Faire Arbeit, faire Löhne - Ennepe-Ruhr
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Faire Arbeit, faire Löhne - Ennepe-Ruhr
Magazin der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung des Landes Nordrhein-Westfalen G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH · Im Blankenfeld 4 · 46238 Bottrop, Dezember 2013 PVSt. Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt G.I.B.INFO 4 13 Impressum (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Wilfried Petri (Friseur- und Kosmetikverband NRW), Bernhard Pollmeyer (MAIS NRW), Dr. Burkhard Herausgeber: G.I.B. – Gesellschaft für innovative Post (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Dr. Boris Schmidt Beschäftigungsförderung mbH, Im Blankenfeld 4, 46238 Bottrop (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin), Dr. Thorsten Schulten (WSI), Verantwortlicher Redakteur: Manfred Keuler Rudolf Stüker (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Elisabeth Redaktionskonferenz: Andrea Bosch, Dr. Friedhelm Keuken, Manfred Keuler, Tadzidilinoff, Sarah Theres Weikamp, Silke Tornede, Michaela Trzecinski Julia Mahler, Christiane Siegel, Benedikt Willautzkat (agentur mark GmbH), Benedikt Willautzkat, Dr. Georg Worthmann An dieser Ausgabe haben mitgewirkt: Britta Albertz (Verein „Jugend in Arbeit“), Redaktionsanschrift und Bezugsadresse: Andrea Becker (ver.di NRW), Uwe Becker (Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH gGmbH), Karl Feldengut, Thomas Fonck (Landschaftsverband Rheinland), Ruth Girmes Im Blankenfeld 4 | 46238 Bottrop M. A. (Universität Duisburg-Essen), Andrea Greiner-Jean (Produktionsschule Wolgast), Tel.: 02041 767-0 | Fax: 02041 767-299 Martina Große Halbuer (Landschaftsverband Westfalen-Lippe), Thomas Heitzer (Netz- E-Mail: mail@gib.nrw.de | Internet: www.gib.nrw.de werk Lippe), Bernd Höller (agentur mark GmbH), Ulrike Joschko (Regionalagentur Gestaltung: Andrea Bosch, G.I.B. MEO), Jürgen Kempken, Astrid Kempmann (nomiko e. V.), Dr. Friedhelm Keuken, Fotos: Arnd Drifte; Joe Kramer; Michel Koczy; kontakt@generation- Rosemarie Klein (bbb Dortmund), Dr. Andreas Kletzander (Jobcenter Wuppertal), Jürgen praktikum.at; (c) dpa: Karl-Josef Hildenbrand, Daniel Naupold und Kockmann (Jobcenter Kreis Steinburt), Niko Köbbe (DGB), Elmar Kotthoff (Caritasver- Stephanie Pilick; ddpimages: Oliver Lang/Michael Kappeler band Hagen e. V.), Arnold Kratz, Frank Stefan Krupop, Eva-Maria Kunzig (freie Beraterin), Titelfoto: Arno Burgi (c) dpa Stephan Lorenz (Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg), Julia Mahler, Meinolf Melcher Druck: Druckerei Schmidt, Lünen | ZKZ: K31228 | ISSN 1860 – 9384 (Kolping Bildungszentren Ruhr gGmbH), Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller (IAB), Michael Bezugspreis: 7,00 EUR, zzgl. 3 EUR für Porto und Verpackung Nölle (Kreishandwerkerscschaft Düsseldorf), Paul Pantel, Hildegard Pavenstädt-Palsherm Erscheint vierteljährlich | Dezember 2013 Faire Arbeit, faire Löhne Die Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH ist eine Einrichtung der Landesregierung NRW. Sie unterstützt die Arbeitspolitik des Landes. Auch bei der Umsetzung des ESF ist die G.I.B. strategischer Partner des MAIS. Bildungsträger im Übergangssystem • Produktionsschulen Gütersloh und Wolgast • Make-orBuy-Ansätze • 1.000 neue Außenarbeitsplätze • 15 Jahre Jugend in Arbeit • Prof. Dr. Dr. h. c. G.I.B.INFO 4 13 Möller: Ungleichheit • NRW-Landesschlichter • Generation Praktikum • SESAM VORWORT So viel vorab Mindestlohn, Werkverträge, Leiharbeit – Themen, die das Arbeitsministerium seit dem Start der Landesinitiative „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“ besonders intensiv bearbeitet hat – sollen lt. Koalitionsvertrag von der neuen Bundesregierung angegangen werden. Höchste Zeit, möchte man meinen. Leihbeschäftigung ist überwiegend zweitklassig. Das Werkvertrags-Unwesen greift um sich. Der Sozialbericht des Statistischen Bundesamtes 2013 zeigt ein wachsendes Armutsrisiko auf. Die G.I.B. hat ein „Forum Lohnentwicklung“ organisiert und dazu eine Studie zur Verdienstentwicklung in Auftrag gegeben. In diesem Heft zeichnen wir die Entwicklung der Löhne und des Niedriglohnsektors auf. Besonders groß ist der lohnpolitische Handlungsbedarf in der Friseurbranche. Die Beschäftigten rangieren am Ende der Einkommensskala. Lesen Sie unseren Bericht „Qualität statt Lohndumping im Friseurhandwerk!“ Eher noch schlechter ist die Lage im Wach- und Sicherheitsgewerbe. Hier hat die Gewerkschaft ver.di im April 2013 in einem bundesweit beachteten Tarifkonflikt und nach massivem Streik beachtliche Lohnerhöhungen für die Beschäftigten und insbesondere für die unteren Lohngruppen durchgesetzt. Über den Verlauf der Tarifauseinandersetzungen und die Gründe für den gewerkschaftlichen Erfolg sprachen wir mit Andrea Becker. Die ehemalige Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur ist heute Abteilungsleiterin beim Landesbezirk NRW der Vereinten Dienstleis tungsgewerkschaft (ver.di). Eine wichtige Rolle in diesem Tarifkonflikt spielte Bernhard Pollmeyer. Der Landesschlichter NRW, eine unparteiische Institution, die es nur bei uns gibt, stellt im Interview die Bedeutung seiner Institution vor und verdeutlicht zugleich seinen Leitsatz bei der Moderation von Tarifauseinandersetzungen: „Kein Wettbewerb über den Lohn!“ Warum etwa das Thema Mindestlohn in Deutschland so kontrovers diskutiert wird und wie andere europäische Länder das regeln, haben wir mit Dr. Thorsten Schulten vom Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung besprochen. Schulten ist Referent für Arbeitsund Tarifpolitik in Europa und Mitglied der Kommission, die das Land beim Thema „Mindestlohn für die öffentliche Auftragsvergabe“ berät. Unser Interview mit Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller komplettiert die Artikel zum Thema Faire Arbeit in diesem Heft. Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, zeigt eindringlich die gesellschaftspolitische Dimension auskömmlicher Löhne und einer gerechten Verteilung von Markteinkommen auf und befindet: „Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer und ökonomischer Wert.“ Die Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss – Übergang Schule – Beruf in NRW“ erreicht fast alle Politikfelder in NRW. Wichtigstes Handlungsfeld der Arbeitsmarktpolitik ist dabei der Übergang von der Schule in den Beruf. Die Stadt Hagen und der Ennepe-Ruhr-Kreis sind zu Beginn des Jahres gemeinsam in die Umsetzung eingestiegen. Während andere Kommunen noch daran arbeiten, wie sie die regionalen Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände in die neu zu gestaltenden Übergangsstrukturen integrieren, zeichnen sich in Hagen und Ennepe-Ruhr schon klare Konturen ab. Ansonsten in diesem Heft: Das Modellprojekt „Teilhabe an Arbeit“, mit dem 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderung in NRW geschaffen werden sollen, die arbeitsbezogene Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen, die „Generation Praktikum“, zwei weitere Beispiele von Produktionsschulen, der in Gütersloh und einer in Vorpommern-Greifswald, sowie der Trend, dass immer mehr Jobcenter ihre Eingliederungsmaßnahmen selbst organisieren. Besonders zu empfehlen anlässlich des 15-jährigen Jubiläums von „Jugend in Arbeit plus“: unser Roundtable zu einem der wirksamsten Förder angebote nordrhein-westfälischer Arbeitsmarktpolitik. Viel Spaß beim Lesen wünscht wieder 02 So viel vorab Jugend und Beruf 04 10 14 18 Der lokale Bildungsträgerverbund in Hagen/Ennepe-Ruhr Produktionsschule Vorpommern-Greifswald: „Zum Basteln würden die Jugendlichen nicht kommen“ Produktionsschule Gütersloh: „Produktionsschulen sind auch eine pädagogische Haltung“ 15 Jahre „Jugend in Arbeit“ – eines der erfolgreichsten Förderangebote in NRW SGB II 24 Selber machen oder einkaufen? Immer mehr Jobcenter organisieren ihre Eingliederungsmaßnahmen selbst Wege in Arbeit 30 Landesinitiative fördert 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen in NRW Faire Arbeit, faire Löhne 34 38 42 47 52 58 Faire Arbeit, faire Löhne: Qualität statt Lohndumping. Lohnpolitik im Friseurhandwerk Zur Entwicklung der Löhne und des Niedriglohnsektors. Datenquellen im Vergleich Interview mit Dr. Thorsten Schulten: „Die Gesellschaft muss sich verständigen, was ein angemessener Lohn ist“ Interview mit Bernhard Pollmeyer: „Kein Wettbewerb über den Lohn!“ Interview mit Andrea Becker: „Die Entschlossenheit der Beschäftigten war enorm“ Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller: „Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer und ökonomischer Wert“ Arbeitsgestaltung und -sicherung 66 74 Generation Praktikum. Gut ausgebildet und ausgebeutet? Projekt „SESAM“. Arbeitsbezogene Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen Monitoring und Evaluation 80 82 G.I.B.INFO 4 13 Jugend in Arbeit plus. Untersuchung des Programms Teilzeitberufsausbildung (TEP). Ergebnisse aus vier Jahren Programmumsetzung 3 JUGEND UND BERUF Tragende Rolle für Träger Der lokale Bildungsträgerverbund in Hagen/Ennepe-Ruhr Die Stadt Hagen und der Ennepe-RuhrKreis sind zu Beginn des Jahres gemeinsam in die Umsetzung der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss – Übergang Schule – Beruf in NRW“ eingestiegen. Während andere Kommunen noch eine Form suchen, wie die regionalen Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände in die Steuerungs- und Arbeitsstruktur integriert werden können, ist ihre Rolle in Hagen/Ennepe-Ruhr schon deutlich konturiert. Der Ennepe-Ruhr-Kreis und die Stadt Hagen mussten Anfang 2013, als das Projekt in der Region startete, nicht bei null beginnen. Im Rahmen der Förderinitiative „Regionales Übergangsmanagement (RÜM)“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung arbeiteten die Stadt und der Kreis bereits seit 2006 eng zusammen. Das machte schon deshalb Sinn, weil der Arbeitsagenturbezirk Hagen neben der Stadt Hagen auch den Ennepe-RuhrKreis umfasst und sich die Schulaufsicht ebenfalls über beide Gebietskörperschaften erstreckt. Kernkompetenzen gebündelt Die agentur mark1, die mit der operativen Umsetzung der Kommunalen Koordinierung in der Region beauftragt ist, und die regionalen Bildungsträger waren 2006 ebenfalls schon mit eingebunden. Die Bildungsträger gründeten im Jahr 2012 den „Trägerverbund Berufsorientierung HagEN“ mit dem Ziel, die unterschiedlichen Kernkompetenzen zu bündeln und aufeinander abzustimmen. Auch zur Nutzung 4 der verschiedenen Förderprogramme sprechen sich die Mitglieder ab. 13 anerkannte Träger der Jugendberufshilfe bzw. der Berufsorientierung gehören dem Trägerverbund an. Vertreten sind große kirchliche Träger wie die Caritas, das Kolping-Bildungswerk und die Evangelische Jugendhilfe ebenso wie die VHS, die AWO, das Bildungszentrum des Handels und weitere regionale Bildungseinrichtungen. „Wenn wir etwas Großes wie das Berufsorientierungsprogramm oder das neue Übergangssystem schaffen wollen, dann brauchen wir viele im Boot“, das sei der Grundgedanke gewesen, erinnert sich Bernd Höller, Ko-Leiter der Kommunalen Koordinierung bei der agentur mark. Obwohl so mancher Kenner der Träger-Sze1 ne einen Zusammenschluss für nicht realisierbar hielt, habe sich der Trägerverbund innerhalb von sechs Wochen nach einem ersten Treffen konstituiert. Sehr schnell sei dann auch mit der konzeptionellen Zusammenarbeit begonnen worden. Die Zusammenarbeit mit Trägern, die offensichtlich Dumpingpreise auf Kosten der eigenen Mitarbeiter/-innen machen, lehnt der Trägerverbund ab und sieht sich da mit der Kommunalen Koordinierung einig. „Das sind die Träger, die sich offenkundig als unzuverlässig erwiesen haben und die sich nicht in regionale Netzwerke einbringen. Die wollen wir nicht“, sagt Bernd Höller. Mit dem RÜM-Projekt HagEN nahm der Trägerverbund gemeinsam das Ziel in An- Gesellschafter der Agentur Mark sind: die Stadt Hagen, die Südwestfälische Industrie- und Handelskammer zu Hagen (SIHK), die Kreishandwerkerschaft Hagen, das Berufsfortbildungswerk-Gemeinnützige Bildungseinrichtung des DGB GmbH (bfw), die HAGENagentur, Gesellschaft für Wirtschaftsförderung, Stadtmarketing und Tourismus mbh, die Gesellschaft zur Wirtschafts- und Strukturförderung im Märkischen Kreis mbH (GWS) sowie die Wirtschaftsförderungsagentur Ennepe-Ruhr GmbH G.I.B.INFO 4 13 JUGEND UND BERUF Elmar Kotthoff, Caritasverband Hagen e. V. Steuerungsmodell Übergang Schule – Beruf Hagen/Ennepe-Ruhr Fachausschuss Übergangsangebote Leiter/-innen Berufskollegs* Trägervertreter* Jobcenter* Jugendhilfe* Schulaufsicht BK Arbeitgebervertretung* Vorsitz: Agentur für Arbeit Fachausschuss Berufs- und Studienorientierung Fachausschuss Attraktivität der dualen Ausbildung IHK Bochum Kreishandwerkerschaften* DGB, WiFö, WJ Märk. Arbeitgeberverband, AGV Einzelhandel, Pflege, Dehoga Vorsitz: SIHK Vorsitz Leiter/-innen StuBoArbeitskreise* Schulformsprecher* Trägervertreter* Berufsberatung Bildungsbüro* Vorsitz: Schulaufsicht Vorsitz: Agentur für Arbeit, Untere Schulaufsicht Vertreter aller Schulformen* Vorsitz Bildungsbüros* Träger Jugendberufshilfe* DGB FB Jugend+Soziales* Jobcenter* SIHK, IHK Bochum Kreishandwerkerschaften* MAV Kommunale Integrationszentren* agentur mark Vo it z rs rs it z Vo Beirat Schule und Beruf Steuerkreis Schule Beruf EN-Kreis + Stadt Hagen Agentur für Arbeit Untere + Obere Schulaufsicht SIHK Jobcenter* Ausbildungskonsens Vorsitz Vorsitz: SIHK Jobcenter Agentur für Arbeit Kreishandwerkerschaften HWK Südwestfalen + Dortmund DGB Vertreter Berufskollegs Träger Jugendberufshilfe agentur mark Team Kommunale Koordinierung agentur mark Stadt Hagen, EN-Kreis Kommunen des EN-Kreises Quelle: Folie 3, © agentur mark GmbH griff, mehr junge Leute von der Schule in die Ausbildung und in einen Beruf zu führen. Der Trägerverbund stellt sicher, dass ab dem Schuljahr 2013/14 gut 75 Prozent aller Schüler und Schülerinnen von Haupt-, Real-, Gesamt- und Förderschulen – das sind rund 2.400 junge Menschen – in Hagen und dem Ennepe-Ruhr-Kreis am Berufsorientierungsprogramm (BOP) teilnehmen können. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte BOP wird mit der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss – Übergang Schule – Beruf in NRW“ verknüpft, in die die Region parallel einsteigt. In diesem Rahmen sind für die Schüler eine dreitägige Potenzialanalyse und ein 10-tägiges Modul „Werkstatttage“ vorgesehen, für die die Träger geschulte Mitarbeiter/-innen bereitstellen. G.I.B.INFO 4 13 * Jeweils aus beiden Gebietskörperschaften Hagen und EN Die Träger können zum Teil auf eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Schulen zurückblicken. Seit über 20 Jahren pflegt zum Beispiel die Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen hier gute Verbindungen. Angefangen hat man mit einem Angebot von Lebensplanungs- und Berufsorientierungsseminaren. Als um 2002 herum in NRW der Kompetenzansatz diskutiert wurde, waren die Träger mit einem Diagnostik- und Trainingsprogramm involviert. Aus dieser Erfahrung heraus boten die Träger ab ca. 2004 Assessment-Center-Verfahren für Schulen an, später einen Kompetenz-Check. Und die Schulen nahmen das Angebot auch gerne an. „Wir waren immer verlässliche Partner. Das ist das A und O“, sagt Uwe Becker von der Evangelischen Jugendhilfe Iserlohn-Hagen (ehemals Diakonisches Werk Ennepe-Ruhr/Hagen). So entwickelte sich die Arbeit an den Schulen zu einem Schwerpunkt bei den regionalen Trägern, die sich projektbezogen aufeinander abstimmten. Schon dabei verständigte man sich darauf, welcher Träger für welche Schule zuständig sein sollte, erinnert sich Elmar Kotthoff vom Caritasverband Hagen: „Wir haben im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft in der Jugendberufshilfe (nach § 78 SGB VIII) eine entsprechende Lis te erstellt, damit es diese Konkurrenzen nicht mehr gab.“ In der Arbeitsgemeinschaft wurden zum Beispiel die Bedarfe an den Förderschulen geklärt und auch entschieden, welche Änderungen in der Berufsorientierung notwendig sind, um mehr Schüler/-innen in Praktika und berufliche Ausbildung zu führen. Meinolf Melcher von den Kolping Bildungszentren Ruhr berichtet ebenfalls von „gewachsenen Strukturen“ im Ennepe-Ruhr-Kreis: „Wir haben schon seit 1982 Berufsorientierung an Schulen umgesetzt, damals schwerpunktmäßig für Jugendliche mit Wurzeln im Ausland. Später gab es Schnuppertage für Jungen und Mädchen, bei denen sie verschiedene Berufe kennenlernen konnten.“ Mit Ausnahme an die Gymnasien verfüge man also über eine gute und gewachsene Anbindung an Schulen. „Schule, Träger und Berufskollegs – das ist ein Kreis, der sich regelmäßig getroffen hat, um die Berufsorientierung zu verbessern.“ Auch in den Arbeitskreisen der Schulen, zum Beispiel für das Problem Lernbehinderung, saßen neben Schul-, Jugendhilfe- und Arbeits agenturvertretern stets Vertreter/-innen der Träger. Schon dort versuchte man gemeinsam, den Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf zu gestalten. 5 JUGEND UND BERUF Bernd Höller, Michaela Trzecinski, Ko-Leiter der Kommunalen Ko-Leiterin der Kommunalen Koordinierung bei der agentur mark Mit RÜM kamen neue Elemente hinzu. An der bestehenden Aufteilung der Arbeitsfelder der regionalen Träger wurde aber nicht gerüttelt. Die agentur mark sieht den Trägerverbund nicht als einen Zusammenschluss von reinen Dienstleistungsunternehmen. „Sie sind Partner einer strategischen Entwicklung“, sagt Michaela Trzecinski, Ko-Leiterin der Kommunalen Koordinierung bei der agentur mark. Dazu habe die Gründung des Trägerverbundes sehr viel beigetragen. Auch die Kompetenz der Träger in der Arbeit an den Schulen ist unbestritten. Genau dieser enge Kontakt zu den Schulen sei das, was man in der neuen Landesinitiative haben wolle, sagt Bernd Höller. Die Träger besitzen auch über ihre Arbeit an den Schulen hinaus die Kernkompetenz im Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf. Denn die sozialpädagogische Arbeit können die Berufskollegs bisher kaum leisten. Auch haben sie nicht die Kapazitäten an Werkstätten, die die großen Träger vorhalten. „Für diese Angebote im Übergangssystem braucht man also die Träger“, so Bernd Höller, „und das sehen auch die Jobcenter in Hagen und Ennepe-Ruhr, weil es im Endeffekt günstiger ist, die vorhandenen Trägerkapazitäten zu nutzen, anstatt neue Kapazitäten an anderer Stelle aufzubauen.“ Dazu kommen die über 100 in der Potenzialanalyse geschulten Mitarbeiter/ -innen der Träger. „Ein richtiges Pfund“, so Uwe Becker. „Da liegen wir als Region ganz vorne.“ Träger sitzen in Fachausschüssen Von daher war es von Anfang an klar, dass man die Bildungsträger bzw. den Trägerverbund in das Steuerungsmodell der neu6 Koordinierung bei der agentur mark en Landesinitiative in Hagen/Ennepe-Ruhr einbeziehen wollte. Trägervertreter/-innen sitzen in den Fachausschüssen „Berufs- und Studienorientierung“ und „Übergangsangebote“. Auch wenn dem Wunsch des Trägerverbundes im „Steuerkreis Schule Beruf“ vertreten zu sein, nicht entsprochen wurde, bewerten die Trägervertreter/-innen die Arbeit in den Fachausschüssen durchaus positiv. „Wichtigstes Thema im Fachausschuss Berufs- und Studienorientierung ist die Umsetzung der einzelnen Standardelemente und deren Qualitätsstandards. Hier können wir konkret unsere Kooperationsvereinbarungen mit den Schulen sowie unsere fachliche Kompetenz zum Beispiel bei der Durchführung von Werkstatttagen einbringen“, macht Uwe Becker deutlich. Michaela Trzecinski glaubt, dass man in Hagen und dem Ennepe-Ruhr-Kreis mit einem Steuerungsmodell aus einem relativ kleinen Steuerkreis und den verschiedenen Fachausschüssen gut aufgestellt sei: „Im Steuerkreis sitzen nur die Personen, die übergreifend für das Gesamtsystem Verantwortung tragen. Wir haben ihn bewusst klein gehalten, weil dort auch mal schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen.“ Und je größer ein solcher Kreis sei, desto schwieriger die Entscheidungsfindung. Daneben gebe es viele Partner, die für Einzelbereiche verantwortlich sind und in diesen Bereichen Know-how, Entwicklungskompetenz usw. mitbringen. Analog zu den Säulen des neuen Übergangssystems „Berufs- und Studienorientierung“, „Übergangsangebote“ und „Attraktivität der dualen Ausbildung“ habe man Fachausschüsse gebildet und die Träger als Vertreter der Jugendhilfe – wie auch die Schulen und die Berufskollegs – in die beiden erstgenannten berufen, weil sie genau in diesen Be- reich ihre Kompetenzen und Verantwortungen hätten. Die Fachausschüsse seien dazu da, Entscheidungen vorzubereiten und auch für ihr Fachgebiet Entscheidungen mit Zustimmung des Steuerkreises zu treffen. „Im Steuerkreis sitzt zum Beispiel die Kreisdirektorin. Die kann sich nicht mit fachlichen Detailfragen beschäftigen. Sie will eine Vorlage, die die Fachleute beschlossen haben, und dann darüber im Steuerkreis abstimmen, eventuell nachdem sie noch bestimmte Aspekte eingebracht hat, die es aus ihrem Blick für das große Ganze zu bedenken gilt“, erläutert Michaela Trzecinski. „Wir brauchen die Fachkompetenz der Träger, wenn es um inhaltliche Fragen geht, zum Beispiel um die Auswahlkriterien für die Potenzialanalyse oder um die Organisation der Berufsfelderkundung. Diese Kompetenz haben auch wir als Kommunale Koordinierung nicht.“ Die Dienstleister, die zum Zuge kommen wollen, müssen neben den Landesvorgaben auch bestimmte Qualitätskriterien erfüllen, die in einem kommunalen Abstimmungsprozess festgelegt werden. In diesen Prozess sind in Hagen und Ennepe-Ruhr die Fachausschüsse einbezogen. Die lokalen Träger in diesen Ausschüssen haben Einfluss auf die Diskussion um die Qualitätskriterien und können so für ihren Trägerverbund gute Ausgangsvoraussetzungen bei der Umsetzung der Leistungen schaffen. So könnten zum Beispiel eine lokale Verankerung und eine nachweisbare Zusammenarbeit mit Schulen zu den Qualitätskriterien gehören – und die können die lokalen Träger nun wahrlich nachweisen. Die Verbindung zwischen den Trägern und den Schulen wird in Zukunft über die Kommunale Koordinierung abgewickelt. G.I.B.INFO 4 13 JUGEND UND BERUF „TRÄGERVERBUND BERUFSORIENTIERUNG HAGEN“ • Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen gGmbH, Hagen • H AZ Arbeit + Zukunft e. V., Hattingen • Kolping-Bildungswerk e. V., Berufsförderungszentrum Wetter • Caritasverband Hagen e. V. • V HS EN-Süd • V HS Witten Wetter Herdecke • AWO Ennepe-Ruhr • AWO Hagen-Märkischer Kreis • Werkhof gem. GmbH, Hagen Die Träger reichen ihre Konzepte für die Potenzialanalyse bei der Kommunalen Koordinierung ein. Die prüft diese selbst, lässt sie aber auch beim psychologischen Dienst der Bundesagentur für Arbeit beurteilen. Alle Träger, die mit ihrem Konzept die festgelegten Kriterien erfüllen, werden in eine Liste aufgenommen, die Ende des Jahres 2013 an die an dem neuen Landesvorhaben teilnehmenden Schulen weitergeleitet wird. Außerdem wird es eine Info-Veranstaltung für die Schulen geben, auf der sie die Träger mit ihren Konzepten kennenlernen können. Danach kann die Schule dann entscheiden, mit welchem Träger sie zusammenarbeiten möchte. Die Schulen haben also ein Annahmerecht, das heißt, sie müssen zwar aus dem Pool auswählen, sind aber nicht verpflichtet mit einem Träger zusammenzuarbeiten, mit dem sie nicht zusammenarbeiten wollen. Verunsicherung über Aufgabenbereiche So unbestritten die tragende Rolle der Bildungsträger in der neuen Landesinitiative in Hagen/Ennepe-Ruhr auch ist, verhindert das nicht, dass es zwischen Trägern und Kommunaler Koordinierung unterschiedliche Auffassungen über ihre zukünftigen Aufgabenbereiche gibt. Man kann daher bei den Trägern eine gewisse Verunsicherung feststellen. „Wir waren gut strukturiert und organisiert und wissen jetzt erst einmal nicht: Wo stehen wir“, sagt Meinolf Melcher. Davon dass die Berufskollegs jetzt viele Aufgaben übernehmen und die Betriebe die Praxisphasen sicherstellen sollten, sei in den Informationsveranstaltungen die Rede gewesen. Die Rolle der Träger sei dagegen allenfalls unscharf G.I.B.INFO 4 13 • Lehrbauhof der Baugewerksinnung e. V., Hagen • Deutsche Edelstahlwerke Karrierewerkstatt GmbH, Witten • Bildungszentrum des Handels e. V. • Bildungszentrum des Handels gemeinnützige Service GmbH TRÄGER SIND VERTRETEN IM: • „ Arbeitskreis Übergangsangebote“ • „ Arbeitskreis Berufs- und Studienorientierung“ • die in der Jugendberufshilfe tätigen Träger außerdem im: Beirat Schule und Beruf umrissen worden. Die Vehemenz, mit der die Trägervertreter/-innen dafür plädieren, keine Brüche in der Kontinuität der Zusammenarbeit mit den Schulen entstehen zu lassen, lässt erahnen, dass dieses Gefühl der Unsicherheit bisher nicht ganz gewichen ist. Auch bei den Praktika bzw. Werkstatttagen sieht man beim Trägerverbund noch Klärungsbedarf. Zurzeit stellt er rund 25.000 Praktikumstage in den eigenen Betrieben zur Verfügung, in Werkstätten, in Sozialeinrichtungen, auch in Büroberufen. Durch den Trägerverbund haben Schüler/-innen eine große Auswahlmöglichkeit an Berufsfeldern, die sie erkunden können. Ob Unternehmen diese Funktion übernehmen können und wollen, sei fraglich. sich in der Trägerrunde zwar – zumindest für das Hamet-Verfahren – vorstellen, dass die Gymnasiasten, die bei der Berufsorientierung bisher außen vor waren, möglicherweise nur einen Tag Berufsorientierung brauchen. Dafür müssten die Haupt- oder Förderschüler aber zwei oder drei Tage bekommen. Sonst könne man Elterngespräche, die ein wesentlicher Bestandteil der Verfahren seien, nicht mehr anbieten. Den Qualitätsstandard, der vom Land NRW selbst entwickelt worden sei, und den man im Rahmen von BOP in Hagen und im Ennepe-Ruhr-Kreis durchgesetzt habe, wolle man nicht so einfach aufgeben. Die Qualitätsfrage stellt der Trägerverbund ebenfalls. Für die Potenzialanalyse und die Berufsfelderkundung, für die bisher in Hagen und Ennepe-Ruhr einmal drei und einmal zehn Tage zur Verfügung standen, sind in der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ nur noch ein plus drei Tage vorgesehen. Allerdings sollen bestimmte Aufgaben an den Schulen, die bisher zum Teil die Träger übernommen haben, wie zum Beispiel die Elterngespräche, nach dem neuen Konzept nun verstärkt durch die Schulen selbst erfolgen. Der Qualitätsverlust, den die Träger befürchten, dürfte – unter der Voraussetzung, dass alles so funktioniert, wie es geplant ist – also eigentlich nicht eintreten. Die Potenzialanalyse, die bisher auf drei Tage angesetzt war, soll nach dem neuen System an einem Tag erfolgen. Für diese Potenzialanalyse hat der Trägerverbund für ganz Hagen und den Ennepe-RuhrKreis zwei Verfahren durchgesetzt: Hamet und Dia-Train-Potenzialanalyse. Über 100 Mitarbeiter/-innen haben die Träger mittlerweile gemeinsam in diesen beiden Verfahren schulen lassen. Durch die Vereinheitlichung auf zwei Verfahren hat der Trägerverbund die Möglichkeit auch großen Schulen (sechszügiger Jahrgang) eine Durchführung innerhalb von einer Woche anzubieten. Allerdings haben die Verfahren einen Umfang von zwei bzw. drei Tagen. Man kann Schulen übernehmen „Das ist eine Entwicklung, die wir uns in unserer Region schon seit Langem genauso wünschen. Dass nämlich die Schule nicht alle Belange an Träger outsourced, sondern dass Schule diese Dinge selber tut“, erläutert Michaela Trzecinski von der agentur mark. Die Schulen hätten mit den Stubos und Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern nun Personal, das den Blick auf die Probleme einzelner Schüler/-innen habe, den früher vor allem die Träger hatten. Das sei genau das, was man schon vor der Umsetzung des neuen Übergangssystems beispielsweise über das Berufswahlsiegel von den Schulen gefordert habe. Außerdem überschauten Schulen auch die gesamte Entwicklung 7 JUGEND UND BERUF Meinolf Melcher, Kolping Bildungszentren Ruhr des Jugendlichen, weil sie den Schüler/die Schülerin während seiner/ihrer gesamten Schullaufbahn begleiten und nicht nur während eines kurzen Ausschnitts dieser Laufbahn – nämlich der Phase der Berufsorientierung. „Daher stimmt es: In Schulen, die gut aufgestellt sind, werden diese Kompetenzen von Trägern nicht mehr gefordert“, so Michaela Trzecinski. Sehr wohl gefordert sei aber der Blick von außen im Rahmen der Potenzialanalyse – Versuche, auch diesen Part von Schulen selbst erledigen zu lassen, seien gescheitert. Wenn die Schule also mit den Ergebnissen einer Potenzialanalyse selbst weiterarbeiten kann, so die Kalkulation, dann braucht es auch keine drei Tage für eine Potenzialanalyse durch die Träger, weil die Gespräche mit Schülerinnen, Schülern und Eltern von der Schule selbst durchgeführt werden könnten. „Schule muss die Beratungsleistung, die von Trägern erbracht wurde, kontinuierlich weiter fortführen“, sagt Michaela Trzecinski. Dafür sei eine sehr viel deutlichere Verzahnung zwischen Trägern und Schule notwendig, sprich: Träger müssen mit Lehrkräften zukünftig sehr viel enger zusammenarbeiten als bisher, die Ergebnisse von Potenzialanalysen müssen an die Schulgemeinschaft transferiert werden, nicht nur an die Schüler/-innen, sondern an Eltern, Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter/-innen. Dafür sei es notwendig, dass die Träger langfristig zur Verfügung stehen. Auch die Kommunale Koordinierung verschweigt allerdings nicht, dass auf Schul- bzw. Lehrerseite für diese neue Aufgabe noch ein erheblicher Qualifizierungsbedarf besteht. Das ist auch einer der Gründe, warum die Träger nicht glauben, dass sich ihre Beratungskompetenz so leicht ersetzen lässt. 8 „In den Beratungsgesprächen mit Schülerinnen und Schülern tauchen mitunter Probleme auf, die mit Schule und Berufsorientierung nichts zu tun haben. Es kann sein, dass eine Schuldnerberatung mit ins Boot muss oder eine Therapieeinrichtung – dann haben wir die Kompetenz und die kurzen Wege, dorthin zu vermitteln. Wir haben durch die Kooperation mit anderen Trägern die Übersicht über entsprechende Angebote und können entscheiden, was für die bestimmte Familie gut geeignet ist“, erklärt Uwe Becker. Elmar Kotthoff ergänzt, dass man als kirchlicher Wohlfahrtsverband auch schnell mit dem eigenen Leitbild in Konflikt geraten könne, wenn man immer weiter in Richtung einer austauschbaren Dienstleist ung gedrängt werde. „Wir werden zwar – etwa von den Schulen und auch von der Arbeits agentur – dafür geschätzt, dass wir nach den Problemen, die ein Schüler/eine Schülerin auch zu Hause oder in seinem Umfeld hat, fragen, aber dieser ganzheitliche Ansatz wird uns immer weiter beschnitten. Ich würde mir wünschen, dass die Kommunale Koordinierung diesen Aspekt unserer Arbeit im Blick behält.“ Außerdem mache eine Kompetenzfeststellung oder Potenzialanalyse auch nur Sinn, wenn man danach mit den Jugendlichen weiterarbeite und Kompetenzen entwickle. So biete die Evangelische Jugendhilfe zum Beispiel Schlüsselkompetenz-Trainings an, mit denen man sehr gute Erfahrungen gemacht habe. Die Einsicht bei Lehrkräften, dass eine Förderung von Schülerinnen und Schülern über den Unterricht hinaus notwendig ist, sei allerdings bisher fast nur an den Förderschulen und einigen Hauptschulen zu beobachten, mit denen die Träger daher gut kooperierten. Schon an den Realschu- len sieht Uwe Becker da große Probleme und prophezeit, dass das an den Gymnasien, wo die Berufsorientierung größtenteils Neuland ist, nicht anders sein wird. Andererseits gesteht der Trägerverbund ein, dass gerade an diesen Schulen nur wenige Prozent der Schüler eine solche intensive Betreuung brauchen werden. „Das ist eine andere Klientel“, so Meinolf Melcher. „Wir kommen aus der Benachteilig tenförderung und wissen nicht genau, was uns an diesen Schulformen erwartet.“ Neues Rollenverständnis gefordert Genau an diesem Punkt sieht die agentur mark die Träger zum Teil noch in ihrem alten Rollenverständnis verhaftet. „Es geht jetzt nicht mehr vor allem um die ‚Mühseligen und Beladenen‘, die die Träger bisher als ihre Klientel hatten, es geht um alle Schülerinnen und Schüler aller Schulformen ab der Schulklasse 8“, macht Michaela Trzecinski deutlich. Träger müssten ihren Blick also auch auf die „guten“ Schüler/-innen richten. Damit würden sich ihre Aufgaben zwangsläufig verändern. Natürlich gebe es aber auch auf den Gymnasien Jugendliche, die besondere Hilfen benötigten. Das scheint durchaus auch bei den Trägern angekommen zu sein. „Wir müssen sehen, wie wir unsere Pädagogik umstellen“, sagt zum Beispiel Meinolf Melcher mit Blick auf die zukünftige Arbeit an den Gymnasien. Aber auch die Instrumente, die an den Haupt- und Förderschulen bisher gut funktioniert haben, sind wahrscheinlich nicht ohne Modifizierung an die anderen allgemeinbildenden Schulformen übertragbar. „Wir haben schon eine von Realschulen und Gymnasien angestoßene Diskussion in G.I.B.INFO 4 13 JUGEND UND BERUF KONTAKTE Elmar Kotthoff Bernd Höller Caritasverband Hagen e. V. agentur mark GmbH Finkenkampstr. 5, 58089 Hagen Handwerkerstr. 11, 58135 Hagen Tel.: 02331 988519, E-Mail: jugendsozialarbeit@caritas-hagen.de Tel.: 02331 800318, E-Mail: hoeller@agenturmark.de Uwe Becker Michaela Trzecinski Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen gGmbH agentur mark GmbH Frankfurter Str. 30, 58089 Hagen Handwerkerstr. 11, 58135 Hagen Tel.: 02331 9228818, E-Mail: becker.vif@diakonie-online.org Tel.: 02331 800326, E-Mail: trzecinski@agenturmark.de Meinolf Melcher AUTOR Kolping Bildungszentren Ruhr gGmbH Frank Stefan Krupop Sprockhöveler Str. 46, 58452 Witten Tel.: 02306 741093 Tel.: 02335 96920, E-Mail: meinolf-melcher@kolping-bfz-witten.de E-Mail: frank_krupop@web.de der Region darüber, dass die bisherigen Potenzialanalysen für diese Schulformen nicht passen“, berichtet Michaela Trzecinski. Es gebe Träger, die jetzt entsprechende Potenzialanalysen entwickelten. Das seien aber nicht unbedingt die, die bisher schon im Geschäft waren und sie seien bisher auch noch nicht Mitglied in dem Trägerverbund. Allerdings geht man in der Kommunalen Koordinierung davon aus, dass mittelfris tig auch die alteingesessenen Träger entsprechende Dienstleistungen anbieten können. Bernd Höller sieht sie sogar im Vorteil: „Potenzialanalysen für mehrere Hundert Schüler/-innen an einer Schule zu organisieren, ist nicht so einfach. Und das haben die Träger des Trägerverbunds bisher sehr gut hinbekommen. Wir sind, auch was die Qualität angeht, zufrieden mit dem Trägerverbund.“ Dennoch möchte die kommunale Koordinierung das Know-how beider Trägergruppen nutzen und wünscht sich eine Entwicklungsgemeinschaft für den Bereich der Potenzialanalyse für die neu hinzugekommenen Schulformen. Die Forderung der Träger, dass für Förder- oder Hauptschüler mehr Potenzial analyse-Tage angesetzt werden sollten als für Gymnasiasten, unterstützt die Kommunale Koordinierung. „Das sagen auch G.I.B.INFO 4 13 die entsprechenden Schulen ganz deutlich“, weiß Michaela Trzecinski. Für Realschulen, Gymnasien sowie viele Gesamtschulen gelte das aber nicht. Da müsse man den schmalen Grat zwischen Wünschenswertem und Machbarem finden. Das Land weist in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass das neue Vorhaben „Kein Abschluss ohne Anschluss – Übergang Schule – Beruf in NRW“ nur Mindeststandards definiert, dass darüber hinausgehende Angebote aber durchaus möglich sein sollen und auch gewünscht sind. Dabei hat die Kommunale Koordinierung durchaus Handlungsspielraum, wenn es darum geht, die Rolle der Träger vor Ort zu definieren. Ein Kahlschlag bei den bestehenden vielfältigen Angeboten ist auf keinen Fall beabsichtigt. Natürlich stellt sich dabei immer die Frage der Finanzierbarkeit. Die Umsetzung des neuen Landesvorhabens steht aber bisher noch am Anfang, seine Etablierung wird mehrere Jahre dauern und möglicherweise auch in dieser Beziehung neue Optimierungspotenziale aufzeigen. Neue Betätigungsfelder Sicher werden Bildungsträger bestimmte Elemente der Berufsorientierung an Schu- len abgeben müssen, es werden sich durch die neue Landesinitiative aber auch neue Betätigungsfelder für sie auftun. Neben den Gymnasien greifen auch Berufskollegs, die im Rahmen des neuen Systems mehr Aufgaben übernehmen sollen, möglicherweise auf die Dienste der Träger zurück. Uwe Becker berichtet, dass sie dies in den gemeinsamen Sitzungen des „Fachausschusses Übergangsangebote“ bereits angedeutet haben. So könnten die Berufskollegs Ausgaben für neues Personal und den Ausbau eigener Werkstätten vermeiden. Auch die Jobcenter hätten bereits angedeutet, dass sie nicht die Mittel hätten, Angebote für schwächere Schüler/-innen zu organisieren, die nach Schulende nach SGB II versorgt werden müssen. „Der Trägerverbund ist für die Qualitätsentwicklung in der Region ein entscheidender Faktor“, findet Michaela Trzecinski. Die Rolle der Träger werde sich ändern, aber es ergäben sich auch neue Chancen. „Es ist aber Aufgabe der Träger, ihr Portfolio zu überdenken – und das werden sie zu ihrem eigenen Nutzen auch umsetzen“, ist Bernd Höller überzeugt. „Ich glaube, letztendlich fahren die Träger besser mit dem neuen Übergangssystem.“ 9 JUGEND UND BERUF „Wir produzieren ernsthaft, zum Basteln würden die Jugendlichen nicht kommen“ Produktionsschule Vorpommern-Greifswald Der Bedarf an Alternativen wie einer Produktionsschule ist groß in Mecklenburg-Vorpommern: 14 Prozent aller Jugendlichen verlassen hier die Schule ohne Abschluss. Hinzu kommen Altbewerber/innen ohne Job und Ausbildung, die bereits sämtliche Maßnahmen der Berufsvorbereitung ohne Erfolg durchlaufen haben. Entsprechend beträgt das Durchschnittsalter der Teilnehmenden in der Produktionsschule Vorpommern-Greifswald mit den beiden Standorten in Wolgast und Rothenklempenow rund 21 Jahre. Ende 2013 sollen mit der Umsetzung der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ auch in NRW produktionsorientierte Berufsvorbereitungsangebote in größerer Zahl eingeführt werden. In der letzten Ausgabe des G.I.B.-Infos haben wir uns deshalb mit Produktionsschulen beschäftigt und die Beispiele Hamburg Bergedorf und Bielefeld vorgestellt. Weitergehen soll es in dieser Ausgabe mit einem Praxisbeispiel aus Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen: der Produktionsschule Vorpommern-Greifswald und Gütersloh. 10 „Wir sind für junge Menschen da, die von der Schule auch in neun Jahren nicht zur Berufsreife geführt werden konnten“, stellt Andrea Greiner-Jean klar, Leiterin der Produktionsschule in Trägerschaft des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschlands e. V. (CJD). „Aber wir wollen nicht nur Reparaturbetrieb sein für die jungen Menschen, für die angeblich nichts mehr geht. Deshalb muss es gelingen, für sie frühzeitig das richtige Angebot zu finden. Alles andere geht auf Kosten der Lebenszeit der Jugendlichen.“ Schon 2011 habe das Deutsche Jugendinstitut in einer Vergleichsstudie zu BVJ, BVB und Produktionsschule in allen drei Angeboten Fehlzuweisungen festgestellt. „Zuweisungen“, das steht für viele im Widerspruch zur Produktionsschule als „freiwilligem Angebot“. „Auch wir wollen, dass die Jugendlichen freiwillig zu uns kommen“, relativiert Andrea Greiner-Jean, „aber wir sprechen auch dann von Freiwilligkeit, wenn sie mit sanftem Druck bei uns ankommen, denn viele junge Menschen scheuen vor Unbekanntem zurück. Ihre Einstellung ändert sich aber schnell, wenn sie unser Angebot erst mal genauer kennengelernt haben.“ Mit den BeratungsG.I.B.INFO 4 13 JUGEND UND BERUF fachkräften von Jugendamt und Jobcenter hat sie deshalb eine vierwöchige „sanktionsfreie Probezeit“ vereinbart. „Unser Job ist, in der Zeit herauszufinden, ob es das richtige Angebot ist und zugleich Motivation aufzubauen.“ Das Resultat gibt ihrer Methode recht: Fast alle bleiben! Drei Bereiche Wer bleibt, dem stehen in Wolgast oder Rothenklempenow drei Bereiche – Handwerk, Service und Gartenbau – mit insgesamt acht Werkstätten zur Wahl. Zwei Holzwerkstätten und eine Metallwerkstatt im Bereich Handwerk, zwei Küchen, ein Servicebereich Gastronomie mit Zimmerreinigung und Beherbergung sowie eine Textilwerkstatt im Bereich Hauswirtschaft und im dritten, im landwirtschaftlichen Bereich, eine Kompostieranlage. Eine ursprünglich eingerichtete Pilzwerkstatt indes wurde schon kurz nach ihrer Gründung wieder abgewickelt: „Die Arbeit war eintönig, jeden Tag dasselbe. Hier konnten die Jugendlichen nicht viel lernen, das war für sie frustrierend.“ Das Beispiel zeigt, wie flexibel die Produktionsschule ist und wie rasch sie auf Bedarfe und Interessen der Teilnehmenden reagiert. Weitaus beliebter, „eine echte Nische und richtig interessant“, ist die Kompostieranlage. Hier werden Grünabfälle von Wohnungsunternehmen, von Baufirmen oder aus Kleingärten geschreddert, gehäckselt und zu Mieten aufgesetzt, wo sie innerhalb von acht Monaten zu feinstem Kompost verrotten, der dann von Gartenbau firmen zum Belegen von Grünanlagen und Parks abgeholt wird. Zum Einsatz kommt dabei der professionell ausgerüstete Maschinenpark der Werkstatt, bestehend G.I.B.INFO 4 13 aus LKW-Radlader, Trecker, Kleinbagger und Schredder. Parallel zur Kompos tierung wird auf der Anlage Gemüse zur Versorgung der Kantine angebaut. Hier erlernen die Jugendlichen Grundlagen des Ackerbaus sowie die Pflege und Ernte von Früchten und Pflanzen – Arbeitsbestandteile in vielen landwirtschaftlichen Ausbildungsberufen. Gewünscht ist, dass die Jugendlichen alle eingangs genannten Bereiche ausprobieren: „Das steigert ihre Berufswahlkompetenz.“ Integriertes Arbeiten und Lernen Arbeiten und Lernen sind unmittelbar verknüpft: „Das Lernen fängt immer mit dem Produkt an“, lautet die Devise. Andrea Greiner-Jean nennt ein Beispiel: „Wenn der Hofladen einer benachbarten Straußenfarm unserer Textilwerkstatt den Auftrag erteilt, aus Straußenleder Portemonnaies oder Brieftaschen herzustellen, lernen die Jugendlichen zunächst etwas über die Beschaffenheit des Materials und die Besonderheiten seiner Verarbeitung. Straußenleder ist nämlich ein hochwertiges Material, das man nur einmal nähen kann, wenn etwas schief läuft, kann man es wegwerfen. Das erfordert eine genaue Planung des gesamten Arbeitsprozesses.