Setting of a Drama - Hochschule Bochum

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Setting of a Drama - Hochschule Bochum
Titel November 2:Layout 1
19.10.2010
17:25 Uhr
Seite 1
„Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje
malawi
CROSSING BORDERS – VON SEE ZU SEE
EINE KOOPERATION DES THEATER KONSTANZ
MIT NANZIKAMBE ARTS IN BLANTYRE, MALAWI
NKHATA BAY (AT) (UA)
REGIE UND STÜCKENTWICKLUNG CLEMENS BECHTEL
02.2011 THEATER KONSTANZ
07.2011 GASTSPIEL IN MALAWI
NANZIKAMBE ARTS (UA)
06.2011 GASTSPIEL IN KONSTANZ
A NEW DIVISED PLAY (UA)
GEMEINSAME INSZENIERUNG DES
THEATER KONSTANZ UND NANZIKAMBE ARTS
06.2012 IN KONSTANZ
07.2012 IN BLANTYRE, MALAWI
GEFÖRDERT IM FONDS WANDERLUST DER
MIT UNTERSTÜTZUNG DES GOETHE-INSTITUT
VERBINDUNGSBÜROS MALAWI
Theater der Zeit
EUR 7 / CHF 14 / www.theaterderzeit.de
November 2010 · Heft Nr. 11
Setting of a Drama
Bühneninstallationen von Bert Neumann
togo
EN ATTENDANT GODOT
SAMUEL BECKETT
EIN PROJEKT DES THEATER KONSTANZ IN ZUSAMMENARBEIT
MIT LA COMPAGNIE LOUXOR DE LOMÉ
2010 IN LOMÉ, TOGO
2011 IN KONSTANZ
THEATER KONSTANZ
INTENDANT PROF. DR. CHRISTOPH NIX
INSELGASSE 2-6, 78462 KONSTANZ
WWW.THEATERKONSTANZ.DE
Theater der Zeit November 2010
konstanz
FOTO © SPIECKERMANN
GEFÖRDERT IM RAHMEN DER
AKTION AFRIKA DES AUSWÄRTIGEN AMTES
Neues deutsches Theater
Wer ist wir?
Gespräch Shermin Langhoff, Azadeh Sharifi, Nuran David Calis, Stefan Kaegi
Gintersdorfer / Klaßen und Heimathafen Neukölln im Porträt
Stück „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje
Titel November 2:Layout 1
19.10.2010
17:25 Uhr
Seite 2
Editorial November 2010
Künstlerinsert: Bert Neumann
Seite 2 und 4 / 5: Ausstellungsansichten
„Bert Neumann – Setting of a Drama“,
Augarten Contemporary Wien 2010
S. 3 oben: Setfoto von „Cinecittà
Aperta“ von René Pollesch, Mülheim
an der Ruhr 2009
unten: Setfoto von „Der perfekte Tag“
von René Pollesch, Mülheim an der Ruhr
2010. Fotos Bert Neumann
Nachdem Thilo Sarrazin eine weitere Debatte zum Thema Migration losgetreten hat,
bauen Seehofer, Merkel und andere die Leitkultur bereitwillig als Drohkulisse auf. Mit
der Pistole am Kopf Schillers ästhetische Erziehung in die Migrantenhirne trichtern,
bis sie platzen – so schildert es provokant der 1974 in Ankara geborene Autor Nurkan
Erpulat in seinem gemeinsam mit Jens Hillje entstandenen Stück „Verrücktes Blut“, einer Bearbeitung des französischen Films „La journée de la jupe“ für die Bühne (siehe
Stückabdruck in diesem Heft). Nicht die Pädagogik, sondern das Theater ist gefordert,
das Wort zu ergreifen, bringt Shermin Langhoff, künstlerische Leiterin des Ballhauses
Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg, die politische Situation auf den Punkt: „Das Theater muss diese Debatte anführen!“ Der Autor und Regisseur Nuran David Calis, Stefan
Kaegi von Rimini Protokoll und die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi diskutierten mit ihr, wie die Prägung der „neuen Deutschen“ in das Theater eingebracht werden kann und warum sich die subventionierten Bühnen so schwertun, die von Migranten aufgebrachten Steuergelder in das brisante Thema zu investieren. Aber dass sich
im Deutschland der dritten Generation etwas verschiebt, ist unabweisbar. Das zeigt
auch der Heimathafen Neukölln, eine weitere Berliner Bühne, die nicht nur Postmigranten ins Theater holt, sondern auch Studenten, Bildungsbürger und jene Schichten,
die gern als theaterfern beschrieben werden.
Jemand, der seit einiger Zeit und mit immer größerem Erfolg frischen afrikanischen
Wind in die Szene bringt, ist das Regieduo Monika Gintersdorfer/Knut Klaßen. Die ersten Preisträger des vom Fonds Darstellende Künste ausgelobten George-TaboriPreises porträtiert Renate Klett. Auch der neue Intendant der Münchner Kammerspiele
Johan Simons eröffnet Aussichten, die über den binnenländischen Tellerrand hinausweisen. Wie das europäische Theater in die bayrische Hauptstadt einzieht, berichtet
Christoph Leibold. Der Verantwortliche für die Raumgestaltung bei den Kammerspielen ist Bert Neumann, dem sich das Künstlerinsert dieser Ausgabe widmet. Ute Müller-Tischler sprach mit dem Künstler, für den das zentrale Kriterium ist, sich nicht zu
langweilen, nicht mit dem eigenen Tun in Routine zu verfallen.
Davon kann auch im Theater Osnabrück keine Rede sein. Schon länger kooperiert
das Theater unter der Intendanz von Holger Schultze mit den Kollegen im bulgarischen
Russe. Doch in diesem Jahr schrillen die Alarmglocken. Der Regierungswechsel in
Bulgarien hat es in sich: Im Kulturbereich wird radikal gespart, erfahrene Intendanten
müssen dem Gründer einer Business School weichen, der das richtige Parteibuch
besitzt, weiß Dorte Lena Eilers zu berichten. Holger Schultze wendete sich sofort an
den Deutschen Bühnenverein, der prompt an die Öffentlichkeit ging: „Wir fordern das
Kulturministerium und die Regierung in Sofia auf, den drastischen Kulturabbau sofort
zu stoppen!“ Theaterrodungen werden jedoch nicht nur in Bulgarien durchgeführt,
auch in Mecklenburg-Vorpommern will die Politik jenen Gesellschaftsvertrag mit dem
Theater aufkündigen, der es verpflichtet, die Angelegenheiten der Gemeinschaft künstlerisch zu verhandeln, erfuhr Gunnar Decker vor Ort.
Dass Theater wie Kunst ihren wesentlichen Impuls aus dem Unabgegoltenen nehmen, das resümiert Sebastian Kirsch in seiner Besprechung von Dimiter Gotscheffs und
Mark Lammerts Übermalung von Godards „La Chinoise“: „Ohne den Bezug bleibt
nichts als eine gelbe Horizontale.“ Mit dem Erlöschen des Sterns der Utopie hat vornehmlich das Theater als gesellschaftliche Kunst viele seiner Markierungen verloren.
Das hindert die Geschichte nicht daran, weitere enorme Umbrüche vorzunehmen. Die
Frage ist nur: Hat das Theater die Kraft, daran zu partizipieren, oder will es mit „Hamlet“ angesichts der Vergeblichkeit in Lethargie verfallen? Mehr, als das labyrinthisch
verschachtelte Sein des Menschen immer neu ver- und auszumessen, kann und darf
selbst das Theater nicht leisten. Die Redaktion
S. 8: Der Bühnenbildner Bert Neumann über die
Rückeroberung des öffentlichen Raumes
Inhalt
S. 12: Die Münchner Kammerspiele werden
unter Johan Simons zum Transitraum für
Heimatlose
S. 15: Neues deutsches Theater I:
Shermin Langhoff, Azadeh Sharifi, Nuran David
Calis und Stefan Kaegi im Gespräch
S. 21: TdZ entdeckt:
Die Stücke der Autorin
Marianna Salzmann
NOVEMBER 2010
KÜNSTLERINSERT
PORTRÄT
2 Setting of a Drama Bühneninstallationen von Bert Neumann
Ute Müller-Tischler
8 Der Raum muss ein Geheimnis haben
Der Bühnenbildner Bert Neumann über die Rückeroberung des öffentlichen Raumes
Christoph Leibold
NEUSTART 12 Ein großer Haufen Einsamkeit
Johan Simons verwandelt die Münchner Kammerspiele in einen Transitraum für Heimatlose,
Hartz-IVler und Hunde
S. 16
Frank Raddatz und Lena Schneider
DEBATTE 15 Neues deutsches Theater I: Eine Welt und tausend Blicke
Der Dramatiker Nuran David Calis, der Biografiensammler Stefan Kaegi, die Theaterleiterin
Shermin Langhoff und die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi im Gespräch
Lena Schneider
20 Neues deutsches Theater II: Von Elefanten und anderen Palaststürmern
Alle Welt redet von Integration – der Berliner Heimathafen Neukölln lebt sie. Und schreckt
dabei auch vor sperrigen Randgruppen wie Studenten und Bildungsbürgern nicht zurück
Renate Klett
PORTRÄT 23 Othello, wer ist das?
Fragt sich Monika Gintersdorfer – und spielt in ihren Performances gemeinsam
mit Kollaborateur Knut Klaßen Afrika und Europa beschwingt gegeneinander aus
Sebastian Kirsch
AKTUELLE INSZENIERUNG 26 König entartet, Kinder krank
Dimiter Gotscheff und Mark Lammert übermalen an der Volksbühne Godards „La Chinoise“
Friederike Felbeck
TDZ ENTDECKT 28 Musik ist kein Geschmacksverstärker
Die wundersamen Klangwelten des Komponisten, Musikers,
Sounddesigners und Performers Kornelius Heidebrecht
Mehdi Moradpour Sardehaie
29 Heimat ist ein Gefühl
Die Stücke der Autorin Marianna Salzmann sind Plädoyers für die Komplexität des Menschen
S. 28
Nicole Gronemeyer
HOCHSCHULEN 30 Käuzchenrufe und Ku-Klux-Kandy
DasArts in Amsterdam will für seine Studenten vor allem künstlerisches Labor sein –
fern von Produktionszwängen und Spartendenken
S. 23: Othello, wer ist
das? – fragt sich Monika
Gintersdorfer
S. 26: Dimiter Gotscheff und Mark Lammert übermalen an
der Volksbühne Godards „La Chinoise“
S. 30: DasArts in Amsterdam will
vor allem künstlerisches Labor sein
S. 32: Wie das Theater Neubrandenburg /
Neustrelitz um seine künstlerische Identität ringt
Gunnar Decker
HAUSPORTRÄT 32 Spielen unterm Damoklesschwert
Wie das Theater Neubrandenburg/Neustrelitz mit der drohenden Kreisgebietsreform
um seine künstlerische Identität ringt
Dorte Lena Eilers
AUSLAND 34 Blindflüge Bulgarien versucht, sich Richtung Europa zu reformieren –
und lässt dabei die Kultur auf der Strecke. Ein Reisebericht
AUFTRITT
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S. 34
Stuttgart Der Saisonstart des Staatsschauspiels lässt Bezüge zu aktuellen Konflikten nur optional mitschwingen
(Otto Paul Burkhardt) Berlin Katie Mitchells „Fräulein Julie“ an der Schaubühne macht den Blick der Köchin stark
(Gunnar Decker) Wien Mit der Uraufführung „Bruno Schulz: Der Messias“ von Małgorzata Sikorska-Miszczuk feiert Michał Zadara am Schauspielhaus die Unmöglichkeit der Vollkommenheit (Judith Staudinger) Mainz Am Staatstheater gibt Philipp Löhle mit der Uraufführung „Gegengipfel“ von Laura Fernández sein Regiedebut (Markus Hladek) Plauen/Zwickau Am Theater Plauen-Zwickau versucht Roland May Christian Martins „Schneemond“ mit
Realismus zu bezwingen (Christian Horn) Konstanz Andrej Worons „Woyzeck“ überdeckt individuelle Tragik mit
der Übermacht der Musik (Bianca Schillinger / Anna Schughart) Zürich Lothar Kittsteins Kriegsstück „Haus des
Friedens“ am Theater an der Winkelwiese verlagert seinen Konflikt in die Köpfe der Zuschauer (Simone von Büren)
LESARTEN
46 Jean-Paul Sartre: „Geschlossene Gesellschaft“ gelesen von Gunnar Decker
KOLUMNE
47 Ein Unding der Liebe von Ralph Hammerthaler
AUTORENGESPRÄCH
48 Menschen zu besseren Menschen machen
Der Autor und Regisseur Nurkan Erpulat im Gespräch mit Patrick Wildermann
STÜCK
MAGAZIN
RADIOVORSCHAU
LINZERS ECK (29)
49 Nurkan Erpulat und Jens Hillje „Verrücktes Blut“
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Flanieren zwischen Orten und Ländern – „Ciudades Paralelas / Parallele Städte“: Das Berliner Hebbel am Ufer
als Ausgangspunkt für einen Parcours auf Reisen, Auch wenn das Leben danebengeht – Das 7. GlückAufFest
„Dostoprimetschatelnosti“ der Neuen Bühne Senftenberg, Was sonst nicht gehört wird – „King Kongo – Eine skandalöse postkoloniale Revue“ erzählt auf dem Festival Fidena 2010 in Bochum vom schweren Erbe eines Landes,
Bücher – „Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion“ (Rotbuch 2010) und „Penelope Wehrli: raum
partituren. Ich wohne in der Möglichkeit“ (Benteli Verlag 2010)
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69 Ich stelle den Antrag, die Demonstration zu beantragen oder
Wie es zum 4. November 1989 kam. Eine Buchempfehlung von Martin Linzer
KORRESPONDENTEN
MELDUNGEN
PREMIERENKALENDER
IMPRESSUM
KOMMENTAR
VORSCHAU
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72
73 November 2010
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80 Halle: Aussitzen ist out von Christian Horn
80
Titelfoto: Bert Neumann. Foto LSD/Lenore Blievernicht
Der Raum muss
ein Geheimnis haben
Der Bühnenbildner Bert Neumann über den Reiz des Flüchtigen, künstlerische Freiheit
und die Rückeroberung des öffentlichen Raumes im Gespräch mit Ute Müller-Tischler
H
err Neumann, Sie arbeiten mit dem Widerstand, typische Theaterraumarchitektur interessiert Sie nicht. Wesentliche Elemente
Ihrer Bühnen sind Filmbilder, temporäre Architektur und die Übertragung von realen
Kontexten in den Theaterraum. Wie lange
lässt sich dieses ästhetische Prinzip reproduzieren, ohne dass Sie sich selbst langweilen?
Sich selbst nicht zu langweilen, finde ich ein wesentliches Kriterium. Etwas zu wiederholen, das man schon mal gemacht hat,
also sich routiniert ausschließlich der Mittel zu bedienen, die
man kennt, würde mich langweilen. Aber natürlich ist die Entscheidung für bestimmte Mittel ein Prozess, man ist da auf einem Weg, auf der Suche, die notwendigerweise auch Elemente
einschließt, mit denen man schon mal gearbeitet hat. Zum Beispiel diese weißen Monoblockstühle, die immer mal wieder in
meinen Arbeiten auftauchen: Einerseits erzählen sie von sich
aus eine Geschichte, die mich interessiert. Es gibt kaum Produkte, die so konsequent sind wie diese Stühle. Und sie sind wirklich global, die findet man überall auf der Welt. Andererseits sind
sie konkurrenzlos billig, und man muss nicht traurig sein, wenn
sie auf der Bühne kaputtgehen. Also gibt es gute Gründe, diese
Stühle in verschiedenen Kontexten zu benutzen. Andere Mittel,
wie zum Beispiel die Container von „Berlin Alexanderplatz“,
würden mich heute auf der Bühne nicht mehr interessieren. Das
Thema ist für mich mit dieser Inszenierung zu Ende erzählt, obwohl mir das immer noch viele Leute zuschreiben nach dem
Motto: „Neumann, das ist doch der mit den Containern.“
Fotoprojekt in Anatolien 2008
PORTRÄT
Sie verstehen sich als bildender Künstler, haben zweimal an
der Berlin Biennale teilgenommen und am PS1 in New York
ausgestellt. Was bedeutet das für Ihre Arbeit im Theater?
Ja, ich verstehe mich als bildender Künstler, der am Theater arbeitet. Mir ist da nicht der Titel wichtig, sondern die künstlerische
Freiheit, ohne die kann ich nicht arbeiten. Dass man meine Arbeit
auch im Kunstkontext wahrnimmt, finde ich natürlich erfreulich.
Allerdings sind die Räume, die ich baue, nicht zur reinen Betrachtung gedacht. Sie lösen sich erst durch Benutzung, durchs Bewohnen ein. Deshalb benutze ich gern den Begriff „temporäre Architektur“ für meine Bühnenbilder. Im Unterschied zur realen
Architektur sind meine Räume flüchtig, wenn eine Inszenierung
abgespielt ist, wird alles verschrottet oder recycelt. Der anachronistische Ewigkeitsanspruch, der immer noch an reale Architektur gestellt wird, um Sicherheit und Kontinuität zu suggerieren,
entfällt. Und ich muss keine Bauvorschriften einhalten, jedenfalls
nicht so viele wie ein Architekt. Der Raum für die Berlin Biennale
war eigentlich auch ein Recycling aus Teilen der „Neustadt“, die
als Bar, Kino und Bühne benutzt wurden.
Als mich die Kuratorin vom Belvedere gefragt hat, ob ich Lust
hätte, eine Ausstellung im Augarten-Atelier zu machen, habe ich
mir natürlich Gedanken gemacht, was ich da eigentlich ausstellen soll. Die Räume waren schon groß, aber nicht so groß, dass da
ein Bühnenbild von mir reingepasst hätte. Und dann hätten ja
auch die Schauspieler und die Inszenierung gefehlt. Und andererseits gibt es eigentlich kein adäquates Medium, eine Theaterinszenierung abzubilden. Also habe ich darauf komplett verzichtet
und das gemacht, was ich auch am Theater mache: einen Raum
bauen, diesmal nicht für Schauspieler, sondern für Besucher einer
Ausstellung, die aber nicht nur Betrachter, sondern gleichzeitig
Darsteller sein sollten, indem sie sich in dem Setting bewegen. Und
ich habe Leute eingeladen, den Raum zu bespielen, zum Beispiel
die „Pradler Ritterspiele“ aus Wien und Peter von „Peters Operncafé“, der seine alten Originalaufnahmen von Opernarien gespielt
hat, und die Berliner Band Freddy Famous, die die Ausstellung als
Probenraum und Bühne für ein Konzert benutzt hat. Das war spannend zu beobachten, wie sich die Räume durch die unterschiedliche Musik verwandelt haben.
Während der Wiener Festwochen haben Sie Ihre Ausstellung
„Setting of a Drama“ gezeigt. Zeit für Bilanz und Neuanfang?
An der Berliner Volksbühne waren Sie mit Ihren rebellischen
Bühnen und Rauminstallationen sehr erfolgreich. Die Inszenierungen von Frank Castorf und René Pollesch sind ohne
den extremen Ausnahmezustand und Ihre radikale Dekonstruktion von Erwartungsmustern undenkbar. Mit Ihrem
Anspruch auf künstlerische Freiheit haben Sie das Selbstverständnis der Volksbühne geprägt und eine Art Gesamtkunstwerk entworfen, von dem sie lange profitiert hat. Hat sich Ihr
gestalterischer Einfluss auf die Volksbühne verändert?
Die Volksbühne ist nach wie vor meine künstlerische Heimat,
trotz oder vielleicht auch wegen ihrer Verwerfungen, Untiefen
und Abgründe. Meine Art, Verantwortung für das ganze Projekt
Volksbühne zu übernehmen, war immer bildkünstlerischer Natur.
Verantwortung übernehmen heißt für mich aber auch Freiheit der
eigenen Entscheidung, ohne dass mir irgendwelche Höflinge dazwischenfunken mit ihrem Privatgeschmack, nach dem Motto:
„Die Farbe gefällt mir nicht, kann das statt gelb nicht grün sein.“
Ich glaube nicht daran, dass Sachen besser werden, wenn selbsternannte Kunstrichter Einfluss nehmen wollen. Das heißt nicht,
dass ich gegen kollektive Arbeit bin, ganz im Gegenteil. In unserem Grafikbüro LSD waren wir ja immer mindestens zu dritt, und
wenn mir der Grafiker sagt: „Das, was du dir da ausgedacht hast,
haut so nicht hin“, dann weiß ich, dass er das ausprobiert hat, und
ich akzeptiere seine Fachkompetenz. Dann sucht man gemeinsam
einen neuen Weg. Ich finde, Zusammenarbeit geht nur mit Respekt, und das heißt auch, Fachkompetenz zu akzeptieren. Kollektive Kunstproduktion kann nur fruchtbar sein, wenn jeder
Einzelne seinen Freiraum hat. Das ist ja das Besondere an Theaterarbeit, dass da verschiedene Künstler an einem Projekt arbeiten
und dadurch im besten Fall Kunst entsteht, die über das, was jeder
Einzelne hätte machen können, hinausgeht. Mein Bestehen auf
einer Arbeitsweise, die Eigenverantwortung und künstlerische
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befragen, hat mich ja in den letzten Jahren zunehmend interessiert.
Bühnenbild zu „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth, Utrecht 2009
Freiheit beinhaltet, fand die Geschäftsleitung der Volksbühne irgendwann nicht mehr akzeptabel. Deshalb macht seit zwei Jahren
eine Werbeagentur die Plakate für die Volksbühne. Leider sieht
man denen auch den trainierten Gehorsam an, das Dienstleistungsmäßige. Risikovermeidung ist tödlich für Kunst.
In der neuen Spielzeit arbeiten Sie mit dem Intendanten Johan
Simons an den Münchner Kammerspielen. Sie haben für ihn
auch das gesamte Erscheinungsbild des Theaters neu entworfen.
Wir arbeiten ja schon seit Jahren zusammen, und als Johan Simons
mich gefragt hat, ob ich mich um die Entwicklung neuer Spielräume kümmern und mit der Architektur der Kammerspiele beschäftigen möchte, fand ich das eine reizvolle Aufgabe. Das Verhältnis von Zuschauerraum und Bühne immer wieder neu zu
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Sie haben dort die Theaterräume anders definiert. Was haben
Sie verändert?
In der Vergangenheit habe ich ja
immer im Schauspielhaus der
Kammerspiele gearbeitet, also in
einer klassischen Guckkastenbühne. Die Trennung von Zuschauerraum und Bühne ist hier architektonisch festgeschrieben. Um
andere Theaterformen möglich zu
machen, entstand die Idee, die ehemalige Probebühne 1 zum Theaterraum, der Spielhalle, umzubauen. Hier gibt es einen Zugang
von der Straße, und die bisher
nutzlose Glasfassade hat jetzt dadurch einen Sinn bekommen, dass
der dahinter sichtbare Raum als
Foyer dient. Bei der Eröffnung war
es schön zu beobachten, wie durch
meine Lichtinstallation – die Brücken über die Straße sind mit Hunderten kleiner Lampen bestückt,
die wie eine grob gerasterte LEDWand funktionieren – und die
neue Nutzung der Räume durch
die Besucher ein belebter Ort zwischen dem Blauen Haus und der
Spielhalle entstanden ist, der die
Straße mit einschließt. Dass in der
Spielhalle im Unterschied zum
Schauspielhaus en suite gespielt
wird, gab mir die Möglichkeit, mit
Materialien zu arbeiten, die im Repertoirebetrieb mit seiner Notwendigkeit des täglichen Auf- und Abbaus nicht möglich gewesen
wären. Ich habe zum Beispiel Öffnungen mit Ziegelsteinen zumauern lassen. Und es gibt kein Portal und keine festgelegte Trennung von Spielfläche und Zuschauerraum. Das heißt, der Raum
und die Perspektive der Zuschauer wird sich mit jedem neuen Projekt verändern können.
Ihre Arbeit als Bühnenbildner in München wird sich vor allem
auf den Werkraum konzentrieren. Er erhält den Charakter eines Discoballrooms. Warum der Return in die siebziger und
achtziger Jahre?
Der Eindruck täuscht. Tatsächlich wird der Werkraum von mir neu
gestaltet, ich wollte, dass man den Raum wieder in seiner eigentliTdZ · November 2010
chen Gestalt erleben kann, und habe
deshalb die fest eingebaute Zuschauertribüne abbauen lassen und dem Raum
ein Gesicht für die neue Spielzeit gegeben. In dem Setting werden dann verschiedene Regisseure arbeiten. Das mit
dem Discoballroom ist eine Lesart, die
die Dramaturgie veröffentlicht hat.
Im Vorfeld hat mich tatsächlich die
Münchner Szene der Siebziger und
Achtziger interessiert, nicht nur wegen
der großen Namen wie Rainer Werner
Fassbinder oder Herbert Achternbusch
oder Freddy Mercury, sondern weil es
offenbar eine Zeit war, in der in München vieles möglich war. Disco war ja in
den Anfängen auch eine emanzipatorische Bewegung. Aber der Raum soll
nicht eindimensional nur Disco sein.
Amphitheater vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 2009. Alle Fotos Bert Neumann
Disco ist bis heute ein ungemein schillerndes, glamouröses
Phänomen geblieben, das Underground und Mainstream immer wieder beeinflusst hat. Atmosphärisch steckt da für mich
auch viel Bert Neumann drin.
Das stimmt, mich fasziniert diese Mischung aus Glamour und
Schäbigkeit, diese grellen Netzhautreize durch Licht und Flitter
und die unverhohlene Täuschung, die man auch auf dem Rummelplatz findet. Das sind Elemente, die ich auch benutze, indem
ich sie im Kontrast zu anderen Mitteln einsetze. Diese Mischung
ist mir wichtig. Und der Raum muss ein Geheimnis haben. Wenn
er sich auf Anhieb erschließt, finde ich das langweilig. Der neue
Werkraum könnte auch genauso gut eine Varietébühne, ein Striplokal oder ein Raum sein, den man geträumt hat.
Simons will nächstes Jahr in zwei Produktionen auch den
Münchener Stadtraum mit einbeziehen. Während Schorsch
Kamerun eine Parade der Vorstädte auf der Maximilianstraße
organisiert, wird Johan Simons „Die Perser“ als site-specific theatre inszenieren. Sie selbst sind immer wieder fasziniert vom
Außenraum. Welche Bilder sehen Sie im öffentlichen Raum?
