Landesinitiative „Kein Abschluss
ohne Anschluss – Übergang Schule –
Beruf in NRW“ erreicht fast alle Politikfelder in NRW. Wichtigstes Handlungsfeld der Arbeitsmarktpolitik ist
dabei der Übergang von der Schule in
den Beruf. Die Stadt Hagen und der
Ennepe-Ruhr-Kreis sind zu Beginn
des Jahres gemeinsam in die Umsetzung eingestiegen. Während andere
Kommunen noch daran arbeiten, wie
sie die regionalen Bildungsträger und
Wohlfahrtsverbände in die neu zu gestaltenden Übergangsstrukturen integrieren, zeichnen sich in Hagen und
Ennepe-Ruhr schon klare Konturen ab.
Ansonsten in diesem Heft: Das Modellprojekt „Teilhabe an Arbeit“, mit
dem 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderung in
NRW geschaffen werden sollen, die
arbeitsbezogene Grundbildung an
Einfacharbeits­plätzen, die „Generation Praktikum“, zwei weitere Beispiele von Produktionsschulen, der
in Gütersloh und einer in Vorpommern-Greifswald, sowie der Trend,
dass immer mehr Jobcenter ihre Eingliederungsmaßnahmen selbst organisieren. Besonders zu empfehlen anlässlich des 15-jährigen Jubiläums von
„Jugend in Arbeit plus“: unser Roundtable zu einem der wirksamsten Förder­
angebote nordrhein-westfälischer Arbeitsmarktpolitik.
Viel Spaß beim Lesen wünscht wieder
02
So viel vorab
Jugend und Beruf
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Der lokale Bildungsträgerverbund in Hagen/Ennepe-Ruhr
Produktionsschule Vorpommern-Greifswald: „Zum Basteln würden die Jugendlichen nicht kommen“
Produktionsschule Gütersloh: „Produktionsschulen sind auch eine pädagogische Haltung“
15 Jahre „Jugend in Arbeit“ – eines der erfolgreichsten Förderangebote in NRW
SGB II
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Selber machen oder einkaufen? Immer mehr Jobcenter organisieren ihre Eingliederungsmaßnahmen selbst
Wege in Arbeit
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Landesinitiative fördert 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen in NRW
Faire Arbeit, faire Löhne
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Faire Arbeit, faire Löhne: Qualität statt Lohndumping. Lohnpolitik im Friseurhandwerk
Zur Entwicklung der Löhne und des Niedriglohnsektors. Datenquellen im Vergleich
Interview mit Dr. Thorsten Schulten: „Die Gesellschaft muss sich verständigen, was ein angemessener Lohn ist“
Interview mit Bernhard Pollmeyer: „Kein Wettbewerb über den Lohn!“
Interview mit Andrea Becker: „Die Entschlossenheit der Beschäftigten war enorm“
Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller: „Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer und ökonomischer Wert“
Arbeitsgestaltung und -sicherung
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Generation Praktikum. Gut ausgebildet und ausgebeutet?
Projekt „SESAM“. Arbeitsbezogene Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen
Monitoring und Evaluation
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Jugend in Arbeit plus. Untersuchung des Programms
Teilzeitberufsausbildung (TEP). Ergebnisse aus vier Jahren Programmumsetzung
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JUGEND UND BERUF
Tragende Rolle für Träger
Der lokale Bildungsträgerverbund in Hagen/Ennepe-Ruhr
Die Stadt Hagen und der Ennepe-RuhrKreis sind zu Beginn des Jahres gemeinsam in die Umsetzung der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss
– Übergang Schule – Beruf in NRW“ eingestiegen. Während andere Kommunen
noch eine Form suchen, wie die regionalen Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände in die Steuerungs- und Arbeitsstruktur integriert werden können,
ist ihre Rolle in Hagen/Ennepe-Ruhr
schon deutlich konturiert.
Der Ennepe-Ruhr-Kreis und die Stadt Hagen mussten Anfang 2013, als das Projekt in der Region startete, nicht bei null
beginnen. Im Rahmen der Förderinitiative „Regionales Übergangsmanagement
(RÜM)“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung arbeiteten die Stadt
und der Kreis bereits seit 2006 eng zusammen. Das machte schon deshalb Sinn, weil
der Arbeitsagenturbezirk Hagen neben
der Stadt Hagen auch den Ennepe-RuhrKreis umfasst und sich die Schulaufsicht
ebenfalls über beide Gebietskörperschaften erstreckt.
Kernkompetenzen gebündelt
Die agentur mark1, die mit der operativen
Umsetzung der Kommunalen Koordinierung in der Region beauftragt ist, und die
regionalen Bildungsträger waren 2006
ebenfalls schon mit eingebunden. Die Bildungsträger gründeten im Jahr 2012 den
„Trägerverbund Berufsorientierung HagEN“ mit dem Ziel, die unterschiedlichen
Kernkompetenzen zu bündeln und aufeinander abzustimmen. Auch zur Nutzung
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der verschiedenen Förderprogramme sprechen sich die Mitglieder ab. 13 anerkannte
Träger der Jugendberufshilfe bzw. der Berufsorientierung gehören dem Trägerverbund an. Vertreten sind große kirchliche
Träger wie die Caritas, das Kolping-Bildungswerk und die Evangelische Jugendhilfe ebenso wie die VHS, die AWO, das
Bildungszentrum des Handels und weitere
regionale Bildungseinrichtungen.
„Wenn wir etwas Großes wie das Berufsorientierungsprogramm oder das neue
Übergangssystem schaffen wollen, dann
brauchen wir viele im Boot“, das sei der
Grundgedanke gewesen, erinnert sich
Bernd Höller, Ko-Leiter der Kommunalen
Koordinierung bei der agentur mark. Obwohl so mancher Kenner der Träger-Sze1
ne einen Zusammenschluss für nicht realisierbar hielt, habe sich der Trägerverbund
innerhalb von sechs Wochen nach einem
ersten Treffen konstituiert. Sehr schnell sei
dann auch mit der konzeptionellen Zusammenarbeit begonnen worden.
Die Zusammenarbeit mit Trägern, die offensichtlich Dumpingpreise auf Kosten der eigenen Mitarbeiter/-innen machen, lehnt der
Trägerverbund ab und sieht sich da mit der
Kommunalen Koordinierung einig. „Das
sind die Träger, die sich offenkundig als
unzuverlässig erwiesen haben und die sich
nicht in regionale Netzwerke einbringen.
Die wollen wir nicht“, sagt Bernd Höller.
Mit dem RÜM-Projekt HagEN nahm der
Trägerverbund gemeinsam das Ziel in An-
Gesellschafter der Agentur Mark sind: die Stadt Hagen, die Südwestfälische Industrie- und Handelskammer zu Hagen (SIHK), die Kreishandwerkerschaft Hagen, das Berufsfortbildungswerk-Gemeinnützige Bildungseinrichtung des DGB GmbH (bfw), die HAGENagentur, Gesellschaft für Wirtschaftsförderung, Stadtmarketing und Tourismus mbh, die Gesellschaft zur Wirtschafts- und Strukturförderung im
Märkischen Kreis mbH (GWS) sowie die Wirtschaftsförderungsagentur Ennepe-Ruhr GmbH
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JUGEND UND BERUF
Elmar Kotthoff,
Caritasverband
Hagen e. V.
Steuerungsmodell Übergang Schule – Beruf Hagen/Ennepe-Ruhr
Fachausschuss
Übergangsangebote
Leiter/-innen Berufskollegs*
Trägervertreter*
Jobcenter*
Jugendhilfe*
Schulaufsicht BK
Arbeitgebervertretung*
Vorsitz: Agentur für Arbeit
Fachausschuss Berufs- und
Studienorientierung
Fachausschuss
Attraktivität der dualen
Ausbildung
IHK Bochum
Kreishandwerkerschaften*
DGB, WiFö, WJ
Märk. Arbeitgeberverband, AGV
Einzelhandel, Pflege, Dehoga
Vorsitz: SIHK
Vorsitz
Leiter/-innen StuBoArbeitskreise*
Schulformsprecher*
Trägervertreter*
Berufsberatung
Bildungsbüro*
Vorsitz: Schulaufsicht
Vorsitz: Agentur für Arbeit,
Untere Schulaufsicht
Vertreter aller
Schulformen*
Vorsitz
Bildungsbüros*
Träger Jugendberufshilfe*
DGB
FB Jugend+Soziales*
Jobcenter*
SIHK, IHK Bochum
Kreishandwerkerschaften*
MAV
Kommunale Integrationszentren*
agentur mark
Vo
it z
rs
rs
it z
Vo
Beirat Schule und Beruf
Steuerkreis
Schule Beruf
EN-Kreis + Stadt Hagen
Agentur für Arbeit
Untere + Obere
Schulaufsicht
SIHK
Jobcenter*
Ausbildungskonsens
Vorsitz
Vorsitz: SIHK
Jobcenter
Agentur für Arbeit
Kreishandwerkerschaften
HWK Südwestfalen + Dortmund
DGB
Vertreter Berufskollegs
Träger Jugendberufshilfe
agentur mark
Team Kommunale
Koordinierung
agentur mark
Stadt Hagen, EN-Kreis
Kommunen des EN-Kreises
Quelle: Folie 3, © agentur mark GmbH
griff, mehr junge Leute von der Schule in
die Ausbildung und in einen Beruf zu führen. Der Trägerverbund stellt sicher, dass
ab dem Schuljahr 2013/14 gut 75 Prozent
aller Schüler und Schülerinnen von Haupt-,
Real-, Gesamt- und Förderschulen – das
sind rund 2.400 junge Menschen – in Hagen und dem Ennepe-Ruhr-Kreis am Berufsorientierungsprogramm (BOP) teilnehmen können.
Das vom Bundesministerium für Bildung
und Forschung geförderte BOP wird mit
der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne
Anschluss – Übergang Schule – Beruf in
NRW“ verknüpft, in die die Region parallel einsteigt. In diesem Rahmen sind für
die Schüler eine dreitägige Potenzialanalyse und ein 10-tägiges Modul „Werkstatttage“ vorgesehen, für die die Träger geschulte Mitarbeiter/-innen bereitstellen.
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* Jeweils aus beiden
Gebietskörperschaften
Hagen und EN
Die Träger können zum Teil auf eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Schulen
zurückblicken. Seit über 20 Jahren pflegt
zum Beispiel die Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen hier gute Verbindungen.
Angefangen hat man mit einem Angebot
von Lebensplanungs- und Berufsorientierungsseminaren. Als um 2002 herum
in NRW der Kompetenzansatz diskutiert
wurde, waren die Träger mit einem Diagnostik- und Trainingsprogramm involviert. Aus dieser Erfahrung heraus boten
die Träger ab ca. 2004 Assessment-Center-Verfahren für Schulen an, später einen
Kompetenz-Check.
Und die Schulen nahmen das Angebot
auch gerne an. „Wir waren immer verlässliche Partner. Das ist das A und O“,
sagt Uwe Becker von der Evangelischen
Jugendhilfe Iserlohn-Hagen (ehemals
Diakonisches Werk Ennepe-Ruhr/Hagen). So entwickelte sich die Arbeit an
den Schulen zu einem Schwerpunkt bei
den regionalen Trägern, die sich projektbezogen aufeinander abstimmten. Schon
dabei verständigte man sich darauf, welcher Träger für welche Schule zuständig sein sollte, erinnert sich Elmar Kotthoff vom Caritasverband Hagen: „Wir
haben im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft in der Jugendberufshilfe (nach
§ 78 SGB VIII) eine entsprechende Lis­
te erstellt, damit es diese Konkurrenzen
nicht mehr gab.“ In der Arbeitsgemeinschaft wurden zum Beispiel die Bedarfe
an den Förderschulen geklärt und auch
entschieden, welche Änderungen in der
Berufsorientierung notwendig sind, um
mehr Schüler/-innen in Praktika und berufliche Ausbildung zu führen.
Meinolf Melcher von den Kolping Bildungszentren Ruhr berichtet ebenfalls
von „gewachsenen Strukturen“ im Ennepe-Ruhr-Kreis: „Wir haben schon seit
1982 Berufsorientierung an Schulen umgesetzt, damals schwerpunktmäßig für Jugendliche mit Wurzeln im Ausland. Später gab es Schnuppertage für Jungen und
Mädchen, bei denen sie verschiedene Berufe kennenlernen konnten.“ Mit Ausnahme an die Gymnasien verfüge man
also über eine gute und gewachsene Anbindung an Schulen. „Schule, Träger und
Berufskollegs – das ist ein Kreis, der sich
regelmäßig getroffen hat, um die Berufsorientierung zu verbessern.“ Auch in den
Arbeitskreisen der Schulen, zum Beispiel
für das Problem Lernbehinderung, saßen
neben Schul-, Jugendhilfe- und Arbeits­
agenturvertretern stets Vertreter/-innen
der Träger. Schon dort versuchte man gemeinsam, den Übergang von der Schule
in Ausbildung und Beruf zu gestalten.
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JUGEND UND BERUF
Bernd Höller,
Michaela Trzecinski,
Ko-Leiter der Kommunalen
Ko-Leiterin der Kommunalen
Koordinierung bei der agentur mark
Mit RÜM kamen neue Elemente hinzu.
An der bestehenden Aufteilung der Arbeitsfelder der regionalen Träger wurde
aber nicht gerüttelt. Die agentur mark
sieht den Trägerverbund nicht als einen
Zusammenschluss von reinen Dienstleistungsunternehmen. „Sie sind Partner einer
strategischen Entwicklung“, sagt Michaela Trzecinski, Ko-Leiterin der Kommunalen Koordinierung bei der agentur
mark. Dazu habe die Gründung des Trägerverbundes sehr viel beigetragen. Auch
die Kompetenz der Träger in der Arbeit an
den Schulen ist unbestritten. Genau dieser enge Kontakt zu den Schulen sei das,
was man in der neuen Landesinitiative
haben wolle, sagt Bernd Höller.
Die Träger besitzen auch über ihre Arbeit
an den Schulen hinaus die Kernkompetenz
im Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf. Denn die sozialpädagogische Arbeit können die Berufskollegs bisher kaum leisten. Auch haben
sie nicht die Kapazitäten an Werkstätten,
die die großen Träger vorhalten. „Für diese Angebote im Übergangssystem braucht
man also die Träger“, so Bernd Höller,
„und das sehen auch die Jobcenter in Hagen und Ennepe-Ruhr, weil es im Endeffekt günstiger ist, die vorhandenen Trägerkapazitäten zu nutzen, anstatt neue
Kapazitäten an anderer Stelle aufzubauen.“ Dazu kommen die über 100 in der
Potenzialanalyse geschulten Mitarbeiter/
-innen der Träger. „Ein richtiges Pfund“,
so Uwe Becker. „Da liegen wir als Re­gion
ganz vorne.“
Träger sitzen in Fachausschüssen
Von daher war es von Anfang an klar, dass
man die Bildungsträger bzw. den Trägerverbund in das Steuerungsmodell der neu6
Koordinierung bei der agentur mark
en Landesinitiative in Hagen/Ennepe-Ruhr
einbeziehen wollte. Trägervertreter/-innen
sitzen in den Fachausschüssen „Berufs- und
Studienorientierung“ und „Übergangsangebote“. Auch wenn dem Wunsch des Trägerverbundes im „Steuerkreis Schule Beruf“
vertreten zu sein, nicht entsprochen wurde, bewerten die Trägervertreter/-innen die
Arbeit in den Fachausschüssen durchaus
positiv. „Wichtigstes Thema im Fachausschuss Berufs- und Studienorientierung ist
die Umsetzung der einzelnen Standardelemente und deren Qualitätsstandards. Hier
können wir konkret unsere Kooperationsvereinbarungen mit den Schulen sowie unsere fachliche Kompetenz zum Beispiel bei
der Durchführung von Werkstatttagen
einbringen“, macht Uwe Becker deutlich.
Michaela Trzecinski glaubt, dass man in
Hagen und dem Ennepe-Ruhr-Kreis mit
einem Steuerungsmodell aus einem relativ
kleinen Steuerkreis und den verschiedenen
Fachausschüssen gut aufgestellt sei: „Im
Steuerkreis sitzen nur die Personen, die übergreifend für das Gesamtsystem Verantwortung tragen. Wir haben ihn bewusst klein
gehalten, weil dort auch mal schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen.“ Und
je größer ein solcher Kreis sei, des­to schwieriger die Entscheidungsfindung.
Daneben gebe es viele Partner, die für Einzelbereiche verantwortlich sind und in diesen Bereichen Know-how, Entwicklungskompetenz usw. mitbringen. Analog zu
den Säulen des neuen Übergangssystems
„Berufs- und Studienorientierung“, „Übergangsangebote“ und „Attraktivität der dualen Ausbildung“ habe man Fachausschüsse gebildet und die Träger als Vertreter der
Jugendhilfe – wie auch die Schulen und die
Berufskollegs – in die beiden erstgenannten berufen, weil sie genau in diesen Be-
reich ihre Kompetenzen und Verantwortungen hätten. Die Fachausschüsse seien
dazu da, Entscheidungen vorzubereiten und
auch für ihr Fachgebiet Entscheidungen mit
Zustimmung des Steuerkreises zu treffen.
„Im Steuerkreis sitzt zum Beispiel die Kreisdirektorin. Die kann sich nicht mit fachlichen Detailfragen beschäftigen. Sie will
eine Vorlage, die die Fachleute beschlossen haben, und dann darüber im Steuerkreis abstimmen, eventuell nachdem sie
noch bestimmte Aspekte eingebracht hat,
die es aus ihrem Blick für das große Ganze zu bedenken gilt“, erläutert Michaela
Trzecinski. „Wir brauchen die Fachkompetenz der Träger, wenn es um inhaltliche
Fragen geht, zum Beispiel um die Auswahlkriterien für die Potenzialanalyse oder um
die Organisation der Berufsfelderkundung.
Diese Kompetenz haben auch wir als Kommunale Koordinierung nicht.“
Die Dienstleister, die zum Zuge kommen
wollen, müssen neben den Landesvorgaben auch bestimmte Qualitätskriterien erfüllen, die in einem kommunalen Abstimmungsprozess festgelegt werden. In diesen
Prozess sind in Hagen und Ennepe-Ruhr
die Fachausschüsse einbezogen. Die lokalen Träger in diesen Ausschüssen haben
Einfluss auf die Diskussion um die Qualitätskriterien und können so für ihren Trägerverbund gute Ausgangsvoraussetzungen
bei der Umsetzung der Leistungen schaffen. So könnten zum Beispiel eine lokale
Verankerung und eine nachweisbare Zusammenarbeit mit Schulen zu den Qualitätskriterien gehören – und die können die
lokalen Träger nun wahrlich nachweisen.
Die Verbindung zwischen den Trägern
und den Schulen wird in Zukunft über die
Kommunale Koordinierung abgewickelt.
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JUGEND UND BERUF
„TRÄGERVERBUND BERUFSORIENTIERUNG HAGEN“
• Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen gGmbH, Hagen
• H AZ Arbeit + Zukunft e. V., Hattingen
• Kolping-Bildungswerk e. V., Berufsförderungszentrum Wetter
• Caritasverband Hagen e. V.
• V HS EN-Süd
• V HS Witten Wetter Herdecke
• AWO Ennepe-Ruhr
• AWO Hagen-Märkischer Kreis
• Werkhof gem. GmbH, Hagen
Die Träger reichen ihre Konzepte für die
Potenzialanalyse bei der Kommunalen
Koordinierung ein. Die prüft diese selbst,
lässt sie aber auch beim psychologischen
Dienst der Bundesagentur für Arbeit beurteilen. Alle Träger, die mit ihrem Konzept
die festgelegten Kriterien erfüllen, werden
in eine Liste aufgenommen, die Ende des
Jahres 2013 an die an dem neuen Landesvorhaben teilnehmenden Schulen weitergeleitet wird. Außerdem wird es eine Info-Veranstaltung für die Schulen geben,
auf der sie die Träger mit ihren Konzepten kennenlernen können.
Danach kann die Schule dann entscheiden, mit welchem Träger sie zusammenarbeiten möchte. Die Schulen haben also
ein Annahmerecht, das heißt, sie müssen
zwar aus dem Pool auswählen, sind aber
nicht verpflichtet mit einem Träger zusammenzuarbeiten, mit dem sie nicht zusammenarbeiten wollen.
Verunsicherung über Aufgabenbereiche
So unbestritten die tragende Rolle der Bildungsträger in der neuen Landesinitiative
in Hagen/Ennepe-Ruhr auch ist, verhindert
das nicht, dass es zwischen Trägern und
Kommunaler Koordinierung unterschiedliche Auffassungen über ihre zukünftigen
Aufgabenbereiche gibt. Man kann daher
bei den Trägern eine gewisse Verunsicherung feststellen. „Wir waren gut strukturiert und organisiert und wissen jetzt
erst einmal nicht: Wo stehen wir“, sagt
Meinolf Melcher. Davon dass die Berufskollegs jetzt viele Aufgaben übernehmen
und die Betriebe die Praxisphasen sicherstellen sollten, sei in den Informationsveranstaltungen die Rede gewesen. Die Rolle
der Träger sei dagegen allenfalls unscharf
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• Lehrbauhof der Baugewerksinnung e. V., Hagen
• Deutsche Edelstahlwerke Karrierewerkstatt GmbH, Witten
• Bildungszentrum des Handels e. V.
• Bildungszentrum des Handels gemeinnützige Service GmbH
TRÄGER SIND VERTRETEN IM:
• „ Arbeitskreis Übergangsangebote“
• „ Arbeitskreis Berufs- und Studienorientierung“
• die in der Jugendberufshilfe tätigen Träger außerdem im:
Beirat Schule und Beruf
umrissen worden. Die Vehemenz, mit der
die Trägervertreter/-innen dafür plädieren, keine Brüche in der Kontinuität der
Zusammenarbeit mit den Schulen entstehen zu lassen, lässt erahnen, dass dieses
Gefühl der Unsicherheit bisher nicht ganz
gewichen ist. Auch bei den Praktika bzw.
Werkstatttagen sieht man beim Trägerverbund noch Klärungsbedarf. Zurzeit stellt er
rund 25.000 Praktikumstage in den eigenen Betrieben zur Verfügung, in Werkstätten, in Sozialeinrichtungen, auch in Büroberufen. Durch den Trägerverbund haben
Schüler/-innen eine große Auswahlmöglichkeit an Berufsfeldern, die sie erkunden können. Ob Unternehmen diese Funktion übernehmen können und wollen, sei fraglich.
sich in der Trägerrunde zwar – zumindest
für das Hamet-Verfahren – vorstellen, dass
die Gymnasiasten, die bei der Berufsorientierung bisher außen vor waren, möglicherweise nur einen Tag Berufsorientierung
brauchen. Dafür müssten die Haupt- oder
Förderschüler aber zwei oder drei Tage
bekommen. Sonst könne man Elterngespräche, die ein wesentlicher Bestandteil
der Verfahren seien, nicht mehr anbieten.
Den Qualitätsstandard, der vom Land
NRW selbst entwickelt worden sei, und
den man im Rahmen von BOP in Hagen
und im Ennepe-Ruhr-Kreis durchgesetzt
habe, wolle man nicht so einfach aufgeben.
Die Qualitätsfrage stellt der Trägerverbund ebenfalls. Für die Potenzialanalyse
und die Berufsfelderkundung, für die bisher in Hagen und Ennepe-Ruhr einmal
drei und einmal zehn Tage zur Verfügung
standen, sind in der Landesinitiative „Kein
Abschluss ohne Anschluss“ nur noch ein
plus drei Tage vorgesehen.
Allerdings sollen bestimmte Aufgaben an
den Schulen, die bisher zum Teil die Träger
übernommen haben, wie zum Beispiel die
Elterngespräche, nach dem neuen Konzept
nun verstärkt durch die Schulen selbst erfolgen. Der Qualitätsverlust, den die Träger befürchten, dürfte – unter der Voraussetzung, dass alles so funktioniert, wie es
geplant ist – also eigentlich nicht eintreten.
Die Potenzialanalyse, die bisher auf drei
Tage angesetzt war, soll nach dem neuen System an einem Tag erfolgen. Für diese Potenzialanalyse hat der Trägerverbund
für ganz Hagen und den Ennepe-RuhrKreis zwei Verfahren durchgesetzt: Hamet
und Dia-Train-Potenzialanalyse. Über 100
Mitarbeiter/-innen haben die Träger mittlerweile gemeinsam in diesen beiden Verfahren
schulen lassen. Durch die Vereinheitlichung
auf zwei Verfahren hat der Trägerverbund
die Möglichkeit auch großen Schulen (sechszügiger Jahrgang) eine Durchführung innerhalb von einer Woche anzubieten.
Allerdings haben die Verfahren einen Umfang von zwei bzw. drei Tagen. Man kann
Schulen übernehmen
„Das ist eine Entwicklung, die wir uns in
unserer Region schon seit Langem genauso
wünschen. Dass nämlich die Schule nicht
alle Belange an Träger outsourced, sondern
dass Schule diese Dinge selber tut“, erläutert Michaela Trzecinski von der agentur
mark. Die Schulen hätten mit den Stubos
und Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern
nun Personal, das den Blick auf die Probleme
einzelner Schüler/-innen habe, den früher
vor allem die Träger hatten. Das sei genau
das, was man schon vor der Umsetzung
des neuen Übergangssystems beispielsweise über das Berufswahlsiegel von den Schulen gefordert habe. Außerdem überschauten Schulen auch die gesamte Entwicklung
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JUGEND UND BERUF
Meinolf Melcher,
Kolping Bildungszentren Ruhr
des Jugendlichen, weil sie den Schüler/die
Schülerin während seiner/ihrer gesamten
Schullaufbahn begleiten und nicht nur während eines kurzen Ausschnitts dieser Laufbahn – nämlich der Phase der Berufsorientierung. „Daher stimmt es: In Schulen, die
gut aufgestellt sind, werden diese Kompetenzen von Trägern nicht mehr gefordert“,
so Michaela Trzecinski. Sehr wohl gefordert sei aber der Blick von außen im Rahmen der Potenzialanalyse – Versuche, auch
diesen Part von Schulen selbst erledigen zu
lassen, seien gescheitert.
Wenn die Schule also mit den Ergebnissen einer Potenzialanalyse selbst weiterarbeiten kann, so die Kalkulation, dann
braucht es auch keine drei Tage für eine
Potenzialanalyse durch die Träger, weil
die Gespräche mit Schülerinnen, Schülern
und Eltern von der Schule selbst durchgeführt werden könnten. „Schule muss die
Beratungsleistung, die von Trägern erbracht wurde, kontinuierlich weiter fortführen“, sagt Michaela Trzecinski. Dafür
sei eine sehr viel deutlichere Verzahnung
zwischen Trägern und Schule notwendig,
sprich: Träger müssen mit Lehrkräften
zukünftig sehr viel enger zusammenarbeiten als bisher, die Ergebnisse von Potenzialanalysen müssen an die Schulgemeinschaft transferiert werden, nicht nur
an die Schüler/-innen, sondern an Eltern,
Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter/-innen.
Dafür sei es notwendig, dass die Träger
langfristig zur Verfügung stehen. Auch die
Kommunale Koordinierung verschweigt allerdings nicht, dass auf Schul- bzw. Lehrerseite für diese neue Aufgabe noch ein
erheblicher Qualifizierungsbedarf besteht.
Das ist auch einer der Gründe, warum die
Träger nicht glauben, dass sich ihre Beratungskompetenz so leicht ersetzen lässt.
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„In den Beratungsgesprächen mit Schülerinnen und Schülern tauchen mitunter
Probleme auf, die mit Schule und Berufsorientierung nichts zu tun haben. Es kann
sein, dass eine Schuldnerberatung mit ins
Boot muss oder eine Therapieeinrichtung
– dann haben wir die Kompetenz und die
kurzen Wege, dorthin zu vermitteln. Wir
haben durch die Kooperation mit anderen Trägern die Übersicht über entsprechende Angebote und können entscheiden, was für die bestimmte Familie gut
geeignet ist“, erklärt Uwe Becker. Elmar
Kotthoff ergänzt, dass man als kirchlicher
Wohlfahrtsverband auch schnell mit dem
eigenen Leitbild in Konflikt geraten könne, wenn man immer weiter in Richtung
einer austauschbaren Dienstleis­t ung gedrängt werde. „Wir werden zwar – etwa
von den Schulen und auch von der Arbeits­
agentur – dafür geschätzt, dass wir nach
den Problemen, die ein Schüler/eine Schülerin auch zu Hause oder in seinem Umfeld
hat, fragen, aber dieser ganzheitliche Ansatz wird uns immer weiter beschnitten.
Ich würde mir wünschen, dass die Kommunale Koordinierung diesen Aspekt unserer Arbeit im Blick behält.“
Außerdem mache eine Kompetenzfeststellung oder Potenzialanalyse auch nur
Sinn, wenn man danach mit den Jugendlichen weiterarbeite und Kompetenzen
entwickle. So biete die Evangelische Jugendhilfe zum Beispiel Schlüsselkompetenz-Trainings an, mit denen man sehr
gute Erfahrungen gemacht habe. Die
Einsicht bei Lehrkräften, dass eine Förderung von Schülerinnen und Schülern
über den Unterricht hinaus notwendig ist,
sei allerdings bisher fast nur an den Förderschulen und einigen Hauptschulen zu
beobachten, mit denen die Träger daher
gut kooperierten. Schon an den Realschu-
len sieht Uwe Becker da große Probleme
und prophezeit, dass das an den Gymnasien, wo die Berufsorientierung größtenteils Neuland ist, nicht anders sein wird.
Andererseits gesteht der Trägerverbund
ein, dass gerade an diesen Schulen nur
wenige Prozent der Schüler eine solche intensive Betreuung brauchen werden. „Das
ist eine andere Klientel“, so Meinolf Melcher. „Wir kommen aus der Benachteilig­
tenförderung und wissen nicht genau, was
uns an diesen Schulformen erwartet.“
Neues Rollenverständnis
gefordert
Genau an diesem Punkt sieht die agentur
mark die Träger zum Teil noch in ihrem alten Rollenverständnis verhaftet. „Es geht
jetzt nicht mehr vor allem um die ‚Mühseligen und Beladenen‘, die die Träger bisher
als ihre Klientel hatten, es geht um alle Schülerinnen und Schüler aller Schulformen ab
der Schulklasse 8“, macht Michaela Trzecinski deutlich. Träger müssten ihren Blick
also auch auf die „guten“ Schüler/-innen
richten. Damit würden sich ihre Aufgaben
zwangsläufig verändern. Natürlich gebe es
aber auch auf den Gymnasien Jugendliche,
die besondere Hilfen benötigten.
Das scheint durchaus auch bei den Trägern
angekommen zu sein. „Wir müssen sehen,
wie wir unsere Pädagogik umstellen“, sagt
zum Beispiel Meinolf Melcher mit Blick auf
die zukünftige Arbeit an den Gymnasien.
Aber auch die Instrumente, die an den
Haupt- und Förderschulen bisher gut funktioniert haben, sind wahrscheinlich nicht
ohne Modifizierung an die anderen allgemeinbildenden Schulformen übertragbar.
„Wir haben schon eine von Realschulen
und Gymnasien angestoßene Diskussion in
G.I.B.INFO 4 13
JUGEND UND BERUF
KONTAKTE
Elmar Kotthoff
Bernd Höller
Caritasverband Hagen e. V.
agentur mark GmbH
Finkenkampstr. 5, 58089 Hagen
Handwerkerstr. 11, 58135 Hagen
Tel.: 02331 988519, E-Mail: jugendsozialarbeit@caritas-hagen.de
Tel.: 02331 800318, E-Mail: hoeller@agenturmark.de
Uwe Becker
Michaela Trzecinski
Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen gGmbH
agentur mark GmbH
Frankfurter Str. 30, 58089 Hagen
Handwerkerstr. 11, 58135 Hagen
Tel.: 02331 9228818, E-Mail: becker.vif@diakonie-online.org
Tel.: 02331 800326, E-Mail: trzecinski@agenturmark.de
Meinolf Melcher
AUTOR
Kolping Bildungszentren Ruhr gGmbH
Frank Stefan Krupop
Sprockhöveler Str. 46, 58452 Witten
Tel.: 02306 741093
Tel.: 02335 96920, E-Mail: meinolf-melcher@kolping-bfz-witten.de
E-Mail: frank_krupop@web.de
der Region darüber, dass die bisherigen Potenzialanalysen für diese Schulformen nicht
passen“, berichtet Michaela Trzeci­nski. Es
gebe Träger, die jetzt entsprechende Potenzialanalysen entwickelten. Das seien aber
nicht unbedingt die, die bisher schon im
Geschäft waren und sie seien bisher auch
noch nicht Mitglied in dem Trägerverbund.
Allerdings geht man in der Kommunalen
Koordinierung davon aus, dass mittelfris­
tig auch die alteingesessenen Träger entsprechende Dienstleistungen anbieten können. Bernd Höller sieht sie sogar im Vorteil:
„Potenzialanalysen für mehrere Hundert
Schüler/-innen an einer Schule zu organisieren, ist nicht so einfach. Und das haben
die Träger des Trägerverbunds bisher sehr
gut hinbekommen. Wir sind, auch was die
Qualität angeht, zufrieden mit dem Trägerverbund.“ Dennoch möchte die kommunale
Koordinierung das Know-how beider Trägergruppen nutzen und wünscht sich eine
Entwicklungsgemeinschaft für den Bereich
der Potenzialanalyse für die neu hinzugekommenen Schulformen.
Die Forderung der Träger, dass für Förder- oder Hauptschüler mehr Potenzial­
analyse-Tage angesetzt werden sollten als
für Gymnasiasten, unterstützt die Kommunale Koordinierung. „Das sagen auch
G.I.B.INFO 4 13
die entsprechenden Schulen ganz deutlich“,
weiß Michaela Trzecinski. Für Realschulen, Gymnasien sowie viele Gesamtschulen gelte das aber nicht. Da müsse man den
schmalen Grat zwischen Wünschenswertem
und Machbarem finden.
Das Land weist in diesem Zusammenhang
immer wieder darauf hin, dass das neue
Vorhaben „Kein Abschluss ohne Anschluss
– Übergang Schule – Beruf in NRW“ nur
Mindeststandards definiert, dass darüber
hinausgehende Angebote aber durchaus
möglich sein sollen und auch gewünscht
sind. Dabei hat die Kommunale Koordinierung durchaus Handlungsspielraum,
wenn es darum geht, die Rolle der Träger
vor Ort zu definieren. Ein Kahlschlag bei
den bestehenden vielfältigen Angeboten ist
auf keinen Fall beabsichtigt. Natürlich stellt
sich dabei immer die Frage der Finanzierbarkeit. Die Umsetzung des neuen Landesvorhabens steht aber bisher noch am Anfang, seine Etablierung wird mehrere Jahre
dauern und möglicherweise auch in dieser Beziehung neue Optimierungspotenziale aufzeigen.
Neue Betätigungsfelder
Sicher werden Bildungsträger bestimmte
Elemente der Berufsorientierung an Schu-
len abgeben müssen, es werden sich durch
die neue Landesinitiative aber auch neue
Betätigungsfelder für sie auftun. Neben
den Gymnasien greifen auch Berufskollegs, die im Rahmen des neuen Systems
mehr Aufgaben übernehmen sollen, möglicherweise auf die Dienste der Träger
zurück. Uwe Becker berichtet, dass sie
dies in den gemeinsamen Sitzungen des
„Fachausschusses Übergangsangebote“
bereits angedeutet haben. So könnten die
Berufskollegs Ausgaben für neues Personal und den Ausbau eigener Werkstätten vermeiden. Auch die Jobcenter hätten bereits angedeutet, dass sie nicht die
Mittel hätten, Angebote für schwächere
Schüler/-innen zu organisieren, die nach
Schulende nach SGB II versorgt werden
müssen.
„Der Trägerverbund ist für die Qualitätsentwicklung in der Region ein entscheidender Faktor“, findet Michaela Trzecinski. Die Rolle der Träger werde sich
ändern, aber es ergäben sich auch neue
Chancen. „Es ist aber Aufgabe der Träger, ihr Portfolio zu überdenken – und
das werden sie zu ihrem eigenen Nutzen
auch umsetzen“, ist Bernd Höller überzeugt. „Ich glaube, letztendlich fahren
die Träger besser mit dem neuen Übergangssystem.“
9
JUGEND UND BERUF
„Wir produzieren ernsthaft, zum Basteln
würden die Jugendlichen nicht kommen“
Produktionsschule Vorpommern-Greifswald
Der Bedarf an Alternativen wie einer
Produktionsschule ist groß in Mecklenburg-Vorpommern: 14 Prozent aller Jugendlichen verlassen hier die Schule ohne
Abschluss. Hinzu kommen Altbewerber/innen ohne Job und Ausbildung, die bereits sämtliche Maßnahmen der Berufsvorbereitung ohne Erfolg durchlaufen haben.
Entsprechend beträgt das Durchschnittsalter der Teilnehmenden in der Produktionsschule Vorpommern-Greifswald mit
den beiden Standorten in Wolgast und Rothenklempenow rund 21 Jahre.
Ende 2013 sollen mit der Umsetzung der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne
Anschluss“ auch in NRW produktionsorientierte Berufsvorbereitungsangebote in
größerer Zahl eingeführt werden. In der letzten Ausgabe des G.I.B.-Infos haben
wir uns deshalb mit Produktionsschulen beschäftigt und die Beispiele Hamburg
Bergedorf und Bielefeld vorgestellt. Weitergehen soll es in dieser Ausgabe mit
einem Praxisbeispiel aus Mecklenburg-Vorpommern und Nord­rhein-Westfalen:
der Produktionsschule Vorpommern-Greifswald und Gütersloh.
10
„Wir sind für junge Menschen da, die
von der Schule auch in neun Jahren nicht
zur Berufsreife geführt werden konnten“,
stellt Andrea Greiner-Jean klar, Leiterin
der Produktionsschule in Trägerschaft des
Christlichen Jugenddorfwerks Deutschlands e. V. (CJD). „Aber wir wollen nicht
nur Reparaturbetrieb sein für die jungen
Menschen, für die angeblich nichts mehr
geht. Deshalb muss es gelingen, für sie
frühzeitig das richtige Angebot zu finden.
Alles andere geht auf Kosten der Lebenszeit der Jugendlichen.“ Schon 2011 habe
das Deutsche Jugendinstitut in einer Vergleichsstudie zu BVJ, BVB und Produktionsschule in allen drei Angeboten Fehlzuweisungen festgestellt.
„Zuweisungen“, das steht für viele im
Widerspruch zur Produktionsschule als
„freiwilligem Angebot“. „Auch wir wollen, dass die Jugendlichen freiwillig zu uns
kommen“, relativiert Andrea Greiner-Jean, „aber wir sprechen auch dann von Freiwilligkeit, wenn sie mit sanftem Druck bei
uns ankommen, denn viele junge Menschen scheuen vor Unbekanntem zurück.
Ihre Einstellung ändert sich aber schnell,
wenn sie unser Angebot erst mal genauer
kennengelernt haben.“ Mit den BeratungsG.I.B.INFO 4 13
JUGEND UND BERUF
fachkräften von Jugendamt und Jobcenter
hat sie deshalb eine vierwöchige „sanktionsfreie Probezeit“ vereinbart. „Unser Job
ist, in der Zeit herauszufinden, ob es das
richtige Angebot ist und zugleich Motivation aufzubauen.“ Das Resultat gibt ihrer
Methode recht: Fast alle bleiben!
Drei Bereiche
Wer bleibt, dem stehen in Wolgast oder
Rothenklempenow drei Bereiche – Handwerk, Service und Gartenbau – mit insgesamt acht Werkstätten zur Wahl. Zwei
Holzwerkstätten und eine Metallwerkstatt
im Bereich Handwerk, zwei Küchen, ein
Servicebereich Gastronomie mit Zimmerreinigung und Beherbergung sowie eine
Textilwerkstatt im Bereich Hauswirtschaft
und im dritten, im landwirtschaftlichen
Bereich, eine Kompostieranlage.
Eine ursprünglich eingerichtete Pilzwerkstatt indes wurde schon kurz nach ihrer
Gründung wieder abgewickelt: „Die Arbeit war eintönig, jeden Tag dasselbe. Hier
konnten die Jugendlichen nicht viel lernen,
das war für sie frustrierend.“ Das Beispiel
zeigt, wie flexibel die Produktionsschule ist und wie rasch sie auf Bedarfe und
Interessen der Teilnehmenden reagiert.
Weitaus beliebter, „eine echte Nische und
richtig interessant“, ist die Kompostieranlage. Hier werden Grünabfälle von Wohnungsunternehmen, von Baufirmen oder
aus Kleingärten geschreddert, gehäckselt
und zu Mieten aufgesetzt, wo sie innerhalb von acht Monaten zu feinstem Kompost verrotten, der dann von Gartenbau­
firmen zum Belegen von Grünanlagen und
Parks abgeholt wird. Zum Einsatz kommt
dabei der professionell ausgerüstete Maschinenpark der Werkstatt, bestehend
G.I.B.INFO 4 13
aus LKW-Radlader, Trecker, Kleinbagger und Schredder. Parallel zur Kompos­
tierung wird auf der Anlage Gemüse zur
Versorgung der Kantine angebaut. Hier
erlernen die Jugendlichen Grundlagen des
Ackerbaus sowie die Pflege und Ernte von
Früchten und Pflanzen – Arbeitsbestandteile in vielen landwirtschaftlichen Ausbildungsberufen. Gewünscht ist, dass die
Jugendlichen alle eingangs genannten Bereiche ausprobieren: „Das steigert ihre Berufswahlkompetenz.“
Integriertes Arbeiten und Lernen
Arbeiten und Lernen sind unmittelbar
verknüpft: „Das Lernen fängt immer
mit dem Produkt an“, lautet die Devise.
Andrea Greiner-Jean nennt ein Beispiel:
„Wenn der Hofladen einer benachbarten Straußenfarm unserer Textilwerkstatt den Auftrag erteilt, aus Straußenleder Portemonnaies oder Brieftaschen
herzustellen, lernen die Jugendlichen zunächst etwas über die Beschaffenheit des
Materials und die Besonderheiten seiner
Verarbeitung. Straußenleder ist nämlich
ein hochwertiges Material, das man nur
einmal nähen kann, wenn etwas schief
läuft, kann man es wegwerfen. Das erfordert eine genaue Planung des gesamten Arbeitsprozesses.“
Nur ein geringer Teil der theoretischen
Wissensvermittlung indes erfolgt in der
Lernwerkstatt, der größere Teil in der
Werkstatt selbst. Wenn etwa eine Fleischerei Verpackungskisten bestellt, wird
an einer hier aufgestellten Tafel, „noch bevor die Jugendlichen Hammer und Säge
in die Hand nehmen“ unter Anleitung des
Werkstattleiters – so heißt in Wolgast der
Werkstattpädagoge –, „gerechnet, gemessen und gezeichnet. „Ein Modell steht im-
mer daneben: so können die Jugendlichen
schnell erkennen, wie das Produkt am
Ende aussehen soll.“ So praxisorientiert
und anschaulich spielt sich die Wissensvermittlung in allen Werkstätten ab.“
Zertifikate oder Qualifizierungsbausteine
erwerben die Jugendlichen nur bei Bedarf:
„Auf Vorrat qualifizieren wir nicht!“ Den
Qualifizierungsbaustein „Herstellen einfacher Speisen“ aus dem Bereich Hauswirtschaft etwa nutzen die Jugendlichen
als „Türöffner“, um bei der Ausbildungsplatzbewerbung dem Arbeitgeber nachzuweisen, dass sie geeignet sind, in Küche
oder Gastronomie zu arbeiten. Zur Leis­
tungsfeststellung erstellen die Jugendlichen in diesem Gewerk – in Anlehnung
an eine bei ihnen beliebte Fernsehserie –
„ein perfektes Dinner“. Andrea GreinerJean: „Das motiviert!“
Die festgelegte Stundenzahlen für den
Erwerb eines Qualifizierungsbausteins
ignoriert die Produktionsschulleiterin
weitgehend: „Uns interessiert nur, ob die
Jugendlichen es können oder nicht. Wenn
sie erst nach deutlich mehr als den festgelegten Stunden ihre Fähigkeit nachweisen
können – auf unserer Kompetenztafel ist
das abgebildet, gibt es keinen Grund, ihnen
das bei der Leistungsfeststellung nicht auch
zu zertifizieren.“ Was folgt, ist die Vorbereitung des Jugendlichen auf die externe
Leistungsfeststellung, abgenommen von externen Prüfern im Auftrag der Kammern.
Obwohl vom Gesetz her möglich, werden
Qualifizierungsbausteine bei einer späteren betrieblichen Ausbildung nicht oder
nur selten anerkannt. Andrea GreinerJean: „Wir wünschen uns schon, dass die
Betriebe angemessener darauf reagieren.“
Bedenklich findet sie, dass Jugendlichen
11
JUGEND UND BERUF
aus BvB und Berufsvorbereitungsjahr oft
schon dann Berufsreife bescheinigt wird,
wenn sie passable Zensuren und wenig
Fehlzeiten vorweisen können. „Wir tun
den jungen Menschen keinen Gefallen, ihnen in der Berufsvorbereitung irgendwelche Abschlüsse hinterherzuwerfen. Unternehmen nehmen sie trotzdem nicht, weil
sie den theoretischen, für eine duale Ausbildung erforderlichen Teil nicht schaffen.
Wir merken mit unseren Kompetenzfeststellungsverfahren schnell und sicher, ob
jemand über die erforderliche Berufsreife verfügt.“
Zur Kompetenzfeststellung und -dokumentation stehen zwei Instrumente zur Verfügung: zur Dokumentation die „Kompetenztafel“ und zur Kompetenzanalyse das
„Profil AC“, ein vom CJD Offenburg gemeinsam mit dem renommierten Berufsbildungswerk in Waiblingen, mittlerweile
weiterentwickeltes, von der MTO Psychologische Forschung und Beratung GmbH
zertifiziertes, standardisiertes und von den
Jobcentern und Arbeitsagenturen akzeptiertes Kompetenzfeststellungsverfahren.
Das Testverfahren – „eine Kompetenzfeststellung und kein Stresstest“, betont Andrea Greiner-Jean – findet an zwei Tagen
in den Werkstätten statt. „Wenn die Jugendlichen gut vorbereitet sind und wissen, dass sie nicht durchfallen können, dass
wir wirklich auf das achten wollen, was
sie können, dann lassen sie sich darauf ein,
haben Spaß dabei und zeigen in den zwei
Tagen, was sie wirklich können.“
Auch die Sprache bestimmt das
Bewusstsein
Ansprechperson in allen Belangen sind für
die Jugendlichen die Werkstattpädagogen,
in Wolgast, wie erwähnt, Werkstattleiter
12
genannt. „Obwohl in den Landesrichtlinien immer von Werkstattpädagogen die
Rede ist, haben wir uns für den Begriff
Werkstattleiter entschieden. Auch bei uns
arbeiten die Werkstattleiter pädagogisch,
so wie auch die meisten Betriebsleiter in
der Wirtschaft über pädagogische Bildung verfügen, aber trotzdem Betriebsleiter genannt werden. Wir wollen auch
über Sprache und Begriffe Assoziationen
zu Schule möglichst fernhalten und sprechen deswegen auch von Lernwerkstatt
und nicht vom Unterrichtsraum, von Produktionsschul- und nicht nur von Schulvertrag und ich bin auch keine Schulleiterin, denn die wird vom Kultusministerium
berufen, sondern Produktionsschulleiterin. Den Jugendlichen wird so nicht nur
über die Produktion selbst, sondern auch
über die Sprache die Nähe ihrer Arbeit
zu der in regulären Betrieben bewusst.“
Über die fachliche Arbeit haben die
Werkstattleiter nach Ansicht von Andrea Greiner-Jean den besten Zugang zu
den Jugendlichen. Sie verfügen über Mehrfachqualifikationen, haben einen Handwerksberuf erlernt, sind, je nach Werkstatt, Tischler, Zimmerer oder Köchin,
haben die Ausbildereignungsprüfung abgelegt und verfügen über oft langjährige
Erfahrungen in der Ausbildung Jugendlicher in ihren früheren Firmen oder haben zusätzlich die Fortbildung des Bundesverbands der Produktionsschulen für
Werkstattpädagogen absolviert. „In ers­
ter Linie aber sind sie Handwerker und
Fachleute in ihrem Metier, die Werkstattköchin im Bereich „Service“ ist Köchin
und Erzieherin in Personalunion. Nach
unserer Erfahrung, und das belegen auch
die dänischen Erfahrungen, sind Jugendliche über die Personengruppe der Handwerker, der wirklichen Praktiker viel eher
anzusprechen als über Sozialpädagogen,
die zuerst den sozialpädagogischen Hilfe­
bedarf sehen. Ein Werkstattleiter spricht
auch anders als ein Sozialpädagoge, zwar
ebenfalls respektvoll und auf Augenhöhe,
aber manchmal klarer, deutlicher und authentischer und nicht in Form ständiger
Therapiegespräche. Wir wollen ernsthaft
arbeiten und produzieren. Deswegen kommen die Jugendlichen ja auch zu uns. Sie
würden nicht kommen, wenn wir nur bas­
teln würden.“
Neben der fachlichen Anleitung, stellt Andrea Greiner-Jean aber zugleich klar, müssen und können Anleiter erkennen, ob und
welcher zusätzliche Hilfebedarf besteht.