“ Nur ein geringer Teil der theoretischen Wissensvermittlung indes erfolgt in der Lernwerkstatt, der größere Teil in der Werkstatt selbst. Wenn etwa eine Fleischerei Verpackungskisten bestellt, wird an einer hier aufgestellten Tafel, „noch bevor die Jugendlichen Hammer und Säge in die Hand nehmen“ unter Anleitung des Werkstattleiters – so heißt in Wolgast der Werkstattpädagoge –, „gerechnet, gemessen und gezeichnet. „Ein Modell steht im- mer daneben: so können die Jugendlichen schnell erkennen, wie das Produkt am Ende aussehen soll.“ So praxisorientiert und anschaulich spielt sich die Wissensvermittlung in allen Werkstätten ab.“ Zertifikate oder Qualifizierungsbausteine erwerben die Jugendlichen nur bei Bedarf: „Auf Vorrat qualifizieren wir nicht!“ Den Qualifizierungsbaustein „Herstellen einfacher Speisen“ aus dem Bereich Hauswirtschaft etwa nutzen die Jugendlichen als „Türöffner“, um bei der Ausbildungsplatzbewerbung dem Arbeitgeber nachzuweisen, dass sie geeignet sind, in Küche oder Gastronomie zu arbeiten. Zur Leis tungsfeststellung erstellen die Jugendlichen in diesem Gewerk – in Anlehnung an eine bei ihnen beliebte Fernsehserie – „ein perfektes Dinner“. Andrea GreinerJean: „Das motiviert!“ Die festgelegte Stundenzahlen für den Erwerb eines Qualifizierungsbausteins ignoriert die Produktionsschulleiterin weitgehend: „Uns interessiert nur, ob die Jugendlichen es können oder nicht. Wenn sie erst nach deutlich mehr als den festgelegten Stunden ihre Fähigkeit nachweisen können – auf unserer Kompetenztafel ist das abgebildet, gibt es keinen Grund, ihnen das bei der Leistungsfeststellung nicht auch zu zertifizieren.“ Was folgt, ist die Vorbereitung des Jugendlichen auf die externe Leistungsfeststellung, abgenommen von externen Prüfern im Auftrag der Kammern. Obwohl vom Gesetz her möglich, werden Qualifizierungsbausteine bei einer späteren betrieblichen Ausbildung nicht oder nur selten anerkannt. Andrea GreinerJean: „Wir wünschen uns schon, dass die Betriebe angemessener darauf reagieren.“ Bedenklich findet sie, dass Jugendlichen 11 JUGEND UND BERUF aus BvB und Berufsvorbereitungsjahr oft schon dann Berufsreife bescheinigt wird, wenn sie passable Zensuren und wenig Fehlzeiten vorweisen können. „Wir tun den jungen Menschen keinen Gefallen, ihnen in der Berufsvorbereitung irgendwelche Abschlüsse hinterherzuwerfen. Unternehmen nehmen sie trotzdem nicht, weil sie den theoretischen, für eine duale Ausbildung erforderlichen Teil nicht schaffen. Wir merken mit unseren Kompetenzfeststellungsverfahren schnell und sicher, ob jemand über die erforderliche Berufsreife verfügt.“ Zur Kompetenzfeststellung und -dokumentation stehen zwei Instrumente zur Verfügung: zur Dokumentation die „Kompetenztafel“ und zur Kompetenzanalyse das „Profil AC“, ein vom CJD Offenburg gemeinsam mit dem renommierten Berufsbildungswerk in Waiblingen, mittlerweile weiterentwickeltes, von der MTO Psychologische Forschung und Beratung GmbH zertifiziertes, standardisiertes und von den Jobcentern und Arbeitsagenturen akzeptiertes Kompetenzfeststellungsverfahren. Das Testverfahren – „eine Kompetenzfeststellung und kein Stresstest“, betont Andrea Greiner-Jean – findet an zwei Tagen in den Werkstätten statt. „Wenn die Jugendlichen gut vorbereitet sind und wissen, dass sie nicht durchfallen können, dass wir wirklich auf das achten wollen, was sie können, dann lassen sie sich darauf ein, haben Spaß dabei und zeigen in den zwei Tagen, was sie wirklich können.“ Auch die Sprache bestimmt das Bewusstsein Ansprechperson in allen Belangen sind für die Jugendlichen die Werkstattpädagogen, in Wolgast, wie erwähnt, Werkstattleiter 12 genannt. „Obwohl in den Landesrichtlinien immer von Werkstattpädagogen die Rede ist, haben wir uns für den Begriff Werkstattleiter entschieden. Auch bei uns arbeiten die Werkstattleiter pädagogisch, so wie auch die meisten Betriebsleiter in der Wirtschaft über pädagogische Bildung verfügen, aber trotzdem Betriebsleiter genannt werden. Wir wollen auch über Sprache und Begriffe Assoziationen zu Schule möglichst fernhalten und sprechen deswegen auch von Lernwerkstatt und nicht vom Unterrichtsraum, von Produktionsschul- und nicht nur von Schulvertrag und ich bin auch keine Schulleiterin, denn die wird vom Kultusministerium berufen, sondern Produktionsschulleiterin. Den Jugendlichen wird so nicht nur über die Produktion selbst, sondern auch über die Sprache die Nähe ihrer Arbeit zu der in regulären Betrieben bewusst.“ Über die fachliche Arbeit haben die Werkstattleiter nach Ansicht von Andrea Greiner-Jean den besten Zugang zu den Jugendlichen. Sie verfügen über Mehrfachqualifikationen, haben einen Handwerksberuf erlernt, sind, je nach Werkstatt, Tischler, Zimmerer oder Köchin, haben die Ausbildereignungsprüfung abgelegt und verfügen über oft langjährige Erfahrungen in der Ausbildung Jugendlicher in ihren früheren Firmen oder haben zusätzlich die Fortbildung des Bundesverbands der Produktionsschulen für Werkstattpädagogen absolviert. „In ers ter Linie aber sind sie Handwerker und Fachleute in ihrem Metier, die Werkstattköchin im Bereich „Service“ ist Köchin und Erzieherin in Personalunion. Nach unserer Erfahrung, und das belegen auch die dänischen Erfahrungen, sind Jugendliche über die Personengruppe der Handwerker, der wirklichen Praktiker viel eher anzusprechen als über Sozialpädagogen, die zuerst den sozialpädagogischen Hilfe bedarf sehen. Ein Werkstattleiter spricht auch anders als ein Sozialpädagoge, zwar ebenfalls respektvoll und auf Augenhöhe, aber manchmal klarer, deutlicher und authentischer und nicht in Form ständiger Therapiegespräche. Wir wollen ernsthaft arbeiten und produzieren. Deswegen kommen die Jugendlichen ja auch zu uns. Sie würden nicht kommen, wenn wir nur bas teln würden.“ Neben der fachlichen Anleitung, stellt Andrea Greiner-Jean aber zugleich klar, müssen und können Anleiter erkennen, ob und welcher zusätzliche Hilfebedarf besteht. Ihre Aufgabe ist es dann, die Jugendlichen „an die richtige Stelle zu lotsen“. Besteht etwa therapeutischer Bedarf, organisiert die Produktionsschulleiterin professionelle Beratung einer kompetenten Psychologin aus dem CJD-eigenen Netzwerk, zu dem auch Integrationsberater der Kompetenz agentur gehören. Andrea Greiner-Jean: „Mehr noch als früher brauchen wir auch die Sozialpädagogik, weil sich die Klientel verändert hat. Wir haben es jetzt mit einer Generation zu tun, die erlebt, dass ihre Eltern nie gearbeitet haben. Deshalb ist der sozialpädagogische und therapeutische Bedarf sehr hoch. Und dennoch: Auch im Betrieb kümmern sich nicht tausend Leute um einen Beschäftigten. Unser Argument lautet: Wir brauchen Psychologen, Therapeuten und Sozialpädagogen nicht 40 Stunden in der Woche, aber wir müssen sie hinzuziehen können, wenn wir sie brauchen – und das ist mit unserem Netzwerk jederzeit garantiert.“ Auf ihr Konzept führt sie auch das geringe Ausmaß an Beschädigungen, Gewalt und andeG.I.B.INFO 4 13 JUGEND UND BERUF ren Übergriffen in der Produktionsschule Wolgast zurück: „Die Jugendlichen merken: Das ist ihr`s!“ Das Produktionsschulgeld in Höhe von fünf Euro täglich zahlt die Produktionsschule übrigens in Abhängigkeit von Leis tung, Anwesenheit, Pünktlichkeit und Arbeitsbereitschaft – „Kriterien, die man gut abrechnen kann.“ Körperliche Anwesenheit indes reicht nicht. „Die Jugendlichen sollen auch den Zusammenhang zwischen ausgezahltem Geld und ihrer Leistung hier sehen. Wenn andere die Arbeit für sie mit erledigen müssen, erhalten jene auch mal einen Bonus. Zusätzliches „Urlaubsgeld“ erhalten zum Beispiel derzeit nur 4 von 40.“ Ist die Summe hoch genug, um zu motivieren? „Manche der Jugendlichen sind abgesichert und nicht darauf angewiesen, aber es kratzt an ihrer Ehre. Wir wünschen uns ein Modell, bei dem das Hartz-IV-Geld an die Teilnahme an einer Produktionsschule und an die Arbeitsleistung gebunden ist, dann wären die Jugendlichen motivierter. Viele Jugendliche und ihre Eltern sind über Jahre daran gewöhnt, auch ohne Leistung versorgt zu werden. Die Verbindung von Leistung und Einkommen ist manchen Jugendlichen gar nicht präsent. Das ist nicht gut für die Gesellschaft – und auch nicht für die Jugendlichen.“ Strategisches Übergangsmanagement Durchschnittlich elf Monate bleiben die Jugendlichen in der Produktionsschule, einzelne aber auch bis zu drei oder vier Jahre. „Ein Junge ist mit 15 zu uns gekommen und erst jetzt, mit 19 Jahren, geganG.I.B.INFO 4 13 gen. Er ist quasi bei uns groß geworden.“ Trotz aller Qualifizierungen und Zertifikate, vom Motorsägeschein über Maschinenbedienscheine bis hin zum Erwerb von Grundlagenwissen in Mathematik und Deutsch, galt er als nicht ausbildungsfähig. „Bei ihm hat auch die Sozialagentur-Optionskommune erkannt, dass sie ihn auch nach Ablauf der regulären Laufzeit nicht aus der Produktionsschule herausnehmen kann. Er hat einfach so lange gebraucht. Jetzt endlich hat er eine Arbeitsstelle gefunden.“ Ziel aber ist, die Zeit in der Produktionsschule so kurz wie möglich zu halten. „Aber 18 Monate genügen schon nicht, wenn jemand bei uns – gegenwärtig ist das ein Drittel aller Jugendlichen – den Schulabschluss nachholen will.“ Flexibilität bei der Laufzeit ist der Produktionsschulleiterin auch in einem anderen Kontext wichtig: „Wir sind nicht abschlussorientiert, sondern wollen Anschlussperspektiven, am besten einen nahtlosen Anschluss.“ Den aber sieht sie gefährdet, wenn Jugendliche Ende Juni aus der Produktionsschule entlassen werden, obwohl ihre Ausbildung erst im September beginnt. „Diese große zeitliche Lücke ist für viele fatal, sie verlieren in dieser Zeit den Anschluss aus dem Blick. Wir haben deshalb mit den Fallmanagern in den Jobcentern vereinbart, diesen Zeitraum auf maximal vier Wochen zu reduzieren.“ der Jugendlichen kommt mit psychischen Erkrankungen, mit Drogen- und Suchtproblemen zu uns, aber wir sind keine therapeutische Einrichtung, irgendwann müssen wir auch mal sagen: Es geht nicht! Wenn es uns aber gelingt, diese Jugendlichen in ein passendes Hilfeangebot zu vermitteln, dann ist das auch ein Erfolg!“ ANSPRECHPARTNER IN DER G.I.B. Albert Schepers Tel.: 02041 767-255 E-Mail: a.schepers@gib.nrw.de KONTAKT Andrea Greiner-Jean CJD Insel Usedom-Zinnowitz Produktionsschule Wolgast Leeraner Str. 5, 17438 Wolgast Ein Teil der Jugendlichen wechselt in Ausbildung oder Arbeit. Auf die Frage, bei welchen Jugendlichen der Übergang nicht gelingt, hat die Produktionsschulleiterin eine gleichermaßen simple wie überzeugende Antwort parat: „Genau bei denen nicht, die in der Produktionsschule fehl platziert waren. Da hat unser Konzept nicht gepasst. Kaum eine Überraschung, denn ein Drittel andrea.greiner-jean@ cjd-produktionsschule.de Internet: www.cjd-zinnowitz.de AUTOR Paul Pantel Tel.: 02324 239466 E-Mail: paul.pantel@arcor.de 13 JUGEND UND BERUF „Produktionsschulen sind auch eine pädagogische Haltung“ Produktionsschule Gütersloh Die Zielgruppen der Gütersloher Produktionsschule in Trägerschaft des Kolping-Berufsförderungszentrums (BFZ) sind klar definiert: Besonders lern- und leistungsschwache Jugendliche ohne Schulabschluss, die nach Ende der allgemeinbildenden Schule für eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme noch nicht geeignet sind; junge Erwachsene bis 25 Jahre mit sogenannten multiplen Vermittlungshemmnissen in Kombination mit fehlendem Schulabschluss sowie junge Migrantinnen und Migranten in schwierigen Lebenslagen, die erst kürzere Zeit in Deutschland leben und nur über geringe Deutschkenntnisse verfügen. Diese nüchterne Klassifikation verschleiert den Blick auf die Erfahrungswelt der Jugendlichen, in der nicht selten materielle Armut und psychische Probleme, Straffälligkeit und Drogen, Flucht und häusliche Gewalt eine dominante Rolle spielen. „Die Teilnehmer/-innen kommen mit zum Teil kaum vorstellbaren Notlagen und traumatisierenden Erlebnissen zu uns“, weiß BFZ-Pädagogin Hildegard Pavenstädt-Palsherm. „Selbst bei intensiver sozialpädagogischer Arbeit wird häufig nur die Spitze des Eisbergs sichtbar.“ Um auch ihnen Perspektiven in Richtung Arbeitsmarktintegration zu erschließen, ist nach ihrer Überzeugung eine längerfristige, intensive und flexibel gestalte- 14 te individuelle Betreuung erforderlich, „gruppiert um einen produktionsorientierten Kern“. Nur eine so organisierte Produktionsschule, scheint es, wird den extrem differenzierten Lebenslagen, Erfahrungen und Voraussetzungen sowie daraus abgeleiteten Entwicklungsbedarfen der Jugendlichen gerecht und berücksichtigt ihre besonderen Interessen. So will Produktionsschülerin Conny, Mutter eines Kindes, eine Teilzeit-Ausbildung absolvieren, Dione den Hauptschulabschluss nachholen und Dimitri Tischler werden. Kabar hat sich noch nicht endgültig festgelegt und Susi strebt eine duale Ausbildung im Krankenhaus an. Auch Jugendlichen, für die ein AchtStunden-Tag eine nicht zu bewältigende G.I.B.INFO 4 13 JUGEND UND BERUF Herausforderung ist, bietet die Produktionsschule einen individuellen Ausweg: „In solchen Einzelfällen“, sagt Rudolf Stüker, ebenfalls Pädagoge am BFZ , „können wir ihnen in Absprache mit dem zuweisenden Jobcenter anfangs eine Teilzeit-Teilnahme erlauben eine unkonventionelle Lösung, die in standardisierten Maßnahmen nicht zur Verfügung steht.“ Greifen die Angebote der Produktionsschule nicht, droht den Jugendlichen, die durch klassische berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, Werkstattjahr oder Aktivierungshilfen kaum mehr zu erreichen sind, der dauerhafte Ausschluss von Erwerbsarbeit und gesellschaftlicher Partizipation. Deshalb und vor dem Erfahrungshintergrund der Jugendlichen hat sich das Produktionsschulteam für „kleinteilige Ziele“ bei der Entwicklung personaler und sozialer Kompetenzen entschieden. Dazu zählen pünktliches Erscheinen bei der Arbeit, korrekte Abmeldung im Krankheitsfall, Kontinuität und Ausdauer bei der Arbeit, sinnvoller Umgang mit den vorhandenen finanziellen Ressourcen, Aufbau und Erhalt tragfähiger sozialer Beziehungen, konstruktiver Umgang mit neuen beruflichen Anforderungen und mit Kritik. Kurze Schritte angesichts eines langen Weges zur Beschäftigungsfähigkeit, aber für die Produktionsschüler/-innen ein großer Sprung in Richtung Arbeitsmarkt, unter anderem durch ein betriebliches Praktikum. Holzbearbeitung und hauswirtschaftliche Dienstleistungen. In der Holzwerkstatt stellen sie am Markt orientierte Produkte her, aus Holz gestaltet und in guter Qualität. Nachgefragt bei Kunden sind vor allem Vogelhäuschen. Auf deren Produktion hatten sich Anleiter und Teilnehmende nach ausgiebigem Brainstorming und intensiver „Marktforschung“ geeinigt: „Sie lassen sich gut verkaufen und sind ein Alleinstellungsmerkmal. Zudem vermeidet die NischenProduktion Konkurrenzkonflikte mit den örtlichen Betrieben, die wir als Anbieter von Praktikums-, Arbeits- und Ausbildungsplätzen brauchen.“ Markt- und betriebsorientierte Arbeit Wie der Meister oder Geselle in einem Handwerksbetrieb ist der Werkstattanleiter den Jugendlichen Vorbild und Identifikationsfigur. Unter seiner fachlichen Anleitung fertigen sie Einzelstücke nach Kundenauftrag oder in kleineren Serien. Der geglückte Verkauf steigert das Arbeitsethos. Jugendliche erfahren dabei – oft zum ersten Mal in ihrem Leben – Anerkennung. Sie können sich sagen: „Was wir produzieren, ist auf dem Markt gefragt!“ Aber sie merken zugleich, dass sich nur gute Qualität verkaufen lässt. Das hat Folgen: „Ein Jugendlicher, der Tischler werden will, macht Druck auf seine Kollegen, damit sie genauso sauber arbeiten wie er.“ Die Jugendlichen erkennen: Nur, wenn alle zusammenarbeiten, lässt sich bis zum festgelegten Liefertermin die nachgefragte Zahl an Vogelhäusern produzieren. Die Pädagogen sind überzeugt: „Mit dieser Erkenntnis entwickeln sie ihre Persönlichkeit.“ Zwei Produktlinien bilden das Handlungsfeld der Jugendlichen in Gütersloh: Bei hinreichendem Interesse – ein erster Versuch war an mangelnder Motivation G.I.B.INFO 4 13 der Jugendlichen gescheitert – ist ein erneuter Anlauf zur Herstellung von Do-ItYourself-Möbeln geplant: Sessel, Stuhl und Regal mit modularem Aufbau, kreiert vom Berliner Architekten Le Van Bo. Besonderer Anreiz: Eins der Möbel, der „Kreuzberg 36 Chair“, war in der Kategorie „Do It Yourself“ Exponat der vom Goethe Institut Taipeh und dem Internationalen Designzentrum kuratierten Ausstellung „German Shades Of Green“. Zweiter Geschäftsgegenstand der Produktionsschule sind hauswirtschaftliche Dienstleistungen und hier vor allem die Bewirtschaftung eines Kiosks im Pausenund Aufenthaltsraum des BFZ. Gemüse und Salate zur Speisenzubereitung beziehen die Jugendlichen z. T. aus einem in Projektarbeit selbst angelegten Hochbeet. Das kundenorientierte Angebot erfordert minuziöse Auftragserfüllung und damit von den Teilnehmenden Ausdauer, Zuverlässigkeit und Teamfähigkeit. Der Arbeitserfolg spiegelt sich unmittelbar in der Zufriedenheit der Kunden für die Jugendlichen „ein Erfolgserlebnis, das Selbstwirksamkeit erfahrbar macht und zur weiteren Kompetenzaneignung motiviert.“ Sie profitieren zudem vom „Lebensweltbezug“ des hauswirtschaftlichen Dienstleistungsangebots, erarbeiten sich die Grundlagen einer ausgewogenen Ernährung und lernen, mit begrenztem Budget vollwertige Mahlzeiten zuzubereiten. Das stärkt Eigenverantwortung und Gesundheitsbewusstsein der oft an Fastfood gewöhnten Zielgruppe der Produktionsschule – „ein enormer Gewinn.“ Drittes, eher marginales, Tätigkeitsfeld der Produktionsschule sind die Herstellung 15 JUGEND UND BERUF Unsere Jugendlichen sind noch nicht einseitig belastbar. Bei Langeweile würden sie fernbleiben, abwechslungsreiche Arbeiten hingegen motivieren sie.“ Um das Erwerbsdenken zu fördern und zur Suche nach weiteren Erwerbsquellen wie dem Kaminholzverkauf anzuregen, wird ein Teil des erwirtschafteten „Gewinns“ anteilig an die Teilnehmenden ausgezahlt, unter Berücksichtigung von Anwesenheitszeiten, individueller Produktivität und Arbeitsqualität. „Wer zwei linke Hände hat, aber engagiert bei der Sache ist“, beruhigt Hildegard Pavens tädt-Palsherm etwaige Kritiker, „wird nicht benachteiligt. Bestrafen wäre pädagogisch kontraproduktiv, aber mit unserem Vorgehen stellen wir Transparenz her über das Zustandekommen von Löhnen in Abhängigkeit von der eigenen Leistung.“ Arbeitsorientierte Qualifizierung und der Verkauf von Kaminholz – nachrangig, aber dennoch von Relevanz, weil es den oft sprunghaften Jugendlichen körperlichen Ausgleich und willkommene Abwechslung bietet. In den kleinen Waldgebieten von Rheda-Wiedenbrück und Gütersloh wird mit Genehmigung des Regionalforstamts Westfalen-Lippe „gesägt, gesammelt, gehackt und gestapelt“. Jugendliche mit entsprechender Reife können hier den Umgang mit der Motorsäge erlernen. Pädagoge Rudolf Stüker ist ein vehementer Verfechter des Zusatzangebots: „Fachliche Qualifizierungen haben viele langweilige Anteile. Niemand weiß das besser als Auszubildende in Metallberufen, die tagelang an ein und demselben Stück feilen müssen. 16 Arbeit und Qualifizierung sind in allen Produktlinien „möglichst betriebsorientiert“. Professioneller Qualitätsanspruch und Terminvorgaben gewährleisten hohen Realitätsbezug und „Echtcharakter“. Vom Einkauf der Materialien über die Herstellung des Produkts bis hin zu Preiskalkulation und Vertrieb sind die Jugendlichen in den Arbeitsprozess involviert. Fachliche wie psycho-soziale Unterstützung finden sie jederzeit bei Anleiterinnen und Anleitern und Sozialpädagogen und -pädagoginnen. Eine räumliche Trennung beider Professionen ist Tabu: Sozialpädagogen und -pädagoginnen sind in der Werkstatt präsent, Anleiter/-innen beschränken sich nicht auf ihr Gewerk. „Fachliche Begleitung ist unverzichtbar“, so Rudolf Stüker, „rein sozialpädagogische Angebote funktionieren nicht. Die Jugendlichen wollen gefordert werden und suchen die fachliche Rückmeldung.“ Personal zu finden, das zum Produktionsschul-Konzept steht, ergänzt Einrichtungsleiter Rainer Palsherm, sei jedoch nicht leicht. Unmittelbar verknüpft mit Produktion und Dienstleistung erfolgt eine arbeitsorientierte Qualifizierung. Die Vermittlung von Kenntnissen zur Berechnung von Maßeinheiten oder über die Eigenschaften verschiedener Materialien erfolgt „on the job“. So erwerben die Teilnehmenden für den Arbeitsmarkt relevante berufliche Grundfertigkeiten und Arbeitstugenden, erkennen im Produktionsprozess Sinn und Notwendigkeit theoretischen Lernens. Auch wenn kein schriftlich fixiertes Curriculum existiert – theoretischen Fachkundeunterricht gibt es aktuell nur für die Kiosk-Arbeit im Bereich „Hygiene“ –, so hält die Produktionsschule doch konkrete Qualifizierungsangebote vor: Bewerbungstraining zum Beispiel, Grundlagen der EDV, allgemeine Grundlagen in Deutsch und Mathematik, soziales Kompetenztraining oder Sprachförderunterricht für Migrantinnen und Migranten. Eine Jugendliche aus dem Irak zum Beispiel, erzählt Pädagogin Hildegard Pavenstädt-Palsherm sprach Deutsch nahezu perfekt, ohne es jedoch lesen zu können. Eigens für sie hat die Produktionsschule Lesefördermaterial von der Grundschule angeschafft – mit Erfolg: „Schon nach zwei Monaten konnte sie so lesen, dass ihr Praktikumsbe- G.I.B.INFO 4 13 JUGEND UND BERUF trieb deutliche Verbesserungen feststellen konnte – eine gute Leistung!“ Wer will, und das sind gegenwärtig rund 20 Prozent der Teilnehmenden, kann den Hauptschulabschluss nach dem Weiterbildungsgesetz nachholen und erhält Förderunterricht. Die Abschlussquoten liegen bei durchschnittlich 80 Prozent. Im Holzbereich können Teilnehmende Qualifizierungsbausteine erwerben. Denkbar wäre das auch in anderen Gewerken, aber „das liegt meist nicht im Interesse der Jugendlichen“, sagen die Pädagogen, und wäre nach Ansicht von Rudolf Stüker auch nicht realistisch, da zu umfangreich: „Nach langen 200 Stunden einen Metall-Qualifizierungsbaustein in der Hand halten zu können, würde unsere Jugendlichen nicht motivieren. Wir vermitteln Fähigkeiten zur Herstellung eines Produkts, nicht aber die Inhalte eines Ausbildungsprogramms.“ Praktika und Übergänge Wichtiger sind Betriebspraktika. Sie dauern vier bis acht Wochen. In Absprache mit den Fallmanagerinnen und -managern des Jobcenters können sich Jugendliche im Einzelfall auch über ein längeres betriebliches Praktikum die Grundlagen für eine Ausbildung aneignen. Die Akquise von Betrieben, die Vorbereitung auf die mit dem Praktikum verbundenen Anforderungen und Chancen sowie die Begleitung während des Praktikums obliegen den Sozialpädagogen. Eine systematische Nachbereitung findet gemeinsam mit dem betrieblichen Ansprechpartner im Praktikumsunternehmen statt. Ziel ist, mindestens ein Drittel der Teilnehmer/-innen zu integrie- G.I.B.INFO 4 13 ren: In duale oder vollzeitschulische Ausbildungsverhältnisse, in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse oder in berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, zur Not auch in Mini-Jobs. Ein weiteres Drittel soll zumindest Integrationsfortschritte verzeichnen. Dazu zählen etwa der Besuch psychosozialer Beratungsstellen oder die persönliche Stabilisierung als nächste Schritte in Richtung Arbeitsmarktintegration. Einem Teil, auch das ist absehbar, wird keine Integration gelingen und auch deutlich sichtbare Integrationsfortschritte sind nicht zu erwarten. Dr. Burkhard Poste, im BFZ Gütersloh für die Projektentwicklung zuständig: „Pädagogische Allmachtsfantasien sind fehl am Platz. Die Wahrheit ist: Manche Jugendliche haben noch kein Gespür für die Konsequenzen ihres Handelns für das eigene Leben und brauchen einfach mehr Zeit. Damit sind sie auch nicht abgeschrieben, nur: Bei ihnen zieht das Angebot im Moment noch nicht. Manche verschwinden dann und tauchen zwei Jahre später als Azubis wieder auf.“ Evaluation sollte deshalb nach Meinung von Rudolf Stüker nicht allein das Kriterium „Vermittlungsquote“ ins Auge fassen, sondern auch die Kompetenzzuwächse der Jugendlichen messen. Neue Herausforderungen die die starke Ausrichtung auf duale Berufsausbildung und Arbeitsmarktverwertung für die Gruppe der benachteiligten Jugendlichen mit sich bringen kann. Produktionsschule halten sie – auf einen einfachen Nenner gebracht – vorrangig für ein niederschwelliges sozialpädagogisches Instrument und nicht so sehr für einen Werkstattansatz bei dem schulmüde Jugendliche Qualifizierungsbausteine absolvieren, einen Hauptschulabschluss nachholen und gleichzeitig produzieren. Dr. Burkhard Poste: „Wer in dänischen Produktionsschulen die Wertschätzung erlebt hat, die Mitarbeitende den Teilnehmenden entgegenbringen, weiß, dass Produktionsschule auch eine pädagogische Haltung ist.“ KONTAKTE Hildegard Pavenstädt-Palsherm Dr. Burkhard Poste Rainer Palsherm Rudolf Stüker Berufsförderungszentrum Gütersloh Kolping-Bildungszentren Ostwestfalen gem. GmbH Osningstr. 11 – 13 33332 Gütersloh Tel.: 05241 947888 Internet: www.kolping-bfz-gt.de AUTOR Paul Pantel Tel.: 02324 239466 Am neuen Übergangssystem von der Schule in den Beruf in Nordrhein-Westfalen, in dem Produktionsschulen ein Baustein sind, loben die Pädagogen der Produktionsschule Gütersloh vor allem den präventiven, frühzeitigen Ansatz, weisen aber auch auf die Probleme hin, E-Mail: paul.pantel@arcor.de 17 JUGEND UND BERUF 15 Jahre „Jugend in Arbeit“ – eines der erfolgreichsten Förderangebote in NRW Seit 15 Jahren ist das Programm „Jugend in Arbeit“ Bestandteil der nordrheinwestfälischen Arbeitsmarktpolitik – und damit die arbeitsmarktpolitische Einzelmaßnahme mit der längsten Laufzeit. Über „Jugend in Arbeit“ erhalten Jugendliche und junge Erwachsene, die noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet und einen Unterstützungsbedarf bei der Arbeitssuche haben, Hilfestellungen bei der Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die enge Zusam- G.I.B.: Im Rahmen des Programms „Jugend in Arbeit plus“ (JA plus) – das liest und hört man sehr häufig im Zusammenhang mit diesem nordrhein-westfälischen Förderansatz – treffen verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Kulturen aufeinander. Wie haben Sie das im Rückblick auf das 15-jährige Bestehen des Programmes erlebt? menarbeit von Jobcentern und Agenturen für Arbeit, Beratungseinrichtungen und Kammerverbänden ist Grundlage der Beratung und Begleitung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen im Programm. Trotz diverser Detailänderungen an der Programmkonzeption seit 1998 ist diese Grundstruktur beibehalten worden. Wesentliche Änderungen erhielt das Programm im Jahre 2002 durch den Übergang von einer reinen Landesinitiative in die ESF-kofinanzierte Arbeitsmarktpolitik des Landes NRW. Dieser Umstellung verdankt Jugend in Arbeit den Zusatz „plus“. 2006 fand für die praktische Umsetzung eine wesentlichere Weiterentwicklung statt: Durch die Hartz-Gesetzgebung übernahm die Arbeitsverwaltung Aufgaben im Bereich der Integrationsplanung, die die bis dahin im Rahmen von Jugend in Arbeit plus durchgeführte Entwicklungsplanung ersetzen sollte. Anschließend wurden 2008 die bis dahin über Landes- und ESF-Mittel geförderten Lohnkostenzuschüsse durch die Eingliederungszuschüsse des Bundes ersetzt. Seit dem Start des Landesprogramms im Juli 1998 bis Juni 2013 wurden mehr als 76.000 junge Menschen in „Jugend in Arbeit“ beraten. Im selben Zeitraum verließen rund 38.000 Jugendliche das Programm in Erwerbstätigkeit. Mit einer Integrationsquote von 50 % ist „Jugend in Arbeit“ damit eines der erfolgreichsten Förderangebote. Das Jubiläum von „Jugend in Arbeit“ war für uns der Anlass, Menschen, die dieses Förderprogramm umsetzen, zusammenzubringen und mit ihnen zurück- und vorauszuschauen. 18 Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK): Als ich 1998 die ersten Gespräche mit der Sozialberatung geführt habe, sind tatsächlich zwei unterschiedliche Kulturen aufeinandergeprallt. In Gesprächen mit Beratern hieß es dann: Der Teilnehmer ist an zwei Terminen erschienen. Ein toller Erfolg, aber mal sehen, was weiter daraus wird. Wenn man gewohnt ist, aus der Sicht von betrieblichen Abläufen her zu denken, waren das schon sehr verschiedene Welten. Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Es gibt noch heute einen großen Unterschied in den Blickwinkeln. Außerdem habe ich den Eindruck, dass sich in den zehn Jahren, in denen ich dabei bin, der soziale und pädagogische Betreuungsaspekt deutlich verstärkt hat. Ich denke, dass die Schwierigkeiten, jemanden aus einer prekären Lebenssituation auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen, größer geworden sind. Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf: Obwohl von den Voraussetzungen der Zielgruppe her etwas anderes zu erwarten gewesen wäre: Früher mussten die Jugendlichen 12 Monate und länger arbeitslos sein und heute reicht rein theoretisch ja schon der Status „von Arbeitslosigkeit bedroht“, um zugewiesen zu werden. Eigentlich könnte man deshalb annehmen, dass die Jugendlichen heute leichter in den Arbeitsmarkt zu integrieren wären. Dem ist aber nicht so. G.I.B.INFO 4 13 JUGEND UND BERUF Eva-Maria Kuntzig, Thomas Heitzer, freie Beraterin Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Als ich 2009 eingestiegen bin, war man schon aneinander gewöhnt. Mit den Kammerkoordinatoren funktionierte die Zusammenarbeit ganz gut. Die zuweisenden Stellen haben aber doch oft Vorschriften, deren Logik mir nicht so ganz begreiflich ist. Wenn ein Arbeitgeber zum Beispiel den Lebenslauf eines Jugendlichen durchsieht, der Elternzeit oder Zeiten von Arbeitsunfähigkeit und drei Jahre nach der Schule eine Maßnahme beinhaltet, ist er für ihn seit drei Jahren arbeitslos, für die Agentur erst, seitdem er vor zwei Wochen die Maßnahme beendet hat. Ich merke aber in der letzten Zeit, dass die zuweisenden Stellen flexibler werden. Es gibt die Bereitschaft, auch mal etwas ganz Neues zu versuchen. Ich finde das sehr positiv. Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/ Rhein-Sieg: Ich bin erst 2008 in das Programm eingestiegen und das Hauptthema der Runden Tische war damals, für Neuorientierung zu sorgen. Die Änderung der Förderkonditionen führte zu Irritationen bei den Beteiligten, was den „Neustart“ zunächst schwierig gestaltete. Hierbei war und ist für uns der Runde Tisch immens wichtig, da dieses Gremium die Möglichkeit gibt, dass man über die institutionellen Grenzen hinweg eine Vereinheitlichung des Programmablaufs gewährleisten kann. G.I.B.: Wo wurde bei den Regionalagenturen das Aufeinandertreffen der Kulturen deutlich? Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen: Für uns ist es mittlerweile Routine geworden, die Leute zusammenzubringen, die zusammengehören, und ein Programm zu realisieren. In den zuweisenden Stellen haben allerG.I.B.INFO 4 13 Netzwerk Lippe (IHK) dings häufig personelle Wechsel stattgefunden, sodass man mit jedem neuen Mitarbeiter und jedem neuen Mitglied am Runden Tisch auch ein Stück weit wieder von vorn anfangen musste. Jürgen Kempken, G.I.B.: Ich glaube, es gab in den letzten 15 Jahren, wenn man hier von Kulturen spricht, zwei „Kulturrevolutionen“. Die erste direkt am Anfang, als die wirtschaftsnahen Kammern auf die zielgruppenorientierten Berater und Beraterinnen gestoßen sind. Die zweite gab es, als die Agenturen und Jobcenter mit reingekommen sind. Heute gibt es ein klares „Sowohl-als-auch“. Es gibt Vertreter/-innen, die eine deutlich Abgrenzung zu der anderen Kultur sehen, aber auch einen großen Teil, die den engen Kontakt zu den anderen Kulturen suchen und gut zusammenarbeiten. In der Regel funktioniert die Zusammenarbeit in den Regionen aber schon sehr gut. Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/ Rhein-Sieg: Sicher gibt es unterschiedliche Kulturen und unterschiedliche Interessenausrichtungen. Was wir aber gemerkt haben, ist, dass die Zusammenarbeit personenabhängig ist. Wenn jemand hinter dem Programm steht, dann läuft es auch! Wir haben am Runden Tisch zudem eine im Vergleich relativ geringe Personal-Fluktuation, was ebenfalls ein Grund ist, warum wir mit der Umsetzung ziemlich zufrieden sein können. Das war bei uns aber nicht immer so. Wir hatten zeitweise sogar eine externe Person eingeschaltet, um die Kommunikationswege zu „durchleuchten“ und um den Sand aus dem Getriebe zu waschen. Dieser Prozess hat natürlich die Voraussetzungen nicht verändert, sehr wohl aber das Miteinander, was wir auch tatsächlich an den Zuweisungszahlen merken konnten. Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Dass es mit den Personen steht und fällt, haben wir auch gemerkt. Wir haben immer darauf geachtet, wenn mal eine Beraterin gewechselt hat oder einer anderen Stadt zugeteilt wurde, dass wir die Beraterin persönlich vorgestellt haben. Wir suchen auch regelmäßig das Gespräch, zum Beispiel um Problemfälle zu besprechen. So etwas ist wichtig. Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Die persönliche Ebene ist ganz wichtig, aber gerade bei den zuweisenden Stellen sind weitere Faktoren zu beachten, die deren Handeln bestimmt, z. B. sind sie an Budget-Zwänge gebunden. G.I.B.: Gibt es heute also gar nicht mehr den „Kultur-Clash“ der sogenannten „Kammerkultur“ mit der „sozialpädagogisch orientierten Beraterkultur“, sondern eher Gegensätze zwischen denjenigen, die JA plus für sich als Programm verinnerlicht haben und denen, denen man das Programm noch nahe bringen muss? Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Es gibt Wellenbewegungen. Manchmal müssen bestimmte Maßnahmen mit Jugendlichen besetzt werden und deshalb gehen dann die Zuweisungen zu „Jugend in Arbeit plus“ zeitweise zurück. Aber glücklicherweise ist ja mittlerweile eine parallele Zuweisung möglich. Personen, die von dem Programm überzeugt sind und seine Pluspunkte verinnerlicht haben, weisen dann weiterhin zu. Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen: Ich finde, das ist ein Indiz dafür, dass wir es nicht geschafft haben, die Leute so zusammenzubringen, dass das Programm rund läuft. 19 JUGEND UND BERUF Britta Albertz, Michael Nölle, Verein „Jugend in Arbeit“ Kreishandwerkerschaft Düsseldorf Es braucht nicht nur ein Zugpferd am Runden Tisch, sondern es müssen alle davon überzeugt sein, dass JA plus eine gute Sache ist und eine gute Ergänzung sein kann zu Angeboten, die die zuweisenden Stellen zunächst im Blick haben. G.I.B.: Was behindert das Programm darüber hinaus noch? Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf: Manchmal sind es einfach Informationsdefizite, wichtige Programmpunkte sind nicht verinnerlicht worden. Wir gehen dann dorthin und erklären, wer zugewiesen werden kann. Wir sind auch schon gebeten worden, gemeinsam mit Beratern zu JA plus Stellung zu nehmen. Danach weisen dann selbst Optionskommunen zu, die kein Geld für Lohnkostenzuschüsse haben. Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich merke verstärkt die Personalproblematik der zuweisenden Stellen. Denn dort dreht sich nach meiner Erfahrung das Personalkarussell teilweise sehr schnell. Ich habe in meiner Zeit schon so viele Ansprechpartner/-innen gehabt, denen ich das Programm immer wieder neu erkläre, dass ich mich schon ein wenig in einem Hamsterrad laufen sehe. Jürgen Kempken, G.I.B.: Man muss gestehen, dass es Fluktuation auch bei Beraterinnen und Beratern, bei Kammern und bei Regionalagenturen gibt. Die Teilnahme an dem Programm ist dort kontinuierlicher, aber jeder Personalwechsel reißt schon ein gewaltiges Loch. G.I.B.: Gibt es auch Beispiele, wo die Kooperation mit den zuweisenden Stellen richtig gut läuft? Und wenn ja: Sind 20 dort institutionelle oder andere Formen der Zusammenarbeit gefunden worden. Was ist das Erfolgsgeheimnis? Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/ Rhein-Sieg: Im Grunde ist es schon gesagt worden: Es liegt an den Personen. Die müssen sich natürlich auch an ihre Vorgaben halten. Aber wenn ich mir unseren Kreis am Runden Tisch angucke, dann passt das. G.I.B.: Liegt es wirklich nur an Personen? Wer in den 1970er Jahren studiert hat, hat gelernt dass es eigentlich immer eher an Strukturen liegt. Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Eine Stärke in der Struktur des Programms ist die Flexibilität. Wenn das Jobcenter A sagt, wir brauchen es so, die Arbeitsagentur B will es so und eine andere Stelle hat noch einen anderen Wunsch, dann können wir sagen: Ja, machen wir. Es gibt für uns keine starren Regeln, die uns behindern. In Einzelfällen spielen die Bezirksregierungen oft mit, weil sie einsehen, dass JA plus für bestimmte Jugendliche sinnvoll ist. Und wenn sie in dieser Form handlungsfähig bleiben, stärkt das die „Kümmerer“. Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK): Wir haben es in Lippe geschafft, die Agentur für Arbeit als Zuweiser mit ins Boot zu bekommen. Auch da liegt es an einer Person, die JA plus für eine gute Sache hält. Derjenige hat dann Info-Veranstaltungen mit uns organisiert, und auf einmal fängt es an zu laufen. Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Ein großer Anteil an Teilnehmenden geht in Arbeit. Wenn man sagt, dass das etwas mit den Einzelpersonen zu tun hat, ist das si- cher richtig, aber der Anteil ist im Vergleich zu anderen Maßnahmen höher. Man kann aber wohl nicht sagen, dass in diesen Maßnahmen nicht so engagierte Personen tätig sind. Es sind also die engagierten Personen, aber – damit sind wir wieder bei den Strukturen – auch das Zusammenwirken vielleicht genau dieser Akteure und die Art und Weise, wie sie miteinander arbeiten, muss noch eine entscheidende Rolle spielen. Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Es sind auch die verschiedenen Ansichten, Möglichkeiten, auch Wissensstände. Die Kammer hat einen anderen Blick auf einen Teilnehmer/eine Teilnehmerin, eine Arbeitssituation oder einen Arbeitgeber als der Berater/die Beraterin, auch als die zuweisenden Stellen. Es ist also nicht nur der eine, der nach dem immer gleichen Schema F agiert, sondern es gibt immer noch eine alternative Idee. Jürgen Kempken, G.I.B.: Aber auch das ist eine Besonderheit: Es funktioniert in den einzelnen Region sehr unterschiedlich. Hier sitzen sechs Regionen am Tisch, aber es ist keine wie die andere. Ohne die regionalisierte Umsetzung würde es das Programm nicht mehr geben. G.I.B.: Hat sich die Zielgruppe im Zeitraum, den Sie überblicken können, verändert? Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Formal auf dem Papier nicht, bis auf die neuen Zuweisungskriterien. Ich habe immer noch alle Jugendlichen unter 25, auch die „schwer vermittelbaren“. Es ist nicht immer der Schulabschluss, der eine Arbeitsaufnahme verhindert. Da kommen ganz andere Sachen ins Spiel. Die Jugendlichen sind G.I.B.INFO 4 13 JUGEND UND BERUF Ulrike Joschko, Stephan Lorenz, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg unselbstständiger und auch demotivierter als noch 2009. Was ich im Jahr 2009 von Jugendlichen noch erwarten konnte – Informationen selbst beschaffen, Gänge selbst erledigen – wird immer schwieriger. Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich glaube, die Problematiken selber haben sich gar nicht so sehr verändert. Wir hatten immer schon junge Menschen, mit Drogenproblematik, mit Schuldenproblematik, mit anderen Belastungen, mit gesundheitlichen Einschränkungen. Ich habe trotzdem das Gefühl, dass sich vor allem etwas im Bereich gesundheitlicher Einschränkungen verschärft und dass sich das „Schnell-demotiviert-sein“ und das „Sichaufgeben“ durchsetzt. Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen: Das ist auch ein Thema, das im Ausbildungskonsens diskutiert wird: das diffuse Gefühl, dass die Jugendlichen immer schwieriger werden, dass Mehrfachbelastungen und Handicaps zunehmen, die es schwieriger machen, den richtigen Ansatz zu finden. Das ist nicht programmspezifisch, sondern eher eine allgemeine Tendenz. Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK): Die Zielgruppe ist vielseitiger geworden. Wir haben arbeitsmarktferne Jugendliche, ebenso wie Hochschulabsolventen. Aber ob mit oder ohne Ausbildung: die Frus trationstoleranz ist niedriger. G.I.B.: Hat sich der Beratungs- und Aktivierungsprozess aufgrund der sich ändernden Zielgruppe verändert? 2001 schrieb Ute Mankel von der G.I.B. im G.I.B.-Info über die Probleme, die noch zu lösen sind, unter anderem: „Der Beratungsund Entwicklungsprozess ist zu lang.“ G.I.B.INFO 4 13 Jürgen Kempken, G.I.B.: Damals war aber die Zeit noch nicht auf neun Monate begrenzt wie jetzt. Die Begleitzeit wurde heruntergefahren. Klar, manche brauchen zwei Jahre, aber die meisten gingen vorher schon raus. Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Wenn ich manche Lebensläufe zur Hand nehme und durchgehe, sehe ich: nach der Schule ein paar Maßnahmen, vielleicht ein paar Nebentätigkeiten, in der Regel über einen Zeitraum von drei oder vier Jahren. Das kann verschiedene Gründe haben, muss nicht immer am Teilnehmer selbst liegen. Aber es ist klar, dass ich den nicht an zwei Tagen fit für den Arbeitsmarkt mache. Dabei ist nicht einmal der Abschluss oder die Ausbildung entscheidend. Bei solchen langen Phasen der Orientierungslosigkeit dauert es immer länger, diese Demotivation auszubügeln und die Jugendlichen auf ein Niveau zu bringen, auf dem man wieder über Arbeitsaufnahmen nachdenken kann. Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen: Ich frage mich, ob die Begrenzung des Beratungsprozesses 2006 die richtige Konsequenz war. Jürgen Kempken, G.I.B.: Das ist zustande gekommen, weil man auf Grundlage der Zahlen festgestellt hat, dass die meisten Jugendlichen nach neun Monaten vermittelt waren. Es war eine ganz geringe Zahl, die über die längere Distanz gegangen ist. JA plus ist gut für eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen. Wenn sie noch intensiverer Betreuung bedürfen, kann das JA plus nicht mehr regeln. Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf: Es hängt auch damit zusam- men, wann derjenige, der vermitteln soll, den Jugendlichen kennenlernt. Wenn er ihn erst nach acht Monaten dieser Laufzeit kennenlernt, wird die Zeit arg knapp … Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: … oder wenn der Jugendliche von den neun Monaten der Beratungszeit nur die Hälfte erscheint. Das ist alles verlorene Zeit. Neun Monate sind so schnell vorbei und man kann so jemanden nicht mit ruhigem Gewissen empfehlen. Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Man darf auch den wirtschaftlichen Aspekt nicht außer Acht lassen. Wenn ein Träger, über zwei, drei Jahre Teilnehmer/-innen begleitet, immer wieder berät, einlädt und eine Struktur für sie zur Verfügung stellt, die vielleicht letztendlich nie zu einem Erfolg in Form von Vermittlung in ein Arbeitsverhältnis führt, muss man auch die Frage nach der Finanzierung stellen. Das hat verstärkt in der letzten Zeit auch die Träger belastet. G.I.B.: Wo gab es Brüche im Lauf der Entwicklung von „Jugend in Arbeit“? Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich glaube, der massivste Bruch im Programm, der noch heute einen gewissen „Kater“ hervorruft, ist der Wegfall der Fördermöglichkeiten des Lohnkostenzuschusses. Wir bieten jetzt einem Arbeitgeber einen Jugendlichen unter anderen Bedingungen an als das vor zehn, 15 Jahren möglich war. Heute stehen wir in einem anderen Wettbewerb, weil es diese finanziellen Unterstützungen so nicht mehr gibt. Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Vielleicht ist es kein Bruch – ich bin erst seit 2009 dabei –, aber das Programm lei21 JUGEND UND BERUF Dr. Georg Worthmann, Jürgen Kempken, G.I.B. det auch an einem anderen finanziellen Mangel. Wenn jemand, der im Lager arbeitet einen Staplerschein braucht, eine Verkäuferin ohne Kassenkenntnisse ein Kassentraining oder ein Gärtner einen Führerschein, so ist ein solcher Qualifizierungszuschuss nicht möglich. Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK): Das kann ich nur bestätigen. Das fehlt mir auch. 2008 gab es in NRW die Idee „in der Arbeit für die Arbeit qualifizieren“. Es ging darum, dem Arbeitgeber eine externe Qualifikation für den Jugendlichen anzubieten. Nicht sofort in den ersten zwei, drei Monaten, sondern erst dann wenn klar war, was er braucht, um damit das Arbeitsverhältnis zu stabilisieren. Jetzt sind wir immer etwas auf Goodwill angewiesen. Für mich sind die Regeln, nach denen die Mittel vergeben werden, sehr kryptisch. Dass es keine Lohnsubventionen mehr gibt, damit kann ich noch leben, finanzielle Unterstützung von Qualifizierungen wäre aber äußerst sinnvoll. G.I.B.: Welche wichtigen Ergebnisse hat die Evaluation zu JA plus erbracht? Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Wir haben auf drei Ebenen untersucht: Teilnehmerebene, Beratungsebene und regionale Ebene. Auf der Teilnehmerebene haben wir die alte Datenbank ausgewertet, in der auch die Vermittlungshemmnisse miterfasst waren. Wir haben festgestellt, dass fast alle personenbezogenen Teilnehmermerkmale statistisch signifikant für den Teilnahmeerfolg sind, im Sinne einer Erwerbstätigkeit im Anschluss. Aber es gibt darüber hinaus noch viele andere Faktoren, die ebenfalls wichtig sind. Ich möchte einige wichtige nennen: Auf der Beraterebene ist die Intensität, mit der 22 G.I.B. man an JA plus arbeitet, entscheidend. Je mehr Stunden eine Beratungsfachkraft an JA plus insgesamt arbeitet, desto höher ist die Integrationswahrscheinlichkeit, je weniger Arbeitszeit insgesamt zur Verfügung steht desto ungünstiger für eine Erwerbsintegration. Ein weiteres Merkmal ist die Nähe der Beraterinnen und Berater zum Arbeitsmarkt. Haben sie selber Kenntnis über offene Stellen? Jugendliche, die von entsprechenden Beratenden beraten werden, haben eine größere Chance, aus JA plus in Erwerbstätigkeit zu gehen. Auf der regionalen Ebene, also auf Kreisund Stadtebene, ist es zum einen ganz stark die Kooperation zwischen Beratenden und Kammern, die die Integrationswahrscheinlichkeit der Jugendlichen erhöht. Auch die Kooperation mit den zuweisenden Stellen spielt eine Rolle und da kommen auch die Regionalagenturen und die Runden Tische ins Spiel. Hier findet ein wichtiger Teil der Kooperation statt. Bezogen auf die Kammerfachkräfte ist festzustellen: Je breiter die regionale Zuständigkeit angelegt ist, in diesem Fall gemessen an der Zahl der Kreise, die eine Kammerfachkraft zu betreuen hat, des to ungünstiger ist dies für die Integrationschancen der Teilnehmenden. Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Ich habe mir für 2012 noch einmal unsere Verwendungszwecke angesehen und die Aussage gefunden, dass sich die Erprobung in Form von Praktika aus unserer Sicht als wichtigstes Hilfsinstrument zur Vermittlung der Teilnehmer/-innen erwiesen hat. Arbeitgeber sind sehr zögerlich, den großen Aufwand der Arbeitsvertragserstellung auf sich zu nehmen, bevor sie nicht wissen, ob der Jugendliche auch am zweiten Tag wieder zur Arbeit erscheint. Schon kurze Praktika von drei, vier Tagen, um festzustellen, ob der Jugendliche zumindest pünktlich und zuverlässig ist und sich mit den Kollegen versteht, heben die Bereitschaft denjenigen einzustellen enorm. Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf: Wir haben jetzt aktuell eine Region, die schreibt vor: vierwöchiges Praktikum. Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Das ist sehr lang. Und es demotiviert natürlich, wenn danach nichts passiert. Mir ist Flexibilität lieber: Praktikum für drei Tage oder eine Woche, in Einzelfällen machen auch mal zwei Wochen Sinn; dazu dann die entsprechende Flexibilität und schnelle Kommunikation mit den zuweisenden Stellen. G.I.B.: Welche Wünsche haben Sie in Bezug auf eine Weiterentwicklung des Programms? Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen: Ich bin für persönliches Engagement – gar keine Frage. Ich finde es super, was die Berater/-innen mit den Jugendlichen anstellen. Aber wir erfahren über dieses individuelle Engagement nicht, ob die Maßnahme selbst der Erfolgsfaktor ist oder ob wir nicht etwas ganz anderes machen könnten und damit genauso erfolgreich wären. Mein Wunsch wäre, da mehr Klarheit zu bekommen, weil ich natürlich gern Erfolg auch systematisch entwickeln möchte. Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/ Rhein-Sieg: Das finde ich auch. Gleichwohl fände ich es ein gutes Signal, wenn unsere Akteure erfahren würden, dass es G.I.B.INFO 4 13 JUGEND UND BERUF weitergeht. Wir haben im Moment eine ziemliche Verunsicherung im Zuge des neuen Übergangssystems. Man fragt: Passt JA plus da noch rein? Wir hätten gern ein klares Signal. Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich habe bei einer Präsentation schon einmal gehört: JA plus ist der Dinosaurier der Programme. – Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied: Wir sind noch lange nicht ausgestorben. Und ich hoffe, dass ich das auch nach den nächsten 15 Jahren sagen kann – auch wenn wir uns anpassen, uns wandeln, uns auf neue Wege begeben. Ich würde mir wünschen, dass wir das, was wir als erfolgreichen Weg entwickelt haben, fortführen können, mit Menschen, die auch dahinterstehen, dass weiterhin viel Engagement und Herzblut einfließen, was natürlich bitte gewürdigt werden soll – finanziell und emotional, sodass wir Wertschätzung spüren. Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Ich wünsche mir weiterhin die Flexibilität, die für mich eine der Hauptstärken des Programms ist – gerne noch weiter ausgebaut in Richtung der zuweisenden Stellen. Anlässlich der 15 Jahre wünsche ich mir wieder ein bisschen mehr und regelmäßigere Öffentlichkeitsarbeit. Meiner Meinung nach wissen viel zu wenige Menschen von dem erfolgreichen Programm und der guten Arbeit, die wir machen. Das merke ich immer wieder, wenn ich neuen Mitarbeitenden bei den zuweisenden Stellen erklären muss, was JA plus ist. qualifizieren. Außerdem wünsche ich mir, dass man sich wie 1998/99 wieder auf ein klares Ziel mit einer ganz klar beschriebenen Zielgruppe fokussiert. Ich weiß aus meiner Profession heraus, dass man die Zuspitzung braucht. Wenn ich genau weiß, wo ich hingehe und wen ich ansprechen soll, dann weiß ich auch, welche Mittel ich zu nehmen habe. Vielleicht sollten wir also wie damals die in den Fokus nehmen, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind. Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf: Ich würde mir wünschen, dass wir den Lohnkostenzuschuss wieder direkt auszahlen können, weil das eine andere Kommunikation auch mit den Unternehmen zur Folge hat. Von den Zuweisenden würde ich mir wünschen, dass man die Spreu vom Weizen ein bisschen trennt. Ich möchte nicht mehr die haben, die nicht arbeiten wollen, aus welchen Gründen auch immer. Sich mit denen zu beschäftigen, führt zu keinem Erfolg. Ich möchte die haben, die eine Tätigkeit aus sich heraus wollen. Jürgen Kempken, G.I.B.: Was Wünsche angeht: Mit der Hartz-Gesetzgebung 2005 wurde die Aufgabe, die Jugendlichen vorzubereiten inklusive der Entwicklungsplanung, der Arbeitsverwaltung zugeschrieben. Davor war das die Aufgabe der Berater/-innen von JA plus. Tatsächlich findet aber auch weiterhin eine weitere Entwicklung der Jugendlichen zur Beschäftigungsaufnahme statt. Die Honorierung ist aber nicht angepasst worden. Ich würde mir wünschen, dass sich das endlich verändert. Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Das Monitoring ist nicht zuletzt für die fachliche Begleitung von JA plus eine wichtige Basis. Es gibt in der Datenbank leider sehr viele Teilnehmer, zu denen die Angaben unvollständig sind. Um zukünftig solche Fragen beantworten zu können, wie viele der Jugendlichen, die in Arbeit gegangen sind, ein Praktikum absolviert haben, wünsche ich mir also eine bessere Pflege der Datenbank. TEILNEHMER/TEILNEHMERINNEN DES ROUND-TABLE-GESPRÄCHS Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“, Tel.: 02361 49043212 Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK), Tel.: 05231 640371 Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen, Tel.: 0201 1892138 Jürgen Kempken, G.I.B., Tel.: 02041 767154 Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin, Tel.: 02302 878998 Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg, Tel.: 0228 773919 Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf, Tel.: 0211 36707-61 Dr. Georg Worthmann, G.I.B., Tel.: 02041 767246 MODERATION Manfred Keuler Tel.: 02041 767-152 Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK): Auch ich würde es gut finden, wenn wir in irgendeiner Form wieder einen Qualifizierungszuschuss hätten. Ich halte es für gut, die Leute in der Arbeit für die Arbeit zu G.I.B.INFO 4 13 E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de 23 SGB II Selber machen oder einkaufen? Immer mehr Jobcenter organisieren ihre Eingliederungsmaßnahmen selbst In letzter Zeit bieten Jobcenter neben der klassischen Einzelberatung nach Terminvergabe verstärkt selber Maßnahmen für Arbeitslose an, für die sie zuvor Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände beauftragt haben. Sie stellen sich also öfter der Frage „Make or Buy“: selber machen oder einkaufen? Kann man tatsächlich von einen Trend in Richtung Selbermachen sprechen? Auf den ersten Blick scheint das zu stimmen. Die G.I.B. hat wiederholt über Work-First-Ansätze von Jobcentern in verschiedenen Städten in NRW berichtet, bei denen die eigenen Mitarbeiter/innen vor allem Neukunden dabei unterstützen, möglichst kurzfristig nach dem Verlust des Arbeitsplatzes selbst oder in der Gruppe aktiv nach einem Job zu suchen. Und auch in der Wissenschaft ist das Thema angekommen. Es sei „neuerdings verstärkt eine Tendenz in Richtung Eigenerstellung von Maßnahmen statt Drittvergabe zu beobachten“, ist 24 in einer im April von Sarah Theres Weikamp vorgelegten Masterarbeit zu lesen, die sich mit dem Thema von „Make-orBuy-Entscheidungen“ bei Eingliederungsmaßnahmen in Jobcentern beschäftigt. Sie ist selbst Mitarbeiterin im Jobcenter des Kreises Borken und schreibt, dass der Ansatz, Eingliederungsmaßnahmen durch das Jobcenter selbst durchzuführen, im Amtsdeutsch „Selbstvornahme“ genannt, immer häufiger in und unter den Jobcentern diskutiert werde und dass sie sich verstärkt der Entscheidung „Makeor-Buy“ (MoB) stellten. G.I.B.INFO 4 13 SGB II Foto: Das Jobcenter Köln ist mit „befit4job“, einem am „Work- First-Ansatz“ orientierten Programm für arbeitslose Jugendliche zwischen 18 und 24 Jahren, äußerst erfolgreich. In eigener Regie und mit eigenem Personal erzielt das Jobcenter Vermittlungsquoten von bis zu 88 Prozent. Dieser Begriff wurde bisher vor allem im produzierenden Gewerbe verwendet. Hier ist es seit Langem üblich, systematisch zu prüfen, ob es wirtschaftlicher und auch strategisch sinnvoller ist, bestimmte Komponenten eines Produkts selbst zu produzieren oder sie von anderen Anbietern einzukaufen. Eine solche systematische Einordnung und Prüfung der „MoB-Frage“ sei seitens der Jobcenter im Bereich der Eingliederungsmaßnahmen bislang aber kaum erfolgt, stellt die Autorin der Masterarbeit fest. Marktnahe Neukunden bevorzugt Wie entscheiden sich die Jobcenter nun aber in der Praxis? Machen sie wirklich mehr selber als in der Vergangenheit? Und wenn ja, was und warum? Besonders um den „marktnahen Neukunden“ wolle man sich in der Tat verstärkt selbst kümmern. Das sagt Dr. Andreas Kletzander, Vorstand des Jobcenters Wuppertal, und nennt auch Gründe dafür: „Alle acht Wochen einen Termin mit dem Kunden zu vereinbaren mit dem Auftrag, in der Zwischenzeit fünf Bewerbungen zu schreiben, reicht nicht. Wenn man ca. zehn Jahre lang mit viel Engagement verschiedene Ansätze ausprobiert hat und feststellt, dass man nicht so richtig weiterkommt, dann muss man diese Ansätze mal überdenken.“ In Wuppertal hat man das getan und ist zu dem Schluss gekommen, dass nicht alles Althergebrachte über Bord geworfen, sondern Alternativen zu den Einzelberatungen nach Terminvergabe angeboten werden sollen. Diese klassische Arbeitsvermittlung sei „sinnvoll und notwendig“, aber es gebe eine Lücke, wenn G.I.B.INFO 4 13 es um bestimmte Zielgruppen gehe, die mehr „Nähe“ benötigten. „Dafür brauchen wir ein anderes Verwaltungshandeln“, sagt Dr. Andreas Kletzander, vor allem für Neukunden, teilweise aber auch für Jugendliche in besonderen Lebenslagen, „damit sie nicht verloren gehen.“ „Wir sind nicht die Experten für sozialpsychologische Unterstützung oder fachliche Qualifizierung – wohl aber, wenn es darum geht, die Kompetenzen von Menschen zu erarbeiten und Kontakt zu Arbeitgebern herzustellen, Gruppenarbeit und Coaching anzubieten“, stellt der Jobcenter-Vorstand fest. Anregungen für neue Wege in der Arbeitsvermittlung hat man sich in den Niederlanden geholt, von wo aus der Work-FirstAnsatz nach Deutschland kam. Auch in Wuppertal gibt es mittlerweile zwei stadtteilbezogene Projekte, die mit Elementen des Work-First-Prinzips arbeiten. Zum einen das Projekt „arriba“, bei dem vor allem Jugendliche in einem Mix aus Einzelberatung, Coaching, Gruppen- und Projektarbeit bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz oder einem Job unterstützt werden. Hier sind neben Mitarbeitenden des Jobcenters auch Bildungsträger aktiv. Es handelt sich also um eine Mischform zwischen Selbstvornahme und Vergabe. „Ein sehr flexibler Ansatz, den wir bewusst als Abwandlung dessen gewählt haben, was wir in Oberbarmen anbieten“, sagt Dr. Andreas Kletzander. Dieses Coaching-Center in Oberbarmen arbeitet ausschließlich in Eigenregie des Jobcenters. 39 der bisher 65 Teilnehmer konnten in Arbeit vermittelt werden – „eine sehr gute Quote“, so der Jobcenter-Vorstand. Wichtig für eine erfolgreiche Eingliederung sei immer die Nähe zu den Arbeit- gebern. Entweder würden Unternehmen zu den Maßnahmen eingeladen oder mit den Gruppen besucht. Das Aktivierungsteam in Wuppertal konzentriert sich derzeit auf marktnahe Neukunden, eine Ausdehnung auf andere Kundengruppen wie Alleinerziehende oder die Zielgruppe 50+ ist aber geplant. Dabei soll nicht nur der Work-First-Ansatz zum Zuge kommen. Dr. Andreas Kletzander sieht die Eigenprojekte nicht ausschließlich als ein Instrument für „leichte Fälle“: „Ich denke, dass gerade bei arbeitsmarktfernen Menschen die enge Anbindung an das Jobcenter eine Chance sein kann.“ Erfahrungen mit dieser Zielgruppe gibt es freilich noch nicht. „Man muss es ausprobieren, darf auch mal danebenliegen – dafür ist es Modellprojekt.“ Das Ding muss wirksam sein Die Entscheidung, Maßnahmen selber durchzuführen, wird in Wuppertal einmal auf der Grundlage der bei den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorhandenen Kompetenzen getroffen und natürlich auch auf der Basis der Finanzierbarkeit. Weiterhin muss der Konsens in der Region und in der Politik für derartige Projekte vorhanden sein. Aber auch die Integrationsquoten müssen stimmen. „Das Ding muss wirksam sein“, so die knappe Formel von Dr. Andreas Kletzander. Natürlich steht bei eigenen Maßnahmen aber auch die Wirtschaftlichkeit auf dem Prüfstand. Zu dem neuen Konzept gehören zum Beispiel neue Räumlichkeiten und flexible, einladende Raumkonzepte. Die müssen auch ausgelastet sein. Jürgen Kockmann vom Steinfurter Jobcenter ist sich nicht sicher, ob man wirklich 25 SGB II von einem Trend zu mehr Eigenmaßnahmen sprechen kann. Zwar habe die Bundesagentur für Arbeit sich dieses Themas angenommen und der Kreis Steinfurt führt als ein „zugelassener kommunaler Träger“, der die SGB II-Trägerschaft in Eigenverantwortung wahrnimmt, durch das Jobcenter ebenfalls seit Ende 2011 Work-FirstMaßnahmen in Eigenregie durch, „aber das haben wir seit Mitte der 1990er Jahre im Rahmen von BSHG auch schon gemacht – wir haben das damals Job-Club genannt“, berichtet Jürgen Kockmann. Als der Kreis Steinfurt dann 2005 zur Optionskommune wurde, habe man dieses Modell mit einer neu gegründeten KreisgGmbH fortgesetzt. „Damals wie heute haben wir mit dem Modell gute Erfolge erzielt. Damit, die Selbstvornahme über den Work-First-Ansatz hinaus auch auf andere Bereiche zu übertragen, wäre ich aber im Augenblick etwas zurückhaltend.“ Besonders wenn es darum geht, Maßnahmen für konkrete Zielgruppen durchzuführen, zum Beispiel längerfristig für „schwierige“ Personen, kann sich Jürgen Kockmann eine Eigenregie kaum vorstellen. Und auch im Bereich Ü 50 und U 25 werde man weiterhin Maßnahmen ausschreiben. Er glaubt nicht, dass das Jobcenter Antrag steller/-innen unbedingt besser aktivieren kann als ein Träger; der Vorteil liege aber in den strafferen Abläufen. Auch verstünden namentlich die Neuantragsteller/-innen den Umweg über einen Träger nicht: „Dann gibt es die Zuweisungsphase, die Aufnahmephase, die Kennenlernphase – der Leistungsberechtigte fragt sich: Was soll ich jetzt hier, eigentlich bin ich beim Jobcenter und die sollen mich doch in Arbeit vermitteln“, beschreibt Jürgen Kock- 26 mann die Gedanken seiner Leistungsberechtigten. Die direkte Aktivierung von Antragstellenden falle also deutlich leichter, wenn man sie selber in der Hand habe und nicht mit einem Maßnahmenträger arbeiten müsse. Nun ist der Neuantragsteller im Kreis Steinfurt nach sieben Tagen beim Arbeitsvermittler, nach spätestens weiteren sieben Tagen in der „Jobakademie“, so wird die Work-First-Maßnahme des Jobcenters genannt. Acht Wochen wird dort intensiv mit ihm daran gearbeitet, einen neuen Job zu finden. „Wenn es gut läuft, ist er innerhalb dieser Zeit schon auf dem Arbeitsmarkt, wenn nicht, stellt sich natürlich die Frage, was weiter passiert. Und dann kann es gut sein, dass in der Folge eine Maßnahme bei einem Träger ansteht“, schildert Jürgen Kockmann das Verfahren. Stabilisierung, Qualifizierung, Schulung von Grundtugenden, Herstellen der Arbeitsfähigkeit – das seien Themen, die sicher auch in Zukunft bei Maßnahmenträgern angesiedelt blieben. Um Maßnahmen selbst umzusetzen, müssen die Jobcenter personelle und sachliche Ressourcen bereitstellen und auch organisatorische Änderungen vornehmen. So musste das Steinfurter Jobcenter zusätzliches Personal rekrutieren und zusätzlichen Räume schaffen. 24 Städte und Gemeinden gehören zum Kreis. Bisher wurden für das Eigenprojekt am Standort Rheine sieben Stellen neu eingerichtet, am Standort Ibbenbüren fünf. Am Standort Steinfurt ist eine weitere Jobakademie geplant. Zum Teil haben die neuen Mitarbeiter/-innen zuvor bei Bildungsträgern gearbeitet. Die Kosten der Eigenmaßnahmen gegenüber der Vergabe an Dritte sind nach Aus- kunft des Steinfurter Jobcenter-Leiters ungefähr gleich. Das sei in Steinfurt auch ein Entscheidungskriterium für die Selbstvornahme gewesen: Sie durfte nicht teurer sein als die Vergabe der gleichen Maßnahme. Früh nachgesteuert Das wurde nach einem Jahr kontrolliert. Dass das Ergebnis positiv war, lag auch daran, dass man beim Steinfurter WorkFirst-Projekt früh nachgesteuert hat. „Wir hatten anfangs zu wenige Teilnehmede“, sagt Jürgen Kockmann, „und haben dann die Zahl der Plätze erhöht und Teilnehmende, bei denen in den ersten Wochen persönliche Probleme offenkundig wurden, aus der Maßnahme rausgenommen und durch neue Teilnehmende ersetzt.“ Außerdem wurden nach anfänglichen Versuchen mit „Bestandsfällen“ nach drei bis vier Monaten nur noch Neuantragsteller/innen in die Maßnahme aufgenommen. Eine Altersgrenze gebe es dabei nicht. Das alles seien Korrekturen, die bei einer Vergabe an einen Träger nicht so leicht hätten durchgeführt werden können. „Die Träger haben dann ein Recht darauf, dass ein Projekt so durchgezogen wird, wie sie es angeboten haben. Da ist man, wenn man es selber macht, natürlich wesentlich flexibler“, stellt Jürgen Kockmann fest. Die direkte räumliche Anbindung an das Jobcenter sieht er als einen weiteren Vorteil: „Für uns ist wichtig, dass wir die Eigenmaßnahme in den Räumen des Jobcenters durchführen, damit da keine weiteren Brüche entstehen. Der Vermittler sitzt auf dem einen Flur, die Jobakademie liegt auf dem nächsten. Auch das Bewerbungscenter ist dort untergebracht. Die kurzen G.I.B.INFO 4 13 SGB II Wege sind entscheidend, nicht nur für die Teilnehmeden, auch für unsere Fachleute, die sich so kurzschließen können.“ nahmen in Eigenregie mit einer Ausnahme teurer waren als vergleichbare durch Träger durchgeführte Projekte. Schneller, besser, günstiger? Neben der betriebswirtschaftlichen Betrachtung muss der Blick immer auch auf die Integrationschancen der Teilnehmenden von Maßnahmen gerichtet werden. Dabei zählt nicht nur, ob jemand nach einer Eingliederungsmaßnahme eine Beschäftigung aufnimmt, sondern auch, ob er dies nachhaltig tut. Haben die Teilnehmer/-innen also in zwei Jahren immer noch einen Job oder melden sie sich schon nach kurzer Zeit wieder im Jobcenter? Zwar ist hier und da zu hören, dass die Projekte in Eigenregie Vorteile eben bei dieser Nachhaltigkeit haben könnten, die Untersuchung im Rahmen der Masterarbeit konnte das aber nicht untermauern. Es kann für eine „Make-Entscheidung“ also durchaus gute Gründe geben. Schnellere Reaktionsmöglichkeiten, wie in Steinfurt praktiziert, können für eine solche Entscheidung sprechen. Normalerweise sind bei der Jahresplanung der Jobcenter kurzfristige, flexible Einkäufe oder Anpassungen laufender Verträge durch die vergaberechtlichen Vorschriften nur sehr begrenzt möglich. Vorteile liegen möglicherweise auch in einer besseren Qualität und in Kosteneinsparungen. Die tatsächlichen Kosten von Eingliederungsmaßnahmen sind aber gar nicht so leicht zu ermitteln. Die Autorin der Mas terarbeit weist darauf hin, dass neben den Maßnahmekosten auch die sog. Transaktionskosten berücksichtigt werden müssen. Das sind Kosten, die sowohl bei der Selbstvornahme als auch der Vergabe für die Koordination und Kommunikation anfallen. So ist der Aufwand bei der Angebotsauswertung, für Information, Verhandlung, Vereinbarung, Kontrolle, Dokumentation usw. im Normalfall schon hoch. Wenn es zu Missverständnissen oder Konflikten mit dem Auftragnehmer kommt, steigt er nochmal rapide und es entstehen zusätzliche Kosten. Allerdings ist die Frage, wann sich die Selbstvornahme gegenüber einer Vergabe lohnt, nicht einfach mit einem Verweis auf die konkreten Kosten zu beantworten. Eine Befragung im Rahmen der Masterarbeit zeigte sogar, dass die Maß- G.I.B.INFO 4 13 Demnach schnitten die Jobcenter mit ihren eigenen Maßnahmen „in Bezug auf die Schnelligkeit und Nachhaltigkeit der Vermittlung … nur marginal besser ab.“ Auch Jürgen Kockmann, Leiter des Jobcenters des Kreises Steinfurt, ist sich nicht sicher, ob man Vorteile in der Nachhaltigkeit bei jobcentereigenen Projekten konstatieren kann. „Ich glaube auch nicht, dass Träger bewusst in Stellen vermitteln, von denen sie von vornherein wissen, dass die Nachhaltigkeit nicht gegeben ist.“ Man ahnt, dass ein Vergleich von „Make“ und „Buy“ schwierig ist. Eine exakte Messung der Transaktionskosten ist nahezu unmöglich – und ob die Eigen- oder die vergebenen Maßnahmen eine nachhaltigere Wirkung zeigen, ist von vielen Faktoren wie zum Beispiel der Auswahl der Teilnehmenden abhängig und lässt sich nur langfristig feststellen. Zertifizierung notwendig Um nicht selbst auf den Kosten für Eigenmaßnahmen sitzenzubleiben, müssen die Jobcenter außerdem zunächst einen gewissen Aufwand betreiben. Damit eine hundertprozentige Finanzierung der Eigenmaßnahmen mit Bundesmitteln aus dem „Eingliederungstitel“ möglich ist, ist seit Anfang 2013 eine Zertifizierung gemäß der Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV) vorgeschrieben. Das gilt für Jobcenter genau wie für Bildungsträger. Ohne eine Zertifizierung wäre die Finanzierung von eigenen Maßnahmen nur aus dem „Verwaltungstitel“ der Jobcenter möglich, der zu knapp 85 Prozent aus Bundes- und zu gut 15 Prozent aus Mitteln der Kommune finanziert wird. Wird eine Maßnahme wie die Jobakademie in der Optionskommune Kreis Steinfurt komplett aus dem Eingliederungstitel finanziert, spart der so jährlich rund 45.000 Euro. In Wuppertal wie im Kreis Steinfurt ist die Zertifizierung gerade im Gang und wird voraussichtlich Ende des Jahres 2013 abgeschlossen. „Wir haben im Rahmen des Zertifizierungsprozesses festgestellt, dass wir schon gut aufgestellt sind, haben aber auch einige Schwachstellen aufgedeckt“, gibt Dr. Andreas Kletzander zu. Für die Organisation der Arbeit, aber auch für Aspekte wie Stellenbeschreibungen, die Personalentwicklung oder das Veränderungs- oder Qualitätsmanagement sei die Zertifizierung ein wichtiger Innovations impuls nach innen gewesen. Und das nicht nur für die in die Selbstvornahme eingespannten Abteilungen, sondern für das gesamte Haus. 27 SGB II Von der Entwicklung der Beratungskompetenz der Mitarbeiter/-innen in den Eigenprojekten können zudem alle Berater/-innen in der klassischen Vermittlung profitieren, weil sie die Möglichkeit erhalten, in den Projekten zu hospitieren. So richtig überzeugt indes schien die Wuppertaler Jobcenter-Belegschaft anfangs von dem neuen Modell nicht zu sein: Von 170 Mitarbeitenden, die für die Eigenprojekte infrage kamen, bewarben sich nur vier dafür. „Man muss intern dafür werben“, sagt Dr. Andreas Kletzander. Bei 550 Mitarbeitenden könnten nicht alle den Aufstieg in Führungspositionen schaffen. Die Eigenprojekte böten aber die Chance, mal etwas anderes in seinem Job machen zu können. Auch im Kreis Steinfurt hatte man mit Vorbehalten der Mitarbeiter/-innen zu kämpfen: „Als wir mit der Idee kamen, hieß es: was sollen wir denn noch alles machen“, berichtet Jürgen Kockmann. Bei der Entwicklung des Projekts hätten die involvierten Mitarbeiter/-innen aber immer mehr erkannt, welche Chancen das Modell bietet. „Heute will es keiner mehr missen – im Gegenteil: Die Jobcenter-Standorte im Kreis warten darauf, wann sie endlich dran sind“, erzählt Jürgen Kockmann. Impulse für die gesamte Arbeit Zwar ist der Umfang der SelbstvornahmeProjekte im Vergleich zu dem Gesamtvolumen der von den Jobcentern finanzierten Maßnahmen zurzeit sehr gering, doch ein über das Organisatorische hinausgehende Ausstrahlen des „neuen Verwaltungshandelns“ auf die anderen Bereiche ist zumindest in Wuppertal durchaus er- 28 wünscht. „Gruppenarbeit, gemeinsame Aktionen mit Arbeitgebern, Unternehmen besuchen, Jobbörsen veranstalten – das sind Elemente, die neben die klassische Einzelberatung treten sollen“, erläutert Dr. Andreas Kletzander. Erste Schritte in diese Richtung habe man bereits unternommen. Arbeitsverhältnisse entstehen können“, berichtet Jürgen Kockmann. Anfang 2014 werden in Wuppertal insgesamt 15 Mitarbeiter/-innen in den unter Eigenregie realisierten Maßnahmen arbeiten. Das sind dann rund drei Prozent der Belegschaft. Im Kreis Steinfurt werden Entscheidungsbaum zur Make-or-Buy-Frage Ist die Maßnahme von strategischer Bedeutung? (Kernkompetenzen?) nein ja Sind die benötigten Ressourcen für Selbstvornahme vorhanden? ja Ist die Selbstvornahme wettbewerbsfähig? ja Make Kann die Maßnahme/ Leistung hinreichend bestimmt werden? ja nein nein Lohnen sich Investitionen und besteht ausreichend Zeit? ja Make Gibt es einen Markt bzw. genügend Anbieter? nein ja Buy Buy nein Make/Buy Quelle: Sarah Theres Weikamp: Make-or-Buy-Entscheidungen bei Eingliederungsmaßnahmen nach dem SGB II in Jobcentern/Optionskommunen, Master-Arbeit, S. 17 Damit will man nicht zuletzt auch das eigene Image verbessern. Bei Teilnehmenden an den Work-First-Projekten gelingt das heute schon. „Die Leute sind überrascht, dass sie ohne Wartezeit sofort in eine Maßnahme gehen“, sagt Dr. Andreas Kletzander. „Unsere Kunden nehmen das Jobcenter anders wahr und tragen das auch nach außen.“ Auch der enge Kontakt, den die Jobcenter im Rahmen der Work-First-Projekte zu Unternehmen herstellen, trägt zu diesem anderen Image bei. „Zum Beispiel bieten Arbeitgeber, die sich in der Jobakademie vorstellen, schon mal Praktikumsplätze an, woraus dann derzeit unter zehn Prozent der für Eingliederungsmaßnahmen zur Verfügung stehenden Mittel für die Eigenprojekte ausgegeben. Das relativiert nach Ansicht des Wuppertaler Jobcenter-Vorstands auch die Befürchtungen einiger Bildungsträger, ausgebootet zu werden. „Die Träger sind in Zukunft nicht ohne Arbeit“, versichert Dr. Andreas Kletzander. Ziel sei es „sinnvolle Maßnahmenketten“ unter Beteiligung der Träger zu installieren. Es gehe also nicht um „Make or Buy“, sondern um „Make and Buy“, wobei lokale Bildungsträger bei der Vergabe von Aufträgen bevorzugt werden sollen. G.I.B.INFO 4 13 SGB II Jürgen Kockmann sagt, dass die Träger im Kreis Steinfurt über die neue Entwicklung zwar nicht gejubelt, aber schon mit Verständnis reagiert hätten. Andererseits hat auch er Verständnis für deren Ängste: „Es ist durch die Reduzierung des Eingliederungsbudgets um fast die Hälfte, die Zertifizierungspflicht, die Inanspruchnahme von Gutscheinen für die Teilnehmenden und jetzt die Tendenz zur Selbstvornahme schon schwierig geworden.“ Zum Teil hätten die Träger auch bereits mit dem Abbau von Personal reagiert. Allerdings sei es bisher den regionalen Trägern bei der Vergabe von Maßnahmen trotz der Pflicht zur bundesweiten Ausschreibung seitens des Jobcenters immer gelungen, zum Zuge zu kommen. Um künftig eine systematische Entscheidungsfindung beim Make or Buy zu unterstützen, hat Sarah Theres Weikamp in ihrer Masterarbeit daher einen Entscheidungsbaum entwickelt, der hier weiterhelfen könnte. Bleibt festzuhalten, dass sich in den Jobcentern in NRW insgesamt tatsächlich ein Trend zu mehr Maßnahmen in Eigenregie feststellen lässt. Einhellige Meinung der Jobcenter-Vertreter/-innen ist aber, dass diese aktuelle Entwicklung die Drittvergabe nicht ablösen, sondern im Umfang von Standort zu Standort unterschiedlich ergänzen wird. Es geht also nicht um „Make or Buy“, sondern um „Make and Buy“, wobei sich die Jobcenter bisher vor allem verstärkt um die arbeitsmarknahen Neuantragsteller/-innen selbst kümmern wollen. Das schließt allerdings nicht aus, dass es testweise auch für sogenannte „schwierige“ Kunden das ein oder andere Pilotprojekt in Eigenregie geben wird. ABSTRACT Viele Jobcenter bieten neuerdings selbst Maßnahmen für Arbeitssuchende an, nachdem sie lange Zeit nur Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände damit beauftragt hatten. Das „Selbermachen“ scheint besonders für Neuantragsteller/-innen, die mit dem Work-First-Ansatz möglichst schnell wieder in Arbeit gebracht werden sollen, eine gute Lösung zu sein. Das bestätigen die Beispiele der Jobcenter in Wuppertal und im Kreis Steinfurt. Die Beweggründe von Dass man auf Bildungsträger im Rahmen der Eingliederung in den Arbeitsmarkt ganz verzichten kann, glaubt niemand. Das zeigt auch die Befragung in Jobcentern vier weiterer Optionskommunen (Kreise Coesfeld, Düren und Steinfurt sowie der Städte Hamm und Mülheim) im Rahmen der Masterarbeit von Sarah Theres Weikamp. Selbstvornahme kommt aus Sicht der befragten Jobcenter vor allem bei Maßnahmen in Betracht: • „die vermittlungsorientiert oder -nah ausgerichtet sind, • d ie wenig oder begrenzt spezifische Ressourcen (wie Werkstätten, Fachqualifikationen) und damit Investitionen erfordern, • d ie sich unmittelbar in die Kernprozesse integrieren lassen, • die von ihrer Größe überschaubar bleiben, • d ie sich von Trägerangeboten in der Umsetzung abgrenzen, • die als Pilotprojekte zum Ausprobieren neuer Ideen genutzt werden.“ G.I.B.INFO 4 13 Jobcentern und die Vor- und Nachteile des Make or Buy, also der Selbstvornahme bzw. der Vergabe, sind jetzt im Rahmen einer Masterarbeit wissenschaftlich untersucht worden. LITERATUR Sarah Theres Weikamp: Make-or-Buy-Entscheidungen bei Eingliederungsmaßnahmen nach dem SGB II in Jobcentern/Optionskommunen, Masterarbeit vorgelegt an der Universität Kassel am 04.04.2013 KONTAKTE Dr. Andreas Kletzander Sarah Theres Weikamp Jobcenter Wuppertal Lavendelweg 10 Bachstr. 2, 42275 Wuppertal 46395 Bocholt Tel.: 0202 74763802 Tel.: 02871 2941221 andreas.kletzander@jobcenter.wuppertal.de sarah-weikamp@t-online.de Jürgen Kockmann AUTOR Jobcenter Kreis Steinfurt Frank Stefan Krupop Tecklenburger Str. 10, 48565 Steinfurt Tel.: 02306 741093 Tel.: 02551 695205 frank_krupop@web.de juergen.kockmann@kreis-steinfurt.de 29 WEGE IN ARBEIT Arbeitsmarkt inklusive Landesinitiative fördert 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen Werkstätten für behinderte Menschen sollen ihre Beschäftigten auf den Arbeitsmarkt vorbereiten. Doch für viele ist der direkte Übergang in einen regulären Job ein zu großer Schritt. Eine gute Brücke sind Außenarbeitsplätze: Menschen mit Behinderungen arbeiten dabei in ganz normalen Betrieben und können sich im Arbeitsleben beweisen, bleiben aber weiterhin Beschäftigte der Werkstatt und haben dadurch Rückhalt. Mit einem Modellprojekt fördert das Land NRW jetzt 1.000 neue Außenarbeitsplätze, um mehr Menschen mit Behinderung einen Zugang zum re- Manuel Schang arbeitet seit rund fünf Jahren auf einem ausgelagerten Arbeitsplatz auf einem gro ßen Reiterhof in Bielefeld. Er erledigt dort einfache Helfertätigkeiten, kümmert sich zum Beispiel um gulären Arbeitsmarkt zu ermöglichen. das Auffüllen des Futterwagens oder das Fegen mit dem Motorbesen. (Foto: Bethel proWerk) Der Blick in die Statistik zeigt: Bislang haben Unternehmen Außenarbeitsplätze eher zögerlich eingerichtet. Von den rund 72.0000 Werkstattplätzen für behinderte Menschen in NRW sind gerade mal 3.400 ausgelagerte Arbeitsplätze in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen. Das soll sich ändern, so das erklärte Ziel der rotgrünen Landesregierung. Im Koalitionsvertrag haben beide Parteien festgelegt, mehr „alternative, inklusive Arbeitsmöglichkeiten außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen“ sowie zusätzliche Außenarbeitsplätze zu schaffen. Sondereinrichtungen sollen möglichst vermieden werden, stattdessen sollen Menschen mit Behinderung so arbeiten können, wie jeder andere auch. Das Ziel ist ein „inklusiver Arbeitsmarkt.“ darin verankerten Grundgedanken der Inklusion: Menschen mit und ohne Behinderung sollen in allen gesellschaftlichen Bereichen gleichberechtigt und selbstbestimmt miteinander leben, so das Ziel. 2009 hat Deutschland die Konvention unterzeichnet, jetzt heißt es, diesen Anspruch schrittweise in der Praxis umzusetzen, gerade auch im Bereich Arbeit, wo viele Menschen mit körperlichen, geis tigen oder seelischen Einschränkungen eben keine Gleichberechtigung erfahren, sondern schlechtere Chancen haben und ausgegrenzt werden. Die Landesregierung folgt damit der UNBehindertenrechtskonvention und dem 30 Doch wie lässt sich Inklusion in der Arbeitswelt steuern? Arbeitgeber können kaum verpflichtet werden, behinderte Menschen einzustellen, gibt Andreas Trümper, Leiter der Caritaswerkstätten in Gladbeck zu bedenken. „Hier geht es nur mit Überzeugung.“ Ein Argument für Chefs ist die Arbeitsentlastung durch zusätzliche Kräfte, aber auch soziale Pluspunkte zählen, sagt Trümper. Behinderte Mitarbeiter/-innen können die Unternehmenskultur positiv beeinflussen, Betriebe werden „menschlicher“, vielleicht sogar ein Stück normaler, wenn behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen schaffen. Die Initiative „Teilhabe an Arbeit – 1.000 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen“ bietet zudem einen finanziellen Anreiz, neue Außenarbeitsplätze einzurichten. Arbeitgeber erhalten zwölf Monate lang einen Zuschuss in Höhe von 50 Prozent des vereinbarten Entgelts für den Beschäftigten, maximal werden 350 Euro pro Monat gefördert. Finanziert wird das Programm mit Mitteln des Landes NRW, des Europäischen Sozialfonds und der beiden Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR). G.I.B.INFO 4 13 WEGE IN ARBEIT Martina Große Halbuer, Thomas Fonck, Landschaftsverband Westfalen-Lippe Bis zum 1. Oktober sind bereits 120 neue Außenarbeitsplätze in Westfalen-Lippe und 126 im Rheinland entstanden, je 500 sollen es werden, dafür werben Martina Große Halbuer beim LWL und ihr Kollege Thomas Fonck im Rheinland. „Wir sind überzeugt, das ist ein gutes Konzept von dem beide Seiten profitieren. Arbeitgeber bekommen hoch motivierte Mitarbeitende, die Aufgaben in einem Betrieb gut übernehmen können“, sagt Martina Große Halbuer. „Und das weiterhin mit der Unterstützung des Fachpersonals der Werkstatt“, ergänzt Thomas Fonck. Denn die Werkstätten bleiben für die Mitarbeiter verantwortlich, übernehmen Arbeitgeberpflichten wie Sozialversicherungsbeiträge und sind Ansprechpartner, wenn es Fragen und Probleme gibt. Gesellschaftliche Verantwortung und Vorbildfunktion Ein Beispiel: Vor drei Jahren richtete die Kita „Rappelkiste“ in Bottrop einen ers ten Außenarbeitsplatz für einen jungen Mann ein, der sich um den Garten und leichte handwerkliche Tätigkeiten kümmern soll. „Zu Anfang gab es schon Bedenken“, erinnert sich Cornelia Kavermann vom Kita-Trägerverein AG Soziale Brennpunkte (AGSB). Wie belastbar ist der neue Mitarbeiter? Klappt das Miteinander im Arbeitsalltag, fragte sich das Team. Die Geschäftsführerin sah damals aber auch die gesellschaftliche Verantwortung und Vorbildfunktion als Arbeitgeberin. In die Kita gehen behinderte und nicht behinderte Kinder, sie werden gemeinsam betreut und spielen zusammen. „Wir versuchen, Inklusion zu leben. Das heißt für mich dann auch, dass wir Menschen entsprechend ihrer Fähigkeiten ins Arbeitsleben einbinden.“ Ihre Entscheidung hat CorG.I.B.INFO 4 13 Landschaftsverband Rheinland nelia Kavermann nicht bereut. Der junge Mann ist zuverlässig und die Erfahrungen mit ihm sind so positiv, dass die Kita Anfang 2013 eine zweite Mitarbeiterin mit Behinderung einstellte, diesmal zur Unterstützung in der Hauswirtschaft. Geschirr abwaschen, Tische eindecken, fegen, wischen und die Waschmaschine mit einer Ladung Handtücher anstellen – von 10 bis 16 Uhr geht Nicole Breitschuh jetzt der Köchin in der Kita „Rappelkiste“ zur Hand und übernimmt kleine Aufgaben, die sonst die Erzieherinnen nebenbei erledigen müssten. „Die Kolleginnen loben mich“, sagt die 28-Jährige stolz und geht gerne zur Arbeit. Zuvor war die junge Frau in verschiedenen Behindertenwerkstätten beschäftigt, fühlte sich aber immer fehl am Platz. „Das war nichts für mich. Ich war völlig unterfordert und konnte mit niemandem richtig reden.“ Ihr großer Traum ist, einen „richtigen“ Arbeitsplatz zu haben und zu zeigen, dass sie mehr kann als Teile zusammenstecken. Zielstrebig verfolgte sie diesen Wunsch, erkundigte sich in ihrer Werkstatt, den Bottroper Werkstätten, nach Möglichkeiten und überlegte mit ihrer Übergangsassistentin, wo ihre Stärken liegen. Ein halbes Jahr lang wurde sie auf die Arbeit in der Kita vorbereitet, inzwischen hat sie sich gut eingewöhnt und fühlt sich wohl. „Jetzt arbeite ich mit normalen Menschen zusammen. Und man hat nicht so diesen Stempel.“ Anerkannt und akzeptiert zu werden, das ist der 28-Jährigen wichtig. Auch die Kita „Rappelkiste“ profitiert von dem Modell. Cornelia Kavermann hatte schon lange eine Unterstützung für die Küche gesucht. Rund 60 Essen bereitet die Köchin täglich für die Kita und Hortgruppe frisch zu. Die Einrichtung legt großen Wert auf gesundes Essen, muss aber auch spitz rechnen. Der geförderte Außenarbeitsplatz sei da ein „guter und kreativer Weg“, das Personal zu entlasten. Ein unschätzbarer Vorteil ist, dass Nicole Breitschuh weiterhin von der Werkstatt begleitet wird. Egal ob es um organisatorische Fragen wie die Urlaubsplanung oder Konflikte mit Kolleginnen geht, um all das kümmert sich Übergangsassistentin Martina Thiele von den Bottroper Werkstätten. Das entlastet den Arbeitgeber und stärkt die Beschäftigten. Auch zu erkennen, dass jemand noch nicht den richtigen Platz gefunden hat und Alternativen zu suchen, gehört zum Job der Assistenten. Nicole Breitschuh hatte zum Beispiel in einem ers ten Anlauf eine Stelle im Einzelhandel angenommen, aber das Zusammenspiel im Team funktionierte einfach nicht. Mithilfe ihrer Assistentin schaffte sie den Wechsel in die Kita. „Hier wird sie voll akzeptiert“, freut sich Martina Thiele. „Es ist ganz wichtig, dass es menschlich passt.