Die Möglichkeit, außerhalb der sicheren Mauern des Theaters, außerhalb der sicheren Absprachen zu arbeiten, liebe ich sehr. Bei
der Entstehung der Art von Theater, die mir gefällt, spielt Zufall
eine große Rolle. Den kann man sich auch auf der Bühne des Theaters organisieren, aber draußen wimmelt es eben von Zufällen:
Wind, Wolken, das Licht, Passanten, die vorbeikommen, Straßenbahnen usw., Dinge, auf die man reagieren muss, die einen überraschen.
Und auch provozieren? Die „Rollenden Road-Shows“ der Volksbühne sind legendäre Open-Air-Inszenierungen, die alle Beteiligten in den Zustand des Unvorhersehbaren und des Risikos
versetzen. Für René Polleschs „Perfekten Tag“ haben Sie in Mülheim eine Zirkuswelt in der Stadt aufgebaut und öffentlichen
Raum reklamiert.
Leider kann man in den letzten Jahren die Tendenz beobachten,
dass es aufgrund der Überregulierung des Stadtlebens immer weniger möglich ist, im öffentlichen Raum zu arbeiten. Ich finde, das
ist eine ungute Entwicklung. Öffentliches Leben verschwindet immer mehr; dagegen anzuspielen halte ich für wichtig. Bert Neumann
TdZ · November 2010
Foto LSD / Lenore Blievernicht
wurde 1960 in Magdeburg geboren und wuchs in Ost-Berlin auf. Seit 1992 ist er Chefbühnenbildner an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, deren gesamtes Erscheinungsbild er mit dem Künstlerkollektiv LSD
bis 2008 maßgeblich geprägt hat. Seine Bühnenbilder am Haus, die für Inszenierungen von Frank Castorf
und René Pollesch entstanden, ebenso wie seine Arbeiten mit anderen Regisseuren wie Johan Simons, Peter
Konwitschny oder Jossi Wieler sorgten für besonderes Aufsehen. Neben Berlin arbeitete er auch in Wien, München,
Stuttgart, Warschau, Amsterdam, Sofia, Moskau und Paris. Er gilt als einer der wichtigsten Bühnenbildner im
deutschsprachigen Raum und erhielt für sein Schaffen zahlreiche Preise, wie z.B. die Kainz-Medaille und den Berliner Theaterpreis der Stiftung Preußische Seehandlung. Während der Wiener Festwochen 2010 widmete die Kunsthalle Augarten Contemporary Wien Bert Neumann die dreimonatige Ausstellung „Setting of a Drama“.
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Ein großer
E
Johan Simons verwandelt zu Beginn seiner Intendanz
die Münchner Kammerspiele in einen Transitraum
für Heimatlose, Hartz-IVler und Hunde von Christoph Leibold
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in staubiger, mit rotbraunen
Tonkacheln ausgelegter Weg
durchzieht die Spielhalle in
voller Länge. Die Zuschauer
in der neuen Spielstätte der
Münchner Kammerspiele
(ein hoher Raum mit weißen
Klinkerwänden im Probengebäude) sitzen zu beiden Seiten dieses Weges
auf ansteigenden Tribünen, während unten
eine Fülle von Figuren vorüberzieht – neun
Schauspieler in mehr als doppelt so vielen Rollen. Einzig eine himmelblaue Hotelbar, eingebaut in einen echten Lastenaufzug, am einen
Ende des Kachelweges und eine verspiegelte
Nische am anderen sowie ein Kristalllüster, der
schwer von der Decke hängt, deuten in der
Bühne von Bert Neumann Hotelatmosphäre
an. Ansonsten setzt die Theaterversion von Joseph Roths Roman „Hotel Savoy“, mit der Johan
Simons seine erste Spielzeit an den Münchner
Kammerspielen als inszenierender Intendant
eröffnet hat, vor allem eine Metapher ins Bild:
das Hotel als Durchgangsort.
Auch Gabriel Dan, der Ich-Erzähler in Roths
1924 entstandenem Roman, macht hier vorübergehend Station. Er kommt aus der sibirischen Kriegsgefangenschaft. „Vom Schicksal
westwärts gespült“, landet er in einer namenlosen polnischen Stadt, in der eben jenes Hotel
Savoy steht, wo sich Dan einquartiert. Dan
selbst bezeichnet sich als „Heimkehrer“, muss
aber bald erkennen, das vom Nachhausekommen keine Rede sein kann. Denn Dan hat nichts
und niemanden, zu dem er heimkehren könnte.
Keiner erwartet ihn. Eltern, Brüder oder Schwestern scheint es nicht oder nicht mehr zu geben;
einzig einen reichen, aber geizigen Onkel, den
Dan vergeblich um Geld angeht.
Gabriel Dan ist der Prototyp eines Heimatlosen, und wenn Johan Simons Dans Geschichte an den Anfang seiner Intendanz stellt,
dann hat das auch ein wenig mit seiner eigenen
Heimatlosigkeit zu tun. Es sei schon so, dass
TdZ · November 2010
NEUSTART
Haufen Einsamkeit
ihn hier in München das Heimweh plage nach Haus und Familie
in Holland, bekundet der Niederländer. Das mag sich ein wenig
nach Koketterie anhören. Im Gegensatz zu Gabriel Dan hat sich
Simons schließlich aus freien Stücken für sein Leben ohne Heimat
entschieden. Gleichwohl drückt sich in Simons’ persönlichem
Sehnsuchtsbekenntnis eine Grundbefindlichkeit des Menschen
aus: eine existenzielle Verlorenheit. Nur dass Theaterleute diese
Verlorenheit angesichts des Vagantendaseins, das mit ihrem Beruf
meist einhergeht, besonders deutlich spüren. Noch härter trifft es
freilich einen Entwurzelten wie Gabriel Dan, der von sich sagt: „In
mir hat sich ein großer Haufen Einsamkeit angesammelt.“
Steven Scharf, der die Rolle in Simons’ Inszenierung verkörpert,
stapft denn auch mit schweren, aber zugleich vorsichtigen Schritten über die Tonfliesen, linkisch und bedächtig, als würde er dem
Boden unter seinen Füßen nicht trauen, unsicher, ob er überhaupt
das Recht hat, auf der Welt zu sein. Scharfs Gabriel Dan ist nicht
nur unbehaust, sondern auch unbehost. Die strammen nackten
Waden stecken in klobigen Stiefeln, darüber trägt Scharf nur eine
Feinrippunterhose und ein Armeehemd, aber keine Beinkleider.
So ist dieser Dan, den Steven Scharf berührend mit steifer Körperlichkeit und unbeholfenem Sprachduktus zeichnet, eine peinliche
Erscheinung – prädestiniert für eines der oberen Stockwerke im
Savoy, dort, wo die armen Schlucker absteigen. Die Reichen und
Schönen residieren in den noblen unteren Etagen des Hotels, das
Roth als Abbild einer ungerechten Gesellschaft gezeichnet hat, in
der die Schere zwischen Reich und Arm weit auseinanderklafft.
Ich bin ein Einzelner
Gabriel Dan nimmt das klaglos hin; nicht so sein Kriegskamerad
Zwonimir Pansin, der sich in Dans Kammer einnistet. Wolfgang
Preglers Pansin ist nicht nur äußerlich das komplette Gegenbild
zu Steven Scharfs Dan. Anderthalb Kopf kleiner, bringt er mindestens das Zehnfache an Energie mit. Wo Dan zusehends in Lethargie versinkt, poltert Pansin nach Hoppla-jetzt-komm-ichManier drauflos. Wo Dan still duldet, flucht Pansin über das Essen
in der Armenküche und zettelt Aufruhr an. Im Antagonismus der
beiden Figuren offenbart sich das zweite große Thema der Aufführung. „Ich bin ein Einzelner. Ich habe kein Gefühl für die Gemeinschaft“, bekennt Dan. Pansin dagegen will die Dinge verändern und weiß: Es geht nur im gemeinschaftlichen Aufstand. In
Zeiten, da Menschen die Möglichkeiten des öffentlichen Protests
wiederzuentdecken scheinen (just am Eröffnungswochenende der
Simons-Intendanz gingen in München Tausende auf die Straße,
um gegen Atomkraft zu demonstrieren), spiegelt sich im Disput
der beiden Hauptfiguren natürlich ein eminent politischer Konflikt. Trotzdem treten solche aktuellen Aspekte in Simons’ großartiger Einstandsinszenierung hinter der zutiefst menschlichen
Dimension des Stoffes zurück.
Eine existenzielle Einsamkeit und Verlorenheit kennzeichnet
fast alle Figuren, denen Gabriel Dan im Savoy begegnet. Vom liebenswert verpeilten Lotterieträumer Hirsch Fisch des Stefan Merki,
dem angeblich gewinnbringende Losnummern im Schlaf erscheinen, über den verhuschten jüdischen Spekulanten Abel Glanz (Stephan Bissmeier), Dans geckenhaften Cousin Alexander (schön
schnöselig: Nico Holonics), bis zum Fräulein Stasia, einer VarietéTänzerin, in die sich Dan verguckt – bei Katja Herbers ein schwer
zu fassendes Wesen von graziler Erscheinung, aber leicht burschikosem Auftreten. Das macht plausibel, wieso Steven Scharfs linkischer Dan von Stasia nicht nur verzaubert, sondern auch eingeschüchtert ist – weshalb diese Liebe zum Scheitern verurteilt ist.
Nicht zu vergessen zwei weitere grandiose Darsteller: André
Jung als abgrundtief trauriger Milliardär Henry Bloomfield, den
Der „Ruf der Wildnis“ ist
stärker als die Zivilisation –
Alvis Hermanis bei den
Proben (rechts Kristof Van
Boven). Foto Monika Pormale
S. 12: Vom Schicksal gen
Westen gespült – landet
Gabriel Dan (Steven Scharf,
vorne) mit Zwonimir Pansin
(Wolfgang Pregler) im
„Hotel Savoy“.
Foto LSD/Lenore Blievernicht
TdZ · November 2010
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alle um Geld anpumpen, während er doch aus Amerika in seine
Heimatstadt zurückgekehrt ist, nicht um zu helfen, sondern um
das Grab des toten Vaters zu besuchen; auch er ein Entwurzelter,
der sagt: „Unsere Heimat ist dort, wo wir unsere Toten haben.“
Dazu als umwerfend komischer Kontrast: Brigitte Hobmeier in
gleich sieben Kleinstrollen von der verlebten Puffmutter Jetti
Kupfer bis zum skurrilen Juxartikelhändler. Das ist hinreißende
Verwandlungskunst, die mühelos zwischen bayerischer Erdigkeit und ätherischer Leichtigkeit hin- und herhüpft. Wie überhaupt alle Darsteller ihre Figuren mit leichtem Federstrich
konturieren, manchmal auch grotesk zuspitzen, aber nie überzeichnen. Und so ist dieses Münchner „Hotel Savoy“ vor allem
grandioses Schauspielertheater, begünstigt durch eine geglückte
Theaterfassung (Koen Tachelet), die auf Dialoge setzt und sich
mit wenigen epischen Einschüben begnügt, die Romanadaptionen sonst manchmal etwas schwerfällig erscheinen lassen, und
ermöglicht auch durch die bestechende Ensembleführung des
Regisseurs.
Der Mensch ist ein trauriges, trostloses Tier. Als
Einsicht eines Theaterabends ist das recht dünn.
Doch auch in dieser Aufführung sind umwerfend
gute Schauspieler zu bestaunen. Sie machen alle
Schwächen vergessen.
Das kennt man von Simons. Man kennt aber auch das Gegenteil.
Seine Vorliebe für Roman- und Filmstoffe auf der Bühne hat dem
Theater auch schon die eine oder andere Kopfgeburt beschert. Wobei: Vorliebe? Von solchen Schubladisierungen will der 64-Jährige
nichts wissen. Er gehe immer vom Thema aus, sagt Simons. Das
müsse ihn interessieren. Und dann sei das eben manchmal ein Roman und ein andermal ein Theaterstück. Zufall meist. Als das geklärt ist, schnappt er sich einen Schmierzettel und malt zwei Dreiecke auf. Eisberge. Bei dem einen zieht er kurz unter der oberen
Spitze einen Strich: Das sei ein Theaterstück. Beim Dramentext
sehe man nämlich nur die Spitze des Eisberges. Was unter der
(Wasser-)Oberfläche liege, müsse man in den Proben herausarbeiten. „Beim Roman aber sieht man den ganzen Berg.“ Simons malt
nun kleine Vierecke ins zweite Dreieck: Das sind die Brocken, die
man aus einem Roman herausbrechen müsse, um ihn auf die
Bühne zu bringen. Mit „Hotel Savoy“ hat Johan Simons eindrucksvoll bewiesen, dass er diese Steinbrucharbeit beherrscht,
ohne dass am Ende nur Stückwerk dabei herauskommt.
Der lettische Regisseur Alvis Hermanis macht es sich da etwas
leichter. Er durfte die Ära Simons am Tag nach der „Savoy“-Premiere im Schauspielhaus eröffnen und hat sich ebenfalls einen Roman vorgeknöpft: Jack Londons „Ruf der Wildnis“ über den Haushund Buck, der, nach Alaska verschleppt, erst zum Schlittenhund
wird und sich schließlich, seiner inneren Natur folgend, einem
Wolfsrudel zugesellt. Hermanis hat ein paar Bröckchen aus der Romanhandlung herausgemeißelt und in Kieselsteingröße als Leitfaden, wie weiland Hänsel und Gretel die Brotkrumen, in Form
kleiner Erzähleinsprengsel über den Abend verstreut. Ansonsten
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sehen wir sechs Menschen und sechs (echte!) Hunde, die sich jeweils paarweise auf sechs Sofas niedergelassen haben. Sie berichten Tristes aus ihrem Leben, wobei ihre Geschichten, herausgefiltert aus Interviews, auf realen Biografien basieren. Die Befragten
scheinen alle Hartz IV näher als einem Kammerspiel-Abo gewesen
zu sein. Ihre Bühnen-Alter-Egos jedenfalls tragen hässliche grüne
Jogginganzüge wie der Frührentner Dragan, der seinen Vierbeiner
gern auch mal auf Obdachlose loslässt (spießig verbiestert: Thomas
Schmauser), oder geschmacklose Leopardentops wie das einsame
Herz Elvira, von Annette Paulmann mit unverwüstlich naivem Optimismus ausgestattet.
Wo die Bewohner des Hotels Savoy ganz und gar unbehaust
wirkten, scheinen sich die Couch-Potatoes bei Hermanis auf ihren
Sofas häuslich eingerichtet zu haben – in der verzweifelten Hoffnung, dass, wer nur innig genug mit Kissen und Schoßhündchen
kuschelt, von der Trostlosigkeit des eigenen Lebens nichts mitbekommt. Doch schon bald benehmen sich die Frauchen und Herrchen weit weniger domestiziert als ihre Haustiere. Kaum folgen
diese dem Pfiff einer Hundepfeife ins Off, lassen ihre Besitzer das
Tier in sich von der Leine. Der Ruf der Wildnis ist eben doch stärker als die Zivilisation, der Drang, den eigenen Trieben und Träumen freien Lauf zu lassen, übermächtig. Also bellen, heulen und
winseln sie, zerfetzen und besteigen ihre Sofas, bäumen sich auf
und sacken erschöpft zusammen, wie Köter, die sich in die Gitterstäbe ihres Zwingers verbeißen. Das ist manchmal peinigend,
wenn sich etwa der massige Benny Claessens unter Zurschaustellung wabbeligen Körperfetts quälend lange in einer Leine verheddert, nicht selten aufdringlich plakativ, entsetzlich banal und doch
oft auch wieder berührend, wenn Walter Hess als gealterter Schlittenhund inmitten von Schaumstoffflocken aus zerschlissenen Sofapolstern den Gnadentod stirbt. Der Mensch ist ein trauriges, trostloses Tier. Als Einsicht eines Theaterabends ist das recht dünn.
Doch auch in dieser Aufführung sind umwerfend gute Schauspieler zu bestaunen. Sie machen alle Schwächen vergessen. Allen voran Kristof Van Boven, ein Mann in Frauenkleidern, der mit verstörend brutaler Härte Franzine spielt, eine Witwe, die von
Thailand-Urlauben mit ihrem Verblichenen erzählt. Van Boven
zeigt die Spuren, die diese Frau die eiserne Disziplin gekostet hat,
die Thaisexeskapaden ihres Mannes zu ignorieren, um die Fassade
bürgerlicher Wohlanständigkeit aufrechtzuerhalten.
Van Boven war einer der wenigen Darsteller aus der Gruppe der
belgischen und holländischen, von Johan Simons dem Kammerspielensemble aus der Ära Frank Baumbauers zugeführten Schauspieler, die schon in den Auftaktpremieren in vorderster Reihe auffielen. Ansonsten standen vor allem Schauspieler im Fokus, die in
München fast schon als sesshaft gelten dürfen. Andernorts wäre
das womöglich zu beklagen. Doch in München hat sich noch kein
Abnutzungseffekt eingestellt. An diesem wunderbaren Ensemble
wird man sich noch lange nicht satt gesehen haben. Auch die Regisseure – Simons selbst, Alvis Hermanis oder demnächst Jossi
Wieler mit Stefan Zweigs „Angst“ – sind keine Unbekannten in der
Stadt. Das Stammpublikum darf sich in seinen Münchner Kammerspielen also nach wie vor heimisch fühlen. „Evolution statt Revolution“ scheint Simons’ Devise. Gleichwohl: Bald schon werden
neue, in München noch (weitgehend) unbekannte Namen auf dem
Spielplan auftauchen: Susanne Kennedy, Ivo van Hove und Julie
van den Berghe stellen sich noch in dieser Saison mit Inszenierungen an den Kammerspielen vor. TdZ · November 2010
„Prime Time“ von Dominic Huber Foto Doro Tuch
„Demokratie statt Integration“ fordert Shermin Langhoff ins unserem Gespräch. Sie legt damit den Finger auf das wohl größte
Missverständnis der in den letzten Monaten hitzig geführten Debatte um Migration: Es geht gar nicht vor allem darum, Menschen mit
großzügiger Geste „aufzunehmen“ – sondern darum, anzuerkennen, dass Deutschlands Gesicht insgesamt sich verändert hat. Nicht „die“
müssen „sich“ ändern, sondern wir uns. Wie kommt es, dass gerade der Theaterbetrieb das so lange übersehen hat? Was muss geschehen, damit sich das ändert? Und wie könnte dieses neue deutsche Theater aussehen? Wir haben den Dramatiker Nuran David Calis, den
Biografiensammler Stefan Kaegi, die Theaterleiterin Shermin Langhoff und die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi eingeladen, um
Fragen wie diese zu diskutieren und lassen das Stück „Verrücktes Blut“ (siehe S. 49) von Nurkan Erpulat und Jens Hillje erzählen, was
passiert, wenn deutsche Hochkultur zur Waffe greift. Während die Republik noch überlegt, wie es um ihr Selbstbild steht, hat der Berliner Heimathafen Neukölln längst erkannt, dass sein Publikum viele Gesichter hat – und Heimat mehr als einen Namen.
D
ie aktuelle Debatte um Thilo Sarrazin zeigt,
dass sich Theater, das sich mit den Themen
der Migration beschäftigt, auf politisch brisantem Terrain bewegt. Herr Calis, sehen Sie
sich überhaupt als Autor der Migration oder
der Interkulturalität?
Nuran David Calis: Ich mache nicht Theater,
weil ich für ein friedliches Miteinander bin. Ich
wollte zum Theater, weil es mich einfach fasziniert. Das Politische
ist eher eine Begleiterscheinung, die auftritt, weil ich diese Prägung nachweise oder hervorbringe, die im Moment sehr viele Fragen an die neue deutsche Geschichte aufwirft. Wenn ich mir Gedanken um diese Gesellschaft mache, dann tue ich es aus meinem
speziellen Blickwinkel. Ich versuche, mir gegenüber ehrlich zu
sein und Dinge aufzugreifen, die mir wichtig sind, die ich diskutieren muss. Mein Beweggrund ist zunächst einmal, im Theater ein
Medium oder einen Raum zu finden, über Dinge zu erzählen oder
Dinge zu verhandeln, die mich beschäftigen in der Gesellschaft.
Frau Langhoff, Sie haben ganz bewusst einen Rahmen – das
postmigrantische Theater im Ballhaus Naunynstraße –
geschaffen, um dieses Thema zu fokussieren.
Shermin Langhoff: Ich habe mich viel im Kontext von Literatur
und Film mit Migration beschäftigt und da Prozesse wahrgenommen, die sich sehr viel progressiver als im deutschen Theater gestalteten. Seit dem Tag, an dem Gastarbeiter kamen, gibt es eine
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„Gastarbeiterliteratur“, die zu Autoren geführt hat wie Emine
Sevgi Özdamar oder Feridun Zaimoglu. Im Film haben wir auch
eine sehr viel breitere Spanne von Produktionen und Förderungen
migrantischer Themen. Die fängt mit Fassbinders „Katzelmacher“
und „Angst essen Seele auf“ an und reicht über die frühen Perspektiven der nichtautochthonen Künstler wie Tevfik Baser mit
„40 Quadratmeter Deutschland“ bis zum heutigen Kino. Es gibt
eine Entwicklung vom Kino der Fremdheit, der Métissage hin zu
den transkulturellen, translokalen Filmen von Fatih Akin. Diese
Entwicklung hat das Theater anscheinend nicht nötig gehabt. Es
fehlen Geschichten, die durchaus relevant für die gesamte Gesellschaft sind. Wenn in Berlin an fünf Häusern Aufführungen zum
Thema Ehrenmord gespielt werden, dafür Tausende von Jugendlichen von der Schule abgeholt werden, verfehlt das einen entscheidenden Punkt. Es geht nicht um Geschichten, die jede Komplexität in der Fragestellung, jede Ambivalenz im ästhetischen
Diskurs ausblenden. Im Label „postmigrantisches Theater“ haben
wir Ästhetik und Politik zusammenzudenken. Ich verstehe darunter einen Ort für eine Politik der Blicke, der Wahrnehmung:
Wie sehen wir auf Migration, auf Migranten, auf neue Deutsche,
auf unsere Gesellschaft? Es gibt nur eine Welt, aber tausend Möglichkeiten, darauf zu blicken.
Herr Kaegi, Sie haben 2008 mit einem Muezzin-Projekt, das
noch immer international tourt, Aufsehen erregt. Was hat Sie
bewegt?
TdZ · November 2010
und tausend Blicke
Der Dramatiker Nuran David Calis, der Biografiensammler Stefan Kaegi, die Theaterleiterin
Shermin Langhoff und die Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi über neues deutsches Theater
im Gespräch mit Frank Raddatz und Lena Schneider
Stefan Kaegi: Ich bin Biografiensammler und als solcher ziemlich
dankbar über eine Gesellschaft, die sich aus vielfältigen Biografien
zusammensetzt. Unsere Art, Theater zu machen, dreht das Prinzip
Fernsehen um. Beim Fernsehen sitzt man da und zappt zu Hause
durch das, was weit weg ist. Im Theater kommt man näher. Ein solches Projekt war „Radio Muezzin“, was mittlerweile interessante
Wellen schlägt, weil es gerne von Festivals funktionalisiert wird –
wie wahrscheinlich Regisseure mit migrantischem Hintergrund
auch gerne instrumentalisiert oder gebraucht werden als Quotenvertreter für Diskurse, die in der Stadt nicht wirklich stattfinden. Nächstes Jahr gastieren wir in der dänischen Stadt Arhus, wo
2006 der Karikaturenstreit ausbrach. Es ist relativ leicht durchschaubar, warum wir dorthin eingeladen werden. Man wollte das
Stück dort erst in einem Viertel zeigen, das zum Ghetto neigt. Aber
dass dieses Projekt innerhalb eines bestimmten Kulturkanons
stattfindet, finde ich ganz entscheidend. Als wir in Paris gespielt
haben, hatten wir nach der dritten Aufführung plötzlich mehr
muslimische Zuschauer im Raum sitzen als nichtmuslimische.
Die anschließende Diskussion drehte sich gar nicht mehr um das
Stück, sondern um die Frage, inwieweit das ein Sieg ist, wenn der
Pied-noir in der französischen Hochkultur angekommen ist.
Azadeh Sharifi, das ist auch Ihr Thema. Sie promovieren über
Migration und Theater.
Azadeh Sharifi: Ja, ich konzentriere mich dabei vor allem auf die
Stadt Köln. Im Schauspiel Köln wurde vor drei Jahren ein multiethnisches Ensemble zusammengestellt und propagiert: Wir
möchten das migrantische Drittel der Stadtbevölkerung ins Theater holen, zumindest die, die genug Vorbildung haben, um am
Theater zu partizipieren. Das hat sich dann schnell verändert.
Heute liegt der Schwerpunkt mehr in der internationalen Arbeit.
Die migrantische Programmatik wurde aufgegeben, weil die Beschäftigung mit der Migration als soziale Verpflichtung gesehen
wurde, obwohl wir nicht von bildungsfernen Migranten, sondern
von iranischen Ärzten, türkischen Rechtsanwälten usw. sprechen.
Diese Schicht hat zwar ein Interesse am Theater, geht aber nicht
hin, weil sie sagen: „Wir werden im Theater komisch angeschaut.“
Sie passen nicht ins klassische Theaterpublikum. Es fehlt also an
einer interkulturellen Kompetenz, die diese Menschen überzeugen kann: Euer Platz ist auch hier. Wir wollen auch euch ansprechen!
Langhoff: Da sind wir genau bei der Komplexität des Themas
„Theater und Migration“ angekommen. Einerseits geht es um Fragen zum Umgang mit steuergeldfinanzierter Kulturproduktion:
Wer nimmt teil? Für wen wird gefördert? Wer profitiert davon? Es
geht darum, dass das Stadttheater an seinem Anspruch, für die gesamte Stadtbevölkerung da zu sein, gemessen wird. Andererseits
haben wir diesen enormen künstlerischen und politisch spanTdZ · November 2010
nenden Output, den Migration sowohl als Prozess, als Struktur mit
seinen Möglichkeiten, die Perspektiven eröffnet, wie auch an Inhalten hergibt. Es gibt neue Perspektiven, die ebenso lohnen, erzählt zu werden wie neue Geschichten. Es geht um Zukunftsfragen, von Rezeption genauso wie von Produktion.
Offenbar ist Theater im Gegensatz zum Kino ein besonderes
Feld. Ein Kampffeld. Wer im Theater vorkommt, kommt bald
auch in der Gesellschaft vor.