Ihre Aufgabe ist es dann, die Jugendlichen
„an die richtige Stelle zu lotsen“. Besteht
etwa therapeutischer Bedarf, organisiert
die Produktionsschulleiterin professionelle
Beratung einer kompetenten Psychologin
aus dem CJD-eigenen Netzwerk, zu dem
auch Integrationsberater der Kompetenz­
agentur gehören.
Andrea Greiner-Jean: „Mehr noch als
früher brauchen wir auch die Sozialpädagogik, weil sich die Klientel verändert
hat. Wir haben es jetzt mit einer Generation zu tun, die erlebt, dass ihre Eltern
nie gearbeitet haben. Deshalb ist der sozialpädagogische und therapeutische Bedarf sehr hoch. Und dennoch: Auch im
Betrieb kümmern sich nicht tausend Leute um einen Beschäftigten. Unser Argument lautet: Wir brauchen Psychologen,
Therapeuten und Sozialpädagogen nicht
40 Stunden in der Woche, aber wir müssen sie hinzuziehen können, wenn wir sie
brauchen – und das ist mit unserem Netzwerk jederzeit garantiert.“ Auf ihr Konzept führt sie auch das geringe Ausmaß
an Beschädigungen, Gewalt und andeG.I.B.INFO 4 13
JUGEND UND BERUF
ren Übergriffen in der Produktionsschule
Wolgast zurück: „Die Jugendlichen merken: Das ist ihr`s!“
Das Produktionsschulgeld in Höhe von
fünf Euro täglich zahlt die Produktionsschule übrigens in Abhängigkeit von Leis­
tung, Anwesenheit, Pünktlichkeit und Arbeitsbereitschaft – „Kriterien, die man
gut abrechnen kann.“ Körperliche Anwesenheit indes reicht nicht. „Die Jugendlichen sollen auch den Zusammenhang
zwischen ausgezahltem Geld und ihrer
Leistung hier sehen. Wenn andere die Arbeit für sie mit erledigen müssen, erhalten
jene auch mal einen Bonus. Zusätzliches
„Urlaubsgeld“ erhalten zum Beispiel derzeit nur 4 von 40.“
Ist die Summe hoch genug, um zu motivieren? „Manche der Jugendlichen sind
abgesichert und nicht darauf angewiesen, aber es kratzt an ihrer Ehre. Wir
wünschen uns ein Modell, bei dem das
Hartz-IV-Geld an die Teilnahme an einer Produktionsschule und an die Arbeitsleistung gebunden ist, dann wären
die Jugendlichen motivierter. Viele Jugendliche und ihre Eltern sind über Jahre daran gewöhnt, auch ohne Leistung
versorgt zu werden. Die Verbindung von
Leistung und Einkommen ist manchen
Jugendlichen gar nicht präsent. Das ist
nicht gut für die Gesellschaft – und auch
nicht für die Jugendlichen.“
Strategisches Übergangsmanagement
Durchschnittlich elf Monate bleiben die
Jugendlichen in der Produktionsschule,
einzelne aber auch bis zu drei oder vier
Jahre. „Ein Junge ist mit 15 zu uns gekommen und erst jetzt, mit 19 Jahren, geganG.I.B.INFO 4 13
gen. Er ist quasi bei uns groß geworden.“
Trotz aller Qualifizierungen und Zertifikate, vom Motorsägeschein über Maschinenbedienscheine bis hin zum Erwerb von
Grundlagenwissen in Mathematik und
Deutsch, galt er als nicht ausbildungsfähig.
„Bei ihm hat auch die Sozialagentur-Optionskommune erkannt, dass sie ihn auch
nach Ablauf der regulären Laufzeit nicht
aus der Produktionsschule herausnehmen
kann. Er hat einfach so lange gebraucht.
Jetzt endlich hat er eine Arbeitsstelle gefunden.“ Ziel aber ist, die Zeit in der Produktionsschule so kurz wie möglich zu
halten. „Aber 18 Monate genügen schon
nicht, wenn jemand bei uns – gegenwärtig ist das ein Drittel aller Jugendlichen
– den Schulabschluss nachholen will.“
Flexibilität bei der Laufzeit ist der Produktionsschulleiterin auch in einem anderen Kontext wichtig: „Wir sind nicht
abschlussorientiert, sondern wollen Anschlussperspektiven, am besten einen
nahtlosen Anschluss.“ Den aber sieht sie
gefährdet, wenn Jugendliche Ende Juni aus
der Produktionsschule entlassen werden,
obwohl ihre Ausbildung erst im September
beginnt. „Diese große zeitliche Lücke ist
für viele fatal, sie verlieren in dieser Zeit
den Anschluss aus dem Blick. Wir haben
deshalb mit den Fallmanagern in den Jobcentern vereinbart, diesen Zeitraum auf
maximal vier Wochen zu reduzieren.“
der Jugendlichen kommt mit psychischen
Erkrankungen, mit Drogen- und Suchtproblemen zu uns, aber wir sind keine therapeutische Einrichtung, irgendwann müssen
wir auch mal sagen: Es geht nicht! Wenn
es uns aber gelingt, diese Jugendlichen in
ein passendes Hilfeangebot zu vermitteln,
dann ist das auch ein Erfolg!“
ANSPRECHPARTNER IN DER G.I.B.
Albert Schepers
Tel.: 02041 767-255
E-Mail: a.schepers@gib.nrw.de
KONTAKT
Andrea Greiner-Jean
CJD Insel Usedom-Zinnowitz
Produktionsschule Wolgast
Leeraner Str. 5, 17438 Wolgast
Ein Teil der Jugendlichen wechselt in Ausbildung oder Arbeit. Auf die Frage, bei welchen Jugendlichen der Übergang nicht gelingt, hat die Produktionsschulleiterin eine
gleichermaßen simple wie überzeugende
Antwort parat: „Genau bei denen nicht,
die in der Produktionsschule fehl platziert
waren. Da hat unser Konzept nicht gepasst.
Kaum eine Überraschung, denn ein Drittel
andrea.greiner-jean@
cjd-produktionsschule.de
Internet: www.cjd-zinnowitz.de
AUTOR
Paul Pantel
Tel.: 02324 239466
E-Mail: paul.pantel@arcor.de
13
JUGEND UND BERUF
„Produktionsschulen sind auch eine
pädagogische Haltung“
Produktionsschule Gütersloh
Die Zielgruppen der Gütersloher Produktionsschule in Trägerschaft des
Kolping-Berufsförderungszentrums
(BFZ) sind klar definiert: Besonders
lern- und leistungsschwache Jugendliche ohne Schulabschluss, die nach
Ende der allgemeinbildenden Schule
für eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme noch nicht geeignet sind;
junge Erwachsene bis 25 Jahre mit sogenannten multiplen Vermittlungshemmnissen in Kombination mit fehlendem Schulabschluss sowie junge
Migrantinnen und Migranten in schwierigen Lebenslagen, die erst kürzere
Zeit in Deutschland leben und nur über
geringe Deutschkenntnisse verfügen.
Diese nüchterne Klassifikation verschleiert den Blick auf die Erfahrungswelt der
Jugendlichen, in der nicht selten materielle Armut und psychische Probleme,
Straffälligkeit und Drogen, Flucht und
häusliche Gewalt eine dominante Rolle
spielen. „Die Teilnehmer/-innen kommen
mit zum Teil kaum vorstellbaren Notlagen und traumatisierenden Erlebnissen zu uns“, weiß BFZ-Pädagogin Hildegard Pavenstädt-Palsherm. „Selbst
bei intensiver sozialpädagogischer Arbeit wird häufig nur die Spitze des Eisbergs sichtbar.“
Um auch ihnen Perspektiven in Richtung
Arbeitsmarktintegration zu erschließen,
ist nach ihrer Überzeugung eine längerfristige, intensive und flexibel gestalte-
14
te individuelle Betreuung erforderlich,
„gruppiert um einen produktionsorientierten Kern“. Nur eine so organisierte
Produktionsschule, scheint es, wird den
extrem differenzierten Lebenslagen, Erfahrungen und Voraussetzungen sowie
daraus abgeleiteten Entwicklungsbedarfen der Jugendlichen gerecht und berücksichtigt ihre besonderen Interessen. So
will Produktionsschülerin Conny, Mutter eines Kindes, eine Teilzeit-Ausbildung
absolvieren, Dione den Hauptschulabschluss nachholen und Dimitri Tischler werden. Kabar hat sich noch nicht
endgültig festgelegt und Susi strebt eine
duale Ausbildung im Krankenhaus an.
Auch Jugendlichen, für die ein AchtStunden-Tag eine nicht zu bewältigende
G.I.B.INFO 4 13
JUGEND UND BERUF
Herausforderung ist, bietet die Produktionsschule einen individuellen Ausweg:
„In solchen Einzelfällen“, sagt Rudolf
Stüker, ebenfalls Pädagoge am BFZ ,
„können wir ihnen in Absprache mit dem
zuweisenden Jobcenter anfangs eine Teilzeit-Teilnahme erlauben eine unkonventionelle Lösung, die in standardisierten
Maßnahmen nicht zur Verfügung steht.“
Greifen die Angebote der Produktionsschule nicht, droht den Jugendlichen,
die durch klassische berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, Werkstattjahr
oder Aktivierungshilfen kaum mehr zu
erreichen sind, der dauerhafte Ausschluss
von Erwerbsarbeit und gesellschaftlicher
Partizipation. Deshalb und vor dem Erfahrungshintergrund der Jugendlichen
hat sich das Produktionsschulteam für
„kleinteilige Ziele“ bei der Entwicklung
personaler und sozialer Kompetenzen
entschieden. Dazu zählen pünktliches
Erscheinen bei der Arbeit, korrekte Abmeldung im Krankheitsfall, Kontinuität
und Ausdauer bei der Arbeit, sinnvoller
Umgang mit den vorhandenen finanziellen Ressourcen, Aufbau und Erhalt
tragfähiger sozialer Beziehungen, konstruktiver Umgang mit neuen beruflichen
Anforderungen und mit Kritik. Kurze
Schritte angesichts eines langen Weges
zur Beschäftigungsfähigkeit, aber für
die Produktionsschüler/-innen ein großer Sprung in Richtung Arbeitsmarkt,
unter anderem durch ein betriebliches
Praktikum.
Holzbearbeitung und hauswirtschaftliche Dienstleistungen. In der Holzwerkstatt stellen sie am Markt orientierte Produkte her, aus Holz gestaltet
und in guter Qualität. Nachgefragt bei
Kunden sind vor allem Vogelhäuschen.
Auf deren Produktion hatten sich Anleiter und Teilnehmende nach ausgiebigem
Brainstorming und intensiver „Marktforschung“ geeinigt: „Sie lassen sich gut
verkaufen und sind ein Alleinstellungsmerkmal. Zudem vermeidet die NischenProduktion Konkurrenzkonflikte mit den
örtlichen Betrieben, die wir als Anbieter von Praktikums-, Arbeits- und Ausbildungsplätzen brauchen.“
Markt- und betriebsorientierte
Arbeit
Wie der Meister oder Geselle in einem
Handwerksbetrieb ist der Werkstattanleiter den Jugendlichen Vorbild und Identifikationsfigur. Unter seiner fachlichen
Anleitung fertigen sie Einzelstücke nach
Kundenauftrag oder in kleineren Serien.
Der geglückte Verkauf steigert das Arbeitsethos. Jugendliche erfahren dabei –
oft zum ersten Mal in ihrem Leben – Anerkennung. Sie können sich sagen: „Was
wir produzieren, ist auf dem Markt gefragt!“ Aber sie merken zugleich, dass
sich nur gute Qualität verkaufen lässt.
Das hat Folgen: „Ein Jugendlicher, der
Tischler werden will, macht Druck auf
seine Kollegen, damit sie genauso sauber arbeiten wie er.“ Die Jugendlichen
erkennen: Nur, wenn alle zusammenarbeiten, lässt sich bis zum festgelegten
Liefertermin die nachgefragte Zahl an
Vogelhäusern produzieren. Die Pädagogen sind überzeugt: „Mit dieser Erkenntnis entwickeln sie ihre Persönlichkeit.“
Zwei Produktlinien bilden das Handlungsfeld der Jugendlichen in Gütersloh:
Bei hinreichendem Interesse – ein erster
Versuch war an mangelnder Motivation
G.I.B.INFO 4 13
der Jugendlichen gescheitert – ist ein erneuter Anlauf zur Herstellung von Do-ItYourself-Möbeln geplant: Sessel, Stuhl
und Regal mit modularem Aufbau, kreiert vom Berliner Architekten Le Van Bo.
Besonderer Anreiz: Eins der Möbel, der
„Kreuzberg 36 Chair“, war in der Kategorie „Do It Yourself“ Exponat der vom
Goethe Institut Taipeh und dem Internationalen Designzentrum kuratierten
Ausstellung „German Shades Of Green“.
Zweiter Geschäftsgegenstand der Produktionsschule sind hauswirtschaftliche
Dienstleistungen und hier vor allem die
Bewirtschaftung eines Kiosks im Pausenund Aufenthaltsraum des BFZ. Gemüse
und Salate zur Speisenzubereitung beziehen die Jugendlichen z. T. aus einem
in Projektarbeit selbst angelegten Hochbeet. Das kundenorientierte Angebot erfordert minuziöse Auftragserfüllung und
damit von den Teilnehmenden Ausdauer, Zuverlässigkeit und Teamfähigkeit.
Der Arbeitserfolg spiegelt sich unmittelbar in der Zufriedenheit der Kunden für die Jugendlichen „ein Erfolgserlebnis, das Selbstwirksamkeit erfahrbar
macht und zur weiteren Kompetenzaneignung motiviert.“
Sie profitieren zudem vom „Lebensweltbezug“ des hauswirtschaftlichen Dienstleistungsangebots, erarbeiten sich die
Grundlagen einer ausgewogenen Ernährung und lernen, mit begrenztem Budget vollwertige Mahlzeiten zuzubereiten.
Das stärkt Eigenverantwortung und Gesundheitsbewusstsein der oft an Fastfood
gewöhnten Zielgruppe der Produktionsschule – „ein enormer Gewinn.“ Drittes, eher marginales, Tätigkeitsfeld der
Produktionsschule sind die Herstellung
15
JUGEND UND BERUF
Unsere Jugendlichen sind noch nicht einseitig belastbar. Bei Langeweile würden
sie fernbleiben, abwechslungsreiche Arbeiten hingegen motivieren sie.“
Um das Erwerbsdenken zu fördern und
zur Suche nach weiteren Erwerbsquellen
wie dem Kaminholzverkauf anzuregen,
wird ein Teil des erwirtschafteten „Gewinns“ anteilig an die Teilnehmenden
ausgezahlt, unter Berücksichtigung von
Anwesenheitszeiten, individueller Produktivität und Arbeitsqualität. „Wer
zwei linke Hände hat, aber engagiert
bei der Sache ist“, beruhigt Hildegard
Paven­s tädt-Palsherm etwaige Kritiker,
„wird nicht benachteiligt. Bestrafen wäre
pädagogisch kontraproduktiv, aber mit
unserem Vorgehen stellen wir Transparenz her über das Zustandekommen von
Löhnen in Abhängigkeit von der eigenen Leistung.“
Arbeitsorientierte
Qualifizierung
und der Verkauf von Kaminholz – nachrangig, aber dennoch von Relevanz, weil
es den oft sprunghaften Jugendlichen
körperlichen Ausgleich und willkommene Abwechslung bietet. In den kleinen
Waldgebieten von Rheda-Wiedenbrück
und Gütersloh wird mit Genehmigung
des Regionalforstamts Westfalen-Lippe
„gesägt, gesammelt, gehackt und gestapelt“. Jugendliche mit entsprechender
Reife können hier den Umgang mit der
Motorsäge erlernen. Pädagoge Rudolf
Stüker ist ein vehementer Verfechter des
Zusatzangebots: „Fachliche Qualifizierungen haben viele langweilige Anteile.
Niemand weiß das besser als Auszubildende in Metallberufen, die tagelang an
ein und demselben Stück feilen müssen.
16
Arbeit und Qualifizierung sind in allen
Produktlinien „möglichst betriebsorientiert“. Professioneller Qualitätsanspruch
und Terminvorgaben gewährleisten hohen Realitätsbezug und „Echtcharakter“. Vom Einkauf der Materialien über
die Herstellung des Produkts bis hin zu
Preiskalkulation und Vertrieb sind die
Jugendlichen in den Arbeitsprozess involviert. Fachliche wie psycho-soziale
Unterstützung finden sie jederzeit bei
Anleiterinnen und Anleitern und Sozialpädagogen und -pädagoginnen. Eine
räumliche Trennung beider Professionen
ist Tabu: Sozialpädagogen und -pädagoginnen sind in der Werkstatt präsent,
Anleiter/-innen beschränken sich nicht
auf ihr Gewerk. „Fachliche Begleitung ist
unverzichtbar“, so Rudolf Stüker, „rein
sozialpädagogische Angebote funktionieren nicht. Die Jugendlichen wollen gefordert werden und suchen die fachliche
Rückmeldung.“ Personal zu finden, das
zum Produktionsschul-Konzept steht,
ergänzt Einrichtungsleiter Rainer Palsherm, sei jedoch nicht leicht.
Unmittelbar verknüpft mit Produktion
und Dienstleistung erfolgt eine arbeitsorientierte Qualifizierung. Die Vermittlung von Kenntnissen zur Berechnung
von Maßeinheiten oder über die Eigenschaften verschiedener Materialien
erfolgt „on the job“. So erwerben die
Teilnehmenden für den Arbeitsmarkt
relevante berufliche Grundfertigkeiten
und Arbeitstugenden, erkennen im Produktionsprozess Sinn und Notwendigkeit theoretischen Lernens.
Auch wenn kein schriftlich fixiertes Curriculum existiert – theoretischen Fachkundeunterricht gibt es aktuell nur für
die Kiosk-Arbeit im Bereich „Hygiene“ –, so hält die Produktionsschule
doch konkrete Qualifizierungsangebote
vor: Bewerbungstraining zum Beispiel,
Grundlagen der EDV, allgemeine Grundlagen in Deutsch und Mathematik, soziales Kompetenztraining oder Sprachförderunterricht für Migrantinnen und
Migranten. Eine Jugendliche aus dem
Irak zum Beispiel, erzählt Pädagogin
Hildegard Paven­städt-Palsherm sprach
Deutsch nahezu perfekt, ohne es jedoch
lesen zu können. Eigens für sie hat die
Produktionsschule Lesefördermaterial
von der Grundschule angeschafft – mit
Erfolg: „Schon nach zwei Monaten konnte sie so lesen, dass ihr Praktikumsbe-
G.I.B.INFO 4 13
JUGEND UND BERUF
trieb deutliche Verbesserungen feststellen konnte – eine gute Leistung!“ Wer
will, und das sind gegenwärtig rund 20
Prozent der Teilnehmenden, kann den
Hauptschulabschluss nach dem Weiterbildungsgesetz nachholen und erhält
Förderunterricht. Die Abschlussquoten
liegen bei durchschnittlich 80 Prozent.
Im Holzbereich können Teilnehmende
Qualifizierungsbausteine erwerben.
Denkbar wäre das auch in anderen Gewerken, aber „das liegt meist nicht im
Interesse der Jugendlichen“, sagen die
Pädagogen, und wäre nach Ansicht von
Rudolf Stüker auch nicht realistisch,
da zu umfangreich: „Nach langen 200
Stunden einen Metall-Qualifizierungsbaustein in der Hand halten zu können,
würde unsere Jugendlichen nicht motivieren. Wir vermitteln Fähigkeiten zur Herstellung eines Produkts, nicht aber die
Inhalte eines Ausbildungsprogramms.“
Praktika und Übergänge
Wichtiger sind Betriebspraktika. Sie dauern vier bis acht Wochen. In Absprache
mit den Fallmanagerinnen und -managern des Jobcenters können sich Jugendliche im Einzelfall auch über ein längeres
betriebliches Praktikum die Grundlagen für eine Ausbildung aneignen. Die
Akquise von Betrieben, die Vorbereitung auf die mit dem Praktikum verbundenen Anforderungen und Chancen
sowie die Begleitung während des Praktikums obliegen den Sozialpädagogen.
Eine systematische Nachbereitung findet gemeinsam mit dem betrieblichen
Ansprechpartner im Praktikumsunternehmen statt. Ziel ist, mindestens ein
Drittel der Teilnehmer/-innen zu integrie-
G.I.B.INFO 4 13
ren: In duale oder vollzeitschulische Ausbildungsverhältnisse, in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse oder
in berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, zur Not auch in Mini-Jobs.
Ein weiteres Drittel soll zumindest Integrationsfortschritte verzeichnen. Dazu
zählen etwa der Besuch psychosozialer Beratungsstellen oder die persönliche Stabilisierung als nächste Schritte
in Richtung Arbeitsmarktintegration.
Einem Teil, auch das ist absehbar, wird
keine Integration gelingen und auch deutlich sichtbare Integrationsfortschritte
sind nicht zu erwarten. Dr. Burkhard
Poste, im BFZ Gütersloh für die Projektentwicklung zuständig: „Pädagogische
Allmachtsfantasien sind fehl am Platz.
Die Wahrheit ist: Manche Jugendliche
haben noch kein Gespür für die Konsequenzen ihres Handelns für das eigene
Leben und brauchen einfach mehr Zeit.
Damit sind sie auch nicht abgeschrieben,
nur: Bei ihnen zieht das Angebot im Moment noch nicht. Manche verschwinden dann und tauchen zwei Jahre später als Azubis wieder auf.“ Evaluation
sollte deshalb nach Meinung von Rudolf
Stüker nicht allein das Kriterium „Vermittlungsquote“ ins Auge fassen, sondern auch die Kompetenzzuwächse der
Jugendlichen messen.
Neue Herausforderungen
die die starke Ausrichtung auf duale Berufsausbildung und Arbeitsmarktverwertung für die Gruppe der benachteiligten
Jugendlichen mit sich bringen kann.
Produktionsschule halten sie – auf einen
einfachen Nenner gebracht – vorrangig
für ein niederschwelliges sozialpädagogisches Instrument und nicht so sehr für
einen Werkstattansatz bei dem schulmüde Jugendliche Qualifizierungsbausteine
absolvieren, einen Hauptschulabschluss
nachholen und gleichzeitig produzieren.
Dr. Burkhard Poste: „Wer in dänischen
Produktionsschulen die Wertschätzung
erlebt hat, die Mitarbeitende den Teilnehmenden entgegenbringen, weiß, dass
Produktionsschule auch eine pädagogische Haltung ist.“
KONTAKTE
Hildegard Pavenstädt-Palsherm
Dr. Burkhard Poste
Rainer Palsherm
Rudolf Stüker
Berufsförderungszentrum Gütersloh
Kolping-Bildungszentren
Ostwestfalen gem. GmbH
Osningstr. 11 – 13
33332 Gütersloh
Tel.: 05241 947888
Internet: www.kolping-bfz-gt.de
AUTOR
Paul Pantel
Tel.: 02324 239466
Am neuen Übergangssystem von der
Schule in den Beruf in Nordrhein-Westfalen, in dem Produktionsschulen ein
Baustein sind, loben die Pädagogen der
Produktionsschule Gütersloh vor allem
den präventiven, frühzeitigen Ansatz,
weisen aber auch auf die Probleme hin,
E-Mail: paul.pantel@arcor.de
17
JUGEND UND BERUF
15 Jahre „Jugend in Arbeit“ – eines der
erfolgreichsten Förderangebote in NRW
Seit 15 Jahren ist das Programm „Jugend in Arbeit“ Bestandteil der nordrheinwestfälischen Arbeitsmarktpolitik – und damit die arbeitsmarktpolitische Einzelmaßnahme mit der längsten Laufzeit. Über „Jugend in Arbeit“ erhalten Jugendliche und junge Erwachsene, die noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet und
einen Unterstützungsbedarf bei der Arbeitssuche haben, Hilfestellungen bei der
Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die enge Zusam-
G.I.B.: Im Rahmen des Programms „Jugend
in Arbeit plus“ (JA plus) – das liest und hört
man sehr häufig im Zusammenhang mit diesem nordrhein-westfälischen Förderansatz
– treffen verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Kulturen aufeinander. Wie haben Sie das im Rückblick auf das 15-jährige
Bestehen des Programmes erlebt?
menarbeit von Jobcentern und Agenturen für Arbeit, Beratungseinrichtungen und
Kammerverbänden ist Grundlage der Beratung und Begleitung der Teilnehmer
und Teilnehmerinnen im Programm. Trotz diverser Detailänderungen an der Programmkonzeption seit 1998 ist diese Grundstruktur beibehalten worden.
Wesentliche Änderungen erhielt das Programm im Jahre 2002 durch den Übergang von einer reinen Landesinitiative in die ESF-kofinanzierte Arbeitsmarktpolitik des Landes NRW. Dieser Umstellung verdankt Jugend in Arbeit den Zusatz
„plus“. 2006 fand für die praktische Umsetzung eine wesentlichere Weiterentwicklung statt: Durch die Hartz-Gesetzgebung übernahm die Arbeitsverwaltung
Aufgaben im Bereich der Integrationsplanung, die die bis dahin im Rahmen von
Jugend in Arbeit plus durchgeführte Entwicklungsplanung ersetzen sollte. Anschließend wurden 2008 die bis dahin über Landes- und ESF-Mittel geförderten
Lohnkostenzuschüsse durch die Eingliederungszuschüsse des Bundes ersetzt.
Seit dem Start des Landesprogramms im Juli 1998 bis Juni 2013 wurden mehr als
76.000 junge Menschen in „Jugend in Arbeit“ beraten. Im selben Zeitraum verließen rund 38.000 Jugendliche das Programm in Erwerbstätigkeit. Mit einer Integrationsquote von 50 % ist „Jugend in Arbeit“ damit eines der erfolgreichsten
Förderangebote. Das Jubiläum von „Jugend in Arbeit“ war für uns der Anlass,
Menschen, die dieses Förderprogramm umsetzen, zusammenzubringen und mit
ihnen zurück- und vorauszuschauen.
18
Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK):
Als ich 1998 die ersten Gespräche mit der
Sozialberatung geführt habe, sind tatsächlich zwei unterschiedliche Kulturen aufeinandergeprallt. In Gesprächen mit Beratern
hieß es dann: Der Teilnehmer ist an zwei
Terminen erschienen. Ein toller Erfolg,
aber mal sehen, was weiter daraus wird.
Wenn man gewohnt ist, aus der Sicht von
betrieblichen Abläufen her zu denken, waren das schon sehr verschiedene Welten.
Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Es
gibt noch heute einen großen Unterschied
in den Blickwinkeln. Außerdem habe ich
den Eindruck, dass sich in den zehn Jahren, in denen ich dabei bin, der soziale und
pädagogische Betreuungsaspekt deutlich
verstärkt hat. Ich denke, dass die Schwierigkeiten, jemanden aus einer prekären
Lebenssituation auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen, größer geworden sind.
Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft
Düsseldorf: Obwohl von den Voraussetzungen der Zielgruppe her etwas anderes
zu erwarten gewesen wäre: Früher mussten die Jugendlichen 12 Monate und länger arbeitslos sein und heute reicht rein
theoretisch ja schon der Status „von Arbeitslosigkeit bedroht“, um zugewiesen
zu werden. Eigentlich könnte man deshalb annehmen, dass die Jugendlichen
heute leichter in den Arbeitsmarkt zu integrieren wären. Dem ist aber nicht so.
G.I.B.INFO 4 13
JUGEND UND BERUF
Eva-Maria Kuntzig,
Thomas Heitzer,
freie Beraterin
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“:
Als ich 2009 eingestiegen bin, war man
schon aneinander gewöhnt. Mit den Kammerkoordinatoren funktionierte die Zusammenarbeit ganz gut. Die zuweisenden
Stellen haben aber doch oft Vorschriften,
deren Logik mir nicht so ganz begreiflich
ist. Wenn ein Arbeitgeber zum Beispiel den
Lebenslauf eines Jugendlichen durchsieht,
der Elternzeit oder Zeiten von Arbeitsunfähigkeit und drei Jahre nach der Schule
eine Maßnahme beinhaltet, ist er für ihn
seit drei Jahren arbeitslos, für die Agentur erst, seitdem er vor zwei Wochen die
Maßnahme beendet hat. Ich merke aber
in der letzten Zeit, dass die zuweisenden
Stellen flexibler werden. Es gibt die Bereitschaft, auch mal etwas ganz Neues
zu versuchen. Ich finde das sehr positiv.
Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/
Rhein-Sieg: Ich bin erst 2008 in das Programm eingestiegen und das Hauptthema
der Runden Tische war damals, für Neuorientierung zu sorgen. Die Änderung der
Förderkonditionen führte zu Irritationen
bei den Beteiligten, was den „Neustart“
zunächst schwierig gestaltete. Hierbei war
und ist für uns der Runde Tisch immens
wichtig, da dieses Gremium die Möglichkeit gibt, dass man über die institutionellen
Grenzen hinweg eine Vereinheitlichung des
Programmablaufs gewährleisten kann.
G.I.B.: Wo wurde bei den Regionalagenturen das Aufeinandertreffen der Kulturen deutlich?
Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen: Für uns ist es
mittlerweile Routine geworden, die Leute zusammenzubringen, die zusammengehören, und ein Programm zu realisieren.
In den zuweisenden Stellen haben allerG.I.B.INFO 4 13
Netzwerk Lippe (IHK)
dings häufig personelle Wechsel stattgefunden, sodass man mit jedem neuen Mitarbeiter und jedem neuen Mitglied am
Runden Tisch auch ein Stück weit wieder von vorn anfangen musste.
Jürgen Kempken, G.I.B.: Ich glaube, es
gab in den letzten 15 Jahren, wenn man
hier von Kulturen spricht, zwei „Kulturrevolutionen“. Die erste direkt am Anfang,
als die wirtschaftsnahen Kammern auf die
zielgruppenorientierten Berater und Beraterinnen gestoßen sind. Die zweite gab es,
als die Agenturen und Jobcenter mit reingekommen sind. Heute gibt es ein klares „Sowohl-als-auch“. Es gibt Vertreter/-innen, die
eine deutlich Abgrenzung zu der anderen
Kultur sehen, aber auch einen großen Teil,
die den engen Kontakt zu den anderen Kulturen suchen und gut zusammenarbeiten.
In der Regel funktioniert die Zusammenarbeit in den Regionen aber schon sehr gut.
Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/
Rhein-Sieg: Sicher gibt es unterschiedliche
Kulturen und unterschiedliche Interessenausrichtungen. Was wir aber gemerkt haben, ist, dass die Zusammenarbeit personenabhängig ist. Wenn jemand hinter
dem Programm steht, dann läuft es auch!
Wir haben am Runden Tisch zudem eine
im Vergleich relativ geringe Personal-Fluktuation, was ebenfalls ein Grund ist, warum wir mit der Umsetzung ziemlich zufrieden sein können. Das war bei uns aber
nicht immer so. Wir hatten zeitweise sogar eine externe Person eingeschaltet, um
die Kommunikationswege zu „durchleuchten“ und um den Sand aus dem Getriebe zu waschen. Dieser Prozess hat natürlich die Voraussetzungen nicht verändert,
sehr wohl aber das Miteinander, was wir
auch tatsächlich an den Zuweisungszahlen
merken konnten.
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“:
Dass es mit den Personen steht und fällt,
haben wir auch gemerkt. Wir haben immer darauf geachtet, wenn mal eine Beraterin gewechselt hat oder einer anderen
Stadt zugeteilt wurde, dass wir die Beraterin persönlich vorgestellt haben. Wir
suchen auch regelmäßig das Gespräch,
zum Beispiel um Problemfälle zu besprechen. So etwas ist wichtig.
Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Die persönliche Ebene ist ganz wichtig, aber gerade bei den zuweisenden Stellen sind
weitere Faktoren zu beachten, die deren
Handeln bestimmt, z. B. sind sie an Budget-Zwänge gebunden.
G.I.B.: Gibt es heute also gar nicht mehr
den „Kultur-Clash“ der sogenannten
„Kammerkultur“ mit der „sozialpädagogisch orientierten Beraterkultur“, sondern eher Gegensätze zwischen denjenigen, die JA plus für sich als Programm
verinner­licht haben und denen, denen man
das Programm noch nahe bringen muss?
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“:
Es gibt Wellenbewegungen. Manchmal
müssen bestimmte Maßnahmen mit Jugendlichen besetzt werden und deshalb gehen dann die Zuweisungen zu „Jugend in
Arbeit plus“ zeitweise zurück. Aber glücklicherweise ist ja mittlerweile eine parallele Zuweisung möglich. Personen, die von
dem Programm überzeugt sind und seine Pluspunkte verinnerlicht haben, weisen dann weiterhin zu.
Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen: Ich finde, das
ist ein Indiz dafür, dass wir es nicht geschafft haben, die Leute so zusammenzubringen, dass das Programm rund läuft.
19
JUGEND UND BERUF
Britta Albertz,
Michael Nölle,
Verein „Jugend in Arbeit“
Kreishandwerkerschaft Düsseldorf
Es braucht nicht nur ein Zugpferd am
Runden Tisch, sondern es müssen alle
davon überzeugt sein, dass JA plus eine
gute Sache ist und eine gute Ergänzung
sein kann zu Angeboten, die die zuweisenden Stellen zunächst im Blick haben.
G.I.B.: Was behindert das Programm darüber hinaus noch?
Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft
Düsseldorf: Manchmal sind es einfach Informationsdefizite, wichtige Programmpunkte sind nicht verinnerlicht worden.
Wir gehen dann dorthin und erklären,
wer zugewiesen werden kann. Wir sind
auch schon gebeten worden, gemeinsam
mit Beratern zu JA plus Stellung zu nehmen. Danach weisen dann selbst Optionskommunen zu, die kein Geld für Lohnkostenzuschüsse haben.
Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich
merke verstärkt die Personalproblematik der zuweisenden Stellen. Denn dort
dreht sich nach meiner Erfahrung das
Personalkarussell teilweise sehr schnell.
Ich habe in meiner Zeit schon so viele
Ansprechpartner/-innen gehabt, denen
ich das Programm immer wieder neu erkläre, dass ich mich schon ein wenig in
einem Hamsterrad laufen sehe.
Jürgen Kempken, G.I.B.: Man muss gestehen, dass es Fluktuation auch bei Beraterinnen und Beratern, bei Kammern und
bei Regionalagenturen gibt. Die Teilnahme an dem Programm ist dort kontinuierlicher, aber jeder Personalwechsel reißt
schon ein gewaltiges Loch.
G.I.B.: Gibt es auch Beispiele, wo die
Kooperation mit den zuweisenden Stellen richtig gut läuft? Und wenn ja: Sind
20
dort institutionelle oder andere Formen
der Zusammenarbeit gefunden worden.
Was ist das Erfolgsgeheimnis?
Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/
Rhein-Sieg: Im Grunde ist es schon gesagt worden: Es liegt an den Personen.
Die müssen sich natürlich auch an ihre
Vorgaben halten. Aber wenn ich mir unseren Kreis am Runden Tisch angucke,
dann passt das.
G.I.B.: Liegt es wirklich nur an Personen?
Wer in den 1970er Jahren studiert hat,
hat gelernt dass es eigentlich immer eher
an Strukturen liegt.
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“:
Eine Stärke in der Struktur des Programms
ist die Flexibilität. Wenn das Jobcenter A
sagt, wir brauchen es so, die Arbeitsagentur B will es so und eine andere Stelle hat
noch einen anderen Wunsch, dann können
wir sagen: Ja, machen wir. Es gibt für uns
keine starren Regeln, die uns behindern.
In Einzelfällen spielen die Bezirksregierungen oft mit, weil sie einsehen, dass JA
plus für bestimmte Jugendliche sinnvoll ist.
Und wenn sie in dieser Form handlungsfähig bleiben, stärkt das die „Kümmerer“.
Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK):
Wir haben es in Lippe geschafft, die Agentur für Arbeit als Zuweiser mit ins Boot
zu bekommen. Auch da liegt es an einer
Person, die JA plus für eine gute Sache
hält. Derjenige hat dann Info-Veranstaltungen mit uns organisiert, und auf einmal fängt es an zu laufen.
Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Ein großer Anteil an Teilnehmenden geht in Arbeit. Wenn man sagt, dass das etwas mit
den Einzelpersonen zu tun hat, ist das si-
cher richtig, aber der Anteil ist im Vergleich
zu anderen Maßnahmen höher. Man kann
aber wohl nicht sagen, dass in diesen Maßnahmen nicht so engagierte Personen tätig sind. Es sind also die engagierten Personen, aber – damit sind wir wieder bei
den Strukturen – auch das Zusammenwirken vielleicht genau dieser Akteure
und die Art und Weise, wie sie miteinander arbeiten, muss noch eine entscheidende
Rolle spielen.
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“:
Es sind auch die verschiedenen Ansichten,
Möglichkeiten, auch Wissensstände. Die
Kammer hat einen anderen Blick auf einen Teilnehmer/eine Teilnehmerin, eine
Arbeitssituation oder einen Arbeitgeber
als der Berater/die Beraterin, auch als die
zuweisenden Stellen. Es ist also nicht nur
der eine, der nach dem immer gleichen
Schema F agiert, sondern es gibt immer
noch eine alternative Idee.
Jürgen Kempken, G.I.B.: Aber auch das
ist eine Besonderheit: Es funktioniert in
den einzelnen Region sehr unterschiedlich. Hier sitzen sechs Regionen am Tisch,
aber es ist keine wie die andere. Ohne die
regionalisierte Umsetzung würde es das
Programm nicht mehr geben.
G.I.B.: Hat sich die Zielgruppe im Zeitraum, den Sie überblicken können, verändert?
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“:
Formal auf dem Papier nicht, bis auf die
neuen Zuweisungskriterien. Ich habe immer noch alle Jugendlichen unter 25, auch
die „schwer vermittelbaren“. Es ist nicht immer der Schulabschluss, der eine Arbeitsaufnahme verhindert. Da kommen ganz andere Sachen ins Spiel. Die Jugendlichen sind
G.I.B.INFO 4 13
JUGEND UND BERUF
Ulrike Joschko,
Stephan Lorenz,
Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen
Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg
unselbstständiger und auch demotivierter
als noch 2009. Was ich im Jahr 2009 von
Jugendlichen noch erwarten konnte – Informationen selbst beschaffen, Gänge selbst
erledigen – wird immer schwieriger.
Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich
glaube, die Problematiken selber haben
sich gar nicht so sehr verändert. Wir hatten immer schon junge Menschen, mit
Drogenproblematik, mit Schuldenproblematik, mit anderen Belastungen, mit
gesundheitlichen Einschränkungen. Ich
habe trotzdem das Gefühl, dass sich vor
allem etwas im Bereich gesundheitlicher
Einschränkungen verschärft und dass
sich das „Schnell-demotiviert-sein“ und
das „Sichaufgeben“ durchsetzt.
Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen: Das ist auch
ein Thema, das im Ausbildungskonsens
diskutiert wird: das diffuse Gefühl, dass
die Jugendlichen immer schwieriger werden, dass Mehrfachbelastungen und Handicaps zunehmen, die es schwieriger machen, den richtigen Ansatz zu finden. Das
ist nicht programmspezifisch, sondern
eher eine allgemeine Tendenz.
Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK):
Die Zielgruppe ist vielseitiger geworden.
Wir haben arbeitsmarktferne Jugendliche,
ebenso wie Hochschulabsolventen. Aber
ob mit oder ohne Ausbildung: die Frus­
trationstoleranz ist niedriger.
G.I.B.: Hat sich der Beratungs- und Aktivierungsprozess aufgrund der sich ändernden Zielgruppe verändert? 2001
schrieb Ute Mankel von der G.I.B. im
G.I.B.-Info über die Probleme, die noch zu
lösen sind, unter anderem: „Der Beratungsund Entwicklungsprozess ist zu lang.“
G.I.B.INFO 4 13
Jürgen Kempken, G.I.B.: Damals war aber
die Zeit noch nicht auf neun Monate begrenzt wie jetzt. Die Begleitzeit wurde heruntergefahren. Klar, manche brauchen
zwei Jahre, aber die meisten gingen vorher schon raus.
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“:
Wenn ich manche Lebensläufe zur Hand
nehme und durchgehe, sehe ich: nach der
Schule ein paar Maßnahmen, vielleicht
ein paar Nebentätigkeiten, in der Regel
über einen Zeitraum von drei oder vier
Jahren. Das kann verschiedene Gründe
haben, muss nicht immer am Teilnehmer
selbst liegen. Aber es ist klar, dass ich den
nicht an zwei Tagen fit für den Arbeitsmarkt mache. Dabei ist nicht einmal der
Abschluss oder die Ausbildung entscheidend. Bei solchen langen Phasen der Orientierungslosigkeit dauert es immer länger, diese Demotivation auszubügeln und
die Jugendlichen auf ein Niveau zu bringen, auf dem man wieder über Arbeitsaufnahmen nachdenken kann.
Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen: Ich frage mich,
ob die Begrenzung des Beratungsprozesses
2006 die richtige Konsequenz war.
Jürgen Kempken, G.I.B.: Das ist zustande
gekommen, weil man auf Grundlage der
Zahlen festgestellt hat, dass die meisten
Jugendlichen nach neun Monaten vermittelt waren. Es war eine ganz geringe Zahl,
die über die längere Distanz gegangen ist.
JA plus ist gut für eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen. Wenn sie noch intensiverer Betreuung bedürfen, kann das
JA plus nicht mehr regeln.
Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft
Düsseldorf: Es hängt auch damit zusam-
men, wann derjenige, der vermitteln soll,
den Jugendlichen kennenlernt. Wenn er
ihn erst nach acht Monaten dieser Laufzeit
kennenlernt, wird die Zeit arg knapp …
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: … oder wenn der Jugendliche von
den neun Monaten der Beratungszeit nur
die Hälfte erscheint. Das ist alles verlorene Zeit. Neun Monate sind so schnell
vorbei und man kann so jemanden nicht
mit ruhigem Gewissen empfehlen.
Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Man
darf auch den wirtschaftlichen Aspekt
nicht außer Acht lassen. Wenn ein Träger,
über zwei, drei Jahre Teilnehmer/-innen
begleitet, immer wieder berät, einlädt und
eine Struktur für sie zur Verfügung stellt,
die vielleicht letztendlich nie zu einem Erfolg in Form von Vermittlung in ein Arbeitsverhältnis führt, muss man auch die
Frage nach der Finanzierung stellen. Das
hat verstärkt in der letzten Zeit auch die
Träger belastet.
G.I.B.: Wo gab es Brüche im Lauf der
Entwicklung von „Jugend in Arbeit“?
Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich
glaube, der massivste Bruch im Programm,
der noch heute einen gewissen „Kater“
hervorruft, ist der Wegfall der Fördermöglichkeiten des Lohnkostenzuschusses. Wir
bieten jetzt einem Arbeitgeber einen Jugendlichen unter anderen Bedingungen an
als das vor zehn, 15 Jahren möglich war.
Heute stehen wir in einem anderen Wettbewerb, weil es diese finanziellen Unterstützungen so nicht mehr gibt.
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“:
Vielleicht ist es kein Bruch – ich bin erst
seit 2009 dabei –, aber das Programm lei21
JUGEND UND BERUF
Dr. Georg Worthmann,
Jürgen Kempken,
G.I.B.
det auch an einem anderen finanziellen
Mangel. Wenn jemand, der im Lager arbeitet einen Staplerschein braucht, eine
Verkäuferin ohne Kassenkenntnisse ein
Kassentraining oder ein Gärtner einen
Führerschein, so ist ein solcher Qualifizierungszuschuss nicht möglich.
Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK):
Das kann ich nur bestätigen. Das fehlt mir
auch. 2008 gab es in NRW die Idee „in
der Arbeit für die Arbeit qualifizieren“. Es
ging darum, dem Arbeitgeber eine externe Qualifikation für den Jugendlichen anzubieten. Nicht sofort in den ersten zwei,
drei Monaten, sondern erst dann wenn
klar war, was er braucht, um damit das
Arbeitsverhältnis zu stabilisieren. Jetzt
sind wir immer etwas auf Goodwill angewiesen. Für mich sind die Regeln, nach
denen die Mittel vergeben werden, sehr
kryptisch. Dass es keine Lohnsubventionen mehr gibt, damit kann ich noch leben, finanzielle Unterstützung von Qualifizierungen wäre aber äußerst sinnvoll.
G.I.B.: Welche wichtigen Ergebnisse hat
die Evaluation zu JA plus erbracht?
Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Wir haben auf drei Ebenen untersucht: Teilnehmerebene, Beratungsebene und regionale
Ebene. Auf der Teilnehmerebene haben
wir die alte Datenbank ausgewertet, in
der auch die Vermittlungshemmnisse
miterfasst waren. Wir haben festgestellt,
dass fast alle personenbezogenen Teilnehmermerkmale statistisch signifikant für
den Teilnahmeerfolg sind, im Sinne einer Erwerbstätigkeit im Anschluss. Aber
es gibt darüber hinaus noch viele andere
Faktoren, die ebenfalls wichtig sind. Ich
möchte einige wichtige nennen: Auf der
Beraterebene ist die Intensität, mit der
22
G.I.B.
man an JA plus arbeitet, entscheidend. Je
mehr Stunden eine Beratungsfachkraft an
JA plus insgesamt arbeitet, desto höher
ist die Integrationswahrscheinlichkeit, je
weniger Arbeitszeit insgesamt zur Verfügung steht desto ungünstiger für eine Erwerbsintegration. Ein weiteres Merkmal
ist die Nähe der Beraterinnen und Berater zum Arbeitsmarkt. Haben sie selber
Kenntnis über offene Stellen? Jugendliche,
die von entsprechenden Beratenden beraten werden, haben eine größere Chance,
aus JA plus in Erwerbstätigkeit zu gehen.
Auf der regionalen Ebene, also auf Kreisund Stadtebene, ist es zum einen ganz
stark die Kooperation zwischen Beratenden und Kammern, die die Integrationswahrscheinlichkeit der Jugendlichen
erhöht. Auch die Kooperation mit den zuweisenden Stellen spielt eine Rolle und da
kommen auch die Regionalagenturen und
die Runden Tische ins Spiel. Hier findet
ein wichtiger Teil der Kooperation statt.
Bezogen auf die Kammerfachkräfte ist
festzustellen: Je breiter die regionale Zuständigkeit angelegt ist, in diesem Fall gemessen an der Zahl der Kreise, die eine
Kammerfachkraft zu betreuen hat, des­
to ungünstiger ist dies für die Integrationschancen der Teilnehmenden.