“ Übergangsassistenten unterstützen Beschäftigte und Arbeitgeber „Ein Außenarbeitsplatz muss sehr gut vorbereitet und unterstützt werden. Selbst Kleinigkeiten können alles zum Scheitern bringen“, bestätigt Arnd J. Schreiner, Prokurist der Bottroper Werkstätten. Seit 2001 bemüht sich die diakonische Einrichtung verstärkt darum, den Beschäftigten Wege in den ersten Arbeitsmarkt zu eröffnen. Etwa 30 von insgesamt 550 Werkstatt-Beschäftigten arbeiten mittlerweile auf einem Außenarbeitsplatz. Dass das Thema mit viel Mühe und Aufwand verbunden ist, verschweigt Schreiner nicht. Stellenakquise, Qualifizierung 31 WEGE IN ARBEIT Kay Jarentowski arbeitet schon seit längerer Zeit im Jugendgästehaus in Bielefeld. Die Fotos zeigen ihn beim Einsatz in der Spülküche. (Foto: Bethel proWerk) arbeiterin oder ein Mitarbeiter zum Beispiel nicht angemessen gekleidet oder meldet sich immer wieder krank, kommt das auf den Tisch. Zu große Motivation kann ebenfalls ein Problem sein. Michael Kahnert erlebt oft, dass sich die Neuen mit großem Elan in die Arbeit stürzen, über ihre Grenzen gehen, auf Pausen verzichten, um zu beweisen, dass sie ihren Job gut und gleichwertig machen. „Hier müssen wir den Mitarbeitenden helfen, die eigenen Kräfte einzuteilen und eine Routine zu entwickeln, um dauerhaft die Arbeit schaffen zu können.“ und Begleitung der Mitarbeiter/-innen, all das ist zeitintensiv. Oft muss das Aufgabenprofil eines Außenarbeitsplatzes ganz neu zugeschnitten und entwickelt werden. Werkstatt und Arbeitgeber überlegen dann gemeinsam, wie die Arbeit in einem Betrieb umverteilt wird und was der neue Mitarbeitende übernehmen kann. In einer Senioreneinrichtung könnte eine zusätzliche Kraft zum Beispiel unterstützende Tätigkeiten wie Essensausgabe und Bettenbeziehen übernehmen. Die examinierten Altenpflegerinnen haben mehr Zeit für Pflege und Fachaufgaben, Personalressourcen können verschoben und besser genutzt werden. Parallel dazu wird die Bewerberin oder der Bewerber schon in der Werkstatt auf den neuen Arbeitsplatz vorbereitet. Schlüsselqualifikationen wie pünktliches Erscheinen und Zuverlässigkeit sind dabei ebenso wichtig wie die Vermittlung von fachlichem Know-how. In einem Prakti- 32 kum können sich beide Seiten dann kennenlernen. Eine zentrale Funktion haben die Übergangsassistenten. Während der ganzen Zeit sind sie Coach, Krisenmanager, Ansprechpartner, kurz: Mädchen für alles. „Zu Anfang betreuen wir die Beschäftigten auf dem neuen Außenarbeitsplatz ganz intensiv. In der ersten Woche sind wir rund 20 Stunden dabei. Dann wird es ausschleichend immer weniger“, erzählt Michael Kahnert, der 2001 als ers ter Übergangsassistent bei den Bottroper Werkstätten anfing. Inzwischen arbeiten sie zu dritt, die Aufgaben sind vielfältig: „Heute habe ich eine Frau auf einem Reiterhof begleitet, morgen bin ich in einem Betrieb in der IT-Branche“, verdeutlicht Martina Thiele die Spannbreite. Die Übergangsassistentin übt mit den Beschäftigten die Busfahrt zur Arbeit genauso wie Verhaltensregeln im Job. „Auch unangenehme Themen sprechen wir an“, ergänzt Michael Kahnert. Ist eine Mit- Manchmal sind auch Kreativität und kleine Tricks gefragt. Piktogramme oder Arbeitslisten sind zum Beispiel einfache, aber effektive Hilfen, damit ein Mensch mit Handicap eine Aufgabe besser bewältigen kann. Gerne erzählt Michael Kahnert auch die Geschichte der Spülhilfe in einer Großküche. Aufgrund einer motorischen Störung konnte die Mitarbeiterin das Spülmittel nicht genau dosieren. Jedes Mal drückte sie zu viel aus der Flasche heraus und sorgte für ein Schaumbad in der Spülmaschine. Michael Kahnert hatte dann die Idee mit der Dosierhilfe: Er maß genau ab, wie viel Spülmittel für einen Spülgang ausreicht. Diese Menge zog die Frau dann jeden Tag vor der Arbeit in bereitgestellte Spritzen auf und konnte nun die richtige Menge zugeben. Inzwischen nutzen alle Mitarbeiter die Dosierhilfe, weil sie damit viel Reinigungsmittel sparen. Mehr Außenarbeitsplätze im öffentlichen Dienst schaffen Großküchen, Kantinen, Kindertageseinrichtungen oder Altenhilfe sind Arbeitsfelder, in denen sich Außenarbeitsplät- G.I.B.INFO 4 13 WEGE IN ARBEIT Michael Kahnert, Übergangsassistent Bottroper Werkstätten ze bewährt haben. Auch in gewerblichen Betrieben gibt es gute Einsatzmöglichkeiten, zum Beispiel in der Montage, im Bereich Lager und Verkauf oder in der Garten- und Landschaftspflege. Mit dem Modellprojekt sollen zudem öffentliche Verwaltungen motiviert werden, Außenarbeitsplätze zu schaffen. Neben Einzelplätzen können auch Gruppenarbeitsplätze eingerichtet werden, weist Thomas Fonck auf eine Variante hin. In diesem Fall wird eine spezielle Aufgabe in einer Firma von einer ganzen Gruppe von Werkstattmitarbeitenden übernommen. „Der Charme dabei ist, dass so auch Menschen mit stärkeren Beeinträchtigungen eine Chance bekommen, außerhalb der Werkstatt zu arbeiten, und nicht nur die Leistungsstärkeren.“ zukehren, falls es nicht funktioniert. Unter dem Stichwort „Budget für Arbeit“ sind die unterschiedlichen Fördermaßnahmen zur beruflichen Integration zusammengefasst und im Internet abrufbar. Trotz der Bemühungen schaffen bundesweit bislang weniger als ein Prozent den Übergang von der Werkstatt in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Das liegt nicht allein an den Arbeitgebern, die zu wenig Jobs zur Verfügung stellen. Auch für die Betroffenen ist der Schritt mit Unsicherheiten und Risiken verbunden. Eine Werkstatt bietet schließlich auch Vorteile und viele Annehmlichkeiten, von geregelten Arbeitszeiten bis zum Fahrdienst. Nicht zuletzt heißt es für die Werkstätten selbst, dass sie gute Mitarbeiter/-innen ziehen lassen müssen und die Produktivität dadurch vielleicht sinkt. Das Ablösen von der Werkstatt bedeutete für alle Beteilig ten Veränderung, aber es lohne sich, umzudenken und den Weg Richtung „inklusiver Arbeitsmarkt“ weiter zu gehen, sagt Thomas Fonck. „Eigenes Geld verdienen, auf eigenen Füßen stehen, das ist ein großer Wert.“ Und Außenarbeitsplätze sind dabei eine wichtige Etappe, um gleichberechtigt im Berufsleben anzukommen. ABSTRACT Mit dem Modellprojekt „Teilhabe an Arbeit“ sollen 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen in NRW geschaffen werden. Arbeitgeber, die einen Außenarbeitsplatz einrichten, erhalten ein Jahr lang 50 Prozent des vereinbarten Entgeltes, maximal 350 Euro monat- Die geförderten Plätze können nach einem Jahr in dauerhafte Außenarbeitsplätze oder eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung münden. „Unser Ziel ist, dass die Beschäftigten weiter im Betrieb bleiben und nicht nach einem Jahr wieder in die Werkstatt zurückkehren“, sagt Martina Große Halbuer. Nach neun Monaten berät der Integrationsfachdienst darum auch Arbeitgeber und Beschäftigte über Anschlussperspektiven und weitere Fördermöglichkeiten. Richtet ein Arbeitgeber eine sozialversicherungspflichtige Stelle ein, kann er zum Beispiel deutliche Lohnkostenzuschüsse erhalten. „Selbst wenn der Beschäftigte nur einen Teil der Leistung erbringt, rechnet sich das meis tens für den Arbeitgeber“, betont Fonck. lich. Um an dem Programm teilzunehmen, muss der Außenarbeitsplatz bis spätestens zum 1. Juni 2014 eingerichtet werden. Finanziert wird das Angebot mit Mitteln des Landes NRW, des Europäischen Sozialfonds und der Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland. ANSPRECHPARTNER IN DER G.I.B. KONTAKTE Benedikt Willautzkat Martina Große Halbuer Tel.: 02041 767204 Landschaftsverband Westfalen-Lippe E-Mail: b.willautzkat@gib.nrw.de Tel.: 0251 591-6439 E-Mail: martina.grosse-halbuer@lwl.org LINKS www.lwl-budget-fuer-arbeit.de Thomas Fonck www.budget-fuer-arbeit.lvr.de Landschaftsverband Rheinland Tel.: 0221 8097220 AUTORIN E-Mail: thomas.fonck@lvr.de Silke Tornede E-Mail: silketornede@aol.com Die Landschaftsverbände fördern außerdem Qualifizierungen und zahlen eine Einstellungsprämie. Mitarbeiter/-innen haben zudem das Recht, in die Werkstatt zurück- G.I.B.INFO 4 13 33 ARBEITSGESTALTUNG FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE UND -SICHERUNG Faire Arbeit, faire Löhne: Qualität statt Lohndumping Foto: Karl-Josef Hildenbrand (c) dpa Lohnpolitik im Friseurhandwerk Warum eigentlich zählt „Friseurin“ immer noch zu den beliebtesten Ausbildungsberufen von Mädchen? Weil sie mit der Tätigkeit Mode, Kosmetik und gutes Aussehen assoziieren? Vermutlich. An der Vergütung jedenfalls kann es nicht liegen, denn laut Statistischem Bundesamt verdienen Friseure durchschnittlich 1.315 Euro brutto im Monat, wohingegen der durchschnittliche Bruttolohn aller Berufe 3.093 Euro beträgt. Damit liegen Friseurinnen und Friseure am untersten Ende der Einkommensskala. Dabei ist die Ausbildung keineswegs anspruchslos, sagt Wilfried Petri, Geschäftsführer des Friseur- und Kosmetikverbands NRW mit Sitz in Dortmund: „Auszubildende brauchen Chemiekenntnisse und anatomisches Hintergrundwissen. Niemand, außer Arzt oder Pfleger, kommt so nah an Kunden heran wie Friseure. Sie müssen kontaktfreudig sein und kommunikativ, müssen sich vernünftig artikulieren können und sie brauchen Empathie. Ohne einen guten Hauptschulabschluss würden sie insbesondere den theoretischen Teil der Prüfung wohl kaum schaffen.“ 34 Gut bezahlt wird die Leistung nach bestandener Prüfung dennoch nicht. Schuld daran geben Kritiker den Arbeitgeberverbänden, den Friseurinnungen, den FriseurVerbänden und dem Zentralverband. Sie werfen ihnen vor, das Lohnproblem jahrzehntelang ignoriert zu haben. „Entweder wurden einfach keine neuen Tarifverträge mehr abgeschlossen“, schrieb etwa vor kurzem „Die Welt“ in einem großen „Billigfriseur-Report“, „oder es wurden mit neuen, bewusst niedrig gehaltenen Tarifabschlüssen den Billiglöhnen der Weg bereitet.“ „Da ist was dran“, gibt Wilfried Petri unumwunden zu. „Doch das ist zum einen regional sehr unterschiedlich, zum anderen kann man es nicht einseitig den Arbeitgebern vorwerfen. Die Gewerkschaften hätten mehr Druck aufbauen müssen.“ Vor einigen Monaten hat der Innungschef in einer Fernseh-Talk-Runde ein Streitgespräch verfolgt: „Ein Gewerkschaftsvertreter aus einem östlichen Bundesland fragte einen Friseur-Großfilialisten vorwurfsvoll: ,Warum zahlen Sie so wenig?‘ und der Großfilialist antwortete ganz nüchtern: ,Ich zahle nach Tarif!‘, und das stimmt auch. Die Gewerkschaften sollten nicht wie ein Kaninchen vor der Schlange sitzen, sondern etwas tun und verhandeln!“ Leichter gesagt als getan, denn die Gewerkschaften sind in der Friseurbranche weitgehend machtlos: Betriebsräte sind in den Kleinstunternehmen der Branche nicht zu finden und der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten im Friseurhandwerk liegt nach Angaben von Andrea Becker von der Gewerkschaft ver.di bei gerade mal 2,4 Prozent. Fatale Folgen Das niedrige Lohnniveau im Friseurhandwerk – bis vor Kurzem besonders extrem in Thüringen und Sachsen mit 3 Euro 50 brutto pro Stunde – hat nicht nur viele Beschäftigte zur zusätzlichen Inanspruchnahme von Hartz IV gezwungen, sondern war auch Einfallstor für Billiganbieter, für Discounter. „Aufgrund idealer NiedrigtarifBedingungen“, heißt es im „Welt-Report“, entdeckten Billigketten bereits vor circa acht Jahren die systematische Ausbeutung von Friseuren. Auf ihrem Rücken konn- G.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG FAIRE ARBEIT, UNDFAIRE -SICHERUNG LÖHNE Wilfried Petri, Friseur- und Kosmetikverband NRW ten extrem niedrige Preise mit maximalen Gewinnen kombiniert werden. Heute ist beinahe an jeder Ecke eine dieser umstrittenen Ketten zu finden.“ Wie aber sind Preise pro Haarschnitt für „10 Euro all inklusive“ überhaupt möglich? Bei solchen Werbeaussagen empfiehlt Wilfried Petri genauer hinzusehen. „Ist tatsächlich alles inbegriffen? Eine Dauerwelle für elf Euro ist praktisch gar nicht möglich. Oft müssen eingesetzte Materialien und Produkte zusätzlich gezahlt werden, sodass der endgültige Preis doch deutlich höher liegt. Aber es gibt auch sogenannte Konzeptsalons, meist Franchiser oder kleine Ketten, die sehr günstig einkaufen und anschließend mit niedrigen Preisen kalkulieren. Entsprechend hoch ist der Zulauf an Kunden, sodass solche Betriebe trotz niedriger Preise oft einen ähnlich hohen Umsatz haben wie Betriebe mit höheren Preisen, aber weniger Kunden.“ Verbreitet in der Branche ist nach seinen Erfahrungen die sogenannte Schaufens terkalkulation: „Dabei orientieren sich Betriebsinhaber/-innen an den Preisen ihrer Konkurrenten um die Ecke. Mit betriebswirtschaftlich fundierter Kalkulation hat das nichts zu tun. Da muss man auch manchmal fragen, wie solche Betriebe zurechtkommen. Doch eins ist klar: Wenn ich Mitarbeiter/-innen unter Tarif bezahle, kann ich natürlich auch niedrigere Preise nehmen.“ Dass Beschäftigte das Dreifache ihres Lohns umsetzen müssen, ist laut Petri „die übliche betriebswirtschaftliche Kalkulation in der Branche.“ Eine gute Regelung sind in seinen Augen Leistungslöhne, wobei Ar- G.I.B.INFO 4 13 beitgeber beim Erreichen bestimmter Umsatzgrößen ein Gehalt über dem Tariflohn zahlen. „Aber es gibt auch schwarze Schafe“, räumt er ein, „die ihren Angestellten sagen: Du musst zwanzig Haarschnitte am Tag schaffen und wenn nicht, Deinen Urlaub opfern oder bekommst weniger Geld und rutschst unter den Tarif oder es ist ein Kündigungsgrund. Das ist natürlich nicht akzeptabel. Wenn sie erwischt werden, sind sie dran – zu Recht. Der allgemeinverbindliche Tarif muss immer Basis sein.“ Neben dem Niedriglohn sind unbezahlte Überstunden ein gängiges Problem der Branche. Wilfried Petri: „Teilzeit ist bei Friseurinnen sehr beliebt, aber bei einem Teilzeit-Job ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Arbeitszeit überschritten wird. Große Betriebe bieten ihren Beschäftigten Arbeitszeitkonten, in kleineren ist es ein Aushandlungsprozess zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.“ Angesichts bestehender Machtverhältnisse, kann auch er sich vorstellen, dass Mitarbeiter/-innen klein beigeben: „Insbesondere diejenigen, die nicht so qualifiziert sind und unbedingt ihren Arbeitsplatz behalten wollen.“ Eine Aussage, die verdi-Mitarbeiterin Andrea Becker nur bestätigen kann: „Eine Beschäftigte wird sich dreimal überlegen, ob sie sich beim Betriebsinhaber über schlechte Arbeitsbedingungen oder zu niedrige Bezahlung beschweren soll. Wer sich doch dazu durchringt, bekommt meist zu hören: Du kannst ja den Betrieb wechseln, ich habe genug Interessentinnen, die hier arbeiten wollen.“ Über das Ausmaß an Überstunden jedenfalls und darüber, ob sie bezahlt werden oder nicht, gibt es keine Statistik. Inflation an (Mikro-)Friseurbetrieben Tatsächlich flüchten viele schlecht entlohnte Friseure in die Selbstständigkeit und gründen Mikro- oder Einpersonenbetriebe. Das weiß auch Wilfried Petri: „Es gibt viele junge Friseurinnen und Friseure, die nach der Gesellenprüfung keine Stelle finden oder ihre Vergütung für zu gering halten und sagen: Dann mach ich doch gleich den Meister und mich selbstständig, wobei das MeisterBafög ein zusätzlicher Anreiz ist. Die Verselbstständigung ist in keiner Branche so einfach und monetär so leicht umzusetzen wie im Friseurbereich.“ Der Eindruck beim Gang durch die Städte, dass immer mehr Friseursalons eröffnen, täuscht also nicht. Das bestätigt auch der „Betriebsvergleich im Friseurhandwerk“ der Landes-Gewerbeförderungsstelle des nordrhein-westfälischen Handwerks (LGH). Demnach stieg innerhalb der letzten zehn Jahre der Betriebsbestand um 2.500 Einheiten beziehungsweise 18,7 Prozent, obwohl die Zahl der Einwohner/-innen des Landes um 1,2 Prozent abnahm. Damit ist die Zahl der Einwohner/-innen je Friseursalon in Nordrhein-Westfalen von 1.338 auf 1.114 gesunken. Fazit der LGH: „Im Friseurhandwerk sind bei sinkender Einwohnerzahl und steigendem Betriebsbestand die Wettbewerbsbedingungen außerordentlich hart.“ Die Inflation neu eröffneter Friseurbetriebe hat nach Ansicht von Wilfried Petri aber auch einen politischen Hintergrund: Zwar besteht im Friseurhandwerk als Voraussetzung für die Selbstständigkeit noch die Meisterpflicht, doch seit der 35 ARBEITSGESTALTUNG FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE UND -SICHERUNG Novellierung der Handwerksordnung im Jahr 2004 gibt es viele Ausnahmetatbestände. So erhalten in der Branche tätige Personen, die 45 Jahre alt sind und die Gesellenprüfung abgelegt haben, automatisch eine Ausnahmegenehmigung. „Beschränkte Ausnahmen bestehen darüber hinaus für das Herrenfach, die sehr viele unserer türkischen Kollegen, überwiegend Herrenfriseure, in Anspruch nehmen. Es geistert immer der Begriff des ,türkischen Meisterbriefs‘ im Raum, aber den gibt es nicht. All das aber trägt zusätzlich zur Erhöhung der Betriebszahl im Friseurhandwerk bei.“ Deren rasanter Anstieg hat Konsequenzen für den durchschnittlichen Jahresumsatz pro Betrieb. Der ist, wie die LGH feststellte, in den vier Jahren 2008 bis 2011 von 108.320 Euro auf 103.143 Euro gefallen, womit sich ein Realumsatzverlust von 2,1 Prozent ergibt. Um die Kosten im verträglichen Rahmen zu halten, so die LGH, haben die Unternehmen unter anderem versucht, durch Absenkung der Zahl der Vollzeitbeschäftigten und einen verstärkten Einsatz von Teilzeit- und Ausbildungskräften ihre Personalkosten zu senken. Nach der Handwerksauszählung 2009 waren 57.983 sozialversicherungspflichtige Personen im nordrhein-westfälischen Friseurhandwerk tätig, darunter 12.023, also gut 20 Prozent, als geringfügig entlohnte Beschäftigte. Dabei ist die durchschnittliche Betriebsgröße immer weiter zurückgegangen und liegt inzwischen – umgerechnet auf Vollzeitäquivalente – unter drei Beschäftigten je Salon. Ein Dorn im Auge ist Wilfried Petri auch die bestehende Mehrwertsteuergrenze. Sie liegt bei 17.500 Euro Jahresumsatz. Laut 36 einer bundesweiten Erhebung des Zentralverbands des Deutschen Friseurhandwerks liegen 25.000 der rund 80.000 Friseurbetriebe unterhalb der Mehrwertsteuergrenze. Petri: „Das sind im besten Falle Einzelunternehmer, wobei ich mich frage, was dabei unter dem Strich als Gewinn herauskommt und wie so ein Betrieb funktionieren soll. Material, Miete, Gemeinkosten und bei manchen fallen auch Personalkosten an. Wovon lebt der Geschäftsinhaber dann eigentlich?“ Kein Wunder, dass Zweifel an den Angaben der Betriebe laut werden. Zur Aufklärung arbeitet der Friseurverband in engem Kontakt mit den Sozialbehörden: „Die Kranken- und Rentenversicherungsträger sind auch dahinter her, insbesondere, wenn diese Betriebe auch noch Mitarbeiter/-innen beschäftigen.“ Die 17.500-Euro-Grenze sähe Petri gerne abgeschafft, denn dass hier mitunter Schwarzarbeit stattfindet, ist für ihn alles andere als ausgeschlossen. Doch mit jedem schwarz bedienten Kunden, weiß er, sinkt der Umsatz der anderen Salons, die ihre Mitarbeiterinnen nach Tarif bezahlen. Besserung hinsichtlich der Kontrollen solcher Betriebe verspricht erst das am 1. Januar 2017 in Kraft tretende Gesetz für die Einzelaufzeichnungspflicht der Betriebe. Allgemeinverbindlicher Mindestlohn Verkehrte Welt: Weil durch die Dumpinglöhne im Friseurhandwerk qualitativ hochwertige, besser zahlende Betriebe immer stärker unter Druck gerieten und einige von ihnen infolge preislicher Konkurrenzunfähigkeit ihre Läden schließen mussten, ergriffen Verbandsvertre- ter die Initiative, um das Lohngefüge neu zu ordnen. Wilfried Petri: „Stundenlöhne unter vier Euro wie teilweise in Ostdeutschland wurden – zu Unrecht – der gesamten Branche unterstellt. Wunsch und Wille nach einem allgemeinverbindlichen Mindestlohn waren deshalb in den meisten Betrieben vorhanden, um aus der Schmuddelecke herauszukommen.“ Dazu Gewerkschafterin Andrea Becker: „Weil der freie Fall der Löhne die guten Betriebe in Schwierigkeiten brachte, wollte der Innungsverband dem Lohndumping einen Riegel vorschieben. Doch das gelingt nur durch allgemeinverbindliche Tarifverträge und dazu waren sie auf uns angewiesen.“ Mittlerweile haben sich die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die Tarifgemeinschaft des Zentralverbands des Deutschen Friseurhandwerks und die Landesverbände über einen branchenweiten Mindestlohn für das Friseurhandwerk geeinigt. Demnach werden seit dem 1. August 2013 für Friseure im Westen 7,50 Euro, im Osten 6,50 Euro Mindestlohn gezahlt. Nach einer weiteren Erhöhung zum 1. August 2014 soll schließlich bis zum 1. August 2015 ein einheitlicher Mindestlohn für West und Ost von 8,50 Euro gezahlt werden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat bereits signalisiert, den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären. Vorreiter war Nordrhein-Westfalen. Hier haben ver.di und Friseurverband einen eigenen Tarifvertrag abgeschlossen. Der Unterschied zum Bund: In den ersten beiden Jahren ist der NRW-Tarifvertrag für die Beschäftigten günstiger, denn hier gelten seit dem 1. Oktober 2012 8,13 Euro und ab 1. Oktober 2014 8,32 Euro als Mindestlohn. Andrea Becker: „Ab 1. Oktober 2015 haben G.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG FAIRE ARBEIT, UNDFAIRE -SICHERUNG LÖHNE AUTOREN Paul Pantel, Tel.: 02324 239466, E-Mail: paul.pantel@arcor.de Manfred Keuler, Tel.: 02041 767-152, E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de wir dann 8,51 Euro, aber über den bundesweiten Tarifvertrag erreichen wir die 8,50 Euro schon ab 1. August 2015 und der gilt dann auch für NRW.“ Mit dem Mindestlohn aber gerät das Tarifgefüge im Friseurhandwerk durcheinander, denn der neue Tarifvertrag hebt die untersten Lohngruppen stark an, während die anderen etwa auf gleichem Stand verharren. Werden sich dann nicht die besser Qualifizierten beschweren? „Die Frage ist berechtigt“, meint Wilfried Petri. „Als Arbeitgebervertreter werden wir deshalb bei den nächsten Tarifverhandlungen wohl sagen: Wenn der Mindestlohn bei 8,50 Euro liegt und ein gut qualifizierter Geselle bei 8,70 Euro, dann müssen wir bei Letzterem jetzt mal am meisten tun, so dass im Zeitverlauf wieder eine stärkere Differenzierung hergestellt wird.“ Das heißt, die Verbesserungen durch den Mindestlohn schlagen auf mittlere Sicht auch auf die höheren Lohngruppen durch? „Ja, das wird wohl so kommen, denn als gut Qualifizierter würde ich mich auch dagegen wehren, fast das gleiche Geld zu bekommen wie jemand, der fast gar nicht qualifiziert ist.“ Andrea Becker wiegelt ab: „So weit sind wir noch nicht, da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ich bin ausdrücklich dafür, dass wir die Löhne im Bereich der qualifiziert Beschäftigten deutlich anheben, aber nicht zulasten der unteren Lohngruppen.“ Sie lenkt den Blick vor allem auf die Tatsache, „dass wir erstmalig An- und Ungelernte in den Tarifvertrag aufgenommen haben. Damit ist dem Lohndumping im Bereich der Helferinnen und Helfer endlich ein Ende gesetzt!“ Das heißt zugleich: Betriebe, die acht Euro pro Stunde an Lohn zahlen müssen, können für G.I.B.INFO 4 13 KONTAKTE Andrea Becker Wilfried Petri ver.di NRW Friseur- und Kosmetikverband NRW Besondere Dienstleistungen Deggingstraße 16, 44141 Dortmund Karlstraße 123 – 127, 40210 Düsseldorf Tel.: 0231 527615 Tel.: 0211 61824-390 E-Mail: w.petri@friseure-nrw.de E-Mail: andrea.becker@verdi.de einen Haarschnitt nicht länger nur zehn Euro verlangen. Sie müssen die Preise erhöhen und – wenn die Kunden ausbleiben – das Geschäft schließen. Bedauern würden das weder Verbandschef Petri noch Gewerkschafterin Becker: „Wer keine ordentlichen Löhne zahlt, hat auf dem Markt nichts zu suchen!“ Strategien zur Imageverbesserung Mit dem neuen Tarifvertrag erwartet der Verbands-Geschäftsführer einen Imagegewinn für das Friseurhandwerk. Doch damit allein ist es in seinen Augen nicht getan. Notwendig ist eine Marketingkampagne: „Viele mittelständische Friseur-Unternehmen stört es nicht, wenn neben ihnen ein Billiganbieter sein Geschäft eröffnet, weil sie sich sagen: Meine Kunden gehen da nicht hin, denn die wollen keine Fließbandabfertigung, sondern erwarten über den Haarschnitt hinaus auch einen Service, eine Zeitung hier, ein Schwätzchen dort. Die Friseurinnen und Friseure beherrschen ja nicht einfach nur ihr Handwerk, ihre Technik. Vielmehr sind die Mitarbeiterinnen oft Ansprechpartnerinnen auch in anderen Belangen. Viele Kundinnen und Kunden entscheiden sich für einen bestimmten Salon, speziell deshalb, weil da ihre Friseurin arbeitet. Da entstehen Vertrauensverhältnisse und persönliche Beziehungen. Betriebsinhaber/-innen leiden darunter, wenn eine tolle Kraft weggeht und in der Regel ihre Kunden mitzieht. Will sagen: Eine hochwertige Leistung inklusive Service kann man nicht für fünf Euro erbringen, aber diesen Service müssen die Betriebe auch kommunizieren. Marketing wird deshalb eine immer wichtigere Rolle spielen.“ Dazu hat sich etwa in Düsseldorf „Der faire Salon“ konstituiert, eine Initiative für das Friseurhandwerk. In dieser Wertegemeinschaft, heißt es in deren Selbstdarstellung, „haben sich aktuell 454 Friseurunternehmen aus ganz Deutschland zusammengeschlossen und stellen im Sinne einer neuen Wirtschaftsethik den Menschen in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Sie folgen damit dem Kodex für Friseure in Europa, der unter Mitwirkung der EU erarbeitet wurde – für ein besseres Miteinander zwischen Unternehmen, Mitarbeitenden und Kundinnen und Kunden. Sie verpflichten sich bestimmte Kriterien einzuhalten: Fairness zu Kunden und Mitarbeitern, ausreichende Behandlungszeit, ehrliche Beratung, ständige Weiterbildung und lebenslanges Lernen zuguns ten besserer Qualität, die ausschließliche Verwendung ökologisch und dermatologisch geprüfter Produkte und – mit Blick auf das Allgemeinwohl: Steuerehrlichkeit und faire Löhne.“ Darüber hinaus gibt es – „aus Imagegründen“ – schon heute Initiativen einzelner Innungen, die gemeinsam mit den örtlichen Arbeitsagenturen „Tage der offenen Tür“ als Benefizveranstaltungen für arbeitslose Personen organisieren, die sich nicht so leicht einen schicken Haarschnitt leisten können. Sie erhalten dann kostenlos eine modische Frisur. Mit dabei ist immer ein Fotograf, der den Arbeitslosen von den Veranstaltern finanzierte professionelle Fotos liefert – für ihre Bewerbungsschreiben. „Vielleicht“, so Verbandschef Wilfried Petri, „bewirbt sich ja aufgrund der neuen, attraktiveren Mindestlöhne die eine oder der andere von ihnen auch im Friseurhandwerk!“ 37 ARBEITSGESTALTUNG FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE UND -SICHERUNG Zur Entwicklung der Löhne und des Niedriglohnsektors Datenquellen im Vergleich Foto: Stephanie Pilick (c) dpa Das Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen beziffert mit der von ihm gewählten Berechnungsmethode die auf eine Arbeitsstunde bezogenen Niedrig-Stundenlohnschwellen 2010 auf 9,54 Euro West, 7,04 Euro Ost und 9,15 Euro Deutschland gesamt. Angaben aus verschiedenen aktuellen Studien zum Niedriglohnsektor aus den Jahren 2011 und 2012 wurden vom IAQ verglichen (IAQ: Datenquellen im Vergleich Mai 2013). Im Ergebnis zeigte sich ein Niedriglohnanteil zwischen 20,6 % und gut 23 %. Trotz Wirtschaftswachstum und Abbau der Arbeitslosigkeit – seit 2005 von fast 5 Mio. auf heute unter 3 Mio. – stagnieren die Reallöhne bzw. sind in manchen Bereichen sogar rückläufig. Die Lohnspreizung zwischen den Branchen nimmt zu und Niedriglöhne halten sich hartnäckig bzw. breiten sich sogar aus – vor allem im Dienstleistungsbereich. Die G.I.B. hat am 25. April 2013 in Düsseldorf im Rahmen der Landesinitiative „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“ ein „Forum Lohn- Das obige Ergebnis korrespondiert auch mit Zahlen, die im Dezember 2012 von Eurostat vorgelegt wurden. Danach weist Deutschland mit 22,2 % einen im europäischen Vergleich hohen Niedriglohnanteil auf (EU-Durchschnitt 17 %). Es wurden Betriebe mit 10 und mehr Beschäftigten einbezogen. In Ländern mit hoher Tarifbindung wie Dänemark, Finnland und Schweden sind prozentual weitaus weniger Menschen unter Niedriglohnbedingungen beschäftigt. die IAQ-Studie als auch auf weitere Veröffentlichungen. Die OECD-Niedriglohnschwelle (2/3 des Medians) ist in der international vergleichenden Diskussion ein gut eingeführtes Modell und ein wichtiger Indikator für Verteilungsgerechtigkeit – nicht mehr und nicht weniger. Die Niedriglohnschwelle wird meist nach von der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) international angewendeten Kriterien errechnet. Demnach gilt das Bruttomonatsentgelt von sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten als Niedriglohn, wenn es weniger als zwei Drittel des Medians aller erfassten Bruttomonatsent- Die Grenze ihrer Aussagekraft kann aber an folgender Überlegung verdeutlicht werden: Würden alle Löhne in einem Land verdoppelt, bliebe die Niedriglohnquote, der Prozentsatz der Niedriglöhner, gleich. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro in Deutschland würde weder die Niedriglohnschwelle noch die Niedriglohnquote verändern. entwicklung“ organisiert und das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen beauftragt, eine Studie zur Verdienstentwicklung in Deutschland zu erstellen. Die folgenden Ausführungen stützen sich sowohl auf 38 gelte von Vollzeitbeschäftigten beträgt. Der Median für die Monatsverdienste in Westdeutschland für 2011 wurde jüngst auf 2.835 Euro beziffert und damit eine (West-) Niedriglohnschwelle auf 1.890 Euro (Quelle: Bundesagentur für Arbeit). Für NRW ergeben sich daraus 893.000 sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte unter der Niedriglohnschwelle. G.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG FAIRE ARBEIT, UNDFAIRE -SICHERUNG LÖHNE Aus diesem Grund müssen in der aktuellen politischen Debatte in Deutschland um angemessene Mindestlöhne und Aufstockungsbedarfe auch andere Schwellenwerte betrachtet werden. Hier geht es um die besonders problematischen, oft auch bei Vollzeiterwerbstätigkeit nach SGB II aufstockungsbedürftigen Entgelte unter 5 Euro, unter 6 Euro, unter 7 Euro und unter 8,50 Euro. Eine wichtige Frage ist, wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter diesen Schwellen liegen und demzufolge von einem gesetzlichen Mindestlohn von z. B. 8,50 Euro profitieren würden. Tarifverdienste: Dynamik lässt nach Die erste Unterscheidung muss zwischen den Tarif- und den Effektivverdiensten erfolgen. Die Tarifverdienste sind außerordentlich transparent. Sowohl das WSITarifarchiv als auch die Tarifregister des Bundes und der Länder registrieren sämtliche in Deutschland geschlossenen Tarifverträge („Haustarifverträge“ zwischen Gewerkschaften und einem Unternehmen und „Flächentarifverträge“ zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden) und werten diese aus. Das Tarifregister des NRW-Arbeitsministeriums hat die Tariflohnentwicklung der 22 Jahre von 1990 bis 2012 in 50 Branchen des Landes untersucht. Was dabei auffällt, ist eine deutliche Verschlechterung im Zeitraum 2000 bis 2012. In den Jahren 1990 bis 2000 war der Zuwachs bei den preisbereinigten Tarifverdiensten noch zufriedenstellend. Es gab nirgendwo Reallohnverluste und die Beschäftigten konnten in den meisten Bereichen am wachsenden Wohlstand G.I.B.INFO 4 13 teilhaben. Die realen (preisbereinigten) Steigerungsraten lagen in jenen Jahren zwischen 37,0 Prozent (Einzelhandel) und 2,8 Prozent (Elektrohandwerk). Im darauf folgenden Zeitraum von 2000 bis 2012 stiegen die preisbereinigten Tarifverdienste in NRW insgesamt nur um bescheidene 4,9 %. Zum Vergleich: Nach Angaben des WSI-Tarifarchivs (Quelle: Böckler-Impuls 02/2013) lagen die preisbereinigten Tarifverdienste 2012 bundesweit um 6,9 % höher als 2000. NRW hat gegenüber dem Bundesdurchschnitt Boden verloren. Nur wenige Branchen weisen in NRW nennenswerte Steigerungen aus. Spitzenreiter ist die Metall- und Elektroindustrie mit einem realen Plus von 20,1 %. Es folgt die Nährmittelindustrie mit insgesamt plus 13,9 % vor der Chemischen Industrie mit plus 13,5 %. Negativer Spitzenreiter ist das Augenoptikerhandwerk mit einem Minus von 11,4 %, gefolgt vom Fleischerhandwerk mit einem Minus von 9,3 %. Effektivverdienste Von den Tarifverdiensten kann nicht auf alle tatsächlich gezahlten Löhne geschlossen werden. Dies liegt in erster Linie daran, dass die „Tarifbindung“, das heißt, der Anteil der Beschäftigten, die in Betrieben mit einem Branchentarif arbeiten, auf 53 % West und 36 % Ost gesunken ist (Quelle: Peter Ellguth, Susanne Kohaut, Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung. Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2012. WSI-Mitteilungen 4/2013). Nicht tariflich gebundene Betriebe zahlen in aller Regel weniger als tariflich vereinbart. Aber wie viel weniger? Informationen zu den Effektivverdiensten liefern: • die Entgeltstatistik der Bundesagentur für Arbeit als Vollerhebung aller sozialversicherungspflichtigen Entgelte. Die gewonnenen Informationen sind überaus präzise. Da den Meldungen der Betriebe aber keine Arbeitszeitinformationen zugeordnet sind, können keine Stundenlöhne ermittelt werden. Die Erfassung der Entgelte wird der Höhe nach auf dem Niveau der Beitragsbemessungsgrenze zur Rentenversicherung abgeschnitten, derzeit 5.800 € pro Monat. • d ie vierteljährlichen Verdiensterhebungen (VVE) und die in 4-jährigen Abständen durchgeführten Verdienststrukturerhebungen (VSE) der amtlichen Statistik (Statistisches Bundesamt und statistische Landesämter). Dabei handelt es sich um Stichproben, bei denen eine große, repräsentative Zahl von Betrieben die gesetzliche Verpflichtung erfüllt, Informationen über Verdienste und Arbeitszeiten zu liefern. Bei der Zahl von 40.000 (VVE) bzw. knapp 30.000 (VSE) teilnehmenden Betrieben sind die Ergebnisse ebenfalls sehr genau. Ihre Aussagekraft im unteren Stundenlohnbereich leidet aber unter der Einschränkung, dass Betriebe mit weniger als 10 Beschäftigten, bei denen im Allgemeinen stark unterdurchschnittlich bezahlt wird, in den Stichproben nicht enthalten sind. Dadurch wird der Niedriglohnbereich unterschätzt. • die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung des Bundes (VGR). Die Daten der VGR werden ihrerseits aus einer Vielzahl von Daten zusammengefügt, vorrangig 39 ARBEITSGESTALTUNG FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE UND -SICHERUNG auch aus der VVR und der VSE. Somit ist die VGR keine eigene Erhebung, wird aber häufig in der wissenschaftlichen Diskussion herangezogen. Die VGR-Definition der Bruttolöhne und -gehälter ist sehr umfassend; sie enthält u. a. alle Arten von Zuschlägen, vermögenswirksamen Leistungen, Fahrtkostenzuschüssen sowie Sachleistungen wie Dienstwagen. Da die VGR auch Angaben zur Entwicklung der Arbeitsproduktivität enthält, wird sie häufig herangezogen, wenn es um die Gegenüberstellung von Arbeitsproduktivität und Löhnen geht. • das sozioökonomische Panel (SOEP), eine jährlich durchgeführte Befragung einer repräsentativen Auswahl von ca. 12.000 Haushalten mit ca. 21.000 Personen. Die Haushaltsmitglieder werden nach einer Vielzahl von Tatbeständen befragt, die ihre Erwerbstätigkeit betreffen – etwa danach, ob sie in Vollzeit, Teilzeit oder geringfügig beschäftigt sind, in welchem Wirtschaftszweig sie tätig sind oder wie viele Mitarbeiter/-innen ihr Betrieb hat. Erfragt werden auch die Wochenstunden sowie das monatliche Erwerbseinkommen. Aus diesen beiden Informationen werden die Stundenlöhne berechnet (Quelle: Karl Brenke und Karl-Uwe Müller, Gesetzlicher Mindestlohn – kein verteilungspolitisches Allheilmittel, DIW-Wochenbericht Nr. 39.2013, S. 5). Das SOEP ist als Datenbasis für Analysen der Lohnentwicklung und insbesondere des Niedriglohnsektors gut eingeführt und unumstritten. Bei tiefer gegliederten Auswertungen, etwa nach einzelnen Bundesländern, einzelnen Branchen oder bestimmten Beschäftigtengruppen können die vorhandenen Fallzahlen eine kritische Schwelle unterschreiten. 40 Wie haben sich die Effektivverdienste entwickelt? Während bei den Tarifverdiensten immerhin ein leichtes Plus zu verzeichnen war, gibt die Entwicklung der Effektivverdienste Anlass zu großer Besorgnis. Der Reallohn index (preisbereinigte Bruttomonatsverdienste je Arbeitnehmer/-in – vor Steuern und Sozialabgaben) ist im Zeitraum von 2000 bis 2012 gesunken: Bundesweit betrug der Rückgang in diesem 12-Jahreszeitraum 0,4 %, in NRW sogar 1,8 %. Betrachtet man den Zeitraum von gut 20 Jahren zwischen 1991 und 2012, so ergibt sich bundesweit immerhin noch ein bescheidener Zuwachs von 3,1 %, der aber allein auf die noch etwas günstigere Entwicklung in der ersten Dekade zurückzuführen ist (Quelle: Statistisches Bundesamt, Verdienste und Arbeitskosten, Reallohnindex und Nominallohnindex, Wiesbaden, 4.7.2013). Zum Vergleich: Im Zeitraum von 1991 – 2011 stieg die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen um 22,7 % (Quelle: Statistisches Bundesamt, Pressemeldung Nr. 149 vom 30.4.2012). Von 2000 bis 2012 stieg die Stundenproduktivität der Arbeitnehmer dreimal so stark an wie die preisbereinigten Bruttostundenlöhne (Quelle. Brenke und Müller, DIW-Wochenbericht 39.2013). Niedrige Stundenlöhne in NRW nach der amtlichen Statistik (VVE) Während bisher SOEP die einzige Datenbasis darstellte, die eine Auswertung von Niedriglöhnen auf Stundenlohnbasis ermöglichte, wurden auf dem „Forum Lohnentwicklung“ von IT.NRW erstmals Zahlen für Stundenlöhne in NRW aus der vierteljährlichen Verdiensterhebung vorgelegt. Danach sind die untersten vier Stundenlohnstufen (<5, <6, <7 und <8 Euro) um den Faktor 2 bis 5 schwächer besetzt als nach SOEP. Unter 8,50 Euro liegen nach SOEP 18,4 % (siehe Tab. 1) und nach VVE 11,5 % der Beschäftigten. Als vorläufige Erklärung soll hier Folgendes zur Diskussion gestellt werden: Während die im Rahmen von SOEP befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre tatsächliche Arbeitszeit angeben, darunter auch die eventuell unentgeltlich geleistete, wird im Rahmen der VVE die tarifvertragliche oder arbeitsvertragliche Arbeitszeit übermittelt. Dieser Unterschied wirkt sich unmittelbar bei der Ermittlung des Stundenlohns aus. Dass die vertraglich vereinbarte und bezahlte Arbeitszeit unter der tatsächlich anfallenden Arbeitszeit liegen kann, ist durch eine Vielzahl von Berichten aus dem Einzelhandel, dem Hotel- und Gaststättengewerbe und der Gebäudereinigung bekannt. Bei Teilzeitbeschäftigten im Einzelhandel fällt z. B. der Faktor „Vor- und Nacharbeit“ besonders ins Gewicht. Bei der Zimmer- und Flächenreinigung sind Berichte über mengenmäßige Vorgaben bekannt geworden, die innerhalb der vereinbarten und bezahlten Arbeitszeit nicht erfüllt werden können. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass die VVE-Daten Betriebe unter 10 Beschäftigten ausklammern und damit der Niedriglohnsektor unzureichend erfasst wird. Niedriglohnbeschäftigung nach effektiven Stundenlöhnen im Zeitverlauf Bei der Betrachtung der Niedriglohnbeschäftigung im Zeitverlauf müsste man verG.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG FAIRE ARBEIT, UNDFAIRE -SICHERUNG LÖHNE muten, dass die Beschäftigten mit der allgemeinen Nominallohnentwicklung aus den untersten Stundenlohnstufen „herauswachsen“. Dies wird von den Daten des sozioökonomischen Panel (SOEP) so nicht bestätigt. Der SOEP-Datensatz weist aus, dass sich im Zeitverlauf am Anteil der Beschäftigten in den einzelnen Stundenlohnstufen wenig geändert hat. Offenbar konnten die Beschäftigten im untersten Einkommensbereich noch nicht einmal nominale Lohnsteigerungen verzeichnen. Sie haben heute real um über 20 % geringere Verdienste als noch Mitte der 1990er Jahre. Geringfügige Beschäftigung als Schwerpunkt des Niedriglohnbereichs unter 8,50 Euro pro Stunde Bundesweit gibt es rund sieben Millionen geringfügig Beschäftigte, in NRW 1,7 Millionen. Gestützt auf Zahlen aus der VSE 2006 haben Bosch und Weinkopf gezeigt (Quelle: WSI-Mitteilungen 9/2011), dass die „atypischen“ Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeit, befristete und geringfügige Beschäftigung) ein viermal so hohes Niedriglohnrisiko (unter 9,85 Euro pro Stunde) tragen als das Normalarbeitsverhältnis. Tabelle 1: Anteil der Beschäftigten mit niedrigen Stundenlöhnen im Zeitverlauf (abhängig Beschäftigte, inkl. Teilzeit und Minijobs, in %), NRW 1996 – 1999 2000 – 2003 2007 2008 – 2011 2011 Unter 5€ 5,2 % 5,5 % 4,2 % 4,9 % 4,6 % Unter 6€ 8,2 % 7,9 % 6,3 % 8,2 % 7,7 % Unter 7€ 11,0 % 11,3 % 9,0 % 12,0 % 12,5 % Unter 8€ 15,2 % 15,7 % 12,7 % 16,3 % 18,1 % Unter 8,50€ 17,5 % 18,1 % 18,4 % 20,4 % 19,1 % 23,2 % 25,4 % Unter Niedriglohnschwelle Quelle: IAQ Dezember 2008 und Februar 2013 Tabelle 2: Niedriglohn nach Arbeitsvertragsform in NRW Personengruppen Vollzeit Anteil an allen in % Anteil an allen mit < 8,50 in % 69,3 25,1 < 8,50 Anteil in Gruppe in % 4,2 Wertet man die aktuellen vierteljährlichen Verdiensterhebungen (VVE) für NRW aus und legt die Schwelle bei 8,50 Euro pro Stunde an, so ist das Ergebnis noch extremer: Während nur 4,2 % der Vollzeitbeschäftigten weniger als 8,50 Euro verdienen, sind es 64,2 % der geringfügig Beschäftigten in NRW, die unter dieser Schwelle liegen (siehe Tab. 2). Bei rechtskonformer Gestaltung von Minijobs, vor allem bei Beachtung des Prinzips „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, wäre diese Arbeitsvertragsform für den Arbeitgeber teurer als sozialversicherungspflichtige Arbeit. Es rechnet sich nur, wenn die Vergütung drastisch abgesenkt wird – mit allen negativen Konsequenzen für das betriebliche Lohngefüge. Derzeit ist absehbar, dass in der gegenwärtigen 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags ein gesetzlicher Mindestlohn in der einen oder anderen Form eingeführt wird. Von dessen Höhe, Differenzierung, und vielleicht stufenweiser Einführung wird es abhängen, wie schnell und nachhaltig die Fehlentwicklungen im unteren Lohnbereich abgemildert werden. Die Lösung des Problems ist davon nicht zu erwarten. Dazu bedarf es weiterer Re-Regulierung, wie zum Beispiel bei den Minijobs, der Leiharbeit und den Werkverträgen. davon Frauen 20,0 10,7 6,1 Männer 49,3 14,4 3,4 20,6 18,4 10,2 davon Frauen 17,4 13,0 8,5 Männer 3,2 5,4 19,3 10,1 65,5 64,2 40468 Düsseldorf davon Frauen 6,4 36,5 65,6 Tel.: 0211 4229025 Männer 3,7 20,0 61,8 E-Mail: karl.feldengut@gmx.net Teilzeit Geringfügig Beschäftigte AUTOR Karl Feldengut Wilseder Weg 40 Quelle: VVE; Präsentation Lars Stegenwaller, Forum Lohnentwicklung 25.4.2013 Lesehilfe: Geringfügig Beschäftigte machen 10,1 % der Gesamtzahl der Beschäftigten aus, aber 65,5 % aller Beschäftigten mit weniger als 8,50 Euro pro Stunde. 