Kaegi: Migration und die damit verbundenen Geschichten stellen
ein riesiges Potenzial dar, das auch den Repräsentationsapparat
Theater in Frage stellt. Wenn das Theater – zu Recht – sagt: „Wir
sind kein Sozialamt“, kann natürlich niemand einen Anspruch formulieren, darin vorzukommen, solange die Leitung es nicht ästhetisch vertretbar findet. Gleichzeitig beschäftigen diese Theater
Ensembles, die über diverse Typen die Stadt nachspielen sollen. Da
beginnt das Problem. In „100 Prozent Berlin“ versuchten wir, die
Stadt mit 100 Menschen in all ihren Anteilen wiederzugeben. Zum
Beispiel standen da für vier Prozent Türken vier Menschen türkischer Herkunft auf der Bühne. Aber das auf 15 Leute in einem
Stadttheaterensemble herunterzubrechen, die auch noch den klassischen Kanon spielen, sprengt den Rahmen oder macht das Problem des Rahmens sichtbar. Vielleicht ist es ein besserer Weg, wie
im Ballhaus Naunynstraße ein Theater mit Migranten zu behaupten. Wenn es funktioniert, wird es eher Neid erzeugen und
zur Nachahmung anregen, als wenn man mit dem Gefühl der
Schuld und Verpflichtung operiert.
Langhoff: Natürlich gibt es ein totales Geschrei, wenn wir über
Quoten reden. Schon bei der Frauenquote ist ein riesiger Aufschrei
durch das Land gegangen – und wir haben nach wie vor nicht überall Gender Budgeting durchgesetzt. Eine Quote in der Kultur ist
Den Diskurs verändern –
zum Beispiel mit Stücken
wie „Stunde Null“ von
Nuran David Calis. Foto
david baltzer/bildbuehne.de
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Streiter für ein neues deutsches Theater (v.l.n.r.) – Azadeh Sharifi, Nuran David Calis, Shermin Langhoff und Stefan Kaegi. Fotos Lutz Knospe / Arno Declair (2.v.l.)
sinnvoll in Form einer angemessenen Besetzung der Kulturverwaltung und der Entscheidungsträger in der Kulturpolitik. Wo
Gelder in der Kultur- und Kunstproduktion verteilt werden, muss
sich Qualität durchsetzen. Kunst ist aber nicht nur Schönheit, sondern prägt die Wahrnehmung der Polis und hängt ganz komplex
mit dem, was Verwaltung und Politik vorgeben, zusammen. Wenn
dieser andere Blick eingebracht wird, dann bildet sich auch in der
Produktion, in der Rezeption, im Erzählen, im Inszenieren Vielfalt.
Die kann sich nur durch die interkulturelle Öffnung einstellen.
Calis: Die Diskussion muss an die Kunst, an das Theater, an die
Auseinandersetzung um Theater anknüpfen. Theater ist in diesem
Land die größte gesellschaftsstiftende Maßnahme, sogar weit vor
der Kirche. Aber man kann einfach nicht sagen, dass die Leute, die
jetzt in den großen Häusern das Sagen haben, einen konservativen
Kanon bedienen.
Kaegi: Aber wenn man mit dem Hintergrund Migrant ins Deutsche
Theater geht, ist man im Zuschauerraum ziemlich in der Minderheit.
Calis: Das hat nichts mit dem Theater zu tun.
Langhoff: Das Theater hat nichts mit dem Zuschauer zu tun?
Sharifi: Wir sprechen von verschiedenen Dingen. Ich rede über
Strukturen. In meiner Arbeit spreche ich nicht über Inhalte, über
Künstler, sondern frage: Wie ist die Struktur aufgebaut? Wie sind
Zugänge zu verbessern, um überhaupt migrantische Gruppen zu
erreichen? In dem Rahmen könnte man über eine Quote nachdenken.
Langhoff: Sonst hieße das ja: einfach akzeptieren, dass ein Teil der
Bevölkerung im Theater nicht vertreten ist. Ist halt so.
Calis: Aber daran ist nicht das Theater schuld. Das Theater ist da.
Wir können die Zugänge dorthin verändern, aber Theater ist schon
immer das Medium von Parallelgesellschaften, von Banden – die
Schaubühne, die Kortner-Anhänger oder die Leute, die Noelte geliebt haben. Erst durch diese Banden und ihre Kämpfe ist Kunst
entstanden, die Deutungshoheit über Stücke, über Gesellschaft.
Ulrich Khuon, Hasko Weber oder Wilfried Schulz sind von der ersten Sekunde an Förderer für diese Geschichten gewesen. Man
tauscht sich mit denen darüber aus, wohin es mit der Gesellschaft
Die Gesprächsrunde
Shermin Langhoff, geboren 1969 in Bursa (Türkei), kam 1978 nach Nürnberg. Sie
arbeitete beim Film, bevor sie ab 2004 als Kuratorin im Berliner Hebbel am Ufer tätig
war. Seit 2008 künstlerische Leiterin des Ballhauses Naunynstraße in Berlin.
Azadeh Sharifi, geboren 1980 im Iran, kam 1988 mit ihrer Familie nach Deutschland.
Sie studierte Germanistik, Philosophie und Jura in Heidelberg und promoviert seit 2007
zum Thema „Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln“.
Nuran David Calis, 1976 in Bielefeld geboren, studierte Regie an der Otto-FalckenbergSchule. Inszenierungen u. a. in München, Wien, Hannover und Essen. Seit 2005 bringt er
auch eigene Stücke zur Uraufführung, zuletzt „Schattenkinder“ am DT Berlin.
Stefan Kaegi, 1972 in Solothurn/Schweiz geboren, studierte Kunst und angewandte
Theaterwissenschaften. Unter dem Label Rimini Protokoll realisiert er seit 2000 mit Helgard Haug und Daniel Wetzel Theater mit „Experten des Alltags“. Jüngste Produktion:
„Ciudades Paralelas / Parallele Städte“ in Zusammenarbeit mit Lola Arias.
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geht. Niemals stößt du in diesen Strukturen, bei Leuten, die sie mitgestalten, mit Dingen, die wehtun, auf taube Ohren. Die Sache
wird erst schwierig, wenn man von außen gesagt bekommt, man
soll ein Ensemble multikulturell durchmischen. Man muss sich
zusammensetzen, einen Spalt in dem Anderen öffnen, einen Spalt
in dir selbst öffnen und dann die Dinge gemeinsam anpacken. Ich
glaube nicht, dass wir mit der Opfermentalität weiterkommen. Da
ich um die Befindlichkeiten meiner Eltern, meiner Großeltern
weiß, glaube ich, dass unser Anliegen einen größeren Zug bekommt, wenn ich zum Täter werde.
Langhoff: Natürlich kommt es auf diese Bandenbildungen an, um
gemeinsam Visionen und Dinge zu verwirklichen. Aber es ist nicht
so, dass dieser Betrieb überall spannende Personen aufbietet, die
neue gesellschaftliche Räume und Geschichten entdecken. Dabei
geht es genau um dieses Interesse. Aus deiner Perspektive hast du
natürlich Recht, bei dir ist es wunderbar gelaufen. Mir geht es darum, dass öffentliches Geld zur Wahrnehmung öffentlicher kultureller Aufgaben an Stadttheater in dem Sinne verteilt wird, dass
eine Kulturverwaltung sagt: „In deinem Programm möchte ich die
heterogene Stadtgesellschaft gespiegelt sehen. Ich möchte deinen
Ansatz dafür sehen.“ Das kann ein konzeptueller Ansatz sein, das
können Stücke sein, da gibt’s verschiedenste Wege.
Kaegi: Die Politiker hätten gerne ein Theater, das die Geschichte
der Migration als Geschichte der Opfer erzählt. Ich arbeite gerade
über Russlanddeutsche. Es ist total in den Hintergrund geraten,
dass während des Kalten Krieges laufend Theaterstücke nach Sibirien und Zentralasien geschickt wurden, um die deutschen Gemeinden, die im 18. Jahrhundert ausgewandert waren und von Stalin dorthin deportiert wurden, künstlich als Deutsche am Leben
zu halten, damit sie sich dort möglichst wenig integrieren. Das gelang Gott sei Dank nicht wirklich. In den Neunzigern rief Helmut
Kohl: „Kommt alle zurück, ihr Deutschen!“ Man grub dann richtig im Blut-und-Boden-Denken, um die drei Millionen Menschen,
von denen die allerwenigsten noch irgendein Wort Deutsch sprachen, zurückzuholen. Ich frage mich, warum diese Integrationsfrage so sehr über die deutsche Sprache, über so einen Hochkulturanspruch, geführt wird? In Berlin sprechen mehr als die Hälfte
der hier arbeitenden bildenden Künstler Englisch, Spanisch oder
sonst was, aber kein Deutsch und sind trotzdem bestens integriert.
Das ist doch ein großer Teil von Berlins Kapital: dass man hier eine
internationale Gesellschaft hat. Das könnte für Theater ein integraler Punkt werden.
Als ich einmal als Dramaturg vorschlug, eine schwarze Schauspielerin zu engagieren, wischten die Kollegen das vom Tisch
mit der Bemerkung: „Was soll die denn spielen?“ Das ist insofern eine ästhetische Frage, als sich die Hochkultur über Verkörperung der Figuren definiert. Weil man von einem Verkörperungstheater ausgeht.
Calis: Ich muss sagen, der Kollege, der das sagte, ist eigentlich
dumm.
TdZ · November 2010
Die dritte Generation im heutigen
Berlin – in „Warten auf Adam
Spielmann“ von Hakan Savas
Mican und Ensemble finden Protagonisten libanesischer, israelischer,
amerikanischer und türkischer
Herkunft zusammen. Foto Ute
Langkafel
Aber erfolgreich.
Calis: Mit so einem Menschen setze ich mich gar nicht auseinander. Davon lasse ich mich nicht abhalten, Regie zu führen. Ich
halte mich immer an einen tollen Satz von Peter Brook: „Regie besteht zu 88 Prozent darin, Leute zu überzeugen, mit dir zu arbeiten. Zwölf Prozent sind künstlerisch.“ Ich muss als Regisseur
Leute davon überzeugen, dass sie mit mir arbeiten. Jeden Tag.
Wenn da einer kommt und fragt: „Was will die Schwarze denn
spielen?“, trete ich den in die Tonne. Mit solchen Leuten darf man
sich innerhalb des Systems nicht aufhalten. Dann muss man sich
zusammentun, wie das an diesem Haus in der Naunynstraße passiert. Das ist auch erst der Anfang. Ein Wandel. Von hier führen
die Gleise weiter.
Sharifi: Nuran, du hast dich als guter, hervorragender Künstler
durchgesetzt, aber man kann die anerkannten Regisseure mit
Migrationshintergrund nach wie vor an einer Hand abzählen.
Wenn wir zum Beispiel Zugang zum Theater in der Schule schaffen und Leute, die nicht aus einer gebildeten Familie kommen, an
einer Theater-AG teilnehmen, interessieren sie sich plötzlich für
Theater.
Langhoff: Das Ballhaus beweist doch, dass die Identitätsmaschine
Theater funktioniert. In diesem Laborraum mit 100 Plätzen formulieren wir den Anspruch, ästhetisch ganz weit vorn zu sein, und
fahren Formel 1 mit Trabbis, was unsere strukturell-finanziellen
Ressourcen betrifft. Nicht zuletzt, weil wir uns über Geschichten
mit einem anderen Blickwinkel, über Protagonisten, über eine andere Rezeption formulieren, werden auch theaterferne Zuschauer
erreicht. Nicht nur Migranten, sondern auch politisch Interessierte. Wir thematisieren nicht die Komplexität in der ethnischen
Rivalität, aber wir behandeln Konfliktzonen. In „Adam Spielmann“ finden sich Protagonisten und Geschichten zusammen von
Menschen libanesischer, israelischer, amerikanischer und türkischer Herkunft. Diese Menschen bilden die dritte Generation im
heutigen Berlin, bringen eine Erfahrung von Eltern und Großeltern aus Konfliktzonen mit und haben neue Geschichten zu erzählen. Eigentlich hätten wir es nicht postmigrantisches Theater,
sondern neues deutsches Theater nennen sollen.
Kaegi: Das Interessante ist, dass auch die Zuschauermengen beginnen, sich ganz anders zu durchmischen. Wir veranstalteten mit
„Ciudades Paralelas“ im September ein Festival, das an sich als Strategie migrantisch funktioniert, weil das Festival mit denselben
Spielregeln, aber anderen Menschen und Schauplätzen nach Berlin in Buenos Aires stattfindet, und in Warschau und Zürich im
nächsten Jahr. Dominik Huber hat darin eine Arbeit realisiert, direkt am Mehringplatz, 500 Meter vom HAU, für die er mit Familien gearbeitet und ihre normalen Bewegungen orchestriert hat,
die ein Haus bewohnen, an dem man normalerweise achtlos vorbeigeht. Das Tolle war, dass bei der Premierenfeier alle diese Familien, Palästinenser, Türken und deutsche Muslime, im HAU ihre
Party feierten und später wiederkamen. Sie waren zum ersten Mal
in diesem Theatercafé und saßen dort zusammen mit Putzleuten
TdZ · November 2010
DEBATTE
S. 16: Das Spiel mit der Quote –
„100 Prozent Berlin“ von
Rimini Protokoll gibt die Stadt
in Anteilen wieder: Für vier
Prozent Türken stehen vier
Menschen türkischer Herkunft
auf der Bühne. Foto Marcus
Lieberenz/bildbuehne.de
aus dem Ibis-Hotel aus einem anderen Projekt, die wiederum aus
Spanien oder Vietnam kamen.
Calis: Als ich das erste Mal an einem Theater, in den Kammerspielen in München, hospitiert habe, habe ich durch eine Reibung
oder durch Begabung diese Grammatik begriffen. Dass da viele
Leute sind und etwas gemeinsam schaffen. Das bedeutet, egal wie
stark ich mein Individuum, mein Unrechtsein in dieser Gesellschaft empfinde, es muss im Moment hintanstehen für eine gemeinsame Sache, die wir voranbringen wollen. Ich war 19, erstmals völlig weg von meiner Gang in Bielefeld, und saß in der
Hochburg der Hochkultur mit 15 bis 20 Leuten, die bis aufs Blut
gestritten haben. Diese Erfahrung muss man machen: Es fängt jetzt
etwas an. Wenn man das auf die Sarrazin-Debatte bezieht, ist es
schade, dass diese Debatte so einschlägt, weil wir gerade dabei sind,
den Diskurs zu verändern. Das hat mir auch wieder gezeigt, dass
ich mich selber hinterfragen muss, hinterwandern in meiner Opfermentalität. Denn es herrscht eine große Angst, und der müssen
wir, die dritte Generation, uns stellen. Auch der Angst dieser Leute.
Wir müssen uns dieser Debatte stellen. Wir müssen die Ängste
ernst nehmen und versuchen, sie nicht zu verstärken, sondern sie
zu beseitigen. Und das braucht Zeit.
Langhoff: Demokratie statt Integration – oder milder gesagt: Demokratie stärkt Integration, und warum soll das nicht auch für das
Theater gelten? Aber ich sehe nicht, dass wir im Moment – und
das ist eine meiner größten Sorgen –, dass wir also das Theater, diesen Diskurs wirklich mitbestimmen. In der Infragestellung dieser
demagogischen Debatte und deren Formeln und Inhalten hat doch
Kultur, wenn wir sie als Praxis zur Veränderung sehen, als Prozess
und Möglichkeit, als Instrument von Wahrnehmung und Komplexität, eine Aufgabe: diesen Dialog anzuführen. Wir müssen in
diesen Diskursen eine Rolle spielen. Ob wir das mit „Hamlet“ tun,
mit Nuran David Calis, mit Frank Castorf oder mit einem neu entwickelten Stück, ist egal. Denn es werden Fragen berührt, denen
sich die gesamte Theaterlandschaft stellen muss und angesichts
derer sie sich auch zu bewegen hat. 19
Von Elefanten und anderen
Palaststürmern
E
s sind in den letzten Wochen viele kurzgedachte und auch einige kluge Dinge über Migration geschrieben worden. Ein Beitrag in der
Zeit gehört zu Letzteren. „Offenkundig treibt
uns derzeit kaum etwas mehr um als die Furcht,
alles Fremde könnte uns abhanden kommen“,
schrieb Adam Soboczynski da. Er erinnerte damit daran, dass es bei Diskussionen um das
Fremde letztlich immer um das Eigene geht; dass in einer Welt der
aufweichenden Kategorien ein Gegenüber, das als „anders“ etikettiert werden kann, eine willkommene, ersehnte Orientierung
bietet, an die wir uns verzweifelt klammern. Was anders ist, beruhigt; es macht das Eigene erst erkennbar.
Eine Beobachtung, die sich auf viele der jüngst geführten Diskussionen, der vielbeschworenen „Ängste“ und angewandten
Argumentationsweisen beziehen ließe. Oder auf eine Szene aus
„Arabboy“, der Bühnenadaption des gleichnamigen Romans von
Güner Yasemin Balci, mit der der Heimathafen Neukölln Mitte
2009 seine Erfolgsgeschichte als feste Spielstätte in Berlin begann.
Irgendwann im Stückverlauf muss Rashid, der titelgebende „Arabboy“, eine Jugendstrafe verbüßen. Er, der Schulschwänzer, Drogendealer, Gewalttäter „mit Migrationshintergrund“, soll Tische
leimen und Stühle reparieren. In der Inszenierung von Nicole
20
Oder steckt er statt Stuhlbeinen Federbälle zusammen. Zart
macht er das, fast freut er sich ein bisschen über das Lob vom
Schreiner Heinz, der ihm das beibringen will. Heinz ist ein netter
Typ, er will Rashid trösten. „Kopf hoch“, sagt er zu Rashid. „Du
kannst doch alles, was du hier gelernt hast, auch in deiner Heimat
gebrauchen.“ – „Heimat?“, fragt Rashid arglos. – „Wo du herkommst. Deine Heimat eben.“ Rashid versteht nicht. Seine Antwort, überrascht, selbstverständlich: „Meine Heimat ist Berlin.“
Kurz darauf versteht Rashid dann doch. Weil er einen fremden
Namen trägt, muss er doch bitte schön auch Fremder sein; vielleicht ist Heinz lediglich so nett zu ihm, weil er denkt, dass Rashid
nur Gast ist. Da fegt Rashid, sanft unterm harten Panzer der Kraftmeierei gespielt von dem Neuköllner Hüseyin Ekici, die Federbälle
auf den Boden. Vorbei der kurze Moment, da alles möglich schien,
auch eine Karriere des Schulabbrechers Rashid als federballmontierender Schreinergehilfe. Seine Geschichte findet ihr Ende in der
Türkei, wohin er abgeschoben wird; sie endet in der Stille, im Meeresrauschen vor der türkischen Küste. Der „Arabboy“, der Berliner,
aber auch Araber ist, geht beim Versuch, in einem geklauten Motorboot zurück nach Deutschland zu flüchten, irgendwo zwischen
Asien und Europa verloren. Was Heinz noch zu ihm gesagt hatte:
„Ach komm, Junge, du musst dich damit abfinden. In Deutschland
gibt es vielleicht keine Zukunft mehr für dich.“ Nur, wo gibt es die
TdZ · November 2010
Alle Welt redet von Integration – der Heimathafen Neukölln in Berlin lebt sie, ohne
große Worte. Und schreckt dabei auch vor so sperrigen Randgruppen wie Studenten
und Bildungsbürgern nicht zurück von Lena Schneider
für Rashid, wenn nicht hier? Eine unter vielen Fragen, die „Arabboy“ aufwirft.
Die Szene zwischen Rashid und Heinz greift Mechanismen von
Rassismus auf, die immer wieder auch in der Debatte um Thilo Sarrazin zutage traten. Und sie berührt den Kern der Suche, die der Heimathafen Neukölln bereits im Namen trägt: Heimat, dieses lästige,
notwendige Ding, das uns prägt wider Willen und oft so sperrig ist,
dass ein Ort, geschweige denn ein Wort, nicht genügen will, um es
zu beschreiben – nicht nur bei Jungs wie Rashid. Dennoch mag das
schnörkellose, vorurteilsfreie Nachdenken über Herkunft ein
Grund sein dafür, dass „Arabboy“ gerade in Neukölln so ein Erfolg
bleibt. Bundesweit mit Aufmerksamkeit bedacht worden ist der Bezirk kürzlich durch das Buch der Berliner Jugendrichterin Kirsten
Heisig, dessen Titel „Das Ende der Geduld“ mit gewalttätigen Jungendlichen proklamierte. „Die Gesellschaft befindet sich aus meiner Sicht an einem Scheideweg“, schreibt Kirsten Heisig darin. „Sie
könnte sich spalten: in ‚reich‘ und ‚arm‘, in ‚links‘ und ‚rechts‘, in
‚muslimisch‘ und ‚nichtmuslimisch‘.“ Das sind auch die Themen
des Heimathafens, die Spaltungen, gegen die er sich sträubt.
Heisigs Buch berichtet von vielen Tätern wie Rashid, dem
„Arabboy“. Neben effektiveren, auch diskutablen Maßnahmen in
der Bestrafung von Jugendgewalt fordert es vor allem, wie der Heimathafen auf seine Weise auch: Konfrontation mit der Realität, ehrTdZ · November 2010
lich, auf Augenhöhe, ohne Schönfärberei. In „Sisters“ zum Beispiel,
nach „Arabboy“ der zweite Teil einer Neukölln-Trilogie im Heimathafen: Es ist die gleichsam utopische wie dystopische Geschichte von zwei Mädchen, die sich in einer Neuköllner Schule gegen männliche Gewalt zur Wehr setzen – mit Gegengewalt. Es ist
ein Stück über soziale Unterschiede, aber auch über Gemeinsamkeiten zwischen den vielbeschworenen Parallelgesellschaften, über
Formen von Gewalt, die sich hier wie dort finden. Claudia (Pegah
Ferydoni) kommt aus dem feinen Charlottenburg, Miriam (Katrin
Hansmeier) aus Neukölln. Dass die Feine zu Stückbeginn ein paar
Sätze auf Arabisch sagt, während die Neuköllnerin keinen migrantischen, sondern einen völlig anderen Hintergrund hat – ganz und
gar homemade und eindeutig der problematischere von beiden –, ist
sonst kein Thema in „Sisters“. Nicht, woher die gewalttätigen Mädchen kommen, interessiert die Regie von Nicole Oder, sondern woher ihre Gewalt kommt. In Neukölln geht es eben nicht nur um
Kopftuchdebatten, im bürgerlichen Charlottenburg hingegen sehr
wohl auch um Gewalt. Auch das zeigt der Heimathafen.
Von den 300 000 Menschen, die in Berlin-Neukölln leben, haben
laut Kirsten Heisig 40 Prozent das, was gemeinhin als Migrationshintergrund bezeichnet wird. Wer die Menschen dort nach Heimat
fragt, wird also viele treffen wie „Arabboy“ Rashid (die mehr als eine
Heimatoption haben) und vielleicht ähnlich viele wie Tischler
21
S. 20: Heimat, dieses
lästige, notwendige Ding,
das uns prägt wider Willen – der Heimathafen
Neukölln bietet ihr eine
konkrete Adresse.
Foto Verena Eidel
Heinz (in deren Idee von Heimat jemand wie Rashid wenig Platz
hat). Gegen die auseinanderstrebenden Entwürfe setzt der Heimathafen seine konkrete Adresse. Ironisch, ja, aber auch als ernsthaftes Angebot zu verstehen. Als Utopie. Einen Ort wünscht sich
das Leitungskollektiv auf der Website, „in dem Neuköllner, Berliner und Gäste sich mit der eigenen und gemeinsamen Identität auseinandersetzen können, sich vertreten und gut aufgehoben fühlen“. Es scheint zu funktionieren: Der Heimathafen spielt nicht nur
vor vollen Sälen, sondern wirtschaftet mithilfe von Lottogeldern,
Einnahmen und Vermietungen offenbar auch so gut, dass die Jury
des Berliner Senats angesichts knapper Kassen keine Möglichkeit
sieht, das Theater 2011 weiter angemessen zu fördern.
Als Abstrafung ihres Erfolgs empfinden das die Leiterinnen.
Und doch war es letztlich auch die finanzielle Unabhängigkeit, die
sie weg vom Stadttheater in die freie Theaterarbeit trieb, erzählt
Julia von Schacky, eine der sechs jungen Frauen im Leitungsteam.
Wenn sie über die Struktur des deutschen Fördersystems spricht,
Die erfreuliche Erkenntnis, die einen hier beschleicht: Irgendwie
sind alle integrierungswürdig bzw. -bedürftig. Es kommt eben nur
drauf an, von wo man schaut.
von der Arroganz einer nach wie vor vorherrschenden Idee von
deutscher „Hochkultur“, einem Naserümpfen vor populären Formen, der verbreiteten, wenn auch unausgesprochenen Annahme,
wenige Zuschauerzahlen seien ein Zeichen von Qualität und Anspruch, die sich auch in der Förderstruktur zeige, dann spürt man
ihre Wut über ein System, in dem oft nur belächelt wird, wer „populär“ ist. Julia von Schacky war schon 2007 dabei, als das Team
noch in einer Neuköllner Eckkneipe „Alle fürchten sich oder: Die
Hasen in der Hasenheide“ spielte. Dann war die Gruppe eine Weile
in der Alten Post Neukölln zu Hause, Mitglieder kamen dazu, andere gingen weg; 2009 wurde der Saalbau Neukölln zum Hafen.
Der Name beschreibt also nicht nur, was das Theater bei den Menschen in seinem Bezirk schaffen will, sondern auch die Utopie, die
die Theatermacherinnen mit einem eigenen Ort verbinden: bei
sich ankommen.
Dass diese Utopie keine einheitliche Ästhetik haben sollte, sondern so vielgesichtig, vielschichtig sein sollte wie der Bezirk, an den
sie sich richtet, war von Anfang an klar. Nur berühren sollte es,
durch den Bauch gehen oder, wie Julia von Schacky sagt: „Es soll
nicht kalt sein.“ Ein anderer Begriff kommt auch immer wieder apostrophierend ins Spiel: „niedrigschwellig“. Als man nach einem
Konzept für ein eigenes Haus suchte, traf sich der Widerwille gegen einen elitären Kunstbegriff mit der pragmatischen Erkenntnis,
dass im theaterreichen Berlin eine Stelle unbesetzt war: die des
Volkstheaters. Und welcher Bezirk würde sich besser für dessen
Wiederbelebung eignen als Neukölln? Als Rixdorf war es in den
Zwanzigern als glamouröses Ausgehpflaster bekannt und kommt
inzwischen als Partybezirk wieder in Mode. Der große, stuckbesetzte Saalbau Neukölln, eine der beiden Spielstätten des Heimat22
hafens, zeugt von der Zeit, als hier Anfang des letzten Jahrhunderts
Tänze, Boxkämpfe und Kabarett stattfanden. An diese Tradition
will der Heimathafen anknüpfen. Das Trio „Die Rixdorfer Perlen“
schmettert hier regelmäßig Gassenhauer aus vergangenen Zeiten,
und zwar so, dass sie auch das Heute unbequem machen. „Reine“
Unterhaltung, kopflos, unpolitisch? Wäre das so, Inka Löwendorf
wäre wohl nicht mehr dabei: „Theater, das nicht politisch ist, ist sowieso für’n Arsch“, sagt sie, eine der „Perlen“, Mitglied des Leitungsteams im Heimathafen und nebenbei Schauspielerin im Ensemble der Berliner Volksbühne. „Was ist denn heute bitte politisch,
wenn nicht das Theater?“ Im Heimathafen ahnt man, was das heißen kann: In Zeiten, da alle Welt über Integration redet, lockt er mit
„Arabboy“ und „Sisters“ in der Studiobühne und mit dem unprätentiösen Programm im großen Saal Leute an, die sonst nie kämen
– und setzt sie damit um. Ohne große Worte.