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Ich habe mir für 2012 noch einmal unsere Verwendungszwecke angesehen und die Aussage gefunden, dass sich
die Erprobung in Form von Praktika aus
unserer Sicht als wichtigstes Hilfsinstrument zur Vermittlung der Teilnehmer/-innen erwiesen hat. Arbeitgeber sind sehr
zögerlich, den großen Aufwand der Arbeitsvertragserstellung auf sich zu nehmen, bevor sie nicht wissen, ob der Jugendliche auch am zweiten Tag wieder
zur Arbeit erscheint. Schon kurze Praktika von drei, vier Tagen, um festzustellen, ob der Jugendliche zumindest pünktlich und zuverlässig ist und sich mit den
Kollegen versteht, heben die Bereitschaft
denjenigen einzustellen enorm.
Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft
Düsseldorf: Wir haben jetzt aktuell eine
Region, die schreibt vor: vierwöchiges
Praktikum.
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“:
Das ist sehr lang. Und es demotiviert natürlich, wenn danach nichts passiert. Mir
ist Flexibilität lieber: Praktikum für drei
Tage oder eine Woche, in Einzelfällen machen auch mal zwei Wochen Sinn; dazu
dann die entsprechende Flexibilität und
schnelle Kommunikation mit den zuweisenden Stellen.
G.I.B.: Welche Wünsche haben Sie in Bezug auf eine Weiterentwicklung des Programms?
Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen: Ich bin für persönliches Engagement – gar keine Frage.
Ich finde es super, was die Berater/-innen
mit den Jugendlichen anstellen. Aber wir
erfahren über dieses individuelle Engagement nicht, ob die Maßnahme selbst der
Erfolgsfaktor ist oder ob wir nicht etwas
ganz anderes machen könnten und damit
genauso erfolgreich wären. Mein Wunsch
wäre, da mehr Klarheit zu bekommen,
weil ich natürlich gern Erfolg auch systematisch entwickeln möchte.
Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/
Rhein-Sieg: Das finde ich auch. Gleichwohl fände ich es ein gutes Signal, wenn
unsere Akteure erfahren würden, dass es
G.I.B.INFO 4 13
JUGEND UND BERUF
weitergeht. Wir haben im Moment eine
ziemliche Verunsicherung im Zuge des
neuen Übergangssystems. Man fragt:
Passt JA plus da noch rein? Wir hätten
gern ein klares Signal.
Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich
habe bei einer Präsentation schon einmal
gehört: JA plus ist der Dinosaurier der
Programme. – Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied: Wir sind noch lange
nicht ausgestorben. Und ich hoffe, dass
ich das auch nach den nächsten 15 Jahren sagen kann – auch wenn wir uns anpassen, uns wandeln, uns auf neue Wege
begeben. Ich würde mir wünschen, dass
wir das, was wir als erfolgreichen Weg
entwickelt haben, fortführen können, mit
Menschen, die auch dahinterstehen, dass
weiterhin viel Engagement und Herzblut
einfließen, was natürlich bitte gewürdigt
werden soll – finanziell und emotional, sodass wir Wertschätzung spüren.
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“:
Ich wünsche mir weiterhin die Flexibilität, die für mich eine der Hauptstärken
des Programms ist – gerne noch weiter
ausgebaut in Richtung der zuweisenden
Stellen. Anlässlich der 15 Jahre wünsche
ich mir wieder ein bisschen mehr und regelmäßigere Öffentlichkeitsarbeit. Meiner
Meinung nach wissen viel zu wenige Menschen von dem erfolgreichen Programm
und der guten Arbeit, die wir machen. Das
merke ich immer wieder, wenn ich neuen Mitarbeitenden bei den zuweisenden
Stellen erklären muss, was JA plus ist.
qualifizieren. Außerdem wünsche ich mir,
dass man sich wie 1998/99 wieder auf ein
klares Ziel mit einer ganz klar beschriebenen Zielgruppe fokussiert. Ich weiß aus
meiner Profession heraus, dass man die Zuspitzung braucht. Wenn ich genau weiß, wo
ich hingehe und wen ich ansprechen soll,
dann weiß ich auch, welche Mittel ich zu
nehmen habe. Vielleicht sollten wir also
wie damals die in den Fokus nehmen, die
mehr als ein Jahr arbeitslos sind.
Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf: Ich würde mir wünschen, dass wir
den Lohnkostenzuschuss wieder direkt auszahlen können, weil das eine andere Kommunikation auch mit den Unternehmen
zur Folge hat. Von den Zuweisenden würde ich mir wünschen, dass man die Spreu
vom Weizen ein bisschen trennt. Ich möchte nicht mehr die haben, die nicht arbeiten
wollen, aus welchen Gründen auch immer.
Sich mit denen zu beschäftigen, führt zu keinem Erfolg. Ich möchte die haben, die eine
Tätigkeit aus sich heraus wollen.
Jürgen Kempken, G.I.B.: Was Wünsche
angeht: Mit der Hartz-Gesetzgebung 2005
wurde die Aufgabe, die Jugendlichen vorzubereiten inklusive der Entwicklungsplanung, der Arbeitsverwaltung zugeschrieben. Davor war das die Aufgabe
der Berater/-innen von JA plus. Tatsächlich findet aber auch weiterhin eine weitere Entwicklung der Jugendlichen zur
Beschäftigungsaufnahme statt. Die Honorierung ist aber nicht angepasst worden. Ich würde mir wünschen, dass sich
das endlich verändert.
Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Das Monitoring ist nicht zuletzt für die fachliche
Begleitung von JA plus eine wichtige Basis. Es gibt in der Datenbank leider sehr
viele Teilnehmer, zu denen die Angaben
unvollständig sind. Um zukünftig solche
Fragen beantworten zu können, wie viele
der Jugendlichen, die in Arbeit gegangen
sind, ein Praktikum absolviert haben,
wünsche ich mir also eine bessere Pflege
der Datenbank.
TEILNEHMER/TEILNEHMERINNEN DES ROUND-TABLE-GESPRÄCHS
Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“, Tel.: 02361 49043212
Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK), Tel.: 05231 640371
Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen, Tel.: 0201 1892138
Jürgen Kempken, G.I.B., Tel.: 02041 767154
Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin, Tel.: 02302 878998
Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg, Tel.: 0228 773919
Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf, Tel.: 0211 36707-61
Dr. Georg Worthmann, G.I.B., Tel.: 02041 767246
MODERATION
Manfred Keuler
Tel.: 02041 767-152
Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK):
Auch ich würde es gut finden, wenn wir in
irgendeiner Form wieder einen Qualifizierungszuschuss hätten. Ich halte es für gut,
die Leute in der Arbeit für die Arbeit zu
G.I.B.INFO 4 13
E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de
23
SGB II
Selber machen oder einkaufen?
Immer mehr Jobcenter organisieren ihre Eingliederungsmaßnahmen selbst
In letzter Zeit bieten Jobcenter neben der klassischen Einzelberatung nach Terminvergabe verstärkt selber Maßnahmen für Arbeitslose an, für die sie zuvor
Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände beauftragt haben. Sie stellen sich also
öfter der Frage „Make or Buy“: selber machen oder einkaufen? Kann man tatsächlich von einen Trend in Richtung Selbermachen sprechen?
Auf den ersten Blick scheint das zu stimmen. Die G.I.B. hat wiederholt über
Work-First-Ansätze von Jobcentern in
verschiedenen Städten in NRW berichtet, bei denen die eigenen Mitarbeiter/innen vor allem Neukunden dabei unterstützen, möglichst kurzfristig nach dem
Verlust des Arbeitsplatzes selbst oder in
der Gruppe aktiv nach einem Job zu suchen. Und auch in der Wissenschaft ist
das Thema angekommen. Es sei „neuerdings verstärkt eine Tendenz in Richtung Eigenerstellung von Maßnahmen
statt Drittvergabe zu beobachten“, ist
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in einer im April von Sarah Theres Weikamp vorgelegten Masterarbeit zu lesen,
die sich mit dem Thema von „Make-orBuy-Entscheidungen“ bei Eingliederungsmaßnahmen in Jobcentern beschäftigt.
Sie ist selbst Mitarbeiterin im Jobcenter
des Kreises Borken und schreibt, dass
der Ansatz, Eingliederungsmaßnahmen
durch das Jobcenter selbst durchzuführen, im Amtsdeutsch „Selbstvornahme“
genannt, immer häufiger in und unter den
Jobcentern diskutiert werde und dass sie
sich verstärkt der Entscheidung „Makeor-Buy“ (MoB) stellten.
G.I.B.INFO 4 13
SGB II
Foto: Das Jobcenter Köln ist mit „befit4job“, einem am „Work- First-Ansatz“ orientierten
Programm für arbeitslose Jugendliche zwischen 18 und 24 Jahren, äußerst erfolgreich. In eigener
Regie und mit eigenem Personal erzielt das Jobcenter Vermittlungsquoten von bis zu 88 Prozent.
Dieser Begriff wurde bisher vor allem im
produzierenden Gewerbe verwendet. Hier
ist es seit Langem üblich, systematisch zu
prüfen, ob es wirtschaftlicher und auch
strategisch sinnvoller ist, bestimmte Komponenten eines Produkts selbst zu produzieren oder sie von anderen Anbietern
einzukaufen. Eine solche systematische
Einordnung und Prüfung der „MoB-Frage“ sei seitens der Jobcenter im Bereich
der Eingliederungsmaßnahmen bislang
aber kaum erfolgt, stellt die Autorin der
Masterarbeit fest.
Marktnahe Neukunden bevorzugt
Wie entscheiden sich die Jobcenter nun
aber in der Praxis? Machen sie wirklich
mehr selber als in der Vergangenheit? Und
wenn ja, was und warum?
Besonders um den „marktnahen Neukunden“ wolle man sich in der Tat verstärkt
selbst kümmern. Das sagt Dr. Andreas Kletzander, Vorstand des Jobcenters
Wuppertal, und nennt auch Gründe dafür: „Alle acht Wochen einen Termin
mit dem Kunden zu vereinbaren mit dem
Auftrag, in der Zwischenzeit fünf Bewerbungen zu schreiben, reicht nicht. Wenn
man ca. zehn Jahre lang mit viel Engagement verschiedene Ansätze ausprobiert
hat und feststellt, dass man nicht so richtig weiterkommt, dann muss man diese
Ansätze mal überdenken.“
In Wuppertal hat man das getan und ist
zu dem Schluss gekommen, dass nicht
alles Althergebrachte über Bord geworfen, sondern Alternativen zu den Einzelberatungen nach Terminvergabe angeboten werden sollen. Diese klassische
Arbeitsvermittlung sei „sinnvoll und notwendig“, aber es gebe eine Lücke, wenn
G.I.B.INFO 4 13
es um bestimmte Zielgruppen gehe, die
mehr „Nähe“ benötigten. „Dafür brauchen wir ein anderes Verwaltungshandeln“, sagt Dr. Andreas Kletzander, vor
allem für Neukunden, teilweise aber auch
für Jugendliche in besonderen Lebenslagen, „damit sie nicht verloren gehen.“
„Wir sind nicht die Experten für sozialpsychologische Unterstützung oder fachliche Qualifizierung – wohl aber, wenn es
darum geht, die Kompetenzen von Menschen zu erarbeiten und Kontakt zu Arbeitgebern herzustellen, Gruppenarbeit
und Coaching anzubieten“, stellt der Jobcenter-Vorstand fest.
Anregungen für neue Wege in der Arbeitsvermittlung hat man sich in den Niederlanden geholt, von wo aus der Work-FirstAnsatz nach Deutschland kam. Auch in
Wuppertal gibt es mittlerweile zwei stadtteilbezogene Projekte, die mit Elementen
des Work-First-Prinzips arbeiten. Zum
einen das Projekt „arriba“, bei dem vor
allem Jugendliche in einem Mix aus Einzelberatung, Coaching, Gruppen- und Projektarbeit bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz oder einem Job unterstützt
werden. Hier sind neben Mitarbeitenden
des Jobcenters auch Bildungsträger aktiv. Es handelt sich also um eine Mischform zwischen Selbstvornahme und Vergabe. „Ein sehr flexibler Ansatz, den wir
bewusst als Abwandlung dessen gewählt
haben, was wir in Oberbarmen anbieten“,
sagt Dr. Andreas Kletzander. Dieses Coaching-Center in Oberbarmen arbeitet ausschließlich in Eigenregie des Jobcenters.
39 der bisher 65 Teilnehmer konnten in
Arbeit vermittelt werden – „eine sehr
gute Quote“, so der Jobcenter-Vorstand.
Wichtig für eine erfolgreiche Eingliederung sei immer die Nähe zu den Arbeit-
gebern. Entweder würden Unternehmen
zu den Maßnahmen eingeladen oder mit
den Gruppen besucht.
Das Aktivierungsteam in Wuppertal konzentriert sich derzeit auf marktnahe Neukunden, eine Ausdehnung auf andere Kundengruppen wie Alleinerziehende oder die
Zielgruppe 50+ ist aber geplant. Dabei
soll nicht nur der Work-First-Ansatz zum
Zuge kommen. Dr. Andreas Kletzander
sieht die Eigenprojekte nicht ausschließlich als ein Instrument für „leichte Fälle“:
„Ich denke, dass gerade bei arbeitsmarktfernen Menschen die enge Anbindung an
das Jobcenter eine Chance sein kann.“ Erfahrungen mit dieser Zielgruppe gibt es
freilich noch nicht. „Man muss es ausprobieren, darf auch mal danebenliegen
– dafür ist es Modellprojekt.“
Das Ding muss wirksam sein
Die Entscheidung, Maßnahmen selber
durchzuführen, wird in Wuppertal einmal auf der Grundlage der bei den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
vorhandenen Kompetenzen getroffen
und natürlich auch auf der Basis der Finanzierbarkeit. Weiterhin muss der Konsens in der Region und in der Politik für
derartige Projekte vorhanden sein. Aber
auch die Integrationsquoten müssen stimmen. „Das Ding muss wirksam sein“, so
die knappe Formel von Dr. Andreas Kletzander. Natürlich steht bei eigenen Maßnahmen aber auch die Wirtschaftlichkeit
auf dem Prüfstand. Zu dem neuen Konzept gehören zum Beispiel neue Räumlichkeiten und flexible, einladende Raumkonzepte. Die müssen auch ausgelastet sein.
Jürgen Kockmann vom Steinfurter Jobcenter ist sich nicht sicher, ob man wirklich
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SGB II
von einem Trend zu mehr Eigenmaßnahmen sprechen kann. Zwar habe die Bundesagentur für Arbeit sich dieses Themas
angenommen und der Kreis Steinfurt führt
als ein „zugelassener kommunaler Träger“,
der die SGB II-Trägerschaft in Eigenverantwortung wahrnimmt, durch das Jobcenter ebenfalls seit Ende 2011 Work-FirstMaßnahmen in Eigenregie durch, „aber
das haben wir seit Mitte der 1990er Jahre im Rahmen von BSHG auch schon gemacht – wir haben das damals Job-Club
genannt“, berichtet Jürgen Kockmann.
Als der Kreis Steinfurt dann 2005 zur Optionskommune wurde, habe man dieses
Modell mit einer neu gegründeten KreisgGmbH fortgesetzt. „Damals wie heute haben wir mit dem Modell gute Erfolge erzielt. Damit, die Selbstvornahme über den
Work-First-Ansatz hinaus auch auf andere Bereiche zu übertragen, wäre ich aber
im Augenblick etwas zurückhaltend.“ Besonders wenn es darum geht, Maßnahmen
für konkrete Zielgruppen durchzuführen,
zum Beispiel längerfris­tig für „schwierige“
Personen, kann sich Jürgen Kockmann eine
Eigenregie kaum vorstellen. Und auch im
Bereich Ü 50 und U 25 werde man weiterhin Maßnahmen ausschreiben.
Er glaubt nicht, dass das Jobcenter Antrag­
steller/-innen unbedingt besser aktivieren
kann als ein Träger; der Vorteil liege aber
in den strafferen Abläufen. Auch verstünden namentlich die Neuantragsteller/-innen den Umweg über einen Träger nicht:
„Dann gibt es die Zuweisungsphase, die
Aufnahmephase, die Kennenlernphase –
der Leistungsberechtigte fragt sich: Was
soll ich jetzt hier, eigentlich bin ich beim
Jobcenter und die sollen mich doch in Arbeit vermitteln“, beschreibt Jürgen Kock-
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mann die Gedanken seiner Leistungsberechtigten. Die direkte Aktivierung von
Antragstellenden falle also deutlich leichter, wenn man sie selber in der Hand habe
und nicht mit einem Maßnahmenträger
arbeiten müsse.
Nun ist der Neuantragsteller im Kreis
Steinfurt nach sieben Tagen beim Arbeitsvermittler, nach spätestens weiteren sieben Tagen in der „Jobakademie“, so wird
die Work-First-Maßnahme des Jobcenters
genannt. Acht Wochen wird dort intensiv mit ihm daran gearbeitet, einen neuen
Job zu finden. „Wenn es gut läuft, ist er
innerhalb dieser Zeit schon auf dem Arbeitsmarkt, wenn nicht, stellt sich natürlich die Frage, was weiter passiert. Und
dann kann es gut sein, dass in der Folge eine Maßnahme bei einem Träger ansteht“, schildert Jürgen Kockmann das
Verfahren. Stabilisierung, Qualifizierung,
Schulung von Grundtugenden, Herstellen
der Arbeitsfähigkeit – das seien Themen,
die sicher auch in Zukunft bei Maßnahmenträgern angesiedelt blieben.
Um Maßnahmen selbst umzusetzen, müssen die Jobcenter personelle und sachliche
Ressourcen bereitstellen und auch organisatorische Änderungen vornehmen. So
musste das Steinfurter Jobcenter zusätzliches Personal rekrutieren und zusätzlichen Räume schaffen. 24 Städte und Gemeinden gehören zum Kreis. Bisher wurden
für das Eigenprojekt am Standort Rheine
sieben Stellen neu eingerichtet, am Standort Ibbenbüren fünf. Am Standort Steinfurt ist eine weitere Jobakademie geplant.
Zum Teil haben die neuen Mitarbeiter/-innen zuvor bei Bildungsträgern gearbeitet.
Die Kosten der Eigenmaßnahmen gegenüber der Vergabe an Dritte sind nach Aus-
kunft des Steinfurter Jobcenter-Leiters ungefähr gleich. Das sei in Steinfurt auch ein
Entscheidungskriterium für die Selbstvornahme gewesen: Sie durfte nicht teurer sein
als die Vergabe der gleichen Maßnahme.
Früh nachgesteuert
Das wurde nach einem Jahr kontrolliert.
Dass das Ergebnis positiv war, lag auch
daran, dass man beim Steinfurter WorkFirst-Projekt früh nachgesteuert hat. „Wir
hatten anfangs zu wenige Teilnehmede“,
sagt Jürgen Kockmann, „und haben dann
die Zahl der Plätze erhöht und Teilnehmende, bei denen in den ersten Wochen
persönliche Probleme offenkundig wurden, aus der Maßnahme rausgenommen
und durch neue Teilnehmende ersetzt.“
Außerdem wurden nach anfänglichen Versuchen mit „Bestandsfällen“ nach drei bis
vier Monaten nur noch Neuantragsteller/innen in die Maßnahme aufgenommen.
Eine Altersgrenze gebe es dabei nicht. Das
alles seien Korrekturen, die bei einer Vergabe an einen Träger nicht so leicht hätten
durchgeführt werden können. „Die Träger haben dann ein Recht darauf, dass ein
Projekt so durchgezogen wird, wie sie es
angeboten haben. Da ist man, wenn man
es selber macht, natürlich wesentlich flexibler“, stellt Jürgen Kockmann fest.
Die direkte räumliche Anbindung an das
Jobcenter sieht er als einen weiteren Vorteil: „Für uns ist wichtig, dass wir die Eigenmaßnahme in den Räumen des Jobcenters durchführen, damit da keine weiteren
Brüche entstehen. Der Vermittler sitzt auf
dem einen Flur, die Jobakademie liegt auf
dem nächsten. Auch das Bewerbungscenter ist dort untergebracht. Die kurzen
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SGB II
Wege sind entscheidend, nicht nur für
die Teilnehmeden, auch für unsere Fachleute, die sich so kurzschließen können.“
nahmen in Eigenregie mit einer Ausnahme teurer waren als vergleichbare durch
Träger durchgeführte Projekte.
Schneller, besser, günstiger?
Neben der betriebswirtschaftlichen Betrachtung muss der Blick immer auch
auf die Integrationschancen der Teilnehmenden von Maßnahmen gerichtet werden. Dabei zählt nicht nur, ob jemand
nach einer Eingliederungsmaßnahme
eine Beschäftigung aufnimmt, sondern
auch, ob er dies nachhaltig tut. Haben die
Teilnehmer/-innen also in zwei Jahren immer noch einen Job oder melden sie sich
schon nach kurzer Zeit wieder im Jobcenter? Zwar ist hier und da zu hören, dass
die Projekte in Eigenregie Vorteile eben bei
dieser Nachhaltigkeit haben könnten, die
Untersuchung im Rahmen der Masterarbeit konnte das aber nicht untermauern.
Es kann für eine „Make-Entscheidung“
also durchaus gute Gründe geben. Schnellere Reaktionsmöglichkeiten, wie in Steinfurt praktiziert, können für eine solche
Entscheidung sprechen. Normalerweise
sind bei der Jahresplanung der Jobcenter
kurzfristige, flexible Einkäufe oder Anpassungen laufender Verträge durch die
vergaberechtlichen Vorschriften nur sehr
begrenzt möglich. Vorteile liegen möglicherweise auch in einer besseren Qualität und in Kosteneinsparungen.
Die tatsächlichen Kosten von Eingliederungsmaßnahmen sind aber gar nicht so
leicht zu ermitteln. Die Autorin der Mas­
terarbeit weist darauf hin, dass neben den
Maßnahmekosten auch die sog. Transaktionskosten berücksichtigt werden müssen. Das sind Kosten, die sowohl bei der
Selbstvornahme als auch der Vergabe für
die Koordination und Kommunikation
anfallen. So ist der Aufwand bei der Angebotsauswertung, für Information, Verhandlung, Vereinbarung, Kontrolle, Dokumentation usw. im Normalfall schon
hoch. Wenn es zu Missverständnissen
oder Konflikten mit dem Auftragnehmer
kommt, steigt er nochmal rapide und es
entstehen zusätzliche Kosten.
Allerdings ist die Frage, wann sich die
Selbstvornahme gegenüber einer Vergabe lohnt, nicht einfach mit einem Verweis auf die konkreten Kosten zu beantworten. Eine Befragung im Rahmen der
Masterarbeit zeigte sogar, dass die Maß-
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Demnach schnitten die Jobcenter mit ihren eigenen Maßnahmen „in Bezug auf
die Schnelligkeit und Nachhaltigkeit der
Vermittlung … nur marginal besser ab.“
Auch Jürgen Kockmann, Leiter des Jobcenters des Kreises Steinfurt, ist sich nicht
sicher, ob man Vorteile in der Nachhaltigkeit bei jobcentereigenen Projekten konstatieren kann. „Ich glaube auch nicht, dass
Träger bewusst in Stellen vermitteln, von
denen sie von vornherein wissen, dass die
Nachhaltigkeit nicht gegeben ist.“
Man ahnt, dass ein Vergleich von „Make“
und „Buy“ schwierig ist. Eine exakte Messung der Transaktionskosten ist nahezu
unmöglich – und ob die Eigen- oder die
vergebenen Maßnahmen eine nachhaltigere Wirkung zeigen, ist von vielen Faktoren wie zum Beispiel der Auswahl der
Teilnehmenden abhängig und lässt sich
nur langfristig feststellen.
Zertifizierung notwendig
Um nicht selbst auf den Kosten für Eigenmaßnahmen sitzenzubleiben, müssen die
Jobcenter außerdem zunächst einen gewissen Aufwand betreiben. Damit eine
hundertprozentige Finanzierung der Eigenmaßnahmen mit Bundesmitteln aus
dem „Eingliederungstitel“ möglich ist, ist
seit Anfang 2013 eine Zertifizierung gemäß der Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV) vorgeschrieben. Das
gilt für Jobcenter genau wie für Bildungsträger. Ohne eine Zertifizierung wäre die
Finanzierung von eigenen Maßnahmen
nur aus dem „Verwaltungstitel“ der Jobcenter möglich, der zu knapp 85 Prozent
aus Bundes- und zu gut 15 Prozent aus
Mitteln der Kommune finanziert wird.
Wird eine Maßnahme wie die Jobakademie in der Optionskommune Kreis Steinfurt komplett aus dem Eingliederungstitel finanziert, spart der so jährlich rund
45.000 Euro. In Wuppertal wie im Kreis
Steinfurt ist die Zertifizierung gerade im
Gang und wird voraussichtlich Ende des
Jahres 2013 abgeschlossen.
„Wir haben im Rahmen des Zertifizierungsprozesses festgestellt, dass wir schon
gut aufgestellt sind, haben aber auch einige Schwachstellen aufgedeckt“, gibt
Dr. Andreas Kletzander zu. Für die Organisation der Arbeit, aber auch für Aspekte wie Stellenbeschreibungen, die
Personalentwicklung oder das Veränderungs- oder Qualitätsmanagement sei die
Zertifizierung ein wichtiger Innovations­
impuls nach innen gewesen. Und das nicht
nur für die in die Selbstvornahme eingespannten Abteilungen, sondern für das
gesamte Haus.
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SGB II
Von der Entwicklung der Beratungskompetenz der Mitarbeiter/-innen in den Eigenprojekten können zudem alle Berater/-innen
in der klassischen Vermittlung profitieren,
weil sie die Möglichkeit erhalten, in den
Projekten zu hospitieren.
So richtig überzeugt indes schien die Wuppertaler Jobcenter-Belegschaft anfangs
von dem neuen Modell nicht zu sein: Von
170 Mitarbeitenden, die für die Eigenprojekte infrage kamen, bewarben sich nur
vier dafür. „Man muss intern dafür werben“, sagt Dr. Andreas Kletzander. Bei
550 Mitarbeitenden könnten nicht alle den
Aufstieg in Führungspositionen schaffen.
Die Eigenprojekte böten aber die Chance, mal etwas anderes in seinem Job machen zu können.
Auch im Kreis Steinfurt hatte man mit Vorbehalten der Mitarbeiter/-innen zu kämpfen: „Als wir mit der Idee kamen, hieß es:
was sollen wir denn noch alles machen“,
berichtet Jürgen Kockmann. Bei der Entwicklung des Projekts hätten die involvierten Mitarbeiter/-innen aber immer
mehr erkannt, welche Chancen das Modell
bietet. „Heute will es keiner mehr missen
– im Gegenteil: Die Jobcenter-Standorte
im Kreis warten darauf, wann sie endlich
dran sind“, erzählt Jürgen Kockmann.
Impulse für die gesamte Arbeit
Zwar ist der Umfang der SelbstvornahmeProjekte im Vergleich zu dem Gesamtvolumen der von den Jobcentern finanzierten
Maßnahmen zurzeit sehr gering, doch
ein über das Organisatorische hinausgehende Ausstrahlen des „neuen Verwaltungshandelns“ auf die anderen Bereiche
ist zumindest in Wuppertal durchaus er-
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wünscht. „Gruppenarbeit, gemeinsame
Aktionen mit Arbeitgebern, Unternehmen besuchen, Jobbörsen veranstalten
– das sind Elemente, die neben die klassische Einzelberatung treten sollen“, erläutert Dr. Andreas Kletzander. Erste
Schritte in diese Richtung habe man bereits unternommen.
Arbeitsverhältnisse entstehen können“,
berichtet Jürgen Kockmann.
Anfang 2014 werden in Wuppertal insgesamt 15 Mitarbeiter/-innen in den unter
Eigenregie realisierten Maßnahmen arbeiten. Das sind dann rund drei Prozent der
Belegschaft. Im Kreis Steinfurt werden
Entscheidungsbaum zur Make-or-Buy-Frage
Ist die Maßnahme von
strategischer Bedeutung?
(Kernkompetenzen?)
nein
ja
Sind die benötigten
Ressourcen für
Selbstvornahme
vorhanden?
ja
Ist die
Selbstvornahme
wettbewerbsfähig?
ja
Make
Kann die Maßnahme/
Leistung hinreichend
bestimmt werden?
ja
nein
nein
Lohnen sich
Investitionen und
besteht ausreichend
Zeit?
ja
Make
Gibt es einen Markt
bzw. genügend
Anbieter?
nein
ja
Buy
Buy
nein
Make/Buy
Quelle: Sarah Theres Weikamp: Make-or-Buy-Entscheidungen bei Eingliederungsmaßnahmen nach dem
SGB II in Jobcentern/Optionskommunen, Master-Arbeit, S. 17
Damit will man nicht zuletzt auch das
eigene Image verbessern. Bei Teilnehmenden an den Work-First-Projekten gelingt das heute schon. „Die Leute sind
überrascht, dass sie ohne Wartezeit sofort
in eine Maßnahme gehen“, sagt Dr. Andreas Kletzander. „Unsere Kunden nehmen das Jobcenter anders wahr und tragen das auch nach außen.“ Auch der enge
Kontakt, den die Jobcenter im Rahmen
der Work-First-Projekte zu Unternehmen
herstellen, trägt zu diesem anderen Image
bei. „Zum Beispiel bieten Arbeitgeber, die
sich in der Jobakademie vorstellen, schon
mal Praktikumsplätze an, woraus dann
derzeit unter zehn Prozent der für Eingliederungsmaßnahmen zur Verfügung stehenden Mittel für die Eigenprojekte ausgegeben. Das relativiert nach Ansicht des
Wuppertaler Jobcenter-Vorstands auch
die Befürchtungen einiger Bildungsträger, ausgebootet zu werden. „Die Träger
sind in Zukunft nicht ohne Arbeit“, versichert Dr. Andreas Kletzander. Ziel sei
es „sinnvolle Maßnahmenketten“ unter
Beteiligung der Träger zu installieren. Es
gehe also nicht um „Make or Buy“, sondern um „Make and Buy“, wobei lokale
Bildungsträger bei der Vergabe von Aufträgen bevorzugt werden sollen.
G.I.B.INFO 4 13
SGB II
Jürgen Kockmann sagt, dass die Träger im
Kreis Steinfurt über die neue Entwicklung
zwar nicht gejubelt, aber schon mit Verständnis reagiert hätten. Andererseits hat
auch er Verständnis für deren Ängste: „Es
ist durch die Reduzierung des Eingliederungsbudgets um fast die Hälfte, die Zertifizierungspflicht, die Inanspruchnahme
von Gutscheinen für die Teilnehmenden
und jetzt die Tendenz zur Selbstvornahme
schon schwierig geworden.“ Zum Teil hätten die Träger auch bereits mit dem Abbau
von Personal reagiert. Allerdings sei es bisher den regionalen Trägern bei der Vergabe von Maßnahmen trotz der Pflicht zur
bundesweiten Ausschreibung seitens des
Jobcenters immer gelungen, zum Zuge zu
kommen.
Um künftig eine systematische Entscheidungsfindung beim Make or Buy zu unterstützen, hat Sarah Theres Weikamp in
ihrer Masterarbeit daher einen Entscheidungsbaum entwickelt, der hier weiterhelfen könnte.
Bleibt festzuhalten, dass sich in den Jobcentern in NRW insgesamt tatsächlich ein
Trend zu mehr Maßnahmen in Eigenregie
feststellen lässt. Einhellige Meinung der
Jobcenter-Vertreter/-innen ist aber, dass
diese aktuelle Entwicklung die Drittvergabe nicht ablösen, sondern im Umfang
von Standort zu Standort unterschiedlich ergänzen wird. Es geht also nicht um
„Make or Buy“, sondern um „Make and
Buy“, wobei sich die Jobcenter bisher vor
allem verstärkt um die arbeitsmarknahen
Neuantragsteller/-innen selbst kümmern
wollen. Das schließt allerdings nicht aus,
dass es testweise auch für sogenannte
„schwierige“ Kunden das ein oder andere Pilotprojekt in Eigenregie geben wird.
ABSTRACT
Viele Jobcenter bieten neuerdings selbst Maßnahmen für Arbeitssuchende an, nachdem sie
lange Zeit nur Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände damit beauftragt hatten. Das „Selbermachen“ scheint besonders für Neuantragsteller/-innen, die mit dem Work-First-Ansatz möglichst schnell wieder in Arbeit gebracht werden sollen, eine gute Lösung zu sein. Das bestätigen die Beispiele der Jobcenter in Wuppertal und im Kreis Steinfurt. Die Beweggründe von
Dass man auf Bildungsträger im Rahmen
der Eingliederung in den Arbeitsmarkt
ganz verzichten kann, glaubt niemand.
Das zeigt auch die Befragung in Jobcentern vier weiterer Optionskommunen
(Kreise Coesfeld, Düren und Steinfurt sowie der Städte Hamm und Mülheim) im
Rahmen der Masterarbeit von Sarah Theres Weikamp. Selbstvornahme kommt aus
Sicht der befragten Jobcenter vor allem
bei Maßnahmen in Betracht:
• „die vermittlungsorientiert oder -nah
ausgerichtet sind,
• d ie wenig oder begrenzt spezifische
Ressourcen (wie Werkstätten, Fachqualifikationen) und damit Investitionen erfordern,
• d ie sich unmittelbar in die Kernprozesse integrieren lassen,
• die von ihrer Größe überschaubar bleiben,
• d ie sich von Trägerangeboten in der
Umsetzung abgrenzen,
• die als Pilotprojekte zum Ausprobieren
neuer Ideen genutzt werden.“
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Jobcentern und die Vor- und Nachteile des Make or Buy, also der Selbstvornahme bzw. der
Vergabe, sind jetzt im Rahmen einer Masterarbeit wissenschaftlich untersucht worden.
LITERATUR
Sarah Theres Weikamp: Make-or-Buy-Entscheidungen bei Eingliederungsmaßnahmen nach
dem SGB II in Jobcentern/Optionskommunen, Masterarbeit vorgelegt an der Universität Kassel
am 04.04.2013
KONTAKTE
Dr. Andreas Kletzander
Sarah Theres Weikamp
Jobcenter Wuppertal
Lavendelweg 10
Bachstr. 2, 42275 Wuppertal
46395 Bocholt
Tel.: 0202 74763802
Tel.: 02871 2941221
andreas.kletzander@jobcenter.wuppertal.de
sarah-weikamp@t-online.de
Jürgen Kockmann
AUTOR
Jobcenter Kreis Steinfurt
Frank Stefan Krupop
Tecklenburger Str. 10, 48565 Steinfurt
Tel.: 02306 741093
Tel.: 02551 695205
frank_krupop@web.de
juergen.kockmann@kreis-steinfurt.de
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WEGE IN ARBEIT
Arbeitsmarkt inklusive
Landesinitiative fördert 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen
in Nordrhein-Westfalen
Werkstätten für behinderte Menschen
sollen ihre Beschäftigten auf den Arbeitsmarkt vorbereiten. Doch für viele
ist der direkte Übergang in einen regulären Job ein zu großer Schritt. Eine
gute Brücke sind Außenarbeitsplätze:
Menschen mit Behinderungen arbeiten
dabei in ganz normalen Betrieben und
können sich im Arbeitsleben beweisen, bleiben aber weiterhin Beschäftigte der Werkstatt und haben dadurch
Rückhalt. Mit einem Modellprojekt fördert das Land NRW jetzt 1.000 neue Außenarbeitsplätze, um mehr Menschen
mit Behinderung einen Zugang zum re-
Manuel Schang arbeitet seit rund fünf Jahren auf einem ausgelagerten Arbeitsplatz auf einem gro­
ßen Reiterhof in Bielefeld. Er erledigt dort einfache Helfertätigkeiten, kümmert sich zum Beispiel um
gulären Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
das Auffüllen des Futterwagens oder das Fegen mit dem Motorbesen. (Foto: Bethel proWerk)
Der Blick in die Statistik zeigt: Bislang
haben Unternehmen Außenarbeitsplätze
eher zögerlich eingerichtet. Von den rund
72.0000 Werkstattplätzen für behinderte
Menschen in NRW sind gerade mal 3.400
ausgelagerte Arbeitsplätze in Betrieben
und öffentlichen Einrichtungen. Das soll
sich ändern, so das erklärte Ziel der rotgrünen Landesregierung. Im Koalitionsvertrag haben beide Parteien festgelegt,
mehr „alternative, inklusive Arbeitsmöglichkeiten außerhalb von Werkstätten für
behinderte Menschen“ sowie zusätzliche
Außenarbeitsplätze zu schaffen. Sondereinrichtungen sollen möglichst vermieden
werden, stattdessen sollen Menschen mit
Behinderung so arbeiten können, wie jeder andere auch. Das Ziel ist ein „inklusiver Arbeitsmarkt.“
darin verankerten Grundgedanken der
Inklusion: Menschen mit und ohne Behinderung sollen in allen gesellschaftlichen Bereichen gleichberechtigt und
selbstbestimmt miteinander leben, so das
Ziel. 2009 hat Deutschland die Konvention unterzeichnet, jetzt heißt es, diesen
Anspruch schrittweise in der Praxis umzusetzen, gerade auch im Bereich Arbeit,
wo viele Menschen mit körperlichen, geis­
tigen oder seelischen Einschränkungen
eben keine Gleichberechtigung erfahren,
sondern schlechtere Chancen haben und
ausgegrenzt werden.
Die Landesregierung folgt damit der UNBehindertenrechtskonvention und dem
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Doch wie lässt sich Inklusion in der Arbeitswelt steuern? Arbeitgeber können
kaum verpflichtet werden, behinderte Menschen einzustellen, gibt Andreas Trümper,
Leiter der Caritaswerkstätten in Gladbeck
zu bedenken. „Hier geht es nur mit Überzeugung.“ Ein Argument für Chefs ist die
Arbeitsentlastung durch zusätzliche Kräfte,
aber auch soziale Pluspunkte zählen, sagt
Trümper. Behinderte Mitarbeiter/-innen
können die Unternehmenskultur positiv
beeinflussen, Betriebe werden „menschlicher“, vielleicht sogar ein Stück normaler, wenn behinderte und nicht behinderte
Menschen zusammen schaffen.
Die Initiative „Teilhabe an Arbeit – 1.000
Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen“ bietet zudem einen finanziellen
Anreiz, neue Außenarbeitsplätze einzurichten. Arbeitgeber erhalten zwölf Monate lang einen Zuschuss in Höhe von 50
Prozent des vereinbarten Entgelts für den
Beschäftigten, maximal werden 350 Euro
pro Monat gefördert. Finanziert wird das
Programm mit Mitteln des Landes NRW,
des Europäischen Sozialfonds und der beiden Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR).
G.I.B.INFO 4 13
WEGE IN ARBEIT
Martina Große Halbuer,
Thomas Fonck,
Landschaftsverband Westfalen-Lippe
Bis zum 1. Oktober sind bereits 120 neue
Außenarbeitsplätze in Westfalen-Lippe
und 126 im Rheinland entstanden, je 500
sollen es werden, dafür werben Martina
Große Halbuer beim LWL und ihr Kollege Thomas Fonck im Rheinland. „Wir
sind überzeugt, das ist ein gutes Konzept
von dem beide Seiten profitieren. Arbeitgeber bekommen hoch motivierte Mitarbeitende, die Aufgaben in einem Betrieb
gut übernehmen können“, sagt Martina
Große Halbuer. „Und das weiterhin mit
der Unterstützung des Fachpersonals der
Werkstatt“, ergänzt Thomas Fonck. Denn
die Werkstätten bleiben für die Mitarbeiter verantwortlich, übernehmen Arbeitgeberpflichten wie Sozialversicherungsbeiträge und sind Ansprechpartner, wenn es
Fragen und Probleme gibt.
Gesellschaftliche Verantwortung
und Vorbildfunktion
Ein Beispiel: Vor drei Jahren richtete die
Kita „Rappelkiste“ in Bottrop einen ers­
ten Außenarbeitsplatz für einen jungen
Mann ein, der sich um den Garten und
leichte handwerkliche Tätigkeiten kümmern soll. „Zu Anfang gab es schon Bedenken“, erinnert sich Cornelia Kavermann vom Kita-Trägerverein AG Soziale
Brennpunkte (AGSB). Wie belastbar ist
der neue Mitarbeiter? Klappt das Miteinander im Arbeitsalltag, fragte sich das
Team. Die Geschäftsführerin sah damals
aber auch die gesellschaftliche Verantwortung und Vorbildfunktion als Arbeitgeberin. In die Kita gehen behinderte und nicht
behinderte Kinder, sie werden gemeinsam
betreut und spielen zusammen. „Wir versuchen, Inklusion zu leben. Das heißt für
mich dann auch, dass wir Menschen entsprechend ihrer Fähigkeiten ins Arbeitsleben einbinden.“ Ihre Entscheidung hat CorG.I.B.INFO 4 13
Landschaftsverband Rheinland
nelia Kavermann nicht bereut. Der junge
Mann ist zuverlässig und die Erfahrungen
mit ihm sind so positiv, dass die Kita Anfang 2013 eine zweite Mitarbeiterin mit
Behinderung einstellte, diesmal zur Unterstützung in der Hauswirtschaft.
Geschirr abwaschen, Tische eindecken, fegen, wischen und die Waschmaschine mit
einer Ladung Handtücher anstellen – von
10 bis 16 Uhr geht Nicole Breitschuh jetzt
der Köchin in der Kita „Rappelkiste“ zur
Hand und übernimmt kleine Aufgaben,
die sonst die Erzieherinnen nebenbei erledigen müssten. „Die Kolleginnen loben
mich“, sagt die 28-Jährige stolz und geht
gerne zur Arbeit. Zuvor war die junge Frau
in verschiedenen Behindertenwerkstätten
beschäftigt, fühlte sich aber immer fehl am
Platz. „Das war nichts für mich. Ich war
völlig unterfordert und konnte mit niemandem richtig reden.“ Ihr großer Traum
ist, einen „richtigen“ Arbeitsplatz zu haben und zu zeigen, dass sie mehr kann als
Teile zusammenstecken. Zielstrebig verfolgte sie diesen Wunsch, erkundigte sich
in ihrer Werkstatt, den Bottroper Werkstätten, nach Möglichkeiten und überlegte mit
ihrer Übergangsassistentin, wo ihre Stärken liegen. Ein halbes Jahr lang wurde sie
auf die Arbeit in der Kita vorbereitet, inzwischen hat sie sich gut eingewöhnt und
fühlt sich wohl. „Jetzt arbeite ich mit normalen Menschen zusammen. Und man hat
nicht so diesen Stempel.“ Anerkannt und
akzeptiert zu werden, das ist der 28-Jährigen wichtig.
Auch die Kita „Rappelkiste“ profitiert von
dem Modell. Cornelia Kavermann hatte
schon lange eine Unterstützung für die Küche gesucht. Rund 60 Essen bereitet die
Köchin täglich für die Kita und Hortgruppe frisch zu. Die Einrichtung legt großen
Wert auf gesundes Essen, muss aber auch
spitz rechnen. Der geförderte Außenarbeitsplatz sei da ein „guter und kreativer
Weg“, das Personal zu entlasten.
Ein unschätzbarer Vorteil ist, dass Nicole
Breitschuh weiterhin von der Werkstatt
begleitet wird. Egal ob es um organisatorische Fragen wie die Urlaubsplanung oder
Konflikte mit Kolleginnen geht, um all das
kümmert sich Übergangsassistentin Martina Thiele von den Bottroper Werkstätten.
Das entlastet den Arbeitgeber und stärkt
die Beschäftigten. Auch zu erkennen, dass
jemand noch nicht den richtigen Platz gefunden hat und Alternativen zu suchen,
gehört zum Job der Assis­tenten. Nicole
Breitschuh hatte zum Beispiel in einem ers­
ten Anlauf eine Stelle im Einzelhandel angenommen, aber das Zusammenspiel im
Team funktionierte einfach nicht. Mithilfe ihrer Assistentin schaffte sie den Wechsel in die Kita. „Hier wird sie voll akzeptiert“, freut sich Martina Thiele. „Es ist
ganz wichtig, dass es menschlich passt.“
Übergangsassistenten
unterstützen Beschäftigte und
Arbeitgeber
„Ein Außenarbeitsplatz muss sehr gut vorbereitet und unterstützt werden. Selbst
Kleinigkeiten können alles zum Scheitern bringen“, bestätigt Arnd J. Schreiner,
Prokurist der Bottroper Werkstätten. Seit
2001 bemüht sich die diakonische Einrichtung verstärkt darum, den Beschäftigten Wege in den ersten Arbeitsmarkt
zu eröffnen. Etwa 30 von insgesamt 550
Werkstatt-Beschäftigten arbeiten mittlerweile auf einem Außenarbeitsplatz.
Dass das Thema mit viel Mühe und Aufwand verbunden ist, verschweigt Schreiner nicht. Stellenakquise, Qualifizierung
31
WEGE IN ARBEIT
Kay Jarentowski arbeitet schon seit längerer Zeit im Jugendgästehaus in
Bielefeld. Die Fotos zeigen ihn beim Einsatz in der Spülküche.
(Foto: Bethel proWerk)
arbeiterin oder ein Mitarbeiter zum Beispiel nicht angemessen gekleidet oder meldet sich immer wieder krank, kommt das
auf den Tisch. Zu große Motivation kann
ebenfalls ein Problem sein. Michael Kahnert erlebt oft, dass sich die Neuen mit
großem Elan in die Arbeit stürzen, über
ihre Grenzen gehen, auf Pausen verzichten, um zu beweisen, dass sie ihren Job gut
und gleichwertig machen. „Hier müssen
wir den Mitarbeitenden helfen, die eigenen Kräfte einzuteilen und eine Routine
zu entwickeln, um dauerhaft die Arbeit
schaffen zu können.“
und Begleitung der Mitarbeiter/-innen, all
das ist zeitintensiv. Oft muss das Aufgabenprofil eines Außenarbeitsplatzes ganz
neu zugeschnitten und entwickelt werden.
Werkstatt und Arbeitgeber überlegen dann
gemeinsam, wie die Arbeit in einem Betrieb umverteilt wird und was der neue
Mitarbeitende übernehmen kann. In einer Senio­reneinrichtung könnte eine zusätzliche Kraft zum Beispiel unterstützende Tätigkeiten wie Essensausgabe und
Bettenbeziehen übernehmen. Die examinierten Altenpflegerinnen haben mehr
Zeit für Pflege und Fachaufgaben, Personalressourcen können verschoben und
besser genutzt werden.
Parallel dazu wird die Bewerberin oder
der Bewerber schon in der Werkstatt auf
den neuen Arbeitsplatz vorbereitet. Schlüsselqualifikationen wie pünktliches Erscheinen und Zuverlässigkeit sind dabei
ebenso wichtig wie die Vermittlung von
fachlichem Know-how. In einem Prakti-
32
kum können sich beide Seiten dann kennenlernen. Eine zentrale Funktion haben
die Übergangsassistenten. Während der
ganzen Zeit sind sie Coach, Krisenmanager, Ansprechpartner, kurz: Mädchen für
alles. „Zu Anfang betreuen wir die Beschäftigten auf dem neuen Außenarbeitsplatz ganz intensiv. In der ersten Woche
sind wir rund 20 Stunden dabei. Dann
wird es ausschleichend immer weniger“,
erzählt Michael Kahnert, der 2001 als ers­
ter Übergangsassistent bei den Bottroper
Werkstätten anfing. Inzwischen arbeiten
sie zu dritt, die Aufgaben sind vielfältig:
„Heute habe ich eine Frau auf einem Reiterhof begleitet, morgen bin ich in einem
Betrieb in der IT-Branche“, verdeutlicht
Martina Thiele die Spannbreite.