64,2 % der geringfügig Beschäftigten verdienen weniger als 8,50 Euro pro Stunde. G.I.B.INFO 4 13 41 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE „Die Gesellschaft muss sich verständigen, was ein angemessener Lohn ist“ Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns war bei den Koalitionsverhandlungen eine der strittigsten Fragen. Zum 1. Januar 2015 wird nun ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet eingeführt. Es wird Ausnahmen geben, auch Übergangsfristen. Aber spätestens zum Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeschränkt. Warum das Thema in Deutschland so kontrovers diskutiert wurde und wie andere europäische Länder den Mindestlohn regeln, darüber sprach die G.I.B. mit dem Tarifexperten Dr. Thorsten Schulten vom Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung. Schulten ist Referent für Arbeits- und Tarifpolitik in Europa und Mitglied der Kommission, die die NRW-Landesregierung beim Mindestlohn für die öffentliche Auftragsvergabe berät. G.I.B.: Von 28 EU-Staaten haben 21 einen gesetzlichen Mindestlohn. Deutschland gehörte bis vor Kurzem noch nicht dazu. Können Sie die Situation der Mindestlohnsicherung im europäischen Kontext für uns einordnen? Dr. Thorsten Schulten: Die sieben EU-Staaten ohne allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn sind die skandinavischen Länder, Österreich, Italien und Zypern – und eben Deutschland. Diese Länder haben zumeist ein relativ gut entwickeltes Tarifvertragssystem, zwi- Das Tarifsystem erodiert in vielen Branchen, mit dem Ergebnis, dass es immer weniger Tarifverträge gibt oder diese nicht mehr erneuert werden. schen 80 und 90 Prozent der Beschäftigten unterliegen hier Tarifverträgen und die Mindestlohnsicherung funktioniert dementsprechend weitgehend über die Tarifverträge. In Deutschland sind hingegen die einst hohen Tarifbindungsraten seit Anfang der 1990er Jahre kontinuierlich zurückgegangen. Das Tarifsystem erodiert in vielen Branchen, mit dem Ergebnis, dass es immer weniger Tarifverträge gibt oder diese nicht mehr erneuert werden. Das ist der Hintergrund der Mindestlohndebatte in Deutschland. Mittlerweile werden weniger als 60 Prozent der Beschäftigten in Deutschland durch einen Tarifvertrag erfasst. Das heißt, ein großer Teil fällt durch das System, und zwar vor allem in den Branchen, die zum klassischen Niedriglohnsektor gehören. Die Daten 42 zeigen deutlich: Je niedriger das Einkommen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass für die Beschäftigten ein Tarifvertrag gilt. In Europa reichen die Tarifbindungsraten von 95 Prozent in Österreich bis hin zu unter 20 Prozent in einigen osteuropäischen Ländern. Deutschland liegt damit unter 60 Prozent etwa in der Mitte. Wenn man aber Osteuropa außer Acht lässt und sich nur Westeuropa und die alte EU anschaut, befindet sich Deutschland ganz unten auf der Skala und wird nur noch von Großbritannien untertroffen. Dort ist die Tarifbindung schon in den 1980er Jahren unter Margret Thatcher in den Keller gegangen. Ganze Flächentarifverträge sind zerschlagen worden und Tarife werden fast nur noch dezentral verhandelt. Also abgesehen vom Sonderfall Großbritannien und eben Deutschland haben die meisten westeuropäischen Länder zumindest bis zum Ausbruch der Krise 2008/2009 relativ stabile Systeme und eine hohe Tarifbindung um die 80 bis 90 Prozent. Warum ist das so? In Skandinavien liegt das an einem sehr hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. In anderen Ländern wie den Niederlanden oder Frankreich, wo der Organisationsgrad ähnlich niedrig wie in Deutschland oder sogar niedriger ist, greifen staatliche Formen der Unterstützung, insbesondere über das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung, kurz AVE. In den Niederlanden wird zum Beispiel so gut wie jeder relevante Branchentarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt, und zwar nicht nur für die untersten Lohngruppen, sondern für die gesamte Lohntabelle. Auch die Arbeitgeber unterstütG.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE Dr. Thorsten Schulten, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung zen diese Form der Tariffestlegung, weil AVE eine verlässliche Wettbewerbsordnung schaffen und garantieren, dass Konkurrenten die gleichen Lohnsätze zahlen müssen. Irrationale Formen der Konkurrenz, wo die Lohnspirale immer weiter nach unten geht, werden so effektiv verhindert. G.I.B.: Wie kommt es, dass sich Arbeitgeber in den Niederlanden beim Thema AVE so anders verhalten als in Deutschland? Dr. Thorsten Schulten: Es sind eher die deutschen Arbeitgeber, die in Europa die Ausnahme bilden. Insbesondere der Dachverband, die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), hat eine sehr starre ideologische Position und lässt die AVE nur als absolutes Ausnahmeinstrument gelten, obwohl es ja durchaus Branchen gibt, die dem weniger reserviert gegenüberstehen. Erklären lässt sich das auch dadurch, dass die BDA sehr stark von exportorientierten Branchen dominiert ist. Für binnenorientierte Branchen hat die AVE natürlich eine viel wichtigere Ordnungsfunktion als für Unternehmen, die sich um den globalen Wettbewerb kümmern müssen. G.I.B.: Eine zentrale Frage bei der Einführung eines Mindestlohns ist die Höhe. Was können wir da von den europäischen Nachbarn lernen? Dr. Thorsten Schulten: Die Höhe des Mindestlohns ist in Europa sehr unterschiedlich und spiegelt das allgemeine Lohn- und wirtschaftliche Entwicklungsniveau der Länder wider. Eine Orientierung bieten Länder, die vom Niveau vergleichbar mit Deutschland sind, also etwa Frankreich und die Beneluxstaaten. Dort liegen die Mindestlöhne derzeit bei 9 bis 9,50 Euro. Warum sollte das nicht auch in Deutschland möglich sein? Andere Länder haben ein deutlich niedrigeres Niveau. In Südeuropa bewegt sich der Mindestlohn zwischen 3 und 4,50 Euro, in Osteuropa zwischen 1 und 2 Euro, aber das ist ja nicht mit Deutschland vergleichbar. G.I.B.: Was sind für Sie Kriterien, um eine angemessene Lohnuntergrenze festzulegen? Dr. Thorsten Schulten: Ein Mindestlohn muss aus meiner Sicht die Existenzsicherung für einen ArbeitnehG.I.B.INFO 4 13 mer gewährleisten. Weitere Aufstockungsleistungen sollten nicht mehr notwendig sein. Natürlich gibt es da regionale Unterschiede, weil auch die Kosten für die Unterkunft regional verschieden sind. Für Düsseldorf haben wir einen Stundenlohn von 9,40 Euro ausgerechnet. Das ist für mich eine adäquate Untergrenze. Das Kriterium der Existenzsicherung lässt sich natürlich auch auf die Rente ausweiten: Was müsste jemand verdienen, um nach 45 Jahren eine Auch die Arbeitgeber unterstützen Allgemeinverbindlicherklärungen, weil sie eine verlässliche Wettbewerbsordnung schaffen und garantieren, dass Konkurrenten die gleichen Lohnsätze zahlen müssen. Rente oberhalb der Grundsicherung zu erhalten? Da liegen wir dann schon bei einem Mindestlohn oberhalb von 10 Euro. Nimmt man die Europäische Sozialcharta, die in Artikel 4 ein Recht auf ein faires Entgelt garantiert, wäre man sogar bei 12 Euro. Die Gewerkschaften fordern 8,50 Euro. Das ist als Einstieg denkbar, um den Unternehmen erst einmal Möglichkeiten für eine Anpassung zu geben. 8,50 Euro ist aber immer noch ein Armutslohn. Ein existenzsichernder Mindestlohn geht in Richtung 9,50 bis 10 Euro. Bei dieser Marge befände sich Deutschland im Einklang mit anderen westeuropäischen Partnern, insofern scheint mir das sinnvoll. G.I.B.: Wie einigen sich andere europäische Länder auf einen Mindestlohn? Dr. Thorsten Schulten: Idealtypisch gibt es vier Modelle, wobei auch Mischformen existieren. Das einfachste Modell ist, die Regierung setzt den Mindestlohn fest, wie in den USA. Das ist eher untypisch in Europa, hat sich jetzt aber in der Krise zum Beispiel in Griechenland etabliert. Der Regelfall in Europa sind Verhandlungsmodelle. In Belgien zum Beispiel handeln Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände einen Mindestlohn aus. 43 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE In einigen osteuropäischen Ländern kommt der Staat als dritter Verhandlungspartner hinzu. Gibt es keine Einigung, legt die Regierung den Mindestlohn fest. Eine dritte Form sind mehr oder weniger ausgeprägte institutionelle Konsultationen, also Kommissionen, die Empfehlungen abgeben. In Frankreich ist das zum Die „Low Pay Commission“ aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissenschaftlern unterbreitet der Regierung einen Vorschlag, wie der Mindestlohn anzuheben ist, und die Regierung folgt dem in der Regel auch. Beispiel die Nationale Tarifkommission, für die deutsche Debatte interessant ist das britische Modell mit der „Low Pay Commission“. Diese Kommission aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissenschaftlern unterbreitet der Regierung einen Vorschlag, wie der Mindestlohn anzuheben ist, und die Regierung folgt dem in der Regel auch. Darüber hinaus gibt es insbesondere in den Beneluxländern, Frankreich und Slowenien zusätzlich eine Indexierung der Mindestlöhne. Das ist eine garantierte automatische Mindestanpassung an die Preissteigerung, an die durchschnittlichen Tariflöhne oder eine Mischung aus beidem. Die Politik hat dabei Spielraum nach oben, kann also noch höher gehen. In den Niederlanden gibt es auch den umgekehrten Fall, da kann die Regierung in Krisensituationen die Mindestanpassung aussetzen, und das ist auch schon passiert. G.I.B.: Welches Modell bietet sich für Deutschland an? Dr. Thorsten Schulten: In der aktuellen Debatte konkurrieren folgende Positionen: Die CDU schlägt eine Lohnuntergrenze vor, die in einer Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften ohne Beteiligung der Politik vereinbart und festgelegt wird. Diese Lohnuntergrenze soll weiter differenziert werden können nach 44 Regionen, Branchen, Berufsgruppen, Altersgruppen etc. und nur dort gelten, wo es bislang keine Tarifverträge gibt. Dass sich dieser Vorschlag durchsetzt, halte ich für unwahrscheinlich. Die Vorstellungen von SPD, Grünen und teilweise auch der Linken orientieren sich am britischen Modell, also der Low Pay Commission. Allerdings soll das Ergebnis der Kommission nicht verbindlich sein, sondern nur eine Empfehlung. Die Entscheidung fällt am Ende die Politik. Ein möglicher Kompromiss ist das Modell, das die thüringische Landesregierung 2012 in den Bundesrat eingebracht hat. Auch hier verhandelt eine Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften die Höhe des Mindestlohns, die Politik hat keinen Einfluss. Im Unterschied zum CDU-Modell soll der Mindestlohn flächendeckend für ganz Deutschland und alle Branchen gelten. Charmant ist dabei, dass sich SPD und CDU in der großen Koalition in Thüringen schon auf diesen Vorschlag geeinigt haben. Ich sehe allerdings zwei Probleme: Zuerst, welches Interesse sollten Arbeitgeber in dieser Kommission haben, einen Mindestlohn auszuhandeln, wo sie das doch für Teufelszeug halten? Kommt es zu keiner Einigung, soll ein Schlichter entscheiden. Das heißt, in diesem gar nicht so unwahrscheinlichen Fall hängt die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland von einer einzigen Schlichterperson ab. Das finde ich abenteuerlich. G.I.B.: Was für ein Modell würden Sie denn favorisieren? Dr. Thorsten Schulten: Ich finde es sinnvoll, Gewerkschaften, Arbeitgeber und vielleicht auch Wissenschaftler mit einzubeziehen, würde so eine Kommission aber auch nicht überhöhen. Jede einzelne Gruppe ist von Interessen geleitet, selbst die Wissenschaftler sind in ihrem eigenen Modelldenken gefangen. In Großbritannien funktioniert die Low Pay Commission, weil die beteiligten Wissenschaftler gegenüber dem Mindestlohn aufgeschlossen sind. In Deutschland lehnt ihn dagegen ein Großteil der Ökonomen immer noch vehement ab. Wichtiger als die Zusammensetzung einer Kommission ist für mich, dass die Politik den Mindestlohn am Ende entscheidet und verantwortet. Ein G.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE gesetzlicher Mindestlohn ist eben etwas anderes als ein Tariflohn, er greift vor allem da, wo Tarifverträge nicht funktionieren oder zu niedrig ansetzen. Für wichtig halte ich außerdem eine gesellschaftliche Debatte und Verständigung über die Frage, was ein angemessener Lohn ist. Das sollte nicht in irgendwelchen Hinterzimmern ausgehandelt werden. Auch eine Mindestanpassung durch eine Indexierung an die Preisund Lohnentwicklung finde ich sinnvoll. G.I.B.: Sie sind beteiligt an dem beratenden Ausschuss, der nach dem Tariftreuegesetz in NRW jährlich einen Vorschlag zur Anpassung des Mindestlohns unterbreiten soll. Welche Erfahrungen haben Sie in NRW bei den Verhandlungen über einen Mindestlohn für die öffentliche Auftragsvergabe gemacht? Dr. Thorsten Schulten: In NRW gibt es eine paritätisch besetzte Kommission mit Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertretern und Arbeitgebern unter dem Vorsitz des Landesschlichters. Im Jahr 2012 hat die Landesregierung in NRW bei der Verabschiedung des neuen Vergabegesetzes einen vergabespezifischen Mindestlohn von 8,62 Euro festgelegt. Das heißt, das muss ein Unternehmer seinen Beschäftigten mindestens zahlen, wenn er einen öffentlichen Auftrag in NRW haben will. Der Maßstab für den Mindestlohn war die unterste Lohnstufe im Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes der Länder (TV-L), das waren damals 8,62 Euro. So kam diese krumme Zahl zustande. Der TV-L ist inzwischen erhöht worden und liegt ab dem 1. Januar 2014 in der untersten Lohngruppe bei 9,08 Euro. Das ist jetzt auch unsere Empfehlung für eine Anpassung, die Anfang des kommenden Jahres erfolgen soll. Die Erfahrungen bei den Verhandlungen zeigen aber, dass die Arbeitgeber in der Kommission eigentlich gar keine Anhebung des Mindestlohns wollen. Jetzt muss der Minister über die Anpassung entscheiden. G.I.B.: Was passiert denn mit den Landesinitiativen für vergabespezifische Mindestlöhne, wenn ein flächendeckender Mindestlohn kommt? Dr. Thorsten Schulten: Ich sehe keinen Grund, von heute auf morgen die unterschiedlichen Landesinitiativen zu beenden. Und warum nicht auch das ArguG.I.B.INFO 4 13 ment der Differenzierung mal von der anderen Seite nehmen? Ein Land wie NRW könnte doch auch sagen, wir können auf der Grundlage eines allgemeinen Mindestlohns noch ein bisschen mehr möglich machen. Da ist der Blick nach Großbritannien interessant. Dort gibt es einen relativ niedrigen allgemeinen Mindestlohn, auf kommunaler und regionaler Ebene kommen aber immer mehr Living-Wage-Regelungen hinzu, die die regionalen Lebenshaltungskosten berücksichtigen. Je nach Standort liegt der Mindestlohn dann höher. Ich denke, dass Deutschland schon eine einheitliche Lohnuntergrenze braucht, aber das Argument, dass die Lebenshaltungskosten regional sehr unterschiedlich sind, ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Eine gewisse Flexibilität wäre da sinnvoll. G.I.B.: Welche Probleme auf dem Weg zu auskömmlichen Löhnen lassen sich überhaupt mit einem gesetzlichen Mindestlohn lösen und welche Rolle hat die AVE in diesem Zusammenhang? Dr. Thorsten Schulten: Der Mindestlohn ist in der Tat nur ein Instrument, um die schlimmsten Bedingungen aufzufangen, aber kein Ersatz für ein gut funktionie- Ein Land wie NRW könnte doch auch sagen, wir können auf der Grundlage eines allgemeinen Mindestlohns noch ein bisschen mehr möglich machen. rendes Tarifvertragssystem. Es gibt im Gegenteil ja auch Befürchtungen, dass ein Mindestlohn das Lohnniveau nach unten ziehen kann, gerade in Bereichen, die nur knapp über dem angedachten Mindestlohn liegen. Der gesetzliche Mindestlohn war übrigens auch bei den Gewerkschaften anfänglich umstritten. Die Dienstleistungsgewerkschaften waren dafür, die Industriegewerkschaften mit Verweis auf die Tarifautonomie eher reserviert. Der DGB hat sich 2006 beim Bundeskongress dann auf den Kompromiss geeinigt, nicht nur einen gesetzlichen Mindestlohn zu fordern, sondern auch die Ausweitung der AVE, um das Tarifvertragssystem zu stabilisieren. 45 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE In der gewerkschaftlichen Debatte werden beide Dinge zusammen gedacht und das halte ich für sinnvoll. Zum Selbstverständnis der sozialen Marktwirtschaft gehört die Tarifautonomie, aber die funktioniert eben in vielen Bereichen nicht mehr. Eine Lohnuntergrenze einzuführen ist ein wichtiger Punkt, aber das alleine reicht nicht aus. Die Gewerkschaften sind gefordert, wieder mehr Mitglieder zu organisieren, aber auch die Politik hätte beim Thema AVE Möglichkeiten, das Tarifsystem zu stabilisieren, zum Beispiel indem das jetzige, doch sehr komplizierte Verfahren reformiert wird. G.I.B.: Welche konkreten Reformschritte könnten das sein? Dr. Thorsten Schulten: Ein Kernpunkt ist das relativ hohe Quorum. Ein Tarifvertrag kann nur für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn die tarifgebundenen Unternehmen mehr als 50 Prozent der Beschäftigten einer Branche repräsentieren. Aber eigentlich ist es ja widersinnig, dass die AVE gerade dann nicht greift, wenn die Tarifbindung zurückgeht und die AVE sozusagen am nötigsten ist. Natürlich muss man nicht jeden Minderheitentarif allgemeinverbindlich machen, Eine Lohnuntergrenze einzuführen ist ein wichtiger Punkt, aber das alleine reicht nicht aus. Die Gewerkschaften sind gefordert, wieder mehr Mitglieder zu organisieren. Ein wichtiger Reformschritt wäre auch, die Zusammensetzung des Tarifausschusses zu ändern, also neben dem Spitzenverband auch einen Vertreter der jeweiligen Branche zu beteiligen. Dann hätte man nicht mehr die Situation, dass die BDA mit ihrer ablehnenden Haltung alles blockiert und damit gegen eigene Branchen entscheidet. G.I.B.: Wie sehen Sie die Chancen für einen gesetzlichen Mindestlohn? Dr. Thorsten Schulten: Ich bin sehr optimistisch, dass Deutschland diesen Schritt geht, nach mehr als zehn Jahren, die die Debatte nun schon dauert. Für mich ist die Frage nicht mehr, ob wir einen Mindestlohn bekommen, sondern wie er gestaltet wird. Einigen sich die Beteiligten auf ein gutes, wirksames und weitreichendes Modell? Oder gibt es nur einen halbherzigen Kompromiss, ohne vernünftigen Lohn und vernünftige Anpassungen, wo dann doch wieder viele Leute durchfallen. Aber dass es einen Mindestlohn geben wird, davon bin ich überzeugt. Da sind wir auf der Zielgeraden. DAS INTERVIEW FÜHRTEN Manfred Keuler Tel.: 02041 767-152 E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de Arnold Kratz Tel.: 02041 767-209 E-Mail: a.kratz@gib.nrw.de KONTAKT aber es gibt auf europäischer Ebene interessante Beispiele, an denen man sich orientieren könnte. In einigen südeuropäischen Ländern ist nicht die Tarifquote entscheidend, sondern die Frage: Wie repräsentativ sind die dahinter stehenden Organisationen der Gewerkschaften und Arbeitgeber? Welche übergeordnete Bedeutung haben sie? 46 Dr. Thorsten Schulten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf Tel.: 0211 7778239 E-Mail: thorsten-schulten@boeckler.de G.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE „Kein Wettbewerb über den Lohn!“ Nordrhein-Westfalen ist das einzige Bundesland mit der Institution eines Landesschlichters. Er wird als unparteiischer und neutraler Moderator und Schlichter dann aktiv, wenn es die Sozialpartner oder die Betriebsparteien gemeinsam wünschen. Durch das Bestellen des Landesschlichters können Arbeitsniederlegungen und Streiks begrenzt oder vermieden werden. Standen im Aufgabenprofil des Landesschlichters früher Schlichtungen bei Branchentarifauseinandersetzungen im Vordergrund, hat sich die Schlichtungs- bzw. Moderationstätigkeit mittlerweile stärker auf die betriebliche Ebene verlagert. Zum weiteren Aufgabenspektrum des Landesschlichters zählen der Vorsitz des Tarifausschusses NRW, Maßnahmen der regionalen Wirtschaftsförderung sowie die Leitung des Tarifregisters NRW. Darin werden sämtliche in NRW gültige Tarifverträge gesammelt. Jedes Jahr kommen rund 1.700 neue Tarifverträge hinzu. Jeden Tag informieren sich bis zu 2.000 Besucherinnen und Besucher auf der Internetseite des Tarifregisters: Beschäftigte, Arbeitgeber und Institutionen. Aktueller Landesschlichter in NRW ist, seit 15 Jahren, LMR Bernhard Pollmeyer. G.I.B.: Herr Pollmeyer, einen Landesschlichter gibt es nur in NRW. Warum eigentlich? Bernhard Pollmeyer: Rechtsgrundlage des Landesschlichters ist das Kontrollratsgesetz der Alliierten von 1946. In NRW hatten wir seitdem erst drei Landesschlichter. Die große Kontinuität im Amt beweist, dass Landesschlichter bei den Sozialpartnern großes Vertrauen besitzen, die deshalb auf einen Fortbestand dieser Institution drängen. Die hohe Akzeptanz des Landesschlichters hat ihren Grund, denn im Vorfeld seiner Benennung durch den Arbeitsminister werden Arbeitgeber und Gewerkschaften konsultiert. Zudem müssen wir überparteilich sein und die Parteien zusammenführen. Gelingt uns das, werden wir auch nachgefragt. Die Institution des Landesschlichters ist aber auch Ausdruck davon, dass wir das Land der Tarifverträge und das Land der sozialen Mitbestimmung sind. G.I.B.: Wie funktioniert Ihre „Shuttle-Diplomatie“ zwischen den Sozialpartnern? Was sind Ihre Aufgaben? Bernhard Pollmeyer: Schlichtung basiert auf Freiwilligkeit. Das heißt: Beide Parteien müssen eine Schlichtung wollen. Mal werde ich von den Arbeitgebern angesprochen, mal von den Gewerkschaften. Mitunter aber gehe ich auch von mir aus auf die Akteure zu. Etwa dann, wenn es bei einem Streik keine Weiterentwicklung, sondern einen Stillstand gibt. Manchmal aber kommt ein Erstkontakt auch über die Politik zustande, indem etwa die Ministerpräsidentin angesprochen wird und Arbeitskonflikte dann „zu- G.I.B.INFO 4 13 ständigkeitshalber“ an mich weitergeleitet werden. Zu meinen Aufgaben gehört primär die Schlichtung von Tarifkonflikten, also Firmen-, Branchen- und Sanierungstarifverträge. Zu meinen weiteren Aufgaben gehört die Moderation von Betriebskonflikten im Vorfeld teurer Arbeitsgerichtsverfahren sowie von Einigungsstellen, deren Vorsitz ich mitunter auch selbst übernehme. Weiterhin bin ich zuständig für die sogenannten vermittelnden Gespräche zwischen den Gewerkschaften und den Geschäftsführungen der Betriebe, zum Beispiel bei Maßnahmen der regionalen Wirtschaftsförderung, wenn es um Investitionszuschüsse oder um Landesbürgschaften geht oder wenn die Gewerkschaften vermuten, dass gegen Arbeitnehmerrechte verstoßen wird. Die große Kontinuität im Amt beweist, dass Landesschlichter bei den Sozialpartnern großes Vertrauen besitzen, die deshalb auf einen Fortbestand dieser Institution drängen. Hinzu kommt, dass ich den Vorsitz im Tarifausschuss NRW für die Allgemeinverbindlichkeitserklärungen (AVE) von Tarifverträgen innehabe sowie die Geschäftsführung für die beratenden Ausschüsse nach dem Tariftreuegesetz in NRW, das am 1. Mai 2012 in Kraft getreten ist. Es sorgt dafür, dass es bei der 47 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE LMR Bernhard Pollmeyer, Landesschlichter NRW und Leiter des Tarifregisters NRW Vergabe öffentlicher Aufträge nicht zu Lohndumping und Schmutzkonkurrenz zwischen den Wettbewerbern kommt, sondern die vorgegebenen 8,62 Euro tatsächlich gezahlt werden, eine Summe, über deren Anpassung eine paritätisch aus Arbeitgebern und Gewerkschaften zusammengesetzte Kommission jährlich neu diskutiert. Neben der Geschäftsführung hier habe ich auch die Geschäftsführung bei dem paritätisch besetzten Ausschuss, der die repräsentativen Tarifverträge im öffentlichen Personennahverkehr festlegt. Hinzu kommt noch die Leitung des Tarifregisters NRW. G.I.B.: Gerade in dieser Funktion dürften Sie den Überblick darüber haben, in welchen Branchen schon lange kein neuer Tarifvertrag mehr abgeschlossen worden ist? Wo sind die weißen Flecken, wo wären Neuregulierungen besonders nötig? Bernhard Pollmeyer: Tatsächlich gibt es Wirtschaftszweige, in denen es noch nie eine Tarifbindung gegeben hat, und andere, in denen Tarifparteien schon lange nichts Neues mehr ausgehandelt haben, – so etwa im Taxigewerbe, in der Freizeit- und Wellness-Industrie, die sich bisher noch gar nicht richtig organisiert hat, also Freizeitparks, Kinos, Fitnesscenter, Kosme- Wir verzeichnen tatsächlich einen Trend weg von den klassischen Branchentarifvertragsschlichtungen hin zur betrieblichen Ebene. tik und Sonnenstudios, Videotheken sowie Arbeiten bei Sportanlagen – ein Bereich ohne jegliche Tarifbindung. Auch im Berufsfeld der Augenoptiker gibt es seit vielen Jahren keinen neuen Branchentarifvertrag. Gleiches gilt für Zahntechnikerwerkstätten, die Fleischwarenindustrie und die Callcenter, wo lediglich vereinzelte Firmentarifverträge zu finden sind. Aber genauso besorgniserregend sind die zurückgehende Tarifbindung sowie die Erosionen in Bereichen, 48 in denen zwar noch ein Tarifvertrag besteht, der aber immer weniger Anwendung findet, wo also die Tarifverbindlichkeit schrumpft. G.I.B.: Gibt es hinsichtlich der rückläufigen Tarifbindung Unterschiede zwischen NRW und dem Rest der Republik? Bernhard Pollmeyer: Ja! Die Tarifbindung – festgemacht an der Zahl der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben – ist in NRW in den letzten zehn Jahren leider von 72 auf 64 Prozent zurückgegangen, während sie in Westdeutschland in diesem Zeitraum sogar von 70 auf nunmehr 60 Prozent gesunken ist. Nachdem wir in NRW 2011 schon mal bei 63 Prozent lagen, könnte man bei gegenwärtig 64 Prozent von einer gewissen Stabilisierung sprechen, doch insgesamt ist es eine problematische Entwicklung. G.I.B.: Können Sie den Eindruck bestätigen, dass es eine Entwicklung weg von tariflichen hin zu betrieblichen Konflikten gibt? Bernhard Pollmeyer: Ja, wir verzeichnen tatsächlich einen Trend weg von den klassischen Branchentarifvertragsschlichtungen hin zur betrieblichen Ebene. Das betrifft auch Sanierungsbetriebsverträge in Unternehmen, die sich in wirtschaftlicher Notlage befinden und wo es darum geht, Arbeitnehmerverzichte auszuhandeln, um Investitionen zu ermöglichen und Arbeitsplätze am Standort zu erhalten, gleichzeitig aber auch zu klären, wie diese Arbeitnehmerbeiträge bei verbesserter wirtschaftlicher Situation des Unternehmens wieder zurückfließen. Auf der anderen Seite stelle ich fest, dass im Zuge des zunehmenden Fachkräftebedarfs das Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer/-innen gerade in KMU wieder wächst und die Konflikte um Einkommens- und Arbeitsbedingungen vor allem in den Bereichen zunehmen, in denen staatliche Aufgaben privatisiert worden sind, wie zum Beispiel in Krankenhäusern, an Flughäfen oder im öffentlichen Personennahverkehr. G.I.B.: Ihre erfolgreiche Schlichtung des Konflikts an Flughäfen in diesem Jahr fand ein starkes Medienecho. G.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE Bernhard Pollmeyer: Ja, das war die Schlichtung eines intensiven Arbeitskampfs mit gravierenden Auswirkungen an den Flughäfen Köln, Düsseldorf und Hamburg. Die Arbeitgeber kamen zunächst auf mich zu, doch schließlich hat auch ver.di der Schlichtung zugestimmt. Im Frühjahr haben wir einen neuen Tarifvertrag nicht nur für die Fluggastkontrolleure verhandelt und eine Verständigung für den privaten Sicherheitsdienstleistungsbereich in NRW mit 35.000 Beschäftigten erzielt, sondern im Anschluss daran auch für die Fluggastkontrolleure in Hamburg. Offen gestanden bin ich stolz darauf, dass wir ab 1. Januar im Sicherheitsgewerbe in NRW als untersten Lohn neun Euro für Objektschutzmitarbeiter/-innen aushandeln konnten. Die Schlichtung bei diesem neuen Flächentarifvertrag, der für allgemeinverbindlich erklärt worden ist, war wirklich eine sehr schwierige Auseinandersetzung. Eine weitere interessante Schlichtung – diesmal nicht auf Branchen-, sondern auf betrieblicher Ebene – ist die für eine Servicegesellschaft für Krankenhäuser im Kreis Lippe mit mehr als 300 Beschäftigten. Dort ging es um einen Firmentarifvertrag in einem Unternehmen, das die Reinigungsarbeit in Krankenhäusern, aber auch die vom Krankenhaus outgesourcten Serviceaufgaben für Patienten übernimmt. Ursprünglich gab es gar keine Tarifbindung, doch später hat man sich an die Tarife des Gebäudereinigerhandwerks angelehnt, womit aber die Aufgaben der Patientenversorgung nicht abgedeckt waren. Hier haben wir es im Rahmen einer Schlichtung mit beiden Parteien geschafft, die Löhne für die Servicekräfte von vorher 9 auf 10 Euro 60 anzuheben – ein erheblicher Lohnzuwachs, der jedoch der Aufgabenstellung auch gerecht wird. G.I.B.: Können Tarifverhandlungen mit anschließenden Tarifverträgen den wachsenden Niedriglohnbereich eingrenzen? Bernhard Pollmeyer: Seit 2004 geben wir im Auftrag des Arbeitsministeriums NRW den sogenannten Tarifspiegel heraus, der aktuell unter anderem Tarifverträge und Tariflöhne mit Löhnen unter 8,50 Euro aus- G.I.B.INFO 4 13 weist. Seitdem ist eine positive Entwicklung gerade in diesen Bereichen nachweisbar, weil die Sozialpartner versuchen, nach und nach die Tarife über bestimmte Schwellenwerte anzuheben. Ein gutes aktuelles Beispiel dafür ist das Friseurhandwerk, das vor fünf, sechs Jahren auch mal eine Zeitlang tariflos war und jetzt kurzfristig die 8-Euro-50-Grenze überschreitet, versehen mit einer allgemeinen Verbindlichkeitserklärung (AVE) der beiden Sozialpartner. G.I.B.: Wie ist es gelungen, in NRW im Friseurhandwerk eine AVE durchzusetzen? Bernhard Pollmeyer: Daran kann ich mich gut erinnern, denn die damalige Tarifrunde durfte ich selbst schlichten. Mehrere Jahre lang gab es in dieser Bran- Ich stelle fest, dass im Zuge des zunehmenden Fachkräftebedarfs das Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer/-innen gerade in KMU wieder wächst und die Konflikte um Einkommensund Arbeitsbedingungen zunehmen. che einen tariflosen Zustand. Die Arbeitgeber wollten damals die Arbeitszeiten verlängern, doch die Gewerkschaften sprachen sich dagegen aus. In der Folge wurden die Tarifverträge gekündigt und eine Tarifeinigung kam nicht zustande. Doch im weiteren Verlauf haben die Arbeitgeber offensichtlich festgestellt, dass ohne eine Tarifbindung in dieser Branche die Schmutzkonkurrenz an Einfluss gewinnt. Das hat ihre Bereitschaft für eine Verständigung erhöht, sodass ein Tarifvertrag abgeschlossen und eine Tarifbindung erzielt werden konnten. Beide Parteien haben gleichzeitig die AVE dieses Tarifvertrags beantragt, um Schmutzkonkurrenz und unlauteren Wettbewerb zu vermeiden, also: Kein Wettbewerb über den Lohn! Erste Voraussetzung für eine AVE also ist, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften einen Tarifvertrag ab- 49 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE schließen und eine der Parteien formal den Antrag auf AVE stellt. Wenn die andere Seite das nicht will, ist es schwierig, im paritätisch besetzten Tarifausschuss beim Arbeitsministerium eine Mehrheit dafür zu finden. Wenn der Ausschuss aber den Antrag befürwortet, kann der Arbeitsminister die AVE erklären. Er kann ihn aber auch etwa mit Hinweis auf eine Kartellbildung ablehnen, was jedoch bis jetzt noch nicht vorgekommen ist. Anders als beim Arbeitnehmerentsendegesetz, wo das über eine Rechtsverordnung des Bundesarbeitsministeriums möglich ist, kann er jedoch nicht einseitig gegen das Votum des Tarifausschusses die AVE erklären. Wenn man das Instrument zustande bekommt, kann man damit Niedriglöhne in jeder Branche abwehren. Das Problem ist jedoch, zu einer AVE zu kommen. Dazu müssen in der Branche 50 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden sein, doch das ist heute eine Seltenheit. Außerdem müssen Sie eine Mehrheit im Tarifausschuss haben. Die Fleischwarenindustrie zeigt ja, dass die Bereitschaft der Akteure steigt, vom Schmuddelimage wegzukommen, wenn sich Politik und Medien diesen problematischen Entwicklungen widmen. G.I.B.: Ist die AVE also ein Schönwetterinstrument, das nur in Branchen funktioniert, in denen die Welt noch halbwegs in Ordnung ist? Bernhard Pollmeyer: Da ist was dran. Deshalb gab es Anfang des Jahres im Bundestag auch eine Anhörung mit Experten zur Frage nach der Notwendigkeit einer Reform des Instrumentariums AVE. Nach Auffassung der einen ist das 50-Prozent-Quorum wegen der rückläufigen Tarifbindung nicht mehr zeitgemäß. Alternativ schlagen sie eine Orientierung an Tarifverträgen vor, die für eine Branche repräsentativ sind, so wie etwa der Tarifvertrag zwischen Einzelhandelsver- 50 band und ver.di im Einzelhandel, wo die Tarifbindung bei gerade mal 30 Prozent liegt. Aber das ist eine politische Debatte, deren weiteren Verlauf in der neuen Legislaturperiode wir abwarten müssen. G.I.B.: Speziell im Hinblick auf die Landesinitiative „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“ mit ihrem Ziel „auskömmliche Löhne“: Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen, um diese tariflosen Zustände zu beenden? Bernhard Pollmeyer: Die Fleischwarenindustrie zeigt ja, dass die Bereitschaft der Akteure steigt, vom Schmuddelimage wegzukommen, wenn sich Politik und Medien diesen problematischen Entwicklungen widmen. Das ist beim Thema Leiharbeit nicht anders gewesen. Politische Aufgabe ist es, auf die Akteure zuzugehen und zunächst für Transparenz zu sorgen. AVE sind in diesem Zusammenhang ein wirksames Instrument, wie in diesem Jahr das Gaststättengewerbe als positives Beispiel in NRW zeigt. Hier gelten seit dem 1. September die 8,50 Euro in der untersten Entgeltgruppe für einfache Tätigkeiten nach einer bestimmten Einarbeitungszeit, in der Anlerntätigkeitsgruppe, sogar 8,88 Euro, in der Wach- und Sicherheitsgewerbe ab 1. Januar 2014 und im Friseurgewerbe, dem dritten AVE-Bereich, auch die 8,50 Euro ab nächstem Jahr. Wichtig aber ist, dass mit der AVE, die Gesetzescharakter hat, der einzelne Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch auf einen Mindestlohn erhält. Wer dagegen verstößt, muss als Arbeitgeber damit rechnen, später Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen zu müssen oder wegen eines Straftatbestands belangt zu werden. Arbeitnehmer, die vermuten, ihr Arbeitgeber zahle ihnen sittenwidrige Löhne, können sich übrigens auf unserer Homepage unter der Rubrik „Aus der Rechtsprechung“ informieren. Dort finden sich höchstrichterliche Urteile des BGH, die besagen, dass es sich um einen sittenwidrigen Lohn handeln könnte, wenn ein auffälliges Missverhältnis besteht zwischen der Vergütung und dem ortsüblichen und G.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE tariflichen Entgelt. Dann kann man die Tarifdaten zu den Ecklöhnen oder die in der Branche nach der Ausbildung vorgesehene Entlohnung mit dem eigenen Lohn vergleichen und so einen Anhaltspunkt für eine etwaige Sittenwidrigkeit erhalten. G.I.B.: Haben die AVE in NRW Auswirkungen auf Bundesebene? Bernhard Pollmeyer: Ja, für den Bereich des Gaststättengewerbes kann man das sagen. Da ist es uns 2006 zum ersten Mal gelungen, die beiden untersten Entgeltgruppen allgemeinverbindlich zu erklären. Mittlerweile ist es auch in Niedersachsen zu einer AVE gekommen, denn unser Erfolg hat Wellen geschlagen im politischen Bereich. Tarifverträge für Friseure sowie für das Wach- und Sicherheitsgewerbe sind auch in anderen Bundesländern allgemeinverbindlich. G.I.B.: Was muss oder kann Politik tun, um die weitere Ausweitung des Niedriglohnsektors zu stoppen? Bernhard Pollmeyer: Ich bitte um Verständnis, dass ich hier kein politisches Statement abgeben kann und möchte, weil das Thema auch zwischen den Sozialpartnern umstritten ist. Ich kann aber so viel sagen: Zentral bleibt die Stärkung der Sozialpartner, indem Beschäftigte den Gewerkschaften beitreten und Unternehmen sich in Arbeitgeberverbänden organisieren und diese beiden Parteien die Arbeits- und Einkommensbedingungen untereinander regeln. Dazu gehört auch, dass wieder mehr Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zustande kommen. DAS INTERVIEW FÜHRTEN Manfred Keuler Tel.: 02041 767-152 E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de G.I.B.: Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnet für NRW 900.000 sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte unterhalb der Niedriglohnschwelle. Wie definieren Sie diese Schwelle und in welchen Branchen sind Niedriglöhne besonders stark verbreitet? Bernhard Pollmeyer: Nach den Berechnungen und Auswertungen des Institutes für Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen (IAQ) gelten in NRW zwei Drittel des jeweiligen mittleren Stundenlohns als Niedriglohnschwelle. In Westdeutschland sind das 9,54 Euro. Wir haben aber eine andere Zahl vom Statistischen Bundesamt, in die Überstunden und Zuschläge in die Berechnung eingehen, nämlich 10,36 Euro. Branchen mit hohem Anteil an Niedriglöhnen sind der Einzelhandel, Gastgewerbe, Leiharbeit, Friseurgewerbe, Wäschereien, Taxifahrer, Callcenter, Bäckereigewerbe, Hausmeisterdienste sowie sonstige persönliche Dienstleistungen. Ich habe mir das ausrechnen lassen für den Stundenlohn von 9 Euro acht. Das wird aller Voraussicht nach ab Januar 2014 der Mindestlohn nach dem Tariftreuegesetz in NRW sein. Danach lägen 680.000 Arbeitnehmer in NRW mit ihrem Verdienst unterhalb dieser Schwelle, bei 10,36 Euro wären es 880.000 Arbeitnehmer in NRW, die weniger verdienen. G.I.B.INFO 4 13 Arnold Kratz Tel.: 02041 767-209 E-Mail: a.kratz@gib.nrw.de KONTAKT Bernhard Pollmeyer Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes NRW Der Landesschlichter Fürstenwall 25 40219 Düsseldorf Tel.: 0211 8553362 E-Mail: bernhard.pollmeyer@mais.nrw.de 51 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE „Die Entschlossenheit der Foto: Daniel Naupold (c) dpa Beschäftigten war enorm“ Andrea Becker, vormals Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur, leitet beim Landesbezirk NRW der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) den Fachbereich „Die Besonderen“. Zuständig ist der Fachbereich etwa für die „Callcenter“, eine Branche ohne Tarifbindung, oder die „Technische Überwachung“, eine Branche mit – nach Ansicht der Gewerkschafterin – „durchaus guten Tarifverträgen“, aber auch das Touristik-Gewerbe, die Immobilienwirtschaft sowie das Wach- und Sicherheitsgewerbe. Hier hat die Gewerkschaft ver.di im April 2013 in einem bundesweit beachteten Tarifkonflikt und nach einem harten Streik beachtliche Lohnerhöhungen für die Beschäftigten durchgesetzt. 52 G.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE Andrea Becker, ver.di G.I.B.: Frau Becker, mit dem Streik im Wach- und Sicherheitsgewerbe an Flughäfen haben Sie in diesem Jahr für Schlagzeilen gesorgt. Was sind aus Ihrer Sicht die besonderen Merkmale der Branche, was zeichnet sie aus? Andrea Becker: Um die Branche zu verstehen, muss man wissen, wie sie entstanden ist, nämlich dadurch, dass viele Arbeitgeber den Bereich der Sicherheit ausgegliedert, also outgesourct haben, um ihn billiger zu machen. Das Markenzeichen der Wach- und Sicherheitsbranche ist: „Wir sind die Billigen und wir wollen auch billig sein, denn sonst übernehmen unsere Auftraggeber den Job wieder selbst.