Der Begriff „Integration“ selbst kommt im Heimathafen nicht vor.
Muss er auch nicht. Die erfreuliche Erkenntnis, die einen hier beschleicht: Irgendwie sind alle integrierungswürdig bzw. -bedürftig.
Es kommt eben nur drauf an, von wo man schaut. Wenn man die
Idee eines bürgerlichen Normpublikums fallen lässt, sind auf einmal
alle Randgruppe: Nicht nur die Vorzeigeaußenseiter wie Postmigranten (die in der Neuköllner Trilogie auf der Bühne stehen und im
Publikum sitzen) und Wenig- oder Garnichtverdiener (die im
„Blauen blauen Meer“ vom Wahl-Neuköllner Nis-Momme Stockmann zu Wort kommen), sondern auch Senioren (die sich bei den
„Rixdorfer Perlen“ schieflachen), Studenten (die bei den „Rixdorfer
Perlen“ ihr Fett abkriegen) und Charlottenburger Besserverdiener
(die in den „Sisters“ als weltferne Touristen auftauchen und für „Arabboy“ tatsächlich nach Neukölln kommen). Wer integriert hier eigentlich wen? Vielleicht können ja, wo alle ein bisschen fremd sind,
tatsächlich auch alle irgendwie zu Hause sein.
So gesehen hat der Heimathafen sein vor der Eröffnung gegebenes Versprechen – „Berlin hat wieder Volkstheater!“ – nicht nur
gehalten, sondern zeigt auch, was Volkstheater heute sein kann.
Auf den Plakaten war damals übrigens Kurt Krömer zu sehen. Das
brachte nebenbei medienwirksam einen der populären Schirmherren ins Gespräch und deutete bereits die inhaltliche Stoßrichtung der Macher an: spielerisch, selbstironisch, kiezpatriotisch,
mit einem Kulturbegriff, der nicht in „hoch“ und „populär“ unterscheidet. Theater, das Innehalten genauso will wie Unterhalten. Es
kommt einem dabei die Vision von einem Theatermodell in den
Sinn, das der Soziologe Mark Terkessidis als „barrierefrei“ bezeichnet und immer wieder fordert. Er vergleicht herkömmliches
Theater in Deutschland gern mit dem noblen Palast einer Giraffe,
in dem Außenstehende, Migranten oder anders Sozialisierte fremd
wie Elefanten bleiben und notwendigerweise anecken. Oder sie
bleiben eben gleich draußen vor der Tür, weil sie Angst davor haben, dem Parkett und den Spiegelwänden Kratzer zu verpassen.
Was Terkessidis mit seiner polemischen Anekdote deutlich macht:
Will man Elefanten im Theaterzoo dabeihaben, muss man Türen
verbreitern, notfalls auch Wände einreißen. Der Heimathafen arbeitet an beidem. TdZ · November 2010
Othello, wer ist das?
Fragt sich Monika Gintersdorfer – und spielt in ihren Performances gemeinsam
mit Kollaborateur Knut Klaßen Afrika und Europa beschwingt gegeneinander aus.
Ein Porträt von Renate Klett
S
o stellt man sich die ideale Symbiose vor: Sie
ist extro-, er introvertiert, sie redet gern, viel
und temperamentvoll, er wägt jedes Wort ab,
schweigt am liebsten und hört zu. Monika Gintersdorfer, 43, ist Theaterregisseurin, Knut Klaßen, 43, bildender Künstler, zusammen sind sie
unter dem Namen Gintersdorfer/Klaßen die derzeit angesagteste neue freie Gruppe in Deutschland und darüber hinaus. Und spätestens, seit sie im letzten Herbst
den Impulse-Preis gewonnen und dadurch ihr Erfolgsstück
„Othello c’est qui“ beim Berliner Theatertreffen und den Wiener
Festwochen gezeigt haben, sind ihnen die großen Häuser auf den
Fersen. Doch angefangen hat alles ganz klein, stadttheaterfern,
aber weltnah, billig, schnell und unbescheiden.
Monika Gintersdorfer, in Lima geboren, aufgewachsen in Argentinien und Essen, ging gleich nach dem Abitur nach Mexico
City, um dort „auf locker zu studieren“, Spanisch zu lernen und die
in den achtziger Jahren sehr wilde Klubszene zu erforschen. Als
sie sich ausgetobt hatte, zog sie nach Köln und „studierte seriös“,
nämlich Film- und Theaterwissenschaft, Germanistik und Romanistik. In der goldenen Baumbauer-Zeit war sie Regieassistentin
am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und schrieb sich für
den neu geschaffenen Regie-Studiengang an der Uni ein. Erste Inszenierungen waren Albert Ostermaiers „Radio Noir“ oder Enda
Walshs „Bedbound“ – „literarische Stücke, bei denen der Text in
den Körper geht. Kein psychologisches Rollenspiel, sondern Performances aus Sprache und Bewegung, die geprägt sind von dem,
der sie spielt.“
An den Stadttheatern aber war es schwierig, Texte zu finden
und durchzusetzen, die diesen Freiraum gewährten. Deshalb begann sie, „richtige Stücke“ zu inszenieren, was zu vielen Kompromissen führte. „Das war immer auf dem Level von ‚Das könnte gehen‘, aber ich wusste nie so richtig, warum ich das eigentlich
mache.“ Also ließ sie es und verlagerte ihre Projekte in die freie
Szene. Einfacher war das nicht, aber eben freier. Gemeinsam mit
Jochen Dehn gründete sie 2004 die Gruppe Rekolonisation, die
sich auf flüchtige, schnell umsetzbare Aktionen im Hamburger
Stadtgebiet spezialisierte. Zwei Jahre zuvor hatte sie einen Ivorer
geheiratet (nein, keinen ihrer späteren Performer!), lernte die Elfenbeinküste kennen und lieben und war erschüttert, als dort der
blutige Konflikt ausbrach, der das Land zerriss. Er wurde ihr
Thema. 120 Aktionen erfanden sie in einem Jahr – mal schwammen sie Schiffen hinterher, mal kämpften sie auf offener Straße,
platzierten die afrikanischen Probleme in eine Umgebung, in die
TdZ · November 2010
sie nicht passten. Und weil die Aktionen so flüchtig waren, wurden sie gefilmt, um sie später gebündelt zeigen zu können. Der
Mann mit der Kamera hieß Knut Klaßen.
Dann lud René Pollesch Gintersdorfer, Dehn und Klaßen für ein
Afrika-Projekt in den Berliner Volksbühnen-Prater ein. Die drei
verschwanden nach Côte d’Ivoire und kamen zurück mit fünf verschiedenen Aufführungen, die sie dort erarbeitet hatten. „Wir haben uns mit Massenphänomenen beschäftigt, mit dem, was einem
auffällt, wenn man in so ein Land kommt: wie viel voller die Straßen sind, wie sich die Energieströme bewegen – plötzlich laufen
alle los, und man versteht nicht, warum. Geht es um einen Dieb,
ist das jetzt doch der Staatsstreich oder gibt’s dort hinten nur billig was zu kaufen? Die erste dieser Aufführungen hieß ‚Wahlen
und Besessenheit‘ und hatte 80 Mitwirkende – in einem Raum für
99 Zuschauer.“
Knut Klaßen. Foto Anselm Reyle
Vom Angeben und Betrügen
Die Prater-Arbeiten kamen 2005/06 heraus, und mit ihnen hat die
Gruppe laut Gintersdorfer „das Material für die Aufführungen angelegt, die wir heute machen“. Ihre unheilige Themen-Dreifaltigkeit heißt: Politik – Religion – Showbiz. Für das Aachener Theater
inszenieren sie ein großes Religionsspektakel, das die ganze Stadt
bespielt. Und, typisch für sie, auf die raumgreifende Expansion
folgt eine Serie kleiner, konzentrierter Zweipersonenstücke. Typisch ist auch, wie es dazu kommt: Gotta Depri, einer der Ivorer,
mit denen sie arbeiten, möchte in Hamburg bleiben, und damit die
Leute sehen, was er alles kann, und ihn vielleicht engagieren, entsteht „Logobi 01“ mit Gotta Depri und Hauke Heumann, der seine
Worte übersetzt und seine Bewegungen imitiert. Logobi ist der heißeste Showtanz in den Klubs von Abidjan, und im kalten Hamburg
zeigt Depri nun, dass er ihn genauso gut beherrscht wie den tra-
24
ditionellen und den Straßentanz oder auch jenen anderen, den er
nie verstanden hat und den die Europäer so lieben: Contemporary.
Das ist, halb improvisiert, halb fixiert, sehr komisch, sehr direkt
und befreiend, und dazu noch die Erfindung einer völlig neuen
Theaterform. Die wird zwischen Metaebene und Glamoursehnsucht in fünf Folgen neu variiert, mit unterschiedlichen Themen
und Darstellern (später hauptsächlich Franck Edmond Yao), handelnd vom Angeben und Betrügen, von Geld, Stars und Lebensstil
und schließlich von Othello und der Frage, wer er ist.
„Othello c’est qui“ entsteht 2008 und ist die erfolgreichste Arbeit von G/K, vielleicht auch deshalb, weil sie die Erfahrungen und
Erkenntnisse der Logobi-Serie bündelt. Franck Edmond Yao und
Cornelia Dörr befragen Klassik und Leben aus entgegengesetzten
Perspektiven: Sie erklärt ihm die „Othellos“ von Neumeier bis Pucher, er ihr die Welt, aus der Othello kommt. Dass man 400 Jahre
lang das gleiche Stück spielt, kann Yao nicht verstehen, dass der eifersüchtige Mann seine Frau für besessen hält, schon eher. Ihr Diskurs ist leicht und intelligent, mal komisch, mal abgründig; die
französischen und deutschen Sätze korrelieren mit einer souverän
servierten Bewegungssprache und diversen Schichten von Selbstbezüglichkeit und Mimikry. Ganz nebenbei zeigt Yao auch noch,
was für einen tollen Othello er spielen könnte, wenn er nur wollte,
und Dörr darf einen Monolog lang Elisabeth von England sein.
Beide sind auch deshalb so beeindruckend, weil sie über Eigenschaften verfügen, die auf deutschen Bühnen eher selten anzutreffen sind: große Präsenz, Lässigkeit, Spielwut und Subversion.
Bei „7 % Hamlet“, das die Gruppe im Jahr darauf in der Box des
Deutschen Theaters Berlin herausbringt, interessiert sie vor allem
der Geisterspuk, der angeblich sieben Prozent des Textes ausmacht. Und um den Shakespeare-Zyklus zu erweitern, haben sie
kürzlich ein altes „Macbeth“-Projekt neu erarbeitet. „La Société du
Mal“ (Die Gesellschaft des Bösen) ist eine aggressive Theaterséance
zwischen foul und fair: Den Zuschauern werden die Schuhe von
den Füßen gerissen und an die Wand geschmissen, ein Opfer wird
nach allen Regeln Schwarzer Magie verhext, und das geht einem,
aller westlichen Aufgeklärtheit zum Trotz, schon kräftig unter die
Haut – man begreift ganz sinnlich, warum Aberglaube und Feticheure in Afrika bis heute so mächtig sind. „Très très fort“ (2009)
hingegen führt die banale Seite des Aberglaubens vor: die Politik.
Es erzählt die Geschichte der Elfenbeinküste seit der Unabhängigkeit als Parade hochtrabender Charaktermasken, denunziert
Stilisierung und Duktus der jeweiligen Herrscher und ist dabei
stets durchlässig für deutsche Parallelaktionen.
Monika Gintersdorfer ist eine Grenzgängerin: Europa und
Afrika, Stadttheater und freie Szene – sie holt sich die Inspiration,
TdZ · November 2010
phiensaele Berlin und FFT Düsseldorf. Denen sind sie immer treu
geblieben, auch wenn es Ausreißer gibt wie „Eleganz ist kein Verbrechen“, das im September im Theater Unten des Bochumer
Schauspielhauses Premiere hatte. Da beschäftigen sie sich wieder
einmal mit dem ivorischen Tanz- und Lebensprinzip „couperdécaler“, das sie als „Ich bau mir’s selbst zusammen und mache,
was ich will“ erklären. Aber sie erklären es eben nicht, sondern sie
tanzen, singen, spielen, schwitzen es heraus mit großer Lust und
großem Können, und danach erheben sie den Zauberer, der einen
Menschen in einen Hund verwandelt, zum afrikanischen Gegenpol der Lacans und Foucaults des alten Europa. Nur fünf Probentage später kommt am FFT Düsseldorf „Erleide meine Inspiration“
heraus, das die Kampfrhetorik von Politikern und Evangelisten
miteinander verknüpft und die noch immer ausstehenden Wahlen an der Côte d’Ivoire als amerikanischen Western-Showdown
imaginiert.
Sie haben immer schon schnell und viel produziert, aber mitunter merkt man jetzt doch, dass sie sehr „in“ sind und auf (zu?)
vielen Hochzeiten tanzen. Es kommt zu Wiederholungen und Redundanz, und manchmal wirkt es wie mit heißer Nadel genäht.
Aber wahr ist auch, dass selbst eine schwächere Aufführung von
Gintersdorfer/Klaßen immer noch besser ist als fast alles, was man
sonst so sieht im deutschen Performancegewerbe. Das hat viel mit
ihren Tänzer-Schauspielern zu tun, mit Gotta Depri und mit
Franck Edmond Yao, dem Charismatiker der Gruppe. In der harten Schule der Nightclubs von Abidjan hat er eine Power, Präzision
und Show-Potenz entwickelt, die jedes Publikum „knacken“ kann.
Das zeigte sich auch beim Festival Rue Princesse, das gerade in
Berlin und Hamburg stattfand. Die Kompaktversion eines Großspektakels, das die Gruppe im Frühjahr in Abidjan veranstaltete,
war anstrengend für alle Beteiligten, auch fürs Publikum. In drei
langen Nächten gab es ein gutes Dutzend Aufführungen von Gintersdorfer/Klaßen und befreundeten Künstlern, und Yao spielte in
fast allen mit. Aber er durchlief seine Tour de Force, als wäre sie
ein Klacks. Der Mann ist einfach fouka fouka. TdZ · November 2010
Monika Gintersdorfer. Foto Knut Klaßen
wo sie sie kriegen kann. Und sie ist pragmatisch genug, sich und
ihre Darsteller/-innen unterzubringen, wo immer es geht. Franck
Edmond Yao alias Gadoukou la Star ist an der Côte d’Ivoire eine Berühmtheit und tritt weiterhin in dortigen Klubs auf, auch wenn
er mittlerweile in Paris lebt. Dass er in Deutschland richtig Geld
verdient, gefällt ihm natürlich, und er ist dabei zum hochprofessionellen Schauspieler geworden – hochprofessioneller Tänzer
war er immer schon. Gintersdorfers Konzept beruht auf der Kraft
der Authentizität. Niemand kann sich bei ihr verstellen, aber jeder
gewinnt Tiefenschärfe. Ihre Darsteller strahlen Nonchalance und
Freiheit aus, können sich über ihre Schwächen lustig machen und
blitzschnell reagieren, wenn der Kollege plötzlich einen Einfall hat
und also den Spielverlauf sprengt. Solche Spontanimpros sind
durchaus erwünscht – „Logobi 05“ mit Yao und Richard Siegal wird
jedes Mal sogar komplett improvisiert, ist jedes Mal anders und in
den besten Momenten nicht weniger als die Begegnung zweier
Kulturen auf Augenhöhe.
Ivorische Grandezza und deutscher Sarkasmus
„Beim Logobi hat jede Geste, jede Bewegung eine Bedeutung, der
Tanz ist wie eine Sprache – und das hat uns natürlich gefallen! Aber
wir haben ihn auch wegen seines Charakters ausgesucht, den man
ungefähr so beschreiben kann: Schau mich an, schau, wie toll ich
bin. Ich werde bestimmt ein Star und viel Geld verdienen, aber ich
bin auch stark, und deshalb werde ich dich vorher noch mal richtig verprügeln. Diese Mischung aus Glamour und Wehrhaftigkeit
– das ist es!“, sagt Monika Gintersdorfer, und das könnte auch eine
Definition ihrer eigenen Arbeit sein. Sie haben sich das Halbseidene, Auftrumpfende der boîtes abgeguckt und deren wilden
Charme. Und sie wollten von Anfang an Geld verdienen mit dem,
was sie tun, denn sie brauchten es dringend. „Wir sind eine Gruppe,
die so viele Auftritte haben will wie möglich, egal ob wir müde sind
oder nicht: Wir wollen dieses Geld verdienen! Und dieses Geld wird
am nächsten Tag schon wieder ausgegeben. An der Côte d’Ivoire
werden die Tänzer mit Münzen und Scheinen beworfen, wenn die
Stimmung gut ist. Dort ist es cool, mit seinem Geld anzugeben, indem man sich großzügig von ihm trennt. Hier klappt das natürlich nicht – wir haben es anfangs ja durchaus versucht –, hier denkt
das Publikum: Ich habe schon die Karte bezahlt, das reicht.“ Und
so spielen sie Afrika und Europa beschwingt gegeneinander aus –
Afrika gewinnt fast immer – und lieben es, die unterschiedlichen
Mentalitäten in den jeweils anderen Kontext zu setzen, ivorische
Grandezza und deutschen Sarkasmus miteinander zu verquirlen.
Als freie Gruppe sind sie auf Produktionshäuser angewiesen
und fanden sie im Dreigestirn von Kampnagel Hamburg, So-
PORTRÄT
Eine Mischung aus Glamour und
Wehrhaftigkeit – „Eleganz ist kein
Verbrechen“ (rechts, Bochum
2010) und „Très très fort“ auf
Kampnagel Hamburg (Mitte, 2009)
und in Abidjan von Gintersdorfer /Klaßen. Fotos Knut Klaßen
25
König entartet,
Dimiter Gotscheff und Mark Lammert übermalen
an der Volksbühne Godards „La Chinoise“
von Sebastian Kirsch
Z
u den beständigsten Zügen im Werk Jean-Luc
Godards gehört die Konfrontation des Films mit
den bildenden Künsten. Zum Beispiel öffnen
seine Bilder immer wieder die Assoziationsräume der Grundfarben – man denke an die
wiederkehrenden monochromen Farbflächen,
an das leuchtende Rot des Bluts oder an die blauweiß-rote Blechlawine aus „Le week-end“. Godards Nähe zur bildenden Kunst reicht aber noch weiter und zeigt
sich vor allem in einer Montagekunst, die wie eine „Bildkompresse“ (Klaus Theweleit) extrem verdichtete Sequenzen generiert
und Sehen und Denken zusammenzwingt. Man könnte auch von
Schichtbildern sprechen, die Gesten aus verschiedensten Kontexten überlagern, zitieren und zitierbar machen. Damit ist Godard
aber auch der Brechtianer unter den Filmemachern – und es ist ein
Jammer, dass die Bühnen, die doch so oft nach Kinostoffen greifen,
sich nicht stärker an seinem Werk abarbeiten.
Dieses Versäumnis holt Dimiter Gotscheff an der Volksbühne
nun nach; und es ist nur logisch, dass er das gemeinsam mit Mark
Lammert tut, der ja nicht einfach Bühnenbildner ist, sondern Maler und bildender Künstler. „Eine Übermalung“ heißt der Abend
im Untertitel, eine Bezeichnung, die Godards Schichttechnik konsequent in die Inszenierung verlängert und zugleich Heiner Müllers „Bildbeschreibung“ aufruft, einen Text, der seinerseits wie eine
Bildkompresse arbeitet.
„La Chinoise“ von 1967 also, Godards häufig prophetisch genanntes Porträt einer maoistischen Studentengruppe, die die elterliche Wohnung eines der Mädchen zur Kommune umdefiniert.
„Kinder, die in den Ferien versuchen, ein Indianerzelt zu bauen“,
hat Godard gesagt. Das Indianerspiel gipfelt im Mord an einem
sowjetischen Botschafter. Allerdings benutzt der Film das Handlungsgerüst, das von fern Dostojewskis „Dämonen“ zitiert, vor allem, um zahlreiche ästhetische und politische Reflexionen einzuflechten und engzuführen: „Ein Action-Film des Sprechens“,
schrieb Peter Handke 1968 über „La Chinoise“. Es ist aber auch ein
Film, der sich exzessiv der Kraft der Primärfarben widmet. Einmal
ist sogar die Rede davon, „dass man lediglich die drei Primärfarben
Blau, Gelb und Rot in ihrer perfekten Reinheit verwenden solle, unter dem Vorwand, dass die anderen Farben darin schon enthalten
seien“.
Das wiederum passt hervorragend zu den Bühnen Mark Lammerts, die ihre Geräumigkeit aus konsequenter Reduktion beziehen und zudem bevorzugt mit einfarbigen Objekten operieren. Es
verwundert also nicht, dass Raum und Farbe in dieser Inszenie-
26
Wo der Himmel auf den
Kopf gefallen ist – in
ihrer Bühnenadaption von
Godards „La Chinoise“
verweisen Dimiter
Gotscheff und Mark
Lammert auf eine
verlorene Generation, die
nicht weiß, auf welches
Erbe sie sich noch
beziehen kann.
Foto Thomas Aurin
rung vielleicht mehr als je zuvor eigenständige Protagonisten sind.
So stark sind diese unbelebt-belebten Akteure, dass die sieben Spieler (plus ein wechselnder Gast, der an der Rampe Prolog und Epilog spricht) es nicht leicht haben, sich gegen sie zu behaupten – es
gelingt in unterschiedlichen Aufführungen unterschiedlich gut.
Doch gerade diese Fragilität spricht für die Qualität der Arbeit.
Wir sehen also auf dem hinteren Teil der Drehbühne einen
Wald gelber Stoffwände, die sich drehen und aufklappen lassen.
Die Installation ähnelt einem Labyrinth, durch das die Spieler huschen, in dem sie sich verbergen oder aus dem sie in chorischer Formation heraustreten. Zugleich ist sie das erste Beispiel dafür, wie
Reduktion Vielfalt generiert. Denn man kann in ihr auch eine Demonstration sehen, mit Transparenten, die ihre Schriften verloren
haben, ein Echo sozialistischer Maiparaden, eine Armee, einen antiken Chor, aber auch eine Zeltstadt, ein Nomadencamp, einen
„Langen Marsch“. Die Bilder explodieren und lassen sich doch immer wieder auf das Thema des Abends rückbeziehen.
Aber die bewegliche Bildermaschine erlaubt auch die strukturelle Übersetzung von Godards Filmtechniken auf die Bühne.
Einmal, weil sie je nach Position und Bewegung verschiedene
TdZ · November 2010
Spielräume öffnet und die Trennwände in gewisser Weise dem
Filmschnitt entsprechen, aber auch in einem konkreteren Sinn.
So gibt es etwa in „La Chinoise“, relativ spät, eine wunderbare
Szene, die eine lange Diskussion zwischen der jungen Maoistin
und dem Philosophen Francis Jeanson zeigt. Das Gespräch entspinnt sich in einem Eisenbahnabteil, die Sprechenden sitzen sich
gegenüber, und die meiste Zeit fokussiert die Kamera in einer
Langeinstellung das Zugfenster, an dem die Landschaft vorübergleitet. In der Volksbühne findet dieses Gespräch ganz zu Beginn
zwischen Anne Ratte-Polle und Frank Büttner im Off statt. Über
die gesamte Distanz ist die menschenleere Tuchlandschaft zu betrachten, die im Licht golden glänzt und verschiedenste Gelbtöne
versammelt – in der Tat, in den Grundfarben sind alle anderen
schon enthalten. Plötzlich erklärt dann die Frauenstimme über
eine Tutanchamun-Ausstellung: „Alle Leute rennen dahin, weil
alles aus Gold ist. Wäre Tutanchamun aus Papier, würde sich niemand dafür interessieren.“
Spätestens damit laden die Farben auch zu symbolischen Lesarten ein: Natürlich ist das horizontal angeordnete Goldgelb auch
der Glanz des Geldes. Und als zu einem späteren Zeitpunkt Bernd
TdZ · November 2010
Grawert, mit zwei roten Federn am Kopf wirklich ein maoistisches
Indianerkind, die Mechanismen des Kapitals zu verbildlichen
sucht, indem er die Darsteller nebeneinanderstellt – eine „Addition
von Nullen“, wie er sagt –, weiß man nicht mehr recht, ob sich nun
der gelbe Chor auf den Spielerchor abbildet oder umgekehrt.
Dem Gelb kontrastiert ein leuchtendes Blau: Gegen Ende fällt
aus dem Schnürboden ein riesiges blaues Segel herab, das sich
fortan über dem Labyrinth aufspannt und seinen Drehungen folgt.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Kommune allerdings schon aufgelöst – von nun an treten die Spieler einzeln, maximal zu zweit,
nach vorne, um Monologe aus verschiedenen Godard-Filmen zu
sprechen. So schildert Marie-Lou Sellem das sexuelle Abenteuer
aus „Le week-end“, eine Szene, die ein weiteres Beispiel für
Gotscheffs Übersetzungsmethode ist: Wo im Film mehrmals die
Musik dazwischenfährt und den Monolog unverständlich macht,
fällt hier Barbara Prpic mit einem zerhackten Text aus Godards
„Pierrot le fou“ ein: „Die Welt, trostlos. König entartet, Kinder
krank. Idioten. Zwerge. Behindert.“
Prpic verweist damit zugleich auf eine mögliche symbolische
Aufladung des blauen Segels. Denn deutlich bezeichnet dieses
auch eine verlorene Vertikale. Mit ihm ist buchstäblich der Himmel auf den Kopf gefallen. Man kann auch die Schärpe des Königsmantels darin sehen, den das berühmte Porträt Ludwigs XIV.
zeigt. Folgerichtig beschreibt auch Grawerts Monolog den Verlust
der genealogischen Ordnung, des Erbes und des Bodens: „Wenn der
Vater des Vaters meines Vaters eine schwierige Aufgabe zu erfüllen hatte, begab er sich an eine bestimmte Stelle im Wald, entzündete ein Feuer und fiel in ein Gebet.“ Der „Vater des Vaters“
hatte bereits das Gebet vergessen, kannte aber noch die Stelle und
wusste, wie man Feuer macht. Der Vater hingegen konnte nur
noch den Ort nennen, und dem letzten Generationenglied bleibt
nichts mehr als die Erinnerung, dass es ein solches Wissen einmal
gegeben hat. Damit aber ist der Punkt angesprochen, der uns jenseits aller Revolutionsrhetorik nach wie vor mit 1968 verbindet
und der gerade in Godards Film so deutlich wird. Denn „La Chinoise“ zeigt letztlich Mitglieder einer verlorenen Generation, Kinder, die nicht wissen, auf welches Erbe sie noch referieren können,
und die mit der Vergangenheit auch die Zukunft verloren haben.