Die Übergangsassistentin übt mit den Beschäftigten die Busfahrt zur Arbeit genauso wie Verhaltensregeln im Job. „Auch
unangenehme Themen sprechen wir an“,
ergänzt Michael Kahnert. Ist eine Mit-
Manchmal sind auch Kreativität und kleine Tricks gefragt. Piktogramme oder Arbeitslisten sind zum Beispiel einfache, aber
effektive Hilfen, damit ein Mensch mit
Handicap eine Aufgabe besser bewältigen kann. Gerne erzählt Michael Kahnert auch die Geschichte der Spülhilfe in
einer Großküche. Aufgrund einer motorischen Störung konnte die Mitarbeiterin
das Spülmittel nicht genau dosieren. Jedes
Mal drückte sie zu viel aus der Flasche heraus und sorgte für ein Schaumbad in der
Spülmaschine. Michael Kahnert hatte dann
die Idee mit der Dosierhilfe: Er maß genau
ab, wie viel Spülmittel für einen Spülgang
ausreicht. Diese Menge zog die Frau dann
jeden Tag vor der Arbeit in bereitgestellte
Spritzen auf und konnte nun die richtige
Menge zugeben. Inzwischen nutzen alle
Mitarbeiter die Dosierhilfe, weil sie damit
viel Reinigungsmittel sparen.
Mehr Außenarbeitsplätze im
öffentlichen Dienst schaffen
Großküchen, Kantinen, Kindertageseinrichtungen oder Altenhilfe sind Arbeitsfelder, in denen sich Außenarbeitsplät-
G.I.B.INFO 4 13
WEGE IN ARBEIT
Michael Kahnert,
Übergangsassistent Bottroper Werkstätten
ze bewährt haben. Auch in gewerblichen
Betrieben gibt es gute Einsatzmöglichkeiten, zum Beispiel in der Montage,
im Bereich Lager und Verkauf oder in
der Garten- und Landschaftspflege. Mit
dem Modellprojekt sollen zudem öffentliche Verwaltungen motiviert werden,
Außenarbeitsplätze zu schaffen. Neben
Einzelplätzen können auch Gruppenarbeitsplätze eingerichtet werden, weist
Thomas Fonck auf eine Variante hin. In
diesem Fall wird eine spezielle Aufgabe
in einer Firma von einer ganzen Gruppe von Werkstattmitarbeitenden übernommen. „Der Charme dabei ist, dass
so auch Menschen mit stärkeren Beeinträchtigungen eine Chance bekommen,
außerhalb der Werkstatt zu arbeiten,
und nicht nur die Leistungsstärkeren.“
zukehren, falls es nicht funktioniert. Unter
dem Stichwort „Budget für Arbeit“ sind
die unterschiedlichen Fördermaßnahmen
zur beruflichen Integration zusammengefasst und im Internet abrufbar.
Trotz der Bemühungen schaffen bundesweit bislang weniger als ein Prozent den
Übergang von der Werkstatt in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Das liegt nicht
allein an den Arbeitgebern, die zu wenig
Jobs zur Verfügung stellen. Auch für die
Betroffenen ist der Schritt mit Unsicherheiten und Risiken verbunden. Eine Werkstatt bietet schließlich auch Vorteile und
viele Annehmlichkeiten, von geregelten
Arbeitszeiten bis zum Fahrdienst. Nicht
zuletzt heißt es für die Werkstätten selbst,
dass sie gute Mitarbeiter/-innen ziehen
lassen müssen und die Produktivität dadurch vielleicht sinkt. Das Ablösen von
der Werkstatt bedeutete für alle Beteilig­
ten Veränderung, aber es lohne sich, umzudenken und den Weg Richtung „inklusiver Arbeitsmarkt“ weiter zu gehen, sagt
Thomas Fonck. „Eigenes Geld verdienen,
auf eigenen Füßen stehen, das ist ein großer Wert.“ Und Außenarbeitsplätze sind
dabei eine wichtige Etappe, um gleichberechtigt im Berufsleben anzukommen.
ABSTRACT
Mit dem Modellprojekt „Teilhabe an Arbeit“ sollen 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen
mit Behinderungen in NRW geschaffen werden. Arbeitgeber, die einen Außenarbeitsplatz einrichten, erhalten ein Jahr lang 50 Prozent des vereinbarten Entgeltes, maximal 350 Euro monat-
Die geförderten Plätze können nach einem
Jahr in dauerhafte Außenarbeitsplätze
oder eine sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung münden. „Unser Ziel ist,
dass die Beschäftigten weiter im Betrieb
bleiben und nicht nach einem Jahr wieder in die Werkstatt zurückkehren“, sagt
Martina Große Halbuer. Nach neun Monaten berät der Integrationsfachdienst darum auch Arbeitgeber und Beschäftigte
über Anschlussperspektiven und weitere
Fördermöglichkeiten. Richtet ein Arbeitgeber eine sozialversicherungspflichtige
Stelle ein, kann er zum Beispiel deutliche
Lohnkostenzuschüsse erhalten. „Selbst
wenn der Beschäftigte nur einen Teil der
Leistung erbringt, rechnet sich das meis­
tens für den Arbeitgeber“, betont Fonck.
lich. Um an dem Programm teilzunehmen, muss der Außenarbeitsplatz bis spätestens zum 1.
Juni 2014 eingerichtet werden. Finanziert wird das Angebot mit Mitteln des Landes NRW, des
Europäischen Sozialfonds und der Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland.
ANSPRECHPARTNER IN DER G.I.B.
KONTAKTE
Benedikt Willautzkat
Martina Große Halbuer
Tel.: 02041 767204
Landschaftsverband Westfalen-Lippe
E-Mail: b.willautzkat@gib.nrw.de
Tel.: 0251 591-6439
E-Mail: martina.grosse-halbuer@lwl.org
LINKS
www.lwl-budget-fuer-arbeit.de
Thomas Fonck
www.budget-fuer-arbeit.lvr.de
Landschaftsverband Rheinland
Tel.: 0221 8097220
AUTORIN
E-Mail: thomas.fonck@lvr.de
Silke Tornede
E-Mail: silketornede@aol.com
Die Landschaftsverbände fördern außerdem Qualifizierungen und zahlen eine Einstellungsprämie. Mitarbeiter/-innen haben
zudem das Recht, in die Werkstatt zurück-
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ARBEITSGESTALTUNG
FAIRE
ARBEIT, FAIRE LÖHNE
UND -SICHERUNG
Faire Arbeit, faire Löhne:
Qualität statt Lohndumping
Foto: Karl-Josef Hildenbrand (c) dpa
Lohnpolitik im Friseurhandwerk
Warum eigentlich zählt „Friseurin“ immer noch zu den beliebtesten Ausbildungsberufen von Mädchen? Weil sie mit der Tätigkeit Mode, Kosmetik und gutes Aussehen assoziieren? Vermutlich. An der Vergütung jedenfalls kann es nicht liegen,
denn laut Statistischem Bundesamt verdienen Friseure durchschnittlich 1.315
Euro brutto im Monat, wohingegen der durchschnittliche Bruttolohn aller Berufe
3.093 Euro beträgt. Damit liegen Friseurinnen und Friseure am untersten Ende
der Einkommensskala.
Dabei ist die Ausbildung keineswegs anspruchslos, sagt Wilfried Petri, Geschäftsführer des Friseur- und Kosmetikverbands
NRW mit Sitz in Dortmund: „Auszubildende brauchen Chemiekenntnisse und anatomisches Hintergrundwissen. Niemand,
außer Arzt oder Pfleger, kommt so nah an
Kunden heran wie Friseure. Sie müssen
kontaktfreudig sein und kommunikativ,
müssen sich vernünftig artikulieren können und sie brauchen Empathie. Ohne einen guten Hauptschulabschluss würden
sie insbesondere den theoretischen Teil der
Prüfung wohl kaum schaffen.“
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Gut bezahlt wird die Leistung nach bestandener Prüfung dennoch nicht. Schuld
daran geben Kritiker den Arbeitgeberverbänden, den Friseurinnungen, den FriseurVerbänden und dem Zentralverband. Sie
werfen ihnen vor, das Lohnproblem jahrzehntelang ignoriert zu haben. „Entweder wurden einfach keine neuen Tarifverträge mehr abgeschlossen“, schrieb etwa
vor kurzem „Die Welt“ in einem gro­ßen
„Billigfriseur-Report“, „oder es wurden
mit neuen, bewusst niedrig gehaltenen
Tarifabschlüssen den Billiglöhnen der
Weg bereitet.“
„Da ist was dran“, gibt Wilfried Petri unumwunden zu. „Doch das ist zum einen
regional sehr unterschiedlich, zum anderen
kann man es nicht einseitig den Arbeitgebern vorwerfen. Die Gewerkschaften hätten mehr Druck aufbauen müssen.“ Vor
einigen Monaten hat der Innungschef in einer Fernseh-Talk-Runde ein Streitgespräch
verfolgt: „Ein Gewerkschaftsvertreter aus
einem östlichen Bundesland fragte einen
Friseur-Großfilialisten vorwurfsvoll: ,Warum zahlen Sie so wenig?‘ und der Großfilialist antwortete ganz nüchtern: ,Ich zahle nach Tarif!‘, und das stimmt auch. Die
Gewerkschaften sollten nicht wie ein Kaninchen vor der Schlange sitzen, sondern
etwas tun und verhandeln!“
Leichter gesagt als getan, denn die Gewerkschaften sind in der Friseurbranche weitgehend machtlos: Betriebsräte sind in den
Kleinstunternehmen der Branche nicht zu
finden und der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten im Friseurhandwerk liegt nach Angaben von Andrea
Becker von der Gewerkschaft ver.di bei gerade mal 2,4 Prozent.
Fatale Folgen
Das niedrige Lohnniveau im Friseurhandwerk – bis vor Kurzem besonders extrem
in Thüringen und Sachsen mit 3 Euro 50
brutto pro Stunde – hat nicht nur viele Beschäftigte zur zusätzlichen Inanspruchnahme von Hartz IV gezwungen, sondern war
auch Einfallstor für Billiganbieter, für Discounter. „Aufgrund idealer NiedrigtarifBedingungen“, heißt es im „Welt-Report“,
entdeckten Billigketten bereits vor circa
acht Jahren die systematische Ausbeutung
von Friseuren. Auf ihrem Rücken konn-
G.I.B.INFO 4 13
ARBEITSGESTALTUNG
FAIRE ARBEIT,
UNDFAIRE
-SICHERUNG
LÖHNE
Wilfried Petri,
Friseur- und Kosmetikverband NRW
ten extrem niedrige Preise mit maximalen Gewinnen kombiniert werden. Heute
ist beinahe an jeder Ecke eine dieser umstrittenen Ketten zu finden.“
Wie aber sind Preise pro Haarschnitt für
„10 Euro all inklusive“ überhaupt möglich? Bei solchen Werbeaussagen empfiehlt
Wilfried Petri genauer hinzusehen. „Ist tatsächlich alles inbegriffen? Eine Dauerwelle für elf Euro ist praktisch gar nicht möglich. Oft müssen eingesetzte Materialien
und Produkte zusätzlich gezahlt werden,
sodass der endgültige Preis doch deutlich
höher liegt. Aber es gibt auch sogenannte
Konzeptsalons, meist Franchiser oder kleine Ketten, die sehr günstig einkaufen und
anschließend mit niedrigen Preisen kalkulieren. Entsprechend hoch ist der Zulauf
an Kunden, sodass solche Betriebe trotz
niedriger Preise oft einen ähnlich hohen
Umsatz haben wie Betriebe mit höheren
Preisen, aber weniger Kunden.“
Verbreitet in der Branche ist nach seinen
Erfahrungen die sogenannte Schaufens­
terkalkulation: „Dabei orientieren sich
Betriebsinhaber/-innen an den Preisen ihrer Konkurrenten um die Ecke. Mit betriebswirtschaftlich fundierter Kalkulation hat das nichts zu tun. Da muss man
auch manchmal fragen, wie solche Betriebe
zurechtkommen. Doch eins ist klar: Wenn
ich Mitarbeiter/-innen unter Tarif bezahle, kann ich natürlich auch niedrigere Preise nehmen.“
Dass Beschäftigte das Dreifache ihres
Lohns umsetzen müssen, ist laut Petri „die
übliche betriebswirtschaftliche Kalkulation
in der Branche.“ Eine gute Regelung sind
in seinen Augen Leistungslöhne, wobei Ar-
G.I.B.INFO 4 13
beitgeber beim Erreichen bestimmter Umsatzgrößen ein Gehalt über dem Tariflohn
zahlen. „Aber es gibt auch schwarze Schafe“, räumt er ein, „die ihren Angestellten
sagen: Du musst zwanzig Haarschnitte am
Tag schaffen und wenn nicht, Deinen Urlaub opfern oder bekommst weniger Geld
und rutschst unter den Tarif oder es ist ein
Kündigungsgrund. Das ist natürlich nicht
akzeptabel. Wenn sie erwischt werden, sind
sie dran – zu Recht. Der allgemeinverbindliche Tarif muss immer Basis sein.“
Neben dem Niedriglohn sind unbezahlte Überstunden ein gängiges Problem der
Branche. Wilfried Petri: „Teilzeit ist bei
Friseurinnen sehr beliebt, aber bei einem
Teilzeit-Job ist die Wahrscheinlichkeit
groß, dass die Arbeitszeit überschritten
wird. Große Betriebe bieten ihren Beschäftigten Arbeitszeitkonten, in kleineren ist es
ein Aushandlungsprozess zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.“ Angesichts bestehender Machtverhältnisse, kann auch
er sich vorstellen, dass Mitarbeiter/-innen
klein beigeben: „Insbesondere diejenigen,
die nicht so qualifiziert sind und unbedingt
ihren Arbeitsplatz behalten wollen.“
Eine Aussage, die verdi-Mitarbeiterin Andrea Becker nur bestätigen kann: „Eine Beschäftigte wird sich dreimal überlegen, ob
sie sich beim Betriebsinhaber über schlechte Arbeitsbedingungen oder zu niedrige Bezahlung beschweren soll. Wer sich doch
dazu durchringt, bekommt meist zu hören: Du kannst ja den Betrieb wechseln,
ich habe genug Interessentinnen, die hier
arbeiten wollen.“ Über das Ausmaß an
Überstunden jedenfalls und darüber, ob
sie bezahlt werden oder nicht, gibt es keine Statistik.
Inflation an (Mikro-)Friseurbetrieben
Tatsächlich flüchten viele schlecht entlohnte
Friseure in die Selbstständigkeit und gründen Mikro- oder Einpersonenbetriebe. Das
weiß auch Wilfried Petri: „Es gibt viele junge Friseurinnen und Friseure, die nach der
Gesellenprüfung keine Stelle finden oder
ihre Vergütung für zu gering halten und sagen: Dann mach ich doch gleich den Meis­ter
und mich selbstständig, wobei das Meis­terBafög ein zusätzlicher Anreiz ist. Die Verselbstständigung ist in keiner Branche so
einfach und monetär so leicht umzusetzen
wie im Friseurbereich.“
Der Eindruck beim Gang durch die Städte, dass immer mehr Friseursalons eröffnen, täuscht also nicht. Das bestätigt auch
der „Betriebsvergleich im Friseurhandwerk“ der Landes-Gewerbeförderungsstelle des nordrhein-westfälischen Handwerks (LGH). Demnach stieg innerhalb der
letzten zehn Jahre der Betriebsbestand um
2.500 Einheiten beziehungsweise 18,7 Prozent, obwohl die Zahl der Einwohner/-innen des Landes um 1,2 Prozent abnahm.
Damit ist die Zahl der Einwohner/-innen
je Friseursalon in Nordrhein-Westfalen von
1.338 auf 1.114 gesunken. Fazit der LGH:
„Im Friseurhandwerk sind bei sinkender
Einwohnerzahl und steigendem Betriebsbestand die Wettbewerbsbedingungen außerordentlich hart.“
Die Inflation neu eröffneter Friseurbetriebe hat nach Ansicht von Wilfried Petri aber auch einen politischen Hintergrund: Zwar besteht im Friseurhandwerk
als Voraussetzung für die Selbstständigkeit noch die Meis­terpflicht, doch seit der
35
ARBEITSGESTALTUNG
FAIRE
ARBEIT, FAIRE LÖHNE
UND -SICHERUNG
Novellierung der Handwerksordnung im
Jahr 2004 gibt es viele Ausnahmetatbestände. So erhalten in der Branche tätige Personen, die 45 Jahre alt sind und die
Gesellenprüfung abgelegt haben, automatisch eine Ausnahmegenehmigung. „Beschränkte Ausnahmen bestehen darüber
hinaus für das Herrenfach, die sehr viele
unserer türkischen Kollegen, überwiegend
Herrenfriseure, in Anspruch nehmen. Es
geistert immer der Begriff des ,türkischen
Meisterbriefs‘ im Raum, aber den gibt es
nicht. All das aber trägt zusätzlich zur
Erhöhung der Betriebszahl im Friseurhandwerk bei.“
Deren rasanter Anstieg hat Konsequenzen
für den durchschnittlichen Jahresumsatz
pro Betrieb. Der ist, wie die LGH feststellte, in den vier Jahren 2008 bis 2011
von 108.320 Euro auf 103.143 Euro gefallen, womit sich ein Realumsatzverlust
von 2,1 Prozent ergibt. Um die Kosten
im verträglichen Rahmen zu halten, so
die LGH, haben die Unternehmen unter
anderem versucht, durch Absenkung der
Zahl der Vollzeitbeschäftigten und einen
verstärkten Einsatz von Teilzeit- und Ausbildungskräften ihre Personalkosten zu
senken. Nach der Handwerksauszählung
2009 waren 57.983 sozialversicherungspflichtige Personen im nordrhein-westfälischen Friseurhandwerk tätig, darunter
12.023, also gut 20 Prozent, als geringfügig entlohnte Beschäftigte. Dabei ist die
durchschnittliche Betriebsgröße immer
weiter zurückgegangen und liegt inzwischen – umgerechnet auf Vollzeitäquivalente – unter drei Beschäftigten je Salon.
Ein Dorn im Auge ist Wilfried Petri auch
die bestehende Mehrwertsteuergrenze. Sie
liegt bei 17.500 Euro Jahresumsatz. Laut
36
einer bundesweiten Erhebung des Zentralverbands des Deutschen Friseurhandwerks
liegen 25.000 der rund 80.000 Friseurbetriebe unterhalb der Mehrwertsteuergrenze. Petri: „Das sind im besten Falle
Einzelunternehmer, wobei ich mich frage, was dabei unter dem Strich als Gewinn herauskommt und wie so ein Betrieb
funktionieren soll. Material, Miete, Gemeinkosten und bei manchen fallen auch
Personalkosten an. Wovon lebt der Geschäftsinhaber dann eigentlich?“
Kein Wunder, dass Zweifel an den Angaben
der Betriebe laut werden. Zur Aufklärung
arbeitet der Friseurverband in engem Kontakt mit den Sozialbehörden: „Die Kranken- und Rentenversicherungsträger sind
auch dahinter her, insbesondere, wenn diese Betriebe auch noch Mitarbeiter/-innen
beschäftigen.“ Die 17.500-Euro-Grenze
sähe Petri gerne abgeschafft, denn dass
hier mitunter Schwarzarbeit stattfindet,
ist für ihn alles andere als ausgeschlossen.
Doch mit jedem schwarz bedienten Kunden, weiß er, sinkt der Umsatz der anderen Salons, die ihre Mitarbeiterinnen nach
Tarif bezahlen. Besserung hinsichtlich der
Kontrollen solcher Betriebe verspricht erst
das am 1. Januar 2017 in Kraft tretende
Gesetz für die Einzelaufzeichnungspflicht
der Betriebe.
Allgemeinverbindlicher
Mindestlohn
Verkehrte Welt: Weil durch die Dumpinglöhne im Friseurhandwerk qualitativ hochwertige, besser zahlende Betriebe
immer stärker unter Druck gerieten und
einige von ihnen infolge preislicher Konkurrenzunfähigkeit ihre Läden schließen mussten, ergriffen Verbandsvertre-
ter die Initiative, um das Lohngefüge neu
zu ordnen. Wilfried Petri: „Stundenlöhne unter vier Euro wie teilweise in Ostdeutschland wurden – zu Unrecht – der
gesamten Branche unterstellt. Wunsch
und Wille nach einem allgemeinverbindlichen Mindestlohn waren deshalb in den
meisten Betrieben vorhanden, um aus der
Schmuddelecke herauszukommen.“ Dazu
Gewerkschafterin Andrea Becker: „Weil
der freie Fall der Löhne die guten Betriebe
in Schwierigkeiten brachte, wollte der Innungsverband dem Lohndumping einen
Riegel vorschieben. Doch das gelingt nur
durch allgemeinverbindliche Tarifverträge
und dazu waren sie auf uns angewiesen.“
Mittlerweile haben sich die Vereinigte
Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die
Tarifgemeinschaft des Zentralverbands
des Deutschen Friseurhandwerks und die
Landesverbände über einen branchenweiten Mindestlohn für das Friseurhandwerk
geeinigt. Demnach werden seit dem 1. August 2013 für Friseure im Westen 7,50 Euro,
im Osten 6,50 Euro Mindestlohn gezahlt.
Nach einer weiteren Erhöhung zum 1. August 2014 soll schließlich bis zum 1. August
2015 ein einheitlicher Mindestlohn für West
und Ost von 8,50 Euro gezahlt werden. Das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
hat bereits signalisiert, den Tarifvertrag für
allgemeinverbindlich zu erklären.
Vorreiter war Nordrhein-Westfalen. Hier
haben ver.di und Friseurverband einen eigenen Tarifvertrag abgeschlossen. Der Unterschied zum Bund: In den ersten beiden
Jahren ist der NRW-Tarifvertrag für die Beschäftigten günstiger, denn hier gelten seit
dem 1. Oktober 2012 8,13 Euro und ab 1.
Oktober 2014 8,32 Euro als Mindestlohn.
Andrea Becker: „Ab 1. Oktober 2015 haben
G.I.B.INFO 4 13
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FAIRE ARBEIT,
UNDFAIRE
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LÖHNE
AUTOREN
Paul Pantel, Tel.: 02324 239466, E-Mail: paul.pantel@arcor.de
Manfred Keuler, Tel.: 02041 767-152, E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de
wir dann 8,51 Euro, aber über den bundesweiten Tarifvertrag erreichen wir die 8,50
Euro schon ab 1. August 2015 und der gilt
dann auch für NRW.“
Mit dem Mindestlohn aber gerät das Tarifgefüge im Friseurhandwerk durcheinander, denn der neue Tarifvertrag hebt die untersten Lohngruppen stark an, während die
anderen etwa auf gleichem Stand verharren.
Werden sich dann nicht die besser Qualifizierten beschweren? „Die Frage ist berechtigt“, meint Wilfried Petri. „Als Arbeitgebervertreter werden wir deshalb bei den
nächsten Tarifverhandlungen wohl sagen:
Wenn der Mindestlohn bei 8,50 Euro liegt
und ein gut qualifizierter Geselle bei 8,70
Euro, dann müssen wir bei Letzterem jetzt
mal am meisten tun, so dass im Zeitverlauf
wieder eine stärkere Differenzierung hergestellt wird.“ Das heißt, die Verbesserungen
durch den Mindestlohn schlagen auf mittlere Sicht auch auf die höheren Lohngruppen durch? „Ja, das wird wohl so kommen,
denn als gut Qualifizierter würde ich mich
auch dagegen wehren, fast das gleiche Geld
zu bekommen wie jemand, der fast gar nicht
qualifiziert ist.“
Andrea Becker wiegelt ab: „So weit sind
wir noch nicht, da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ich bin ausdrücklich
dafür, dass wir die Löhne im Bereich der
qualifiziert Beschäftigten deutlich anheben, aber nicht zulasten der unteren Lohngruppen.“ Sie lenkt den Blick vor allem auf
die Tatsache, „dass wir erstmalig An- und
Ungelernte in den Tarifvertrag aufgenommen haben. Damit ist dem Lohndumping
im Bereich der Helferinnen und Helfer
endlich ein Ende gesetzt!“ Das heißt zugleich: Betriebe, die acht Euro pro Stunde an Lohn zahlen müssen, können für
G.I.B.INFO 4 13
KONTAKTE
Andrea Becker
Wilfried Petri
ver.di NRW
Friseur- und Kosmetikverband NRW
Besondere Dienstleistungen
Deggingstraße 16, 44141 Dortmund
Karlstraße 123 – 127, 40210 Düsseldorf
Tel.: 0231 527615
Tel.: 0211 61824-390
E-Mail: w.petri@friseure-nrw.de
E-Mail: andrea.becker@verdi.de
einen Haarschnitt nicht länger nur zehn
Euro verlangen. Sie müssen die Preise erhöhen und – wenn die Kunden ausbleiben
– das Geschäft schließen. Bedauern würden das weder Verbandschef Petri noch
Gewerkschafterin Becker: „Wer keine
ordentlichen Löhne zahlt, hat auf dem
Markt nichts zu suchen!“
Strategien zur
Imageverbesserung
Mit dem neuen Tarifvertrag erwartet der
Verbands-Geschäftsführer einen Imagegewinn für das Friseurhandwerk. Doch
damit allein ist es in seinen Augen nicht
getan. Notwendig ist eine Marketingkampagne: „Viele mittelständische Friseur-Unternehmen stört es nicht, wenn neben ihnen
ein Billiganbieter sein Geschäft eröffnet,
weil sie sich sagen: Meine Kunden gehen
da nicht hin, denn die wollen keine Fließbandabfertigung, sondern erwarten über
den Haarschnitt hinaus auch einen Service, eine Zeitung hier, ein Schwätzchen
dort. Die Friseurinnen und Friseure beherrschen ja nicht einfach nur ihr Handwerk,
ihre Technik. Vielmehr sind die Mitarbeiterinnen oft Ansprechpartnerinnen auch
in anderen Belangen. Viele Kundinnen
und Kunden entscheiden sich für einen bestimmten Salon, speziell deshalb, weil da
ihre Friseurin arbeitet. Da entstehen Vertrauensverhältnisse und persönliche Beziehungen. Betriebsinhaber/-innen leiden darunter, wenn eine tolle Kraft weggeht und
in der Regel ihre Kunden mitzieht. Will sagen: Eine hochwertige Leistung inklusive
Service kann man nicht für fünf Euro erbringen, aber diesen Service müssen die
Betriebe auch kommunizieren. Marketing wird deshalb eine immer wichtigere
Rolle spielen.“
Dazu hat sich etwa in Düsseldorf „Der
faire Salon“ konstituiert, eine Initiative
für das Friseurhandwerk. In dieser Wertegemeinschaft, heißt es in deren Selbstdarstellung, „haben sich aktuell 454 Friseurunternehmen aus ganz Deutschland
zusammengeschlossen und stellen im
Sinne einer neuen Wirtschaftsethik den
Menschen in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Sie folgen damit dem Kodex für Friseure in Europa, der unter Mitwirkung
der EU erarbeitet wurde – für ein besseres Miteinander zwischen Unternehmen,
Mitarbeitenden und Kundinnen und Kunden. Sie verpflichten sich bestimmte Kriterien einzuhalten: Fairness zu Kunden und
Mitarbeitern, ausreichende Behandlungszeit, ehrliche Beratung, ständige Weiterbildung und lebenslanges Lernen zuguns­
ten besserer Qualität, die ausschließliche
Verwendung ökologisch und dermatologisch geprüfter Produkte und – mit Blick
auf das Allgemeinwohl: Steuerehrlichkeit
und faire Löhne.“
Darüber hinaus gibt es – „aus Imagegründen“ – schon heute Initiativen einzelner Innungen, die gemeinsam mit den
örtlichen Arbeitsagenturen „Tage der offenen Tür“ als Benefizveranstaltungen
für arbeitslose Personen organisieren, die
sich nicht so leicht einen schicken Haarschnitt leisten können. Sie erhalten dann
kostenlos eine modische Frisur. Mit dabei
ist immer ein Fotograf, der den Arbeitslosen von den Veranstaltern finanzierte
professionelle Fotos liefert – für ihre Bewerbungsschreiben. „Vielleicht“, so Verbandschef Wilfried Petri, „bewirbt sich ja
aufgrund der neuen, attraktiveren Mindestlöhne die eine oder der andere von ihnen auch im Friseurhandwerk!“
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ARBEITSGESTALTUNG
FAIRE
ARBEIT, FAIRE LÖHNE
UND -SICHERUNG
Zur Entwicklung der Löhne und
des Niedriglohnsektors
Datenquellen im Vergleich
Foto: Stephanie Pilick (c) dpa
Das Institut Arbeit und Qualifikation an
der Universität Duisburg-Essen beziffert
mit der von ihm gewählten Berechnungsmethode die auf eine Arbeitsstunde bezogenen Niedrig-Stundenlohnschwellen 2010
auf 9,54 Euro West, 7,04 Euro Ost und 9,15
Euro Deutschland gesamt. Angaben aus verschiedenen aktuellen Studien zum Niedriglohnsektor aus den Jahren 2011 und 2012
wurden vom IAQ verglichen (IAQ: Datenquellen im Vergleich Mai 2013). Im Ergebnis zeigte sich ein Niedriglohnanteil zwischen 20,6 % und gut 23 %.
Trotz Wirtschaftswachstum und Abbau der Arbeitslosigkeit – seit 2005 von fast
5 Mio. auf heute unter 3 Mio. – stagnieren die Reallöhne bzw. sind in manchen Bereichen sogar rückläufig. Die Lohnspreizung zwischen den Branchen nimmt zu
und Niedriglöhne halten sich hartnäckig bzw. breiten sich sogar aus – vor allem
im Dienstleistungsbereich. Die G.I.B. hat am 25. April 2013 in Düsseldorf im Rahmen der Landesinitiative „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“ ein „Forum Lohn-
Das obige Ergebnis korrespondiert auch
mit Zahlen, die im Dezember 2012 von
Eurostat vorgelegt wurden. Danach weist
Deutschland mit 22,2 % einen im europäischen Vergleich hohen Niedriglohnanteil
auf (EU-Durchschnitt 17 %). Es wurden
Betriebe mit 10 und mehr Beschäftigten
einbezogen. In Ländern mit hoher Tarifbindung wie Dänemark, Finnland und
Schweden sind prozentual weitaus weniger Menschen unter Niedriglohnbedingungen beschäftigt.
die IAQ-Studie als auch auf weitere Veröffentlichungen.
Die OECD-Niedriglohnschwelle (2/3 des
Medians) ist in der international vergleichenden Diskussion ein gut eingeführtes
Modell und ein wichtiger Indikator für
Verteilungsgerechtigkeit – nicht mehr und
nicht weniger.
Die Niedriglohnschwelle wird meist nach
von der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(OECD) international angewendeten Kriterien errechnet. Demnach gilt das Bruttomonatsentgelt von sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten als Niedriglohn,
wenn es weniger als zwei Drittel des Medians aller erfassten Bruttomonatsent-
Die Grenze ihrer Aussagekraft kann aber
an folgender Überlegung verdeutlicht werden: Würden alle Löhne in einem Land verdoppelt, bliebe die Niedriglohnquote, der
Prozentsatz der Niedriglöhner, gleich. Die
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro in Deutschland würde weder die Niedriglohnschwelle noch die
Niedriglohnquote verändern.
entwicklung“ organisiert und das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen beauftragt, eine Studie zur Verdienstentwicklung in
Deutschland zu erstellen. Die folgenden Ausführungen stützen sich sowohl auf
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gelte von Vollzeitbeschäftigten beträgt.
Der Median für die Monatsverdienste in
Westdeutschland für 2011 wurde jüngst
auf 2.835 Euro beziffert und damit eine
(West-) Niedriglohnschwelle auf 1.890
Euro (Quelle: Bundesagentur für Arbeit).
Für NRW ergeben sich daraus 893.000
sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte unter der Niedriglohnschwelle.
G.I.B.INFO 4 13
ARBEITSGESTALTUNG
FAIRE ARBEIT,
UNDFAIRE
-SICHERUNG
LÖHNE
Aus diesem Grund müssen in der aktuellen politischen Debatte in Deutschland
um angemessene Mindestlöhne und Aufstockungsbedarfe auch andere Schwellenwerte betrachtet werden. Hier geht es um
die besonders problematischen, oft auch
bei Vollzeiterwerbstätigkeit nach SGB II
aufstockungsbedürftigen Entgelte unter 5
Euro, unter 6 Euro, unter 7 Euro und unter 8,50 Euro. Eine wichtige Frage ist, wie
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
unter diesen Schwellen liegen und demzufolge von einem gesetzlichen Mindestlohn
von z. B. 8,50 Euro profitieren würden.
Tarifverdienste: Dynamik lässt
nach
Die erste Unterscheidung muss zwischen
den Tarif- und den Effektivverdiensten
erfolgen. Die Tarifverdienste sind außerordentlich transparent. Sowohl das WSITarifarchiv als auch die Tarifregister des
Bundes und der Länder registrieren sämtliche in Deutschland geschlossenen Tarifverträge („Haustarifverträge“ zwischen
Gewerkschaften und einem Unternehmen
und „Flächentarifverträge“ zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden)
und werten diese aus. Das Tarifregister des
NRW-Arbeitsministeriums hat die Tariflohnentwicklung der 22 Jahre von 1990
bis 2012 in 50 Branchen des Landes untersucht. Was dabei auffällt, ist eine deutliche Verschlechterung im Zeitraum 2000
bis 2012.
In den Jahren 1990 bis 2000 war der
Zuwachs bei den preisbereinigten Tarifverdiensten noch zufriedenstellend. Es
gab nirgendwo Reallohnverluste und die
Beschäftigten konnten in den meisten
Bereichen am wachsenden Wohlstand
G.I.B.INFO 4 13
teilhaben. Die realen (preisbereinigten)
Steigerungsraten lagen in jenen Jahren
zwischen 37,0 Prozent (Einzelhandel) und
2,8 Prozent (Elektrohandwerk).
Im darauf folgenden Zeitraum von 2000
bis 2012 stiegen die preisbereinigten Tarifverdienste in NRW insgesamt nur um
bescheidene 4,9 %. Zum Vergleich: Nach
Angaben des WSI-Tarifarchivs (Quelle:
Böckler-Impuls 02/2013) lagen die preisbereinigten Tarifverdienste 2012 bundesweit um 6,9 % höher als 2000. NRW hat
gegenüber dem Bundesdurchschnitt Boden verloren. Nur wenige Branchen weisen in NRW nennenswerte Steigerungen
aus. Spitzenreiter ist die Metall- und Elektroindustrie mit einem realen Plus von
20,1 %. Es folgt die Nährmittelindustrie
mit insgesamt plus 13,9 % vor der Chemischen Industrie mit plus 13,5 %. Negativer Spitzenreiter ist das Augenoptikerhandwerk mit einem Minus von 11,4 %,
gefolgt vom Fleischerhandwerk mit einem
Minus von 9,3 %.
Effektivverdienste
Von den Tarifverdiensten kann nicht auf
alle tatsächlich gezahlten Löhne geschlossen werden. Dies liegt in erster Linie daran, dass die „Tarifbindung“, das heißt,
der Anteil der Beschäftigten, die in Betrieben mit einem Branchentarif arbeiten,
auf 53 % West und 36 % Ost gesunken
ist (Quelle: Peter Ellguth, Susanne Kohaut, Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung. Ergebnisse aus dem
IAB-Betriebspanel 2012. WSI-Mitteilungen 4/2013). Nicht tariflich gebundene Betriebe zahlen in aller Regel weniger als tariflich vereinbart. Aber wie
viel weniger?
Informationen zu den Effektivverdiensten
liefern:
• die Entgeltstatistik der Bundesagentur
für Arbeit als Vollerhebung aller sozialversicherungspflichtigen Entgelte. Die
gewonnenen Informationen sind überaus
präzise. Da den Meldungen der Betriebe
aber keine Arbeitszeitinformationen zugeordnet sind, können keine Stundenlöhne ermittelt werden. Die Erfassung der
Entgelte wird der Höhe nach auf dem
Niveau der Beitragsbemessungsgrenze
zur Rentenversicherung abgeschnitten,
derzeit 5.800 € pro Monat.
• d ie vierteljährlichen Verdiensterhebungen (VVE) und die in 4-jährigen
Abständen durchgeführten Verdienststrukturerhebungen (VSE) der amtlichen
Statistik (Statistisches Bundesamt und
statistische Landesämter). Dabei handelt es sich um Stichproben, bei denen
eine große, repräsentative Zahl von Betrieben die gesetzliche Verpflichtung erfüllt, Informationen über Verdienste und
Arbeitszeiten zu liefern. Bei der Zahl
von 40.000 (VVE) bzw. knapp 30.000
(VSE) teilnehmenden Betrieben sind die
Ergebnisse ebenfalls sehr genau. Ihre
Aussagekraft im unteren Stundenlohnbereich leidet aber unter der Einschränkung, dass Betriebe mit weniger als 10
Beschäftigten, bei denen im Allgemeinen stark unterdurchschnittlich bezahlt
wird, in den Stichproben nicht enthalten
sind. Dadurch wird der Niedriglohnbereich unterschätzt.
• die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung des Bundes (VGR). Die Daten der
VGR werden ihrerseits aus einer Vielzahl
von Daten zusammengefügt, vorrangig
39
ARBEITSGESTALTUNG
FAIRE
ARBEIT, FAIRE LÖHNE
UND -SICHERUNG
auch aus der VVR und der VSE. Somit
ist die VGR keine eigene Erhebung, wird
aber häufig in der wissenschaftlichen
Diskussion herangezogen. Die VGR-Definition der Bruttolöhne und -gehälter
ist sehr umfassend; sie enthält u. a. alle
Arten von Zuschlägen, vermögenswirksamen Leistungen, Fahrtkostenzuschüssen sowie Sachleistungen wie Dienstwagen. Da die VGR auch Angaben zur
Entwicklung der Arbeitsproduktivität
enthält, wird sie häufig herangezogen,
wenn es um die Gegenüberstellung von
Arbeitsproduktivität und Löhnen geht.
• das sozioökonomische Panel (SOEP),
eine jährlich durchgeführte Befragung
einer repräsentativen Auswahl von ca.
12.000 Haushalten mit ca. 21.000 Personen. Die Haushaltsmitglieder werden
nach einer Vielzahl von Tatbeständen befragt, die ihre Erwerbstätigkeit betreffen
– etwa danach, ob sie in Vollzeit, Teilzeit oder geringfügig beschäftigt sind,
in welchem Wirtschaftszweig sie tätig
sind oder wie viele Mitarbeiter/-innen
ihr Betrieb hat. Erfragt werden auch die
Wochenstunden sowie das monatliche
Erwerbseinkommen. Aus diesen beiden
Informationen werden die Stundenlöhne berechnet (Quelle: Karl Brenke und
Karl-Uwe Müller, Gesetzlicher Mindestlohn – kein verteilungspolitisches
Allheilmittel, DIW-Wochenbericht Nr.
39.2013, S. 5). Das SOEP ist als Datenbasis für Analysen der Lohnentwicklung
und insbesondere des Niedriglohnsektors gut eingeführt und unumstritten.
Bei tiefer gegliederten Auswertungen,
etwa nach einzelnen Bundesländern, einzelnen Branchen oder bestimmten Beschäftigtengruppen können die vorhandenen Fallzahlen eine kritische Schwelle
unterschreiten.
40
Wie haben sich die Effektivverdienste entwickelt?
Während bei den Tarifverdiensten immerhin ein leichtes Plus zu verzeichnen war,
gibt die Entwicklung der Effektivverdienste
Anlass zu großer Besorgnis. Der Reallohn­
index (preisbereinigte Bruttomonatsverdienste je Arbeitnehmer/-in – vor Steuern
und Sozialabgaben) ist im Zeitraum von
2000 bis 2012 gesunken: Bundesweit betrug der Rückgang in diesem 12-Jahreszeitraum 0,4 %, in NRW sogar 1,8 %.
Betrachtet man den Zeitraum von gut 20
Jahren zwischen 1991 und 2012, so ergibt
sich bundesweit immerhin noch ein bescheidener Zuwachs von 3,1 %, der aber
allein auf die noch etwas günstigere Entwicklung in der ersten Dekade zurückzuführen ist (Quelle: Statistisches Bundesamt,
Verdienste und Arbeitskosten, Reallohnindex und Nominallohnindex, Wiesbaden, 4.7.2013).
Zum Vergleich: Im Zeitraum von 1991 –
2011 stieg die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen um 22,7 % (Quelle: Statistisches Bundesamt, Pressemeldung Nr. 149
vom 30.4.2012). Von 2000 bis 2012 stieg
die Stundenproduktivität der Arbeitnehmer
dreimal so stark an wie die preisbereinigten
Bruttostundenlöhne (Quelle. Brenke und
Müller, DIW-Wochenbericht 39.2013).
Niedrige Stundenlöhne in NRW
nach der amtlichen Statistik
(VVE)
Während bisher SOEP die einzige Datenbasis darstellte, die eine Auswertung
von Niedriglöhnen auf Stundenlohnbasis ermöglichte, wurden auf dem „Forum
Lohnentwicklung“ von IT.NRW erstmals
Zahlen für Stundenlöhne in NRW aus der
vierteljährlichen Verdiensterhebung vorgelegt. Danach sind die untersten vier Stundenlohnstufen (<5, <6, <7 und <8 Euro) um
den Faktor 2 bis 5 schwächer besetzt als
nach SOEP. Unter 8,50 Euro liegen nach
SOEP 18,4 % (siehe Tab. 1) und nach VVE
11,5 % der Beschäftigten. Als vorläufige
Erklärung soll hier Folgendes zur Diskussion gestellt werden:
Während die im Rahmen von SOEP befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre tatsächliche Arbeitszeit angeben,
darunter auch die eventuell unentgeltlich
geleistete, wird im Rahmen der VVE die
tarifvertragliche oder arbeitsvertragliche
Arbeitszeit übermittelt. Dieser Unterschied
wirkt sich unmittelbar bei der Ermittlung
des Stundenlohns aus. Dass die vertraglich
vereinbarte und bezahlte Arbeitszeit unter
der tatsächlich anfallenden Arbeitszeit liegen kann, ist durch eine Vielzahl von Berichten aus dem Einzelhandel, dem Hotel- und
Gaststättengewerbe und der Gebäudereinigung bekannt. Bei Teilzeitbeschäftigten im
Einzelhandel fällt z. B. der Faktor „Vor- und
Nacharbeit“ besonders ins Gewicht. Bei
der Zimmer- und Flächenreinigung sind
Berichte über mengenmäßige Vorgaben
bekannt geworden, die innerhalb der vereinbarten und bezahlten Arbeitszeit nicht
erfüllt werden können. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass die VVE-Daten
Betriebe unter 10 Beschäftigten ausklammern und damit der Niedriglohnsektor unzureichend erfasst wird.
Niedriglohnbeschäftigung nach
effektiven Stundenlöhnen im
Zeitverlauf
Bei der Betrachtung der Niedriglohnbeschäftigung im Zeitverlauf müsste man verG.I.B.INFO 4 13
ARBEITSGESTALTUNG
FAIRE ARBEIT,
UNDFAIRE
-SICHERUNG
LÖHNE
muten, dass die Beschäftigten mit der allgemeinen Nominallohnentwicklung aus den
untersten Stundenlohnstufen „herauswachsen“. Dies wird von den Daten des sozioökonomischen Panel (SOEP) so nicht bestätigt. Der SOEP-Datensatz weist aus, dass
sich im Zeitverlauf am Anteil der Beschäftigten in den einzelnen Stundenlohnstufen
wenig geändert hat. Offenbar konnten die
Beschäftigten im untersten Einkommensbereich noch nicht einmal nominale Lohnsteigerungen verzeichnen. Sie haben heute
real um über 20 % geringere Verdienste
als noch Mitte der 1990er Jahre.
Geringfügige Beschäftigung als
Schwerpunkt des Niedriglohnbereichs unter 8,50 Euro pro Stunde
Bundesweit gibt es rund sieben Millionen
geringfügig Beschäftigte, in NRW 1,7 Millionen. Gestützt auf Zahlen aus der VSE
2006 haben Bosch und Weinkopf gezeigt
(Quelle: WSI-Mitteilungen 9/2011), dass
die „atypischen“ Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeit, befristete und geringfügige
Beschäftigung) ein viermal so hohes Niedriglohnrisiko (unter 9,85 Euro pro Stunde)
tragen als das Normalarbeitsverhältnis.
Tabelle 1: Anteil der Beschäftigten mit niedrigen Stundenlöhnen im Zeitverlauf (abhängig Beschäftigte,
inkl. Teilzeit und Minijobs, in %), NRW
1996 – 1999
2000 – 2003
2007
2008 – 2011
2011
Unter 5€
5,2 %
5,5 %
4,2 %
4,9 %
4,6 %
Unter 6€
8,2 %
7,9 %
6,3 %
8,2 %
7,7 %
Unter 7€
11,0 %
11,3 %
9,0 %
12,0 %
12,5 %
Unter 8€
15,2 %
15,7 %
12,7 %
16,3 %
18,1 %
Unter 8,50€
17,5 %
18,1 %
18,4 %
20,4 %
19,1 %
23,2 %
25,4 %
Unter Niedriglohnschwelle
Quelle: IAQ Dezember 2008 und Februar 2013
Tabelle 2: Niedriglohn nach Arbeitsvertragsform in NRW
Personengruppen
Vollzeit
Anteil an
allen in %
Anteil an allen mit
< 8,50 in %
69,3
25,1
< 8,50 Anteil in Gruppe
in %
4,2
Wertet man die aktuellen vierteljährlichen
Verdiensterhebungen (VVE) für NRW aus
und legt die Schwelle bei 8,50 Euro pro
Stunde an, so ist das Ergebnis noch extremer: Während nur 4,2 % der Vollzeitbeschäftigten weniger als 8,50 Euro verdienen, sind es 64,2 % der geringfügig
Beschäftigten in NRW, die unter dieser
Schwelle liegen (siehe Tab. 2).
Bei rechtskonformer Gestaltung von Minijobs, vor allem bei Beachtung des Prinzips
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, wäre
diese Arbeitsvertragsform für den Arbeitgeber teurer als sozialversicherungspflichtige Arbeit. Es rechnet sich nur, wenn die
Vergütung drastisch abgesenkt wird – mit
allen negativen Konsequenzen für das betriebliche Lohngefüge.
Derzeit ist absehbar, dass in der gegenwärtigen 18. Legislaturperiode des Deutschen
Bundestags ein gesetzlicher Mindestlohn
in der einen oder anderen Form eingeführt
wird. Von dessen Höhe, Differenzierung,
und vielleicht stufenweiser Einführung
wird es abhängen, wie schnell und nachhaltig die Fehlentwicklungen im unteren
Lohnbereich abgemildert werden. Die Lösung des Problems ist davon nicht zu erwarten. Dazu bedarf es weiterer Re-Regulierung, wie zum Beispiel bei den Minijobs,
der Leiharbeit und den Werkverträgen.
davon Frauen
20,0
10,7
6,1
Männer
49,3
14,4
3,4
20,6
18,4
10,2
davon Frauen
17,4
13,0
8,5
Männer
3,2
5,4
19,3
10,1
65,5
64,2
40468 Düsseldorf
davon Frauen
6,4
36,5
65,6
Tel.: 0211 4229025
Männer
3,7
20,0
61,8
E-Mail: karl.feldengut@gmx.net
Teilzeit
Geringfügig Beschäftigte
AUTOR
Karl Feldengut
Wilseder Weg 40
Quelle: VVE; Präsentation Lars Stegenwaller, Forum Lohnentwicklung 25.4.2013
Lesehilfe: Geringfügig Beschäftigte machen 10,1 % der Gesamtzahl der Beschäftigten aus, aber 65,5 % aller
Beschäftigten mit weniger als 8,50 Euro pro Stunde. 64,2 % der geringfügig Beschäftigten verdienen weniger
als 8,50 Euro pro Stunde.
G.I.B.INFO 4 13
41
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
„Die Gesellschaft muss sich verständigen,
was ein angemessener Lohn ist“
Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns war bei den Koalitionsverhandlungen eine der strittigsten
Fragen. Zum 1. Januar 2015 wird nun ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet eingeführt. Es wird Ausnahmen geben, auch Übergangsfristen.