“ Das heißt: In unseren Tarifverhandlungen sitzt virtuell der Kunde mit am Tisch. Wir haben es hier mit einem Dreiecksverhältnis zu tun zwischen den Arbeitgebern im Wach- und Sicherheitsgewerbe, ihren Kunden und uns. Der Konflikt, in dem wir dabei stehen, liegt darin, dass die Löhne schon deshalb gedrückt werden, damit die Betriebe des Wach- und Sicherheitsgewerbes ihren Kunden ein günstiges Angebot machen können. Ein weiteres Merkmal der Branche ist, dass sie geprägt ist von vielen prekären Arbeitsverhältnissen sowie einem hohen Anteil an befristet Beschäftigten und Niedriglöhnern. Nicht wenige der Beschäftigten kommen nur deswegen mit ihrem Einkommen einigermaßen klar, weil sie mehr als 200 Arbeitsstunden im Monat leisten. Und last but not least gilt nicht nur für einzelne Arbeitgeber, sondern fast für die gesamte Branche: Es mangelt an Wertschätzung der hier agierenden Arbeitgeber gegenüber ihren Beschäftigten. In dieser Branche herrschen Ausbeutungsstrukturen. G.I.B.: Zugespitzt hat sich die diesjährige Tarifrunde für das Sicherheitsgewerbe an den Flughäfen in Nordrhein-Westfalen. In Düsseldorf und Köln kam es zu Arbeitskämpfen. Wie war die Ausgangssituation für die hier Beschäftigten zu Beginn der Tarifrunde? Andrea Becker: An den Flughäfen haben wir überwiegend Beschäftigte mit befristeten 120-StundenArbeitsverträgen, wohingegen die Regelarbeitszeit bei Vollzeitbeschäftigten 160 oder 170 Stunden umfasst. Diese 120 Stunden verteilen sich aber auf sieben Tage G.I.B.INFO 4 13 pro Woche und rund um die Uhr. Das bedeutet für die Beschäftigten geteilte Dienste mit einem Arbeitszeitbeginn etwa von drei oder vier Uhr morgens bis tief in die Nacht. Passagierkontrolleure etwa haben kaum die Möglichkeit, mal Pause zu machen oder zur Toilette zu gehen. Der Grund: Das Personal wird aufgrund zuvor von den Flughafenbetreibern erhobener Kundenströme eingesetzt und sieht sich im Arbeitsalltag ständig mit einer hohen Taktzahl konfrontiert. Viele Flughafenbeschäftigte schilderten mir, dass aufgrund der oft kurzfristig angesagten Verteilung ihrer Arbeitszeiten auf die Woche und Tage ihr Privatleben nicht planbar sei und dass ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie kaum mehr gelinge. Sie sagten: Unser Privatleben findet in Facebook statt, etwas anderes ist nicht mehr möglich. Hinzu kam, dass sich dort – unterstützt durch die Arbeitgeberseite, die sich so vermutlich den Abschluss billigerer Tarife erhoffte – die Deutsche Polizeigewerkschaft breitmachen wollte, obwohl sie gar nicht tarifzuständig ist. Das haben wir aber geklärt. Das Betriebsklima sowohl in Köln als auch in Düsseldorf war sehr stark angespannt, Konflikte zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern alltäglich. Von den Beschäftigten hörten wir: Wir haben nichts mehr zu verlieren, diese Bedingungen akzeptieren wir nicht länger, jetzt ist Schluss! Wir wollen jetzt höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Die Entschlossenheit der Beschäftigten an den Flughäfen in Düsseldorf und Köln war natürlich eine günstige Voraussetzung für die tariflichen Auseinandersetzungen und für unsere gemeinsam mit den Betriebsräten entwickelte Strategie zur Begrenzung der Befristungen, zur Erhöhung der Stundenzahl in den Verträgen und vor allem zur Erhöhung der Löhne. Das war die Ausgangslage an den Flughäfen. Im Bewachungsgewerbe sah die Situation ein wenig anders aus. Hier beklagten sich die Betriebsräte über die viel zu geringen Lohnerhöhungen der letzten Jahre. Zu Recht, denn dabei handelte es sich um Beträge von lediglich acht oder fünfzehn Cent pro Stunde. Damit konnten die Beschäftigten ihre Existenz immer noch nicht ausreichend sichern. Wir haben sofort reagiert 53 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE und gesagt: Okay, wir hören die Signale, aber wir brauchen euch dazu! So entstand eine für Tarifrunden ungewöhnliche Aufbruchstimmung und eine hohe Erwartungshaltung der Beschäftigten sowie eine große Bereitschaft, dafür auch etwas zu tun. G.I.B.: Eine der Forderungen lautete: Ein Lohn muss zum Leben reichen! Das heißt, Sie haben die Niedriglohndebatte mit der Tarifrunde verknüpft. Zudem haben Sie mit einer auch aus gewerkschaftlicher Sicht ungewöhnlich hohen Forderung von 30 Prozent Lohnsteigerung für Aufsehen gesorgt. Wie kam es dazu? Andrea Becker: Wir haben zuvor ausführlich mit den Beschäftigten diskutiert und ihre Auffassung war nachvollziehbar. Sie sagten: Wenn wir aus diesen niedrigen Löhnen herauskommen wollen, dann reichen die üblichen kleinen Lohnanhebungen nicht! Wir haben gemerkt, dass der Druck in den Betrieben an den Flughäfen Köln und Düsseldorf extrem groß war. Das hat unsere Entscheidung erleichtert. Unsere gewerkschaftlichen Forderungen orientieren sich immer an drei Faktoren: Erstens an der Inflationsrate. Wenn sie ausgeglichen ist, sind die Beschäftigten immerhin bei plus/minus null. Zweitens am Produktivitätszuwachs, der durchaus – wenn auch im Dienstleistungsbereich nicht immer leicht – messbar ist. Der dritte Faktor betrifft das Thema „Umverteilung“, ein Aspekt, der in den Tarifabschlüssen der letzten Jahre kaum berücksichtigt worden ist. Uns war klar, dass wir mit marginalen Lohnerhöhungen früherer Tarifrunden nie weiterkommen und immer deutlich hinter anderen Branchen mit Stundenlöhnen von 20 Euro zurückbleiben. Da wir aber die politische Forderung, aus dem Niedriglohnsektor herauszukommen, unterstützen wollten, war es eine logische Konsequenz, den Tarifvertrag als Hebel zu nutzen, um höhere Löhne durchzusetzen. Die 30-Prozent-Forderung war also ernst gemeint und verknüpft mit einer poli54 tischen Forderung: Wir haben den Arbeitgebern gesagt: Ihr produziert Armut und das wollen wir nicht mit unterschreiben! Die Höhe der Forderung war auch innergewerkschaftlich etwas Neues und hat hier und da zu Irritationen geführt. Aber wir wussten ja, dass es den Mitgliedsunternehmen des Bundesverbands der Sicherheitswirtschaft (BDSW) möglich war, die aufgrund der Lohnerhöhungen steigenden Preise gegenüber ihren Kunden durchzusetzen, denn die unterste Lohngruppe ist ja für allgemeinverbindlich erklärt worden, sodass es zwischen den Betrieben nicht zu einem Unterbietungswettbewerb kommen konnte. Diese unterste Lohngruppe war uns besonders wichtig. Nach Berichten unserer Betriebsräte – das haben die Arbeitgeber immer bestritten – sind rund 70 Prozent der Beschäftigten im Wach- und Sicherheitsgewerbe in der untersten Lohngruppe verortet. Eine Lohnerhöhung diese Kollegen und Kolleginnen, so viel war klar, würde den Großteil des Gesamtvolumens ausmachen. G.I.B.: Wie haben die Arbeitgeber auf die prozentual ungewöhnlich hohen Lohnforderungen reagiert? Andrea Becker: Als wir ihnen die Forderung eröffneten, sind sie fast ins Koma gefallen, aber wir waren von der Berechtigung der Forderung völlig überzeugt, denn Forderungen von lediglich vier Prozent auf 8,15 Euro hätten wieder nur die typischen Cent-Beträge ergeben. Anfangs wussten sie offensichtlich nicht, ob sie das wirklich ernst nehmen sollten. Hinzu kam, dass ich erst seit zwei Jahren diesen Fachbereich in ver.di leite und mich die Arbeitgeber als eine ihnen unbekannte Verhandlungsführerin möglicherweise nicht richtig einschätzen konnten. Andererseits haben sie schon aufgrund der Forderung gemerkt, dass im diesjährigen Tarifkonflikt mehr Dampf vorhanden ist als früher. Sie kennen ja die Zustände in ihren Betrieben und haben deshalb folgerichtig bereits in ihrem ersten Angebot deutlich mehr angeboten, als in vorherigen Tarifrunden als Ergebnis herauskam. Sie boten gleich 40 Cent mehr, wohingegen frühere Abschlüsse ein Plus von gerade mal acht bis fünfzehn Cent verzeichneten. G.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE Sie versuchten uns einzureden, dass 40 Cent ein tolles Ergebnis wäre, das wir unseren Mitgliedern leicht verkaufen könnten. Aber wir haben gesagt: Nein, das reicht uns nicht! Erst nach der zweiten Verhandlungsrunde haben sie gemerkt, dass ein anderer Wind wehte und dass wir uns nicht vorschnell auf irgendwelche Kompromisse einlassen würden, sondern unsere Stärke und die Entschlossenheit der Beschäftigten in dieser Tarifrunde nutzen wollten. Dann wurde die Tonart rauer in den Verhandlungen, es folgten öffentliche Angriffe auf meine Person, nach dem Motto: Die ist neu hier und versteht noch nicht, wie das bei uns läuft. Außerdem haben sie darauf gesetzt, dass ein Arbeitskampf gerade mal einen Streiktag dauern würde, aber darin hatten sie sich getäuscht. G.I.B.: Das Wach- und Sicherheitsgewerbe ist eine heterogene Branche. Nicht alle Beschäftigten arbeiten in großen Belegschaften, viele sind vereinzelt an ihren Einsatzstätten tätig. Sie für einen Arbeitskampf zu gewinnen, dürfte weitaus schwieriger gewesen sein. Andrea Becker: Ja, das war uns bewusst. Bevor man in so eine Auseinandersetzung geht, muss man sich über die eigene Stärke im Klaren sein, doch so richtig weiß man das erst, wenn man sich bereits in einer Auseinandersetzung befindet. Für uns war der Streik Neuland, Erfahrungen lagen nicht vor. Insofern gab es schon eine Unsicherheit auf unserer Seite. Andererseits haben wir gemerkt, dass der Druck in den Betrieben an den Flughäfen Köln und Düsseldorf extrem groß war. Das hat unsere Entscheidung erleichtert. Die Bewachungsbereiche waren für uns das Experimentelle in diesem Arbeitskampf. Beschäftigte im Wachdienst arbeiten in der Tat oft vereinzelt an konkreten Objekten wie etwa dem RWE-Tower. Hier identifiziert sich das Wachpersonal vielleicht sogar stärker mit RWE als mit seinem Arbeitgeber. Zu diesen Beschäftigten haben die Betriebsräte meist nur wenig Kontakt. Insofern herrscht hier eine ganz andere Situation und Streiks sind schwierig zu organisieren. Und dennoch: In der ersten Streikversammlung waren 200 Menschen anwesend. Ihnen habe ich gesagt: Ihr seid wirklich die Helden! Denn sie hatten noch am MorG.I.B.INFO 4 13 gen desselben Tages von ihren Arbeitgebern zu hören bekommen: Du kriegst eine Abmahnung, du kannst dir einen neuen Job suchen, du kriegst dein Objekt entzogen. Sie haben richtig Prügel bezogen in ihren Betrieben, weil sie an dem Tag zu uns gekommen sind, und hatten in der Folge mit Repressalien zu kämpfen. Wir bereiten uns auch in diesem Bereich auf eine größere Aktionsfähigkeit vor. Mir hat das gezeigt, dass mittlerweile der Niedriglohn bzw. das Thema in der Mitte der Gesellschaft, in allen Familien, angekommen ist. G.I.B.: Wie lange genau liefen die Tarifauseinandersetzungen? Andrea Becker: Die Tarifauseinandersetzungen begannen im Dezember letzten Jahres und endeten in der zweiten Schlichtungsrunde Anfang April dieses Jahres. Insgesamt gab es fünf Verhandlungen und 13 Streiktage. Die Arbeitgeberseite wollte schon nach der zweiten Verhandlungsrunde in die Schlichtung gehen, aber wir haben uns dem verweigert mit dem Argument: In Deutschland verhandeln Tarifparteien so lange, bis sie an einen Punkt kommen, wo offensichtlich nichts mehr geht. Aus unserer Sicht war dieser Punkt noch nicht erreicht. Wir haben auf weiteren Verhandlungen bestanden und zu verstehen gegeben, dass wir in Sondierungsgespräche einsteigen wollen, haben mehrere Brücken gebaut, um aus unserer Sicht einen Kompromiss finden zu können. Doch auf der Gegenseite gab es keine Bereitschaft, und zwar auch deshalb nicht, weil der NRW-Tarifvertrag die Vorlage für alle bis 2014 noch anstehenden Tarifrunden in den anderen Landesbezirken ist und die Arbeitgeber in unserem Bezirk nicht mit besonders hohen Lohnsteigerungen vorpreschen wollten. Das war teilweise eine verfahrene Situation. G.I.B.: Das mediale Interesse an dem Streik war groß. Wie haben die vom Streik unmittelbar betroffenen Fluggäste reagiert? 55 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE Andrea Becker: Über deren Reaktion war ich absolut erstaunt und sie hat gewiss auch mit der Niedriglohndebatte zu tun, die wir seit vielen Jahren in Deutschland führen. Zum einen waren viele Fluggäste stocksauer und manche haben das auch verbal zum Ausdruck gebracht. Dafür habe ich vollstes Verständnis, denn ich weiß, was es bedeutet, in den Urlaub fliegen zu wollen und der Flieger geht nicht – und dann auch noch, weil andere mehr Geld haben wollen. Zu körperlichen Übergriffen aber ist es nicht gekommen, obwohl wir morgens in den Flughäfen Düsseldorf und Köln präsent waren. Wir haben uns also nicht davor gedrückt und auch intensiv mit den Fluggästen gesprochen. Die Debatte um den gesetzlichen Mindestlohn ist wichtig, aber genauso entscheidend ist die Frage, was wir über unsere eigenen Instrumente, die Tarifverträge, erreichen können. Die zweite Botschaft der Fluggäste – und da gab es nur wenige Ausnahmen – war aber eine ganz andere. Sie sagten: Trotz dieser momentanen Widrigkeiten kann ich euch verstehen. Mir hat das gezeigt, dass mittlerweile der Niedriglohn bzw. das Thema in der Mitte der Gesellschaft, in allen Familien, angekommen ist. Trotz Beeinträchtigungen gab es also für den Streik auch unter den Fluggästen ein großes Verständnis. G.I.B.: Welche Ergebnisse haben Sie mit Ihren Verhandlungen und mit dem Streik erreicht? Andrea Becker: Der wichtigste Eckpunkt des Tarifergebnisses ist die Steigerung der Stundenlöhne in der untersten Lohngruppe im Bewachungsgewerbe um 10,43 Prozent auf neun Euro. Die weiteren Steigerungsraten in den anderen Lohngruppen der Bewachung liegen zwischen sieben und zehn Prozent. An den Flughäfen waren das 18 Prozent im Bereich der Passagierkontrolleure und 22 Prozent im Bereich der Frachtkontrolleure. Deutliche Steigerungsraten sind auch in den Bereichen 56 Aviation und Werkfeuerwehr zu verzeichnen sowie mit sieben Prozent bei den Azubi-Vergütungen. Darüber hinaus gab es eine Korrektur der Übergangsregelung für die Kontrollschaffner mit einer Erhöhung der Löhne um 36,36 Prozent auf 12,90 Euro. G.I.B.: Sind die hohen Steigerungsraten für die Unternehmen überhaupt verkraftbar? Könnten sie nicht zumindest in Einzelfällen sogar zu Betriebsschließungen führen? Andrea Becker: Da hatte ich keine Sorgen, denn im Bewachungsgewerbe werden die Kosten an die Kunden weitergereicht Mit der Lohnsteigerung um zehn Prozent im Bewachungsgewerbe sind die Dienstleis tungen der hier tätigen Firmen immer noch deutlich billiger, als wenn deren Kunden den Part selbst übernähmen und die Leute nach ihrem eigenen Tarif bezahlen müssten. Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt: Auftraggeber an den Flughäfen ist das Bundesinnenministerium. Beschäftigte der beauftragten Firmen, die an den Flughäfen in der Passagierkontrolle arbeiten, sind sogenannte Beliehene, weil dieser Tätigkeitsbereich eigentlich eine Aufgabe des Bundes ist, der aber – abgesehen von deutschlandweit rund 300 Bundespolizisten – diesen Job ausgelagert hat. Der Bund aber kann die erzielten Lohnerhöhungen gewiss verkraften. Pleiten gab es in der Folge der Lohnerhöhungen jedenfalls nicht. Dem beugt auch die Allgemeinverbindlichkeit für die unterste Lohngruppe vor, was bedeutet, dass alle Unternehmen, egal ob sie im Verband sind oder nicht, diesen Lohn zahlen müssen. Außerdem ist das Bewachungsgewerbe eine Wachstumsbranche, weil immer mehr Betriebe diesen Bereich ausgelagert haben. G.I.B.: Welche Rolle spielte der Landesschlichter beim Zustandekommen der Verhandlungsergebnisse? Andrea Becker: Die Arbeitgeberseite hatte Bernhard Pollmeyer als Arbeitsschlichter vorgeschlagen und wir haben uns damit einverstanden erklärt. Bei den anschließenden Verhandlungen ging es bis tief in die Nacht wirklich zur Sache. Man muss bedenken: Einen Streik wie diesen hatte es in der Branche zuvor noch nicht gegeben und es war schwierig, sachlich KomG.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE promisse auszuloten. In einer solchen Situation ist ein Schlichter Gold wert und ich muss sagen: Bernhard Pollmeyer hat wirklich gute Arbeit geleistet! Beide Seiten haben Zugeständnisse gemacht. So hätten wir uns für den Bewachungsbereich noch stärker steigende Löhne gewünscht, denn auch von neun Euro pro Stunde kann man nicht richtig gut leben und viele kommen auch bei dieser Summe noch in den Bereich von Aufstockung, aber es ist ein deutlicher, um das Dreifache stärkerer Anstieg als sonst und insofern vom Ergebnis her okay. So wichtig der Schlichter war: Erst die Mitgliederbefragung und der anschl. Beschluss der Tarifkommission haben den Streik beendet. Die Mitglieder haben mit 87,04 Prozent für die Annahme des Schlichterspruchs votiert. In der aufgeheizten Situation wollten manche lieber noch weiterstreiken, aber das Ergebnis zeigt, dass die deutliche Mehrheit zufrieden gewesen ist. Erkennbar ist das auch daran, dass wir in der Branche 500 neue Mitglieder gewonnen haben und dieser Trend setzt sich weiter fort. Beteiligung in Tarifrunden ist mir ein besonders wichtiges Anliegen. auslaufen, erwarte ich ebenfalls eine Signalwirkung. Die anderen Landesbezirke haben sich abgestimmt, und ich bin gespannt, ob wir auch da andere Marken erreichen als bisher. Zudem haben wir innergewerkschaftlich eine Diskussion ausgelöst, bei der es um die Frage geht, ob unsere Forderungen nicht deutlich höher sein müssten, um schneller aus dem Niedriglohnsektor rauszukommen. Die Debatte um den gesetzlichen Mindestlohn ist wichtig, aber genauso entscheidend ist die Frage, was wir über unsere eigenen Instrumente, die Tarifverträge, erreichen können. Doch es gibt noch eine weitere Lehre aus diesem Arbeitskampf: Es gibt für Beschäftigte eine Perspektive, es gibt ein Instrument, an ihrer Situation etwas zu verändern, und zwar dann, wenn sie sich in einer Gewerkschaft organisieren. Die im Grundgesetz Artikel 9 verankerte Möglichkeit, sich in Gewerkschaften zu vereinen, um gemeinsam eigene Interessen zu vertreten, kann dafür sorgen, die eigene Existenz besser abzusichern und sich und die eigene Familie auch ernähren zu können. DAS INTERVIEW FÜHRTEN Manfred Keuler G.I.B.: Was meinen Sie: Haben die Ergebnisse des Tarifkonflikts Signalwirkung für die Gesamtbranche? Andrea Becker: Auf jeden Fall, das ist schon jetzt zu beobachten. Kein Wunder, denn wir haben es für den Aviationsbereich, das sind die Flugsicherheitsassistenten an den Flughäfen, geschafft – und das hat auch etwas mit unserer Tarifauseinandersetzung zu tun – einen bundesweiten Manteltarifvertrag durchzusetzen, der so gute Regelungen beinhaltet, wie wir sie noch nie hatten. Das hat aber auch damit zu tun, dass durch den Streik in NRW ein Netzwerk an den Flughäfen entstanden ist. Zurzeit finden Streiks in Leipzig mit Forderungen statt, deren Ursprung hier in NRW liegt. Die Beschäftigten der Branche haben sich gesagt: Wir wissen jetzt, was wir können, und wir holen uns diese Lohnsteigerungen jetzt auch. Tel.: 02041 767-152 E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de Arnold Kratz Tel.: 02041 767-209 E-Mail: a.kratz@gib.nrw.de Paul Pantel Tel.: 02324 239466 E-Mail: paul.pantel@arcor.de KONTAKT Andrea Becker Landesfachbereichsleiterin „Besondere Dienstleistungen“ ver.di-Landesbezirk NRW Karlstraße 123 – 127 40210 Düsseldorf Tel.: 0211 61824-390 E-Mail: andrea.becker@verdi.de Für die Beschäftigten im Bewachungsgewerbe in den anderen Landesbezirken, wo derzeit die Tarifverträge G.I.B.INFO 4 13 57 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE „Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer und ökonomischer Wert“ Seit mehr als einem Jahrzehnt hält die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung in Deutschland mit dem Produktivitätszuwachs nicht mehr Schritt. Die Reallöhne stagnieren und sind in manchen Bereichen sogar rückläufig. Niedrig- bzw. Armutslöhne breiten sich aus mit dem Resultat, dass bestimmte Gruppen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von der Steigerung des Wohlstands abgekoppelt werden. Wir sprachen mit Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, über die Ursachen und die mittelund langfristigen gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Entwicklung. G.I.B.: Herr Professor Möller, viele Menschen behaupten: Die Ungleichheit nimmt zu in unserer Gesellschaft. Was sagen die ökonomischen Indikatoren: Stimmt die Aussage? Prof. Möller: Vorab: Eine Marktwirtschaft ohne jedes Maß an Ungleichheit, mit völliger Gleichheit, ist nicht denkbar, denn eine Marktwirtschaft beruht auch auf Anreizen. Nehmen Sie zum Beispiel den Lohn. Er schafft die materiellen Voraussetzungen für die Bedarfsdeckung, gibt aber zugleich Anreize etwa für eine höhere berufliche Leistungsbereitschaft oder den Erwerb zusätzlicher Qualifikationen. Anreize differenzieren somit eine Gesellschaft und führen dazu, dass bestimmte Personen mehr haben als andere. Entscheidend ist die Frage: Was ist das richtige Maß? Darüber wird gegenwärtig international, auch in Ameri- Inzwischen bewegen wir uns wieder auf einem Ungleichheits-Niveau wie es für die Zeit der Stahlbarone typisch war. ka, heftig diskutiert, weil die in früheren Jahrzehnten üblichen Grenzen von Ungleichheit gesprengt worden sind. Inzwischen bewegen wir uns wieder auf einem Ungleichheits-Niveau wie es für die Zeit der Stahlbarone typisch war. Internationale Vergleiche zeigen, dass Volkswirtschaften offenbar einen Spielraum für das Ausmaß der Ungleichheit haben. Weniger Ungleichheit bedeutet nicht zwangsläufig weniger Leistungsfähigkeit, wie ein Blick auf die skandinavischen Länder zeigt. Deutschland hat früher mit deutlich geringerer Ungleichheit als heute offenbar gut funktioniert, warum sollte dies nicht auch zukünftig wieder gelingen? In der amerikanischen Debatte zum Thema „Ungleich58 heit“ hat der Princeton-Ökonom Alan B. Krueger die „Great Gatsby curve“ entwickelt – benannt nach dem Roman „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald, der vom Aufstieg eines Mannes vom Tellerwäscher zum Millionär handelt, dem amerikanischen Mythos, der heute allerdings nur noch äußerst selten funktioniert. Demnach existiert ein empirischer Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und sozialer (intergenerationaler) Mobilität, zwischen dem Wohlstand der Eltern und der Karriere der Kinder. In Ländern mit hoher Ungleichheit können sich etwa Kinder reicher Eltern in gute Schulen und Hochschulen einkaufen, von Chancengleichheit keine Spur: Die Reichen bleiben reich, die Armen arm. Das aber impliziert eine Verschleuderung gesellschaftlicher Ressourcen. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft verkörpert traditionell ein Modell relativ geringer Ungleichheit und bot lange Zeit soziale Mobilität, also Durchlässigkeit zwischen den Schichten. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen in der Professorenschaft etwa kommen aus einfachen sozialen Verhältnissen. Doch jetzt zeigen sich, wie zum Beispiel an den PISA-Ergebnissen erkennbar, die eine sehr starke Abhängigkeit der Bildungswege der Kinder vom Bildungsstand und Einkommen des Elternhauses nachweisen, erste Indizien, dass in Deutschland die Durchlässigkeit zwischen den Schichten schwindet, dass die intergenerationale Mobilität nachlässt, kurzum: dass die Ungleichheit ein gesundes Maß überschreitet. G.I.B.: Das Einkommen aus Erwerbstätigkeit oder Selbstständigkeit dürfte als alleiniger Indikator für Ungleichheit allerdings kaum ausreichen. Tatsache ist, dass 50 Prozent der Beschäftigten und Selbstständigen 95 Prozent der Einkommenssteuer tragen und G.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg die anderen 50 Prozent lediglich die restlichen 5 Prozent. Welche Indikatoren sind also noch zu berücksichtigen? Prof. Möller: Richtig ist, dass das Einkommen insgesamt gleicher ist als das am Markt erzielte, denn das Steuersystem ist in der Tat eine Umverteilungsmaschinerie, die zwar nicht perfekt funktioniert, aber über die Progression der Einkommenssteuer sowie zusätzlich über die Sozialtransfers findet eine Umverteilung statt. Beim Markteinkommen aber, also bei den Löhnen und Gehältern, stellen wir seit Mitte der 1990er Jahre erhebliche Veränderungen fest, so plötzlich und dramatisch, als sei ein Schalter umgelegt worden. Woran lag das? In den 1990er Jahren wurden zwei Faktoren für die Entwicklung verantwortlich gemacht: der technische Fortschritt und die Globalisierung, von denen weltweit die entwickelten Länder sehr stark berührt waren. Mit dem technischen Fortschritt vor allem über die Computerisierung – das kann die numerisch gesteuerte Werkzeugmaschine genauso sein wie der PC – hat sich der Wert von Qualifikation erhöht, weil qualifizierte Menschen eher in der Lage sind, die produktiven Potenziale der neuen Technik zu nutzen. Hinzu kam die veränderte Organisation in den Betrieben, manche sprachen gar von einer „organisatorischen Revolution“. Multitasking-Arbeiten in den Betrieben lösten die Arbeit am Fließband mit immer gleichem Handgriff ab. Das begünstigte die höher Qualifizierten, weil sie über die dafür nötige Flexibilität verfügen, wohingegen die Fließbandproduktion in den 1950er und 1960er Jahren, der Siegeszug des Taylorismus, die gering Qualifizierten begünstigt hatte. In der Zeit hat Deutschland ganz bewusst gering qualifizierte Arbeiter aus der Türkei und anderen Ländern angeheuert. Sie waren billig und gut einsetzbar, weil gering qualifiziert. Heute zeigt sich in all unseren Daten ein Trend zur Höherqualifikation. Neben dem technischen Fortschritt und den damit verbundenen organisatorischen Veränderungen ist die Globalisierung der zweite entscheidende Faktor. Mit ihr stand vor allem im asiatischen Raum ein unG.I.B.INFO 4 13 erschöpfliches Reservoir an Arbeitskräften mit geringen und mittleren Qualifikationen zur Verfügung, gegen das zu konkurrieren als fast aussichtslos erschien. Das ging tendenziell zulasten der geringer Qualifizierten, denn anders als höhere Funktionen wie Design, Forschung und Entwicklung, Marketing und Unternehmensführung, wurden einfache produktive Tätigkeiten ausgelagert. Mehr noch als die Globalisierung aber galt der technische Fortschritt als die treibende Kraft, denn in den USA spielt der Außenhandel nicht die exponierte Rolle wie in Europa und dennoch waren diese Tendenzen dort sehr stark und sogar zuerst sichtbar und kamen erst mit Zeitverzögerung in Europa an. Beim Markteinkommen, also bei den Löhnen und Gehältern, stellen wir seit Mitte der 1990er Jahre erhebliche Veränderungen fest, so plötzlich und dramatisch, als sei ein Schalter umgelegt worden. Im letzten Jahrzehnt hat sich die Debatte verschoben. Jetzt heißt es: Es kommt auf die „tasks“, auf die Aufgaben an. Sie lassen sich nach „manuell“ und „kognitiv“ unterscheiden sowie nach „Routine“ und „Nicht-Routine“. Die Hochqualifizierten arbeiten im kognitiven, nicht-routinisierten Bereich, und das ist ein Wachstumsfeld. Die Mittelqualifizierten arbeiten häufig kognitiv, aber routiniert. Typisches Beispiel dafür ist der Buchhalter. Im unteren Qualifikationsbereich arbeiten Menschen manuell, aber das kann sowohl Routine sein oder auch interaktiv wie etwa die Bedienung im Restaurant. Diese interaktiven Tätigkeiten lassen sich nicht leicht rationalisieren, alle gleichförmigen Routine-Tätigkeiten hingegen schon, und so fallen im mittleren und im unteren Bereich Tätigkeiten wie die des Buchhalters oder des Fließbandarbeiters weg. Waren die Verluste an Tätigkeiten im untersten Bereich in den 1980er und 1990er Jahren besonders stark, die gering Qualifizierten also die absoluten Verlierer, 59 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE hat dieser Trend heute relativ an Bedeutung verloren. Stattdessen, zeigen die amerikanischen Daten, gerät zunehmend die Middle-class unter Druck. Für Deutschland sehen wir in unseren Daten das Phänomen – noch, muss man sagen – nicht. Bei uns sind Menschen im unteren Qualifikationsbereich nach wie vor die Verlierer, und zwar so stark, dass die Erhardsche Formel vom „Wohlstand für alle“ für sie längst nicht mehr gilt. Ein 40-jähriger gering Qualifizierter verfügt heute im Mittel nicht mehr über die Kaufkraft wie eine entsprechende Vergleichsperson Anfang der 1980er Jahre, sondern über spürbar weniger Markteinkommen, was angesichts der Lohnverteilung bedeutet, dass in den letzten Dekaden einige Menschen ganz massiv verloren haben. für sie längst nicht mehr gilt. G.I.B.: War die Agenda 2010 das richtige Mittel, um auch gering Qualifizierten in den Job zu verhelfen? Prof. Möller: Ich glaube, es ist Deutschland nichts anderes übrig geblieben, als so vorzugehen, denn mit mehr als fünf Millionen verdeckten oder offenen Arbeitslosen war der Problemdruck enorm. Wir hatten mit dem Zeitpunkt der Reform allerdings auch Glück, weil sie in die Phase einer großen weltwirtschaftlichen Expansion fiel. 2006 und 2007 waren richtig fette Jahre, sodass ein Beschäftigungsaufbau und ein Abbau der Arbeitslosigkeit sehr schnell erkennbar waren. Länder hingegen, die jetzt in der Krise ihren Arbeitsmarkt reformieren und wie zum Beispiel Griechenland schmerzliche Einschnitte vorgenommen haben, ohne dass sich eine positive wirtschaftliche Wirkung zeigt oder die Entwicklung sogar noch weiter bergab geht, sehen sich mit Massendemonstrationen gegen die Reformen konfrontiert. Prof. Möller: Ja, unsere individuellen Mikro-Daten gehen zurück bis ins Jahr 1975. Wir wissen, dass sich die Lohnentwicklung für unterschiedliche Gruppen in den 1950er und 1960er Jahren relativ ähnlich dargestellt hat. Wir hatten sogar in Phasen, in denen ein Bedarf an gering Qualifizierten bestand, über die tarifpolitische Festlegung von Sockelbeträgen, die eine prozentual stärkere Anhebung der unteren Entgeltgruppen bewirkten, einen Rückgang der Streuung bei der Lohnverteilung. Insofern ist die gegenwärtige Entwicklung für die Nachkriegszeit in der Tat eine neue Qualität. Insbesondere für Deutschland kam, bedingt durch die geografische Lage, mit der Ost-Öffnung ein G.I.B.: Unter dem Einfluss der Agenda 2010, durch die Liberalisierung des Arbeitsmarkts, hat sich der Niedriglohnsektor ausgeweitet, und trotz der „fetten Jahre“ hat die Lohnspreizung zugenommen. Der Spruch: „Die Flut hebt alle Boote“ stimmt offensichtlich nicht. Prof. Möller: Ja, die Reformen haben noch einmal zur Verstärkung des seit Mitte der 1990er Jahre zu beobachtenden Trends vergleichsweise sinkender Markteinkommen gering Qualifizierter geführt. Warum? Das IAB hat 2005 und 2006 Firmen gefragt, ob sich das Verhalten der Arbeitsuchenden und der Belegschaften hinsichtlich der Akzeptanz schlechterer G.I.B.: Hat die von Ihnen beschriebene Entwicklung eine eigene Qualität im Vergleich zu früheren industriellen Umbruchphasen? Bei uns sind Menschen im unteren Qualifikationsbereich nach wie vor die Verlierer, und zwar so stark, dass die Erhardsche Formel vom „Wohlstand für alle“ 60 weiterer Faktor hinzu: Plötzlich lagen Billiglohnländer direkt vor unserer Haustür, dazu gehörte auch Ostdeutschland, ein Gebiet ohne jegliche Tarifabdeckung. Das hat die Position der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fundamental geschwächt. Unternehmen drohten mit der Arbeitsplatzverlagerung: „Wenn ihr nicht zustimmt, dann war`s das hier, dann wechseln wir den Standort.“ Auch wenn die Verlagerung nicht im großen Stil praktiziert wurde: Die Drohung hat gewirkt und das Gleichgewicht zwischen den Tarifvertragsparteien verändert. G.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE Arbeitsbedingungen oder auch schlechter bezahlter Arbeit verändert haben: Ja, antworteten sie, bewirkt durch den zunehmenden Druck hat sich das Akzeptanzverhalten verändert. Die Agenda 2010 war also die Peitsche, die besagte Verhaltensänderungen bewirkt und zu einer höheren Ungleichheit geführt hat. Der politische Wille, einen Niedriglohnsektor aufzubauen, war vorhanden. G.I.B.: Sind Niedriglöhne wirklich nötig, um Menschen, insbesondere Langzeitarbeitslose, in Beschäftigung zu bringen? Prof. Möller: Wenn ein Niedriglohn lediglich ein Einstiegslohn ist und ein gering bezahlter Beschäftigter die Möglichkeit hat, innerhalb von zwei, drei oder fünf Jahren da herauszukommen, dann ist der Niedriglohn anders zu bewerten, als wenn er eine Falle ist. Alle ernst zu nehmenden Studien zeigen jedoch, dass die Aufstiegsmobilität nicht zu-, sondern abgenommen hat. Der Niedriglohn lässt sich also nicht einfach mit dem Hinweis rechtfertigen, er sei nur ein Einstieg, vielmehr sind viele Menschen dauerhaft im Niedriglohnsektor gefangen. Wenn aber Perspektivlosigkeit zunimmt, wenn größere Gruppen von Menschen frustriert sind, hat das soziale Folgen, dann löst sich der gesellschaftliche Kitt. Sicher ist Langzeitarbeitslosigkeit das schlimmste Übel, sie erzeugt hohe Unzufriedenheit. Aber nicht weit dahinter rangiert auf der Skala ein schlecht bezahlter Job. Die Gretchenfrage ist die von Ihnen gestellte: War der Ausbau des Niedriglohnsektors notwendig, um mehr Menschen in den Job zu bekommen? Das ist nach wie vor umstritten. Meine Position ist, dass das Ausmaß des Niedriglohnsektors mit Sicherheit übertrieben ist, dass Politik und Wirtschaft die Schraube überdreht haben und zu weit gegangen sind, denn – das belegen neueste Daten – auch für durchgängig Beschäftigte hat die Ungleichheit bei den Löhnen zugenommen. Hier zieht also das Argument nicht: Die Löhne mussten ungleicher werden, damit gering Qualifizierte in Beschäftigung kommen. Die neuesten Daten sind ein erstes starkes Indiz, dass da etwas über ein gesundes Maß hinausgeschossen ist. G.I.B.INFO 4 13 G.I.B.: Das ökonomische Argument lautete: Die Produktivität mancher Menschen ist so gering, dass man sie nur niedrig bezahlen kann – oder sie sind arbeitslos. Prof. Möller: Ich will nicht abstreiten, dass wir eine Gruppe von Menschen fast ohne Qualifikationen haben, die nicht einfach zu integrieren ist. Doch das Produktivitätsargument gilt nur für einen Betrieb insgesamt, insofern Produktivität, Lohnsumme und Umsatz in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen Plötzlich lagen Billiglohnländer direkt vor unserer Haustür, dazu gehörte auch Ostdeutschland, ein Gebiet ohne jegliche Tarifabdeckung. Das hat die Position der Arbeitnehmer fundamental geschwächt. müssen. Aber bei der Bezahlung innerhalb eines Betriebs gibt es viele Spielräume. Die stark divergierenden Verdienste eines Chefarztes und einer Krankenschwester zum Beispiel sind vor allem durch soziale Konventionen bedingt. Dass ein Krankenhaus insgesamt keine roten Zahlen schreiben darf, ist klar, aber die Relation zwischen den Gehältern könnte durchaus anders aussehen, denn wie ließe sich die Produktivität einer Krankenschwester messen oder eines Uni-Professors oder von Personen, meist Frauen, die in den Hotels die Betten machen und lausig bezahlt werden? Geht die Nachfrage nach Übernachtungen tatsächlich massiv zurück, wenn Hotelbedienstete statt fünf Euro pro Stunde acht Euro verdienen? Aus meiner Sicht wird das keine große Rolle spielen. Übrigens wird in der Schweiz eine Krankenschwester etwa doppelt so hoch bezahlt wie in Deutschland. Heißt das: Die Produktivität einer Krankenschwester ist in der Alpenrepublik doppelt so hoch wie bei uns? Wohl kaum. Zudem müssen wir uns vor Augen führen, dass über den Mindestlohn immer auch gewisse Produktivitätseffekte erzeugt werden, weil darüber eine stärkere Bin61 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE dung der Beschäftigten an ihren Job stattfindet und die Fluktuation nachlässt, was wiederum für Unternehmen die hohen Kosten für die Suche nach Arbeitskräften senkt. Zudem qualifizieren sich Beschäftigte bei einer langfristigen Ausübung ihrer Tätigkeit und steigern so ihre Produktivität. Die Widerstände gegen Mindestlöhne resultieren meist aus der einzelbetrieblichen Perspektive. Unternehmen sehen ihre Rentabilität gefährdet und übersehen dabei, dass der Mindestlohn in der gesamten Innung oder Branche gezahlt werden muss. Die Furcht vor schädlichem Wettbewerb ist also unbegründet, weil das Niveau insgesamt angehoben wird. Ein starkes Argument für den Mindestlohn ist, dass ohne eine Grenze nach unten die schlechte Firma, die skrupellos die niedrigsten Löhne zahlt, die gute Firma, die auf Qualität, auf bessere Produkte oder auf Innovation setzt, verdrängen kann. G.I.B.: Ein Wettbewerb über Dumpinglöhne darf nicht sein, sagen Sie, und benennen in Ihrer aktuellen Veröffentlichung „Ausbau auf solidem Fundament: Was am Arbeitsmarkt angepackt werden muss“ drei zentrale Herausforderungen. Den Abbau der (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, die Gestaltung des demografischen Wandels durch Fachkräftesicherung sowie die Qualitätsverbesserung von Beschäftigung. Was genau ist nach Ihrer Ansicht zu tun? Ohne eine Grenze nach unten verdrängt die schlechte Firma, die skrupellos die niedrigsten Löhne zahlt, die gute Firma, die auf Qualität, auf bessere Produkte oder auf Innovation setzt. Prof. Möller: Die Jobchancen von Arbeitslosen, die sich über Jahre hinweg verbessert hatten, sinken gegenwärtig wieder. Trotz vorhandener Nachfrage, trotz steigender Beschäftigtenzahlen, kommt aufgrund ei62 ner erhöhten Beteiligung von Frauen, Älteren und Zugewanderten an der Erwerbsarbeit der Abbau der Arbeitslosigkeit nicht mehr voran. Strukturelle Probleme wie die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit und das fehlende Matching zwischen dem Profil der Arbeitslosen und den offenen Stellen bestehen weiterhin. Gefragt sind zur Lösung der Probleme – präventiv – ein leistungsfähigeres Bildungssystem, mehr Investitionen in Weiterbildung sowie eine bessere Wirkung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen und verstärkte Vermittlungsaktivitäten. Zur Gestaltung des demografischen Wandels durch Fachkräftesicherung: Ein demografisch bedingter Rückgang der Erwerbsbevölkerung ist absehbar. Sollte die gegenwärtige Nachfrage nach Arbeitskräften auf hohem Niveau anhalten, könnten sich Chancen für eine weitere Reduzierung der Arbeitslosigkeit ergeben. Es wäre jedoch illusorisch zu glauben, dass sich ein solcher Ausgleichsprozess von selbst ergibt. Vielmehr muss die Teilhabe am Erwerbsleben gefördert, das Arbeitsvolumen ausgeweitet, müssen Bildungsund Ausbildungsbeteiligung gestärkt werden. Zu hebende Potenziale liegen außer bei den Arbeitslosen vor allem bei den Frauen – nicht zuletzt den in Deutschland lebenden Migrantinnen – und den Älteren. Zudem muss sich Deutschland verstärkt um qualifizierte Zuwanderer bemühen. Zur Qualität von Beschäftigung: So genannte atypische Beschäftigungsformen wie Teilzeit- und Minijobs, befristete Beschäftigung und Zeitarbeit haben in den beiden letzten Jahrzehnten deutlich zugelegt. Auch wenn diese Erwerbsformen oft den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen entsprechen und ganz klar der Arbeitslosigkeit vorzuziehen sind, sollte man die in vielen Fällen damit verbundenen Probleme nicht ausblenden, denn häufig fallen niedrige Bezahlung, Instabilität, schlechte Arbeitsbedingungen und wiederkehrende Arbeitslosigkeit bei bestimmten Personen zusammen. Bei einem dieser Aspekte, der Beschäftigungsstabilität, müssen wir unterscheiden: Es gibt viele Bereiche mit relativ hoher Beschäftigungssicherheit. Die durchschnittliche BetriebszugehörigG.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE keitsdauer für Personen über 30 hat sich nicht verringert, sondern sogar ganz leicht nach oben entwickelt. Anders bei den Personen unter 30 Jahren. Hier ist die durchschnittliche Beschäftigungsdauer spürbar gesunken. Wir wissen nicht, inwieweit das manchmal auch den Wünschen junger Menschen entspricht, die im Arbeitsplatzwechsel vielleicht neue Chancen sehen. Raschere Arbeitsplatzwechsel müssen also nicht immer negativ zu bewerten sein. Problematisch sind aber beispielsweise lediglich kurzfristige Beschäftigungen gering Qualifizierter in der Leiharbeit mit Drehtüreffekt. Dieser Wechsel von kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen mit immer wiederkehrender Arbeitslosigkeit ist eine Falle, aus der viele nur schwer wieder herauskommen. Wir brauchen eine nachhaltige Verbesserung von Erwerbsbiografien, eine möglichst kontinuierliche Erwerbstätigkeit und auskömmliche Einkommen. Ziel muss sein, die Qualität von Beschäftigung kontinuierlich zu verbessern, ohne dabei den Zugang zum Arbeitsmarkt zu gefährden. G.I.B.: Ein Argument gegen den gesetzlich verankerten flächendeckenden Mindestlohn lautet: Entweder ist er so niedrig, dass er nichts bewirkt, oder so hoch, dass er Arbeitsplätze gefährdet. Auch das nicht unbedingt arbeitgebernahe Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das DIW Berlin, hat in seiner jüngsten Studie den Mindestlohn als „Förderprogramm für Minijobs bezeichnet“. Teilen Sie die Auffassung? Prof. Möller: Dass es nicht einfach ist, die richtige Höhe für einen Mindestlohn festzulegen, ist grundsätzlich richtig, das würde ich sofort unterschreiben. Die Behauptung, dass er zwangsläufig entweder zu niedrig oder zu hoch ist, halte ich aber für falsch, denn um genau den Bereich zwischen „wirkungslos“ und „Arbeitsplatzgefährdung“, also um das richtige Maß, geht es ja gerade. Wäre der Arbeitsmarkt ein perfekter Markt, hätten diejenigen Recht, die sagen: Jeder Markteingriff ist wirkungslos oder führt zu Arbeitslosigkeit. Aber der Arbeitsmarkt ist nicht perfekt. Oft wird übersehen, dass Mindestlöhne sich nicht nur auf die Arbeitsnachfrage der Unternehmen auswirken, sondern auch auf das Arbeitskräfteangebot. Das gilt vor allem für „unperfekte“ ArbeitsmärG.I.B.INFO 4 13 kte, auf denen also nur unvollkommener Wettbewerb herrscht und Unternehmen über eine gewisse Marktmacht verfügen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein sehr großer Arbeitgeber den lokalen Arbeitsmarkt dominiert oder wenn Menschen, die auf dem Land leben, nur eine begrenzte Auswahl von Unternehmen als Arbeitgeber zur Verfügung steht oder wenn eine Kinderbetreuungseinrichtung in der Nähe des Betriebs vorhanden ist und eine alleinerziehende Mutter für diesen Vor- Die Ergebnisse unserer Repräsentativbefragung zeigen, dass eine bessere Bezahlung zu einer schnelleren Besetzung offener Stellen führen und insofern auch einen positiven Beschäftigungseffekt haben kann. teil bereit ist, einen sehr niedrigen Lohn zu akzeptieren. Es gibt große Bereiche, in denen Marktmacht eine Rolle spielt. Bei einer Arbeitslosenquote von fast 20 Prozent unter den gering Qualifizierten ist immer ein Reserveheer vorhanden, das Unternehmen erlaubt, ihre Marktmacht auszuspielen und ihren Gewinn zu steigern, indem sie Löhne zahlen, die unter dem Niveau eines perfekten Arbeitsmarkts liegen. Ein moderater Mindestlohn, der in diesen Fällen die Diskrepanz wieder ausgleicht, also Marktmacht reguliert, kann sogar zu positiven Beschäftigungseffekten führen, da der Lohnanstieg zu einer schnelleren Besetzung offener Stellen führen kann, weil sie so attraktiver geworden sind. Ein überraschendes, interessantes Phänomen als Beleg dafür: Im Rahmen unserer quartalsmäßigen Repräsentativbefragungen zum Stellenangebot fragten wir Unternehmen, bei welchen Berufen oder Qualifikationen es Probleme bei der Stellenbesetzung gibt. Da wurden, wie erwartet, zunächst Ingenieure und Krankenschwestern genannt, doch dann tauchten relativ bald 63 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE Hilfskräfte auf. Wie kann das sein? Fast ein Fünftel der Geringqualifizierten ist arbeitslos! Da müsste es doch relativ einfach sein, Hilfskräfte zu finden. Aber die Antwort ist klar: Inzwischen ist das Lohnniveau so niedrig, dass die Anreize fehlen. Ökonomisch betrachtet heißt das: Die entsprechenden Personengruppen sind mehr oder weniger indifferent, wenn es da- Gegenseitiges Vertrauen funktioniert aber nur, wenn alle das Gefühl haben, nicht die Abgehängten zu sein. rum geht, einen Job zu haben oder nicht zu haben. Die Bindung an einen solchen Job ist sehr gering, sie sind schnell dabei, aber auch schnell wieder weg. Neue Leute zu finden ist schwierig. Die Ergebnisse unserer Repräsentativbefragung legen nahe, dass eine bessere Bezahlung zu einer schnelleren Besetzung offener Stellen führen und insofern auch einen positiven Beschäftigungseffekt haben kann. G.I.B.: Sie sprechen vom „moderaten“ Mindestlohn. Welche Mindestlohnhöhe wäre nach Ihrer Auffassung „moderat“? Prof. Möller: Niemand kann a priori genau sagen, wo die kritische Linie liegt. Frankreich hat einen relativ hohen Mindestlohn, der in einem Bereich liegt, der Jobs kosten kann. Großbritannien hat einen Mindestlohn eingeführt ohne negative Auswirkungen auf die Beschäftigung. Hier sind – eindeutig belegbar – keine Jobs verloren gegangen. Großbritannien ist insofern das Musterbeispiel. Die Höhe des Mindestlohns ist auch dort ein bisschen umstritten, aber es besteht mittlerweile beim Mindestlohn in Großbritannien grundsätzlich ein breiter gesellschaftlicher Konsens, keine Interessengruppe will ihn abschaffen. Vor der Einführung des Mindestlohns in den 1990er Jahren gab es aber in Großbritannien die gleiche Debatte wie jetzt in Deutschland. Auch dort wurde der Untergang des Abendlandes an die Wand gemalt. Von Jobverlusten in Millionenhöhe war die Rede. Nichts davon ist passiert! Dennoch muss man festhalten: Im Grunde 64 ist die Suche nach der optimalen Höhe des Mindestlohns ein Stochern im Nebel. Mein Vorschlag wäre, einen relativ niedrigen Einstieg zu wählen und anschließend zu versuchen, sich wie in Großbritannien an das richtige Maß heranzutasten, um festzustellen, an welcher Stelle es kippt, ab wann Arbeitsplätze verloren gehen. Das wäre dann die Grenze. G.I.B.: Bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro müssten in Deutschland die Löhne von 17 Prozent aller Beschäftigten erhöht werden, bei einem Mindestlohn von 10,50 Euro sogar von 26 Prozent der Beschäftigten. Eine Lohnerhöhung für ein Viertel aller Beschäftigten wäre doch kaum zu finanzieren oder würde zum Abbau von Arbeitsplätzen führen. Prof. Möller: Da ist was dran. In Großbritannien haben rund fünf Prozent aller Beschäftigten von der Erhöhung des Mindestlohns profitiert. Das ist deutlich niedriger als 17 Prozent. 