Zwischen den widerstreitenden Polen Blau und Gelb, Vertikale
und Horizontale, spannt sich daher in der Tat ein gigantischer
Raum auf, der komplettiert wird durch ein revolutionäres Rot. Das
allerdings wird nur noch sparsam eingesetzt. Die rote Tuchwand,
die zu Beginn vor dem gelben Wald aufgebaut ist, wird fortgetragen, noch bevor die Spieler sich gezeigt haben. Nur ab und an
kommt sie in einer spontanen revolutionären Regung („Ich
mach’s. Gebt mir eine Bombe“) mal nach vorne. Damit findet der
Abend zu einer Pointe, die jenseits aller Revolutionsnostalgie liegt.
Letztlich sind Theater oder Kunst nur dann interessant, wenn sie
mit einer wie auch immer gearteten Vorstellung vom anderen Leben verbunden bleiben. Vielleicht ist davon heute nur noch das Negativ übrig. Aber ohne den Bezug bleibt nichts als die gelbe Horizontale. 27
AKTUELLE INSZENIERUNG
Kinder krank
Look Out [9]
Musik ist kein Geschmacksverstärker
Die wundersamen Klangwelten des Komponisten, Musikers, Sounddesigners und Performers Kornelius Heidebrecht
von Friederike Felbeck
W
as ist er eigentlich wirklich: Komponist
schrieben haben, täg-
oder Sounddesigner für Schauspiel und
lich sieben, acht Stun-
Tanz, Bühnenmusiker oder Livemusiker,
den am Klavier sitzen?
Multi-Instrumentalist oder Pianist, Er-
Kornelius Heidebrecht
zähler, Performer, Schauspieler? Bei
will mehr und studiert
Kornelius Heidebrecht gehen einem
an der Robert Schu-
schnell die Worte aus. Sein erstes In-
mann Hochschule Düs-
strument jedenfalls war das Klavier. Als
seldorf im Fachbereich
Kind stellt er sich anstatt der Noten manchmal Bücher von Lenin auf
Bild und Ton: Zu seinen
und improvisiert dazu.
Fächern zählen auch In-
Geboren wird Kornelius Heidebrecht 1979 in Alma-Ata, Kasachstan.
Sein Vater ist Bühnenbildner, seine Mutter Chorleiterin. Bereits mit
Wie klingt Neverland? – Kornelius
Heidebrecht (hier mit Valery
Tscheplanowa) in „Alice im Wunderland“. Foto Alexander Paul
Englert
formatik, Elektro- und
Nachrichtentechnik.
fünf Jahren besucht er eine Schule für besonders begabte Kinder, lernt
Zeitgleich entwickelt er mit dem TAD – Theater Arbeit Duisburg
Sprachen, Mathematik, wird in Gehörbildung unterrichtet und singt
zahlreiche Projekte wie „Meet John Doe – Das Weiße wird uns immer
im Chor. 1989 siedelt die Familie nach Deutschland um. An der Nie-
fremder“. Hier begegnet er auch dem Regisseur Martin Kloepfer, mit
derrheinischen Musik- und Kunstschule bereitet er sich auf ein Kla-
dem er bald eine fruchtbare Symbiose eingeht für Abende wie Wede-
vierstudium vor, nimmt an Regional- und Landeswettbewerben teil,
kinds „Lulu“ (Theater Koblenz, 2007), „Der futurologische Kongress“
gibt Konzerte. Aber sich nur mit Werken beschäftigen, die andere ge-
nach Stanislaw Lem (Deutsches Theater, 2009), „Parzival“ (Zürcher
Spielmann mit rätselhaft amorpher Bühnenpräsenz – Kornelius
Heidebrecht (r.) in
„Parzival“. Foto Toni
Suter / T+T Fotografie
Schauspielhaus, 2009) und „Die Pest“ (Schauspiel Frankfurt, 2010).
Kloepfer sieht vor allem Heidebrechts darstellerisches Potenzial und
seine rätselhaft amorphe Bühnenpräsenz. Er besetzt ihn in „Lulu“ als
Hugenberg, macht ihn im „Futurologischen Kongress“ zum anarchischen Bühnenpartner des Schauspielers Thomas Schmidt und zum
Spielmann der Gralslegende. Hier, im Zürcher „Parzival“, führt er,
eine Lanze rhythmisch skandierend in seiner Rechten, eine Horde von
müden und verstaubten Gralsrittern über die Bühne, die in Blockflöten pusten, gefolgt von einer Tuba und einer Marschtrommel. Unter
der Bühne sind Mikrofone versteckt, die den Klang ihrer Wanderschaft
abtasten, digitalisieren, sampeln und wieder zu den anderen Klängen
auf die Bühne zurückschicken. Dort entsteht eine ganz eigene Welt
aus Rhythmus, Live Art und vielschichtiger musikalischer Erzählung:
das Umblättern eines Buches, das Ticken einer Uhr, Geräusche von
Hundespielzeug, das Rufen eines Uhus, der Klang einer Bowlingkugel aus Eis, die in tausend Stücke zerbirst, mischen sich mit einem
präparierten Klavier oder einer indischen Shrutibox. Keine Sounds auf
Bestellung, keine Atmosphäre, denn Musik ist kein Geschmacksverstärker.
Am Schauspiel Frankfurt hat er in der vergangenen Spielzeit ein
künstlerisches Zuhause gefunden: Mit Valery Tscheplanowa steht er in
„Alice“ nach Lewis Carroll auf der Bühne, eine mutig offen gehaltene,
verzaubernde Improvisation. Nun phantasiert er Songs und Sounds für
„Peter Pan“, eine Koproduktion zwischen FFT und Theater an der Ruhr.
Er selbst spielt den kleinen Michael, der mit seiner Schwester ins
Neverland entführt wird. Wie es dort wohl klingt? 28
TdZ · November 2010
haben Sie noch nichts gehört?
Das soll sich ändern.
Heimat ist ein Gefühl
Die Stücke der Autorin Marianna Salzmann sind Plädoyers für die Komplexität des Menschen
von Mehdi Moradpour Sardehaie
T
heater ist per se ein Politikum.“ Der Mikrokosmos
einer Liebesbeziehung – etwa zwischen Tochter
und Vater („Muttermale Fenster blau“) – und Geschichten im Amtsgericht in Gebärdensprache
(„geistern folgen“) sind für Marianna Salzmann
genauso politisch wie der Wunsch, Deutschland
umzudenken („Nudisten Barbecue“) oder Thesen
über „Ausländer mit kriminellen Genen“ („Weiß-
brotmusik“). Die 1985 in Wolgograd geborene Autorin schreibt für
das Theater, um unmittelbare Reaktionen und Stellungnahmen zu er-
Hinter solchen Taten
stehen nicht in erster
Linie kulturelle Hintergründe, sondern Menschen – sagt die Autorin
Marianna Salzmann, hier
eine Szene aus ihrem
Stück „Weißbrotmusik“.
Foto Ursula Holmeier
zielen. Ihre Texte fallen nicht nur durch die provokanten Inhalte, sondern auch durch Experimente mit sprachlichen Stilen und bewusstes
Verwischen gedachter Trennlinien zwischen unterschiedlichen Definitionen und Begrifflichkeiten auf. Konversationsmaximen oder
Schreibkonventionen spielen keine Rolle. Mal bestehen die Textfragmente aus philosophisch anmutenden Gedankenspielen poetischer Art, mal aus bewusst überzeichneten Darstellungen.
In Moskau aufgewachsen, übersiedelte Marianna Salzmann 1995
sechs Stücke geschrieben. Auf die Frage, ob sie ihre eigenen Stücke
mit ihrer Familie nach Deutschland. Den Begriff Heimat definiert sie
auch inszenieren möchte, sagt sie: „Es wäre so, als würde ich meine
immer wieder neu. „Sie ist auf jeden Fall ein Gefühl. Mit Orten ver-
eigenen Fragen selber beantworten, um mir meinen Weltblick zu be-
binde ich sie selten.“ 2005/06 studierte Salzmann Literatur, Theater
stätigen. Ich will auch sehen, was ich noch nicht weiß über meinen
und Medien an der Universität Hildesheim. Nach Absolvierung ver-
Text.“
schiedener Regie- und Dramaturgieassistenzen am Schauspielhaus
Zurzeit interessieren Marianna Salzmann vor allem Helden und
Hannover und Theaterhaus Jena führte sie bei der Studentenproduk-
Heilige: Ausgehend vom Phänomen des Stimmenhörens und in An-
tion „Ein Attentat auf Godot“ Regie. Das Stück, ein satirischer Blick
lehnung an den Mythos von Jeanne d’Arc geht sie der Frage nach,
auf Becketts Werk jenseits intellektueller Rezeptionen, gewinnt 2007
was eigentlich Helden sind. Oder Heilige. Und warum sie dazu ge-
den Publikumspreis des Theaterfestivals Faust in Hannover und wird
macht werden. Helden braucht auch die junge schwangere Nurit,
dort im selben Jahr als deutschsprachiges Stück zum Osteuropäischen
eine der Hauptfiguren von „Weißbrotmusik“, das 2009 den Wiener
Theaterfestival eingeladen. Ihre bevorzugte Ausdrucksform ist aber
Wortstaetten-Autorenpreis gewann und Ende November am BAT in
das Schreiben: Sie ist Redakteurin beim Magazin freitext und studiert
Berlin gezeigt wird. Der Vater von Nurits ungeborenem Kind hat zu-
seit 2008 Szenisches Schreiben an der UdK Berlin. Seitdem hat sie
sammen mit einem Freund einen Rentner fast zu Tode geprügelt und
wird möglicherweise abgeschoben. Marianna Salzmann reagiert mit
dem Stück auf einen Vorfall in der Münchner U-Bahn im Dezember
2007 und verhandelt die daraus entstandenen Debatten um den
Zusammenhang zwischen Kriminalität und kulturellen Wurzeln. In
bilderreicher Sprache stellt sie Figuren dar, die sich in Situationen
Marianna Salzmann. Foto Lucian Carballad
wiederfinden, die sie überfordern, und deshalb scheitern. Salzmann
geht es dabei nicht um einfältige Thesen zu kulturspezifischen Normen einer Gesellschaft. Sie gibt keine eindeutigen Erklärungen.
Stattdessen zeigt sie, dass in Fällen wie dem in der Münchner UBahn selten kausale Zusammenhänge existieren. Ihre Texte fordern
auf, die Komplexität der Ereignisse anzuerkennen: Hinter solchen
Taten stehen nicht in erster Linie kulturelle Hintergründe, sondern
Menschen. TdZ · November 2010
29
TDZ ENTDECKT
Von diesen KünstlerInnen
Käuzchenrufe und
DasArts in Amsterdam will für seine Studenten vor allem künstlerisches Labor sein –
fern von Produktionszwängen und Spartendenken von Nicole Gronemeyer
L
aboratorium ist wohl die knappste Umschreibung für das, was DasArts in Amsterdam seinen
Studenten sein will. Ins Leben gerufen und über
viele Jahre geleitet wurde die Schule von Ritsaert
ten Cate, dem Gründer des legendären Mickerytheaters, eines der wichtigsten Orte der Theateravantgarde, an dem Robert Wilson, die Wooster
Group oder Jan Lauwers groß wurden. Nach der
Schließung des Mickery gründete ten Cate DasArts, genauer: De
Amsterdamse School – Advanced Research in Theatre and Dance
Studies. Heute ist sie Teil der Theaterschool, die als eine von sechs
Fakultäten der Amsterdamer Kunsthochschule in den verschiedenen Bereichen von Tanz, Theater und Performance ausbildet. In
seinen Anfängen ab 1994 war DasArts ein Postgraduiertenstudium
für Theaterschaffende; ein Ort für Regisseure, Bühnenbildner, Choreografen und Mimen, die sich auf die Suche nach neuen Formen
und Methoden für ein Theater der Gegenwart machen wollten.
Seit dem vergangenen Jahr, im Zuge des Bologna-Prozesses, in
dem die Studiengänge europaweit vereinheitlicht werden sollen,
ist die Ausbildung auf den Abschluss Master of Theatre umgestellt
worden. Für DasArts war das auch ein Anlass, sich nach 15 Jahren
neu zu positionieren. Künstlerinnen und Künstlern unterschiedlichster Disziplinen will DasArts einen Ort fern von produktiven
Zwängen und engem Spartendenken geben, an dem sie gemeinsam lernen und ihre individuelle künstlerische Entwicklung vorantreiben können: „International training laboratory for professionals in the field of the performing arts“ nennt man sich nun.
Dennoch war die Entscheidung für den Abschluss Master of Theatre anstelle des ebenso denkbaren Master of Performing Arts eine
bewusste, denn der Blick, mit dem die Studierenden evaluiert werden, ist ein „theatralischer“ und geht von den Grundbegriffen „Repräsentation“, „Narrativität“ und „Live“-Erlebnis aus. Doch theoretisch auf Linie gebracht werden soll niemand, man sucht im
Gegenteil das, was hier „significant collisions“ genannt wird:
DasArts will ein Laboratorium sein, in dem produktive Elemente
aufeinanderstoßen und eine Reaktion in Gang setzen, die den Studierenden und schließlich auch dem Theater neue Impulse geben
kann.
Der Ort, an dem dies stattfindet, ist ein schlichtes zweistöckiges Haus in der Mauritskade, einer Straße, die an ein eher ruhiges
Wohnviertel im Osten Amsterdams grenzt. Früher war hier ein Sanatorium für lungenkranke Kinder untergebracht, die von der
breiten Terrasse des Hauses aus in den Oosterpark blicken konnten. Heute liegen in den hellen Fluren mit den vielen Fenstern und
30
offenen Türen die Büros der Mitarbeiter sowie Seminar- und Studioräume, Werkstätten und Bibliothek und eine große Gemeinschaftsküche. Fünfzehn Studentinnen und Studenten aus aller
Welt werden hier jedes Jahr neu aufgenommen, um die viersemestrige Ausbildung zu absolvieren. Eine von ihnen ist die Bulgarin Zhana Ivanova, die ihren Abschluss gerade in der Tasche hat
und beschreibt, wie sie zu DasArts kam. Sie hat Linguistik und
Theaterwissenschaften in London studiert und als Übersetzerin
gearbeitet, daneben gehörte sie zu einer Performancegruppe. Ihr
künstlerischer Weg war ihr immer klar, sagt sie, sie hatte immer
ein Interesse an linguistischen Strukturen, mit denen sie arbeiten
wollte. Zu DasArts kam sie, weil sie sich in einer Situation befunden hatte, in der sie von Projekt zu Projekt hetzte und im Begriff
war, ihre künstlerischen Ziele aus den Augen zu verlieren. Hier
fand sie den Freiraum, den sie für ihre Arbeit brauchte. Sie setzt
sich mit der Struktur von Sprache auseinander und schreibt
Skripte, bis hin zu den Dialogen, um sich dann Laien oder Performer zu suchen, mit denen sie diese Texte erarbeitet und Liveperformances, vorwiegend in Galerien, macht. Die UnterstütTdZ · November 2010
HOCHSCHULEN
Ku-Klux-Kandy
zung, die sie bei DasArts gefunden hat, beschreibt sie als sehr produktiv: Sie wurde immer dazu aufgefordert, ihre Ideen zu realisieren, und fand in der Schule ein Umfeld vor, das sie von ihren Ideen
überzeugen musste, das dann aber immer hinter ihr stand. So
konnte sie experimentieren und sich eine Art toolbox erarbeiten,
die ihr nun, so hofft sie, den Start in neue Arbeiten ermöglicht.
Georg Weinand, langjähriger Dramaturg der Schule, erklärt die
Ausbildungsstruktur, die dieser Erfahrung zugrunde liegt.
Am Anfang der Ausbildung
stehen Fragen: Wo steht man,
wo will man hin? Welche Fähigkeiten bringt man mit?
Und auch: Welches Projekt
will man realisieren? Daraus
werden im Gespräch mit einem Mentor objektive Beurteilungskriterien in einem
Studienplan festgelegt, der
im Verlauf der vier Semester
zur Referenz wird, um die individuelle Entwicklung einzuschätzen. Die Mentoren
kommen nicht aus dem (sehr
kleinen) Kollegium der
Schule, sondern sind Journalisten, Kuratoren oder andere
Kulturschaffende, die mit ihren Erfahrungen den Mentee
während des gesamten Studi-
ums begleiten. Reguläre Vorlesungen oder Seminare gibt es
nicht, sondern während der vier
Semester wechseln sich zwei
Blocks und zwei Contextuals ab.
Während es in Letzteren um die
individuelle Projektarbeit geht,
ist der Block ein zehnwöchiges
Programm, das von einem Gastkurator geleitet und zu dem Spezialisten aus den unterschiedlichsten Disziplinen eingeladen
werden. „The Glamour of Violence“ oder „Who is I?“ lauten
etwa die Titel der Blocks, in denen in Workshops, mit Vorträgen
und auf Reisen einem Thema in allen seinen Verzweigungen nachgegangen wird. Die Fragestellung ist abstrakt, die Annäherung
durchaus sinnlich, etwa eine Bondage-Session, um der Faszination
der Gewalt auf die Spur zu kommen, oder ein Arbeitsaufenthalt in
TdZ · November 2010
einem israelischen Kibbuz zum Thema „Learning by Living“. Die
Idee der Blocks ist, die Studenten mit einer solchen Fülle an unterschiedlichsten Informationen zu bombardieren, dass sie lernen,
ihren eigenen Pfad durch den Dschungel zu schlagen und mit „performativen Antworten“ zu reagieren.
Am Ende des Studiums steht der Master Proof, der in den regelmäßig im Haus stattfindenden Open Labs öffentlich präsentiert
wird. Im diesjährigen Open Lab haben acht Studentinnen und Studenten ihre Arbeiten vorgestellt, mit denen sie auf den Block „Learning by Looking, Learning by Living, Learning by Teaching“, kuratiert von dem Schriftsteller und Dramaturgen Peter Stamer,
geantwortet haben. Die Mehrzahl dieser Arbeiten hat den Charakter einer Installation, viele sind Videoarbeiten, wie die des Niederländers Nir Nadler. Er zeigt in einer Endlosschleife das Gesicht
einer jungen farbigen Frau, das seiner Kommilitonin Ntando Cele,
die ausgiebig und mit Hingabe einen weißen Lutscher in der Form
eines Ku-Klux-Klan-Mitglieds zerbeißt: „Ku Klux Kandy“. Er will
die Leute erreichen und sucht deutliche Bilder, sagt Nir Nadler; ein
versammeltes und auf das Kunstereignis konzentriertes Publikum
wie im klassischen Theater interessiere ihn nicht. Dem steht die
Arbeit von Elina Cerpa diametral entgegen. Ihre Performance findet im abgedunkelten Studio mit dem freundlichen Namen RitSael statt. Die 1977 geborene Lettin hatte bereits mit Alvis Hermanis gearbeitet und eigene Performances am Theater in Riga
herausgebracht, bevor sie zu DasArts kam. Auch sie wollte aus einer Vermarktungsschleife aussteigen und zu ihren Inspirationsquellen zurückfinden, zu denen eine starke Naturbindung gehört.
Ihre Performance mit dem Titel „Uii iii Ui Uiiii iii i“ reagiert auf
eine Nachtwanderung mit den Teilnehmern des Blocks während
des Kibbuzaufenthalts. Daraus ist eine sehr fragile Arbeit entstanden, in der sie sich zur Musik von Arvo Pärt gemeinsam
mit dem Vogelstimmenimitator Arend de Jong über die
Bühne bewegt. Man hört seine
eindringlichen Käuzchenrufe,
zu denen Elina Cerpa in einen
Dialog tritt, indem sie selbst
Natur nachahmt, sich mal in einen Baum verwandelt, mal an
ein Tier erinnert, bis beide
schließlich anfangen, in
menschlicher Sprache miteinander zu sprechen, und gemeinsam den Raum verlassen.
Elina Cerpa nennt DasArts ihr
„safe house“, in dem sie den
Freiraum und den Rückhalt gefunden hat, den sie für ihre sehr poetische Kunst braucht. Vielleicht ist DasArts vor allem dieses: ein
Ort, der den Künstlern, die sich hier zusammenfinden, das Angebot macht, miteinander auf die Suche zu gehen und ihr Talent zu
entwickeln. 31
Spielen unterm
Damoklesschwert
W
o ich bin, ist keine Provinz“ – am
Theater Neubrandenburg/Neustrelitz glaubt man heute mehr denn
je an diesen Satz von Christoph
Schroth, der hier gerade „Kabale und
Liebe“ inszenierte. Provinz? Auf ihre
Weise waren Neustrelitz und Neubrandenburg immer zugleich auch
Metropolen – kleine, überschaubare gewiss, die je nach politischem Klima im Lande den Nachteil oder den Vorteil besaßen, eher
im Verborgenen zu liegen. Neustrelitz sieht man die Residenzstadt
von einst wieder an, restaurierte Schlossanlagen, Seen und eines
jener wunderbaren Theatergebäude, wie sie sich die Städte vor
über hundert Jahren noch leisteten.
Neubrandenburg: eine der Bezirksstädte der DDR. Ein Verwaltungsstandort zwischen Berlin und Rostock, mit viel Beton und
wenig Gesicht. Aus dem Theatergebäude aus dieser Zeit, einer
Mehrzweckhalle, ist man inzwischen umgezogen in die Pfaffengasse. Was sich etwas hochtrabend Schauspielhaus nennt, ist eine
etwas größere Studiobühne, aber eine mit Atmosphäre.
Die Provinz hat es in sich, zumal in Zeiten, da die großen Metropolen zerfallen, die Stadtzentren sich in uniforme Einkaufsmeilen verwandeln. Säuberlich auseinandersortiert liegen die
Viertel der Reichen auf der einen und die Ghettos der neuen Unterschichten auf der anderen Seite. Multiple Parallelwelten. Was
hier glaubt, nicht zusammenzugehören, wächst auch nicht zusammen. Da öffnet sich ein seelischer Leerraum, den zu füllen hier
vielleicht leichter fällt als anderswo. Die Überschaubarkeit der Provinz erleichtert Aufklärung, aber nur, wenn man den Mut hat, aus
dem geheimen Zirkel des Schweigens herauszutreten. Da hilft das
Selbstbewusstsein solcher großen Regisseure wie Christoph
Schroth, die in jeder Hinsicht frei genug sind, der Provinz ihre Provinzialität zu nehmen. Das strahlt aus, gerade auch auf die jungen
Schauspieler, die sich, wenn sie anderswo gefragt werden, wo sie
denn engagiert seien, bei den Namen Neustrelitz und Neubrandenburg oft mitleidig-herablassende Blicke gefallen lassen müssen. In der Provinz lernt man viel, auch den Unterschied zwischen
jenem Selbstbewusstsein, das einen standhalten lässt, und einer
Selbstüberhebung, die aus Mangel an Demut vor der Kunst
kommt.
Katja Paryla inszenierte im Frühsommer Ray Cooneys Komödie „Außer Kontrolle“ – und in diesem Hochenergiestück findet
sich keine Spur von jener Biederseligkeit, mit der man etwa in Berlin im Theater am Kurfürstendamm oder dem Renaissance-Thea-
32
ter in Versuchung stünde, derartige „leichte Stücke“ zu spielen.
Woran es liegt? Hier bedient man eben nicht für ein spezielles homogenes Segment des Bürgertums ganz bestimmte Unterhaltungserwartungen, hier fehlt jene schenkelklopfende Selbstzufriedenheit, mit der man andernorts ein solches Stück verderben
würde – man spielt für alle, und so mischt sich Avantgardehaltung
mit dem Volkstheaterangebot.
Das Gedächtnis der Provinz funktioniert anscheinend besser
als das der Großstadt, man lebt selbstverständlicher aus dem Gestern heraus – mit ambivalenten Auswirkungen. Auch Christoph
Hein hat hier „Die wahre Geschichte des Ah Q“, die einst Alexander Lang am Deutschen Theater inszeniert hatte, noch einmal herausgebracht, in der Regie von Ekkehardt Emig von der Berliner
Schule für Schauspiel. Das ist jene Ausbildungsstätte, von der die
meisten der jungen Schauspieler – wie Susanne Groß, Nancy Spiller oder Christoph Bornmüller – hierher gekommen sind. Wer Erfahrungen machen oder sie weitergeben will, ist hier richtig. Karriere machen ist dabei nicht das Thema. Es sind lang erprobte
Verbindungen, die sich als fruchtbar erwiesen haben – und die sich
nun unter dem Dauerdruck einer geplanten Fusion in einem „Kulturkooperationsraum“ bewähren müssen. Ein Theaterverbund,
der von Neustrelitz, Neubrandenburg und dem jetzt schon mitbespielten Güstrow bis nach Greifswald, Stralsund und Putbus reichen soll? Eine Idee, wie sie nur Bürokraten haben können. Täglich ändert sich die Lage, die ständige Verunsicherung spielt
immer mit, der Druck bleibt.
Als Annett Wöhlert, Oberspielleiterin des Hauses, im Frühjahr
an der Berliner Akademie der Künste einen Förderpreis erhielt,
wirkte sie wie die einzige Erwachsene unter lauter egomanen Kindern, die hier für ihre verspielten Projekte prämiert wurden. Aber
wer aus einem Haus wie Neustrelitz kommt, dem ist der Sinn für
solche Selbstdarstellung abhanden gekommen, dem merkt man
die Last der Verantwortung an, die er trägt. Und was sie dann sagte,
es passte in all dem Ernst, mit dem sie die Lage beschrieb, so gar
nicht zu den fröhlich-unbeschwerten Dankesreden der anderen.