Aber spätestens zum Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeschränkt. Warum das Thema in Deutschland so kontrovers diskutiert wurde und wie andere europäische Länder den Mindestlohn regeln, darüber sprach die G.I.B. mit dem Tarifexperten Dr. Thorsten Schulten vom Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung. Schulten ist Referent für Arbeits- und
Tarifpolitik in Europa und Mitglied der Kommission, die die NRW-Landesregierung beim Mindestlohn für
die öffentliche Auftragsvergabe berät.
G.I.B.: Von 28 EU-Staaten haben 21 einen gesetzlichen Mindestlohn. Deutschland gehörte bis vor
Kurzem noch nicht dazu. Können Sie die Situation
der Mindestlohnsicherung im europäischen Kontext
für uns einordnen?
Dr. Thorsten Schulten: Die sieben EU-Staaten ohne
allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn sind die skandinavischen Länder, Österreich, Italien und Zypern –
und eben Deutschland. Diese Länder haben zumeist
ein relativ gut entwickeltes Tarifvertragssystem, zwi-
Das Tarifsystem erodiert in vielen Branchen,
mit dem Ergebnis, dass es immer weniger
Tarifverträge gibt oder diese nicht mehr
erneuert werden.
schen 80 und 90 Prozent der Beschäftigten unterliegen hier Tarifverträgen und die Mindestlohnsicherung funktioniert dementsprechend weitgehend
über die Tarifverträge. In Deutschland sind hingegen die einst hohen Tarifbindungsraten seit Anfang
der 1990er Jahre kontinuierlich zurückgegangen. Das
Tarifsystem erodiert in vielen Branchen, mit dem Ergebnis, dass es immer weniger Tarifverträge gibt oder
diese nicht mehr erneuert werden. Das ist der Hintergrund der Mindestlohndebatte in Deutschland.
Mittlerweile werden weniger als 60 Prozent der Beschäftigten in Deutschland durch einen Tarifvertrag
erfasst. Das heißt, ein großer Teil fällt durch das System, und zwar vor allem in den Branchen, die zum
klassischen Niedriglohnsektor gehören. Die Daten
42
zeigen deutlich: Je niedriger das Einkommen, desto
unwahrscheinlicher ist es, dass für die Beschäftigten
ein Tarifvertrag gilt.
In Europa reichen die Tarifbindungsraten von 95 Prozent in Österreich bis hin zu unter 20 Prozent in einigen osteuropäischen Ländern. Deutschland liegt damit unter 60 Prozent etwa in der Mitte. Wenn man
aber Osteuropa außer Acht lässt und sich nur Westeuropa und die alte EU anschaut, befindet sich Deutschland ganz unten auf der Skala und wird nur noch von
Großbritannien untertroffen. Dort ist die Tarifbindung
schon in den 1980er Jahren unter Margret Thatcher
in den Keller gegangen. Ganze Flächentarifverträge
sind zerschlagen worden und Tarife werden fast nur
noch dezentral verhandelt. Also abgesehen vom Sonderfall Großbritannien und eben Deutschland haben
die meisten westeuropäischen Länder zumindest bis
zum Ausbruch der Krise 2008/2009 relativ stabile
Systeme und eine hohe Tarifbindung um die 80 bis
90 Prozent. Warum ist das so?
In Skandinavien liegt das an einem sehr hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. In anderen
Ländern wie den Niederlanden oder Frankreich,
wo der Organisationsgrad ähnlich niedrig wie in
Deutschland oder sogar niedriger ist, greifen staatliche Formen der Unterstützung, insbesondere über
das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung,
kurz AVE. In den Niederlanden wird zum Beispiel
so gut wie jeder relevante Branchentarifvertrag für
allgemein verbindlich erklärt, und zwar nicht nur
für die untersten Lohngruppen, sondern für die gesamte Lohntabelle. Auch die Arbeitgeber unterstütG.I.B.INFO 4 13
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
Dr. Thorsten Schulten, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung
zen diese Form der Tariffestlegung, weil AVE eine
verlässliche Wettbewerbsordnung schaffen und garantieren, dass Konkurrenten die gleichen Lohnsätze zahlen müssen. Irrationale Formen der Konkurrenz, wo die Lohnspirale immer weiter nach unten
geht, werden so effektiv verhindert.
G.I.B.: Wie kommt es, dass sich Arbeitgeber in den
Niederlanden beim Thema AVE so anders verhalten
als in Deutschland?
Dr. Thorsten Schulten: Es sind eher die deutschen Arbeitgeber, die in Europa die Ausnahme bilden. Insbesondere der Dachverband, die Bundesvereinigung der
deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), hat eine sehr
starre ideologische Position und lässt die AVE nur als
absolutes Ausnahmeinstrument gelten, obwohl es ja
durchaus Branchen gibt, die dem weniger reserviert
gegenüberstehen. Erklären lässt sich das auch dadurch,
dass die BDA sehr stark von exportorientierten Branchen dominiert ist. Für binnenorientierte Branchen
hat die AVE natürlich eine viel wichtigere Ordnungsfunktion als für Unternehmen, die sich um den globalen Wettbewerb kümmern müssen.
G.I.B.: Eine zentrale Frage bei der Einführung eines
Mindestlohns ist die Höhe. Was können wir da von
den europäischen Nachbarn lernen?
Dr. Thorsten Schulten: Die Höhe des Mindestlohns ist
in Europa sehr unterschiedlich und spiegelt das allgemeine Lohn- und wirtschaftliche Entwicklungsniveau
der Länder wider. Eine Orientierung bieten Länder, die
vom Niveau vergleichbar mit Deutschland sind, also
etwa Frankreich und die Beneluxstaaten. Dort liegen
die Mindestlöhne derzeit bei 9 bis 9,50 Euro. Warum
sollte das nicht auch in Deutschland möglich sein? Andere Länder haben ein deutlich niedrigeres Niveau. In
Südeuropa bewegt sich der Mindestlohn zwischen 3
und 4,50 Euro, in Osteuropa zwischen 1 und 2 Euro,
aber das ist ja nicht mit Deutschland vergleichbar.
G.I.B.: Was sind für Sie Kriterien, um eine angemessene Lohnuntergrenze festzulegen?
Dr. Thorsten Schulten: Ein Mindestlohn muss aus meiner Sicht die Existenzsicherung für einen ArbeitnehG.I.B.INFO 4 13
mer gewährleisten. Weitere Aufstockungsleistungen
sollten nicht mehr notwendig sein. Natürlich gibt es
da regionale Unterschiede, weil auch die Kosten für
die Unterkunft regional verschieden sind. Für Düsseldorf haben wir einen Stundenlohn von 9,40 Euro
ausgerechnet. Das ist für mich eine adäquate Untergrenze. Das Kriterium der Existenzsicherung lässt
sich natürlich auch auf die Rente ausweiten: Was
müsste jemand verdienen, um nach 45 Jahren eine
Auch die Arbeitgeber unterstützen
Allgemeinverbindlicherklärungen, weil sie
eine verlässliche Wettbewerbsordnung
schaffen und garantieren, dass Konkurrenten
die gleichen Lohnsätze zahlen müssen.
Rente oberhalb der Grundsicherung zu erhalten? Da
liegen wir dann schon bei einem Mindestlohn oberhalb von 10 Euro. Nimmt man die Europäische Sozialcharta, die in Artikel 4 ein Recht auf ein faires
Entgelt garantiert, wäre man sogar bei 12 Euro. Die
Gewerkschaften fordern 8,50 Euro. Das ist als Einstieg denkbar, um den Unternehmen erst einmal Möglichkeiten für eine Anpassung zu geben. 8,50 Euro
ist aber immer noch ein Armutslohn. Ein existenzsichernder Mindestlohn geht in Richtung 9,50 bis 10
Euro. Bei dieser Marge befände sich Deutschland im
Einklang mit anderen westeuropäischen Partnern, insofern scheint mir das sinnvoll.
G.I.B.: Wie einigen sich andere europäische Länder
auf einen Mindestlohn?
Dr. Thorsten Schulten: Idealtypisch gibt es vier Modelle, wobei auch Mischformen existieren. Das einfachste
Modell ist, die Regierung setzt den Mindestlohn fest,
wie in den USA. Das ist eher untypisch in Europa, hat
sich jetzt aber in der Krise zum Beispiel in Griechenland
etabliert. Der Regelfall in Europa sind Verhandlungsmodelle. In Belgien zum Beispiel handeln Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände einen Mindestlohn aus.
43
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
In einigen osteuropäischen Ländern kommt der Staat
als dritter Verhandlungspartner hinzu. Gibt es keine
Einigung, legt die Regierung den Mindestlohn fest.
Eine dritte Form sind mehr oder weniger ausgeprägte
institutionelle Konsultationen, also Kommissionen,
die Empfehlungen abgeben. In Frankreich ist das zum
Die „Low Pay Commission“ aus Arbeitgebern,
Gewerkschaften und Wissenschaftlern
unterbreitet der Regierung einen Vorschlag,
wie der Mindestlohn anzuheben ist, und die
Regierung folgt dem in der Regel auch.
Beispiel die Nationale Tarifkommission, für die deutsche Debatte interessant ist das britische Modell mit
der „Low Pay Commission“. Diese Kommission aus
Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissenschaftlern
unterbreitet der Regierung einen Vorschlag, wie der
Mindestlohn anzuheben ist, und die Regierung folgt
dem in der Regel auch.
Darüber hinaus gibt es insbesondere in den Beneluxländern, Frankreich und Slowenien zusätzlich eine Indexierung der Mindestlöhne. Das ist eine garantierte
automatische Mindestanpassung an die Preissteigerung, an die durchschnittlichen Tariflöhne oder eine
Mischung aus beidem. Die Politik hat dabei Spielraum
nach oben, kann also noch höher gehen. In den Niederlanden gibt es auch den umgekehrten Fall, da kann
die Regierung in Krisensituationen die Mindestanpassung aussetzen, und das ist auch schon passiert.
G.I.B.: Welches Modell bietet sich für Deutschland an?
Dr. Thorsten Schulten: In der aktuellen Debatte konkurrieren folgende Positionen: Die CDU schlägt eine
Lohnuntergrenze vor, die in einer Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften ohne Beteiligung der
Politik vereinbart und festgelegt wird. Diese Lohnuntergrenze soll weiter differenziert werden können nach
44
Regionen, Branchen, Berufsgruppen, Altersgruppen
etc. und nur dort gelten, wo es bislang keine Tarifverträge gibt. Dass sich dieser Vorschlag durchsetzt,
halte ich für unwahrscheinlich. Die Vorstellungen
von SPD, Grünen und teilweise auch der Linken orientieren sich am britischen Modell, also der Low Pay
Commission. Allerdings soll das Ergebnis der Kommission nicht verbindlich sein, sondern nur eine Empfehlung. Die Entscheidung fällt am Ende die Politik.
Ein möglicher Kompromiss ist das Modell, das die
thüringische Landesregierung 2012 in den Bundesrat
eingebracht hat. Auch hier verhandelt eine Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften die Höhe
des Mindestlohns, die Politik hat keinen Einfluss. Im
Unterschied zum CDU-Modell soll der Mindestlohn
flächendeckend für ganz Deutschland und alle Branchen gelten. Charmant ist dabei, dass sich SPD und
CDU in der großen Koalition in Thüringen schon auf
diesen Vorschlag geeinigt haben. Ich sehe allerdings
zwei Probleme: Zuerst, welches Interesse sollten Arbeitgeber in dieser Kommission haben, einen Mindestlohn auszuhandeln, wo sie das doch für Teufelszeug halten? Kommt es zu keiner Einigung, soll ein
Schlichter entscheiden. Das heißt, in diesem gar nicht
so unwahrscheinlichen Fall hängt die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland von einer einzigen Schlichterperson ab. Das finde ich abenteuerlich.
G.I.B.: Was für ein Modell würden Sie denn favorisieren?
Dr. Thorsten Schulten: Ich finde es sinnvoll, Gewerkschaften, Arbeitgeber und vielleicht auch Wissenschaftler mit einzubeziehen, würde so eine Kommission aber
auch nicht überhöhen. Jede einzelne Gruppe ist von
Interessen geleitet, selbst die Wissenschaftler sind in
ihrem eigenen Modelldenken gefangen. In Großbritannien funktioniert die Low Pay Commission, weil
die beteiligten Wissenschaftler gegenüber dem Mindestlohn aufgeschlossen sind. In Deutschland lehnt
ihn dagegen ein Großteil der Ökonomen immer noch
vehement ab. Wichtiger als die Zusammensetzung einer Kommission ist für mich, dass die Politik den Mindestlohn am Ende entscheidet und verantwortet. Ein
G.I.B.INFO 4 13
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
gesetzlicher Mindestlohn ist eben etwas anderes als
ein Tariflohn, er greift vor allem da, wo Tarifverträge nicht funktionieren oder zu niedrig ansetzen. Für
wichtig halte ich außerdem eine gesellschaftliche Debatte und Verständigung über die Frage, was ein angemessener Lohn ist. Das sollte nicht in irgendwelchen
Hinterzimmern ausgehandelt werden. Auch eine Mindestanpassung durch eine Indexierung an die Preisund Lohnentwicklung finde ich sinnvoll.
G.I.B.: Sie sind beteiligt an dem beratenden Ausschuss,
der nach dem Tariftreuegesetz in NRW jährlich einen
Vorschlag zur Anpassung des Mindestlohns unterbreiten soll. Welche Erfahrungen haben Sie in NRW
bei den Verhandlungen über einen Mindestlohn für
die öffentliche Auftragsvergabe gemacht?
Dr. Thorsten Schulten: In NRW gibt es eine paritätisch
besetzte Kommission mit Gewerkschaftsvertreterinnen
und -vertretern und Arbeitgebern unter dem Vorsitz
des Landesschlichters. Im Jahr 2012 hat die Landesregierung in NRW bei der Verabschiedung des neuen
Vergabegesetzes einen vergabespezifischen Mindestlohn von 8,62 Euro festgelegt. Das heißt, das muss ein
Unternehmer seinen Beschäftigten mindestens zahlen,
wenn er einen öffentlichen Auftrag in NRW haben will.
Der Maßstab für den Mindestlohn war die unterste
Lohnstufe im Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes
der Länder (TV-L), das waren damals 8,62 Euro. So
kam diese krumme Zahl zustande. Der TV-L ist inzwischen erhöht worden und liegt ab dem 1. Januar
2014 in der untersten Lohngruppe bei 9,08 Euro. Das
ist jetzt auch unsere Empfehlung für eine Anpassung,
die Anfang des kommenden Jahres erfolgen soll. Die
Erfahrungen bei den Verhandlungen zeigen aber, dass
die Arbeitgeber in der Kommission eigentlich gar keine Anhebung des Mindestlohns wollen. Jetzt muss der
Minister über die Anpassung entscheiden.
G.I.B.: Was passiert denn mit den Landesinitiativen
für vergabespezifische Mindestlöhne, wenn ein flächendeckender Mindestlohn kommt?
Dr. Thorsten Schulten: Ich sehe keinen Grund, von
heute auf morgen die unterschiedlichen Landesinitiativen zu beenden. Und warum nicht auch das ArguG.I.B.INFO 4 13
ment der Differenzierung mal von der anderen Seite
nehmen? Ein Land wie NRW könnte doch auch sagen, wir können auf der Grundlage eines allgemeinen
Mindestlohns noch ein bisschen mehr möglich machen. Da ist der Blick nach Großbritannien interessant. Dort gibt es einen relativ niedrigen allgemeinen
Mindestlohn, auf kommunaler und regionaler Ebene
kommen aber immer mehr Living-Wage-Regelungen
hinzu, die die regionalen Lebenshaltungskosten berücksichtigen. Je nach Standort liegt der Mindestlohn
dann höher. Ich denke, dass Deutschland schon eine
einheitliche Lohnuntergrenze braucht, aber das Argument, dass die Lebenshaltungskosten regional sehr unterschiedlich sind, ist auch nicht ganz von der Hand
zu weisen. Eine gewisse Flexibilität wäre da sinnvoll.
G.I.B.: Welche Probleme auf dem Weg zu auskömmlichen Löhnen lassen sich überhaupt mit einem gesetzlichen Mindestlohn lösen und welche Rolle hat
die AVE in diesem Zusammenhang?
Dr. Thorsten Schulten: Der Mindestlohn ist in der Tat
nur ein Instrument, um die schlimmsten Bedingungen
aufzufangen, aber kein Ersatz für ein gut funktionie-
Ein Land wie NRW könnte doch auch sagen,
wir können auf der Grundlage eines
allgemeinen Mindestlohns noch ein bisschen
mehr möglich machen.
rendes Tarifvertragssystem. Es gibt im Gegenteil ja auch
Befürchtungen, dass ein Mindestlohn das Lohnniveau
nach unten ziehen kann, gerade in Bereichen, die nur
knapp über dem angedachten Mindestlohn liegen. Der
gesetzliche Mindestlohn war übrigens auch bei den Gewerkschaften anfänglich umstritten. Die Dienstleistungsgewerkschaften waren dafür, die Industriegewerkschaften mit Verweis auf die Tarifautonomie eher reserviert.
Der DGB hat sich 2006 beim Bundeskongress dann auf
den Kompromiss geeinigt, nicht nur einen gesetzlichen
Mindestlohn zu fordern, sondern auch die Ausweitung
der AVE, um das Tarifvertragssystem zu stabilisieren.
45
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
In der gewerkschaftlichen Debatte werden beide Dinge
zusammen gedacht und das halte ich für sinnvoll. Zum
Selbstverständnis der sozialen Marktwirtschaft gehört
die Tarifautonomie, aber die funktioniert eben in vielen
Bereichen nicht mehr. Eine Lohnuntergrenze einzuführen ist ein wichtiger Punkt, aber das alleine reicht nicht
aus. Die Gewerkschaften sind gefordert, wieder mehr
Mitglieder zu organisieren, aber auch die Politik hätte
beim Thema AVE Möglichkeiten, das Tarifsystem zu
stabilisieren, zum Beispiel indem das jetzige, doch sehr
komplizierte Verfahren reformiert wird.
G.I.B.: Welche konkreten Reformschritte könnten das
sein?
Dr. Thorsten Schulten: Ein Kernpunkt ist das relativ
hohe Quorum. Ein Tarifvertrag kann nur für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn die tarifgebundenen Unternehmen mehr als 50 Prozent der Beschäftigten einer Branche repräsentieren. Aber eigentlich
ist es ja widersinnig, dass die AVE gerade dann nicht
greift, wenn die Tarifbindung zurückgeht und die AVE
sozusagen am nötigsten ist. Natürlich muss man nicht
jeden Minderheitentarif allgemeinverbindlich machen,
Eine Lohnuntergrenze einzuführen ist ein
wichtiger Punkt, aber das alleine reicht nicht
aus. Die Gewerkschaften sind gefordert,
wieder mehr Mitglieder zu organisieren.
Ein wichtiger Reformschritt wäre auch, die Zusammensetzung des Tarifausschusses zu ändern, also neben dem Spitzenverband auch einen Vertreter der jeweiligen Branche zu beteiligen. Dann hätte man nicht
mehr die Situation, dass die BDA mit ihrer ablehnenden Haltung alles blockiert und damit gegen eigene
Branchen entscheidet.
G.I.B.: Wie sehen Sie die Chancen für einen gesetzlichen Mindestlohn?
Dr. Thorsten Schulten: Ich bin sehr optimistisch, dass
Deutschland diesen Schritt geht, nach mehr als zehn
Jahren, die die Debatte nun schon dauert. Für mich ist
die Frage nicht mehr, ob wir einen Mindestlohn bekommen, sondern wie er gestaltet wird. Einigen sich
die Beteiligten auf ein gutes, wirksames und weitreichendes Modell? Oder gibt es nur einen halbherzigen
Kompromiss, ohne vernünftigen Lohn und vernünftige Anpassungen, wo dann doch wieder viele Leute durchfallen. Aber dass es einen Mindestlohn geben wird, davon bin ich überzeugt. Da sind wir auf
der Zielgeraden.
DAS INTERVIEW FÜHRTEN
Manfred Keuler
Tel.: 02041 767-152
E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de
Arnold Kratz
Tel.: 02041 767-209
E-Mail: a.kratz@gib.nrw.de
KONTAKT
aber es gibt auf europäischer Ebene interessante Beispiele, an denen man sich orientieren könnte. In einigen südeuropäischen Ländern ist nicht die Tarifquote entscheidend, sondern die Frage: Wie repräsentativ
sind die dahinter stehenden Organisationen der Gewerkschaften und Arbeitgeber? Welche übergeordnete
Bedeutung haben sie?
46
Dr. Thorsten Schulten
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches
Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung
Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf
Tel.: 0211 7778239
E-Mail: thorsten-schulten@boeckler.de
G.I.B.INFO 4 13
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
„Kein Wettbewerb über den Lohn!“
Nordrhein-Westfalen ist das einzige Bundesland mit der Institution eines Landesschlichters. Er wird als
unparteiischer und neutraler Moderator und Schlichter dann aktiv, wenn es die Sozialpartner oder die Betriebsparteien gemeinsam wünschen. Durch das Bestellen des Landesschlichters können Arbeitsniederlegungen und Streiks begrenzt oder vermieden werden. Standen im Aufgabenprofil des Landesschlichters früher Schlichtungen bei Branchentarifauseinandersetzungen im Vordergrund, hat sich die Schlichtungs- bzw.
Moderationstätigkeit mittlerweile stärker auf die betriebliche Ebene verlagert. Zum weiteren Aufgabenspektrum des Landesschlichters zählen der Vorsitz des Tarifausschusses NRW, Maßnahmen der regionalen
Wirtschaftsförderung sowie die Leitung des Tarifregisters NRW. Darin werden sämtliche in NRW gültige
Tarifverträge gesammelt. Jedes Jahr kommen rund 1.700 neue Tarifverträge hinzu. Jeden Tag informieren
sich bis zu 2.000 Besucherinnen und Besucher auf der Internetseite des Tarifregisters: Beschäftigte, Arbeitgeber und Institutionen. Aktueller Landesschlichter in NRW ist, seit 15 Jahren, LMR Bernhard Pollmeyer.
G.I.B.: Herr Pollmeyer, einen Landesschlichter gibt
es nur in NRW. Warum eigentlich?
Bernhard Pollmeyer: Rechtsgrundlage des Landesschlichters ist das Kontrollratsgesetz der Alliierten
von 1946. In NRW hatten wir seitdem erst drei Landesschlichter. Die große Kontinuität im Amt beweist,
dass Landesschlichter bei den Sozialpartnern großes
Vertrauen besitzen, die deshalb auf einen Fortbestand
dieser Institution drängen. Die hohe Akzeptanz des
Landesschlichters hat ihren Grund, denn im Vorfeld
seiner Benennung durch den Arbeitsminister werden
Arbeitgeber und Gewerkschaften konsultiert. Zudem
müssen wir überparteilich sein und die Parteien zusammenführen. Gelingt uns das, werden wir auch nachgefragt. Die Institution des Landesschlichters ist aber
auch Ausdruck davon, dass wir das Land der Tarifverträge und das Land der sozialen Mitbestimmung sind.
G.I.B.: Wie funktioniert Ihre „Shuttle-Diplomatie“
zwischen den Sozialpartnern? Was sind Ihre Aufgaben?
Bernhard Pollmeyer: Schlichtung basiert auf Freiwilligkeit. Das heißt: Beide Parteien müssen eine Schlichtung wollen. Mal werde ich von den Arbeitgebern angesprochen, mal von den Gewerkschaften. Mitunter
aber gehe ich auch von mir aus auf die Akteure zu.
Etwa dann, wenn es bei einem Streik keine Weiterentwicklung, sondern einen Stillstand gibt. Manchmal aber kommt ein Erstkontakt auch über die Politik zustande, indem etwa die Ministerpräsidentin
angesprochen wird und Arbeitskonflikte dann „zu-
G.I.B.INFO 4 13
ständigkeitshalber“ an mich weitergeleitet werden.
Zu meinen Aufgaben gehört primär die Schlichtung
von Tarifkonflikten, also Firmen-, Branchen- und
Sanierungstarifverträge. Zu meinen weiteren Aufgaben gehört die Moderation von Betriebskonflikten im
Vorfeld teurer Arbeitsgerichtsverfahren sowie von Einigungsstellen, deren Vorsitz ich mitunter auch selbst
übernehme. Weiterhin bin ich zuständig für die sogenannten vermittelnden Gespräche zwischen den Gewerkschaften und den Geschäftsführungen der Betriebe, zum Beispiel bei Maßnahmen der regionalen
Wirtschaftsförderung, wenn es um Investitionszuschüsse oder um Landesbürgschaften geht oder wenn die
Gewerkschaften vermuten, dass gegen Arbeitnehmerrechte verstoßen wird.
Die große Kontinuität im Amt beweist, dass
Landesschlichter bei den Sozialpartnern
großes Vertrauen besitzen, die deshalb auf
einen Fortbestand dieser Institution drängen.
Hinzu kommt, dass ich den Vorsitz im Tarifausschuss
NRW für die Allgemeinverbindlichkeitserklärungen
(AVE) von Tarifverträgen innehabe sowie die Geschäftsführung für die beratenden Ausschüsse nach
dem Tariftreuegesetz in NRW, das am 1. Mai 2012
in Kraft getreten ist. Es sorgt dafür, dass es bei der
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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
LMR Bernhard Pollmeyer,
Landesschlichter NRW und Leiter
des Tarifregisters NRW
Vergabe öffentlicher Aufträge nicht zu Lohndumping und Schmutzkonkurrenz zwischen den Wettbewerbern kommt, sondern die vorgegebenen 8,62
Euro tatsächlich gezahlt werden, eine Summe, über
deren Anpassung eine paritätisch aus Arbeitgebern
und Gewerkschaften zusammengesetzte Kommission jährlich neu diskutiert. Neben der Geschäftsführung hier habe ich auch die Geschäftsführung bei
dem paritätisch besetzten Ausschuss, der die repräsentativen Tarifverträge im öffentlichen Personennahverkehr festlegt. Hinzu kommt noch die Leitung
des Tarifregisters NRW.
G.I.B.: Gerade in dieser Funktion dürften Sie den
Überblick darüber haben, in welchen Branchen schon
lange kein neuer Tarifvertrag mehr abgeschlossen
worden ist? Wo sind die weißen Flecken, wo wären
Neuregulierungen besonders nötig?
Bernhard Pollmeyer: Tatsächlich gibt es Wirtschaftszweige, in denen es noch nie eine Tarifbindung gegeben hat, und andere, in denen Tarifparteien schon lange nichts Neues mehr ausgehandelt haben, – so etwa
im Taxigewerbe, in der Freizeit- und Wellness-Industrie, die sich bisher noch gar nicht richtig organisiert
hat, also Freizeitparks, Kinos, Fitnesscenter, Kosme-
Wir verzeichnen tatsächlich einen Trend
weg von den klassischen Branchentarifvertragsschlichtungen hin zur
betrieblichen Ebene.
tik und Sonnenstudios, Videotheken sowie Arbeiten
bei Sportanlagen – ein Bereich ohne jegliche Tarifbindung. Auch im Berufsfeld der Augenoptiker gibt
es seit vielen Jahren keinen neuen Branchentarifvertrag. Gleiches gilt für Zahntechnikerwerkstätten, die
Fleischwarenindustrie und die Callcenter, wo lediglich vereinzelte Firmentarifverträge zu finden sind.
Aber genauso besorgniserregend sind die zurückgehende Tarifbindung sowie die Erosionen in Bereichen,
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in denen zwar noch ein Tarifvertrag besteht, der aber
immer weniger Anwendung findet, wo also die Tarifverbindlichkeit schrumpft.
G.I.B.: Gibt es hinsichtlich der rückläufigen Tarifbindung Unterschiede zwischen NRW und dem Rest
der Republik?
Bernhard Pollmeyer: Ja! Die Tarifbindung – festgemacht an der Zahl der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben – ist in NRW in den letzten zehn
Jahren leider von 72 auf 64 Prozent zurückgegangen,
während sie in Westdeutschland in diesem Zeitraum
sogar von 70 auf nunmehr 60 Prozent gesunken ist.
Nachdem wir in NRW 2011 schon mal bei 63 Prozent
lagen, könnte man bei gegenwärtig 64 Prozent von einer gewissen Stabilisierung sprechen, doch insgesamt
ist es eine problematische Entwicklung.
G.I.B.: Können Sie den Eindruck bestätigen, dass es
eine Entwicklung weg von tariflichen hin zu betrieblichen Konflikten gibt?
Bernhard Pollmeyer: Ja, wir verzeichnen tatsächlich
einen Trend weg von den klassischen Branchentarifvertragsschlichtungen hin zur betrieblichen Ebene. Das
betrifft auch Sanierungsbetriebsverträge in Unternehmen, die sich in wirtschaftlicher Notlage befinden und
wo es darum geht, Arbeitnehmerverzichte auszuhandeln, um Investitionen zu ermöglichen und Arbeitsplätze am Standort zu erhalten, gleichzeitig aber auch
zu klären, wie diese Arbeitnehmerbeiträge bei verbesserter wirtschaftlicher Situation des Unternehmens
wieder zurückfließen. Auf der anderen Seite stelle ich
fest, dass im Zuge des zunehmenden Fachkräftebedarfs das Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer/-innen gerade in KMU wieder wächst und die Konflikte
um Einkommens- und Arbeitsbedingungen vor allem
in den Bereichen zunehmen, in denen staatliche Aufgaben privatisiert worden sind, wie zum Beispiel in
Krankenhäusern, an Flughäfen oder im öffentlichen
Personennahverkehr.
G.I.B.: Ihre erfolgreiche Schlichtung des Konflikts an
Flughäfen in diesem Jahr fand ein starkes Medienecho.
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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
Bernhard Pollmeyer: Ja, das war die Schlichtung eines
intensiven Arbeitskampfs mit gravierenden Auswirkungen an den Flughäfen Köln, Düsseldorf und Hamburg. Die Arbeitgeber kamen zunächst auf mich zu,
doch schließlich hat auch ver.di der Schlichtung zugestimmt. Im Frühjahr haben wir einen neuen Tarifvertrag nicht nur für die Fluggastkontrolleure verhandelt
und eine Verständigung für den privaten Sicherheitsdienstleistungsbereich in NRW mit 35.000 Beschäftigten erzielt, sondern im Anschluss daran auch für
die Fluggastkontrolleure in Hamburg. Offen gestanden bin ich stolz darauf, dass wir ab 1. Januar im Sicherheitsgewerbe in NRW als untersten Lohn neun
Euro für Objektschutzmitarbeiter/-innen aushandeln
konnten. Die Schlichtung bei diesem neuen Flächentarifvertrag, der für allgemeinverbindlich erklärt worden ist, war wirklich eine sehr schwierige Auseinandersetzung.
Eine weitere interessante Schlichtung – diesmal nicht
auf Branchen-, sondern auf betrieblicher Ebene – ist
die für eine Servicegesellschaft für Krankenhäuser
im Kreis Lippe mit mehr als 300 Beschäftigten. Dort
ging es um einen Firmentarifvertrag in einem Unternehmen, das die Reinigungsarbeit in Krankenhäusern,
aber auch die vom Krankenhaus outgesourcten Serviceaufgaben für Patienten übernimmt. Ursprünglich
gab es gar keine Tarifbindung, doch später hat man
sich an die Tarife des Gebäudereinigerhandwerks angelehnt, womit aber die Aufgaben der Patientenversorgung nicht abgedeckt waren. Hier haben wir es im Rahmen einer Schlichtung mit beiden Parteien geschafft,
die Löhne für die Servicekräfte von vorher 9 auf 10
Euro 60 anzuheben – ein erheblicher Lohnzuwachs,
der jedoch der Aufgabenstellung auch gerecht wird.
G.I.B.: Können Tarifverhandlungen mit anschließenden
Tarifverträgen den wachsenden Niedriglohnbereich
eingrenzen?
Bernhard Pollmeyer: Seit 2004 geben wir im Auftrag
des Arbeitsministeriums NRW den sogenannten Tarifspiegel heraus, der aktuell unter anderem Tarifverträge und Tariflöhne mit Löhnen unter 8,50 Euro aus-
G.I.B.INFO 4 13
weist. Seitdem ist eine positive Entwicklung gerade in
diesen Bereichen nachweisbar, weil die Sozialpartner
versuchen, nach und nach die Tarife über bestimmte
Schwellenwerte anzuheben. Ein gutes aktuelles Beispiel dafür ist das Friseurhandwerk, das vor fünf,
sechs Jahren auch mal eine Zeitlang tariflos war und
jetzt kurzfristig die 8-Euro-50-Grenze überschreitet,
versehen mit einer allgemeinen Verbindlichkeitserklärung (AVE) der beiden Sozialpartner.
G.I.B.: Wie ist es gelungen, in NRW im Friseurhandwerk eine AVE durchzusetzen?
Bernhard Pollmeyer: Daran kann ich mich gut erinnern, denn die damalige Tarifrunde durfte ich selbst
schlichten. Mehrere Jahre lang gab es in dieser Bran-
Ich stelle fest, dass im Zuge des zunehmenden
Fachkräftebedarfs das Selbstbewusstsein der
Arbeitnehmer/-innen gerade in KMU wieder
wächst und die Konflikte um Einkommensund Arbeitsbedingungen zunehmen.
che einen tariflosen Zustand. Die Arbeitgeber wollten
damals die Arbeitszeiten verlängern, doch die Gewerkschaften sprachen sich dagegen aus. In der Folge wurden die Tarifverträge gekündigt und eine Tarifeinigung
kam nicht zustande. Doch im weiteren Verlauf haben
die Arbeitgeber offensichtlich festgestellt, dass ohne
eine Tarifbindung in dieser Branche die Schmutzkonkurrenz an Einfluss gewinnt. Das hat ihre Bereitschaft
für eine Verständigung erhöht, sodass ein Tarifvertrag
abgeschlossen und eine Tarifbindung erzielt werden
konnten. Beide Parteien haben gleichzeitig die AVE
dieses Tarifvertrags beantragt, um Schmutzkonkurrenz und unlauteren Wettbewerb zu vermeiden, also:
Kein Wettbewerb über den Lohn!
Erste Voraussetzung für eine AVE also ist, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften einen Tarifvertrag ab-
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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
schließen und eine der Parteien formal den Antrag auf
AVE stellt. Wenn die andere Seite das nicht will, ist
es schwierig, im paritätisch besetzten Tarifausschuss
beim Arbeitsministerium eine Mehrheit dafür zu finden. Wenn der Ausschuss aber den Antrag befürwortet, kann der Arbeitsminister die AVE erklären. Er
kann ihn aber auch etwa mit Hinweis auf eine Kartellbildung ablehnen, was jedoch bis jetzt noch nicht
vorgekommen ist. Anders als beim Arbeitnehmerentsendegesetz, wo das über eine Rechtsverordnung des
Bundesarbeitsministeriums möglich ist, kann er jedoch
nicht einseitig gegen das Votum des Tarifausschusses
die AVE erklären. Wenn man das Instrument zustande bekommt, kann man damit Niedriglöhne in jeder
Branche abwehren. Das Problem ist jedoch, zu einer
AVE zu kommen. Dazu müssen in der Branche 50 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden sein, doch das
ist heute eine Seltenheit. Außerdem müssen Sie eine
Mehrheit im Tarifausschuss haben.
Die Fleischwarenindustrie zeigt ja, dass die
Bereitschaft der Akteure steigt, vom
Schmuddelimage wegzukommen, wenn sich
Politik und Medien diesen problematischen
Entwicklungen widmen.
G.I.B.: Ist die AVE also ein Schönwetterinstrument,
das nur in Branchen funktioniert, in denen die Welt
noch halbwegs in Ordnung ist?
Bernhard Pollmeyer: Da ist was dran. Deshalb gab es
Anfang des Jahres im Bundestag auch eine Anhörung
mit Experten zur Frage nach der Notwendigkeit einer Reform des Instrumentariums AVE. Nach Auffassung der einen ist das 50-Prozent-Quorum wegen
der rückläufigen Tarifbindung nicht mehr zeitgemäß.
Alternativ schlagen sie eine Orientierung an Tarifverträgen vor, die für eine Branche repräsentativ sind, so
wie etwa der Tarifvertrag zwischen Einzelhandelsver-
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band und ver.di im Einzelhandel, wo die Tarifbindung
bei gerade mal 30 Prozent liegt. Aber das ist eine politische Debatte, deren weiteren Verlauf in der neuen
Legislaturperiode wir abwarten müssen.
G.I.B.: Speziell im Hinblick auf die Landesinitiative
„Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“ mit ihrem Ziel
„auskömmliche Löhne“: Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen, um diese tariflosen Zustände zu
beenden?
Bernhard Pollmeyer: Die Fleischwarenindustrie zeigt ja,
dass die Bereitschaft der Akteure steigt, vom Schmuddelimage wegzukommen, wenn sich Politik und Medien diesen problematischen Entwicklungen widmen.
Das ist beim Thema Leiharbeit nicht anders gewesen.
Politische Aufgabe ist es, auf die Akteure zuzugehen
und zunächst für Transparenz zu sorgen.
AVE sind in diesem Zusammenhang ein wirksames
Instrument, wie in diesem Jahr das Gaststättengewerbe als positives Beispiel in NRW zeigt. Hier gelten seit
dem 1. September die 8,50 Euro in der untersten Entgeltgruppe für einfache Tätigkeiten nach einer bestimmten Einarbeitungszeit, in der Anlerntätigkeitsgruppe,
sogar 8,88 Euro, in der Wach- und Sicherheitsgewerbe
ab 1. Januar 2014 und im Friseurgewerbe, dem dritten
AVE-Bereich, auch die 8,50 Euro ab nächstem Jahr.
Wichtig aber ist, dass mit der AVE, die Gesetzescharakter hat, der einzelne Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch auf einen Mindestlohn erhält. Wer dagegen verstößt, muss als Arbeitgeber damit rechnen,
später Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen zu
müssen oder wegen eines Straftatbestands belangt
zu werden. Arbeitnehmer, die vermuten, ihr Arbeitgeber zahle ihnen sittenwidrige Löhne, können sich
übrigens auf unserer Homepage unter der Rubrik
„Aus der Rechtsprechung“ informieren. Dort finden
sich höchstrichterliche Urteile des BGH, die besagen,
dass es sich um einen sittenwidrigen Lohn handeln
könnte, wenn ein auffälliges Missverhältnis besteht
zwischen der Vergütung und dem ortsüblichen und
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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
tariflichen Entgelt. Dann kann man die Tarifdaten
zu den Ecklöhnen oder die in der Branche nach der
Ausbildung vorgesehene Entlohnung mit dem eigenen Lohn vergleichen und so einen Anhaltspunkt für
eine etwaige Sittenwidrigkeit erhalten.
G.I.B.: Haben die AVE in NRW Auswirkungen auf
Bundesebene?
Bernhard Pollmeyer: Ja, für den Bereich des Gaststättengewerbes kann man das sagen. Da ist es uns 2006
zum ersten Mal gelungen, die beiden untersten Entgeltgruppen allgemeinverbindlich zu erklären. Mittlerweile ist es auch in Niedersachsen zu einer AVE gekommen, denn unser Erfolg hat Wellen geschlagen im
politischen Bereich. Tarifverträge für Friseure sowie
für das Wach- und Sicherheitsgewerbe sind auch in anderen Bundesländern allgemeinverbindlich.
G.I.B.: Was muss oder kann Politik tun, um die weitere Ausweitung des Niedriglohnsektors zu stoppen?
Bernhard Pollmeyer: Ich bitte um Verständnis, dass
ich hier kein politisches Statement abgeben kann und
möchte, weil das Thema auch zwischen den Sozialpartnern umstritten ist. Ich kann aber so viel sagen:
Zentral bleibt die Stärkung der Sozialpartner, indem
Beschäftigte den Gewerkschaften beitreten und Unternehmen sich in Arbeitgeberverbänden organisieren
und diese beiden Parteien die Arbeits- und Einkommensbedingungen untereinander regeln. Dazu gehört
auch, dass wieder mehr Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zustande kommen.
DAS INTERVIEW FÜHRTEN
Manfred Keuler
Tel.: 02041 767-152
E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de
G.I.B.: Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnet für
NRW 900.000 sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte unterhalb der Niedriglohnschwelle. Wie
definieren Sie diese Schwelle und in welchen Branchen
sind Niedriglöhne besonders stark verbreitet?
Bernhard Pollmeyer: Nach den Berechnungen und Auswertungen des Institutes für Arbeit und Qualifikation
an der Universität Duisburg-Essen (IAQ) gelten in NRW
zwei Drittel des jeweiligen mittleren Stundenlohns als
Niedriglohnschwelle. In Westdeutschland sind das 9,54
Euro. Wir haben aber eine andere Zahl vom Statistischen Bundesamt, in die Überstunden und Zuschläge
in die Berechnung eingehen, nämlich 10,36 Euro. Branchen mit hohem Anteil an Niedriglöhnen sind der Einzelhandel, Gastgewerbe, Leiharbeit, Friseurgewerbe,
Wäschereien, Taxifahrer, Callcenter, Bäckereigewerbe,
Hausmeisterdienste sowie sonstige persönliche Dienstleistungen. Ich habe mir das ausrechnen lassen für den
Stundenlohn von 9 Euro acht. Das wird aller Voraussicht nach ab Januar 2014 der Mindestlohn nach dem
Tariftreuegesetz in NRW sein. Danach lägen 680.000
Arbeitnehmer in NRW mit ihrem Verdienst unterhalb
dieser Schwelle, bei 10,36 Euro wären es 880.000 Arbeitnehmer in NRW, die weniger verdienen.
G.I.B.INFO 4 13
Arnold Kratz
Tel.: 02041 767-209
E-Mail: a.kratz@gib.nrw.de
KONTAKT
Bernhard Pollmeyer
Ministerium für Arbeit, Integration
und Soziales des Landes NRW
Der Landesschlichter
Fürstenwall 25
40219 Düsseldorf
Tel.: 0211 8553362
E-Mail: bernhard.pollmeyer@mais.nrw.de
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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
„Die Entschlossenheit der
Foto: Daniel Naupold (c) dpa
Beschäftigten war enorm“
Andrea Becker, vormals Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur, leitet beim Landesbezirk NRW der Vereinten
Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) den Fachbereich „Die Besonderen“. Zuständig ist der Fachbereich etwa
für die „Callcenter“, eine Branche ohne Tarifbindung, oder die „Technische Überwachung“, eine Branche mit
– nach Ansicht der Gewerkschafterin – „durchaus guten Tarifverträgen“, aber auch das Touristik-Gewerbe,
die Immobilienwirtschaft sowie das Wach- und Sicherheitsgewerbe. Hier hat die Gewerkschaft ver.di im April
2013 in einem bundesweit beachteten Tarifkonflikt und nach einem harten Streik beachtliche Lohnerhöhungen
für die Beschäftigten durchgesetzt.
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G.I.B.INFO 4 13
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
Andrea Becker, ver.di
G.I.B.: Frau Becker, mit dem Streik im Wach- und
Sicherheitsgewerbe an Flughäfen haben Sie in diesem
Jahr für Schlagzeilen gesorgt. Was sind aus Ihrer Sicht
die besonderen Merkmale der Branche, was zeichnet
sie aus?
Andrea Becker: Um die Branche zu verstehen, muss
man wissen, wie sie entstanden ist, nämlich dadurch,
dass viele Arbeitgeber den Bereich der Sicherheit ausgegliedert, also outgesourct haben, um ihn billiger
zu machen. Das Markenzeichen der Wach- und Sicherheitsbranche ist: „Wir sind die Billigen und wir
wollen auch billig sein, denn sonst übernehmen unsere Auftraggeber den Job wieder selbst.“ Das heißt:
In unseren Tarifverhandlungen sitzt virtuell der Kunde mit am Tisch. Wir haben es hier mit einem Dreiecksverhältnis zu tun zwischen den Arbeitgebern im
Wach- und Sicherheitsgewerbe, ihren Kunden und
uns. Der Konflikt, in dem wir dabei stehen, liegt darin, dass die Löhne schon deshalb gedrückt werden,
damit die Betriebe des Wach- und Sicherheitsgewerbes ihren Kunden ein günstiges Angebot machen können. Ein weiteres Merkmal der Branche ist, dass sie
geprägt ist von vielen prekären Arbeitsverhältnissen
sowie einem hohen Anteil an befristet Beschäftigten
und Niedriglöhnern. Nicht wenige der Beschäftigten
kommen nur deswegen mit ihrem Einkommen einigermaßen klar, weil sie mehr als 200 Arbeitsstunden
im Monat leisten. Und last but not least gilt nicht nur
für einzelne Arbeitgeber, sondern fast für die gesamte
Branche: Es mangelt an Wertschätzung der hier agierenden Arbeitgeber gegenüber ihren Beschäftigten.
In dieser Branche herrschen Ausbeutungsstrukturen.
G.I.B.: Zugespitzt hat sich die diesjährige Tarifrunde für das Sicherheitsgewerbe an den Flughäfen in
Nordrhein-Westfalen. In Düsseldorf und Köln kam
es zu Arbeitskämpfen. Wie war die Ausgangssituation für die hier Beschäftigten zu Beginn der Tarifrunde?
Andrea Becker: An den Flughäfen haben wir überwiegend Beschäftigte mit befristeten 120-StundenArbeitsverträgen, wohingegen die Regelarbeitszeit bei
Vollzeitbeschäftigten 160 oder 170 Stunden umfasst.
Diese 120 Stunden verteilen sich aber auf sieben Tage
G.I.B.INFO 4 13
pro Woche und rund um die Uhr. Das bedeutet für die
Beschäftigten geteilte Dienste mit einem Arbeitszeitbeginn etwa von drei oder vier Uhr morgens bis tief in
die Nacht. Passagierkontrolleure etwa haben kaum die
Möglichkeit, mal Pause zu machen oder zur Toilette zu
gehen. Der Grund: Das Personal wird aufgrund zuvor
von den Flughafenbetreibern erhobener Kundenströme eingesetzt und sieht sich im Arbeitsalltag ständig
mit einer hohen Taktzahl konfrontiert. Viele Flughafenbeschäftigte schilderten mir, dass aufgrund der oft
kurzfristig angesagten Verteilung ihrer Arbeitszeiten
auf die Woche und Tage ihr Privatleben nicht planbar
sei und dass ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie kaum mehr gelinge. Sie sagten: Unser Privatleben findet in Facebook statt, etwas anderes ist nicht
mehr möglich. Hinzu kam, dass sich dort – unterstützt
durch die Arbeitgeberseite, die sich so vermutlich den
Abschluss billigerer Tarife erhoffte – die Deutsche Polizeigewerkschaft breitmachen wollte, obwohl sie gar
nicht tarifzuständig ist. Das haben wir aber geklärt.
Das Betriebsklima sowohl in Köln als auch in Düsseldorf war sehr stark angespannt, Konflikte zwischen
Betriebsräten und Arbeitgebern alltäglich. Von den Beschäftigten hörten wir: Wir haben nichts mehr zu verlieren, diese Bedingungen akzeptieren wir nicht länger, jetzt ist Schluss! Wir wollen jetzt höhere Löhne
und bessere Arbeitsbedingungen. Die Entschlossenheit
der Beschäftigten an den Flughäfen in Düsseldorf und
Köln war natürlich eine günstige Voraussetzung für
die tariflichen Auseinandersetzungen und für unsere
gemeinsam mit den Betriebsräten entwickelte Strategie zur Begrenzung der Befristungen, zur Erhöhung
der Stundenzahl in den Verträgen und vor allem zur
Erhöhung der Löhne.
Das war die Ausgangslage an den Flughäfen. Im Bewachungsgewerbe sah die Situation ein wenig anders
aus. Hier beklagten sich die Betriebsräte über die viel
zu geringen Lohnerhöhungen der letzten Jahre. Zu
Recht, denn dabei handelte es sich um Beträge von
lediglich acht oder fünfzehn Cent pro Stunde. Damit
konnten die Beschäftigten ihre Existenz immer noch
nicht ausreichend sichern. Wir haben sofort reagiert
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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
und gesagt: Okay, wir hören die Signale, aber wir
brauchen euch dazu! So entstand eine für Tarifrunden
ungewöhnliche Aufbruchstimmung und eine hohe Erwartungshaltung der Beschäftigten sowie eine große
Bereitschaft, dafür auch etwas zu tun.