8,50 Euro sind nach meiner Auffassung schon relativ hoch, da habe ich schon ein bisschen Bauchschmerzen. Deshalb mein Plädoyer, sich von unten an das richtige Maß heranzutasten, um festzustellen, was noch vertretbar ist. Ein Mindestlohn von 8,50 Euro beträfe in Ostdeutschland, wo die Lohnverteilung ja noch einmal anders aussieht, circa 25 Prozent der Beschäftigten. Wegen der immer noch bestehenden deutlichen Unterschiede in der durchschnittlichen Produktivität der ost- und westdeutschen Betriebe sollten wir für einen Übergangszeitraum zwischen Ost- und Westdeutschland differenzieren. Ich weiß, dass die Menschen in den östlichen Bundesländern genauso hart arbeiten wie die im Westen. Wenn sie aber aufgrund eines zu hohen Mindestlohns arbeitslos werden, wäre niemandem geholfen. Zudem sollten Jugendliche von der Mindestlohnregelung ausgenommen werden, weil sonst Fehlanreize hinsichtlich einer Ausbildungsentscheidung gegeben werden. Eine Festsetzung des Mindestlohns auf kleinräumiger Ebene ist dagegen wegen der dadurch geschaffenen Intransparenz und der möglichen Ausweichreaktionen von Betrieben nicht zielführend. Ein moderater Mindestlohn aber könnte nicht nur einen Beitrag zur Senkung des deutschen NiedriglohnG.I.B.INFO 4 13 FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE sektors, dessen Größe innerhalb der EU nur noch von Ländern wie Litauen übertroffen wird, leisten, sondern auch das wichtige Signal senden, dass eine Vollzeitbeschäftigung auch am unteren Rand der Lohnverteilung zumindest für Alleinstehende das soziokulturelle Existenzminimum sichert. Wir sollten die großen Lohnspreizungen wieder zurückführen auf ein vernünftiges Maß. Dabei ist der Mindestlohn nur ein Punkt. Wenn wir über den Niedriglohnbereich nachdenken, spielen natürlich auch andere Aspekte eine Rolle. Das geht beispielsweise auch in die Minijob-Debatte hinein. Könnten wir nicht vielleicht einzelne Vorteile der Minijobs wie einfache Adminis tration und Anmeldung bewahren, aber die MinijobFalle vermeiden, die dadurch eintritt, dass Beschäftigte mit regulärem Job brutto deutlich mehr verdienen müssen als Minijobber, wenn sie deren Nettolohn erzielen wollen? Nach meiner Ansicht sinnvolle Reformen beträfen die Steuergesetzgebung bis hin zum Ehegattensplitting sowie die Regelungen zur Sozialversicherung. Um Benachteiligte zu stärken, sollte man noch einmal darüber nachdenken, ob es nicht praktikabel ist, die Sozialbeiträge progressiv zu gestalten, also im unteren Bereich geringere Sozialabgaben anzusetzen. G.I.B.: In Deutschland – wir sprachen bereits darüber – galt lange das Erhardsche Leitbild „Wohlstand für alle“. Das scheint heute genauso wenig zu gelten wie der einstige amerikanische Mythos vom Tellerwäscher, der zum Millionär avanciert. Fehlt es an solchen Leitbildern in Deutschland? Prof. Möller: Wenn man Wohlstand für alle so interpretiert, dass alle Gruppen am Fortschritt, am wachsenden Wohlstand partizipieren, dann sollte dieses Leitbild weiterhin gültig sein. Wenn wir das aufgeben, entstehen zwangsläufig Spaltungstendenzen, entstehen abgehängte, demotivierte Personengruppen, und das ist auf Dauer nicht gut für die Gesellschaft. Ein auch langfristig wichtiger Faktor für Wirtschaftswachstum ist das, was Soziologen Sozialkapital nennen, „trust“, also Vertrauen. Gegenseitiges Vertrauen funktioniert aber nur, wenn alle das Gefühl haben, nicht die Abgehängten zu sein. Das über Jahrzehnte G.I.B.INFO 4 13 etablierte und gut funktionierende traditionelle deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft wäre sonst radikal in Frage gestellt. Eine Zeitlang, insbesondere in Phasen wirtschaftlicher Prosperität, mag ein Verzicht auf einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt halbwegs funktionieren, aber auf Dauer und insbesondere in wirtschaftlich kritischen Phasen wachsen dann die gesellschaftlichen Folgekosten wie beispielsweise die Kriminalität. Die Zusammenhänge sind ja alle gut belegt. Wenn die zu konstatierende Ungleichheit noch ungebremst weitergeht: Wollen wir wirklich abgeschottete, bewachte Reichen-Ghettos haben? Das wäre doch schlimm! Mit unserer tour d`horizon haben wir in diesem Interview zentrale Aspekte unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit angesprochen, die mich sehr bewegen. Kürzlich hatte ich eine italienische Politikerin zu Gast. Sie sagte: „Ich habe hier in Deutschland Felder gesehen, wo Menschen Blumen pflücken und das von ihnen dafür als angemessen erachtete Geld in eine aufgestellte Box werfen können. Das würde in Italien nie funktionieren!“ Ich will sagen: Das in Deutschland immer noch grundsätzlich vorhandene Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer, aber auch ökonomischer Wert, den wir durch ungerechte Ungleichheit nicht aufs Spiel setzen sollten. DAS INTERVIEW FÜHRTEN Manfred Keuler, Tel.: 02041 767-152 E-Mail: m.keuler@gib.nrw.de Arnold Kratz, Tel.: 02041 767-209 E-Mail: a.kratz@gib.nrw.de Paul Pantel, Tel.: 02324 239466 E-Mail: paul.pantel@arcor.de KONTAKT Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) Regensburger Straße 104 90478 Nürnberg E-Mail: Joachim.Moeller@iab.de 65 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG Generation Praktikum Foto: kontakt@generation-praktikum.at Gut ausgebildet und ausgebeutet? Irgendwas stimmt nicht beim Übergang vom Studium in den Beruf. Das unterstellt zumindest die Formulierung von der „Generation Praktikum“. Demnach tritt ein großer Teil der jährlich rund 200 000 Hochschulabsolventinnen und -absolventen ein Praktikum an, statt direkt in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis oder eine weiterführende Qualifikationsphase zu wechseln. Ob der Begriff gerechtfertigt oder irreführend ist – die Frage war Gegenstand eines Workshops der G.I.B.-Sommerakademie im Juli 2013, der zugleich eine Antwort darauf suchte, wie sich der Übergang vom Studium in den Beruf möglichst ohne Prekaritätserfahrungen der Ex-Studierenden managen lässt. Endlich rein ins Berufsleben und gutes Geld verdienen! Jahrelang studiert, alle von der Studienordnung vorgeschriebenen Pflichtpraktika absolviert, jetzt Hochschulabschluss mit besten Noten und Medienberichte im Kopf, die behaupten, Fachkräfte würden von den Unternehmen händeringend gesucht und dann – nein, keine feste Stelle, nicht einmal eine befristete, sondern: Noch ein Praktikum, vielleicht auch zwei oder drei, womöglich unbezahlt und wenn doch entlohnt, dann zu einem durchschnittlichen Stundenbrutto von 3,77 Euro bei einer Wochenarbeitszeit, die der eines Vollzeitbeschäftigten entspricht. Das hier geschilderte Szenario, behaupten die einen, sei lediglich eine temporäre Randerscheinung, von der nur eine geringe Zahl von Hochschulabsolventinnen und -absolventen betroffen ist. Gewerkschaften hingegen orten eine wachsende Zahl prekärer Praktika, die zunehmend reguläre Beschäftigungsverhältnisse ersetzen. Nach ihrer Ansicht besteht politischer, gesetzgeberischer und tarifvertraglicher Handlungsbedarf. 66 G.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG Divergierende Zahlen Um Licht ins Dunkel zu bringen, hatte die Hans-Böckler-Stiftung die Freie Universität in Berlin mit der Erstellung einer Studie beauftragt, die unter dem Titel „Praktika nach Studienabschluss. Zwischen Fairness und Ausbeutung“ veröffentlicht worden ist. Schnell war den beauftragten Wissenschaftlern Dr. Boris Schmidt und Heidemarie Hecht klar, dass Erkenntnisse über das genaue Ausmaß an Praktika nach Studienabschluss nicht leicht zu gewinnen sind. Grund dafür ist nach ihrer Ansicht die Unschärfe des Begriffs: „Praktika sind kurze bis längere Phasen einer nicht-regulären, befristeten und mit dem Ziel einer beruflichen Orientierung verbundenen Tätigkeit außerhalb des Curriculums in einem Unternehmen, in einer Organisation oder bei einem anderen Arbeitgeber, die zumindest dem Label nach auch dem Lernen sowie der Vertiefung von Kompetenzen oder Kontakten dienen soll. Damit ähneln Praktika Hospitationen, Referendariaten, Volontariaten oder Traineephasen, sind aber etwas weniger institutionalisiert, so dass“, bringen die Wissenschaftler die Definitionsprobleme auf den Punkt, „Praktika vieles nicht, sondern eher eine Restmenge sind.“ Ein weiteres Dilemma ergebe sich nach „Bologna“ aus der Frage, ob ein Praktikum zwischen BachelorAbschluss und Masterstudium-Beginn als Praktikum nach Studienabschluss zu werten sei oder nicht. Kaum eine Überraschung vor diesem Hintergrund, dass die Zahlen wissenschaftlicher Untersuchungen extrem divergieren: G.I.B.INFO 4 13 Je nach Definition, Methode und Stichprobe liegt der ermittelte Anteil der Praktikantinnen und Praktikanten nach Studienabschluss „zwischen 4 und 40 Prozent“. Doch der „wahre“ Anteil dürfte nach dem Befund von Dr. Boris Schmidt, „ausgehend von den Ergebnissen vorliegender Repräsentativbefragungen der HochschulInformations-System GmbH sowie des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie in der hier untersuchten Zeitspanne und den hier untersuchten Fächergruppen unter Universitätsabsolventinnen und -absolventen bei rund 16 Prozent liegen, unterdurchschnittlich in Fachrichtungen wie Elektrotechnik oder Informatik, überdurchschnittlich beispielsweise in den auslaufenden Magisterstudiengängen, in Psychologie, Sprachund Kulturwissenschaften.“ Hinweise auf Prekarität Die zentralen Ergebnisse der ausdrücklich nicht repräsentativen, aber gleichwohl durchaus aussagekräftigen Studie stellte im Workshop der G.I.B.-Sommerakademie DGB-Jugendbildungsreferent Niko Köbbe vor. Nach seinen Worten spielen Praktika nach Studienabschluss beim Berufseinstieg der Absolventinnen und Absolventen „eine große Rolle, obwohl die Befragten bereits durchschnittlich vier Praktika während ihres Studiums absolviert haben.“ Die Hoffnung von immerhin der Hälfte aller Praktikantinnen und Praktikanten, im Anschluss an das Praktikum einen Job zu bekommen, erfüllt sich jedoch lediglich für 17 Prozent. Dass rund drei Viertel der Befragten meinten, „vollwertige Arbeit“ geleistet zu haben, die „fest in den Betriebsablauf eingep- lant“ war, sah Niko Köbbe als Bestätigung gewerkschaftlicher Befürchtungen, „dass postgraduelle Praktika zum Teil reguläre Beschäftigung ersetzen.“ Scharf kritisierte der Jugendbildungsreferent die „finanzielle Abhängigkeitssituation“ der jungen Menschen, denn 40 Prozent der Praktika sind gänzlich unbezahlt und die bezahlten liegen im Schnitt gerade mal bei 550 Euro pro Monat. Betroffene müssen deshalb andere Finanzierungsquellen hinzuziehen: So werden 56 Prozent von den Eltern unterstützt, 43 Prozent setzen eigene Ersparnisse ein und 22 Prozent sind während der Praktika sogar auf Sozialleistungen angewiesen. Fazit der DGB-Jugend: „In einem Alter, in dem neben dem Berufseinstieg auch eine Familiengründung ansteht, ist ausgerechnet die Generation, die bei der Absicherung ihrer Altersversorgung nicht mehr allein auf das staatliche Rentensystem vertrauen kann, mit einer unsicheren Berufsperspektive konfrontiert.“ Differenzierte Typologie Was – aus Zeitgründen – beim Workshop der G.I.B.-Sommerakademie nicht ausführlich zur Sprache kam, war die Differenziertheit der Untersuchungsergebnisse sowie die Idee der für die Studie verantwortlichen Wissenschaftler, auf Basis ebenfalls erhobener „qualitativer Beschreibungsmerkmale“ eine Typologie der Praktika zu erstellen. Sie zeigt die Existenz vielfältiger „Mischformen“, die nach Auffassung der Forscher Simplifizierungen wie „Praktika nach Studienabschluss sind gut“ oder „Praktika sind schlecht“ verbieten. 67 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG So ähnelt „Praktikumstyp I“ („Training on the Job“) der Klassifikation einer Hospitation, einem Referendariat oder einem Volontariat, wobei die Praktikantinnen und Praktikanten analog zu Trainees, die direkt in einen Beruf einsteigen, weitestgehend vollwertige Arbeit leisten und hierfür neben der Lernchance eine zumindest annähernd als angemessen empfundene Vergütung erhalten. Praktika des Typs II („faires Lernangebot“) hingegen sind schlecht bezahlt, jedoch gut und strukturiert betreut, an den Lerninteressen der Praktikantinnen und Praktikanten orientiert und stellen das Lernen in den Vordergrund. Praktikums typ III („Learning by Doing“) wiederum verläuft unstrukturiert und ohne expliziten Praktikumsplan, jedoch mit einer konkreten, spannenden Praktikumsaufgabe. Dieser Typ ermöglicht den Teilnehmenden, die sie interessierenden Bereiche kennenzulernen und sich in praktischen Tätigkeiten etwa im Rahmen eines konkreten Projekts „auszuprobieren“. Dr. Boris Schmidt: „Diese drei Praktikumstypen – sie machen 55 Prozent der Praktika aus – empfinden die Befragten als überwiegend hilfreich und werden von ihnen eher positiv eingeschätzt.“ Anders die restlichen Praktikumstypen: Beim Praktikumstyp IV („Vollzeit-Nebenjob“) leisten die Praktikantinnen und Praktikanten vollwertige Arbeit, werden aber bestenfalls auf Nebenjob-Niveau bezahlt. Zudem steht das Lernen nicht explizit im Vordergrund. Allerdings lernen sie hier nach eigenem Bekunden viel „nebenbei“ und erleben ihr Praktikum deshalb trotzdem überwiegend als hilfreich für die berufliche Zukunft. 68 Praktika: Differenzierte Typologie VI „billige Arbeitskraft“ 10 % I „Training on the job“ 16 % II „faires Lernangebot“ 15 % V „unklare Rollen“ 11 % IV „Vollzeit-Nebenjob“ 24 % Im Praktikumstyp V („unklare Rollen“) hingegen herrscht kein gegenseitiges Verständnis über die Erwartungen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Hier sind Praktikantin oder Praktikant anwesend, ohne wirklich beteiligt zu sein. Verlauf und Ergebnisse bleiben diffus, der Ertrag enttäuschend, ohne jedoch den „Geschmack von Ausbeutung“ zu haben. Extrem der Praktikumstyp VI („billige Arbeitskraft“): Hier wird das Lerninteresse der Teilnehmenden fast völlig ignoriert. Entgegen deren Wünschen und Interessen wird hier vollwertige, fest eingeplante Arbeit ohne Gegenleistung verlangt. Schmidt: „Insgesamt 45 Prozent der von uns erfassten Praktika weisen die genannten Defizite auf und gelten als mittelmäßige bis schlechte Praktika, wobei jeweils ca. zehn Prozent auf die Typen V und VI fallen.“ III „Learning by Doing“ 24 % Einschätzungen der Befragten Wie schwierig eine objektive Bewertung der Verhältnisse am Praktikumsmarkt ist, illustriert Schmidt anhand der subjektiven Ansprüche der Praktikantinnen und Praktikanten: „Sie empfinden ihre Arbeit während des Praktikums nach Studienabschluss fast durchweg als vollwertigen Beitrag, der – obwohl meist fest in den Betriebsablauf integriert – keine angemessene finanzielle Entlohnung findet. Allerdings erwarten sie auch keine der geleisteten Arbeit entsprechende Bezahlung und sehen Praktika nicht ernsthaft als Gelegenheit, um Geld zu verdienen. Wenn ihnen das Praktikum hinreichende Lernchancen bietet, den Erfahrungsschatz bereichert, Kompetenzerwerb und berufliche Orientierung ermöglicht, überwiegen für sie die Vorteile eines Praktikums deutlich gegenüber den Nachteilen. Trotz der Ein- G.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG schätzung als prekärer Beschäftigungssituation sehen sie sich unter dem Strich also tatsächlich fair behandelt. Das heißt: Vollwertige Arbeit bei nicht vollwertiger Bezahlung ist nicht gleichbedeutend mit erlebter Unfairness.“ Dennoch sprechen sich gut drei Viertel der Befragten für regelmäßige Kontrollen aus, um festzustellen, ob Praktikumsplätze reguläre Beschäftigungsverhältnisse ersetzen, und plädieren für die Festsetzung einer Mindestvergütung für Praktika nach Studienabschluss und damit für ein Verbot unentgeltlicher Praktika. Andererseits fordern „nur“ 32 Prozent ein generelles Verbot von Praktika für Personen mit erfolgreichem Studienabschluss und verlangen stattdessen zum Beispiel befris tete Verträge, doch der größere Teil (43 Prozent) lehnt dies ab. Politische Forderungen der DGB-Jugend Um dem „Missbrauch“ postgradueller Praktika entgegenzuwirken, die Qualität von Praktika zu erhöhen und die rechtliche Situation von Praktikantinnen und Praktikanten zu verbessern, fordert die DGB-Jugend nach Aussagen ihres Jugendbildungsreferenten unter anderem eine gesetzliche Definition von Praktika „als Lernverhältnis im BGB“, um sie so besser von regulären Beschäftigungsverhältnissen abzugrenzen. „So wäre klargestellt, dass ein Praktikum dem Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen dienen soll und das Lernen im Vordergrund steht.“ Des Weiteren fordert sie für alle Praktikantinnen und Praktikanten den „Anspruch auf ein qualifiziertes Zeugnis“, das „Recht auf einen Praktikumsvertrag inklusive Prak- G.I.B.INFO 4 13 tikumsplan mit Praktikumsinhalten und -zielen“ sowie feste Ansprechpartner/-innen im Sinne eines Ausbilders oder einer Ausbilderin. Darüber hinaus verlangt die DGB-Jugend eine zeitliche Begrenzung von Praktika auf drei Monate (Ausnahmen sind Praktika, die integraler Bestandteil einer Ausbildung sind) sowie eine Aufwandsentschädigung für Praktika und ähnliche Lernverhältnisse von mindestens 300 Euro pro Monat während einer beruflichen bzw. vollzeitschulischen Ausbildung und während des Studiums. Praktika nach Studienabschluss hingegen seien abzulehnen. „Stattdessen sollen Unternehmen und Verwaltungen reguläre Arbeitsverhältnisse bzw. Trainee- und Berufseinstiegsprogramme anbieten, die – wenn keine tariflichen Regelungen greifen – mit mindestens 8,50 Euro pro Stunde vergütet werden müssen.“ Last not least setzt sich die DGBJugend für regelmäßige Kontrollen von Praktika ein, um zu prüfen, ob sie reguläre Arbeitsplätze ersetzen.“ Abweichende Bewertungen Nicht zu verschweigen ist, dass die Ergebnisse der Studie nicht für alle politischen Schlussfolgerungen eindeutige Belege und Schlussfolgerungen liefern. Aus Sicht der Wissenschaftler stellt sich die Realität der Praktika nach Studienabschluss differenziert und facettenreich dar, sodass allzu einfache, pauschale Lösungen der Realität nicht gerecht zu werden scheinen. So stimmt Dr. Boris Schmidt vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Befunde zwar den Forderungen der DGBJugend nach einer gesetzlichen Defini- tion von Praktika als Lernverhältnisse, nach dem Recht auf einen Praktikumsvertrag inklusive Praktikumsplan mit Inhalten und Zielen sowie nach einem Anspruch auf ein qualifiziertes Zeugnis zu, doch die Forderung nach zeitlicher Begrenzung von Praktika auf drei Monate weist er mit Verweis auf die Studienergebnisse zurück: „Nein“, lautet seine Antwort, „aus verschiedensten Gründen: Drei Monate dauert auf dem Qualifikationsniveau von Hochschulabsolventinnen und -absolventen oft schon die Einarbeitungszeit, richtig gelernt ist in der Zeit oft noch nichts. Die uns vorliegenden Zahlen liefern auch nicht den geringsten Hinweis, dass Kurzpraktika besser wären als Langpraktika. Zudem haben viele der von den Befragten als fair erlebten Praktika eine Laufzeit von sechs und mehr Monaten. Ich persönlich würde auf der Grundlage dessen, was unsere Studienteilnehmenden für praktikabel halten, die Grenze bei 12 Monaten ziehen, aber länger dauern die meisten Praktika sowieso nicht.“ Auch die kategorische Forderung der DGB-Jugend, Praktika nach Studienabschluss abzulehnen und durch „reguläre Ausbildungsverhältnisse bzw. Trainee- und Berufseinstiegsprogramme“ zu ersetzen, findet keinen Anklang bei den Wissenschaftlern: „Gerade kleine Unternehmen wie etwa Werbeagenturen mit starker Projektorientierung und oft nur einer Handvoll an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, wo Chaos herrscht oder sogar Teil des Lerninhalts ist, bieten eine bunte Vielfalt an Praktikumsmöglichkeiten. Mit der Erstellung eines Ausbildungskonzepts wären viele von ihnen überfordert und würden dann womöglich keine Praktika mehr anbieten.“ 69 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG Eine differenzierte Meinung vertreten die Wissenschaftler auch zur DGB-Forderung nach einer Aufwandsentschädigung für Praktika „von mindestens 300 Euro“: „Auf den ersten Blick ist tatsächlich kaum nachvollziehbar“, so Dr. Boris Schmidt, „warum eine Organisation nicht 300 Euro im Monat aufbringen können sollte. Für eine Reihe von Institutionen scheint es aber doch ein Problem zu sein.“ Fazit der Wissenschaftler: „Wir können nur vor Maßnahmen warnen, die dazu beitragen, die ,guten‘ Praktikumstypen, die über 50 Prozent aller Praktika ausmachen, zu gefährden. Politische, gesetzgeberische und/oder tarifvertragliche Regelungen sollten nicht einzelne Merkmale herausgreifen, sondern sich vehement gegen die beiden problematischsten Praktikumstypen ,unklare Rollen‘ und ,billige Arbeitskraft‘ richten, aber gleichzeitig auch für eine Weiterentwicklung der anderen Praktikumstypen.“ Empfehlungen der Wissenschaft Von einem bloßen „Weiter so“ sind die Wissenschaftler also weit entfernt. Vielmehr haben Hecht und Schmidt einen Alternativvorschlag zur Forderung der DGB-Jugend nach einer „Aufwandsentschädigung“ entwickelt. Ihre Idee besteht in einer „mehrfach gestaffelten Regelung, die Praktika nach Studienabschluss in Abhängigkeit von ihrer Dauer schrittweise regulären Beschäftigungsverhältnissen annähert und damit lehrreiche flexible Praktika weiterhin ermöglicht, jedoch eine Dauerbeschäftigung im Praktikumsstatus aus Sicht der anbietenden Institution unattraktiv bis unmöglich macht.“ 70 Weiterhin sprechen sie sich dafür aus, den Praktikumsantritt direkt im Anschluss an das Studium mit einer aufschiebenden Wirkung auf die Exmatrikulation zu versehen, sodass die damit verbundenen Vergünstigungen wie Krankenversicherung, BAföG oder Stipendium für einen begrenzten Zeitraum von maximal sechs Monaten noch genutzt werden können. Drittens plädieren sie für die „Einführung eines öffentlichen oder durch Stiftungen finanzierten Stipendiensystems für Praktika nach Studienabschluss, wobei Praktikant und praktikumsgebende Organisation gemeinsam das Stipendium beantragen sollten und sich die Organisation im Gegenzug für das Stipendium verpflichtet, bestimmte nachprüfbare Richtlinien hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung des Praktikums einzuhalten.“ Erschöpft ist der im Auftrag der HansBöckler-Stiftung erarbeitete Ideenkatalog der Wissenschaftler damit noch lange nicht. Eine Auswahl ihrer weiteren Empfehlungen hier nur summarisch: (1) Information und Beratung zu Praktika durch die Career Center der Hochschulen, (2) Ausbau und Unterstützung von „Positivlisten“, in denen sich Unternehmen und Organisationen zur Einhaltung formaler und inhaltlicher Mindeststandards bei Praktika verpflichten (z. B. „Fair Company“), (3) S chaffung einer neutralen, von Absolventinnen und Absolventen sowie Praktikumsgebern gleichermaßen akzeptierten Schieds- oder Schlichtungsstelle, an die missbräuchliche Praktikumsfälle gemeldet werden können, (4) Ausbau internetbasierter Foren, in denen ehemalige Praktikantinnen und Praktikanten unter Nennung des Unternehmens oder der Organisation ihre Praktikumserfahrungen schildern und das absolvierte Praktikum nach Kriterien etwa in Anlehnung an den in der Studie ebenfalls berücksichtigten „DGB Index Gute Arbeit“ bewerten können. Unveränderter Bedarf an Praktika Auf eine der dringendsten Fragen – „Werden durch Praktika tatsächlich reguläre Arbeitsplätze ersetzt?“ – haben aber auch die Wissenschaftler keine endgültige Antwort gefunden. „Woher will man das wissen? Wie würde man eine Antwort auf diese Frage bekommen?“, fragt Dr. Boris Schmidt zurück. „Wenn Praktikanten bei geringer Bezahlung regulär arbeiten und nach sechs Monaten gehen müssen, wäre das ein Indiz dafür, dass ein regulärer Arbeitsplatz ersetzt wird. Aber welchen Wert hätte es für ein Unternehmen, jemanden, der sechs Monate lang bleibt, drei Monate lang einzuarbeiten? Dann müsste sich ein Trend zu Kettenpraktika erkennen lassen, doch den gibt es laut unseren Daten nicht.“ Weiteres Verdachtsmoment für den Ersatz regulärer Arbeit durch Praktika wäre die feste Einplanung der Arbeitsergebnisse von Praktikanten in die Arbeitsabläufe. Dazu der Wissenschaftler: „Im Praktikumstyp ,unklare Rollen‘ waren Praktikanten nicht eingeplant und genau das war das Manko. Da saß jemand den ganzen Tag nur dabei, bekam ein wenig G.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG Foto: ddpimages/Oliver Lang rum aufgrund des Fachkräftemangels das Orientierungsinteresse der Absolventen, eins der Hauptmotive für Praktika, nachlassen sollte. Kann sein, dass sich der Fachkräftemangel auf die Verzweiflungs praktika auswirkt, denn Praktika sind mitunter auch eine Notlösung und schon das Ergebnis eines Gefühls der Prekarität, aber das betrifft gerade mal zehn Prozent aller Praktika.“ Bedarf an „guten“ Praktika, lautet seine Schlussfolgerung, wird es auch weiterhin geben. Geld, hatte aber nicht viel zu tun, wurde nicht betreut – und das“, fragt er rhetorisch, „ist jetzt das Gute, das man bewahren soll, oder das Schlechte, wogegen man kämpft? Wir wissen es nicht.“ Als „Skandal“ sieht er aber – in Übereinstimmung mit der DGB-Jugend – die Tatsache, dass 22 Prozent der Praktikantinnen und Praktikanten nach Studienabschluss Sozialleistungen beziehen oder einen Nebenjob annehmen müssen. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Sozialleistungsbezugs während eines Praktikums hatte bei der G.I.B.-Sommerakademie bereits der Vertreter eines Jobcenters gestellt. Dazu der Wissenschaftler: „Die Jobcenter sollten eine anonyme Untersuchung durchführen, um herauszufinden, warum Praktikantinnen und Praktikanten bei ihnen Sozialleistungen abrufen müssen.“ Den Anstieg an Sozialleistungen beziehenden Praktikanten von 12 (im Jahr G.I.B.INFO 4 13 2007) auf 22 Prozent kann er sich aus den erhobenen Daten heraus nicht erklären, denn bezahlt werden Praktika heute nicht schlechter als vor fünf Jahren: „Vielleicht ist die Steigerung mit der Einführung der Bachelor-Studiengänge zu begründen.“ Ob die Zahl der Praktika nach Studienabschluss aufgrund der „nach Bologna“ praxisorientierteren Studiengänge zurückgehen, ist für Schmidt noch nicht genau abzuschätzen: „So wie Bologna bislang umgesetzt worden ist, eher nicht, denn so stark sind die Praxisbezüge nicht. In der Hochschule wird auch weiterhin nicht die Welt simuliert und das ist auch nicht ihre Funktion. Zwar werden Studierende heute näher an die Fenster der Elfenbeinwelt geführt, aber hinaussehen müssen sie selbst.“ Sprich: Praktika erübrigen sich dadurch nicht. Auch von einem Rückgang an Praktika infolge des Fachkräftemangels ist Schmidt nicht überzeugt: „Mir wäre unklar, wa- Gleichzeitig warnt er davor, das Thema als „nur temporäre Erscheinung“ oder „nur im Promillebereich“ kleinzureden: „Die Studienergebnisse liefern klare Hinweise, dass ein erheblicher Teil der Praktika nach Studienabschluss problematisch und prekär ist, dass es hier erheblichen Steuerungsbedarf gibt und dass es eine Frage der gesellschaftlichen Verantwortung ist, hier nicht wegzuschauen, denn wir reden über tausende von Fällen pro Jahr, sondern zu handeln, denn von selbst wird es nicht besser.“ Beispiel I: „Career Service“ der Universität Duisburg-Essen Die von den Wissenschaftlern empfohlene Praktikanten-Beratung existiert am Career Center der Universität DuisburgEssen, dem „Akademischen BeratungsZentrum Studium und Beruf“ (ABZ), bereits seit 2005. Die Serviceleistung der Einrichtung umfasst eine frühzeitig einsetzende Karriereberatung „entlang des Student-Life-Circle, des Lebenszyklusmodells“, wie Ruth Girmes, Mitarbeiterin des ABZ, im Workshop der G.I.B.Sommerakademie formulierte. 71 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG Praktika, weiß die erfahrene Karriereberaterin, sind keine Neuerscheinung der Arbeitswelt, sondern ein seit dreißig Jahren existierendes Phänomen, weshalb sie auch – im Plural – von „Praktikumsgenerationen“ spricht. Für Studienabsolventinnen und -absolventen und angehende „Manche brauchen länger, um sich beruflich zu orientieren“, begründet die Beraterin ihre Arbeit, „denn Bildung ist ein komplexer Prozess. Das heißt nicht, dass sie schlechtere Absolventinnen und Absolventen sind, vielmehr hängt ihr Beratungsbedarf vom sozio-kulturellen Hin- Gemessen an der Masse der Studierenden, räumt sie ein, nimmt das Angebot jedoch nur „eine verschwindend geringe Minderheit“ in Anspruch, vor allem aber Studierende der Gesellschafts-, Bildungs- und Geisteswissenschaften, aber auch der Wirtschafts-, seltener der Naturwissenschaften. Foto: ddpimages/Michael Kappeler Nach ihrer Ansicht sollten berufliche Orientierung, Verbreiterung oder Vertiefung der Erfahrungsbasis sowie „das Netzwerken“ – also die klassischen Ziele von Absolventenpraktika – Bestandteil des regulären Studiums sein: „Die Studiengänge haben sich im Kontext des Bologna-Prozesses Employability auf die Fahnen geschrieben, den Anspruch aber nicht alle eingelöst.“ Praktikantinnen und Praktikanten, als deren „Anwältin“ sich Ruh Girmes sieht, ist der Career Service die zentrale, oft die einzige Anlaufstelle. Vorteil der Einrichtung: „Wir kennen die Relevanz von Praxiserfahrungen, die Qualifikations- und Personalbedarfe der Branchen sowie Unternehmen, die Praktika anbieten.“ Hier werden die Unterlagen der Studentinnen und Studenten „gecheckt“ sowie die im Studium erworbenen Kompetenzen. In einem Erstgespräch, ergänzt durch Telefon- oder Mail-Kommunikation, klären Career Service und Studienabsolvent/-in gemeinsam, ob ein Praktikum sinnvoll ist und gegebenenfalls welches. Ruth Girmes: „Die Beratung ist personenorientiert, vertraulich, freiwillig, anonym und kostenfrei.“ 72 tergrund ab.“ Meist handele es sich um Studierende aus „bildungsfernen Schichten“ – Ruth Grimes bevorzugt den amerikanischen Ausdruck „First-Generation Students“, also junge Menschen, die als Erste in ihren Familien studieren, sowie um Menschen mit Migrationshintergrund und um Frauen: „Sie akzeptieren ein Praktikum eher als Männer, so wie Frauen auch häufiger befristet beschäftigt sind als Männer.“ Sie alle finden nach Erkenntnissen der Beraterin in ihrem Umfeld oft niemanden, mit dem sie ihre berufliche Zukunft reflektieren und diskutieren können: „Unsicherheit und Ängste hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft sind weit verbreitet. Viele wissen deshalb eine neutrale Instanz zu schätzen.“ Dass Praktikantinnen und Praktikanten oft in reguläre Arbeitsprozesse eingebunden sind und ihre Arbeitsproduktivität in die Arbeitsergebnisse eingeplant ist, kritisiert Ruth Girmes nicht – nur: „Dann sollte man es nicht Praktikum nennen, denn der Sinn eine Praktikums ist das Lernen und nicht die Verrichtung von Arbeit.“ Zudem, so ihre Erfahrung, ignorieren manche Praktikumsgeber das Arbeitszeitgesetz, missbrauchen Praktika als verlängerte Probezeit und stellen so hohe Anforderungen, dass es sich faktisch um Traineeprogramme handele: „Das ist nicht akzeptabel! Auf der anderen Seite habe ich auch schon erlebt, dass ein Pommesbudenjob als Praktikum deklariert wurde.“ Nach ihrer Überzeugung fehlt ein „Praktikantengesetz“: „Überregulierung schränkt Freiheiten ein und verbaut Chancen, aber die Politik sollte dafür sorgen, dass junge Menschen in Praktika versichert sind und bestehende Gesetze Anwendung finden.“ G.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG ABSTRACT Viele der jährlich rund 200.000 Hochschulabsolventinnen und -absolventen treten ein Praktikum an, statt direkt in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis oder eine weiterführende Qualifikationsphase zu wechseln. Die Qualität der Praktika und die damit oft verbundenen Prekaritätserfahrungen der Ex-Studierenden waren Gegenstand eines Workshops der G.I.B.-Sommerakademie. Beispiel II: nomiko e. V., Bochum Ebenfalls kostenfrei ist für Studienabsolventinnen und -absolventen das im Workshop der G.I.B.-Sommerakademie vorgestellte Angebot von nomiko e. V., einem „branchenunabhängigen Talent Management System im Bereich der Aus- und Weiterbildung“. Im Jahr 2000 von der Nokia GmbH im Zuge des Fachkräftemangels im IT-Bereich gegründet, steht der gemeinnützige Verein heute allen Unternehmen für eine Mitgliedschaft offen, darunter vielen KMU und familiengeführten Unternehmen, die sich den hohen Verwaltungsaufwand für Personalrekrutierung und Hochschulmarketing nicht leisten wollen oder können. Auf der anderen Seite stehen – neben Schülern, Auszubildenden und Studenten – Praktikanten sowie, im Unterschied dazu, junge Absolventen, bei nomiko e. V. „Qualifikanten“ genannt. Mit ihnen schließt nomiko e. V. einen YoungProfessional-Vertrag. Er beinhaltet unter anderem ein Grundgehalt für die Qualifikanten – von nomiko gezahlt und den jeweiligen Mitgliedsunternehmen mit einem geringen Aufschlag in Rechnung gestellt, das abhängig von Mitgliedsunternehmen und Standort pro Monat ab circa 2.000 Euro aufwärts liegt. Bereits im Vorfeld erarbeiten Unternehmen und young professional – die meisten von ihnen IT-, aber auch Wirtschaftsund Geisteswissenschaftler – gemeinsam einen Plan für den konkreten Ablauf der Kooperation, einigen sich über den Lernstoff und die konkreten Tätigkeiten – immer auch im Hinblick auf G.I.B.INFO 4 13 ANSPRECHPARTNER IN DER G.I.B. AUTOR Arnold Kratz, Tel.: 02041 767-209 Paul Pantel, Tel.: 02324 239466 E-Mail: a.kratz@gib.nrw.de E-Mail: paul.pantel@arcor.de KONTAKTE Dr. Boris Schmidt, Tel.: 030 33847-993 Niko Köbbe, Tel.: 0251 132350 Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin DGB-Region Münsterland Coachingnetz Wissenschaft Jugendbildungsreferent Internet: www.coachingnetz-wissenschaft.de E-Mail: muenster@dgb-jugend-nrw.de Astrid Kempmann, Tel.: 0234 41757542 Managing Director nomiko e. V. E-Mail: astrid.kempmann@nomiko.de Internet: www.nomiko.de Ruth Girmes M. A., Tel.: 0201 183-3285 Akademisches Beratungs-Zentrum Studium und Beruf – ABZ Career Service/Campus Essen Universität Duisburg-Essen E-Mail: Ruth.Girmes@uni-due.de die Verwertbarkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt. Alle Absprachen werden dokumentiert, gegengezeichnet und deren Einhaltung von nomiko e. V. „überwacht“. Missbrauch bei Einsätzen beugt die „nomiko“-Satzung vor. Astrid Kempmann, Managing Director bei nomiko e. V.: „Unternehmen, die Praktikanten für ihre Produktion einstellen wollen, lehnen wir genauso ab wie den Einsatz eines Studenten der Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Marketing in der Verpackung eines Betriebs.“ Studienabsolventinnen und -absolventen können sich bei Interesse auf einer Online-Bewerberseite melden, beziehen aktuelle Informationen über neue Jobs per Facebook oder Newsletter. Im „nomiko“Geschäftsmodell sieht Astrid Kempmann gleich mehrere Vorteile für die Qualifikanten beim Berufseinstieg: „Sie können theoretische Lerninhalte in der Praxis anwenden, ihren Berufswunsch konkretisieren und werden an weitere Aufgaben des Berufs herangeführt. Vielfältig auch die Vorteile für die Mitgliedsunternehmen. Astrid Kempmann zählt einige auf: „Frühzeitige Bindung des hoch qualifizierten Nachwuchses, unverbindliches Kennenlernen potenzieller Fachkräfte, große Entlastung durch die Übernahme von zeitaufwendigen Routineaufgaben der Personalbetreuung wie Recruiting, Administration und Löhnung durch nomiko.“ Sinnvoll sei das nomikoAngebot auch für Unternehmen, die eine Person für ein Projekt einstellen wollen, dessen Budget aber noch nicht freigegeben ist: „Dann bietet der Young-Professional-Vertrag die Möglichkeit, diese zeitliche Lücke zu überbrücken – mit einer Sicherheit für beide Seiten.“ Die Ähnlichkeit des Geschäftsmodells zur Leiharbeit sei nur vordergründig, betont die Managerin: „Unser Ziel ist die Aus- und Weiterbildung während des Studiums, das Sammeln von Berufserfahrung in den ersten 1 – 1,5 Jahren nach Abschluss des Studiums und die Möglichkeit zur Übernahme unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In vielen Fällen gelingt das auch.“ 73 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG Projekt „SESAM“ Arbeitsbezogene Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen Etwa drei bis vier Millionen Beschäftigten mangelt es an arbeitsplatzrelevanten Lese- und Schreibkompetenzen. Im Modernisierungsprozess ihrer Betriebe können sie oft nicht mithalten, berufliche Entwicklungsmöglichkeiten sind ihnen versperrt. Um das zu ändern und zugleich die Arbeitsplätze zu sichern, hat das BMBF im November 2011 dazu aufgerufen, Projektvorschläge zum Thema arbeitsorientierte Grundbildung zu initiieren. Die G.I.B. hat zusammen mit dem bbb Büro für berufliche Bildungsplanung, Dortmund, dem BMBF erfolgreich ein Projekt vorgeschlagen mit dem Titel „Strategien zur Weiterentwicklung der Beratungsangebote in Nordrhein-Westfalen für arbeits orientierte Grundbildung – ein Beitrag zur Stärkung von Beschäftigten und Unternehmen – SESAM“. 74 G.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG Lange vor der aktuellen PIAAC-Studie (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) der OECD, die dem Bildungsstand deutscher Erwachsener hinsichtlich ihrer Lese-, Rechen- und Problemlösekompetenzen im internationalen Vergleich gerade mal Mittelmaß bescheinigte, hatten vor Jahren die Ergebnisse der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten „Level-One-Studie“ die Politik aufgeschreckt. Demnach können 7,5 Millionen Menschen in Deutschland – darunter 57 Prozent Berufstätige – nicht richtig lesen und schreiben. Die vom BMBF anschließend durchgeführte Alphabetisierungskampagne erreichte jedoch nur einen kleinen Kreis der betroffenen Personen, von denen wiederum nur Einzelne das Erlernte im beruflichen Alltag verwerten konnten. Ursache dafür war die Distanz von Konzept und Lehrenden zu den Betrieben. Konsequenz aus den desaströsen Resultaten war die Entscheidung des BMBF, betroffene Beschäftigte mithilfe ihrer Arbeitgeber über den Arbeitsplatz zu erschließen. Doch wie zuvor die Arbeitgeber für die Idee gewinnen? Mit dem Projekt SESAM will die G.I.B. ihre Kontakte zu unternehmensnahen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren nutzen und zusammen mit ihnen ein Konzept entwickeln, mit dem Verantwortliche in Unternehmen für die Identifikation arbeitsprozessbezogener Grundbildungsbedarfe zu gewinnen sind. Dazu konzentriert sich die G.I.B. zunächst auf drei Gruppen von Multiplikatoren: Unternehmensberaterinnen und -berater mit Erfahrungen in der Poten- G.I.B.INFO 4 13 tialberatung, Beraterinnen und Berater, die zum Bildungsscheck NRW in seiner Variante „betrieblicher Zugang“ Unternehmen beraten, sowie Träger von Transfergesellschaften, die bei Massenentlassungen zum Einsatz kommen. So entstand ein kleiner Kreis handverlesener Expertinnen und Experten, die auf Einladung der G.I.B. in regelmäßigen Treffen klären, was unter „arbeitsbezogener Grundbildung“ zu verstehen ist und wie Unternehmen für das Thema zu sensibilisieren sind. Zweites zentrales Handlungsfeld des SESAM-Projekts sind die Erschließung und Fortbildung Lehrender, um sie zur Vermittlung einer arbeitsorientierten Grundbildung zu befähigen. Hier bot sich das Büro für berufliche Bildungsplanung (bbb) in Dortmund als kompetenter Partner an, der bereits seit Jahren Konzepte einer arbeitsorientierten Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen entwickelt, realisiert und evaluiert, sowohl für Arbeitslose, für Menschen in Brückensituationen wie zum Beispiel in Transfergesellschaften, für Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen, für Beschäftigte auf dem zweiten Arbeitsmarkt sowie für Schwerstbehinderte – eine Expertise, die nunmehr den von der G.I.B. ausgewählten Beraterinnen und Beratern zur Verfügung steht. Was versteht SESAM unter „arbeitsorientierter Grundbildung“? „Grundbildung“, stellt bbb-Geschäftsfüherin Rosemarie Klein klar, „ist mehr als die Vermittlung von Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen oder – nicht nur im Falle von Migrantinnen und Migranten – auch das Sprechen. Grundbildung ist vielmehr ein pädagogisches Konzept, das Bildungsziele wie Reflexionsfähigkeit, Autonomie und Identität einschließt.