Welch Ohnmacht einer unberechenbar gewordenen Politik gegenüber! Und dennoch der ständige Versuch, einen Auftrag ernst
zu nehmen, der andernorts längst aufgegeben – oder soll man sagen: verraten? – wurde. Solch konzentrierten Arbeiten wie Annett
Wöhlerts „Drei Schwestern“ oder auch dem Ost-West-Liederabend
„Wir wollen niemals auseinandergehn ...“ begegnet man nicht oft.
Darum erträgt Intendant Ralf-Peter Schulze es nur schwer,
wenn durchreisende Journalisten sich darüber verwundern, dass
auch hier Menschen ihre Arbeit beherrschen. Allerdings! Und die
TdZ · November 2010
Kunst, die daraus resultiert, ist dann auch noch auf eine spezielle
Weise mit diesem Ort verbunden. Und mit dem Mut, sich großen
Themen zu stellen. Mit dem „Faust“ trieb Annett Wöhlert die Leistungsfähigkeit des Ensembles bis an die Leidensgrenze. Seit zwei
Jahren ist er im Programm und jedes Mal, wenn er gespielt wird,
herrscht am Theater der Ausnahmezustand.
Wie mit dem Damoklesschwert über den Köpfen produktiv
umgehen? Ralf-Peter Schulze pointiert die Zumutung, unter diesen Bedingungen Theater machen zu müssen, indem er das Dauerthema obskurer „Theatergutachten“ – um die Winzigkeit einer
geistvollen Akzentverschiebung – zum Spielzeitmotto macht:
„Theater gut achten!“ Die derzeitige Lage? Das Mehrspartentheater bleibt erhalten, auf Pläne, Neustrelitz zur bloßen Abspielstätte
zu machen, hat auch die Stadt mit vehementer Ablehnung reagiert. Und solange die Kreisgebietsreform nicht abgeschlossen ist,
der Großkreis neuer Träger nicht existiert, hat man eine Galgenfrist. Die Zeit, weiß Schulze, muss man nutzen für eine inhaltliche
Auseinandersetzung mit dem Thema. Der „Fusionierungsrausch“
sei ohnehin vorbei, die Probleme, die man mit einer solchen Fusion löst, sind das eine – die, die man schafft, das andere. „Vielfalt
statt Einfalt“ setzt das Theater dagegen. Ohne künstlerische Identität kann man den öffentlichen Auftrag nicht wahrnehmen, das
Ensemble wäre dann bloß noch eine gesichtslose Tourneetruppe.
Schulze macht sich über die Politik des Landes MecklenburgVorpommern wenig Illusionen und teilt seinem Publikum zur
Saisoneröffnung mit, dass es an der Zeit sei, sich um die eigenen
TdZ · November 2010
Angelegenheiten zu kümmern: „Solange die Gesellschaft das
Theater als einen Ort begreift, wo gesellschaftliche Verhältnisse
künstlerisch verhandelt werden, wird das Theater in diese eingewoben sein. Doch Theater heute kann sich auf den Vertrag mit
der Politik nicht mehr verlassen: Wenn es vertrauensvoll darauf
wartet, weiterhin versorgt zu werden, arbeitet es an seinem Verschwinden.“ Starke Worte, denen ebenso starke Spielzeitvorhaben folgen. Im Dezember kommt „Jedem das Seine“ von Silke
Hassler und Peter Turrini im Marstall Neustrelitz unter der Regie
von Annett Wöhlert zur deutschen Erstaufführung. Damit
schließt sie thematisch an ihre Inszenierungen von Taboris
„Mein Kampf“ und „Jubiläum“ an, stößt an Tabus im kollektiven
Gedächtnis. „Witz und Katastrophe“ fordern den Zuschauer heraus. Im nächsten April inszeniert Ralf-Peter Schulze „Ein Volksfeind“, in Fortsetzung von Ibsen-Inszenierungen der vergangenen Jahre. Wie viel Wahrheit kann man sich leisten? Das ist die
Frage, vor der Ibsens Badearzt Stockmann steht, der immerhin
ein öffentliches Amt bekleidet. Wann also ist der Punkt erreicht,
da man nicht mehr mit sich handeln lassen darf, wo man selber
anfangen muss zu handeln? P.S.: Nach Redaktionsschluss wurde bekannt, dass die Philharmonie und die
Theater in Neubrandenburg und Neustrelitz wieder eigenständige Unternehmen
werden sollen. Das war das Ergebnis einer Sondersitzung der Hauptgesellschafter der Theater- und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz. Ziel sei es,
vor dem Hintergrund der erneuten Finanznot der GmbH mit der Aufspaltung
klare Verantwortlichkeiten zu schaffen.
33
TdZ November MO:November
22.11.2010
14:23 Uhr
Seite 34
Blindflüge
Bulgarien versucht, sich Richtung Europa
zu reformieren – und lässt dabei die Kultur auf der Strecke.
Ein Reisebericht von Dorte Lena Eilers
„Nur ein Genie kann uns retten“ – fasste der
bulgarische Theaterautor Hristo Boytchev die
Lage seines Landes einmal zusammen. Überall
fehlt es an Geld. Auch die Theater müssen
sparen – und wissen oftmals nicht, wie sie die
laufende Spielzeit überstehen sollen.
Foto Dorte Lena Eilers
D
ie Nächte in Bulgarien können tückisch sein.
Besonders in den trägen Monaten dieses Spätsommers, in denen sich über die allgemeine
Entspanntheit eine seltsame Ruhe gelegt hat,
deren dumpfe Verschwiegenheit lauernd
klingt, irgendwie unheilvoll. Selbst an den
Stränden der Schwarzmeerküste scheinen die
bulligen Beats aus den Bars und Diskotheken
zu später Stunde blasser zu werden, kraftloser, als hätten sie längst
aufgegeben, die Leute bei Laune zu halten – oder sollte man besser sagen: sie daran zu hindern, schlafen zu gehen? Erschöpft hatten wir um zwei Uhr nachts nach etlichen Gesprächen am Theater Varna die Strandpromenade erreicht. „Absurd“, hatte so
mancher die Situation in der Stadt kommentiert und sich dabei immer wieder an die Stirn getippt. Eine Geste, die für diese Tage typisch ist. Wortlos starren wir aufs Meer. Irgendwo dort draußen,
hatte die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff einmal geschrieben, gebe es eine Insel, deren Existenz weitgehend unbekannt sei,
sie camoufliere das Meer und sei deshalb vom Land aus nicht zu
sehen. Das Besondere: Die Insel horte alles Glück dieses Landes.
Und Zeit, die dort nur gemächlich verstreicht. Heute müsste man
sagen: Auch das ist Glück. Denn anderswo, auf dem Festland, katapultiert sie sich momentan explosionsartig vorwärts – wirft alles über den Haufen, von einem Tag auf den anderen.
Fast scheint es, als habe Plamen Dimitrov nur darauf gewartet,
uns, den Gästen aus Deutschland, von diesen tückischen Nächten
und ihren turbulenten Folgetagen zu erzählen. Wie ein verschwörerisches Grüppchen sitzen wir in seinem Büro im Theater
Varna: Holger Schultze, der Intendant des Theaters Osnabrück, der
eigentlich bloß mit einem Gastspiel hier vorbeischauen wollte,
dessen Pressevertreterin, eine Dramaturgin und zwei Journalistinnen. Derjenige, um den es hier geht, ist nicht dabei. Er sitzt im
Nebenzimmer, sie nennen ihn bloß „den Mann“, und auch sonst
hört man über ihn nichts Gutes. Die Gründe enthüllt uns Plamen
Dimitrov, ganz stilecht und äußerst ernst, durch den Rauch seiner
Zigaretten hindurch. Und es sind viele Zigaretten, die während dieses Gesprächs verglimmen.
Dimitrov überrollten die Ereignisse an einem Tag im August.
Neun Monate lang war er als Direktor des Theaters in Varna zu Bett
gegangen und als solcher auch wieder aufgestanden. Bis zu diesem
Tag. Mitten in der Spielzeitpause hatte das Kulturministerium beschlossen, aus Kostengründen Schauspiel und Oper zusammenzulegen, die jeweiligen Direktoren wurden zu Spartenleitern heruntergestuft, an ihrer Statt trat ein neuer Mann an die Spitze:
Slavcho Slavov, gelernter Ingenieur, Gründer einer privaten Business-School und – ganz nebenbei – Mitglied einer regionalen Untergruppe der derzeit regierenden GERB-Partei. Hinter vorgehaltener Hand hat „der Mann“ deshalb auch noch einen anderen
Namen: Parteisekretär – bezogen auf den Modus seiner Ernennung. Ein Vorgang, der dem Geist der GERB-Partei eigentlich widerspricht. Vor einem Jahr hatten die Konservativen die wegen
Misswirtschaft angekratzten und von der EU allzu oft zurechtgeTdZ · November 2010
wiesenen Sozialisten (BSP) abgelöst mit dem Versprechen, neben
Kriminalität und Korruption auch die miese finanzielle Lage des
Landes zu bekämpfen und damit den traurigen Titel als Schlusslicht der EU endlich zu tilgen. Doch schon bei den Wahlen ging es
– fast schon traurige Routine – drunter und drüber.
Bargeld, Essen oder Schuldenerlasse seien gegen Wählerstimmen feilgeboten worden, schreibt die dpa. Bürgermeister kutschierten Wähler mit ihren Autos zum Wahllokal, während bulgarische Aussiedler aus der Türkei mit Bussen in die südöstlichen
Regionen des Landes gekarrt wurden, um dort ihre Stimme abzugeben. Zwiespältig berühmt wurden in dieser Zeit auch die Galewi-Brüder, die aus dem Gefängnis heraus kandidierten, da sie
zeitweilig wegen Verdachts der Schutzgelderpressung einsaßen.
Ein weiteres Beispiel für die sinkende politische Moral im Lande,
kommentierte der Nachrichtensender n-tv. Das Zynische: Auch
das Gemunkel um den führenden Mann an der Spitze der GERBPartei, Boris Borissow, reißt nicht ab. Der Ex-Karatetrainer und Expolizist im damals noch kommunistischen Bulgarien hatte sich
nach der Wende einen Namen als Inhaber einer Sicherheitsfirma
gemacht, zu deren prominentesten Kunden der abgesetzte Machthaber Todor Schiwkow und Exkönig Simeon II. zählten. Als Letzterer 2001 Regierungschef wurde, machte er seinen Bodyguard
zum zweiten Mann im Innenministerium. Fortan zog Borissow als
oberster Mafiajäger durch die Lande. Großes Jagdglück, so die
AUSLAND
Das Europa der Künstler – Nikolay Dimitrov
(links), Schauspieler aus Russe, in der
Osnabrücker Produktion von Fassbinders
„Katzelmacher“.
Foto momchilmihaylovimageware
Presse, sei ihm nicht beschieden gewesen – nur wenige fragten
sich, warum. Borissow versteht es, sich geschickt populistisch als
Retter der Nation zu inszenieren. Als Bürgermeister von Sofia war
er damit erfolgreich. Jetzt will er auch im Staat aufräumen. Und
sorgt doch, wie so viele vor ihm, erst einmal nur für Chaos.
Reformen für eine europäische Entwicklung Bulgariens
2009 habe das bulgarische Kulturministerium plötzlich festgestellt, dass in den Kassen ein riesiges Loch gähne, schreibt Gergana
Dimitrova, Ansprechpartnerin des Goethe-Instituts Sofia für die
dortige Theaterszene. Eigentlich nicht überraschend in einem
Land, das chronisch mit den Finanzen ringt – das Wort „plötzlich“
aber ist es, was einen misstrauisch macht. Nach den Misserfolgen
der zahllosen Vorgänger – als impulsive Wechselwähler spülten
die Bulgaren bei jeder Parlamentswahl seit der Wende immer wieder neue Parteien an die Spitze – hat es die GERB-Partei eilig, alles
in den Griff zu bekommen, auch im Bereich der Kultur. Theater
wurden aufgefordert, umgehend 20 Prozent ihrer Ausgaben zu
kürzen, Dutzende von Leuten wurden mit einem Schlag entlassen,
Theater zusammengelegt oder zu Gastspielbühnen umgestaltet,
drei Philharmonien sind bereits Vergangenheit. Das Managementmodell in Varna gilt als Pilotprojekt dieser Reformen. „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ heißt GERB
übersetzt. Was gespenstisch klingt, blickt man auf die jüngsten
Diskussionen an den Theatern in Hamburg und Halle. „Der Mann“,
sagt Plamen Dimitrov und deutet mit einem Kopfnicken Richtung
Nebenzimmer, „soll unser Theater sanieren, ohne etwas von Kunst
zu verstehen. Wie soll das gehen?“
Nebulös verdampft diese Frage im Raum. Zurück in Deutschland, konsultiert das Theater Osnabrück zumindest sofort den
Deutschen Bühnenverein. Dieser geht prompt mit einer Resolution an die Öffentlichkeit: „Wir fordern das Kulturministerium
und die Regierung in Sofia auf, den drastischen Kulturabbau sofort zu stoppen!“, heißt es. Doch wie so oft ist es ganz so einfach
dann eben doch nicht. „Zweifelsohne“, erklärt Rashko Mladenov,
Intendant des Sava-Ognyanov-Theaters in Russe, das mit den Osnabrückern seit drei Jahren einen regen Austausch pflegt, „bedarf
das bulgarische Theatersystem Reformen.“ Noch immer gebe es,
ein Erbe der sozialistischen Zeit, für ein solch kleines Land wie Bulgarien zu viele Theater. Oder sind es bloß zu viele Theater für ein
36
marodes Finanzierungssystem? 43 Theater gibt es derzeit in Bulgarien, die meisten von ihnen werden zu 100 Prozent vom Staat finanziert – über ein, wie es scheint, eher sperriges Solidarprinzip:
So gehen alle in einer Spielzeit erbrachten Einnahmen am Ende
einer Saison an das Kulturministerium zurück, das auf dieser
Grundlage für jedes Theater das Budget für die nächste Spielzeit
neu berechnet. „Wir bekommen weniger, als wir einspielen“, erklärt Mladenov. Das soll sich nun ändern.
Flexibler, effizienter, finanziell autonomer – mit diesem Vokabular jongliert, wer beschreibt, wie die mächtigen Staatsapparate
der Kultur, in denen die Mitarbeiter wie Beamte angestellt sind,
verschlankt werden sollen. Sieben Staatstheater sollen bleiben, andere zu Stadttheatern umgewidmet oder personell zu Gastspielbühnen eingedampft werden. Ein Vorgang, der auch der freien
Szene gefällt, wittert sie nun die Chance, als Ort der „wahren Avantgarde“ dem „angestaubten Repertoirebetrieb“ der Staatstheater
endlich finanziell gleichgestellt zu werden. Die Hoffnungen sind
groß – das Misstrauen ebenso.
Hinter der Rhetorik um Reformen im Kultur- und Wissenschaftsbereich, meint Violeta Detcheva, Professorin für Theaterwissenschaft an der St.-Kliment-Ohridski-Universität und der
Neuen Bulgarischen Universität Sofia, verstecke sich etwas ganz
anderes: Kürzungen der Kulturmittel und ein Rückzug des Staates.
Es drohe eine Ultraliberalisierung des geistigen Feldes, meint Detcheva warnend. Verdächtig in der Tat: Der Staat scheint keine langfristige Strategie für die Zukunft zu haben. Viele Fragen, die Auswirkungen der Reformen betreffend, bleiben offen: Können
Gemeinden, deren Staats- nun Stadttheater werden sollen, diese finanziell überhaupt tragen, wenn derartige Posten im Haushalt bisher nicht vorgesehen waren? Wie verändert sich die künstlerische
Arbeit, wenn Schauspieler künftig nur noch für einzelne Produktionen „eingekauft“ werden? Wie stark wächst die Unsicherheit in
einem Bereich, der eh schon mit prekären Bedingungen zu kämpfen hat? Wie groß wird der Quotendruck an den sich fortan anteilig selbstfinanzierenden Theatern? Diese Fragen zu klären, bleibt
kaum Zeit: Bereits im Januar 2011 – so heißt es – treten die Reformen in Kraft. Die Theater mussten sich dem fügen, haben die Spielzeiten bis zum Dezember geplant, obwohl bis heute kein Gesetz
vorliegt, das die Reformen definiert. Ein kräftezehrender Blindflug.
Oder wissen andere im Land ganz genau, wohin die Reise geht?
TdZ · November 2010
Einfach wegfahren
Fliegen an sich ist eine schöne Art zu reisen. Doch klingt das Wort
in diesen Tagen auch ambivalent, wie eine zu schnelle Bewegung
von einem Ort zum nächsten, ohne zu sehen, was unter einem vorüberzieht. Solch rasenden Zeiten müsste das Theater daher eine
ganz andere Bewegungsart entgegensetzen: das Umherschweifen,
das Flanieren, das Wandern. Das Theater Russe und das Theater Osnabrück haben auf diese Weise schon etliche Kilometer zurückgelegt und damit dem Kulturabbau die Stirn geboten. „Wanderlust“ heißt der Fonds der Kulturstiftung des Bundes, der das
dreijährige Projekt unterstützt. Ein Name, der an Romantik denken lässt, aber auch an harte Arbeit: Wer gemeinsam wandert, lernt
den anderen kennen, die bezaubernden wie auch die bedenklichen
Seiten. Gescheut hat das an beiden Theatern bisher niemand. Im
Gegenteil: Sie nahmen es beim Wort und schickten jetzt zwei ihrer Schauspieler auf eine recht abenteuerliche Tour.
Laurenz Leky, Schauspieler aus Osnabrück, und Nikolay Dimitrov, Schauspieler aus Russe, tauschten für die Dauer einer Produktion die Plätze. Leky spielte in Russe in Dimitré Dinevs „Eine
heikle Sache, die Seele“ Josef Schutt, den Chef einer Wiener Baufirma, Dimitrov in Osnabrück den bulgarischen Gastarbeiter
Georgi (eigentlich Jorgos und Grieche) in Rainer Werner Fassbinders „Katzelmacher“. Dramaturgisch gesehen eine wenig überraschende Setzung, inszenatorisch jedoch eine Herausforderung für
den gewohnheitsträgen Staats- und Stadttheaterbetrieb, prallen
hier doch nicht nur unterschiedliche Schauspieltraditionen aufeinander, sondern auch so manches Missverständnis: Fassbinder
wird auf Deutsch gespielt, Dinev auf Bulgarisch, ohne dass die
Schauspieler die Sprache so recht beherrschen. Auch dies ein
Blindflug, allerdings, auf seine spielerische Art, mit großer Authentizität für die Bühne. Die Stücke verhandeln aus unterschiedlichen
Perspektiven das Thema Migration. Schutt weilt als österreichischer Vorarbeiter unter lauter Exilbulgaren in Wien, Georgi
kämpft sich als Gastarbeiter durch eine deutsche Großstadt. Die
Spannungen, Reibungen und Ressentiments müssen die Regisseure Boian Ivanov und Henning Bock gar nicht erst inszenieren,
sie schweben – mal witzig, mal abgründig – beständig im Raum.
Migration heißt ursprünglich Wandern, nur dass den Weg zurück keiner gerne geht. So wurde diese Art des Wanderns zum
Streitfall gemacht – und führt doch ohne Umschweife mitten hinein ins Theater. Die, die wandern, haben viel zu erzählen. Und
ihre Geschichten sind es, ihre Erfahrungen und Erlebnisse, ihr
Scheitern und ihr Erfolg, ihre Enttäuschungen und Hoffnungen,
ihre Verachtung und ihre Liebe, die, auf der Bühne erzählt, das Denken und Handeln in Bewegung halten. „Ich weiß nicht“, zweifelt
Helga, als Georgi am Schluss seine Sachen packt, um weiterzuziehen, „einfach wegfahren. Und so weit.“ Fassbinder hat gezeigt, dass
Stillstand in der Gesellschaft Stumpfsinn gebiert. Daran denkt
man in dieser Nacht am Schwarzen Meer: Gut, dass sich Dinge
manchmal ändern. Hier in Varna zumindest werden ein paar Wochen später die Künstlerproteste lauter. Der Posten des Direktors
wird neu ausgeschrieben, diesmal wird sogar ein Künstler oder
Kulturmanager gesucht. Auch in Sofia wird heftig debattiert, Listen gehen rum, auf denen landesweit Intellektuelle gegen die Reformen protestieren. Es gibt eben nicht nur ein Europa der Banken
und Bankiers, wie das Programmheft zur „Heiklen Sache“ Pierre
Bourdieu zitiert, sondern auch ein Europa der Künstler. Und auch
die haben es eilig. TdZ · November 2010
Die nächsten Premieren
NEUES THEATER
13.11.10 DER STURM
von William Shakespeare | R: Christoph Werner
(Koproduktion mit dem Puppentheater)
26.11.10 WONDERFUL WORLD
von Richard Dresser | R: Heike Frank
12.02.11 PENSION SCHÖLLER
von Wilhelm Jacoby und Carl Laufs | R: Frieder Venus
26.03.11 DER BOSS VOM GANZEN
von Lars von Trier | R: Tanja Richter
07.05.11 TARTUFFE
von Jean Baptiste Molière | R: Matthias Brenner
21.05.11 DIE GESAMMELTEN WERKE VON BILLY THE KID
von Michael Ondaatje | R: Claudia Bauer
(Koproduktion mit dem Puppentheater)
THALIA THEATER
(Kinder- und Jugendtheater)
17.11.10 BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN
nach den Brüdern Grimm, Bühnenfassung von
Gabriele Hänel | R: Moritz Sostmann
23.11.10 DER JUNGE IM BUS
von Suzanne van Lohuizen | R: Oliver Lisewski
25.11.10 DIE WELT IST RUND von Gertrude Stein
(mobile Produktion) | R: Gabriele Hänel
18.01.11 ZU GAST BEI GRAF DRACULA I
interaktives Theater
02.03.11 CLOCKWORK ORANGE
von Anthony Burgess | R: Katka Schroth
07.04.11 DAS LUSTIGSTE LAND
von Einar Schleef | R: Oliver Lisewski
15.04.11 KÄTHCHEN VON HEILBRONN ODER DIE FEUERPROBE
von Heinrich von Kleist | R: Gabriele Hänel
17.06.11 MINNA VON BARNHELM
ODER DAS SOLDATENGLÜCK
von Gotthold Ephraim Lessing
R: Oliver Lisewski
Theater- und Konzertkasse | Große Ulrichstraße 51
06108 Halle (Saale) | Tel. (0345) 5110–777
theaterkasse@buehnen-halle.de | www.buehnen-halle.de
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AUFTRITT
Stuttgart
Bauen und Fällen
Staatsschauspiel:
„Der Bau“ von Heiner Müller
Regie Hasko Weber,
Bühne Hannes Hartmann,
Kostüme Ute Noack
„Teil der Lösung“ nach dem Roman
von Ulrich Peltzer
Regie Seraina Maria Sievi,
Bühne Susanne Hiller,
Kostüme Vânia Oliveira
„Hamlet in Leuna,
Hans Wurst auf dem
Bau“ – Hasko Weber
zeigt, dass Müllers Stück
„Der Bau“ heute zu
Unrecht so selten
gespielt wird (hier mit
Markus Lerch).
Foto Mathias Dreher
„Missionen der Schönheit“ (UA)
von Sibylle Berg
Regie Hasko Weber,
Ausstattung Janina Thiel
Februar 2006 im Schauspielhaus – eine Szene aus „Faust 21“: Philemon und Baucis, zwei
rührende Umweltschützer, verteidigen ihr letztes Fleckchen Erde aus alter Zeit mit Jurte
und Bäumen drauf. Am Ende werden sie brutal „weggeräumt“. Mit derlei Szenen aus seinem umgeschriebenen „Faust II“ und mit
Bürgerchören auf der Bühne ließ Volker Lösch
Parallelen zwischen Fausts „Welt-Besitz“Allüren und dem „Jahrhundertprojekt“ namens „Stuttgart 21“ durchscheinen. Im Oktober 2006 beschloss der Landtag von Baden-Württemberg dann endgültig „S 21“, im
Kern den Bau eines neuen, unterirdischen
Durchgangsbahnhofs.
Heute, besonders seit Beginn der Abrissarbeiten im August 2010, gehen regelmäßig Tausende gegen das nach Bahnangaben 4,1 Mrd.
Euro teure Projekt auf die Straße. Erst recht
nach dem unverhältnismäßig gewaltsamen
Polizeieinsatz bei der Baumfällaktion Ende
September. Die Stadt befindet sich im Ausnahmezustand. Die Sache brennt. Nicht nur
die jahrzehntelang unangefochtene konservative Mehrheit in Baden-Württemberg ist
akut einsturzgefährdet. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt die Landtagswahl 2011
prompt zur „Volksabstimmung“ auch über
„S 21“. Medial ist der Schwabenprotest längst
Thema zur Prime Time geworden.
Wo blieb dabei das Staatsschauspiel? Immerhin, es mischte indirekt mit. Einzelne
Theaterleute sind prägend vor Ort präsent –
38
etwa der Schauspieler Walter Sittler oder der
Regisseur Volker Lösch. Walter Sittler, bis
1995 in Stuttgart Ensemblemitglied, ist zu
einem medienpräsenten Sprecher des Widerstands geworden. Volker Lösch wiederum ist
mit seinen Bürgerchören vor Ort dabei. Sittler und Lösch spielen mit den Demonstranten
regelmäßig „Schwabenstreiche“, machen
täglich einmal richtig „Krach“ – „infernalisch laut“.
Ansonsten hielt sich das Staatsschauspiel bei
„S 21“ bisher eher zurück. Es war im September zunächst mit ganz anderen Großaufgaben okkupiert: Weil das Schauspielhaus bis
Ende 2011 für 24 Mio. Euro generalsaniert
wird, musste an der neuen Interimsspielstätte Türlenstraße, einer ehemaligen MercedesBenz-Niederlassung, ein kompletter Ausweich-Spielbetrieb aufgebaut werden. Mag
sein, dass die moderate Haltung auch mit einer gewissen Loyalitätsverpflichtung den Geldgebern gegenüber zu tun hat. Erst später
schaltete sich das Ensemble ein und verurteilte die eskalierte Polizeigewalt bei der
Baumfällaktion.
Wer im Stuttgarter Bahnhof ankommt, sieht
sie von weitem leuchten: die weiße Faust, das
Emblem des Schauspiels, auf dem Dach des
früheren Autohauses Türlenstraße. Die Interimssaison begann in der weitläufigen Arena (450 Plätze) sprachgewaltig und spektakulär: mit Heiner Müllers früher, skeptischer
DDR-Zwischenbilanz „Der Bau“ (1963/64).