G.I.B.: Eine der Forderungen lautete: Ein Lohn muss
zum Leben reichen! Das heißt, Sie haben die Niedriglohndebatte mit der Tarifrunde verknüpft. Zudem
haben Sie mit einer auch aus gewerkschaftlicher Sicht
ungewöhnlich hohen Forderung von 30 Prozent Lohnsteigerung für Aufsehen gesorgt. Wie kam es dazu?
Andrea Becker: Wir haben zuvor ausführlich mit den
Beschäftigten diskutiert und ihre Auffassung war nachvollziehbar. Sie sagten: Wenn wir aus diesen niedrigen
Löhnen herauskommen wollen, dann reichen die üblichen kleinen Lohnanhebungen nicht!
Wir haben gemerkt, dass der Druck in den
Betrieben an den Flughäfen Köln und
Düsseldorf extrem groß war. Das hat unsere
Entscheidung erleichtert.
Unsere gewerkschaftlichen Forderungen orientieren
sich immer an drei Faktoren: Erstens an der Inflationsrate. Wenn sie ausgeglichen ist, sind die Beschäftigten immerhin bei plus/minus null. Zweitens am
Produktivitätszuwachs, der durchaus – wenn auch
im Dienstleistungsbereich nicht immer leicht – messbar ist. Der dritte Faktor betrifft das Thema „Umverteilung“, ein Aspekt, der in den Tarifabschlüssen
der letzten Jahre kaum berücksichtigt worden ist. Uns
war klar, dass wir mit marginalen Lohnerhöhungen
früherer Tarifrunden nie weiterkommen und immer
deutlich hinter anderen Branchen mit Stundenlöhnen
von 20 Euro zurückbleiben. Da wir aber die politische
Forderung, aus dem Niedriglohnsektor herauszukommen, unterstützen wollten, war es eine logische Konsequenz, den Tarifvertrag als Hebel zu nutzen, um höhere Löhne durchzusetzen. Die 30-Prozent-Forderung
war also ernst gemeint und verknüpft mit einer poli54
tischen Forderung: Wir haben den Arbeitgebern gesagt: Ihr produziert Armut und das wollen wir nicht
mit unterschreiben!
Die Höhe der Forderung war auch innergewerkschaftlich etwas Neues und hat hier und da zu Irritationen
geführt. Aber wir wussten ja, dass es den Mitgliedsunternehmen des Bundesverbands der Sicherheitswirtschaft (BDSW) möglich war, die aufgrund der
Lohnerhöhungen steigenden Preise gegenüber ihren
Kunden durchzusetzen, denn die unterste Lohngruppe ist ja für allgemeinverbindlich erklärt worden, sodass es zwischen den Betrieben nicht zu einem Unterbietungswettbewerb kommen konnte.
Diese unterste Lohngruppe war uns besonders wichtig.
Nach Berichten unserer Betriebsräte – das haben die
Arbeitgeber immer bestritten – sind rund 70 Prozent
der Beschäftigten im Wach- und Sicherheitsgewerbe
in der untersten Lohngruppe verortet. Eine Lohnerhöhung diese Kollegen und Kolleginnen, so viel war klar,
würde den Großteil des Gesamtvolumens ausmachen.
G.I.B.: Wie haben die Arbeitgeber auf die prozentual
ungewöhnlich hohen Lohnforderungen reagiert?
Andrea Becker: Als wir ihnen die Forderung eröffneten, sind sie fast ins Koma gefallen, aber wir waren
von der Berechtigung der Forderung völlig überzeugt,
denn Forderungen von lediglich vier Prozent auf 8,15
Euro hätten wieder nur die typischen Cent-Beträge ergeben. Anfangs wussten sie offensichtlich nicht, ob sie
das wirklich ernst nehmen sollten. Hinzu kam, dass
ich erst seit zwei Jahren diesen Fachbereich in ver.di leite und mich die Arbeitgeber als eine ihnen unbekannte Verhandlungsführerin möglicherweise nicht richtig
einschätzen konnten. Andererseits haben sie schon aufgrund der Forderung gemerkt, dass im diesjährigen Tarifkonflikt mehr Dampf vorhanden ist als früher. Sie
kennen ja die Zustände in ihren Betrieben und haben
deshalb folgerichtig bereits in ihrem ersten Angebot
deutlich mehr angeboten, als in vorherigen Tarifrunden als Ergebnis herauskam. Sie boten gleich 40 Cent
mehr, wohingegen frühere Abschlüsse ein Plus von gerade mal acht bis fünfzehn Cent verzeichneten.
G.I.B.INFO 4 13
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
Sie versuchten uns einzureden, dass 40 Cent ein tolles Ergebnis wäre, das wir unseren Mitgliedern leicht
verkaufen könnten. Aber wir haben gesagt: Nein, das
reicht uns nicht! Erst nach der zweiten Verhandlungsrunde haben sie gemerkt, dass ein anderer Wind wehte
und dass wir uns nicht vorschnell auf irgendwelche
Kompromisse einlassen würden, sondern unsere Stärke und die Entschlossenheit der Beschäftigten in dieser Tarifrunde nutzen wollten. Dann wurde die Tonart rauer in den Verhandlungen, es folgten öffentliche
Angriffe auf meine Person, nach dem Motto: Die ist
neu hier und versteht noch nicht, wie das bei uns läuft.
Außerdem haben sie darauf gesetzt, dass ein Arbeitskampf gerade mal einen Streiktag dauern würde, aber
darin hatten sie sich getäuscht.
G.I.B.: Das Wach- und Sicherheitsgewerbe ist eine
heterogene Branche. Nicht alle Beschäftigten arbeiten
in großen Belegschaften, viele sind vereinzelt an ihren
Einsatzstätten tätig. Sie für einen Arbeitskampf zu
gewinnen, dürfte weitaus schwieriger gewesen sein.
Andrea Becker: Ja, das war uns bewusst. Bevor man
in so eine Auseinandersetzung geht, muss man sich
über die eigene Stärke im Klaren sein, doch so richtig weiß man das erst, wenn man sich bereits in einer
Auseinandersetzung befindet. Für uns war der Streik
Neuland, Erfahrungen lagen nicht vor. Insofern gab
es schon eine Unsicherheit auf unserer Seite. Andererseits haben wir gemerkt, dass der Druck in den Betrieben an den Flughäfen Köln und Düsseldorf extrem
groß war. Das hat unsere Entscheidung erleichtert.
Die Bewachungsbereiche waren für uns das Experimentelle in diesem Arbeitskampf. Beschäftigte im
Wachdienst arbeiten in der Tat oft vereinzelt an konkreten Objekten wie etwa dem RWE-Tower. Hier identifiziert sich das Wachpersonal vielleicht sogar stärker mit RWE als mit seinem Arbeitgeber. Zu diesen
Beschäftigten haben die Betriebsräte meist nur wenig
Kontakt. Insofern herrscht hier eine ganz andere Situation und Streiks sind schwierig zu organisieren. Und
dennoch: In der ersten Streikversammlung waren 200
Menschen anwesend. Ihnen habe ich gesagt: Ihr seid
wirklich die Helden! Denn sie hatten noch am MorG.I.B.INFO 4 13
gen desselben Tages von ihren Arbeitgebern zu hören
bekommen: Du kriegst eine Abmahnung, du kannst
dir einen neuen Job suchen, du kriegst dein Objekt entzogen. Sie haben richtig Prügel bezogen in ihren Betrieben, weil sie an dem Tag zu uns gekommen sind,
und hatten in der Folge mit Repressalien zu kämpfen.
Wir bereiten uns auch in diesem Bereich auf eine größere Aktionsfähigkeit vor.
Mir hat das gezeigt, dass mittlerweile
der Niedriglohn bzw. das Thema in der
Mitte der Gesellschaft, in allen Familien,
angekommen ist.
G.I.B.: Wie lange genau liefen die Tarifauseinandersetzungen?
Andrea Becker: Die Tarifauseinandersetzungen begannen im Dezember letzten Jahres und endeten in der
zweiten Schlichtungsrunde Anfang April dieses Jahres.
Insgesamt gab es fünf Verhandlungen und 13 Streiktage. Die Arbeitgeberseite wollte schon nach der zweiten Verhandlungsrunde in die Schlichtung gehen, aber
wir haben uns dem verweigert mit dem Argument: In
Deutschland verhandeln Tarifparteien so lange, bis sie
an einen Punkt kommen, wo offensichtlich nichts mehr
geht. Aus unserer Sicht war dieser Punkt noch nicht
erreicht. Wir haben auf weiteren Verhandlungen bestanden und zu verstehen gegeben, dass wir in Sondierungsgespräche einsteigen wollen, haben mehrere Brücken gebaut, um aus unserer Sicht einen Kompromiss
finden zu können. Doch auf der Gegenseite gab es keine Bereitschaft, und zwar auch deshalb nicht, weil der
NRW-Tarifvertrag die Vorlage für alle bis 2014 noch
anstehenden Tarifrunden in den anderen Landesbezirken ist und die Arbeitgeber in unserem Bezirk nicht
mit besonders hohen Lohnsteigerungen vorpreschen
wollten. Das war teilweise eine verfahrene Situation.
G.I.B.: Das mediale Interesse an dem Streik war groß.
Wie haben die vom Streik unmittelbar betroffenen
Fluggäste reagiert?
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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
Andrea Becker: Über deren Reaktion war ich absolut
erstaunt und sie hat gewiss auch mit der Niedriglohndebatte zu tun, die wir seit vielen Jahren in Deutschland
führen. Zum einen waren viele Fluggäste stocksauer
und manche haben das auch verbal zum Ausdruck gebracht. Dafür habe ich vollstes Verständnis, denn ich
weiß, was es bedeutet, in den Urlaub fliegen zu wollen und der Flieger geht nicht – und dann auch noch,
weil andere mehr Geld haben wollen. Zu körperlichen
Übergriffen aber ist es nicht gekommen, obwohl wir
morgens in den Flughäfen Düsseldorf und Köln präsent waren. Wir haben uns also nicht davor gedrückt
und auch intensiv mit den Fluggästen gesprochen.
Die Debatte um den gesetzlichen Mindestlohn
ist wichtig, aber genauso entscheidend ist
die Frage, was wir über unsere eigenen
Instrumente, die Tarifverträge,
erreichen können.
Die zweite Botschaft der Fluggäste – und da gab es nur
wenige Ausnahmen – war aber eine ganz andere. Sie
sagten: Trotz dieser momentanen Widrigkeiten kann
ich euch verstehen. Mir hat das gezeigt, dass mittlerweile der Niedriglohn bzw. das Thema in der Mitte
der Gesellschaft, in allen Familien, angekommen ist.
Trotz Beeinträchtigungen gab es also für den Streik
auch unter den Fluggästen ein großes Verständnis.
G.I.B.: Welche Ergebnisse haben Sie mit Ihren Verhandlungen und mit dem Streik erreicht?
Andrea Becker: Der wichtigste Eckpunkt des Tarifergebnisses ist die Steigerung der Stundenlöhne in der untersten Lohngruppe im Bewachungsgewerbe um 10,43
Prozent auf neun Euro. Die weiteren Steigerungsraten
in den anderen Lohngruppen der Bewachung liegen
zwischen sieben und zehn Prozent. An den Flughäfen
waren das 18 Prozent im Bereich der Passagierkontrolleure und 22 Prozent im Bereich der Frachtkontrolleure.
Deutliche Steigerungsraten sind auch in den Bereichen
56
Aviation und Werkfeuerwehr zu verzeichnen sowie
mit sieben Prozent bei den Azubi-Vergütungen. Darüber hinaus gab es eine Korrektur der Übergangsregelung für die Kontrollschaffner mit einer Erhöhung der
Löhne um 36,36 Prozent auf 12,90 Euro.
G.I.B.: Sind die hohen Steigerungsraten für die Unternehmen überhaupt verkraftbar? Könnten sie nicht
zumindest in Einzelfällen sogar zu Betriebsschließungen
führen?
Andrea Becker: Da hatte ich keine Sorgen, denn im
Bewachungsgewerbe werden die Kosten an die Kunden weitergereicht Mit der Lohnsteigerung um zehn
Prozent im Bewachungsgewerbe sind die Dienstleis­
tungen der hier tätigen Firmen immer noch deutlich
billiger, als wenn deren Kunden den Part selbst übernähmen und die Leute nach ihrem eigenen Tarif bezahlen müssten. Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt:
Auftraggeber an den Flughäfen ist das Bundesinnenministerium. Beschäftigte der beauftragten Firmen,
die an den Flughäfen in der Passagierkontrolle arbeiten, sind sogenannte Beliehene, weil dieser Tätigkeitsbereich eigentlich eine Aufgabe des Bundes ist,
der aber – abgesehen von deutschlandweit rund 300
Bundespolizisten – diesen Job ausgelagert hat. Der
Bund aber kann die erzielten Lohnerhöhungen gewiss verkraften. Pleiten gab es in der Folge der Lohnerhöhungen jedenfalls nicht. Dem beugt auch die
Allgemeinverbindlichkeit für die unterste Lohngruppe vor, was bedeutet, dass alle Unternehmen, egal ob
sie im Verband sind oder nicht, diesen Lohn zahlen
müssen. Außerdem ist das Bewachungsgewerbe eine
Wachstumsbranche, weil immer mehr Betriebe diesen Bereich ausgelagert haben.
G.I.B.: Welche Rolle spielte der Landesschlichter beim
Zustandekommen der Verhandlungsergebnisse?
Andrea Becker: Die Arbeitgeberseite hatte Bernhard
Pollmeyer als Arbeitsschlichter vorgeschlagen und
wir haben uns damit einverstanden erklärt. Bei den
anschließenden Verhandlungen ging es bis tief in die
Nacht wirklich zur Sache. Man muss bedenken: Einen
Streik wie diesen hatte es in der Branche zuvor noch
nicht gegeben und es war schwierig, sachlich KomG.I.B.INFO 4 13
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
promisse auszuloten. In einer solchen Situation ist ein
Schlichter Gold wert und ich muss sagen: Bernhard
Pollmeyer hat wirklich gute Arbeit geleistet!
Beide Seiten haben Zugeständnisse gemacht. So hätten wir uns für den Bewachungsbereich noch stärker
steigende Löhne gewünscht, denn auch von neun Euro
pro Stunde kann man nicht richtig gut leben und viele
kommen auch bei dieser Summe noch in den Bereich
von Aufstockung, aber es ist ein deutlicher, um das
Dreifache stärkerer Anstieg als sonst und insofern
vom Ergebnis her okay.
So wichtig der Schlichter war: Erst die Mitgliederbefragung und der anschl. Beschluss der Tarifkommission haben den Streik beendet. Die Mitglieder haben
mit 87,04 Prozent für die Annahme des Schlichterspruchs votiert. In der aufgeheizten Situation wollten
manche lieber noch weiterstreiken, aber das Ergebnis zeigt, dass die deutliche Mehrheit zufrieden gewesen ist. Erkennbar ist das auch daran, dass wir in der
Branche 500 neue Mitglieder gewonnen haben und
dieser Trend setzt sich weiter fort. Beteiligung in Tarifrunden ist mir ein besonders wichtiges Anliegen.
auslaufen, erwarte ich ebenfalls eine Signalwirkung.
Die anderen Landesbezirke haben sich abgestimmt,
und ich bin gespannt, ob wir auch da andere Marken
erreichen als bisher. Zudem haben wir innergewerkschaftlich eine Diskussion ausgelöst, bei der es um
die Frage geht, ob unsere Forderungen nicht deutlich
höher sein müssten, um schneller aus dem Niedriglohnsektor rauszukommen. Die Debatte um den gesetzlichen Mindestlohn ist wichtig, aber genauso entscheidend ist die Frage, was wir über unsere eigenen
Instrumente, die Tarifverträge, erreichen können.
Doch es gibt noch eine weitere Lehre aus diesem Arbeitskampf: Es gibt für Beschäftigte eine Perspektive, es gibt ein Instrument, an ihrer Situation etwas
zu verändern, und zwar dann, wenn sie sich in einer
Gewerkschaft organisieren. Die im Grundgesetz Artikel 9 verankerte Möglichkeit, sich in Gewerkschaften zu vereinen, um gemeinsam eigene Interessen zu
vertreten, kann dafür sorgen, die eigene Existenz besser abzusichern und sich und die eigene Familie auch
ernähren zu können.
DAS INTERVIEW FÜHRTEN
Manfred Keuler
G.I.B.: Was meinen Sie: Haben die Ergebnisse des
Tarifkonflikts Signalwirkung für die Gesamtbranche?
Andrea Becker: Auf jeden Fall, das ist schon jetzt zu
beobachten. Kein Wunder, denn wir haben es für den
Aviationsbereich, das sind die Flugsicherheitsassistenten
an den Flughäfen, geschafft – und das hat auch etwas
mit unserer Tarifauseinandersetzung zu tun – einen
bundesweiten Manteltarifvertrag durchzusetzen, der
so gute Regelungen beinhaltet, wie wir sie noch nie
hatten. Das hat aber auch damit zu tun, dass durch
den Streik in NRW ein Netzwerk an den Flughäfen
entstanden ist. Zurzeit finden Streiks in Leipzig mit
Forderungen statt, deren Ursprung hier in NRW liegt.
Die Beschäftigten der Branche haben sich gesagt: Wir
wissen jetzt, was wir können, und wir holen uns diese Lohnsteigerungen jetzt auch.
Tel.: 02041 767-152
E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de
Arnold Kratz
Tel.: 02041 767-209
E-Mail: a.kratz@gib.nrw.de
Paul Pantel
Tel.: 02324 239466
E-Mail: paul.pantel@arcor.de
KONTAKT
Andrea Becker
Landesfachbereichsleiterin „Besondere Dienstleistungen“
ver.di-Landesbezirk NRW
Karlstraße 123 – 127
40210 Düsseldorf
Tel.: 0211 61824-390
E-Mail: andrea.becker@verdi.de
Für die Beschäftigten im Bewachungsgewerbe in den
anderen Landesbezirken, wo derzeit die Tarifverträge
G.I.B.INFO 4 13
57
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
„Sozialvertrauen ist ein hoher
sozialer und ökonomischer Wert“
Seit mehr als einem Jahrzehnt hält die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung in Deutschland mit dem Produktivitätszuwachs nicht mehr Schritt. Die Reallöhne stagnieren und sind in manchen Bereichen sogar rückläufig. Niedrig- bzw. Armutslöhne breiten sich aus mit dem Resultat, dass bestimmte Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von der Steigerung des Wohlstands abgekoppelt werden. Wir sprachen
mit Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB)
in Nürnberg, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, über die Ursachen und die mittelund langfristigen gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Entwicklung.
G.I.B.: Herr Professor Möller, viele Menschen behaupten: Die Ungleichheit nimmt zu in unserer Gesellschaft. Was sagen die ökonomischen Indikatoren:
Stimmt die Aussage?
Prof. Möller: Vorab: Eine Marktwirtschaft ohne jedes Maß an Ungleichheit, mit völliger Gleichheit, ist
nicht denkbar, denn eine Marktwirtschaft beruht auch
auf Anreizen. Nehmen Sie zum Beispiel den Lohn. Er
schafft die materiellen Voraussetzungen für die Bedarfsdeckung, gibt aber zugleich Anreize etwa für eine
höhere berufliche Leistungsbereitschaft oder den Erwerb zusätzlicher Qualifikationen. Anreize differenzieren somit eine Gesellschaft und führen dazu, dass
bestimmte Personen mehr haben als andere. Entscheidend ist die Frage: Was ist das richtige Maß? Darüber wird gegenwärtig international, auch in Ameri-
Inzwischen bewegen wir uns wieder auf
einem Ungleichheits-Niveau wie es für die
Zeit der Stahlbarone typisch war.
ka, heftig diskutiert, weil die in früheren Jahrzehnten
üblichen Grenzen von Ungleichheit gesprengt worden
sind. Inzwischen bewegen wir uns wieder auf einem
Ungleichheits-Niveau wie es für die Zeit der Stahlbarone typisch war. Internationale Vergleiche zeigen, dass
Volkswirtschaften offenbar einen Spielraum für das
Ausmaß der Ungleichheit haben. Weniger Ungleichheit bedeutet nicht zwangsläufig weniger Leistungsfähigkeit, wie ein Blick auf die skandinavischen Länder
zeigt. Deutschland hat früher mit deutlich geringerer
Ungleichheit als heute offenbar gut funktioniert, warum sollte dies nicht auch zukünftig wieder gelingen?
In der amerikanischen Debatte zum Thema „Ungleich58
heit“ hat der Princeton-Ökonom Alan B. Krueger die
„Great Gatsby curve“ entwickelt – benannt nach dem
Roman „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald,
der vom Aufstieg eines Mannes vom Tellerwäscher
zum Millionär handelt, dem amerikanischen Mythos,
der heute allerdings nur noch äußerst selten funktioniert. Demnach existiert ein empirischer Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und sozialer
(intergenerationaler) Mobilität, zwischen dem Wohlstand der Eltern und der Karriere der Kinder. In Ländern mit hoher Ungleichheit können sich etwa Kinder
reicher Eltern in gute Schulen und Hochschulen einkaufen, von Chancengleichheit keine Spur: Die Reichen bleiben reich, die Armen arm. Das aber impliziert
eine Verschleuderung gesellschaftlicher Ressourcen.
Die deutsche Nachkriegsgesellschaft verkörpert traditionell ein Modell relativ geringer Ungleichheit und
bot lange Zeit soziale Mobilität, also Durchlässigkeit
zwischen den Schichten. Viele meiner Kolleginnen
und Kollegen in der Professorenschaft etwa kommen
aus einfachen sozialen Verhältnissen. Doch jetzt zeigen sich, wie zum Beispiel an den PISA-Ergebnissen
erkennbar, die eine sehr starke Abhängigkeit der Bildungswege der Kinder vom Bildungsstand und Einkommen des Elternhauses nachweisen, erste Indizien,
dass in Deutschland die Durchlässigkeit zwischen den
Schichten schwindet, dass die intergenerationale Mobilität nachlässt, kurzum: dass die Ungleichheit ein gesundes Maß überschreitet.
G.I.B.: Das Einkommen aus Erwerbstätigkeit oder
Selbstständigkeit dürfte als alleiniger Indikator für
Ungleichheit allerdings kaum ausreichen. Tatsache
ist, dass 50 Prozent der Beschäftigten und Selbstständigen 95 Prozent der Einkommenssteuer tragen und
G.I.B.INFO 4 13
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller,
Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt
und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg
die anderen 50 Prozent lediglich die restlichen 5
Prozent. Welche Indikatoren sind also noch zu berücksichtigen?
Prof. Möller: Richtig ist, dass das Einkommen insgesamt gleicher ist als das am Markt erzielte, denn das
Steuersystem ist in der Tat eine Umverteilungsmaschinerie, die zwar nicht perfekt funktioniert, aber über
die Progression der Einkommenssteuer sowie zusätzlich über die Sozialtransfers findet eine Umverteilung
statt. Beim Markteinkommen aber, also bei den Löhnen und Gehältern, stellen wir seit Mitte der 1990er
Jahre erhebliche Veränderungen fest, so plötzlich und
dramatisch, als sei ein Schalter umgelegt worden. Woran lag das?
In den 1990er Jahren wurden zwei Faktoren für die
Entwicklung verantwortlich gemacht: der technische
Fortschritt und die Globalisierung, von denen weltweit die entwickelten Länder sehr stark berührt waren. Mit dem technischen Fortschritt vor allem über
die Computerisierung – das kann die numerisch gesteuerte Werkzeugmaschine genauso sein wie der PC – hat
sich der Wert von Qualifikation erhöht, weil qualifizierte Menschen eher in der Lage sind, die produktiven Potenziale der neuen Technik zu nutzen. Hinzu
kam die veränderte Organisation in den Betrieben,
manche sprachen gar von einer „organisatorischen
Revolution“. Multitasking-Arbeiten in den Betrieben lösten die Arbeit am Fließband mit immer gleichem Handgriff ab. Das begünstigte die höher Qualifizierten, weil sie über die dafür nötige Flexibilität
verfügen, wohingegen die Fließbandproduktion in den
1950er und 1960er Jahren, der Siegeszug des Taylorismus, die gering Qualifizierten begünstigt hatte. In
der Zeit hat Deutschland ganz bewusst gering qualifizierte Arbeiter aus der Türkei und anderen Ländern
angeheuert. Sie waren billig und gut einsetzbar, weil
gering qualifiziert. Heute zeigt sich in all unseren Daten ein Trend zur Höherqualifikation.
Neben dem technischen Fortschritt und den damit
verbundenen organisatorischen Veränderungen ist
die Globalisierung der zweite entscheidende Faktor.
Mit ihr stand vor allem im asiatischen Raum ein unG.I.B.INFO 4 13
erschöpfliches Reservoir an Arbeitskräften mit geringen und mittleren Qualifikationen zur Verfügung, gegen das zu konkurrieren als fast aussichtslos erschien.
Das ging tendenziell zulasten der geringer Qualifizierten, denn anders als höhere Funktionen wie Design, Forschung und Entwicklung, Marketing und
Unternehmensführung, wurden einfache produktive Tätigkeiten ausgelagert. Mehr noch als die Globalisierung aber galt der technische Fortschritt als
die treibende Kraft, denn in den USA spielt der Außenhandel nicht die exponierte Rolle wie in Europa
und dennoch waren diese Tendenzen dort sehr stark
und sogar zuerst sichtbar und kamen erst mit Zeitverzögerung in Europa an.
Beim Markteinkommen, also bei den Löhnen
und Gehältern, stellen wir seit Mitte der
1990er Jahre erhebliche Veränderungen
fest, so plötzlich und dramatisch, als sei
ein Schalter umgelegt worden.
Im letzten Jahrzehnt hat sich die Debatte verschoben.
Jetzt heißt es: Es kommt auf die „tasks“, auf die Aufgaben an. Sie lassen sich nach „manuell“ und „kognitiv“
unterscheiden sowie nach „Routine“ und „Nicht-Routine“. Die Hochqualifizierten arbeiten im kognitiven,
nicht-routinisierten Bereich, und das ist ein Wachstumsfeld. Die Mittelqualifizierten arbeiten häufig
kogni­tiv, aber routiniert. Typisches Beispiel dafür ist
der Buchhalter. Im unteren Qualifikationsbereich arbeiten Menschen manuell, aber das kann sowohl Routine sein oder auch interaktiv wie etwa die Bedienung
im Restaurant. Diese interaktiven Tätigkeiten lassen
sich nicht leicht rationalisieren, alle gleichförmigen
Routine-Tätigkeiten hingegen schon, und so fallen im
mittleren und im unteren Bereich Tätigkeiten wie die
des Buchhalters oder des Fließbandarbeiters weg. Waren die Verluste an Tätigkeiten im untersten Bereich
in den 1980er und 1990er Jahren besonders stark,
die gering Qualifizierten also die absoluten Verlierer,
59
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
hat dieser Trend heute relativ an Bedeutung verloren.
Stattdessen, zeigen die amerikanischen Daten, gerät
zunehmend die Middle-class unter Druck.
Für Deutschland sehen wir in unseren Daten das Phänomen – noch, muss man sagen – nicht. Bei uns sind
Menschen im unteren Qualifikationsbereich nach wie
vor die Verlierer, und zwar so stark, dass die Erhardsche Formel vom „Wohlstand für alle“ für sie längst
nicht mehr gilt. Ein 40-jähriger gering Qualifizierter
verfügt heute im Mittel nicht mehr über die Kaufkraft
wie eine entsprechende Vergleichsperson Anfang der
1980er Jahre, sondern über spürbar weniger Markteinkommen, was angesichts der Lohnverteilung bedeutet, dass in den letzten Dekaden einige Menschen ganz
massiv verloren haben.
für sie längst nicht mehr gilt.
G.I.B.: War die Agenda 2010 das richtige Mittel, um
auch gering Qualifizierten in den Job zu verhelfen?
Prof. Möller: Ich glaube, es ist Deutschland nichts
anderes übrig geblieben, als so vorzugehen, denn mit
mehr als fünf Millionen verdeckten oder offenen Arbeitslosen war der Problemdruck enorm. Wir hatten
mit dem Zeitpunkt der Reform allerdings auch Glück,
weil sie in die Phase einer großen weltwirtschaftlichen
Expansion fiel. 2006 und 2007 waren richtig fette
Jahre, sodass ein Beschäftigungsaufbau und ein Abbau der Arbeitslosigkeit sehr schnell erkennbar waren.
Länder hingegen, die jetzt in der Krise ihren Arbeitsmarkt reformieren und wie zum Beispiel Griechenland schmerzliche Einschnitte vorgenommen haben,
ohne dass sich eine positive wirtschaftliche Wirkung
zeigt oder die Entwicklung sogar noch weiter bergab geht, sehen sich mit Massendemonstrationen gegen die Reformen konfrontiert.
Prof. Möller: Ja, unsere individuellen Mikro-Daten
gehen zurück bis ins Jahr 1975. Wir wissen, dass sich
die Lohnentwicklung für unterschiedliche Gruppen
in den 1950er und 1960er Jahren relativ ähnlich dargestellt hat. Wir hatten sogar in Phasen, in denen ein
Bedarf an gering Qualifizierten bestand, über die tarifpolitische Festlegung von Sockelbeträgen, die eine
prozentual stärkere Anhebung der unteren Entgeltgruppen bewirkten, einen Rückgang der Streuung bei
der Lohnverteilung. Insofern ist die gegenwärtige Entwicklung für die Nachkriegszeit in der Tat eine neue
Qualität. Insbesondere für Deutschland kam, bedingt
durch die geografische Lage, mit der Ost-Öffnung ein
G.I.B.: Unter dem Einfluss der Agenda 2010, durch
die Liberalisierung des Arbeitsmarkts, hat sich der
Niedriglohnsektor ausgeweitet, und trotz der „fetten
Jahre“ hat die Lohnspreizung zugenommen. Der
Spruch: „Die Flut hebt alle Boote“ stimmt offensichtlich nicht.
Prof. Möller: Ja, die Reformen haben noch einmal
zur Verstärkung des seit Mitte der 1990er Jahre zu
beobachtenden Trends vergleichsweise sinkender
Markteinkommen gering Qualifizierter geführt. Warum? Das IAB hat 2005 und 2006 Firmen gefragt, ob
sich das Verhalten der Arbeitsuchenden und der Belegschaften hinsichtlich der Akzeptanz schlechterer
G.I.B.: Hat die von Ihnen beschriebene Entwicklung
eine eigene Qualität im Vergleich zu früheren industriellen Umbruchphasen?
Bei uns sind Menschen im unteren
Qualifikationsbereich nach wie vor die
Verlierer, und zwar so stark, dass die
Erhardsche Formel vom „Wohlstand für alle“
60
weiterer Faktor hinzu: Plötzlich lagen Billiglohnländer
direkt vor unserer Haustür, dazu gehörte auch Ostdeutschland, ein Gebiet ohne jegliche Tarifabdeckung.
Das hat die Position der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fundamental geschwächt. Unternehmen
drohten mit der Arbeitsplatzverlagerung: „Wenn ihr
nicht zustimmt, dann war`s das hier, dann wechseln
wir den Standort.“ Auch wenn die Verlagerung nicht
im großen Stil praktiziert wurde: Die Drohung hat gewirkt und das Gleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien verändert.
G.I.B.INFO 4 13
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
Arbeitsbedingungen oder auch schlechter bezahlter
Arbeit verändert haben: Ja, antworteten sie, bewirkt
durch den zunehmenden Druck hat sich das Akzeptanzverhalten verändert. Die Agenda 2010 war also
die Peitsche, die besagte Verhaltensänderungen bewirkt und zu einer höheren Ungleichheit geführt hat.
Der politische Wille, einen Niedriglohnsektor aufzubauen, war vorhanden.
G.I.B.: Sind Niedriglöhne wirklich nötig, um Menschen, insbesondere Langzeitarbeitslose, in Beschäftigung zu bringen?
Prof. Möller: Wenn ein Niedriglohn lediglich ein Einstiegslohn ist und ein gering bezahlter Beschäftigter
die Möglichkeit hat, innerhalb von zwei, drei oder
fünf Jahren da herauszukommen, dann ist der Niedriglohn anders zu bewerten, als wenn er eine Falle
ist. Alle ernst zu nehmenden Studien zeigen jedoch,
dass die Aufstiegsmobilität nicht zu-, sondern abgenommen hat. Der Niedriglohn lässt sich also nicht
einfach mit dem Hinweis rechtfertigen, er sei nur ein
Einstieg, vielmehr sind viele Menschen dauerhaft im
Niedriglohnsektor gefangen. Wenn aber Perspektivlosigkeit zunimmt, wenn größere Gruppen von Menschen frus­triert sind, hat das soziale Folgen, dann löst
sich der gesellschaftliche Kitt.
Sicher ist Langzeitarbeitslosigkeit das schlimmste Übel,
sie erzeugt hohe Unzufriedenheit. Aber nicht weit dahinter rangiert auf der Skala ein schlecht bezahlter Job.
Die Gretchenfrage ist die von Ihnen gestellte: War der
Ausbau des Niedriglohnsektors notwendig, um mehr
Menschen in den Job zu bekommen? Das ist nach wie
vor umstritten. Meine Position ist, dass das Ausmaß
des Niedriglohnsektors mit Sicherheit übertrieben ist,
dass Politik und Wirtschaft die Schraube überdreht
haben und zu weit gegangen sind, denn – das belegen
neueste Daten – auch für durchgängig Beschäftigte
hat die Ungleichheit bei den Löhnen zugenommen.
Hier zieht also das Argument nicht: Die Löhne mussten ungleicher werden, damit gering Qualifizierte in
Beschäftigung kommen. Die neuesten Daten sind ein
erstes starkes Indiz, dass da etwas über ein gesundes
Maß hinausgeschossen ist.
G.I.B.INFO 4 13
G.I.B.: Das ökonomische Argument lautete: Die Produktivität mancher Menschen ist so gering, dass man
sie nur niedrig bezahlen kann – oder sie sind arbeitslos.
Prof. Möller: Ich will nicht abstreiten, dass wir eine
Gruppe von Menschen fast ohne Qualifikationen haben, die nicht einfach zu integrieren ist. Doch das Produktivitätsargument gilt nur für einen Betrieb insgesamt, insofern Produktivität, Lohnsumme und Umsatz
in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen
Plötzlich lagen Billiglohnländer direkt
vor unserer Haustür, dazu gehörte auch
Ostdeutschland, ein Gebiet ohne jegliche
Tarifabdeckung. Das hat die Position der
Arbeitnehmer fundamental geschwächt.
müssen. Aber bei der Bezahlung innerhalb eines Betriebs gibt es viele Spielräume. Die stark divergierenden
Verdienste eines Chefarztes und einer Krankenschwester zum Beispiel sind vor allem durch soziale Konventionen bedingt. Dass ein Krankenhaus insgesamt keine
roten Zahlen schreiben darf, ist klar, aber die Relation zwischen den Gehältern könnte durchaus anders
aussehen, denn wie ließe sich die Produktivität einer
Krankenschwester messen oder eines Uni-Professors
oder von Personen, meist Frauen, die in den Hotels
die Betten machen und lausig bezahlt werden? Geht
die Nachfrage nach Übernachtungen tatsächlich massiv zurück, wenn Hotelbedienstete statt fünf Euro pro
Stunde acht Euro verdienen? Aus meiner Sicht wird
das keine große Rolle spielen. Übrigens wird in der
Schweiz eine Krankenschwester etwa doppelt so hoch
bezahlt wie in Deutschland. Heißt das: Die Produktivität einer Krankenschwester ist in der Alpenrepublik
doppelt so hoch wie bei uns? Wohl kaum.
Zudem müssen wir uns vor Augen führen, dass über
den Mindestlohn immer auch gewisse Produktivitätseffekte erzeugt werden, weil darüber eine stärkere Bin61
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
dung der Beschäftigten an ihren Job stattfindet und
die Fluktuation nachlässt, was wiederum für Unternehmen die hohen Kosten für die Suche nach Arbeitskräften senkt. Zudem qualifizieren sich Beschäftigte
bei einer langfristigen Ausübung ihrer Tätigkeit und
steigern so ihre Produktivität.
Die Widerstände gegen Mindestlöhne resultieren meist
aus der einzelbetrieblichen Perspektive. Unternehmen
sehen ihre Rentabilität gefährdet und übersehen dabei, dass der Mindestlohn in der gesamten Innung
oder Branche gezahlt werden muss. Die Furcht vor
schädlichem Wettbewerb ist also unbegründet, weil
das Niveau insgesamt angehoben wird. Ein starkes
Argument für den Mindestlohn ist, dass ohne eine
Grenze nach unten die schlechte Firma, die skrupellos die niedrigsten Löhne zahlt, die gute Firma, die
auf Qualität, auf bessere Produkte oder auf Innovation setzt, verdrängen kann.
G.I.B.: Ein Wettbewerb über Dumpinglöhne darf
nicht sein, sagen Sie, und benennen in Ihrer aktuellen
Veröffentlichung „Ausbau auf solidem Fundament:
Was am Arbeitsmarkt angepackt werden muss“ drei
zentrale Herausforderungen. Den Abbau der (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, die Gestaltung des demografischen
Wandels durch Fachkräftesicherung sowie die Qualitätsverbesserung von Beschäftigung. Was genau ist
nach Ihrer Ansicht zu tun?
Ohne eine Grenze nach unten verdrängt
die schlechte Firma, die skrupellos die
niedrigsten Löhne zahlt, die gute Firma, die
auf Qualität, auf bessere Produkte oder auf
Innovation setzt.
Prof. Möller: Die Jobchancen von Arbeitslosen, die
sich über Jahre hinweg verbessert hatten, sinken gegenwärtig wieder. Trotz vorhandener Nachfrage, trotz
steigender Beschäftigtenzahlen, kommt aufgrund ei62
ner erhöhten Beteiligung von Frauen, Älteren und
Zugewanderten an der Erwerbsarbeit der Abbau der
Arbeitslosigkeit nicht mehr voran. Strukturelle Probleme wie die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit und
das fehlende Matching zwischen dem Profil der Arbeitslosen und den offenen Stellen bestehen weiterhin.
Gefragt sind zur Lösung der Probleme – präventiv –
ein leistungsfähigeres Bildungssystem, mehr Investitionen in Weiterbildung sowie eine bessere Wirkung
arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen und verstärkte
Vermittlungsaktivitäten.
Zur Gestaltung des demografischen Wandels durch
Fachkräftesicherung: Ein demografisch bedingter
Rückgang der Erwerbsbevölkerung ist absehbar. Sollte
die gegenwärtige Nachfrage nach Arbeitskräften auf
hohem Niveau anhalten, könnten sich Chancen für
eine weitere Reduzierung der Arbeitslosigkeit ergeben. Es wäre jedoch illusorisch zu glauben, dass sich
ein solcher Ausgleichsprozess von selbst ergibt. Vielmehr muss die Teilhabe am Erwerbsleben gefördert,
das Arbeitsvolumen ausgeweitet, müssen Bildungsund Ausbildungsbeteiligung gestärkt werden. Zu hebende Potenziale liegen außer bei den Arbeitslosen vor
allem bei den Frauen – nicht zuletzt den in Deutschland lebenden Migrantinnen – und den Älteren. Zudem muss sich Deutschland verstärkt um qualifizierte
Zuwanderer bemühen.
Zur Qualität von Beschäftigung: So genannte atypische Beschäftigungsformen wie Teilzeit- und Minijobs, befristete Beschäftigung und Zeitarbeit haben
in den beiden letzten Jahrzehnten deutlich zugelegt.
Auch wenn diese Erwerbsformen oft den Wünschen
und Bedürfnissen der Betroffenen entsprechen und
ganz klar der Arbeitslosigkeit vorzuziehen sind, sollte
man die in vielen Fällen damit verbundenen Probleme
nicht ausblenden, denn häufig fallen niedrige Bezahlung, Instabilität, schlechte Arbeitsbedingungen und
wiederkehrende Arbeitslosigkeit bei bestimmten Personen zusammen. Bei einem dieser Aspekte, der Beschäftigungsstabilität, müssen wir unterscheiden: Es
gibt viele Bereiche mit relativ hoher Beschäftigungssicherheit. Die durchschnittliche BetriebszugehörigG.I.B.INFO 4 13
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
keitsdauer für Personen über 30 hat sich nicht verringert, sondern sogar ganz leicht nach oben entwickelt.
Anders bei den Personen unter 30 Jahren. Hier ist die
durchschnittliche Beschäftigungsdauer spürbar gesunken. Wir wissen nicht, inwieweit das manchmal
auch den Wünschen junger Menschen entspricht, die
im Arbeitsplatzwechsel vielleicht neue Chancen sehen.
Raschere Arbeitsplatzwechsel müssen also nicht immer negativ zu bewerten sein. Problematisch sind aber
beispielsweise lediglich kurzfristige Beschäftigungen
gering Qualifizierter in der Leiharbeit mit Drehtüreffekt. Dieser Wechsel von kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen mit immer wiederkehrender Arbeitslosigkeit ist eine Falle, aus der viele nur schwer
wieder herauskommen. Wir brauchen eine nachhaltige
Verbesserung von Erwerbsbiografien, eine möglichst
kontinuierliche Erwerbstätigkeit und auskömmliche
Einkommen. Ziel muss sein, die Qualität von Beschäftigung kontinuierlich zu verbessern, ohne dabei den
Zugang zum Arbeitsmarkt zu gefährden.
G.I.B.: Ein Argument gegen den gesetzlich verankerten
flächendeckenden Mindestlohn lautet: Entweder ist
er so niedrig, dass er nichts bewirkt, oder so hoch,
dass er Arbeitsplätze gefährdet. Auch das nicht unbedingt arbeitgebernahe Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das DIW Berlin, hat in seiner
jüngsten Studie den Mindestlohn als „Förderprogramm
für Minijobs bezeichnet“. Teilen Sie die Auffassung?
Prof. Möller: Dass es nicht einfach ist, die richtige
Höhe für einen Mindestlohn festzulegen, ist grundsätzlich richtig, das würde ich sofort unterschreiben.
Die Behauptung, dass er zwangsläufig entweder zu
niedrig oder zu hoch ist, halte ich aber für falsch,
denn um genau den Bereich zwischen „wirkungslos“
und „Arbeitsplatzgefährdung“, also um das richtige Maß, geht es ja gerade. Wäre der Arbeitsmarkt
ein perfekter Markt, hätten diejenigen Recht, die sagen: Jeder Markteingriff ist wirkungslos oder führt
zu Arbeitslosigkeit. Aber der Arbeitsmarkt ist nicht
perfekt. Oft wird übersehen, dass Mindestlöhne sich
nicht nur auf die Arbeitsnachfrage der Unternehmen
auswirken, sondern auch auf das Arbeitskräfteangebot. Das gilt vor allem für „unperfekte“ ArbeitsmärG.I.B.INFO 4 13
kte, auf denen also nur unvollkommener Wettbewerb
herrscht und Unternehmen über eine gewisse Marktmacht verfügen.
Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein sehr großer
Arbeitgeber den lokalen Arbeitsmarkt dominiert oder
wenn Menschen, die auf dem Land leben, nur eine begrenzte Auswahl von Unternehmen als Arbeitgeber
zur Verfügung steht oder wenn eine Kinderbetreuungseinrichtung in der Nähe des Betriebs vorhanden
ist und eine alleinerziehende Mutter für diesen Vor-
Die Ergebnisse unserer Repräsentativbefragung zeigen, dass eine bessere Bezahlung zu einer schnelleren Besetzung offener
Stellen führen und insofern auch einen
positiven Beschäftigungseffekt haben kann.
teil bereit ist, einen sehr niedrigen Lohn zu akzeptieren. Es gibt große Bereiche, in denen Marktmacht eine
Rolle spielt. Bei einer Arbeitslosenquote von fast 20
Prozent unter den gering Qualifizierten ist immer ein
Reserveheer vorhanden, das Unternehmen erlaubt,
ihre Marktmacht auszuspielen und ihren Gewinn zu
steigern, indem sie Löhne zahlen, die unter dem Niveau eines perfekten Arbeitsmarkts liegen. Ein moderater Mindestlohn, der in diesen Fällen die Diskrepanz wieder ausgleicht, also Marktmacht reguliert,
kann sogar zu positiven Beschäftigungseffekten führen, da der Lohnanstieg zu einer schnelleren Besetzung offener Stellen führen kann, weil sie so attraktiver geworden sind.
Ein überraschendes, interessantes Phänomen als Beleg
dafür: Im Rahmen unserer quartalsmäßigen Repräsentativbefragungen zum Stellenangebot fragten wir Unternehmen, bei welchen Berufen oder Qualifikationen
es Probleme bei der Stellenbesetzung gibt. Da wurden, wie erwartet, zunächst Ingenieure und Krankenschwestern genannt, doch dann tauchten relativ bald
63
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
Hilfskräfte auf. Wie kann das sein? Fast ein Fünftel
der Geringqualifizierten ist arbeitslos! Da müsste es
doch relativ einfach sein, Hilfskräfte zu finden. Aber
die Antwort ist klar: Inzwischen ist das Lohnniveau
so niedrig, dass die Anreize fehlen. Ökonomisch betrachtet heißt das: Die entsprechenden Personengruppen sind mehr oder weniger indifferent, wenn es da-
Gegenseitiges Vertrauen funktioniert aber
nur, wenn alle das Gefühl haben, nicht die Abgehängten zu sein.
rum geht, einen Job zu haben oder nicht zu haben.
Die Bindung an einen solchen Job ist sehr gering, sie
sind schnell dabei, aber auch schnell wieder weg. Neue
Leute zu finden ist schwierig. Die Ergebnisse unserer
Repräsentativbefragung legen nahe, dass eine bessere Bezahlung zu einer schnelleren Besetzung offener
Stellen führen und insofern auch einen positiven Beschäftigungseffekt haben kann.
G.I.B.: Sie sprechen vom „moderaten“ Mindestlohn.
Welche Mindestlohnhöhe wäre nach Ihrer Auffassung
„moderat“?
Prof. Möller: Niemand kann a priori genau sagen, wo
die kritische Linie liegt. Frankreich hat einen relativ
hohen Mindestlohn, der in einem Bereich liegt, der
Jobs kosten kann. Großbritannien hat einen Mindestlohn eingeführt ohne negative Auswirkungen auf die
Beschäftigung. Hier sind – eindeutig belegbar – keine Jobs verloren gegangen. Großbritannien ist insofern das Musterbeispiel. Die Höhe des Mindestlohns
ist auch dort ein bisschen umstritten, aber es besteht
mittlerweile beim Mindestlohn in Großbritannien
grundsätzlich ein breiter gesellschaftlicher Konsens,
keine Interessengruppe will ihn abschaffen. Vor der
Einführung des Mindestlohns in den 1990er Jahren
gab es aber in Großbritannien die gleiche Debatte wie
jetzt in Deutschland. Auch dort wurde der Untergang
des Abendlandes an die Wand gemalt. Von Jobverlusten in Millionenhöhe war die Rede. Nichts davon
ist passiert! Dennoch muss man festhalten: Im Grunde
64
ist die Suche nach der optimalen Höhe des Mindestlohns ein Stochern im Nebel. Mein Vorschlag wäre,
einen relativ niedrigen Einstieg zu wählen und anschließend zu versuchen, sich wie in Großbritannien
an das richtige Maß heranzutasten, um festzustellen,
an welcher Stelle es kippt, ab wann Arbeitsplätze verloren gehen. Das wäre dann die Grenze.
G.I.B.: Bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro müssten
in Deutschland die Löhne von 17 Prozent aller Beschäftigten erhöht werden, bei einem Mindestlohn
von 10,50 Euro sogar von 26 Prozent der Beschäftigten.
Eine Lohnerhöhung für ein Viertel aller Beschäftigten
wäre doch kaum zu finanzieren oder würde zum
Abbau von Arbeitsplätzen führen.