“ Grundbildungsanforderungen an sogenannten Einfacharbeitsplätzen umfassen arbeits- bzw. kontextbezogenes Lesen, Schreiben und Rechnen, arbeitsbzw. kontextbezogene Kommunikation, (Selbst-)Reflexionskompetenz sowie Change-Kompetenz, also die Handlungsfähigkeit, komplexe, herausfordernde Lebenssituationen und Veränderungen aktiv mit zu gestalten: „Was Kindern heute in der Grundschule wie selbstverständlich vermittelt wird, haben erwachsene Beschäftigte in ihrer Kindheit nie gelernt. Dazu gehört etwa das weite Feld neuer Medien inklusive EDV.“ Hinzu kommt: Viele Erwachsene konnten durchaus mal Lesen, Rechnen und Schreiben, haben diese Kompetenzen aber, weil sie bei der Arbeit und im Privaten nie abgefragt wurden, im Lauf ihres Berufslebens verlernt. Angesichts der rasanten technologischen und organisatorischen Veränderungen in den Unternehmen, der Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft und mit dem Einzug von Qualitätsmanagement aber steigen die beruflichen Anforderungen auch an sogenannten Einfacharbeitsplätzen, wie das Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung nachgewiesen hat. Viele „Einfacharbeiten“ werden um weitere Tätigkeitselemente angereichert, stellen zudem höhere Anforderungen an außerfachliche Qualifikationen und Schlüsselqualifikationen. Im Pflegesektor 75 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG etwa steigen auch für die Helferberufe die Ansprüche an dokumentarische Tätigkeiten. Sie setzen Schrift- und Sprachkompetenz sowie kommunikative Fähigkeiten voraus. Selbst in der Lager- und Logistikbranche genügen rudimentäre Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse schon lange nicht mehr: „Es reicht nicht mit dem Gabelstapler durch die Hallen zu fahren“, wissen die SESAM-Verantwortlichen, „hier Tätige müssen Symbolsprache entschlüsseln können und selbst Soft Skills gewinnen an Bedeutung.“ Nach ihrer Erfahrung unterschätzen viele Unternehmen die Bedeutung von Beschäftigten an Einfacharbeitsplätzen in der Wertschöpfungskette. Doch nicht nur die Unternehmen selbst, auch die Kammern und Gewerkschaften hinken mitunter dem neuesten Erkenntnisstand hinterher: „Es gibt durchaus Kammern, die sich dem Thema arbeitsorientierte Grundbildung zuwenden, aber auch sie müssen oft erst sensibilisiert werden für die Einsicht, dass das ein Feld betrieblicher Weiterbildung ist. Noch gehen die Initiativen eher von den Beraterinnen und Beratern aus.“ Andererseits wächst die Einsicht in die Notwendigkeit arbeitsbezogener Grundbildung bei Unternehmensleitungen und Personalverantwortlichen aufgrund des demografischen Wandels. Er zwingt dazu, das endogene Potenzial der Unternehmen in den Betrieben zu stärken. Denn: Ein Austausch älterer Geringqualifizierter gegen jüngere Qualifizierte funktioniert immer seltener. Grundbildungsangebote werden somit zukünftig regulärer Bestandteil betrieblicher Weiterbildung und damit ein Angebots- 76 feld der Bildungszentren der Kammern. „Doch bis es so weit ist, sollte die öffentliche Hand Verantwortung übernehmen für Personen, die für gewöhnlich nicht im Blick von Personalentwicklung sind, an die man nicht denkt bei betrieblicher Weiterbildung.“ Thorsten Manske, Bildungsberater bei der Kreishandwerkerschaft SteinfurtWarendorf in Rheine, stimmt zu: „Noch dominiert in den Betrieben der Tenor: Es gibt einfache Tätigkeiten, da braucht man keine besondere Grundbildung. Doch mit der zunehmenden Spezialisierung und Komplexität der Arbeitsprozesse durch Technik und Dokumentation steigen die Anforderungen an die Beschäftigten. Handwerk wird immer mehr zur Dienstleistung, Arbeitsprozesse gehen Hand in Hand, Geselle und Praktikant müssen sich auf der Baustelle verstehen, damit Arbeitsabläufe reibungslos funktionieren, zunehmende Kundenkontakte aufgrund steigender Beratungsanteile erfordern gute Deutschkenntnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Anders als früher betrifft das zukünftig Beschäftigte aller Qualifikationsstufen.“ Arbeitsorientierte Grundbildung gewinnt an Bedeutung Nicht leicht ist es jedoch, in dieser Frage überhaupt Zugang zu Unternehmen und ihren Beschäftigten zu bekommen. Thorsten Manske: „Für die Betriebe ist das ein sensibles Thema, weil dabei Arbeitsprozesse noch einmal durchleuchtet werden müssen. Sie verschweigen lieber, dass Beschäftigte ohne Grundbildung in ihrem Unternehmen tätig sind, weil sie befürchten, Kunden könnten des- wegen an der Qualität ihrer Produkte oder Dienstleistungen zweifeln. Meistens kümmern sich Betriebe erst um das Thema, wenn Fehler auftauchen oder etwas schief gelaufen ist. Ohne zuvor Vertrauen aufgebaut zu haben, kann man in Betrieben kaum über das Thema sprechen.“ Die von ihm durchgeführte Beratung von Beschäftigten und Betrieben zu den Themen Bildungsscheck NRW und Bildungsprämie hält der Vertreter der Kreishandwerkerschaft für „einen guter Türöffner, um an die Betriebe heranzukommen“. Rosemarie Klein kann die Zurückhaltung der Betriebe nachvollziehen: „Betriebe verstehen sich in erster Linie als Arbeitsorte zur Erzielung von Unternehmensrentabilität und weniger als Lernorte zur Erweiterung der Kompetenzen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; Lernen und Kompetenzentwicklung werden deshalb immer noch oft als Bringschuld der Beschäftigten begriffen.“ Das Thema arbeitsorientierte Grundbildung muss nach ihrer Auffassung anschlussfähig an betriebliches Denken sein. Beraterinnen und Berater müssen „in betrieblichen Denk- und Handlungslogiken argumentieren“. Ihre Aufgabe ist, Notwendigkeit sowie betrieblichen und individuellen Nutzen arbeitsorientierter Grundbildung überzeugend darzulegen oder in Strategiegesprächen und Workshops gemeinsam zu erarbeiten: Mit Unternehmensleitungen, Personalverantwortlichen und Mitarbeitervertretungen sowie mit direkten Vorgesetzten wie etwa Schichtleitern, Pflegedienstleitungen oder Vorarbeitern, gegebenenfalls unterstützt durch Kammervertreter oder auch Bil- G.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG dungsreferenten der Gewerkschaften. Dazu brauchen Grundbildungsberater und -beraterinnen fundierte Kenntnisse über regionale Branchen und Unternehmen, in denen es Einfacharbeitsplätze gibt – und ein klar strukturiertes Vorgehen. Am Anfang steht dabei die Frage: Was sind die aktuellen Herausforderungen im Unternehmen? Darauf folgt die Information bzw. gemeinsame Erarbeitung der Chancen und Möglichkeiten einer arbeitsorientierten Grundbildung sowie die Feststellung von Lern- und Kompetenzentwicklungsbedarfen aus Sicht des Unternehmens und der Beschäftigten, aus denen wiederum Lernangebote abzuleiten sind. Rosemarie Klein: „Allgemeine Lernanlässe wie ‚Lesen` oder ,Schreiben‘ zu formulieren genügt nicht. Vielmehr müssen Lernanlässe aus konkreten, unmittelbaren Arbeitsanforderungen resultieren, im Pflegebereich zum Beispiel aus der Aufgabe, Hautveränderungen von zu Pflegenden knapp und präzise aufzuschreiben.“ klar. „Aufhänger der Qualifizierung ist vielmehr eine Optimierung der Arbeitsabläufe. Dazu sollen Teilnehmer/-innen vor allem Zusammenhänge im Produktionsprozess erkennen – für Beschäftigte an Einfacharbeitsplätzen keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Die mit der Qualifizierung an Einfacharbeitsplätzen vom Unternehmen dokumentierte Wertschätzung auch gering Qualifizierter“, ist der Berater überzeugt, „steigert deren Produktivität.“ Allgemeinere Anlässe, das Thema „arbeitsorientierte Grundbildung“ im Kontext des jeweiligen Unternehmensbedarfs anzusprechen, sind für den Unternehmensberater Martin Köhler, Inhaber der Firma pe werk in Dortmund, etwa die Einführung neuer Techniken, eine effektivere Personaleinsatzplanung, ein flexiblerer Mitarbeitereinsatz, Mängel beim Qualitätsmanagement oder die Beseitigung des Fachkräftemangels. In einem von ihm im Rahmen des SESAM-Projekts beratenen Unternehmen, das Fenster produziert, werden rund zehn Prozent der 60 Beschäftigten qualifiziert: „Dabei geht es nicht etwa um einen bloßen Deutschkurs“, stellt der Unternehmensberater Bei der Entwicklung konkreter Grundbildungsangebote ist darauf zu achten, in den Titeln der Angebote Defizitbeschreibungen von Beschäftigten und damit ungewollte Diskriminierungen der Lernenden zu vermeiden. Vielmehr gilt es Etiketten zu finden, die die betriebliche Relevanz in den Mittelpunkt stellen. Unverzichtbar ist zudem, die Beschäftigten an der Organisation des Angebots zu beteiligen und bei der Organisation des Angebotes kleinschrittig vorzugehen. G.I.B.INFO 4 13 Kompetenzentwicklung und Lerntransfer Neben den Betrieben sind die Beschäftigten zweiter Adressat der Lernangebote. Zwar lehnen gering Qualifizierte an Einfacharbeitsplätzen institutionalisierte Lernorte und Organisationsformen der Erwachsenenbildung keineswegs kategorisch als für sie ungeeignet ab, aber oft mangelt es ihnen an passenden Gelegenheiten. Mit dem Lernen allein ist es jedoch nicht getan. Eine zentrale Leistung arbeitsorientierter Grundbildung ist, das Gelernte als Kompetenz in das Arbeitshandeln zu überführen. Dieser Lerntransfer kann nur gelingen, wenn der Betrieb eine Feedbackkultur entwickelt und Beschäftigte eine Bilanz ihrer Fortbildung erstellen: Was habe ich vom Gelernten ausprobiert? Was ist mir wie gelungen? Wer hat es bemerkt? Wie haben die anderen reagiert? Dem „Feedback“ von Vorgesetzten müssen allerdings Konsequenzen folgen: „Kompetenzzuwächse im Sinne des ,Mehr-Könnens‘ brauchen auch Kompetenzzuwächse im Sinne des ,Mehr-Dürfens‘“, zitieren G.I.B. und bbb Erkenntnisse der Wissenschaft, „ein Mehr an Kompetenzen muss ein Mehr an Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten ermöglichen.“ Dazu zählen etwa die Beteiligung an Abteilungsbesprechungen oder an der Entwicklung von QM-Systemen sowie Formen des Job-Enrichments: „Dabei werden Beschäftigten neue Anforderungen zugetraut, aber auch höhere Leistungen eingefordert. Bisherige Erfahrungen zeigen jedenfalls, dass Grundbildungsangebote in Unternehmen drei auf den ersten Blick nur schwer miteinander zu vereinbarende Ziele erreichen können: Empowerment im Sinne der Stärkung von Individuen, Employability als Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit und schließlich die Sicherung von Unternehmenserfolg. Die Trias ist kompatibel.“ Weiterbildungskonzept für Lehrende: Arbeitsorientierte Grundbildung Auf Basis dieser Erkenntnisse hat das bbb im Rahmen des SESAM-Projekts eine Weiterbildung für Lehrende konzipiert. Sie richtet sich an Kursleiterinnen und Kursleiter, Dozentinnen und Dozenten, 77 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG Berater und Beraterinnen in NRW, die bereits über Erfahrungen in der Grundbildungs- und Alphabetisierungsarbeit oder in Schulungen mit Firmenkunden verfügen. Die Geschäftsführerin des bbb: „Wer noch nie ein Unternehmen von innen gesehen hat, kann die Weiterbildung nicht in fünf Tagen absolvieren. Wir wollten auch unbedingt mit einer kleinen Gruppe arbeiten, weil es sich um eine sehr persönlichkeitsorientierte Weiterbildung handelt.“ Thorsten Manske von der Kreishandwerkerschaft teilt ihre Auffassung: „Grundbildung an Volkshochschulen hat oft zu wenig Bezug zu konkreten Anliegen und Bedarfen in Unternehmen und braucht mehr Flexibilität in der Lernorganisation. Lehrende müssen sich in Betrieben auskennen und dort auf jeden Fall hospitieren, um die konkreten Arbeitsprozesse kennenzulernen. Nur so kann sich eine gute Grundbildung festigen.“ Ein bisschen anders sieht das Gabriele Fuchs von der kommunalen Weiterbildungsberatungsstelle an der VHS der Stadt Bochum: „Betriebe, aber auch andere Organisationen wie etwa die Jobcenter reagieren keineswegs mit Vorbehalten gegenüber Volkshochschulen, die aufgrund ihres qualifizierten Unterrichts heute auch in den Unternehmen über einen guten Ruf verfügen. Das hören wir jedenfalls, wenn wir mit Einverständnis der von uns beratenen Beschäftigten Kontakt zu deren Arbeitgebern aufnehmen. Richtig ist aber, dass VHSLehrende vor Durchführung einer arbeitsorientierten Grundbildung an einer SESAM-Weiterbildung teilnehmen 78 sollten, damit sie lernen, wie man sich mit der Hierarchie eines Unternehmens vertraut macht und dass die betrieblichen Belange immer angemessen zu berücksichtigen sind. Zudem müssen sie hinsichtlich der Schulungsräume und Unterrichtsorte flexibel sein.“ Viel schwieriger ist es, so Gabriele Fuchs, gemeinsam mit Betrieben und Dozenten ein MaßnahmeKonzept zu entwerfen: „Dabei kommen auf die Lehrenden hohe Anforderungen zu. Das einschlägige Schulungsangebot von SESAM ist für sie eine Möglichkeit, sich für den Bereich der berufsbezogenen Grundbildung zu qualifizieren, und deshalb zu begrüßen.“ Die vom bbb im SESAM-Projekt angebotene modulare Weiterbildung „Arbeitsorientierte Grundbildung“ vermittelt Beraterinnen und Beratern die Kompetenz, betriebliche oder betriebsnahe Grundbildungsangebote zu konzipieren und zu realisieren. Zu den Inhalten der Weiterbildung gehören unter anderem: Verständnis von arbeitsorientierter Grundbildung, Branchen und Anlässe für arbeitsorientierte Grundbildung, Gestaltung von Zugängen zu Unternehmen und Beschäftigten, Akquise, Bedarfsermittlung, Angebotsentwicklung sowie didaktische Prinzipien einer arbeitsorientierten Grundbildung. Hinzu kommen Lernbegleitung und Lerntransfer, Lernbegleitung und Erfolgssicherung. Die Fortbildung umfasst 46 Lernzeitstunden inklusive Präsenzveranstaltungen, acht Selbstlernzeitstunden und acht Stunden für eine Angebotsentwicklung. Erfolgreich Teilnehmende der Weiterbildung erhalten das Zertifikat „Arbeitsorientierte Grundbildung“ (bbb). Rosemarie Klein: „Für Kursleitende aus dem Grundbildungs- und Alphabetisierungsbereich ergibt sich damit potenziell ein längerfristiges Geschäfts- und Arbeitsfeld.“ Vermittlung arbeitsbezogener Grundbildung als Einzelcoaching Sieben Personen haben bislang an der vom bbb angebotenen Weiterbildung teilgenommen und sich so professionalisiert für die Vermittlung einer arbeitsbezogenen Grundbildung. Einzelne von ihnen könnten demnächst zum Einsatz kommen. Erste Kontakte zu Unternehmen bestehen bereits, darunter eins aus dem produzierenden Gewerbe, das seine Produktion teilautomatisieren will, um weiterhin auf dem internationalen Markt bestehen zu können. Die Geschäftsführung hat unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die Teilautomatisierung nicht automatisch zu Teilentlassungen führen soll. „Das sind gute Voraussetzungen für die arbeitsbezogene Grundbildung als Voraussetzung für die fachliche Weiterbildung zum Beherrschen der Teilautomatisierung.“ Zurzeit formuliert der Betrieb die konkreten Anforderungen für die fachliche Fortbildung. „Daraus werden wir ein Konzept entwickeln für Personen, die nicht sofort die Lernanforderungen bewältigen können, also eine Vorab-Qualifizierung vor der eigentlichen fachlichen Fortbildung brauchen. Das ist ein zeitlich parallel laufender Prozess. Betroffen sind rund 100 Personen. Wir werden mit den Beschäftigten herausarbeiten, über welche Kompetenzen er oder sie verfügt, was G.I.B.INFO 4 13 ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG ihn oder sie antreibt und welche Ängste vielleicht die Veränderungen am Arbeitsplatz erzeugen, um zunächst den Kopf frei zu bekommen für das Lernen.“ Bereits erfolgreich durchgeführt wurde im SESAM-Projekt ein arbeitsbezogenes Grundbildungsangebot in einer Transfergesellschaft in Form eines Einzelcoachings. Thomas Aigner, Diplom-Volkswirt und nebenamtlicher VHS-Dozent, hatte nach vorheriger Teilnahme an der SESAM-Weiterbildung ein Schulungskonzept entwickelt: „Unternehmen darf man nicht mit Alphabetisierung und Grundbildung kommen, sondern man muss ihnen klarmachen, dass es um Fortbildung, um Kompetenzerweiterung und um die betriebliche Entwicklung geht. In der Gesundheitspflege zum Beispiel sind zunehmend Migrantinnen und Migranten aus Spanien und Portugal tätig. Sie müssen die spezielle Sprache ihres Arbeitsplatzes erlernen. Wir dürfen nicht den Fehler der Vergangenheit wiederholen, als im schulischen Englischunterricht die Sprache Shakespeare gelehrt wurde, Schüler/-innen aber nicht in der Lage waren, beim Bäcker ein Brot zu kaufen. Bei der arbeitsorientierten Qualifizierung eines Kommissionierers in der Transfergesellschaft spielten deshalb Begriffe aus der Arbeitswelt eines Lagerarbeiters wie etwa ,Warenentnahmeschein‘ eine zentrale Rolle, also Sprache im Kontext betrieblicher Arbeitsabläufe.“ Die Einzelschulung von 10 Unterrichtseinheiten á 3 Stunden in diesem Fall rechtfertigt Rosemarie Klein so: „Was im Topmanagement als Selbstverständlichkeit gilt, aber dort dreimal so viel kostet, sollte auch im G.I.B.INFO 4 13 Kontext arbeitsbezogener Grundbildung möglich sein. Für Klein- und Kleinstunternehmen rechnen sich Investitionen in Einzelpersonen. Für sie käme aber auch eine Verbundlösung in Betracht.“ Dazu Dr. Friedhelm Keuken, in der G.I.B. verantwortlich für das SESAM-Projekt: „Mit diesem Projekt betreten wir in vielerlei Hinsicht Neuland. Die mit SESAM kooperierenden Beraterinnen und Berater nutzen das Thema „Arbeitsorientierte Grundbildung“, um ihren Kundenunternehmen neue Angebote zu unterbreiten. Damit treffen sie nicht bei allen Unternehmen auf offene Ohren. Die bisherigen Erfahrungen zeigen aber, dass Unternehmen insbesondere im Gesundheitsbereich und im verarbeitenden Gewerbe daran interessiert sind, arbeitsplatznahe bzw. unternehmensnahe Grundbildungsangebote zu realisieren. Sie wollen damit die Kompetenzen ihrer Beschäftigten erhöhen und den Fachkräftebedarf sichern. Zugleich sehen sie ihr Engagement in diesem Handlungsfeld aber auch als Ausdruck ihrer Wertschätzung gegenüber ihren zum Teil langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sie an ihr Unternehmen binden wollen. Für Volkshochschulen und Lehrende ist der Aspekt „Arbeitsorientierung“ Neuland. Arbeitsorientierte Grundbildung bietet ihnen die Möglichkeit, sich Unternehmen als neue Kundengruppe zu öffnen und so weitere Teile der berufstätigen Bevölkerung für ihre Angebote zu gewinnen. Wir befinden uns mit dem Projekt SESAM noch am Anfang. Die weitere Entwicklung wird uns Aufschluss geben über die fördernden und hindernden Faktoren bei der Realisierung von Projekten zur arbeitsorientierten Grundbildung in und mit Unternehmen. Wir können aber bereits jetzt feststellen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland eine Regelförderung für Grundbildung benötigen, wenn wir bei zukünftigen PIAAC-Studien bessere Ergebnisse erzielen wollen.“ ABSTRACT Etwa drei bis vier Millionen Beschäftigten mangelt es an arbeitsplatzrelevanten Leseund Schreibkompetenzen. Im Modernisierungsprozess ihrer Betriebe können sie oft nicht mithalten, berufliche Entwicklungsmöglichkeiten sind ihnen versperrt. Um an dieser Situation etwas zu verändern, hat die G.I.B. zusammen mit dem bbb Büro für berufliche Bildungsplanung, Dortmund, das Projekt „Strategien zur Weiterentwicklung der Beratungsangebote in Nordrhein-Westfalen für arbeitsorientierte Grundbildung – ein Beitrag zur Stärkung von Beschäftigten und Unternehmen – SESAM“ entwickelt. WEITERE INFORMATIONEN ZU SESAM www.sesam-nrw.de ANSPRECHPARTNER IN DER G.I.B. Dr. Friedhelm Keuken, Tel.: 02041 767-272 E-Mail: f.keuken@gib.nrw.de KONTAKT Rosemarie Klein, Tel.: 0231 589691-10 bbb Büro für berufliche Bildungsplanung R. Klein & Partner GbR Internet: www.bbb-dortmund.de AUTOR Paul Pantel, Tel.: 02324 239466 E-Mail: paul.pantel@arcor.de 79 MONITORING UND EVALUATION Jugend in Arbeit plus Untersuchung des Programms Im Programm „Jugend in Arbeit“ erhalten seit nunmehr 15 Jahren Jugendliche in Nordrhein-Westfalen Hilfestellungen bei der Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Trotz diverser Detailänderungen an der Programmkonzeption ist die Grundstruktur – eine enge Zusammenarbeit von Arbeitsverwaltung, Beratungseinrichtungen und Kammern – seit dem Programmstart 1998 beibehalten worden. Bis heute wurden rund 76.000 Jugendliche beraten; die Hälfte von ihnen – rund 38.000 junge Menschen – konnten über das Programm in eine Erwerbstätigkeit integriert werden. Der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Programms „Jugend in Arbeit plus“ widmet sich der Artikel auf Seite 18 ff. in diesem G.I.B.-Info. Von Beginn an hat die G.I.B. das Programm „Jugend in Arbeit“ fachlich begleitet. Dazu zählte auch die Entwicklung eines Monitorings von Prozess- und Teilnehmerdaten, die bis heute Grundlage für eine regelmäßige Berichterstattung zur Programmumsetzung sind. Darüber hinaus führte die G.I.B. im Zeitraum 2011/12 eine umfangreiche Untersuchung zur Programmumsetzung im Rahmen der Gesamtevaluation des NRWESF-Programms der Förderphase 2007 – 2013 durch. Die Untersuchung befasst sich mit der Frage, welche Faktoren auf den Teilnahmeverlauf und somit auch auf den Teilnahmeerfolg der Jugendlichen einwirken. Für diese Analysen wurden die Teilnehmerdaten aus dem Monitoring mit weiteren Angaben verknüpft, die bei den Beraterinnen und Beratern und Kammerfachkräften erhoben wurden. Programmerfolg Für die Untersuchung galt die Erwerbsintegration der Teilnehmenden bzw. der Anteil der erfolgreich in Erwerbstätigkeit integrierten an allen Teilnehmenden als zentraler Erfolgsindikator für die Programmumsetzung. 80 Die Erwerbsintegration kann dabei wiederum danach differenziert werden, auf welchem Weg eine Erwerbstätigkeit aufgenommen wurde. Eine differenzierte Betrachtung unterscheidet drei Erfolgstypen: • Die Vermittlung von Teilnehmenden in Erwerbstätigkeit (keine Ausbildung) durch die Kammerfachkräfte • mit Eingliederungszuschuss (Erfolg 1), • ohne Eingliederungszuschuss (Erfolg 2). Diese Formen der Vermittlung sind nur nach Übergabe der Teilnehmenden an die Kammerfachkräfte möglich. • Die Erwerbsintegration von Teilnehmenden (auch eine Ausbildung) ohne Vermittlung durch die Kammern (Erfolg 3). Eine solche Erwerbsintegration kann – ebenso wie der Abbruch der Teilnahme – sowohl während der Beschäftigungsphase als auch nach der Übergabe an die Kammerfachkräfte stattfinden. Tabelle 1 ist zu entnehmen, wie viele Teilnehmende in den Jahren 2009 bis 2011 aus JA plus in Erwerbstätigkeit abgegangen und nach welchem Erfolgstyp eine Beschäftigung aufgenommen wurde. Demnach erfolgten im Zeitraum 2009 bis 2011 insgesamt 42,4 % der Abgänge in Erwerbstätigkeit. Der Anteil der Erwerbsintegrationen an allen Abgängen ist von 2009 bis 2011 kontinuierlich gestiegen, 2011 betrug er 43,9 %. Im Jahr 2011 wurden etwa gleich viele Teilnehmende entweder von den Kammerfachkräften in Beschäftigung vermittelt oder sind ohne Vermittlung durch die Kammern in Beschäftigung gegangen. Bei den Teilnehmenden, die von den Kammern vermittelt wurden, überwiegt leicht der Anteil der Teilnehmenden, die einen EGZ erhalten haben (11,8 vs. 10,2 %). Analyse-Stufen Die Ermittlung von Merkmalen, die einen maßgeblichen Einfluss auf den Teilnahmeerfolg – also die Erwerbsintegration – der Jugendlichen haben erfolgte in drei auf einander aufbauenden Stufen: Die erste Stufe setzte auf der individuellen Ebene der Teilnehmenden im Landesprogramm Jugend in Arbeit plus an, um den Einfluss individueller Merkmale der Jugendlichen auf eine erfolgreiche Teilnahme bzw. auf die WahrscheinG.I.B.INFO 4 13 MONITORING UND EVALUATION Zentrale Ergebnisse der Untersuchung liegen als G.I.B.Arbeitspapiere 47 vor und können unter www.gib.nrw.de (Service/Publikationen) heruntergeladen oder als Printfassung bestellt werden. Tabelle 1: Anteil der Abgänge nach Abgangsjahren und Form der Erwerbsintegration, 2008 bis 2011 Abgangsjahr Anzahl Teilnehmende (abs.) 2009 2010 2011 2009 – 2011 4.342 4.391 3.545 12.278 Abgänge (in %) keine Erwerbsintegration 59,4 % 57,0 % 56,1 % 57,6 % Erwerbsintegrationen (gesamt) 40,6 % 43,0 % 43,9 % 42,4 % Vermittlung durch Kammern mit EGZ, mit Begleitung 15,8 % 15,0 % 11,8 % 14,4 % Vermittlung durch Kammern ohne EGZ, mit Begleitung* (2,3 %) 5,7 % 10,2 % (5,8 %) Andere Erwerbsintegration (ohne EGZ/Begleitung) 22,5 % 22,3 % 21,9 % 22,3 % 100,0 % 100,0 % 100,0 % 100,0 % darunter Summe * Werte für diese Form der Erwerbsintegration sind für das Jahr 2009 und somit auch für den Zeitraum 2009 – 2011 nur begrenzt belastbar, da eine differenzierte Erfassung der Vermittlung mit und ohne EGZ in den Monitoring-Daten erst seit Mai 2009 erfolgt. Quelle: Eigene Berechnung nach Monitoring-Daten aus dem Programm JA plus 2009 – 2011 lichkeit der Erwerbsintegration zu ermitteln. Aufbauend auf den Ergebnissen auf Teilnehmerebene wurden auf der zweiten Analysestufe Angaben zur Beratung und zu den Beraterinnen und Beratern im Hinblick auf die Erwerbsintegration vorgestellt und untersucht. In der dritten Stufe wurde analysiert, welche regionalen Faktoren die Erwerbsintegration von Jugend in Arbeit plus beeinflussen. Zu diesen Faktoren zählten neben Indikatoren der regionalen Arbeitsmarktsituation insbesondere die Angaben der Kammerfachkräfte und Berater/-innen. Zentrale Ergebnisse Die Analyse auf Ebene der Teilnehmenden ergab, dass die meisten der insgesamt 26 berücksichtigten Merkmale der Jugendlichen einen signifikanten Einfluss auf den Teilnahmeerfolg haben. Die statistische Analyse machte aber zugleich deutlich, dass selbst mit dem breiten Spektrum der verfügbaren Merkmale die Wahrscheinlichkeit der Erwerbsintegration nur begrenzt vorhergesagt werden kann. Daher wurde in den folgenden Analysestufen untersucht, ob auf Ebene der institutionellen Akteure in Jugend in Arbeit plus – den Beraterinnen und Beratern und Kammerfachkräften – weitere Anhaltspunkte für Einflussfaktoren ermittelt werden können, die eine erfolgreiche Teilnahme bzw. Erwerbs integration unterstützen. G.I.B.INFO 4 13 Nach den Analysen weisen die institutionellen Rahmenbedingungen der Berater/-innen und deren Arbeitszeit, die zur Bearbeitung von Jugend in Arbeit plus bzw. zur Beratung von Teilnehmenden zur Verfügung steht, einen Einfluss auf die Integrationschancen der Teilnehmenden auf. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass die Kooperation zwischen Berater/-innen und anderen Akteuren eine entscheidende Rahmenbedingung für die erfolgreiche Programmumsetzung darstellt. Die Untersuchungen auf regionaler Ebene ergaben, dass weitere Faktoren auf den Programmerfolg wirken. Demnach fördert eine günstige Entwicklung des regionalen Arbeitsmarktes die Integrationschancen von Teilnehmenden. Ein weiterer Einflussfaktor besteht in der Zahl der Regionen, für die eine Kammerfachkraft zuständig ist, denn mit zunehmender Zahl an Regionen sinkt die Chance der Erwerbsintegration von Teilnehmenden. Zudem bestätigten die Analysen auf regionaler Ebene, dass die Kooperation der Akteure in Jugend in Arbeit plus von zentraler Bedeutung für die Erwerbsintegration der Teilnehmenden und damit für den Programmerfolg insgesamt ist. AUTOR Dr. Georg Wortmann, Tel.: 02041 767-246 E-Mail: g.worthmann@gib.nrw.de 81 MONITORING UND EVALUATION Teilzeitberufsausbildung – Einstieg begleiten – Perspektiven öffnen (TEP) Ergebnisse aus vier Jahren Programmumsetzung Seit dem Ausbildungsjahr 2009/2010 unterstützt das Land NRW mit der Förderlinie „Teilzeitberufsausbildung – Einstieg begleiten – Perspektiven öffnen“ (TEP) junge Menschen mit Familienverantwortung dabei, ihren Wunsch nach einer Berufsausbildung zu realisieren. TEP ist Teil des Handlungsprogramms heitliche Berechnungsgrundlage für die regionale Quote, die sich auf 10 Plätze pro Kreis bzw. kreisfreier Stadt in der Region bezog. Aufgrund der Möglichkeit zur Nachbesetzung von frei gewordenen Teilnehmendenplätzen werden stets mehr Eintritte als bewilligte Plätze verzeichnet. Für die Projektdurchläufe 2009 bis 2012 wurden für die Förderlinie TEP insgesamt rd. 3,3 Millionen Euro ESF- und Landesmittel bewilligt. für Berufsrückkehrende „Brücken bauen in den Beruf“ und wird neben Landesmitteln und weiteren Fi- Tabelle 1: Bewilligte Projekte und Eintritte seit 20091 nanzierungsquellen mit Mitteln des europäischen Abgeschlossene Projektrunden Sozialfonds kofinanziert. Ziel der TEP-Maßnahme 1. 2009/2010 ist der Übergang in eine betriebliche Erstausbildung (in der Regel in Teilzeit) in einem nach dem Berufs- Eintritte 13 199 2. 2010/2011 28 438 3. 2011/2012 44 662 4. 2012/2013 bildungsgesetz (BBiG) oder der Handwerksordnung Anzahl der Projekte Gesamt 43 661 128 1.820 (HWO) anerkannten Ausbildungsberuf. Seit 2010 kann auch eine Ausbildung zur Altenpflegefachkraft im Struktur der TEP-Teilnehmenden Rahmen von TEP begleitet werden. Die maximal zwölfmonatige TEP-Förderung sieht eine individuelle Vorbereitungsphase von vier Monaten und eine Phase der Ausbildungsbegleitung von acht Monaten durch Bildungsträger vor. Zielgruppe sind Mütter und Väter, die wegen bestehender Familienpflichten (Kinderbetreuung/Pflege von Angehörigen) bisher keine Ausbildung aufnehmen konnten oder diese abgebrochen haben. Die Information und Unterstützung der ausbildungsbereiten Unternehmen zur Umsetzung und Etablierung von Teilzeitberufsausbildung in den unterschiedlichsten Berufen ist ebenfalls Aufgabe der TEP-Projektträger. Bewilligte Projekte und Plätze Seit Programmstart im Frühjahr 2009 bis zum Abschluss des vierten Projektdurchlaufs im Jahr 2012 sind fast 1.800 Frauen und Männer in die insgesamt 128 geförderten Projekte eingetreten (siehe Tab. 1). Seit 2011 wurde die Platzzahl auf 540 Teilnehmendenplätze jährlich festgelegt und in allen 16 Arbeitsmarktregionen des Landes NRW umgesetzt. Damit einher ging eine ein82 Über alle vier abgeschlossenen Projektrunden zeigt sich, dass die Teilnehmerstruktur über die Jahre weitgehend homogen geblieben ist. Der Frauenanteil lag in allen Projektdurchläufen bei rund 98 %. Mehrheitlich hatten die teilnehmenden Mütter (und Väter) ein Kind, mit dem sie in einem Haushalt zusammen lebten. Fast alle Kinder waren jünger als 15 Jahre, und rd. 40 % der Teilnehmenden betreuten ein Kleinkind von unter drei Jahren. Fast zwei Drittel der Teilnehmenden waren alleinerziehend. Insbesondere die große Gruppe Alleinerziehender mit Kleinkindern benötigt für den Übergang in Ausbildung die intensive Betreuung und Begleitung, die das TEP-Projekt ihnen bietet. Die Pflege von Angehörigen war in allen Projektrunden nur ein nachrangiges Thema, was auch auf das eher junge Durchschnittsalter der Teilnehmenden zurückzuführen ist. 1 Die laufende Projektrunde 2013/2014 wird in der folgenden Übersicht nicht berücksichtigt und ist nicht Gegenstand der nachfolgend dargestellten Auswertungen der G.I.B.-Monitoring-Daten. G.I.B.INFO 4 13 MONITORING UND EVALUATION Die unter 25-Jährigen bildeten stets die größte Gruppe unter den Teilnehmenden, in der Tendenz stieg jedoch der Anteil der „älteren“ Teilnehmenden über 25 Jahren seit 2009 kontinuierlich von 36 % auf zuletzt knapp 49 % im Jahr 2012. Die Vergütung der Teilzeitberufsausbildung erfolgte in der Regel nach Stundenvolumen (in jeweils rd. 90 % der Fälle), und ihr Zeitumfang betrug in der Regel 30 Wochenstunden. Übergänge in begleitete Ausbildung Bei den TEP-Teilnehmenden zeigt sich in allen Projektrunden ein sehr begrenztes Spektrum bei der Berufswahl: In allen Jahren konzentrierten sich drei von vier begleiteten Ausbildungen auf die zehn beliebtesten Ausbildungsberufe. Fast jeder zweite Ausbildungsvertrag wurde im kaufmännischen Bereich abgeschlossen, gefolgt von den Bereichen Gesundheit bzw. Altenpflege sowie Verkauf. Rd. 33 % der Teilnehmenden traten im ersten Projektjahr 2009 nach Abschluss der Vorbereitungsphase in eine durch den Bildungsträger begleitete (betriebliche) Ausbildung ein. Die Mehrheit trat eine Ausbildung in Teilzeit an. Nachdem die Eintrittsquote in begleitete Ausbildung im Folgejahr leicht auf 31 % zurückging, stieg sie in den Folgejahren stetig an. 2011 lag sie bei rd. 40 % und 2012 schließlich bei rd. 46 % (siehe Abb. 1). Abbrüche der begleiteten Ausbildung innerhalb der Projektlaufzeit werden seit 2010 ebenfalls im Rahmen des Monitorings erfasst. Über das Projektende hinaus ist keine Erfassung von Abbrüchen vorgesehen. 2010 lag die Abbruchquote der begleiteten Ausbildung bei 13 %, 2011 bei rd. 17 % und 2012 bei rd. 18 %. Abbruchgrund waren in erster Linie Probleme im Betrieb (etwa mit den Arbeitszeiten oder der Arbeitsorganisation). Abbildung 1: Eintritte in die begleitete Ausbildung Abbildung 2: Verbleib der Teilnehmenden nach Verlassen der TEP-Maßnahme Es wurden in allen Projektdurchgängen eher besser qualifizierte Frauen und Männer erreicht: Die Mehrheit der Teilnehmenden verfügte jeweils mindestens über einen mittleren Schulabschluss. Dieser Anteil stieg stetig von rd. 54 % im Jahr 2009 auf zuletzt 63 % 2012. Eintritte in begleitete Ausbildung in Teilzeit Eintritte in begleitete Ausbildung in Vollzeit 46,2 % 39,7 % 32,7 % 31,4 % 8,6 % 23,6 % 31,4 % 24,7 % 26,1 % 38,5 % 31,9 % 33,5 % 29,2 % 37,9 % 36,7 % 41,9 % 44,7 % 2009 (n = 174) 2010 (n = 392) 2011 (n = 547) 2012 (n = 541) 13,7 % 11,9 % 8,7 % 24,1 % 22,7 % 27,8 % 32,5 % 2009 (n = 174) 2010 (n = 392) 2011 (n = 547) 2012 (n = 541) Quelle: G.I.B.-Teilnehmenden-Datenbank in Ausbildung (begleitete betriebliche/sonstige Ausbildungsformen) sonstige berufliche Entwicklung (andere Qualifizierungsmaßnahmen, Ausbildung/Qualifizierung geplant u. a.) keine berufliche Entwicklung (Arbeitslosigkeit u. a.) Quelle: G.I.B.-Teilnehmenden-Datenbank G.I.B.INFO 4 13 83 MONITORING UND EVALUATION Verbleib der Teilnehmenden nach Verlassen der TEP-Maßnahme Die Gruppe der Teilnehmenden, die nach ihrem individuellen Austritt aus der TEP-Maßnahme in Ausbildung (sowohl in betrieblicher als auch in sonstiger, z. B. schulischer Ausbildung) verblieb, ist nach einem leichten Absinken von anfänglich rd. 38 % im Jahr 2009 auf knapp 37 % im Jahr 2010 stetig angestiegen auf zuletzt rd. 45 % im Jahr 2012 (siehe Abb. 2). Der Anteil derer, die abseits des Übergangs in Ausbildung eine sonstige berufliche Anschlussperspektive fanden (z. B. andere Qualifizierungsmaßnahmen, Beschäftigung, Nachholen von Schulabschlüssen u. a.), ist – zugunsten der in Ausbildung verbliebenen Gruppe – von einem hohen Anteil von rd. 39 % 2009 auf zuletzt 29 % im Jahr 2012 gesunken. Der Anteil derer, die ohne berufliche Perspektive bzw. Entwicklung das TEP-Projekt verließen, liegt (abgesehen von einem negativen Ausschlag im 2010) konstant bei rund einem Viertel der Teilnehmenden (siehe Abb. 2). Diese mündeten in Arbeitslosigkeit, traten eine Therapie an oder wurden erneut schwanger bzw. kehrten zu einer ausschließlichen Familientätigkeit zurück. ANSPRECHPARTNERIN IN DER G.I.B. Dr. Maria Icking Tel.: 02041 767-273 E-Mail: m.icking@gib.nrw.de AUTORIN Julia Mahler Tel.: 02041 767-175 E-Mail: j.mahler@gib.nrw.de 84 G.I.B.INFO 4 13 VORWORT So viel vorab Mindestlohn, Werkverträge, Leiharbeit – Themen, die das Arbeitsministerium seit dem Start der Landesinitiative „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“ besonders intensiv bearbeitet hat – sollen lt. Koalitionsvertrag von der neuen Bundesregierung angegangen werden. Höchste Zeit, möchte man meinen. Leihbeschäftigung ist überwiegend zweitklassig. Das Werkvertrags-Unwesen greift um sich. Der Sozialbericht des Statistischen Bundesamtes 2013 zeigt ein wachsendes Armutsrisiko auf. Die G.I.B. hat ein „Forum Lohnentwicklung“ organisiert und dazu eine Studie zur Verdienstentwicklung in Auftrag gegeben. In diesem Heft zeichnen wir die Entwicklung der Löhne und des Niedriglohnsektors auf. Besonders groß ist der lohnpolitische Handlungsbedarf in der Friseurbranche. Die Beschäftigten rangieren am Ende der Einkommensskala. Lesen Sie unseren Bericht „Qualität statt Lohndumping im Friseurhandwerk!“ Eher noch schlechter ist die Lage im Wach- und Sicherheitsgewerbe. Hier hat die Gewerkschaft ver.di im April 2013 in einem bundesweit beachteten Tarifkonflikt und nach massivem Streik beachtliche Lohnerhöhungen für die Beschäftigten und insbesondere für die unteren Lohngruppen durchgesetzt. Über den Verlauf der Tarifauseinandersetzungen und die Gründe für den gewerkschaftlichen Erfolg sprachen wir mit Andrea Becker. Die ehemalige Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur ist heute Abteilungsleiterin beim Landesbezirk NRW der Vereinten Dienstleis tungsgewerkschaft (ver.di). Eine wichtige Rolle in diesem Tarifkonflikt spielte Bernhard Pollmeyer. Der Landesschlichter NRW, eine unparteiische Institution, die es nur bei uns gibt, stellt im Interview die Bedeutung seiner Institution vor und verdeutlicht zugleich seinen Leitsatz bei der Moderation von Tarifauseinandersetzungen: „Kein Wettbewerb über den Lohn!“ Warum etwa das Thema Mindestlohn in Deutschland so kontrovers diskutiert wird und wie andere europäische Länder das regeln, haben wir mit Dr. Thorsten Schulten vom Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung besprochen. Schulten ist Referent für Arbeitsund Tarifpolitik in Europa und Mitglied der Kommission, die das Land beim Thema „Mindestlohn für die öffentliche Auftragsvergabe“ berät. Unser Interview mit Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller komplettiert die Artikel zum Thema Faire Arbeit in diesem Heft. Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, zeigt eindringlich die gesellschaftspolitische Dimension auskömmlicher Löhne und einer gerechten Verteilung von Markteinkommen auf und befindet: „Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer und ökonomischer Wert.“ Die Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss – Übergang Schule – Beruf in NRW“ erreicht fast alle Politikfelder in NRW. Wichtigstes Handlungsfeld der Arbeitsmarktpolitik ist dabei der Übergang von der Schule in den Beruf. Die Stadt Hagen und der Ennepe-Ruhr-Kreis sind zu Beginn des Jahres gemeinsam in die Umsetzung eingestiegen. Während andere Kommunen noch daran arbeiten, wie sie die regionalen Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände in die neu zu gestaltenden Übergangsstrukturen integrieren, zeichnen sich in Hagen und Ennepe-Ruhr schon klare Konturen ab. Ansonsten in diesem Heft: Das Modellprojekt „Teilhabe an Arbeit“, mit dem 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderung in NRW geschaffen werden sollen, die arbeitsbezogene Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen, die „Generation Praktikum“, zwei weitere Beispiele von Produktionsschulen, der in Gütersloh und einer in Vorpommern-Greifswald, sowie der Trend, dass immer mehr Jobcenter ihre Eingliederungsmaßnahmen selbst organisieren. Besonders zu empfehlen anlässlich des 15-jährigen Jubiläums von „Jugend in Arbeit plus“: unser Roundtable zu einem der wirksamsten Förder angebote nordrhein-westfälischer Arbeitsmarktpolitik. Viel Spaß beim Lesen wünscht wieder Magazin der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung des Landes Nordrhein-Westfalen G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH · Im Blankenfeld 4 · 46238 Bottrop, Dezember 2013 PVSt. Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt G.I.B.INFO 4 13 Impressum (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Wilfried Petri (Friseur- und Kosmetikverband NRW), Bernhard Pollmeyer (MAIS NRW), Dr. Burkhard Herausgeber: G.I.B. – Gesellschaft für innovative Post (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Dr. Boris Schmidt Beschäftigungsförderung mbH, Im Blankenfeld 4, 46238 Bottrop (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin), Dr. Thorsten Schulten (WSI), Verantwortlicher Redakteur: Manfred Keuler Rudolf Stüker (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Elisabeth Redaktionskonferenz: Andrea Bosch, Dr. Friedhelm Keuken, Manfred Keuler, Tadzidilinoff, Sarah Theres Weikamp, Silke Tornede, Michaela Trzecinski Julia Mahler, Christiane Siegel, Benedikt Willautzkat (agentur mark GmbH), Benedikt Willautzkat, Dr. Georg Worthmann An dieser Ausgabe haben mitgewirkt: Britta Albertz (Verein „Jugend in Arbeit“), Redaktionsanschrift und Bezugsadresse: Andrea Becker (ver.di NRW), Uwe Becker (Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH gGmbH), Karl Feldengut, Thomas Fonck (Landschaftsverband Rheinland), Ruth Girmes Im Blankenfeld 4 | 46238 Bottrop M. A. (Universität Duisburg-Essen), Andrea Greiner-Jean (Produktionsschule Wolgast), Tel.: 02041 767-0 | Fax: 02041 767-299 Martina Große Halbuer (Landschaftsverband Westfalen-Lippe), Thomas Heitzer (Netz- E-Mail: mail@gib.nrw.de | Internet: www.gib.nrw.de werk Lippe), Bernd Höller (agentur mark GmbH), Ulrike Joschko (Regionalagentur Gestaltung: Andrea Bosch, G.I.B. MEO), Jürgen Kempken, Astrid Kempmann (nomiko e. V.), Dr. Friedhelm Keuken, Fotos: Arnd Drifte; Joe Kramer; Michel Koczy; kontakt@generation- Rosemarie Klein (bbb Dortmund), Dr. Andreas Kletzander (Jobcenter Wuppertal), Jürgen praktikum.at; (c) dpa: Karl-Josef Hildenbrand, Daniel Naupold und Kockmann (Jobcenter Kreis Steinburt), Niko Köbbe (DGB), Elmar Kotthoff (Caritasver- Stephanie Pilick; ddpimages: Oliver Lang/Michael Kappeler band Hagen e. V.), Arnold Kratz, Frank Stefan Krupop, Eva-Maria Kunzig (freie Beraterin), Titelfoto: Arno Burgi (c) dpa Stephan Lorenz (Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg), Julia Mahler, Meinolf Melcher Druck: Druckerei Schmidt, Lünen | ZKZ: K31228 | ISSN 1860 – 9384 (Kolping Bildungszentren Ruhr gGmbH), Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller (IAB), Michael Bezugspreis: 7,00 EUR, zzgl. 3 EUR für Porto und Verpackung Nölle (Kreishandwerkerscschaft Düsseldorf), Paul Pantel, Hildegard Pavenstädt-Palsherm Erscheint vierteljährlich | Dezember 2013 Faire Arbeit, faire Löhne Die Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH ist eine Einrichtung der Landesregierung NRW. Sie unterstützt die Arbeitspolitik des Landes. Auch bei der Umsetzung des ESF ist die G.I.B. strategischer Partner des MAIS. Bildungsträger im Übergangssystem • Produktionsschulen Gütersloh und Wolgast • Make-orBuy-Ansätze • 1.000 neue Außenarbeitsplätze • 15 Jahre Jugend in Arbeit • Prof. Dr. Dr. h. c. G.I.B.INFO 4 13 Möller: Ungleichheit • NRW-Landesschlichter • Generation Praktikum • SESAM