Konflikte von vorgestern? Vielleicht, doch
der regieführende Intendant Hasko Weber
lässt offen, ob Müllers Zweifel an betonköpfiger Fortschrittsgläubigkeit nicht heute genauso gelten wie damals. Es gibt in Webers
Inszenierung Momente, in denen alle plötzlich ausrasten. Dann tanzen die Arbeiter der
Brigade, genervt vom bürokratischen Planungschaos, mit ihren Schubkarren Rock’
n’ Roll, eine schwarze Wolga-Limousine knattert über die Bühne, und aus den Lautsprechern ballert „Johnny B. Goode“ ins Publikum. Ansonsten lässt Weber den Müller-Text
so, wie er ist: sperrig, spröde, zynisch, bitter. Zwischen hochfahrenden Mythologiebezügen und kantiger realsozialistischer Problemdebatte: „Hamlet in Leuna, Hans Wurst
auf dem Bau“.
Frei nach Erik Neutschs Roman „Spur der
Steine“ geht es um eine Brigade, die sich
durchs Direktivenchaos der Bauleitung einen eigenmächtigen Weg bahnt. Kein Wunder, dass die Zensur das Stück verbot – mit
dem Notat „Falsche Sicht der Partei“, auf
dessen unfreiwillig komische Doppeldeutigkeit Müller gern hinwies. Vor allem der Satz
„Hätt’ ich gewusst, dass ich mein eignes Gefängnis bau hier“ wurde beanstandet – das
Stück spielt zu Zeiten des Mauerbaus 1961.
Erst 1980 wurde „Der Bau“ dann an der
Berliner Volksbühne unter Fritz Marquardt
uraufgeführt. In den Spielplänen heute findet sich das Stück so gut wie gar nicht.
TdZ · November 2010
AUF TRITT
Stuttgart
Weber verschärft die Vorlage mit gezielten
Verfremdungen zur postsozialistischen Groteske und lässt den Kommunismus höchstselbst
auftreten: eine abgewrackte Entertainerin im
langen roten Abendkleid, die im Pathosgestus
Revolutionslieder knödelt, doch am Ende nur
noch gallige Systemnachrufe aus Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee IV“ vom Stapel lässt (Anja Brünglinghaus). Oberbauleiter Belfert ist bei Sebastian Kowski ein Basta-Entscheider, der aber selbst nicht einmal
einen ferngesteuerten Spielzeugpanzer unfallfrei über den Palettenboden der Arena dirigieren kann. Da resigniert sogar Jonas Fürstenaus rauer, tatendurstiger Baustellenrebell
Barka, in Webers Regie christusähnlich gebeugt mit schweren Bakelitplatten auf dem
Rücken: „Arbeit, Arbeit. Ein Jahr stirbt ins
andere – warum lebst du?“ Selbst die Liebe
zwischen Ingenieurin und Parteisekretär hat
in diesem Gestrüpp aus Nachschublücken und
Männliche Gier, weibliche
Demut und viel geborgte
Authentizität – Sibylle
Bergs „Missionen der
Schönheit“, hier mit
Lisa Wildmann.
Foto Sonja Rothweiler
TdZ · November 2010
Harmlose Lovestory
in Zeitlupe – „Teil
der Lösung“ nach
Ulrich Peltzer mit
Michael Stiller und
Boris Burgstaller,
Inszenierung Seraina
Maria Sievi. Foto
Sonja Rothweiler
Fehlplanungen kaum eine Chance. Kurzum,
Weber weitet Müllers ätzende DDR-AufbauBilanz zu einer großangelegten Parabel auf
verblichene Utopien und aktuelle Fortschrittseuphorien – mit optional mitschwingenden „S 21“-Bezügen. Ein sehenswerter,
nur am Ende etwas langatmiger Saisonstart.
Die zweite Auftaktpremiere, eine Bühnenfassung von Ulrich Peltzers Roman „Teil der
Lösung“, kommt eher beschaulich daher. Denn
vom hektischen Großstadttempo des Textes,
der 2003 in Berlin und Paris spielt, lässt Regisseurin Seraina Maria Sievi nichts übrig.
Stattdessen zelebriert sie, zwischen Campingstühlen, Freiluftkino-Leinwand, Getränkekiosk und Boulebahn, nur eine nette, aber
auch harmlose Lovestory in Zeitlupe. Motto:
Liebenswert knuddliger Journalist (Bijan Zamani) will Exmitglieder der italienischen Untergrundorganisation „Rote Brigaden“ interviewen und verknallt sich in flammende
Globalisierungsgegnerin (Stephanie Schönfeld). Die großen Weltentwürfe? In „Der Bau“
scheitern sie, in „Teil der Lösung“ sind sie nur
noch ferne Geschichte.
Kann ein Theater unbeirrt den Spielplan durchziehen, während gleichzeitig im Schlosspark
mit Gewalt gegen Demonstranten vorgegangen wird? Das Schauspiel entschied sich am
Abend der Uraufführung von Sibylle Bergs
„Missionen der Schönheit“ für einen Kompromiss: Ja, die angesetzte Premiere fand
statt. Aber gleichzeitig forderte das Ensem-
ble, „bestürzt und zornig“ über die „Eskalation der Gewalt gegen friedlich demonstrierende Stuttgarter Bürger, darunter Kinder
und Jugendliche“, ein „Innehalten“, „ein Moratorium und sachbezogene Gespräche“.
Die Inszenierung selbst empfing die Zuschauer,
die es gerade noch so an den Polizeiabsperrungen der Innenstadt vorbei bis zur Türlenstraße geschafft hatten, mit schummriger
Nachtklubatmosphäre. Vier Schauspielerinnen im glamourösen Divenlook (Anja Brünglinghaus, Gabriele Hintermaier, Katharina
Ortmayr, Lisa Wildmann) halten ungehaltene Reden im doppelten Sinn – geheimste Geständnisse und bitterste Analysen. Die ursprünglich für „Judith“ geschriebenen Texte
(eine Stuttgarter Koproduktion mit den Salzburger Festspielen 2009) wirken nun, in eigenständiger Form, wie ein weiblicher Anklagechor, den Regisseur Hasko Weber zur
sarkastischen Ladies-Revue glättet. In fiktiven Monologen kommen Zwangsprostituierte, Transsexuelle, autoaggressive Jugendliche
und mordende Ehefrauen von São Paulo bis
Kiew zu Wort, verzweifelt, böse, charmant,
in makabrem Chansonstil oder in hartem Bekenntniston: „Die Welt erstickt in männlicher
Gier und weiblicher Demut.“ Eine in ihrer geborgten Authentizität eher schwächere Produktion, aber berechtigt und gut gemeint. Auch
wenn in Stuttgart derzeit ganz andere Konflikte dominieren. Otto Paul Burkhardt
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Berlin
Das Auge der Köchin
Schaubühne:
„Fräulein Julie“ nach August Strindberg
Regie Katie Mitchell und Leo Warner,
Ausstattung Alex Eales
deokünstler Leo Warner ein Filmset auf die
Bühne gestellt: Die Schaubühne mutiert zum
Studio. Alle Utensilien zum Erzeugen von Geräuschen, zum Synchronisieren, verschiebbare Wände für Kamerafahrten in Fräulein
Julies Haus von innen und außen, mal mi-
Ein Mehr an Ausdrucksmöglichkeiten – Katie Mitchells
„Fräulein Julie“ zeigt, dass
Video im Theater auch sinnreich sein kann. Foto Steven
Cummiskey
Erst einmal stürzt der Videocomputer ab. Jemand tritt auf und sagt, es dauert einige Minuten, bis er wieder hochgefahren ist. Der Beginn der Premiere verzögert sich. So ist das:
Der hochfahrenden Lust folgt der energielose
Absturz – und man kann in der Zeit, da das
Theater hier lahmliegt, darüber nachdenken,
ob uns nicht viel erspart bliebe, wenn vor jedem „Sommernachtstraum“ jemand prophylaktisch einen Netzstecker herauszöge. Ja, es
bliebe uns viel erspart, vielleicht zu viel. Denn
ohne die Verstrickung von Lust und Leid, von
Traum und Alptraum, von Versprechen und
Verrat – was wäre unsere Kunst dann noch
anderes als ein gefährlich ausrechenbarer, militant-moralischer Katechismus?
Katie Mitchell seziert in nüchtern-angelsächsischer Manier einen merkwürdig überspannten – hysterischen! – Höhenflug der Sinne, der eine Mittsommernacht lang andauert.
Was ist diese geheimnisvolle Energie, die
Menschen zur Selbstzerstörung treibt? Ist es
eine dämonische Kraft oder bloß naturhafter
Trieb? Mitchell hat, um das minutiös recherchieren zu können, zusammen mit dem Vi40
kroskopisch dicht dran und mal distanziert
zurücktretend, alles ist vorhanden, samt dem
Betrieb eines solchen Drehs. Wir sollen sehen: Unser Bild des Geschehens ist erzeugt,
ein ganzer technischer Apparat ist mit dem
Verfertigen von Traumbildern, echten wie falschen, befasst. Eine Entillusionierung – oder
blicken wir hier bereits in die Alchimistenwerkstatt der Neuverzauberung?
Alles liegt in Mitchells multimedialer Inszenierung offen – und alles verbirgt sich gerade darum. Der stereoskopische Blick sagt
mehr über den Sehenden als über das, was er
sieht. Das ist irgendwie beruhigend. Ich kann
alle Indizien zu einer lückenlosen Beweiskette aneinanderreihen, alle Details penibel zusammensetzen – und doch verschiebt sich damit nur die Grenze, hinter der das beginnt,
was wir nicht verstehen. Was passiert mit Julie (sehr jung und fordernd: Laura Tratnik)
und Jean (charmant lavierend und kalt kalkulierend: Tilman Strauß) in dieser Nacht?
Sie erkennen sich – aber nicht wie Liebende,
sondern wie Herr und Knecht. Ein Machtspiel
der Umverteilung. Am Ende mutiert Jean, der
herrische Diener, zum Aufsteiger ohne Skrupel, der Julie hinunterstößt auf seinem Weg
nach oben.
Jean verkörpert den neuen Typus des Herrn,
der für Strindberg im 20. Jahrhundert heraufdämmert. Das ist jemand, der eine sich
ihm bietende Chance – die augenblickhafte,
aus einer Emotion herrührende Schwäche seines Gegenübers – ausnutzt, dabei sachlich seine Chance auf Erfolg abwägend. Aber es gibt
da ja noch die Köchin Kristin, durch die das
herrschaftliche Fräulein Julie bei ihrem offensiven Werben um Jean hindurchblickt, als
sei sie aus Glas. Das ist ganz im Sinne Strindbergs, der über die Figur der Köchin in dem
Text „Ein wirksames Drama“ (1900) schreibt:
„Kristin schließlich ist eine Sklavin, unselbständig und stumpfsinnig, verdorben am Herdfeuer, vollgepfropft mit Moral und Religion,
die sie als Deckmantel und Entlastung zugleich benutzt. Sie geht in die Kirche, um leicht
und behende ihre Hausdiebstähle auf Jesus
abzuladen und eine neue Ladung Unschuld
aufzunehmen. Im Übrigen ist sie eine Nebenperson und darum absichtlich nur skizziert ...“
Man darf das anders sehen, und Katie Mitchell unternimmt dann auch den Versuch, das
Stück aus der Perspektive von Kristin spielen
zu lassen. Ein kluger Ansatz, der „Fräulein
Julie“ seine Dynamik zurückgibt, die es in der
bloßen Zweierkonstellation von Jean und Julie zu verlieren droht. Jule Böwe macht die
Köchin Kristin auf herb-minimalistische Weise – dafür sind dann die Kamera und die Projektion des Geschehens auf eine Leinwand tatsächlich sinnreich! – zur Hauptperson des
Stücks. Winzige Veränderungen ihres Gesichts erscheinen nun in Großaufnahme. Wenn
schon Video im Theater, dann doch so: mit einem Mehr an Ausdrucksmöglichkeiten. Kristin: die übersehene und aufreizend beiläufig
gedemütigte Frau inmitten einer fremden
nächtlichen Erhitzung, der sie ohnmächtig beiwohnt. An das Drama des Fräulein Julie, die
sich mit dem Diener einließ und sich darum
am Ende selbst umbringt, möchten wir heute doch nicht mehr so ganz glauben. Aber an
das Drama Kristins, die das Drama von Erkenntnis als fortgesetzter Ernüchterung verkörpert, durchaus. Gunnar Decker
TdZ · November 2010
AUF TRITT
Wien
Über die Unmöglichkeit der
Vollkommenheit
Schauspielhaus:
„Bruno Schulz: Der Messias“ (UA)
von Małgorzata Sikorska-Miszczuk
Regie Michał Zadara,
Ausstattung Magdalena Musial
Bücher erscheinen, doch dass der Messias erscheint, bleibt eine Sehnsucht. In Małgorzata Sikorska-Miszczuks neuem Stück „Bruno
Schulz: Der Messias“ hegen verschiedenste
Figuren in unterschiedlichen Zeiten die Hoffnung, das wohl verschollene, wahrscheinlich
aber auch nie vollendete Zentralwerk „Der
Messias“ des 1892 im damals österreichischungarischen, heute ukrainischen Drohobycz
geborenen Autors Bruno Schulz zu finden.
Sikorska-Miszczuk hat eine aberwitzige Komödie geschrieben, die munter zwischen den
zeitlichen Ebenen von 1942 bis in die Gegenwart springt. Sie ist sich der unlösbaren
Problematik bewusst, die die Rekonstruktion
eines Werkes mit sich bringt, von dem lediglich ein paar Hinweise in der Korrespondenz
des Autors und wilde Geheimdienstgerüchte
existieren. Mit einem geschickten Kunstgriff
stellt sie den Theaterabend daher gleich zur
Diskussion: Eine junge Regisseurin (Bettina
Kerl) schaut stirnrunzelnd zu und ist nie zufrieden mit den Vorschlägen, die die von ihr
engagierte Autorin (Nicola Kirsch) liefert, um
das gewünschte Stück über jenen „Messias“
von Bruno Schulz zu schreiben.
Der andere Strang, der sich durch den Abend
zieht, beginnt denkbar düster: Schulz (Steffen Höld) tastet sich die weiße Feuermauer
entlang, während sich eine kopflose Statue zu
drehen beginnt. Der ausgestreckte Arm mündet im gezogenen Revolver. Aufgeschreckt von
Maschinengewehrsalven und Hundegebell taumelt Schulz in die Schusslinie und stammelt
wirre Worte, bevor er getroffen niedersinkt.
Doch Schulz erlebt diese Szene nicht nur einmal, er steht auf, immer wieder ereignet sich
sein Tod, bis er dem Schuss zuvorkommend
aussprechen kann: „Ich werde den ‚Messias‘
schreiben.“ Hier beginnt mit einem herrlich
lakonisch im Unterhemd hereinschlendernden
polnischen Herrgott (Max Mayer) die Komödie. Gott gewährt dem Autor ein Jahr – und
TdZ · November 2010
der stürzt direkt in die Schreibblockade. Der
Beginn erzählt von dem, was wirklich war:
Schulz wurde 1942, offenbar kurz vor seiner
geplanten Flucht, im Ghetto von Drohobycz
auf offener Straße erschossen. So dokumentarisch das Stück in vielen Teilen ist, die Figur der Regisseurin stemmt sich vehement dagegen, einen Abend über den Holocaust zu
machen. Und so verlegt sich die Autorin (sowohl die fiktive als auch Sikorska-Miszczuk)
auf die Räubergeschichten, die sich um die
Suche nach dem „Messias“ ranken: Ein Doppelagent will es vernichten, die polnische Kulturbehörde ist dahinter her, ein schwedischer
Botschafter wähnt es im KGB-Archiv, und der
Schulz-Herausgeber Jerzy Ficowski soll als
Sachverständiger bei einer Transaktion helfen, bei der ein unbekannter Lemberger dem
entfernt verwandten Alex Schulz ein Konvolut an Texten verkaufen will. Immer wieder
tritt eine Figur aus dem Spiel heraus und reflektiert das Probierte.
Die Deutung des Ganzen kommt von der Regisseurin in einer Rede, die genauso Parodie
auf die Kulturwissenschaften ist, die allem
mit Walter Benjamin beizukommen glauben
und schnell mal etwas zur „Performance“ erklären, wie auch ernstgemeinte Interpretation. Das Schlimmste, was Bruno Schulz’
„Messias“ passieren könnte, wäre zu erscheinen. „Es gibt Dinge, die können gar nicht
stattfinden – sie sind zu groß, um ins Geschehen zu passen“, zitiert die Regisseurin
Schulz. Der Autor selbst hatte in der Erzählung „Das Buch“ seine Utopie von einem lebenden, wachsenden Original festgehalten.
Das formlose Werk, das sich in der Rezeption erst entfaltet, „dessen Grenzen allen Fluktuationen nach allen Seiten hin offenstehen“.
„Der Messias“, nicht der Geschriebene, sondern der Ersehnte, Konstruierte, Verschollene, könnte dieses Original sein.
Doch den größeren Teil des Abends bestimmt
die temporeiche Komödie. Regisseur Michał
Zadara und ein wunderbar spielfreudiges Ensemble tragen das Ihre dazu bei, um aus dem
Dokumentarischen das Komödiantische herauszuholen. Max Mayer und Vincent Glander schlüpfen in immer neue Rollen und spannen so das komplizierte Handlungsnetz. Zadara setzt nicht auf psychologisch genaue
Charaktere, sondern lässt die grob geschnitzten, gern auch dem Klischee entsprechenden Figuren wie Marionetten tanzen, bis
man kaum glauben kann, dass sich da keine
Fäden verheddern. Das alles ist virtuos, es ist
zutiefst theatral, und es ist bestens gemacht.
Dem Zuschauer schwirrt hernach munter der
Kopf ob der vielen Figuren, Geschichten, Ebenen, die alle wie bunte Kreise um die Unmöglichkeit der Vollkommenheit wirbeln. Judith Staudinger
Die Utopie von einem
wachsenden Original –
Małgorzata Sikorska-Miszczuks
Literatenkrimi „Bruno Schulz:
Der Messias“ über einen Autor
und seinen verschollenen
Roman. Foto Alexi Pelekanos
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Mainz
Ökodämmerung am Amazonas
Stell dir vor, es ist Weltrettung und keiner geht
hin – Lisa Mies als
konfus-patente Feministin
in „Gegengipfel“ von
Laura Fernàndez.
Foto Bettina Müller
Staatstheater:
„Gegengipfel“ (UA) von Laura Fernández
Regie Philipp Löhle,
Ausstattung Evi Wiedemann
Als der Dramatiker Harald Müller im OrwellJahr 1984 vier Todgeweihte durch das vergiftete, postatomare Europa schickte, traf
sein „Totenfloß“ die Endzeitgefühle einer Gesellschaft, die sich in Gläubige und Ungläubige des Waldsterbens geteilt und eben erst
den Bundestagseinzug der Grünen bestaunt
hatte. Was damals subversiv war, hat heute
eine internationale Lobby, Machtstrukturen
und die zugehörige Sprache. Ohne diesen veränderten Ausgangspunkt wäre „Gegengipfel“
nicht zu begreifen.
Die junge argentinische Dramatikerin Laura
Fernández unterwirft ihr Aktivistentrio einem
einfachen Kniff. Sie entsendet die konfus-patente Feministin (tränenumschleiert: Lisa
Mies), die immer sprungbereite Pharmaindustrie- und Kinderarbeits-Gegnerin (falsche Anführungsstriche in die Luft malend:
Pascale Pfeuti) und den zornigen jungen AKWund Rüstungskritiker (Sexualobjekt in der
Frauenklammer: Felix Mühlen) zum geografischen Antipoden des G8-Gipfels von Japan.
Dort, am Amazonas, wollen sie einen Gegengipfel zu dem der globalen Hauptsünder veranstalten und ihre heroische Gegenwahrheit
ins Licht rücken. Schöner Plan. Sein Schönheitsfehler: Die verachtete, unverzichtbare
Presse bleibt dem Urwald fern. Stell dir vor,
es ist Weltrettung – und keiner geht hin. Zug
um Zug führt die leerlaufende Gruppendynamik der vermummten Kapuzenjackenträger
ohne einen, dem das Pathos zu verkaufen wäre,
zur entlarvenden Selbstzerfleischung – wenn
nicht der Positionen, so zumindest derer, die
sie verfechten.
Evi Wiedemann hat für die Inszenierung von
Philipp Löhle das Innere des TiC-Werkraums
mit rundum gehängten Stoffbahnen zum luftigen Zelt von trauter Heimeligkeit ausgebaut.
Für Löhle ist es die erste Regie, denn hervorgetreten war er seit 2005 stets als Dramatiker, der in Stücken wie „Genannt Gospodin“ und „Lilly Link“ eine Vorliebe für
scheiternde Idealisten zeigte. Den Wechsel
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vom Schreiben zum Inszenieren vollzieht er,
wenn man so will, in Dramatikerhaltung: weniger interpretierend als montierend und ergänzend, so besonders mit dem Einfall, einen
Übergriff der Figuren aufs Publikum einzubauen.
Den ersten Auftritt unter beliebig-kitschiger
Weltmusik aus dem westlichen Verwertungsreißwolf hat ein Eingeborener, der alle Klischees versammelt und so die Authentizität des
„schönen Wilden“ ironisiert: Die Kriegsbemalung ist vielleicht vom Amazonas, der Bastrock aber aus der Südsee, der Kopfjägerkult
von der indonesischen Insel Lombok, und
Videobisons jagt er wie Winnetou. Der ganze
Kerl, gespielt von Jan-Philip Frank, tanzt sich
in Trance und wird lakonisch-statuarisch den
Goldstandard setzen, an dem die eurozentrischen Weltretter nur scheitern können.
Gleich bei ihrem Auftritt stürzen sich die drei
aufs Naturkind, um dessentwillen sie angeblich alles tun, fesseln ihn und lassen ihn ungerührt so lange gefesselt liegen, bis sie etwas
von ihm zu wollen geruhen. Ihre Botschaften,
vom flugs aufgebauten Podium durchs Megafon getrötet und auf Transparenten verkündet,
brauchen keinen Wilden, der blöd rumsteht
und nicht weiß, was Sache ist. Nur schade,
dass die „Journaille“ fehlt. Wozu kämpfen,
wenn gerade keiner zuguckt? Ersatzweise verlesen uns die drei nervösen Westler, die mit
Techno-Feeling den Tanzstil des Eingeborenen
usurpieren werden, ihre Tagespläne, die sie so
rechthaberisch durchziehen wollen wie anderswo Bahnhofsbauten. Irgendwann nehmen
sie uns zu Geiseln und teilen uns unter einem
Selektionsgehabe, das sie gar nicht erst in den
Blick kriegen, in Gruppen. Als die erste Resolutionsrhetorik verpufft ist, langweilen sie
sich und zeigen im Stil von „Weißer Hai“ ihre
Kriegsnarben aus dem Überlebenskampf vor
(mein Durchschuss aus Genua!), leiden ein wenig an Wind (Ventilator) und Wetter (aus dem
Off), hampeln ohne Sinn für kulturelle Differenz mit „ihrem“ Wilden herum und träumen
eitel vom Dableiben: „Abends duschen unterm
Wasserfall, Uga-Uga tanzen und alle mit allen, ne?“ Zuletzt startet Pascale ihren Zickenkrieg um Felix, für den sie die hehrsten
Ziele und schmutzigsten Mittel aufbietet: „Wir
brauchen einen Toten – eine Weiße!“ Nur den
Indianer ficht nichts an.
Wenn Stück und Regie ökologische und Attac-Anliegen karnevalesk auf den Kopf stellen, so keineswegs ohne Sympathie. Die Darsteller, die sich beim Vornamen adressieren,
pflichten einigen Positionen sogar aus der Rolle tretend bei („Das stimmt wirklich!“). Was
gäbe es denn auch pro Kinderarbeit zu sagen?
Löhle, selbst erfolgreicher Jungdramatiker
und Hausautor am Berliner Maxim Gorki
Theater, hetzt das Trio voller Spiellust übers
Stück hinaus, dass es uns die autonome Aggression nur so in die Haut brennt. Eine griffig inszenierte, häretische Farce auf den ökologisch-gutmenschlichen Komplex, welche die
grüne Rhetorik gnadenlos auf Sprachregelungen und engagierte Lebenslügen abklopft:
eine skeptische Ökodämmerung aus Groteske, Psychodrama und Parabel, ein Vierteljahrhundert klüger als „Totenfloß“. Marcus Hladek
TdZ · November 2010
AUF TRITT
Plauen /Zwickau
Keine Sterne über Hundsgrün
Theater Plauen-Zwickau:
„Schneemond“ von Christian Martin
Regie Roland May,
Ausstattung Oliver Kostecka
Seine Familie kann man sich nicht aussuchen.
Seine Heimat in seltenen Fällen. Und seine
Arbeit, darüber entscheiden meist auch die
anderen. So ist das Schicksal des Tischlermeisters Anton Kantl bereits vorgezeichnet.
Seine Frau betrügt ihn, seine alte Mutter beschimpft ihn, seine Tochter belügt ihn, der Betrieb geht in den Ruin. Nach vier Fünfteln des
Stückes „Schneemond“ hängt der Mann tot
am Strick von der Decke.
„Schneemond“, vom Autor Christian Martin
als „ein stück volk“ untertitelt, kommt als
Volksstück daher. Milieu, Kummer, Mundart,
Machtlosigkeit. Volksstücke flüchten sich angesichts dessen gern in die Sozialidylle oder
raimundsche Nostalgie. Oder, der Gegenentwurf, sie nutzen das Idyll, um es gründlich
kollabieren zu lassen. In der Inszenierung von
„Schneemond“ durch Roland May am Theater Plauen-Zwickau scheint am Anfang alles
idyllischer zu sein als im wirklichen Leben.
Inmitten des mit allen Mitteln der Schreinerkunst hergestellten Bühnenbildes, für das
rechts und links der Bühne zwei Hausfassaden aus naturbelassenem Holz nachgebaut
sind, liegen zwei kräftige, rohe Planken auf
zwei Holzböcken. Anton „Toni“ Kantl (Johannes Lang) macht auf ihnen einige Bleistiftstriche, skizziert sein Arbeitsvorhaben.
Das wirkt alles sehr heimelig.