Prof. Möller: Da ist was dran. In Großbritannien haben rund fünf Prozent aller Beschäftigten von der Erhöhung des Mindestlohns profitiert. Das ist deutlich
niedriger als 17 Prozent. 8,50 Euro sind nach meiner
Auffassung schon relativ hoch, da habe ich schon ein
bisschen Bauchschmerzen. Deshalb mein Plädoyer,
sich von unten an das richtige Maß heranzutasten, um
festzustellen, was noch vertretbar ist. Ein Mindestlohn von 8,50 Euro beträfe in Ostdeutschland, wo die
Lohnverteilung ja noch einmal anders aussieht, circa
25 Prozent der Beschäftigten. Wegen der immer noch
bestehenden deutlichen Unterschiede in der durchschnittlichen Produktivität der ost- und westdeutschen
Betriebe sollten wir für einen Übergangszeitraum zwischen Ost- und Westdeutschland differenzieren. Ich
weiß, dass die Menschen in den östlichen Bundesländern genauso hart arbeiten wie die im Westen. Wenn
sie aber aufgrund eines zu hohen Mindestlohns arbeitslos werden, wäre niemandem geholfen. Zudem
sollten Jugendliche von der Mindestlohnregelung ausgenommen werden, weil sonst Fehlanreize hinsichtlich einer Ausbildungsentscheidung gegeben werden.
Eine Festsetzung des Mindestlohns auf kleinräumiger
Ebene ist dagegen wegen der dadurch geschaffenen Intransparenz und der möglichen Ausweichreaktionen
von Betrieben nicht zielführend.
Ein moderater Mindestlohn aber könnte nicht nur einen Beitrag zur Senkung des deutschen NiedriglohnG.I.B.INFO 4 13
FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE
sektors, dessen Größe innerhalb der EU nur noch von
Ländern wie Litauen übertroffen wird, leisten, sondern
auch das wichtige Signal senden, dass eine Vollzeitbeschäftigung auch am unteren Rand der Lohnverteilung zumindest für Alleinstehende das soziokulturelle
Existenzminimum sichert.
Wir sollten die großen Lohnspreizungen wieder zurückführen auf ein vernünftiges Maß. Dabei ist der Mindestlohn nur ein Punkt. Wenn wir über den Niedriglohnbereich nachdenken, spielen natürlich auch andere
Aspekte eine Rolle. Das geht beispielsweise auch in die
Minijob-Debatte hinein. Könnten wir nicht vielleicht
einzelne Vorteile der Minijobs wie einfache Adminis­
tration und Anmeldung bewahren, aber die MinijobFalle vermeiden, die dadurch eintritt, dass Beschäftigte
mit regulärem Job brutto deutlich mehr verdienen müssen als Minijobber, wenn sie deren Nettolohn erzielen wollen? Nach meiner Ansicht sinnvolle Reformen
beträfen die Steuergesetzgebung bis hin zum Ehegattensplitting sowie die Regelungen zur Sozialversicherung. Um Benachteiligte zu stärken, sollte man noch
einmal darüber nachdenken, ob es nicht praktikabel
ist, die Sozialbeiträge progressiv zu gestalten, also im
unteren Bereich geringere Sozialabgaben anzusetzen.
G.I.B.: In Deutschland – wir sprachen bereits darüber
– galt lange das Erhardsche Leitbild „Wohlstand für
alle“. Das scheint heute genauso wenig zu gelten wie
der einstige amerikanische Mythos vom Tellerwäscher,
der zum Millionär avanciert. Fehlt es an solchen
Leitbildern in Deutschland?
Prof. Möller: Wenn man Wohlstand für alle so interpretiert, dass alle Gruppen am Fortschritt, am wachsenden Wohlstand partizipieren, dann sollte dieses
Leitbild weiterhin gültig sein. Wenn wir das aufgeben, entstehen zwangsläufig Spaltungstendenzen, entstehen abgehängte, demotivierte Personengruppen,
und das ist auf Dauer nicht gut für die Gesellschaft.
Ein auch langfristig wichtiger Faktor für Wirtschaftswachstum ist das, was Soziologen Sozialkapital nennen, „trust“, also Vertrauen. Gegenseitiges Vertrauen
funktioniert aber nur, wenn alle das Gefühl haben,
nicht die Abgehängten zu sein. Das über Jahrzehnte
G.I.B.INFO 4 13
etablierte und gut funktionierende traditionelle deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft wäre sonst
radikal in Frage gestellt. Eine Zeitlang, insbesondere
in Phasen wirtschaftlicher Prosperität, mag ein Verzicht auf einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt halbwegs funktionieren, aber auf Dauer und insbesondere in wirtschaftlich kritischen Phasen wachsen
dann die gesellschaftlichen Folgekosten wie beispielsweise die Kriminalität. Die Zusammenhänge sind ja
alle gut belegt. Wenn die zu konstatierende Ungleichheit noch ungebremst weitergeht: Wollen wir wirklich abgeschottete, bewachte Reichen-Ghettos haben?
Das wäre doch schlimm! Mit unserer tour d`horizon
haben wir in diesem Interview zentrale Aspekte unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit angesprochen,
die mich sehr bewegen. Kürzlich hatte ich eine italienische Politikerin zu Gast. Sie sagte: „Ich habe hier
in Deutschland Felder gesehen, wo Menschen Blumen
pflücken und das von ihnen dafür als angemessen erachtete Geld in eine aufgestellte Box werfen können.
Das würde in Italien nie funktionieren!“ Ich will sagen: Das in Deutschland immer noch grundsätzlich
vorhandene Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer, aber
auch ökonomischer Wert, den wir durch ungerechte
Ungleichheit nicht aufs Spiel setzen sollten.
DAS INTERVIEW FÜHRTEN
Manfred Keuler, Tel.: 02041 767-152
E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de
Arnold Kratz, Tel.: 02041 767-209
E-Mail: a.kratz@gib.nrw.de
Paul Pantel, Tel.: 02324 239466
E-Mail: paul.pantel@arcor.de
KONTAKT
Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)
der Bundesagentur für Arbeit (BA)
Regensburger Straße 104
90478 Nürnberg
E-Mail: Joachim.Moeller@iab.de
65
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
Generation Praktikum
Foto: kontakt@generation-praktikum.at
Gut ausgebildet und ausgebeutet?
Irgendwas stimmt nicht beim Übergang vom Studium in den Beruf. Das unterstellt zumindest die Formulierung von der „Generation Praktikum“. Demnach
tritt ein großer Teil der jährlich rund 200 000 Hochschulabsolventinnen und
-absolventen ein Praktikum an, statt direkt in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis oder eine weiterführende Qualifikationsphase zu wechseln. Ob der
Begriff gerechtfertigt oder irreführend ist – die Frage war Gegenstand eines
Workshops der G.I.B.-Sommerakademie im Juli 2013, der zugleich eine Antwort
darauf suchte, wie sich der Übergang vom Studium in den Beruf möglichst ohne
Prekaritätserfahrungen der Ex-Studierenden managen lässt.
Endlich rein ins Berufsleben und gutes
Geld verdienen! Jahrelang studiert, alle
von der Studienordnung vorgeschriebenen
Pflichtpraktika absolviert, jetzt Hochschulabschluss mit besten Noten und
Medienberichte im Kopf, die behaupten,
Fachkräfte würden von den Unternehmen händeringend gesucht und dann –
nein, keine feste Stelle, nicht einmal eine
befristete, sondern: Noch ein Praktikum,
vielleicht auch zwei oder drei, womöglich unbezahlt und wenn doch entlohnt,
dann zu einem durchschnittlichen Stundenbrutto von 3,77 Euro bei einer Wochenarbeitszeit, die der eines Vollzeitbeschäftigten entspricht.
Das hier geschilderte Szenario, behaupten die einen, sei lediglich eine temporäre Randerscheinung, von der nur eine geringe Zahl von Hochschulabsolventinnen
und -absolventen betroffen ist. Gewerkschaften hingegen orten eine wachsende
Zahl prekärer Praktika, die zunehmend
reguläre Beschäftigungsverhältnisse ersetzen. Nach ihrer Ansicht besteht politischer, gesetzgeberischer und tarifvertraglicher Handlungsbedarf.
66
G.I.B.INFO 4 13
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
Divergierende Zahlen
Um Licht ins Dunkel zu bringen, hatte
die Hans-Böckler-Stiftung die Freie Universität in Berlin mit der Erstellung einer
Studie beauftragt, die unter dem Titel
„Praktika nach Studienabschluss. Zwischen Fairness und Ausbeutung“ veröffentlicht worden ist.
Schnell war den beauftragten Wissenschaftlern Dr. Boris Schmidt und Heidemarie Hecht klar, dass Erkenntnisse über
das genaue Ausmaß an Praktika nach Studienabschluss nicht leicht zu gewinnen
sind. Grund dafür ist nach ihrer Ansicht
die Unschärfe des Begriffs: „Praktika sind
kurze bis längere Phasen einer nicht-regulären, befristeten und mit dem Ziel einer beruflichen Orientierung verbundenen
Tätigkeit außerhalb des Curriculums in
einem Unternehmen, in einer Organisation oder bei einem anderen Arbeitgeber,
die zumindest dem Label nach auch dem
Lernen sowie der Vertiefung von Kompetenzen oder Kontakten dienen soll. Damit
ähneln Praktika Hospitationen, Referendariaten, Volontariaten oder Traineephasen, sind aber etwas weniger institutionalisiert, so dass“, bringen die Wissenschaftler
die Definitionsprobleme auf den Punkt,
„Praktika vieles nicht, sondern eher eine
Restmenge sind.“ Ein weiteres Dilemma
ergebe sich nach „Bologna“ aus der Frage, ob ein Praktikum zwischen BachelorAbschluss und Masterstudium-Beginn als
Praktikum nach Studienabschluss zu werten sei oder nicht.
Kaum eine Überraschung vor diesem Hintergrund, dass die Zahlen wissenschaftlicher Untersuchungen extrem divergieren:
G.I.B.INFO 4 13
Je nach Definition, Methode und Stichprobe liegt der ermittelte Anteil der Praktikantinnen und Praktikanten nach Studienabschluss „zwischen 4 und 40 Prozent“.
Doch der „wahre“ Anteil dürfte nach dem
Befund von Dr. Boris Schmidt, „ausgehend von den Ergebnissen vorliegender
Repräsentativbefragungen der HochschulInformations-System GmbH sowie des
Internationalen Instituts für Empirische
Sozialökonomie in der hier untersuchten
Zeitspanne und den hier untersuchten
Fächergruppen unter Universitätsabsolventinnen und -absolventen bei rund 16
Prozent liegen, unterdurchschnittlich in
Fachrichtungen wie Elektrotechnik oder
Informatik, überdurchschnittlich beispielsweise in den auslaufenden Magisterstudiengängen, in Psychologie, Sprachund Kulturwissenschaften.“
Hinweise auf Prekarität
Die zentralen Ergebnisse der ausdrücklich nicht repräsentativen, aber gleichwohl
durchaus aussagekräftigen Studie stellte
im Workshop der G.I.B.-Sommerakademie DGB-Jugendbildungsreferent Niko
Köbbe vor. Nach seinen Worten spielen
Praktika nach Studienabschluss beim Berufseinstieg der Absolventinnen und Absolventen „eine große Rolle, obwohl die
Befragten bereits durchschnittlich vier
Praktika während ihres Studiums absolviert haben.“ Die Hoffnung von immerhin der Hälfte aller Praktikantinnen und
Praktikanten, im Anschluss an das Praktikum einen Job zu bekommen, erfüllt
sich jedoch lediglich für 17 Prozent. Dass
rund drei Viertel der Befragten meinten,
„vollwertige Arbeit“ geleistet zu haben,
die „fest in den Betriebsablauf eingep-
lant“ war, sah Niko Köbbe als Bestätigung gewerkschaftlicher Befürchtungen,
„dass postgraduelle Praktika zum Teil reguläre Beschäftigung ersetzen.“
Scharf kritisierte der Jugendbildungsreferent die „finanzielle Abhängigkeitssituation“ der jungen Menschen, denn 40
Prozent der Praktika sind gänzlich unbezahlt und die bezahlten liegen im Schnitt
gerade mal bei 550 Euro pro Monat. Betroffene müssen deshalb andere Finanzierungsquellen hinzuziehen: So werden
56 Prozent von den Eltern unterstützt, 43
Prozent setzen eigene Ersparnisse ein und
22 Prozent sind während der Praktika
sogar auf Sozialleistungen angewiesen.
Fazit der DGB-Jugend: „In einem Alter, in
dem neben dem Berufseinstieg auch eine
Familiengründung ansteht, ist ausgerechnet die Generation, die bei der Absicherung ihrer Altersversorgung nicht mehr
allein auf das staatliche Rentensystem vertrauen kann, mit einer unsicheren Berufsperspektive konfrontiert.“
Differenzierte Typologie
Was – aus Zeitgründen – beim Workshop
der G.I.B.-Sommerakademie nicht ausführlich zur Sprache kam, war die Differenziertheit der Untersuchungsergebnisse sowie die Idee der für die Studie
verantwortlichen Wissenschaftler, auf Basis ebenfalls erhobener „qualitativer Beschreibungsmerkmale“ eine Typologie der
Praktika zu erstellen. Sie zeigt die Existenz
vielfältiger „Mischformen“, die nach Auffassung der Forscher Simplifizierungen wie
„Praktika nach Studienabschluss sind gut“
oder „Praktika sind schlecht“ verbieten.
67
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
So ähnelt „Praktikumstyp I“ („Training
on the Job“) der Klassifikation einer Hospitation, einem Referendariat oder einem
Volontariat, wobei die Praktikantinnen
und Praktikanten analog zu Trainees,
die direkt in einen Beruf einsteigen, weitestgehend vollwertige Arbeit leisten und
hierfür neben der Lernchance eine zumindest annähernd als angemessen empfundene Vergütung erhalten.
Praktika des Typs II („faires Lernangebot“) hingegen sind schlecht bezahlt, jedoch gut und strukturiert betreut, an den
Lerninteressen der Praktikantinnen und
Praktikanten orientiert und stellen das
Lernen in den Vordergrund. Praktikums­
typ III („Learning by Doing“) wiederum
verläuft unstrukturiert und ohne expliziten Praktikumsplan, jedoch mit einer
konkreten, spannenden Praktikumsaufgabe. Dieser Typ ermöglicht den Teilnehmenden, die sie interessierenden Bereiche
kennenzulernen und sich in praktischen
Tätigkeiten etwa im Rahmen eines konkreten Projekts „auszuprobieren“. Dr. Boris Schmidt: „Diese drei Praktikumstypen
– sie machen 55 Prozent der Praktika aus –
empfinden die Befragten als überwiegend
hilfreich und werden von ihnen eher positiv eingeschätzt.“
Anders die restlichen Praktikumstypen:
Beim Praktikumstyp IV („Vollzeit-Nebenjob“) leisten die Praktikantinnen und
Praktikanten vollwertige Arbeit, werden
aber bestenfalls auf Nebenjob-Niveau bezahlt. Zudem steht das Lernen nicht explizit im Vordergrund. Allerdings lernen
sie hier nach eigenem Bekunden viel „nebenbei“ und erleben ihr Praktikum deshalb trotzdem überwiegend als hilfreich
für die berufliche Zukunft.
68
Praktika: Differenzierte Typologie
VI „billige Arbeitskraft“
10 %
I „Training on the job“
16 %
II „faires Lernangebot“
15 %
V „unklare Rollen“
11 %
IV „Vollzeit-Nebenjob“
24 %
Im Praktikumstyp V („unklare Rollen“)
hingegen herrscht kein gegenseitiges Verständnis über die Erwartungen, Aufgaben
und Verantwortlichkeiten. Hier sind Praktikantin oder Praktikant anwesend, ohne
wirklich beteiligt zu sein. Verlauf und Ergebnisse bleiben diffus, der Ertrag enttäuschend, ohne jedoch den „Geschmack
von Ausbeutung“ zu haben. Extrem der
Praktikumstyp VI („billige Arbeitskraft“):
Hier wird das Lerninteresse der Teilnehmenden fast völlig ignoriert. Entgegen deren Wünschen und Interessen wird hier
vollwertige, fest eingeplante Arbeit ohne
Gegenleistung verlangt.
Schmidt: „Insgesamt 45 Prozent der von
uns erfassten Praktika weisen die genannten Defizite auf und gelten als mittelmäßige bis schlechte Praktika, wobei
jeweils ca. zehn Prozent auf die Typen V
und VI fallen.“
III „Learning by Doing“
24 %
Einschätzungen der Befragten
Wie schwierig eine objektive Bewertung
der Verhältnisse am Praktikumsmarkt
ist, illustriert Schmidt anhand der subjektiven Ansprüche der Praktikantinnen
und Praktikanten: „Sie empfinden ihre Arbeit während des Praktikums nach Studienabschluss fast durchweg als vollwertigen Beitrag, der – obwohl meist fest in
den Betriebsablauf integriert – keine angemessene finanzielle Entlohnung findet.
Allerdings erwarten sie auch keine der geleisteten Arbeit entsprechende Bezahlung
und sehen Praktika nicht ernsthaft als Gelegenheit, um Geld zu verdienen. Wenn
ihnen das Praktikum hinreichende Lernchancen bietet, den Erfahrungsschatz bereichert, Kompetenzerwerb und berufliche
Orientierung ermöglicht, überwiegen für
sie die Vorteile eines Praktikums deutlich
gegenüber den Nachteilen. Trotz der Ein-
G.I.B.INFO 4 13
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
schätzung als prekärer Beschäftigungssituation sehen sie sich unter dem Strich
also tatsächlich fair behandelt. Das heißt:
Vollwertige Arbeit bei nicht vollwertiger
Bezahlung ist nicht gleichbedeutend mit
erlebter Unfairness.“
Dennoch sprechen sich gut drei Viertel der
Befragten für regelmäßige Kontrollen aus,
um festzustellen, ob Praktikumsplätze reguläre Beschäftigungsverhältnisse ersetzen, und plädieren für die Festsetzung einer Mindestvergütung für Praktika nach
Studienabschluss und damit für ein Verbot unentgeltlicher Praktika. Andererseits fordern „nur“ 32 Prozent ein generelles Verbot von Praktika für Personen
mit erfolgreichem Studienabschluss und
verlangen stattdessen zum Beispiel befris­
tete Verträge, doch der größere Teil (43
Prozent) lehnt dies ab.
Politische Forderungen der
DGB-Jugend
Um dem „Missbrauch“ postgradueller
Praktika entgegenzuwirken, die Qualität
von Praktika zu erhöhen und die rechtliche
Situation von Praktikantinnen und Praktikanten zu verbessern, fordert die DGB-Jugend nach Aussagen ihres Jugendbildungsreferenten unter anderem eine gesetzliche
Definition von Praktika „als Lernverhältnis
im BGB“, um sie so besser von regulären
Beschäftigungsverhältnissen abzugrenzen.
„So wäre klargestellt, dass ein Praktikum
dem Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen dienen soll und das
Lernen im Vordergrund steht.“ Des Weiteren fordert sie für alle Praktikantinnen
und Praktikanten den „Anspruch auf ein
qualifiziertes Zeugnis“, das „Recht auf
einen Praktikumsvertrag inklusive Prak-
G.I.B.INFO 4 13
tikumsplan mit Praktikumsinhalten und
-zielen“ sowie feste Ansprechpartner/-innen im Sinne eines Ausbilders oder einer
Ausbilderin.
Darüber hinaus verlangt die DGB-Jugend
eine zeitliche Begrenzung von Praktika auf
drei Monate (Ausnahmen sind Praktika,
die integraler Bestandteil einer Ausbildung
sind) sowie eine Aufwandsentschädigung
für Praktika und ähnliche Lernverhältnisse von mindestens 300 Euro pro Monat während einer beruflichen bzw. vollzeitschulischen Ausbildung und während
des Studiums. Praktika nach Studienabschluss hingegen seien abzulehnen. „Stattdessen sollen Unternehmen und Verwaltungen reguläre Arbeitsverhältnisse bzw.
Trainee- und Berufseinstiegsprogramme
anbieten, die – wenn keine tariflichen Regelungen greifen – mit mindestens 8,50
Euro pro Stunde vergütet werden müssen.“ Last not least setzt sich die DGBJugend für regelmäßige Kontrollen von
Praktika ein, um zu prüfen, ob sie reguläre Arbeitsplätze ersetzen.“
Abweichende Bewertungen
Nicht zu verschweigen ist, dass die Ergebnisse der Studie nicht für alle politischen
Schlussfolgerungen eindeutige Belege und
Schlussfolgerungen liefern. Aus Sicht der
Wissenschaftler stellt sich die Realität der
Praktika nach Studienabschluss differenziert und facettenreich dar, sodass allzu
einfache, pauschale Lösungen der Realität nicht gerecht zu werden scheinen.
So stimmt Dr. Boris Schmidt vor dem
Hintergrund der wissenschaftlichen Befunde zwar den Forderungen der DGBJugend nach einer gesetzlichen Defini-
tion von Praktika als Lernverhältnisse,
nach dem Recht auf einen Praktikumsvertrag inklusive Praktikumsplan mit
Inhalten und Zielen sowie nach einem
Anspruch auf ein qualifiziertes Zeugnis
zu, doch die Forderung nach zeitlicher
Begrenzung von Praktika auf drei Monate weist er mit Verweis auf die Studienergebnisse zurück: „Nein“, lautet seine
Antwort, „aus verschiedensten Gründen:
Drei Monate dauert auf dem Qualifikationsniveau von Hochschulabsolventinnen
und -absolventen oft schon die Einarbeitungszeit, richtig gelernt ist in der Zeit oft
noch nichts. Die uns vorliegenden Zahlen
liefern auch nicht den geringsten Hinweis,
dass Kurzpraktika besser wären als Langpraktika. Zudem haben viele der von den
Befragten als fair erlebten Praktika eine
Laufzeit von sechs und mehr Monaten.
Ich persönlich würde auf der Grundlage
dessen, was unsere Studienteilnehmenden
für praktikabel halten, die Grenze bei 12
Monaten ziehen, aber länger dauern die
meisten Praktika sowieso nicht.“
Auch die kategorische Forderung der
DGB-Jugend, Praktika nach Studienabschluss abzulehnen und durch „reguläre Ausbildungsverhältnisse bzw. Trainee- und Berufseinstiegsprogramme“ zu
ersetzen, findet keinen Anklang bei den
Wissenschaftlern: „Gerade kleine Unternehmen wie etwa Werbeagenturen mit
starker Projektorientierung und oft nur
einer Handvoll an Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, wo Chaos herrscht oder sogar Teil des Lerninhalts ist, bieten eine
bunte Vielfalt an Praktikumsmöglichkeiten. Mit der Erstellung eines Ausbildungskonzepts wären viele von ihnen
überfordert und würden dann womöglich
keine Praktika mehr anbieten.“
69
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
Eine differenzierte Meinung vertreten
die Wissenschaftler auch zur DGB-Forderung nach einer Aufwandsentschädigung für Praktika „von mindestens 300
Euro“: „Auf den ersten Blick ist tatsächlich kaum nachvollziehbar“, so Dr. Boris
Schmidt, „warum eine Organisation nicht
300 Euro im Monat aufbringen können
sollte. Für eine Reihe von Institutionen
scheint es aber doch ein Problem zu sein.“
Fazit der Wissenschaftler: „Wir können
nur vor Maßnahmen warnen, die dazu
beitragen, die ,guten‘ Praktikumstypen,
die über 50 Prozent aller Praktika ausmachen, zu gefährden. Politische, gesetzgeberische und/oder tarifvertragliche Regelungen sollten nicht einzelne Merkmale
herausgreifen, sondern sich vehement gegen die beiden problematischsten Praktikumstypen ,unklare Rollen‘ und ,billige Arbeitskraft‘ richten, aber gleichzeitig
auch für eine Weiterentwicklung der anderen Praktikumstypen.“
Empfehlungen der Wissenschaft
Von einem bloßen „Weiter so“ sind die
Wissenschaftler also weit entfernt. Vielmehr haben Hecht und Schmidt einen
Alternativvorschlag zur Forderung der
DGB-Jugend nach einer „Aufwandsentschädigung“ entwickelt. Ihre Idee besteht
in einer „mehrfach gestaffelten Regelung,
die Praktika nach Studienabschluss in Abhängigkeit von ihrer Dauer schrittweise
regulären Beschäftigungsverhältnissen
annähert und damit lehrreiche flexible
Praktika weiterhin ermöglicht, jedoch
eine Dauerbeschäftigung im Praktikumsstatus aus Sicht der anbietenden Institution unattraktiv bis unmöglich macht.“
70
Weiterhin sprechen sie sich dafür aus, den
Praktikumsantritt direkt im Anschluss
an das Studium mit einer aufschiebenden
Wirkung auf die Exmatrikulation zu versehen, sodass die damit verbundenen Vergünstigungen wie Krankenversicherung,
BAföG oder Stipendium für einen begrenzten Zeitraum von maximal sechs
Monaten noch genutzt werden können.
Drittens plädieren sie für die „Einführung
eines öffentlichen oder durch Stiftungen
finanzierten Stipendiensystems für Praktika nach Studienabschluss, wobei Praktikant und praktikumsgebende Organisation gemeinsam das Stipendium beantragen
sollten und sich die Organisation im Gegenzug für das Stipendium verpflichtet,
bestimmte nachprüfbare Richtlinien hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung des
Praktikums einzuhalten.“
Erschöpft ist der im Auftrag der HansBöckler-Stiftung erarbeitete Ideenkatalog der Wissenschaftler damit noch lange
nicht. Eine Auswahl ihrer weiteren Empfehlungen hier nur summarisch:
(1) Information und Beratung zu Praktika durch die Career Center der Hochschulen,
(2) Ausbau und Unterstützung von „Positivlisten“, in denen sich Unternehmen
und Organisationen zur Einhaltung
formaler und inhaltlicher Mindeststandards bei Praktika verpflichten
(z. B. „Fair Company“),
(3) S chaffung einer neutralen, von Absolventinnen und Absolventen sowie
Praktikumsgebern gleichermaßen akzeptierten Schieds- oder Schlichtungsstelle, an die missbräuchliche Praktikumsfälle gemeldet werden können,
(4) Ausbau internetbasierter Foren, in denen ehemalige Praktikantinnen und
Praktikanten unter Nennung des Unternehmens oder der Organisation
ihre Praktikumserfahrungen schildern
und das absolvierte Praktikum nach
Kriterien etwa in Anlehnung an den
in der Studie ebenfalls berücksichtigten „DGB Index Gute Arbeit“ bewerten können.
Unveränderter Bedarf
an Praktika
Auf eine der dringendsten Fragen – „Werden durch Praktika tatsächlich reguläre
Arbeitsplätze ersetzt?“ – haben aber auch
die Wissenschaftler keine endgültige Antwort gefunden. „Woher will man das wissen? Wie würde man eine Antwort auf
diese Frage bekommen?“, fragt Dr. Boris Schmidt zurück. „Wenn Praktikanten
bei geringer Bezahlung regulär arbeiten
und nach sechs Monaten gehen müssen,
wäre das ein Indiz dafür, dass ein regulärer Arbeitsplatz ersetzt wird. Aber welchen Wert hätte es für ein Unternehmen,
jemanden, der sechs Monate lang bleibt,
drei Monate lang einzuarbeiten? Dann
müsste sich ein Trend zu Kettenpraktika erkennen lassen, doch den gibt es laut
unseren Daten nicht.“
Weiteres Verdachtsmoment für den Ersatz regulärer Arbeit durch Praktika wäre
die feste Einplanung der Arbeitsergebnisse von Praktikanten in die Arbeitsabläufe. Dazu der Wissenschaftler: „Im
Praktikumstyp ,unklare Rollen‘ waren
Praktikanten nicht eingeplant und genau
das war das Manko. Da saß jemand den
ganzen Tag nur dabei, bekam ein wenig
G.I.B.INFO 4 13
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
Foto: ddpimages/Oliver Lang
rum aufgrund des Fachkräftemangels das
Orientierungsinteresse der Absolventen,
eins der Hauptmotive für Praktika, nachlassen sollte. Kann sein, dass sich der
Fachkräftemangel auf die Verzweiflungs­
praktika auswirkt, denn Praktika sind
mitunter auch eine Notlösung und schon
das Ergebnis eines Gefühls der Prekarität,
aber das betrifft gerade mal zehn Prozent
aller Praktika.“ Bedarf an „guten“ Praktika, lautet seine Schlussfolgerung, wird
es auch weiterhin geben.
Geld, hatte aber nicht viel zu tun, wurde
nicht betreut – und das“, fragt er rhetorisch, „ist jetzt das Gute, das man bewahren soll, oder das Schlechte, wogegen man
kämpft? Wir wissen es nicht.“
Als „Skandal“ sieht er aber – in Übereinstimmung mit der DGB-Jugend – die
Tatsache, dass 22 Prozent der Praktikantinnen und Praktikanten nach Studienabschluss Sozialleistungen beziehen
oder einen Nebenjob annehmen müssen. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit
des Sozialleistungsbezugs während eines
Praktikums hatte bei der G.I.B.-Sommerakademie bereits der Vertreter eines Jobcenters gestellt. Dazu der Wissenschaftler: „Die Jobcenter sollten eine anonyme
Untersuchung durchführen, um herauszufinden, warum Praktikantinnen und
Praktikanten bei ihnen Sozialleistungen
abrufen müssen.“
Den Anstieg an Sozialleistungen beziehenden Praktikanten von 12 (im Jahr
G.I.B.INFO 4 13
2007) auf 22 Prozent kann er sich aus
den erhobenen Daten heraus nicht erklären, denn bezahlt werden Praktika
heute nicht schlechter als vor fünf Jahren: „Vielleicht ist die Steigerung mit
der Einführung der Bachelor-Studiengänge zu begründen.“ Ob die Zahl der
Praktika nach Studienabschluss aufgrund der „nach Bologna“ praxisorientierteren Studiengänge zurückgehen,
ist für Schmidt noch nicht genau abzuschätzen: „So wie Bologna bislang umgesetzt worden ist, eher nicht, denn so
stark sind die Praxisbezüge nicht. In der
Hochschule wird auch weiterhin nicht
die Welt simuliert und das ist auch nicht
ihre Funktion. Zwar werden Studierende heute näher an die Fenster der Elfenbeinwelt geführt, aber hinaussehen
müssen sie selbst.“ Sprich: Praktika erübrigen sich dadurch nicht.
Auch von einem Rückgang an Praktika
infolge des Fachkräftemangels ist Schmidt
nicht überzeugt: „Mir wäre unklar, wa-
Gleichzeitig warnt er davor, das Thema als
„nur temporäre Erscheinung“ oder „nur
im Promillebereich“ kleinzureden: „Die
Studienergebnisse liefern klare Hinweise, dass ein erheblicher Teil der Praktika
nach Studienabschluss problematisch und
prekär ist, dass es hier erheblichen Steuerungsbedarf gibt und dass es eine Frage
der gesellschaftlichen Verantwortung ist,
hier nicht wegzuschauen, denn wir reden
über tausende von Fällen pro Jahr, sondern zu handeln, denn von selbst wird es
nicht besser.“
Beispiel I: „Career Service“
der Universität Duisburg-Essen
Die von den Wissenschaftlern empfohlene Praktikanten-Beratung existiert am
Career Center der Universität DuisburgEssen, dem „Akademischen BeratungsZentrum Studium und Beruf“ (ABZ),
bereits seit 2005. Die Serviceleistung der
Einrichtung umfasst eine frühzeitig einsetzende Karriereberatung „entlang des
Student-Life-Circle, des Lebenszyklusmodells“, wie Ruth Girmes, Mitarbeiterin des ABZ, im Workshop der G.I.B.Sommerakademie formulierte.
71
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
Praktika, weiß die erfahrene Karriereberaterin, sind keine Neuerscheinung der
Arbeitswelt, sondern ein seit dreißig Jahren existierendes Phänomen, weshalb sie
auch – im Plural – von „Praktikumsgenerationen“ spricht. Für Studienabsolventinnen und -absolventen und angehende
„Manche brauchen länger, um sich beruflich zu orientieren“, begründet die Beraterin ihre Arbeit, „denn Bildung ist ein
komplexer Prozess. Das heißt nicht, dass
sie schlechtere Absolventinnen und Absolventen sind, vielmehr hängt ihr Beratungsbedarf vom sozio-kulturellen Hin-
Gemessen an der Masse der Studierenden,
räumt sie ein, nimmt das Angebot jedoch
nur „eine verschwindend geringe Minderheit“ in Anspruch, vor allem aber Studierende der Gesellschafts-, Bildungs- und
Geisteswissenschaften, aber auch der Wirtschafts-, seltener der Naturwissenschaften.
Foto: ddpimages/Michael Kappeler
Nach ihrer Ansicht sollten berufliche
Orientierung, Verbreiterung oder Vertiefung der Erfahrungsbasis sowie „das
Netzwerken“ – also die klassischen Ziele
von Absolventenpraktika – Bestandteil
des regulären Studiums sein: „Die Studiengänge haben sich im Kontext des Bologna-Prozesses Employability auf die
Fahnen geschrieben, den Anspruch aber
nicht alle eingelöst.“
Praktikantinnen und Praktikanten, als
deren „Anwältin“ sich Ruh Girmes sieht,
ist der Career Service die zentrale, oft die
einzige Anlaufstelle.
Vorteil der Einrichtung: „Wir kennen die Relevanz von Praxiserfahrungen, die Qualifikations- und Personalbedarfe der Branchen
sowie Unternehmen, die Praktika anbieten.“ Hier werden die Unterlagen der Studentinnen und Studenten „gecheckt“ sowie
die im Studium erworbenen Kompetenzen.
In einem Erstgespräch, ergänzt durch Telefon- oder Mail-Kommunikation, klären
Career Service und Studienabsolvent/-in gemeinsam, ob ein Praktikum sinnvoll ist und
gegebenenfalls welches. Ruth Girmes: „Die
Beratung ist personenorientiert, vertraulich,
freiwillig, anonym und kostenfrei.“
72
tergrund ab.“ Meist handele es sich um
Studierende aus „bildungsfernen Schichten“ – Ruth Grimes bevorzugt den amerikanischen Ausdruck „First-Generation Students“, also junge Menschen, die
als Erste in ihren Familien studieren, sowie um Menschen mit Migrationshintergrund und um Frauen: „Sie akzeptieren ein Praktikum eher als Männer,
so wie Frauen auch häufiger befristet
beschäftigt sind als Männer.“ Sie alle
finden nach Erkenntnissen der Beraterin in ihrem Umfeld oft niemanden, mit
dem sie ihre berufliche Zukunft reflektieren und diskutieren können: „Unsicherheit und Ängste hinsichtlich ihrer
beruflichen Zukunft sind weit verbreitet. Viele wissen deshalb eine neutrale
Instanz zu schätzen.“
Dass Praktikantinnen und Praktikanten
oft in reguläre Arbeitsprozesse eingebunden sind und ihre Arbeitsproduktivität in die Arbeitsergebnisse eingeplant
ist, kritisiert Ruth Girmes nicht – nur:
„Dann sollte man es nicht Praktikum
nennen, denn der Sinn eine Praktikums
ist das Lernen und nicht die Verrichtung
von Arbeit.“ Zudem, so ihre Erfahrung,
ignorieren manche Praktikumsgeber das
Arbeitszeitgesetz, missbrauchen Praktika
als verlängerte Probezeit und stellen so
hohe Anforderungen, dass es sich faktisch
um Traineeprogramme handele: „Das ist
nicht akzeptabel! Auf der anderen Seite habe ich auch schon erlebt, dass ein
Pommesbudenjob als Praktikum deklariert wurde.“ Nach ihrer Überzeugung
fehlt ein „Praktikantengesetz“: „Überregulierung schränkt Freiheiten ein und
verbaut Chancen, aber die Politik sollte
dafür sorgen, dass junge Menschen in
Praktika versichert sind und bestehende Gesetze Anwendung finden.“
G.I.B.INFO 4 13
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
ABSTRACT
Viele der jährlich rund 200.000 Hochschulabsolventinnen und -absolventen treten ein Praktikum
an, statt direkt in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis oder eine weiterführende Qualifikationsphase zu wechseln. Die Qualität der Praktika und die damit oft verbundenen Prekaritätserfahrungen der Ex-Studierenden waren Gegenstand eines Workshops der G.I.B.-Sommerakademie.
Beispiel II:
nomiko e. V., Bochum
Ebenfalls kostenfrei ist für Studienabsolventinnen und -absolventen das im
Workshop der G.I.B.-Sommerakademie vorgestellte Angebot von nomiko
e. V., einem „branchenunabhängigen Talent Management System im Bereich der
Aus- und Weiterbildung“. Im Jahr 2000
von der Nokia GmbH im Zuge des Fachkräftemangels im IT-Bereich gegründet,
steht der gemeinnützige Verein heute allen Unternehmen für eine Mitgliedschaft
offen, darunter vielen KMU und familiengeführten Unternehmen, die sich den
hohen Verwaltungsaufwand für Personalrekrutierung und Hochschulmarketing nicht leisten wollen oder können.
Auf der anderen Seite stehen – neben
Schülern, Auszubildenden und Studenten
– Praktikanten sowie, im Unterschied
dazu, junge Absolventen, bei nomiko
e. V. „Qualifikanten“ genannt. Mit ihnen schließt nomiko e. V. einen YoungProfessional-Vertrag. Er beinhaltet unter
anderem ein Grundgehalt für die Qualifikanten – von nomiko gezahlt und den
jeweiligen Mitgliedsunternehmen mit
einem geringen Aufschlag in Rechnung
gestellt, das abhängig von Mitgliedsunternehmen und Standort pro Monat ab
circa 2.000 Euro aufwärts liegt.
Bereits im Vorfeld erarbeiten Unternehmen und young professional – die meisten
von ihnen IT-, aber auch Wirtschaftsund Geisteswissenschaftler – gemeinsam einen Plan für den konkreten Ablauf der Kooperation, einigen sich über
den Lernstoff und die konkreten Tätigkeiten – immer auch im Hinblick auf
G.I.B.INFO 4 13
ANSPRECHPARTNER IN DER G.I.B.
AUTOR
Arnold Kratz, Tel.: 02041 767-209
Paul Pantel, Tel.: 02324 239466
E-Mail: a.kratz@gib.nrw.de
E-Mail: paul.pantel@arcor.de
KONTAKTE
Dr. Boris Schmidt, Tel.: 030 33847-993
Niko Köbbe, Tel.: 0251 132350
Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
DGB-Region Münsterland
Coachingnetz Wissenschaft
Jugendbildungsreferent
Internet: www.coachingnetz-wissenschaft.de
E-Mail: muenster@dgb-jugend-nrw.de
Astrid Kempmann, Tel.: 0234 41757542
Managing Director nomiko e. V.
E-Mail: astrid.kempmann@nomiko.de
Internet: www.nomiko.de
Ruth Girmes M. A., Tel.: 0201 183-3285
Akademisches Beratungs-Zentrum
Studium und Beruf – ABZ Career Service/Campus Essen
Universität Duisburg-Essen
E-Mail: Ruth.Girmes@uni-due.de
die Verwertbarkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt. Alle Absprachen werden
dokumentiert, gegengezeichnet und deren Einhaltung von nomiko e. V. „überwacht“. Missbrauch bei Einsätzen beugt
die „nomiko“-Satzung vor. Astrid Kempmann, Managing Director bei nomiko
e. V.: „Unternehmen, die Praktikanten
für ihre Produktion einstellen wollen,
lehnen wir genauso ab wie den Einsatz
eines Studenten der Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Marketing in
der Verpackung eines Betriebs.“
Studienabsolventinnen und -absolventen
können sich bei Interesse auf einer Online-Bewerberseite melden, beziehen aktuelle Informationen über neue Jobs per
Facebook oder Newsletter. Im „nomiko“Geschäftsmodell sieht Astrid Kempmann
gleich mehrere Vorteile für die Qualifikanten beim Berufseinstieg: „Sie können
theoretische Lerninhalte in der Praxis anwenden, ihren Berufswunsch konkretisieren und werden an weitere Aufgaben
des Berufs herangeführt.
Vielfältig auch die Vorteile für die Mitgliedsunternehmen. Astrid Kempmann
zählt einige auf: „Frühzeitige Bindung
des hoch qualifizierten Nachwuchses, unverbindliches Kennenlernen potenzieller
Fachkräfte, große Entlastung durch die
Übernahme von zeitaufwendigen Routineaufgaben der Personalbetreuung wie
Recruiting, Administration und Löhnung
durch nomiko.“ Sinnvoll sei das nomikoAngebot auch für Unternehmen, die eine
Person für ein Projekt einstellen wollen,
dessen Budget aber noch nicht freigegeben ist: „Dann bietet der Young-Professional-Vertrag die Möglichkeit, diese zeitliche Lücke zu überbrücken – mit einer
Sicherheit für beide Seiten.“ Die Ähnlichkeit des Geschäftsmodells zur Leiharbeit
sei nur vordergründig, betont die Managerin: „Unser Ziel ist die Aus- und Weiterbildung während des Studiums, das Sammeln von Berufserfahrung in den ersten
1 – 1,5 Jahren nach Abschluss des Studiums und die Möglichkeit zur Übernahme unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In vielen Fällen gelingt das auch.“
73
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
Projekt „SESAM“
Arbeitsbezogene Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen
Etwa drei bis vier Millionen Beschäftigten mangelt es an arbeitsplatzrelevanten Lese- und Schreibkompetenzen. Im Modernisierungsprozess
ihrer Betriebe können sie oft nicht
mithalten, berufliche Entwicklungsmöglichkeiten sind ihnen versperrt.
Um das zu ändern und zugleich die Arbeitsplätze zu sichern, hat das BMBF
im November 2011 dazu aufgerufen,
Projektvorschläge zum Thema arbeitsorientierte Grundbildung zu initiieren. Die G.I.B. hat zusammen mit
dem bbb Büro für berufliche Bildungsplanung, Dortmund, dem BMBF erfolgreich ein Projekt vorgeschlagen
mit dem Titel „Strategien zur Weiterentwicklung der Beratungsangebote
in Nordrhein-Westfalen für arbeits­
orientierte Grundbildung – ein Beitrag zur Stärkung von Beschäftigten
und Unternehmen – SESAM“.
74
G.I.B.INFO 4 13
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
Lange vor der aktuellen PIAAC-Studie
(Programme for the International Assessment of Adult Competencies) der
OECD, die dem Bildungsstand deutscher Erwachsener hinsichtlich ihrer
Lese-, Rechen- und Problemlösekompetenzen im internationalen Vergleich gerade mal Mittelmaß bescheinigte, hatten vor Jahren die Ergebnisse der vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten „Level-One-Studie“
die Politik aufgeschreckt. Demnach können 7,5 Millionen Menschen in Deutschland – darunter 57 Prozent Berufstätige
– nicht richtig lesen und schreiben. Die
vom BMBF anschließend durchgeführte
Alphabetisierungskampagne erreichte jedoch nur einen kleinen Kreis der betroffenen Personen, von denen wiederum nur
Einzelne das Erlernte im beruflichen Alltag verwerten konnten. Ursache dafür
war die Distanz von Konzept und Lehrenden zu den Betrieben.
Konsequenz aus den desaströsen Resultaten war die Entscheidung des BMBF,
betroffene Beschäftigte mithilfe ihrer
Arbeitgeber über den Arbeitsplatz zu erschließen. Doch wie zuvor die Arbeitgeber für die Idee gewinnen? Mit dem Projekt SESAM will die G.I.B. ihre Kontakte
zu unternehmensnahen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren nutzen und
zusammen mit ihnen ein Konzept entwickeln, mit dem Verantwortliche in Unternehmen für die Identifikation arbeitsprozessbezogener Grundbildungsbedarfe
zu gewinnen sind.
Dazu konzentriert sich die G.I.B. zunächst auf drei Gruppen von Multiplikatoren: Unternehmensberaterinnen und
-berater mit Erfahrungen in der Poten-
G.I.B.INFO 4 13
tialberatung, Beraterinnen und Berater,
die zum Bildungsscheck NRW in seiner
Variante „betrieblicher Zugang“ Unternehmen beraten, sowie Träger von
Transfergesellschaften, die bei Massenentlassungen zum Einsatz kommen. So
entstand ein kleiner Kreis handverlesener
Expertinnen und Experten, die auf Einladung der G.I.B. in regelmäßigen Treffen klären, was unter „arbeitsbezogener
Grundbildung“ zu verstehen ist und wie
Unternehmen für das Thema zu sensibilisieren sind.
Zweites zentrales Handlungsfeld des
SESAM-Projekts sind die Erschließung
und Fortbildung Lehrender, um sie zur
Vermittlung einer arbeitsorientierten
Grundbildung zu befähigen. Hier bot
sich das Büro für berufliche Bildungsplanung (bbb) in Dortmund als kompetenter Partner an, der bereits seit Jahren Konzepte einer arbeitsorientierten
Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen
entwickelt, realisiert und evaluiert, sowohl für Arbeitslose, für Menschen in
Brückensituationen wie zum Beispiel in
Transfergesellschaften, für Beschäftigte
in prekären Arbeitsverhältnissen, für Beschäftigte auf dem zweiten Arbeitsmarkt
sowie für Schwerstbehinderte – eine Expertise, die nunmehr den von der G.I.B.
ausgewählten Beraterinnen und Beratern
zur Verfügung steht.
Was versteht SESAM unter
„arbeitsorientierter
Grundbildung“?
„Grundbildung“, stellt bbb-Geschäftsfüherin Rosemarie Klein klar, „ist mehr
als die Vermittlung von Kulturtechniken
wie Lesen, Schreiben, Rechnen oder –
nicht nur im Falle von Migrantinnen und
Migranten – auch das Sprechen. Grundbildung ist vielmehr ein pädagogisches
Konzept, das Bildungsziele wie Reflexionsfähigkeit, Autonomie und Identität
einschließt.“
Grundbildungsanforderungen an sogenannten Einfacharbeitsplätzen umfassen arbeits- bzw. kontextbezogenes
Lesen, Schreiben und Rechnen, arbeitsbzw. kontextbezogene Kommunikation, (Selbst-)Reflexionskompetenz sowie
Change-Kompetenz, also die Handlungsfähigkeit, komplexe, herausfordernde Lebenssituationen und Veränderungen aktiv mit zu gestalten: „Was Kindern heute
in der Grundschule wie selbstverständlich vermittelt wird, haben erwachsene Beschäftigte in ihrer Kindheit nie gelernt. Dazu gehört etwa das weite Feld
neuer Medien inklusive EDV.“ Hinzu
kommt: Viele Erwachsene konnten durchaus mal Lesen, Rechnen und Schreiben,
haben diese Kompetenzen aber, weil sie
bei der Arbeit und im Privaten nie abgefragt wurden, im Lauf ihres Berufslebens verlernt.
Angesichts der rasanten technologischen
und organisatorischen Veränderungen in
den Unternehmen, der Entwicklung zur
Dienstleistungsgesellschaft und mit dem
Einzug von Qualitätsmanagement aber
steigen die beruflichen Anforderungen
auch an sogenannten Einfacharbeitsplätzen, wie das Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung nachgewiesen hat.
Viele „Einfacharbeiten“ werden um weitere Tätigkeitselemente angereichert,
stellen zudem höhere Anforderungen
an außerfachliche Qualifikationen und
Schlüsselqualifikationen. Im Pflegesektor
75
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
etwa steigen auch für die Helferberufe
die Ansprüche an dokumentarische Tätigkeiten. Sie setzen Schrift- und Sprachkompetenz sowie kommunikative Fähigkeiten voraus. Selbst in der Lager- und
Logistikbranche genügen rudimentäre
Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse
schon lange nicht mehr: „Es reicht nicht
mit dem Gabelstapler durch die Hallen
zu fahren“, wissen die SESAM-Verantwortlichen, „hier Tätige müssen Symbolsprache entschlüsseln können und selbst
Soft Skills gewinnen an Bedeutung.“
Nach ihrer Erfahrung unterschätzen
viele Unternehmen die Bedeutung von
Beschäftigten an Einfacharbeitsplätzen
in der Wertschöpfungskette. Doch nicht
nur die Unternehmen selbst, auch die
Kammern und Gewerkschaften hinken
mitunter dem neuesten Erkenntnisstand
hinterher: „Es gibt durchaus Kammern,
die sich dem Thema arbeitsorientierte
Grundbildung zuwenden, aber auch sie
müssen oft erst sensibilisiert werden für
die Einsicht, dass das ein Feld betrieblicher Weiterbildung ist. Noch gehen die
Initiativen eher von den Beraterinnen und
Beratern aus.“
Andererseits wächst die Einsicht in die
Notwendigkeit arbeitsbezogener Grundbildung bei Unternehmensleitungen und
Personalverantwortlichen aufgrund des
demografischen Wandels. Er zwingt
dazu, das endogene Potenzial der Unternehmen in den Betrieben zu stärken.
Denn: Ein Austausch älterer Geringqualifizierter gegen jüngere Qualifizierte
funktioniert immer seltener. Grundbildungsangebote werden somit zukünftig regulärer Bestandteil betrieblicher
Weiterbildung und damit ein Angebots-
76
feld der Bildungszentren der Kammern.
„Doch bis es so weit ist, sollte die öffentliche Hand Verantwortung übernehmen
für Personen, die für gewöhnlich nicht
im Blick von Personalentwicklung sind,
an die man nicht denkt bei betrieblicher
Weiterbildung.“
Thorsten Manske, Bildungsberater bei
der Kreishandwerkerschaft SteinfurtWarendorf in Rheine, stimmt zu: „Noch
dominiert in den Betrieben der Tenor:
Es gibt einfache Tätigkeiten, da braucht
man keine besondere Grundbildung.
Doch mit der zunehmenden Spezialisierung und Komplexität der Arbeitsprozesse durch Technik und Dokumentation steigen die Anforderungen an die
Beschäftigten. Handwerk wird immer
mehr zur Dienstleistung, Arbeitsprozesse
gehen Hand in Hand, Geselle und Praktikant müssen sich auf der Baustelle verstehen, damit Arbeitsabläufe reibungslos
funktionieren, zunehmende Kundenkontakte aufgrund steigender Beratungsanteile erfordern gute Deutschkenntnisse
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Anders als früher betrifft das zukünftig
Beschäftigte aller Qualifikationsstufen.“
Arbeitsorientierte Grundbildung gewinnt an Bedeutung
Nicht leicht ist es jedoch, in dieser Frage überhaupt Zugang zu Unternehmen
und ihren Beschäftigten zu bekommen.
Thorsten Manske: „Für die Betriebe ist
das ein sensibles Thema, weil dabei Arbeitsprozesse noch einmal durchleuchtet
werden müssen. Sie verschweigen lieber,
dass Beschäftigte ohne Grundbildung
in ihrem Unternehmen tätig sind, weil
sie befürchten, Kunden könnten des-
wegen an der Qualität ihrer Produkte
oder Dienstleistungen zweifeln. Meistens
kümmern sich Betriebe erst um das Thema, wenn Fehler auftauchen oder etwas
schief gelaufen ist. Ohne zuvor Vertrauen aufgebaut zu haben, kann man in
Betrieben kaum über das Thema sprechen.“ Die von ihm durchgeführte Beratung von Beschäftigten und Betrieben
zu den Themen Bildungsscheck NRW
und Bildungsprämie hält der Vertreter
der Kreishandwerkerschaft für „einen
guter Türöffner, um an die Betriebe heranzukommen“.
Rosemarie Klein kann die Zurückhaltung der Betriebe nachvollziehen: „Betriebe verstehen sich in erster Linie als
Arbeitsorte zur Erzielung von Unternehmensrentabilität und weniger als Lernorte
zur Erweiterung der Kompetenzen ihrer
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; Lernen und Kompetenzentwicklung werden
deshalb immer noch oft als Bringschuld
der Beschäftigten begriffen.“
Das Thema arbeitsorientierte Grundbildung muss nach ihrer Auffassung anschlussfähig an betriebliches Denken
sein. Beraterinnen und Berater müssen
„in betrieblichen Denk- und Handlungslogiken argumentieren“. Ihre Aufgabe
ist, Notwendigkeit sowie betrieblichen
und individuellen Nutzen arbeitsorientierter Grundbildung überzeugend darzulegen oder in Strategiegesprächen und
Workshops gemeinsam zu erarbeiten: Mit
Unternehmensleitungen, Personalverantwortlichen und Mitarbeitervertretungen
sowie mit direkten Vorgesetzten wie etwa
Schichtleitern, Pflegedienstleitungen oder
Vorarbeitern, gegebenenfalls unterstützt
durch Kammervertreter oder auch Bil-
G.I.B.INFO 4 13
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
dungsreferenten der Gewerkschaften.
Dazu brauchen Grundbildungsberater
und -beraterinnen fundierte Kenntnisse
über regionale Branchen und Unternehmen, in denen es Einfacharbeitsplätze
gibt – und ein klar strukturiertes Vorgehen. Am Anfang steht dabei die Frage: Was sind die aktuellen Herausforderungen im Unternehmen? Darauf folgt
die Information bzw. gemeinsame Erarbeitung der Chancen und Möglichkeiten
einer arbeitsorientierten Grundbildung
sowie die Feststellung von Lern- und
Kompetenzentwicklungsbedarfen aus
Sicht des Unternehmens und der Beschäftigten, aus denen wiederum Lernangebote abzuleiten sind. Rosemarie Klein:
„Allgemeine Lernanlässe wie ‚Lesen`
oder ,Schreiben‘ zu formulieren genügt
nicht. Vielmehr müssen Lernanlässe aus
konkreten, unmittelbaren Arbeitsanforderungen resultieren, im Pflegebereich
zum Beispiel aus der Aufgabe, Hautveränderungen von zu Pflegenden knapp
und präzise aufzuschreiben.“
klar. „Aufhänger der Qualifizierung ist
vielmehr eine Optimierung der Arbeitsabläufe. Dazu sollen Teilnehmer/-innen
vor allem Zusammenhänge im Produktionsprozess erkennen – für Beschäftigte
an Einfacharbeitsplätzen keineswegs eine
Selbstverständlichkeit. Die mit der Qualifizierung an Einfacharbeitsplätzen vom
Unternehmen dokumentierte Wertschätzung auch gering Qualifizierter“, ist der
Berater überzeugt, „steigert deren Produktivität.“
Allgemeinere Anlässe, das Thema „arbeitsorientierte Grundbildung“ im Kontext des jeweiligen Unternehmensbedarfs
anzusprechen, sind für den Unternehmensberater Martin Köhler, Inhaber der
Firma pe werk in Dortmund, etwa die
Einführung neuer Techniken, eine effektivere Personaleinsatzplanung, ein flexiblerer Mitarbeitereinsatz, Mängel beim
Qualitätsmanagement oder die Beseitigung des Fachkräftemangels. In einem
von ihm im Rahmen des SESAM-Projekts
beratenen Unternehmen, das Fenster produziert, werden rund zehn Prozent der
60 Beschäftigten qualifiziert: „Dabei geht
es nicht etwa um einen bloßen Deutschkurs“, stellt der Unternehmensberater
Bei der Entwicklung konkreter Grundbildungsangebote ist darauf zu achten, in
den Titeln der Angebote Defizitbeschreibungen von Beschäftigten und damit
ungewollte Diskriminierungen der Lernenden zu vermeiden. Vielmehr gilt es
Etiketten zu finden, die die betriebliche
Relevanz in den Mittelpunkt stellen. Unverzichtbar ist zudem, die Beschäftigten
an der Organisation des Angebots zu
beteiligen und bei der Organisation des
Angebotes kleinschrittig vorzugehen.
G.I.B.INFO 4 13
Kompetenzentwicklung und
Lerntransfer
Neben den Betrieben sind die Beschäftigten zweiter Adressat der Lernangebote. Zwar lehnen gering Qualifizierte
an Einfacharbeitsplätzen institutionalisierte Lernorte und Organisationsformen
der Erwachsenenbildung keineswegs kategorisch als für sie ungeeignet ab, aber
oft mangelt es ihnen an passenden Gelegenheiten.
Mit dem Lernen allein ist es jedoch nicht
getan. Eine zentrale Leistung arbeitsorientierter Grundbildung ist, das Gelernte
als Kompetenz in das Arbeitshandeln zu
überführen. Dieser Lerntransfer kann nur
gelingen, wenn der Betrieb eine Feedbackkultur entwickelt und Beschäftigte
eine Bilanz ihrer Fortbildung erstellen:
Was habe ich vom Gelernten ausprobiert?
Was ist mir wie gelungen? Wer hat es bemerkt? Wie haben die anderen reagiert?
Dem „Feedback“ von Vorgesetzten
müssen allerdings Konsequenzen folgen: „Kompetenzzuwächse im Sinne des
,Mehr-Könnens‘ brauchen auch Kompetenzzuwächse im Sinne des ,Mehr-Dürfens‘“, zitieren G.I.B. und bbb Erkenntnisse der Wissenschaft, „ein Mehr an
Kompetenzen muss ein Mehr an Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten ermöglichen.“ Dazu zählen etwa die Beteiligung an Abteilungsbesprechungen oder
an der Entwicklung von QM-Systemen sowie Formen des Job-Enrichments: „Dabei
werden Beschäftigten neue Anforderungen
zugetraut, aber auch höhere Leistungen
eingefordert. Bisherige Erfahrungen zeigen jedenfalls, dass Grundbildungsangebote in Unternehmen drei auf den ersten
Blick nur schwer miteinander zu vereinbarende Ziele erreichen können: Empowerment im Sinne der Stärkung von Individuen, Employability als Stärkung der
Beschäftigungsfähigkeit und schließlich
die Sicherung von Unternehmenserfolg.
Die Trias ist kompatibel.“
Weiterbildungskonzept für
Lehrende: Arbeitsorientierte
Grundbildung
Auf Basis dieser Erkenntnisse hat das bbb
im Rahmen des SESAM-Projekts eine
Weiterbildung für Lehrende konzipiert.
Sie richtet sich an Kursleiterinnen und
Kursleiter, Dozentinnen und Dozenten,
77
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
Berater und Beraterinnen in NRW, die
bereits über Erfahrungen in der Grundbildungs- und Alphabetisierungsarbeit
oder in Schulungen mit Firmenkunden
verfügen.
Die Geschäftsführerin des bbb: „Wer
noch nie ein Unternehmen von innen gesehen hat, kann die Weiterbildung nicht
in fünf Tagen absolvieren. Wir wollten
auch unbedingt mit einer kleinen Gruppe
arbeiten, weil es sich um eine sehr persönlichkeitsorientierte Weiterbildung handelt.“ Thorsten Manske von der Kreishandwerkerschaft teilt ihre Auffassung:
„Grundbildung an Volkshochschulen hat
oft zu wenig Bezug zu konkreten Anliegen und Bedarfen in Unternehmen und
braucht mehr Flexibilität in der Lernorganisation. Lehrende müssen sich in Betrieben auskennen und dort auf jeden Fall
hospitieren, um die konkreten Arbeitsprozesse kennenzulernen. Nur so kann
sich eine gute Grundbildung festigen.“
Ein bisschen anders sieht das Gabriele
Fuchs von der kommunalen Weiterbildungsberatungsstelle an der VHS der
Stadt Bochum: „Betriebe, aber auch andere Organisationen wie etwa die Jobcenter reagieren keineswegs mit Vorbehalten gegenüber Volkshochschulen,
die aufgrund ihres qualifizierten Unterrichts heute auch in den Unternehmen
über einen guten Ruf verfügen. Das hören wir jedenfalls, wenn wir mit Einverständnis der von uns beratenen Beschäftigten Kontakt zu deren Arbeitgebern
aufnehmen. Richtig ist aber, dass VHSLehrende vor Durchführung einer arbeitsorientierten Grundbildung an einer SESAM-Weiterbildung teilnehmen
78
sollten, damit sie lernen, wie man sich
mit der Hierarchie eines Unternehmens
vertraut macht und dass die betrieblichen
Belange immer angemessen zu berücksichtigen sind. Zudem müssen sie hinsichtlich der Schulungsräume und Unterrichtsorte flexibel sein.“ Viel schwieriger
ist es, so Gabriele Fuchs, gemeinsam mit
Betrieben und Dozenten ein MaßnahmeKonzept zu entwerfen: „Dabei kommen
auf die Lehrenden hohe Anforderungen
zu. Das einschlägige Schulungsangebot
von SESAM ist für sie eine Möglichkeit,
sich für den Bereich der berufsbezogenen
Grundbildung zu qualifizieren, und deshalb zu begrüßen.“
Die vom bbb im SESAM-Projekt angebotene modulare Weiterbildung „Arbeitsorientierte Grundbildung“ vermittelt
Beraterinnen und Beratern die Kompetenz, betriebliche oder betriebsnahe
Grundbildungsangebote zu konzipieren und zu realisieren. Zu den Inhalten
der Weiterbildung gehören unter anderem: Verständnis von arbeitsorientierter
Grundbildung, Branchen und Anlässe
für arbeitsorientierte Grundbildung, Gestaltung von Zugängen zu Unternehmen
und Beschäftigten, Akquise, Bedarfsermittlung, Angebotsentwicklung sowie
didaktische Prinzipien einer arbeitsorientierten Grundbildung. Hinzu kommen
Lernbegleitung und Lerntransfer, Lernbegleitung und Erfolgssicherung. Die
Fortbildung umfasst 46 Lernzeitstunden
inklusive Präsenzveranstaltungen, acht
Selbstlernzeitstunden und acht Stunden
für eine Angebotsentwicklung. Erfolgreich Teilnehmende der Weiterbildung
erhalten das Zertifikat „Arbeitsorientierte Grundbildung“ (bbb). Rosemarie
Klein: „Für Kursleitende aus dem Grundbildungs- und Alphabetisierungsbereich
ergibt sich damit potenziell ein längerfristiges Geschäfts- und Arbeitsfeld.“
Vermittlung arbeitsbezogener
Grundbildung als Einzelcoaching
Sieben Personen haben bislang an der
vom bbb angebotenen Weiterbildung
teilgenommen und sich so professionalisiert für die Vermittlung einer arbeitsbezogenen Grundbildung. Einzelne von
ihnen könnten demnächst zum Einsatz
kommen. Erste Kontakte zu Unternehmen
bestehen bereits, darunter eins aus dem
produzierenden Gewerbe, das seine Produktion teilautomatisieren will, um weiterhin auf dem internationalen Markt bestehen zu können. Die Geschäftsführung
hat unmissverständlich zum Ausdruck
gebracht, dass die Teilautomatisierung
nicht automatisch zu Teilentlassungen
führen soll. „Das sind gute Voraussetzungen für die arbeitsbezogene Grundbildung als Voraussetzung für die fachliche Weiterbildung zum Beherrschen der
Teilautomatisierung.“
Zurzeit formuliert der Betrieb die konkreten Anforderungen für die fachliche
Fortbildung. „Daraus werden wir ein
Konzept entwickeln für Personen, die
nicht sofort die Lernanforderungen bewältigen können, also eine Vorab-Qualifizierung vor der eigentlichen fachlichen
Fortbildung brauchen. Das ist ein zeitlich
parallel laufender Prozess. Betroffen sind
rund 100 Personen. Wir werden mit den
Beschäftigten herausarbeiten, über welche Kompetenzen er oder sie verfügt, was
G.I.B.INFO 4 13
ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG
ihn oder sie antreibt und welche Ängste
vielleicht die Veränderungen am Arbeitsplatz erzeugen, um zunächst den Kopf frei
zu bekommen für das Lernen.“
Bereits erfolgreich durchgeführt wurde
im SESAM-Projekt ein arbeitsbezogenes
Grundbildungsangebot in einer Transfergesellschaft in Form eines Einzelcoachings. Thomas Aigner, Diplom-Volkswirt und nebenamtlicher VHS-Dozent,
hatte nach vorheriger Teilnahme an der
SESAM-Weiterbildung ein Schulungskonzept entwickelt: „Unternehmen darf man
nicht mit Alphabetisierung und Grundbildung kommen, sondern man muss ihnen klarmachen, dass es um Fortbildung,
um Kompetenzerweiterung und um die
betriebliche Entwicklung geht.
In der Gesundheitspflege zum Beispiel
sind zunehmend Migrantinnen und Migranten aus Spanien und Portugal tätig.
Sie müssen die spezielle Sprache ihres Arbeitsplatzes erlernen. Wir dürfen nicht
den Fehler der Vergangenheit wiederholen, als im schulischen Englischunterricht
die Sprache Shakespeare gelehrt wurde,
Schüler/-innen aber nicht in der Lage
waren, beim Bäcker ein Brot zu kaufen.
Bei der arbeitsorientierten Qualifizierung
eines Kommissionierers in der Transfergesellschaft spielten deshalb Begriffe aus
der Arbeitswelt eines Lagerarbeiters wie
etwa ,Warenentnahmeschein‘ eine zentrale Rolle, also Sprache im Kontext betrieblicher Arbeitsabläufe.“ Die Einzelschulung von 10 Unterrichtseinheiten á
3 Stunden in diesem Fall rechtfertigt Rosemarie Klein so: „Was im Topmanagement als Selbstverständlichkeit gilt, aber
dort dreimal so viel kostet, sollte auch im
G.I.B.INFO 4 13
Kontext arbeitsbezogener Grundbildung
möglich sein. Für Klein- und Kleinstunternehmen rechnen sich Investitionen in
Einzelpersonen. Für sie käme aber auch
eine Verbundlösung in Betracht.“
Dazu Dr. Friedhelm Keuken, in der G.I.B.
verantwortlich für das SESAM-Projekt:
„Mit diesem Projekt betreten wir in vielerlei Hinsicht Neuland. Die mit SESAM
kooperierenden Beraterinnen und Berater nutzen das Thema „Arbeitsorientierte
Grundbildung“, um ihren Kundenunternehmen neue Angebote zu unterbreiten.
Damit treffen sie nicht bei allen Unternehmen auf offene Ohren. Die bisherigen
Erfahrungen zeigen aber, dass Unternehmen insbesondere im Gesundheitsbereich
und im verarbeitenden Gewerbe daran
interessiert sind, arbeitsplatznahe bzw.
unternehmensnahe Grundbildungsangebote zu realisieren. Sie wollen damit die
Kompetenzen ihrer Beschäftigten erhöhen und den Fachkräftebedarf sichern.
Zugleich sehen sie ihr Engagement in diesem Handlungsfeld aber auch als Ausdruck ihrer Wertschätzung gegenüber
ihren zum Teil langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sie an ihr
Unternehmen binden wollen. Für Volkshochschulen und Lehrende ist der Aspekt
„Arbeitsorientierung“ Neuland. Arbeitsorientierte Grundbildung bietet ihnen die
Möglichkeit, sich Unternehmen als neue
Kundengruppe zu öffnen und so weitere
Teile der berufstätigen Bevölkerung für
ihre Angebote zu gewinnen.
Wir befinden uns mit dem Projekt SESAM noch am Anfang. Die weitere Entwicklung wird uns Aufschluss geben über
die fördernden und hindernden Faktoren
bei der Realisierung von Projekten zur
arbeitsorientierten Grundbildung in und
mit Unternehmen. Wir können aber bereits jetzt feststellen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland eine Regelförderung für Grundbildung benötigen, wenn
wir bei zukünftigen PIAAC-Studien bessere Ergebnisse erzielen wollen.“
ABSTRACT
Etwa drei bis vier Millionen Beschäftigten
mangelt es an arbeitsplatzrelevanten Leseund Schreibkompetenzen. Im Modernisierungsprozess ihrer Betriebe können sie oft
nicht mithalten, berufliche Entwicklungsmöglichkeiten sind ihnen versperrt. Um an
dieser Situation etwas zu verändern, hat die
G.I.B. zusammen mit dem bbb Büro für berufliche Bildungsplanung, Dortmund, das
Projekt „Strategien zur Weiterentwicklung
der Beratungsangebote in Nordrhein-Westfalen für arbeitsorientierte Grundbildung –
ein Beitrag zur Stärkung von Beschäftigten
und Unternehmen – SESAM“ entwickelt.
WEITERE INFORMATIONEN ZU SESAM
www.sesam-nrw.de
ANSPRECHPARTNER IN DER G.I.B.
Dr. Friedhelm Keuken, Tel.: 02041 767-272
E-Mail: f.keuken@gib.nrw.de
KONTAKT
Rosemarie Klein, Tel.: 0231 589691-10
bbb Büro für berufliche Bildungsplanung
R. Klein & Partner GbR
Internet: www.bbb-dortmund.de
AUTOR
Paul Pantel, Tel.: 02324 239466
E-Mail: paul.pantel@arcor.de
79
MONITORING UND EVALUATION
Jugend in Arbeit plus
Untersuchung des Programms
Im Programm „Jugend in Arbeit“ erhalten seit nunmehr 15 Jahren Jugendliche in Nordrhein-Westfalen Hilfestellungen bei der Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Trotz
diverser Detailänderungen an der Programmkonzeption ist die Grundstruktur – eine enge Zusammenarbeit von Arbeitsverwaltung, Beratungseinrichtungen und Kammern – seit dem Programmstart
1998 beibehalten worden. Bis heute wurden rund
76.000 Jugendliche beraten; die Hälfte von ihnen –
rund 38.000 junge Menschen – konnten über das
Programm in eine Erwerbstätigkeit integriert werden. Der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des
Programms „Jugend in Arbeit plus“ widmet sich der
Artikel auf Seite 18 ff. in diesem G.I.B.-Info.
Von Beginn an hat die G.I.B. das Programm „Jugend
in Arbeit“ fachlich begleitet. Dazu zählte auch die Entwicklung eines Monitorings von Prozess- und Teilnehmerdaten, die bis heute Grundlage für eine regelmäßige
Berichterstattung zur Programmumsetzung sind. Darüber hinaus führte die G.I.B. im Zeitraum 2011/12
eine umfangreiche Untersuchung zur Programmumsetzung im Rahmen der Gesamtevaluation des NRWESF-Programms der Förderphase 2007 – 2013 durch.
Die Untersuchung befasst sich mit der Frage, welche
Faktoren auf den Teilnahmeverlauf und somit auch auf
den Teilnahmeerfolg der Jugendlichen einwirken. Für
diese Analysen wurden die Teilnehmerdaten aus dem
Monitoring mit weiteren Angaben verknüpft, die bei
den Beraterinnen und Beratern und Kammerfachkräften erhoben wurden.
Programmerfolg
Für die Untersuchung galt die Erwerbsintegration der
Teilnehmenden bzw. der Anteil der erfolgreich in Erwerbstätigkeit integrierten an allen Teilnehmenden als
zentraler Erfolgsindikator für die Programmumsetzung.
80
Die Erwerbsintegration kann dabei wiederum danach
differenziert werden, auf welchem Weg eine Erwerbstätigkeit aufgenommen wurde. Eine differenzierte Betrachtung unterscheidet drei Erfolgstypen:
• Die Vermittlung von Teilnehmenden in Erwerbstätigkeit (keine Ausbildung) durch die Kammerfachkräfte
• mit Eingliederungszuschuss (Erfolg 1),
• ohne Eingliederungszuschuss (Erfolg 2).
Diese Formen der Vermittlung sind nur nach Übergabe der Teilnehmenden an die Kammerfachkräfte möglich.
• Die Erwerbsintegration von Teilnehmenden (auch
eine Ausbildung) ohne Vermittlung durch die Kammern (Erfolg 3). Eine solche Erwerbsintegration kann
– ebenso wie der Abbruch der Teilnahme – sowohl
während der Beschäftigungsphase als auch nach der
Übergabe an die Kammerfachkräfte stattfinden.
Tabelle 1 ist zu entnehmen, wie viele Teilnehmende in
den Jahren 2009 bis 2011 aus JA plus in Erwerbstätigkeit abgegangen und nach welchem Erfolgstyp eine Beschäftigung aufgenommen wurde. Demnach erfolgten
im Zeitraum 2009 bis 2011 insgesamt 42,4 % der Abgänge in Erwerbstätigkeit. Der Anteil der Erwerbsintegrationen an allen Abgängen ist von 2009 bis 2011 kontinuierlich gestiegen, 2011 betrug er 43,9 %. Im Jahr
2011 wurden etwa gleich viele Teilnehmende entweder
von den Kammerfachkräften in Beschäftigung vermittelt oder sind ohne Vermittlung durch die Kammern in
Beschäftigung gegangen. Bei den Teilnehmenden, die
von den Kammern vermittelt wurden, überwiegt leicht
der Anteil der Teilnehmenden, die einen EGZ erhalten
haben (11,8 vs. 10,2 %).
Analyse-Stufen
Die Ermittlung von Merkmalen, die einen maßgeblichen Einfluss auf den Teilnahmeerfolg – also die Erwerbsintegration – der Jugendlichen haben erfolgte in
drei auf einander aufbauenden Stufen: Die erste Stufe
setzte auf der individuellen Ebene der Teilnehmenden
im Landesprogramm Jugend in Arbeit plus an, um den
Einfluss individueller Merkmale der Jugendlichen auf
eine erfolgreiche Teilnahme bzw. auf die WahrscheinG.I.B.INFO 4 13
MONITORING UND EVALUATION
Zentrale Ergebnisse der Untersuchung liegen als G.I.B.Arbeitspapiere 47 vor und können unter www.gib.nrw.de
(Service/Publikationen) heruntergeladen oder als Printfassung bestellt werden.
Tabelle 1: Anteil der Abgänge nach Abgangsjahren und Form der Erwerbsintegration, 2008 bis 2011
Abgangsjahr
Anzahl Teilnehmende (abs.)
2009
2010
2011
2009 – 2011
4.342
4.391
3.545
12.278
Abgänge (in %)
keine Erwerbsintegration
59,4 %
57,0 %
56,1 %
57,6 %
Erwerbsintegrationen (gesamt)
40,6 %
43,0 %
43,9 %
42,4 %
Vermittlung durch Kammern mit EGZ, mit Begleitung
15,8 %
15,0 %
11,8 %
14,4 %
Vermittlung durch Kammern ohne EGZ, mit Begleitung*
(2,3 %)
5,7 %
10,2 %
(5,8 %)
Andere Erwerbsintegration (ohne EGZ/Begleitung)
22,5 %
22,3 %
21,9 %
22,3 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
100,0 %
darunter
Summe
* Werte für diese Form der Erwerbsintegration sind für das Jahr 2009 und somit auch für den Zeitraum 2009 – 2011 nur begrenzt belastbar, da eine differenzierte Erfassung der Vermittlung mit und ohne EGZ in den Monitoring-Daten erst seit Mai 2009 erfolgt.
Quelle: Eigene Berechnung nach Monitoring-Daten aus dem Programm JA plus 2009 – 2011
lichkeit der Erwerbsintegration zu ermitteln. Aufbauend
auf den Ergebnissen auf Teilnehmerebene wurden auf
der zweiten Analysestufe Angaben zur Beratung und zu
den Beraterinnen und Beratern im Hinblick auf die Erwerbsintegration vorgestellt und untersucht. In der dritten Stufe wurde analysiert, welche regionalen Faktoren
die Erwerbsintegration von Jugend in Arbeit plus beeinflussen. Zu diesen Faktoren zählten neben Indikatoren
der regionalen Arbeitsmarktsituation insbesondere die
Angaben der Kammerfachkräfte und Berater/-innen.
Zentrale Ergebnisse
Die Analyse auf Ebene der Teilnehmenden ergab, dass
die meisten der insgesamt 26 berücksichtigten Merkmale der Jugendlichen einen signifikanten Einfluss auf
den Teilnahmeerfolg haben. Die statistische Analyse machte aber zugleich deutlich, dass selbst mit dem
breiten Spektrum der verfügbaren Merkmale die Wahrscheinlichkeit der Erwerbsintegration nur begrenzt vorhergesagt werden kann. Daher wurde in den folgenden
Analysestufen untersucht, ob auf Ebene der institutionellen Akteure in Jugend in Arbeit plus – den Beraterinnen und Beratern und Kammerfachkräften – weitere
Anhaltspunkte für Einflussfaktoren ermittelt werden
können, die eine erfolgreiche Teilnahme bzw. Erwerbs­
integration unterstützen.
G.I.B.INFO 4 13
Nach den Analysen weisen die institutionellen Rahmenbedingungen der Berater/-innen und deren Arbeitszeit,
die zur Bearbeitung von Jugend in Arbeit plus bzw. zur
Beratung von Teilnehmenden zur Verfügung steht, einen Einfluss auf die Integrationschancen der Teilnehmenden auf. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass die
Kooperation zwischen Berater/-innen und anderen Akteuren eine entscheidende Rahmenbedingung für die
erfolgreiche Programmumsetzung darstellt.
Die Untersuchungen auf regionaler Ebene ergaben,
dass weitere Faktoren auf den Programmerfolg wirken.
Demnach fördert eine günstige Entwicklung des regionalen Arbeitsmarktes die Integrationschancen von Teilnehmenden. Ein weiterer Einflussfaktor besteht in der
Zahl der Regionen, für die eine Kammerfachkraft zuständig ist, denn mit zunehmender Zahl an Regionen
sinkt die Chance der Erwerbsintegration von Teilnehmenden. Zudem bestätigten die Analysen auf regionaler
Ebene, dass die Kooperation der Akteure in Jugend in
Arbeit plus von zentraler Bedeutung für die Erwerbsintegration der Teilnehmenden und damit für den Programmerfolg insgesamt ist.
AUTOR
Dr. Georg Wortmann, Tel.: 02041 767-246
E-Mail: g.worthmann@gib.nrw.de
81
MONITORING UND EVALUATION
Teilzeitberufsausbildung – Einstieg
begleiten – Perspektiven öffnen (TEP)
Ergebnisse aus vier Jahren Programmumsetzung
Seit dem Ausbildungsjahr 2009/2010 unterstützt das
Land NRW mit der Förderlinie „Teilzeitberufsausbildung – Einstieg begleiten – Perspektiven öffnen“
(TEP) junge Menschen mit Familienverantwortung
dabei, ihren Wunsch nach einer Berufsausbildung zu
realisieren. TEP ist Teil des Handlungsprogramms
heitliche Berechnungsgrundlage für die regionale Quote, die sich auf 10 Plätze pro Kreis bzw. kreisfreier Stadt
in der Region bezog. Aufgrund der Möglichkeit zur
Nachbesetzung von frei gewordenen Teilnehmendenplätzen werden stets mehr Eintritte als bewilligte Plätze
verzeichnet. Für die Projektdurchläufe 2009 bis 2012
wurden für die Förderlinie TEP insgesamt rd. 3,3 Millionen Euro ESF- und Landesmittel bewilligt.
für Berufsrückkehrende „Brücken bauen in den Beruf“ und wird neben Landesmitteln und weiteren Fi-
Tabelle 1: Bewilligte Projekte und Eintritte seit 20091
nanzierungsquellen mit Mitteln des europäischen
Abgeschlossene
Projektrunden
Sozialfonds kofinanziert. Ziel der TEP-Maßnahme
1. 2009/2010
ist der Übergang in eine betriebliche Erstausbildung
(in der Regel in Teilzeit) in einem nach dem Berufs-
Eintritte
13
199
2. 2010/2011
28
438
3. 2011/2012
44
662
4. 2012/2013
bildungsgesetz (BBiG) oder der Handwerksordnung
Anzahl der
Projekte
Gesamt
43
661
128
1.820
(HWO) anerkannten Ausbildungsberuf. Seit 2010 kann
auch eine Ausbildung zur Altenpflegefachkraft im
Struktur der TEP-Teilnehmenden
Rahmen von TEP begleitet werden.
Die maximal zwölfmonatige TEP-Förderung sieht eine
individuelle Vorbereitungsphase von vier Monaten und
eine Phase der Ausbildungsbegleitung von acht Monaten durch Bildungsträger vor. Zielgruppe sind Mütter und Väter, die wegen bestehender Familienpflichten (Kinderbetreuung/Pflege von Angehörigen) bisher
keine Ausbildung aufnehmen konnten oder diese abgebrochen haben. Die Information und Unterstützung
der ausbildungsbereiten Unternehmen zur Umsetzung
und Etablierung von Teilzeitberufsausbildung in den
unterschiedlichsten Berufen ist ebenfalls Aufgabe der
TEP-Projektträger.
Bewilligte Projekte und Plätze
Seit Programmstart im Frühjahr 2009 bis zum Abschluss des vierten Projektdurchlaufs im Jahr 2012 sind
fast 1.800 Frauen und Männer in die insgesamt 128 geförderten Projekte eingetreten (siehe Tab. 1). Seit 2011
wurde die Platzzahl auf 540 Teilnehmendenplätze jährlich festgelegt und in allen 16 Arbeitsmarktregionen des
Landes NRW umgesetzt. Damit einher ging eine ein82
Über alle vier abgeschlossenen Projektrunden zeigt
sich, dass die Teilnehmerstruktur über die Jahre weitgehend homogen geblieben ist. Der Frauenanteil lag in
allen Projektdurchläufen bei rund 98 %. Mehrheitlich
hatten die teilnehmenden Mütter (und Väter) ein Kind,
mit dem sie in einem Haushalt zusammen lebten. Fast
alle Kinder waren jünger als 15 Jahre, und rd. 40 % der
Teilnehmenden betreuten ein Kleinkind von unter drei
Jahren. Fast zwei Drittel der Teilnehmenden waren alleinerziehend. Insbesondere die große Gruppe Alleinerziehender mit Kleinkindern benötigt für den Übergang
in Ausbildung die intensive Betreuung und Begleitung,
die das TEP-Projekt ihnen bietet.
Die Pflege von Angehörigen war in allen Projektrunden nur ein nachrangiges Thema, was auch auf das
eher junge Durchschnittsalter der Teilnehmenden zurückzuführen ist.
1
Die laufende Projektrunde 2013/2014 wird in der folgenden Übersicht nicht berücksichtigt und ist nicht Gegenstand der nachfolgend dargestellten Auswertungen der G.I.B.-Monitoring-Daten.
G.I.B.INFO 4 13
MONITORING UND EVALUATION
Die unter 25-Jährigen bildeten stets die größte Gruppe unter den Teilnehmenden, in der Tendenz stieg jedoch der Anteil der „älteren“ Teilnehmenden über 25
Jahren seit 2009 kontinuierlich von 36 % auf zuletzt
knapp 49 % im Jahr 2012.
Die Vergütung der Teilzeitberufsausbildung erfolgte in
der Regel nach Stundenvolumen (in jeweils rd. 90 %
der Fälle), und ihr Zeitumfang betrug in der Regel 30
Wochenstunden.
Übergänge in begleitete Ausbildung
Bei den TEP-Teilnehmenden zeigt sich in allen Projektrunden ein sehr begrenztes Spektrum bei der Berufswahl: In allen Jahren konzentrierten sich drei von
vier begleiteten Ausbildungen auf die zehn beliebtesten
Ausbildungsberufe. Fast jeder zweite Ausbildungsvertrag wurde im kaufmännischen Bereich abgeschlossen, gefolgt von den Bereichen Gesundheit bzw. Altenpflege sowie Verkauf.
Rd. 33 % der Teilnehmenden traten im ersten Projektjahr 2009 nach Abschluss der Vorbereitungsphase in
eine durch den Bildungsträger begleitete (betriebliche)
Ausbildung ein. Die Mehrheit trat eine Ausbildung in
Teilzeit an. Nachdem die Eintrittsquote in begleitete
Ausbildung im Folgejahr leicht auf 31 % zurückging,
stieg sie in den Folgejahren stetig an. 2011 lag sie bei rd.
40 % und 2012 schließlich bei rd. 46 % (siehe Abb. 1).
Abbrüche der begleiteten Ausbildung innerhalb der Projektlaufzeit werden seit 2010 ebenfalls im Rahmen des
Monitorings erfasst. Über das Projektende hinaus ist
keine Erfassung von Abbrüchen vorgesehen. 2010 lag
die Abbruchquote der begleiteten Ausbildung bei 13 %,
2011 bei rd. 17 % und 2012 bei rd. 18 %. Abbruchgrund
waren in erster Linie Probleme im Betrieb (etwa mit den
Arbeitszeiten oder der Arbeitsorganisation).
Abbildung 1: Eintritte in die begleitete Ausbildung
Abbildung 2: Verbleib der Teilnehmenden nach Verlassen der
TEP-Maßnahme
Es wurden in allen Projektdurchgängen eher besser qualifizierte Frauen und Männer erreicht: Die Mehrheit der
Teilnehmenden verfügte jeweils mindestens über einen
mittleren Schulabschluss. Dieser Anteil stieg stetig von
rd. 54 % im Jahr 2009 auf zuletzt 63 % 2012.
Eintritte in begleitete Ausbildung in Teilzeit
Eintritte in begleitete Ausbildung in Vollzeit
46,2 %
39,7 %
32,7 %
31,4 %
8,6 %
23,6 %
31,4 %
24,7 %
26,1 %
38,5 %
31,9 %
33,5 %
29,2 %
37,9 %
36,7 %
41,9 %
44,7 %
2009 (n = 174)
2010 (n = 392)
2011 (n = 547)
2012 (n = 541)
13,7 %
11,9 %
8,7 %
24,1 %
22,7 %
27,8 %
32,5 %
2009 (n = 174)
2010 (n = 392)
2011 (n = 547)
2012 (n = 541)
Quelle: G.I.B.-Teilnehmenden-Datenbank
in Ausbildung (begleitete betriebliche/sonstige Ausbildungsformen)
sonstige berufliche Entwicklung (andere Qualifizierungsmaßnahmen,
Ausbildung/Qualifizierung geplant u. a.)
keine berufliche Entwicklung (Arbeitslosigkeit u. a.)
Quelle: G.I.B.-Teilnehmenden-Datenbank
G.I.B.INFO 4 13
83
MONITORING UND EVALUATION
Verbleib der Teilnehmenden nach
Verlassen der TEP-Maßnahme
Die Gruppe der Teilnehmenden, die nach ihrem individuellen Austritt aus der TEP-Maßnahme in Ausbildung (sowohl in betrieblicher als auch in sonstiger, z. B.
schulischer Ausbildung) verblieb, ist nach einem leichten Absinken von anfänglich rd. 38 % im Jahr 2009
auf knapp 37 % im Jahr 2010 stetig angestiegen auf
zuletzt rd. 45 % im Jahr 2012 (siehe Abb. 2).
Der Anteil derer, die abseits des Übergangs in Ausbildung eine sonstige berufliche Anschlussperspektive
fanden (z. B. andere Qualifizierungsmaßnahmen, Beschäftigung, Nachholen von Schulabschlüssen u. a.),
ist – zugunsten der in Ausbildung verbliebenen Gruppe – von einem hohen Anteil von rd. 39 % 2009 auf
zuletzt 29 % im Jahr 2012 gesunken. Der Anteil derer,
die ohne berufliche Perspektive bzw. Entwicklung das
TEP-Projekt verließen, liegt (abgesehen von einem negativen Ausschlag im 2010) konstant bei rund einem
Viertel der Teilnehmenden (siehe Abb. 2). Diese mündeten in Arbeitslosigkeit, traten eine Therapie an oder
wurden erneut schwanger bzw. kehrten zu einer ausschließlichen Familientätigkeit zurück.
ANSPRECHPARTNERIN IN DER G.I.B.
Dr. Maria Icking
Tel.: 02041 767-273
E-Mail: m.icking@gib.nrw.de
AUTORIN
Julia Mahler
Tel.: 02041 767-175
E-Mail: j.mahler@gib.nrw.de
84
G.I.B.INFO 4 13
VORWORT
So viel vorab
Mindestlohn, Werkverträge, Leiharbeit – Themen, die das Arbeitsministerium seit dem Start der Landesinitiative „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“
besonders intensiv bearbeitet hat – sollen lt. Koalitionsvertrag von der neuen
Bundesregierung angegangen werden.
Höchste Zeit, möchte man meinen.
Leihbeschäftigung ist überwiegend
zweitklassig. Das Werkvertrags-Unwesen greift um sich. Der Sozialbericht
des Statistischen Bundesamtes 2013
zeigt ein wachsendes Armutsrisiko auf.
Die G.I.B. hat ein „Forum Lohnentwicklung“ organisiert und dazu eine
Studie zur Verdienstentwicklung in
Auftrag gegeben. In diesem Heft zeichnen wir die Entwicklung der Löhne und
des Niedriglohnsektors auf.
Besonders groß ist der lohnpolitische
Handlungsbedarf in der Friseurbranche. Die Beschäftigten rangieren am
Ende der Einkommensskala. Lesen
Sie unseren Bericht „Qualität statt
Lohndumping im Friseurhandwerk!“
Eher noch schlechter ist die Lage im
Wach- und Sicherheitsgewerbe. Hier
hat die Gewerkschaft ver.di im April
2013 in einem bundesweit beachteten Tarifkonflikt und nach massivem
Streik beachtliche Lohnerhöhungen
für die Beschäftigten und insbesondere für die unteren Lohngruppen durchgesetzt. Über den Verlauf der Tarifauseinandersetzungen und die Gründe für
den gewerkschaftlichen Erfolg sprachen
wir mit Andrea Becker. Die ehemalige
Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur ist
heute Abteilungsleiterin beim Landesbezirk NRW der Vereinten Dienstleis­
tungsgewerkschaft (ver.di).
Eine wichtige Rolle in diesem Tarifkonflikt spielte Bernhard Pollmeyer. Der
Landesschlichter NRW, eine unparteiische Institution, die es nur bei uns
gibt, stellt im Interview die Bedeutung
seiner Institution vor und verdeutlicht
zugleich seinen Leitsatz bei der Moderation von Tarifauseinandersetzungen:
„Kein Wettbewerb über den Lohn!“
Warum etwa das Thema Mindestlohn
in Deutschland so kontrovers diskutiert wird und wie andere europäische
Länder das regeln, haben wir mit Dr.
Thorsten Schulten vom Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Institut
in der Hans-Böckler-Stiftung besprochen. Schulten ist Referent für Arbeitsund Tarifpolitik in Europa und Mitglied der Kommission, die das Land
beim Thema „Mindestlohn für die öffentliche Auftragsvergabe“ berät.
Unser Interview mit Prof. Dr. Dr. h. c.
Joachim Möller komplettiert die Artikel zum Thema Faire Arbeit in diesem
Heft. Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB)
in Nürnberg, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit,
zeigt eindringlich die gesellschaftspolitische Dimension auskömmlicher
Löhne und einer gerechten Verteilung
von Markteinkommen auf und befindet: „Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer und ökonomischer Wert.“
Die Landesinitiative „Kein Abschluss
ohne Anschluss – Übergang Schule –
Beruf in NRW“ erreicht fast alle Politikfelder in NRW. Wichtigstes Handlungsfeld der Arbeitsmarktpolitik ist
dabei der Übergang von der Schule in
den Beruf. Die Stadt Hagen und der
Ennepe-Ruhr-Kreis sind zu Beginn
des Jahres gemeinsam in die Umsetzung eingestiegen. Während andere
Kommunen noch daran arbeiten, wie
sie die regionalen Bildungsträger und
Wohlfahrtsverbände in die neu zu gestaltenden Übergangsstrukturen integrieren, zeichnen sich in Hagen und
Ennepe-Ruhr schon klare Konturen ab.
Ansonsten in diesem Heft: Das Modellprojekt „Teilhabe an Arbeit“, mit
dem 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderung in
NRW geschaffen werden sollen, die
arbeitsbezogene Grundbildung an
Einfacharbeits­plätzen, die „Generation Praktikum“, zwei weitere Beispiele von Produktionsschulen, der
in Gütersloh und einer in Vorpommern-Greifswald, sowie der Trend,
dass immer mehr Jobcenter ihre Eingliederungsmaßnahmen selbst organisieren. Besonders zu empfehlen anlässlich des 15-jährigen Jubiläums von
„Jugend in Arbeit plus“: unser Roundtable zu einem der wirksamsten Förder­
angebote nordrhein-westfälischer Arbeitsmarktpolitik.
Viel Spaß beim Lesen wünscht wieder
Magazin der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung des Landes Nordrhein-Westfalen
G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH · Im Blankenfeld 4 · 46238 Bottrop,
Dezember 2013
PVSt. Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt
G.I.B.INFO 4 13
Impressum
(Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Wilfried Petri (Friseur- und
Kosmetikverband NRW), Bernhard Pollmeyer (MAIS NRW), Dr. Burkhard
Herausgeber: G.I.B. – Gesellschaft für innovative
Post (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Dr. Boris Schmidt
Beschäftigungsförderung mbH, Im Blankenfeld 4, 46238 Bottrop
(Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin), Dr. Thorsten Schulten (WSI),
Verantwortlicher Redakteur: Manfred Keuler
Rudolf Stüker (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Elisabeth
Redaktionskonferenz: Andrea Bosch, Dr. Friedhelm Keuken, Manfred Keuler,
Tadzidilinoff, Sarah Theres Weikamp, Silke Tornede, Michaela Trzecinski
Julia Mahler, Christiane Siegel, Benedikt Willautzkat
(agentur mark GmbH), Benedikt Willautzkat, Dr. Georg Worthmann
An dieser Ausgabe haben mitgewirkt: Britta Albertz (Verein „Jugend in Arbeit“),
Redaktionsanschrift und Bezugsadresse:
Andrea Becker (ver.di NRW), Uwe Becker (Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen
G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH
gGmbH), Karl Feldengut, Thomas Fonck (Landschaftsverband Rheinland), Ruth Girmes
Im Blankenfeld 4 | 46238 Bottrop M. A. (Universität Duisburg-Essen), Andrea Greiner-Jean (Produktionsschule Wolgast),
Tel.: 02041 767-0 | Fax: 02041 767-299
Martina Große Halbuer (Landschaftsverband Westfalen-Lippe), Thomas Heitzer (Netz-
E-Mail: mail@gib.nrw.de | Internet: www.gib.nrw.de
werk Lippe), Bernd Höller (agentur mark GmbH), Ulrike Joschko (Regionalagentur
Gestaltung: Andrea Bosch, G.I.B.
MEO), Jürgen Kempken, Astrid Kempmann (nomiko e. V.), Dr. Friedhelm Keuken,
Fotos: Arnd Drifte; Joe Kramer; Michel Koczy; kontakt@generation-
Rosemarie Klein (bbb Dortmund), Dr. Andreas Kletzander (Jobcenter Wuppertal), Jürgen
praktikum.at; (c) dpa: Karl-Josef Hildenbrand, Daniel Naupold und
Kockmann (Jobcenter Kreis Steinburt), Niko Köbbe (DGB), Elmar Kotthoff (Caritasver-
Stephanie Pilick; ddpimages: Oliver Lang/Michael Kappeler
band Hagen e. V.), Arnold Kratz, Frank Stefan Krupop, Eva-Maria Kunzig (freie Beraterin),
Titelfoto: Arno Burgi (c) dpa
Stephan Lorenz (Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg), Julia Mahler, Meinolf Melcher
Druck: Druckerei Schmidt, Lünen | ZKZ: K31228 | ISSN 1860 – 9384
(Kolping Bildungszentren Ruhr gGmbH), Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller (IAB), Michael
Bezugspreis: 7,00 EUR, zzgl. 3 EUR für Porto und Verpackung
Nölle (Kreishandwerkerscschaft Düsseldorf), Paul Pantel, Hildegard Pavenstädt-Palsherm
Erscheint vierteljährlich | Dezember 2013
Faire Arbeit, faire Löhne
Die Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH ist eine Einrichtung der Landesregierung NRW.
Sie unterstützt die Arbeitspolitik des Landes. Auch bei der Umsetzung des ESF ist die G.I.B. strategischer Partner des MAIS.
Bildungsträger im Übergangssystem • Produktionsschulen Gütersloh und Wolgast • Make-orBuy-Ansätze • 1.000 neue Außenarbeitsplätze • 15 Jahre Jugend in Arbeit • Prof. Dr. Dr. h. c.
G.I.B.INFO 4 13
Möller: Ungleichheit • NRW-Landesschlichter • Generation Praktikum • SESAM