Doch dann nimmt das Unglück schnell und
unerbittlich seinen Lauf. Die Großmutter (Ute
Menzel) hetzt auf die Ehefrau (Else Hennig)
ihres Sohnes Anton. Deren Tochter (Angelina Häntsch) wird erst flügge, dann schwanger, die Kunden im Tischlerbetrieb bleiben aus,
und die Bank will nur eins, nämlich ihr Geld
zurück. Die zwei groben Planken auf den zwei
Böcken in der Mitte der Bühne, die mal als
Küchentisch, mal als Tisch im Büro des Bankers dienen, lässt Kantl bald verzweifelt in
die Ecke krachen. Auf dem Tresen der örtlichen Wirtschaft von Hundsgrün singt er das
„Lied von der Gleichheit“, während der Alkohol sein Übriges tut und über dem Tresen
ein Schild mit dem Slogan der SternquellBrauerei Plauen die Richtung leuchtet: „Da
bist du zu Haus“.
Erlebt man die Geschwindigkeit der Szenenwechsel, gut 30 Szenen in 100 Minuten, folgt
man der wie ein Uhrwerk arbeitenden Dramaturgie, so sieht man ein well-made play,
freilich mit tragischem Ausgang. Doch das
Unglück kommt vollkommen schnörkellos daher. Es rattert so mächtig und unaufhaltsam
an uns vorbei wie ein vollbeladener Güterzug
mit Seelenqualen. Martins Bühnensprache
darf bei dieser Dichte keine Umwege machen.
Sie atmet den Ton des grauen Alltags: „Du
Unglück, so unaufhaltsam wie ein voll
beladener Güterzug
mit Seelenqualen –
„Schneemond“,
„ein stück volk“
von Christian Martin.
Foto Peter Awtukowitsch
TdZ · November 2010
kommst nur, wenn du Geld brauchst“, mault
die Großmutter den Sohn an. „Sieht man dich
auch mal wieder“, bekommt die Tochter zu
hören. „Sie flattert nur ins gemachte Nest“,
wird über die Schwiegertochter hergezogen.
Schade nur, dass dazu ein seltsam verkürzter Volksstückton angeschlagen wird, den der
Autor, wie er im Programmheft bekennt, als
„Kunstdialekt“ bewusst gewählt hat: „Hast’
vollgetankt?“, „Wo willst’ hin?“, „Bist mich
angegang’ wie eine Wildkatz’“. Hier wurden
nach dem immer selben Schema bloß Subjekte und Vokale herausgestrichen, ohne dass
ein verbal und syntaktisch differenzierter
(Kunst-)Jargon entwickelt worden wäre. Die
immer gleichen Verknappungen klappern bald
im Ohr wie der Sound eines kaputten, blechernen Lautsprechers. „Adam und Ev“ wären besser „Adam und Eva“ geblieben.
Und auch in einer der poetischsten Szenen,
dem Dialog zwischen dem Wirt des Dorfes
(Dieter Maas) und dem Dorfirren Dalli (Sebastian Ganzert), wäre weniger mehr gewesen. Während der Wirt den sturzbetrunkenen
Anton Kantl in einem Bollerwagen nach Hause zieht, findet er den Dorfaußenseiter im
Wald. Die beiden Männer blicken in den nächtlichen Himmel, dessen Wolken die Sterne fast
alle verdecken. Millionen, Abermillionen werden es dahinter sein, vermutet der Wirt. 15
nackte Glühlampen leuchten über der Bühne.
Dieser arme Realismus macht mehr kaputt,
als man durch ihn gewinnt. Da wäre die bloße Imagination das wirkungsvollere Mittel
gewesen.
Doch den Kern der klarsichtigen Inszenierung
und die geschlossene Ensembleleistung berührt das nur am Rande. Und auch der Autor bleibt sich treu. Seiner well-made Dramaturgie folgt die hässliche Pointe: Wurde
dem Dorfirren noch zu Beginn des Stücks erklärt, dass das Christuskind im Kirchspiel
kein wahres Baby sei, sondern eine Puppe, so
meint er in der letzten Szene der Aufführung
seine Lektion gelernt zu haben. Der Schnee
fällt, und er findet ein Neugeborenes, ausgesetzt von der Tochter des toten Tischlermeisters: „Bist nur eine Pupp’. Alles ein Spiel.
Bloß ein Spiel“, murmelt er. Und erschrickt,
als ein Kinderschrei erklingt. Christian Horn
43
Konstanz
God’s away on business
Theater Konstanz:
„Woyzeck“ von Georg Büchner,
Robert Wilson, Tom Waits
und Kathleen Brennan
Regie und Ausstattung Andrej Woron
Noch bevor sich der Vorhang öffnet, erkennt
man durch den weißen Stoff eine schemenhafte Figur, an ein Seil gebunden. Mit rasselndem Atem rennt sie unablässig im Kreis.
Es ist Woyzeck, der gedemütigt wird. Das Seil
dient an diesem Abend noch oft diesem Zweck.
An das Seil gebunden, wird Woyzeck kopfüber baumeln, wird er vom Arzt in ein Wasserbassin getaucht oder einfach kraftlos darin hängen, nachdem er kurz zuvor zusammengeschlagen wurde. Schon Büchners Stück
lässt keinen Zweifel zu: Woyzeck ist Opfer. In
der Regie von Andrej Woron verschärft sich
der Blick: Die Repräsentanten der Gesellschaft, zu denen Woyzeck nie gehören darf,
verkörpern keine Norm. Da haben wir einen
Arzt (Ralf Beckord), der – stilecht mit Arztkittel bekleidet – den größenwahnsinnigen
Sadisten mimt, seine menschliche Laborratte zu einer Urinprobe zwingt und ihm dabei
triebhaftes Verhalten vorwirft, der sich in sei-
ne Machtphantasien hineinsteigert und dem
völlig erledigten Woyzeck beim Abgang noch
ein paar Geldscheine zuwirft. Bei Woron schält
der schonungslose Blick den Wahnsinn derer
heraus, die die Normalität gepachtet zu haben scheinen.
Andrej Woron findet in der Personalunion von
Regisseur und Ausstatter kraftvolle Bilder für
die Qualen des einen und den Wahnsinn der
anderen. Der Tambourmajor (Alexander
Peutz) erscheint als erfolgsverwöhnter Narzisst, von dem sich die Frauen benutzen lassen
wollen. Charaktere gerinnen so zu scharf konturierten Typen: ein Hauptmann (Ingo Biermann), der klischeehaft zwischen seiner
Homophobie und seiner Homosexualität
schwankt und diese Unsicherheit mit Paranoia
paart, der Woyzeck sein uneheliches Kind und
damit fehlendes Moralbewusstsein vorhält,
nur um ihn im Anschluss zu vergewaltigen.
Generell geben sich auch die übrigen Personen, in Sadomasokostüme gekleidet, ihrem
sexuellen Fetisch zügellos hin. In der wuchtigen Kombination von Bühne, Spiel und Musik entsteht das eindrucksvolle Bild einer
wahnsinnigen Gesellschaft. Die Konsequenz
daraus ist, dass sich der Fokus von Woyzeck
wegbewegt. Johannes Merz als Woyzeck reagiert auf sämtliche Schikanen stoisch, stumm
und emotionslos. Nur in wenigen Momenten
entlädt sich so etwas wie Frust oder Verzweiflung. Der Mord an Marie ist keiner dieser Momente. Woron lässt ihn still und ohne
großes Aufsehen vonstatten gehen. Das ist ungewöhnlich, denn ansonsten sprechen die Bilder dieser Aufführung für sich: wenn Marie
ihr behütetes Dachgeschoss verlässt, um sich
am Boden dem Tambourmajor hinzugeben,
wenn Woyzeck sich im Dachgebälk der Spiegelhalle des Theater Konstanz verkriecht, um
seinen Peinigern zu entkommen, oder die Bühne zur Arena für das umjubelte Dressurpferd
Tambourmajor wird.
Vielleicht ist dies aber auch der Tatsache gezollt, dass dieser Mord ohne richtiges Motiv
auskommen muss. Denn gemessen an der so
im Fokus stehenden Verrücktheit aller anderen, den erlittenen Erniedrigungen, wäre ein
rasender Amoklauf nachvollziehbarer als der
Mord an der fremdgegangenen Freundin. Abgründig wird der stoische Woyzeck der Konstanzer Inszenierung vor allem in der Musik
von Tom Waits. Über die Lieder hat Woyzeck
eine Ausdrucksmöglichkeit seiner Sehnsüchte, und wenn diese zerstört werden, besitzt
der Zuschauer eine Ahnung davon, was kaputtgegangen ist. Ob das als Motiv für den
Mord reicht? „Every night she comes / to take
me out to dreamland / when I’m with her, I’m
the richest / man in the town“, singt Woyzeck, wenn er ins Dachgebälk hinaufsteigt,
während Marie mit dem Tambourmajor hinabsteigt. Das Lied besingt den Wunsch, sich
zu vereinigen; die brutale Realität lässt davon eine zerstörte Seele zurück. Ja, Tom Waits’
Texte geben Aufschluss über die Abgründe der
Figuren. Und dennoch: Die Übermacht der
Musik lässt individuelle Tragik kollektiv verschwinden. Denn, der Arzt singt es, Marie bemerkt es, als sie versucht zu beten, und Woyzeck hofft vergebens –, in dieser Welt ist „God
away on business“. Bianca Schillinger / Anna Schughart
Die Qualen des Einen,
der Wahnsinn der Anderen
– Ralf Beckord als Arzt
und Johannes Merz als
Titelfigur in „Woyzeck“.
Foto Ilja Mess Fotografie
44
TdZ · November 2010
AUF TRITT
Zürich
Und nach zwei Minuten
fangen sie wieder an
Theater an der Winkelwiese:
„Haus des Friedens“ (SEA)
von Lothar Kittstein
Regie Stephan Roppel,
Ausstattung Marcella Incardona
Drei Bundeswehrsoldaten sitzen mit einem defekten Jeep in einer verlassenen Impfstation
auf 3000 Metern Höhe im afghanischen Niemandsland fest, mitten im „Haus des Friedens“, wie auf Arabisch das gesamte Gebiet
der islamischen Länder bezeichnet wird. Marie ist gerade erst aus Deutschland gekommen, mit Idealismus, durchtrainiertem Körper und einer gehörigen Portion missionarischer Selbstüberzeugung: „Ich tu das, was
richtig ist. Ich tu’s mit allem, was ich hab.“
Jost, der seit Beginn des Krieges dabei und
entsprechend desillusioniert ist, hat sich gegen eine Frau in seiner Truppe gewehrt. Und
nun schickt man ihm ausgerechnet eine „heilige Jungfrau von Orléans“, die die Welt retten will. Und natürlich verliebt sich sein junger Kollege Lorenz, der mangels Alternativen in der Armee gelandet ist und lieber zu
Hause eine Familie gründen würde, sofort in
die kluge Soldatin.
Lothar Kittstein lässt zwischen den drei Figuren seines in Bonn uraufgeführten Stücks
„Haus des Friedens“ vielschichtige Spannungen entstehen. Marie bringt ihre beiden
Kollegen als Frau und Idealistin gleichermaßen ins Wanken. Aber schon vor ihrer Ankunft hat Jost einen Fehler begangen, den Lorenz nun zu vertuschen hilft. Und beide Männer versuchen, mit dem Verlust eines Kollegen
durch eine Landmine zurechtzukommen. Es
wird bald klar, dass potenzielle Gefahr nicht
nur von den kargen Hügeln im Umland droht,
sondern auch von den Kollegen, auf die man
auf Gedeih und Verderb angewiesen ist.
Kittstein verdichtet diese Spannungen nicht
zum Konflikt. Es geht ihm weniger darum,
eine Handlung zu entwickeln, als verschiedene Reaktionen auf die Ausnahmesituation,
verschiedene Haltungen zum Krieg und verschiedene Gründe für den Einsatz aufzuzeigen. Also platziert er seine Figuren in einer
Wartesituation, die sie mit sich selbst und mitTdZ · November 2010
einander konfrontiert und in der sie nichts von
den schwierigen Fragen und Gefühlen ablenkt,
die ihre Mission aufwühlt.
Stephan Roppel, der künstlerische Leiter des
Theaters an der Winkelwiese, inszeniert die
Schweizer Erstaufführung in einem wirkungsvoll reduzierten Bühnenbild. Von der
Decke hängende weiße Stoffbahnen definieren einen quadratischen Raum. Der ausgetrocknete knirschende Lehm auf dem Boden
verbindet sich mit den beigen Steingewölben
der Winkelwiese zu einem starken Bild der
Unwirtlichkeit. Darin lässt Roppel die Schauspieler in ausgebleichten Kampfanzügen und
wechselnden Konstellationen, stehend oder sitzend, meist frontal zum Publikum aufeinandertreffen.
Dabei rückt er überzeugend den Text in den
Vordergrund, inszeniert aber eigenartig energische Auftritte und unvermittelt heftige, oft
überraschend aggressive Reaktionen, die im
reduzierten Bühnenbild und kleinen Raum ein
wenig zu groß und zu künstlich wirken. Auch
stimmlich wird es immer wieder lauter, als es
für Raum und Situationen sinnvoll erscheint.
Außerdem vermisst man zwischen den direkt
aufeinanderfolgenden Szenen Atempausen,
Momente, in denen eine Figur allein ist und
etwas von der Isolation und Langeweile spürbar wird, mit denen sie konfrontiert ist.
Aber Kittsteins gekonnte Figurenzeichnung
und sein Humor sowie die Spielfreude der Darsteller tragen die eineinhalbstündige Aufführung. Vor allem Sarah Hostettler überzeugt
als Marie mit Stärke und Präsenz. Es gelingt
ihr, in die kühl gehaltene Härte der jungen
Frau auch Zerbrechlichkeit zu weben und eine
gläubige Christin frei von Klischees und Überzeichnung darzustellen.
Gerrit Frers wird immer lockerer als naiver
Lorenz, der nicht weiß, wieso er da ist, und
der sich nach einem strafenden Gott, Schlaf
und Unsichtbarkeitsanzügen sehnt. Auch Michael Wolf gewinnt als Jost an Kraft, je mehr
er vom harten Vorgesetzten zum gebrochenen Verbitterten wird, der dauernd Geräusche hört und im Unterschied zu Marie den
Sinn dieses Krieges fundamental in Frage
stellt: „Wenn wir in hundert Jahren hier weggehen, dann ist das Land ein, zwei Minuten
lang still. Ganz still. Und dann gehen überall
in den Lehmziegelhäuschen die schiefen Tür-
Gefährlich sind nicht nur
die Hügel im Feindesland,
sondern auch die Kollegen –
„Haus des Friedens“.
Foto Judith Schlosser
chen auf, und lauter kleine braune Gesichter
mit schwarzem Schnurrbart gucken heraus
und schnuppern, ob die Luft rein ist. Und dann
fangen sie wieder an.“
Schwierige Fragen stellt der 40-jährige Autor in seinem Stück. Antworten gibt er keine.
Auf diese Weise findet der Konflikt dann doch
seinen Weg ins Stück, nur dass er sich nicht
zwischen den Figuren, sondern im Kopf des
Zuschauers manifestiert – als ein leichtes Unbehagen, wie das durch den Lehmstaub des
Bühnenbodens verursachte Jucken in der
Nase. Simone von Büren
45
gelesen von Gunnar Decker
Frank Beyer drehte in der Endzeit der DDR
einen Film mit dem gleichen Titel: „Geschlossene Gesellschaft“. Eine Ehegeschichte, in der sich zwei das Leben zur Hölle machen – dabei besser einfach auseinandergehen sollten und es doch nicht können. Sie
bleiben für immer zusammen, als „tote Seelen“ wie bei Gogol.
Jean-Paul Sartre hat sein Stück so erklärt:
„... wenn meine Beziehungen zu anderen
schlecht sind, begebe ich mich in die totale
Abhängigkeit von andren. Und dann bin ich
tatsächlich in der Hölle.“
Eine geschlossene Gesellschaft ist wie ein
Raum ohne Türen. Niemand kann herein,
aber auch niemand kommt hinaus. Der natürliche Austausch zwischen innen und außen ist gestört. Man kann nicht ohne den
anderen leben, aber mit ihm erst recht nicht.
Die Welt hinter einer Glasscheibe, jederzeit
sichtbar, aber nie fassbar.
*
Was ist Freiheit, wenn ich gleichzeitig verantwortlich bin für andere, mit denen ich
lebe? Totale Freiheit ist die Hölle, denn sie
ist rücksichtslos, vermag keine Opfer zu bringen. Entfremdung ohne Ausweg – ein ewiges Rad des Immergleichen, und jede Handlung verliert sofort allen Wert?
Ja und nein. Sartre verweigert sich Becketts
Endzustandsdiagnose unserer westlichen
Kultur. Es hat doch alles keinen Sinn?! Bei
Sartre haben sich diejenigen, die in der Hölle sind, nicht mit ihrem Schicksal abgefunden. Sie rebellieren.
Sartre lässt in „Geschlossene Gesellschaft“
drei soeben gestorbene Menschen in einer –
komfortablen – Hölle ihrem schlimmsten
Alptraum begegnen: Handlungen, die Folgen haben. Wer handelt, wird immer irgendwie gegen irgendjemanden schuldig. Die
Vorstellung der eigenen Schuld ist ihnen neu,
treibt sie alle schließlich in die Verzweiflung, gibt ihnen den Charakter von Untoten,
die darauf warten, von ihrer Schuld erlöst
zu werden. Also trägt jeder seinen Folterknecht in sich, er ist „der andere“ in ihnen
selbst – die Stimme des Gewissens. Das ist
die Inquisition im Zeitalter der Aufklärung:
Richte dich selbst! So wird hier auch geschrien, gewütet und verletzt – alles nur, um
sich selbst zu versichern, dass man noch lebt,
obwohl man doch schon tot ist: „Ich spüre
Sie bis ins Mark meiner Knochen. Ihr Schweigen brüllt mir in die Ohren. Sie können sich
den Mund zukleben, können Sie sich deshalb
daran hindern zu existieren? Können Sie Ihr
Denken anhalten? Ich höre es, es macht ticktack, wie ein Wecker, und ich weiß, dass Sie
auch meins hören.“
Und tatsächlich scheinen sie so zu neuem
Leben zu erwachen. Sie träumen von Korrektur. Zu spät? Es ist eine absurde Situation, auf die Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ hintreibt: In der Zuspitzung des Bewusstseins davon, dass man längst tot, also
in einem verfehlten Dasein gefangen ist, finden alle drei zu neuem Leben. Ist das mit
Buße gemeint? Bei Sartre kreist die Frage
nach dem richtigen Leben immer um den
Zeitbegriff. Auch darum irritiert er uns damit, dass es zwischen Erde und Hölle, zwischen Leben und Tod, Gestern, Heute und
Morgen anscheinend keine Grenze gibt –
CAO
CULTURE SIMONE
UND MONIKA KEFEI
SCAPES TRUONG LI NING,
CHINA LIVING
XIAO KE,
ZHANG
DANCE
OVERSEAS 2010
5. – 8. November
STUDIO
MEMORY
7. November
46
DER RUNDE MOND
9. / 10. November
MENGQI
CAPRI
CONNECTION/
LIVING
DANCE
STUDIO
THE MYSTERY
12. – 15. November
PERSPEKTIVENWECHSEL
11. November
oder aber eine unsichtbare, die wir erst bemerken, wenn wir gegen sie wie gegen eine
Glasscheibe laufen.
*
Die Worte lügen in der Mediengesellschaft,
sie haben sich alle längst entwertet. Was
Wahrheit ist, können wir nur dann noch erfahren, wenn es uns an Worten fehlt, einen
Schmerz auszudrücken. Wenn uns die Verzweiflung über verfehltes Leben stumm
macht, nur dann lügen wir nicht.
Sartre blickt in seinem Venedigbuch „Königin Albemarle oder Der letzte Tourist“ von
Anfang der 50er Jahre, das nach seiner großen Biografie über Jean Genet als Meditationsbuch zur eigenen Erbauung gedacht war
– dann von politischen Ereignissen in Paris
abrupt unterbrochen und nie wieder aufgenommen wurde –, in die milchigen Wasser
der Lagune. Es erscheint ihm wie ein Spiegelbild des modernen Menschen: Scheinbar
gibt es keine Grenzen, scheinbar stehen alle
Türen offen. Das ist die moderne Hölle, die
angesichts einer ihren Untergang so kunstvoll zelebrierenden Stadt wie Venedig, trotz
der Überschwemmung mit Millionen Touristen jedes Jahr, zur Absurdität mutiert.
„Man hat die Arche Noah verpasst“, schreibt
Sartre. Die „glatten Wände einer entschwindenden menschlichen Welt“ vor Augen, fühlen wir einen nicht nachlassenden Schmerz,
der sich seiner Verwandlung in Melancholie beharrlich entzieht.
*
Die geschlossene Gesellschaft maskiert sich
mit Offenheit. Und die moderne Hölle hält
sich fürs Paradies. MIKESKA:
PLUS:
BLENDWERK
OPENING NIGHT::ORPHÉE
20. – 29. November
w w w. g e s s n e r a l l e e . c h
LESARTEN
Jean-Paul Sartre: „Geschlossene Gesellschaft“
TdZ · November 2010
D
TdZ · November 2010
Zurzeit läuft es gut für Christoph, eine Uraufführung da, eine Uraufführung dort, „Die
Kunst des Fallens“ in Köln, „Eisenstein“ in
Bochum. „Eisenstein“ ist eine Familiensaga,
erzählt in großem romanhaftem Bogen. Die
einen kommen zur Welt, die anderen sterben
(oder bleiben einfach weg).
Das ist wie im Leben, sagt Christoph. Gerade noch tuscheln zwei im Theater, schon verlieren sie sich aus den Augen.
Die da getuschelt haben, waren wir beide, auf
einer Probe von Thomas Ostermeier, der damals das Nußbaumeder-Stück „Liebe ist nur
eine Möglichkeit“ inszenierte. Ich weiß nicht,
was uns da dauernd eingefallen ist, nicht mal,
ob wir zugestimmt oder geunkt und gelästert
haben. Außerdem ist mir Getuschel zuwider.
Aber es stimmt, dass wir uns dann längere
Zeit nicht mehr getroffen haben.
Als Christoph Martin Sperr besucht, lebt dieser als Frührentner in Landshut. Einer, den
das Theater fast schon vergessen hat. Man
sieht ihn spazieren gehen oder im Wirtshaus
sitzen und eine Pfannkuchensuppe löffeln.
Man sieht ihn oft in Großaufnahme, viel
schweigen, wenig sagen, aber wenn er etwas
sagt, dann sitzt es. Sperr hat noch einmal ein
Stück geschrieben, über den Räuber Kneißl,
ein Musical will er es nicht nennen, weil das
so saublöd klingt, er sagt, es sei ein Singspiel.
Mit 300 Rollen. Spielen aber will es ihm kein
Theater.
Die denken immer, ich bin so untauglich fürs
Tägliche, sagt die Kellnerin Sigrid in „Die
Kunst des Fallens“.
Und Paul sagt: Ich weiß nicht, was das Tägliche ist.
Sigrid: Sich zurechtfinden, oder?
Und Paul: Da kenn ich niemanden, der das
kann.
So schaut es aus in den Stücken von Christoph Nußbaumeder. Und wieder und wieder
kreisen sie um ein Unding der Liebe. Am
Ende von „Eisenstein“ wird Georg bekennen: Am glücklichsten war ich mit ihr, nur
gemerkt hab ich’s nicht. Wahrscheinlich hab
ich das Glück unterschätzt, man muss es aushalten können.
So schaut es aus.
Ich sag: Was machst du als Nächstes?
Ein Singspiel, sagt Christoph. Foto privat
ie einfachen Fragen haben es
in sich. Zum Beispiel stellt der
Stückeschreiber Christoph Nußbaumeder einmal die Frage, ob
das Leben Spaß mache. Er fragt
nicht dich oder mich, sondern Martin Sperr,
den mittlerweile verstorbenen Autor. Sperr
sagt: Wenn man sich den Spaß selber macht,
dann schon. Ich glaub nicht, dass das Leben
als reiner Vorgang Spaß macht.
2001 hat Christoph ein dreißigminütiges Porträt über Martin Sperr gedreht, einen Film,
der kaum wo zu sehen war; einmal haben sie
ihn in der Berliner Schaubühne gezeigt.
Warum Sperr?
Christoph sagt: Er stammte aus einfachen Verhältnissen, genauso wie ich. Und er stammte
aus meiner Gegend. Bei ihm hab ich früh gespürt, dass man trotz allem eine Schrift haben kann.
Sperr hat sehr früh sehr großen Erfolg gehabt, mit „Jagdszenen in Niederbayern“ oder
„Landshuter Erzählungen“. Dann, 1972, erlitt er einen Zusammenbruch, in seinem Gehirn war ein Aneurysma geplatzt, mit der Folge, dass er sein Gedächtnis verlor. Im Film
erzählt Sperr: Ich wusste nicht mehr, wer ich
bin. Alles musste ich neu lernen – essen, gehen, schreiben. Und dann hat mir die Krankenschwester meine Stücke zum Lesen gegeben. Da ist was Merkwürdiges passiert, ich
hab gespürt, dass das mir gehört. Und mit der
Zeit sind wieder Erinnerungen aufgetaucht,
die ich nicht erst hab lernen müssen.
Irgendwann frage ich Christoph, wieso er es
immer wieder mit dem Volksstück hat. Erst
sagt er nichts, dann sagt er: Das hab ich mir
nicht bewusst überlegt. Aber es ist das mir
vertraute Milieu. Und darin zeigt sich besonders gut, dass der Mensch schwankt zwischen
dem, was ihm bewusst, und dem, was ihm
nicht bewusst ist. Intellekt und Affekt. Beides zusammen ergibt den Charakter.
Niederbayern, sagt Martin Sperr, ist ganz anders als Oberbayern. Es ist urwüchsiger und
so gesehen auch gesünder. Alles kommt aus
der Landschaft. Meine Sprache ist ein verkürztes Niederbayrisch. Sie bringt die Sache
auf den Punkt. Ich trau mich nicht, mit der
Sprache zu spielen. Dazu ist sie zu wertvoll
für mich.
KOLUMNE
Ein Unding der Liebe von Ralph Hammerthaler
47
Menschen zu besseren Menschen machen
Der Autor und Regisseur Nurkan Erpulat im Gespräch mit Patrick Wildermann
Nurkan Erpulat, das Stück „Verrücktes Blut“,
das Sie gemeinsam mit Jens Hillje verfasst
haben, basiert auf dem französischen Film
„La journée de la jupe“ (Heute trage ich
Rock). Er erzählt von der Lehrerin einer Problemschulklasse, die ihre Schüler mit vorgehaltener Pistole als Geiseln nimmt. Hat der
Plot Ihnen zugesagt?
Nurkan Erpulat: Ich hatte schon Probleme
mit dem Film. Er erzählt das Melodram der
Lehrerin, einer jungen Frau, die selbst einen
Migrationshintergrund hat und versucht, diese Migrantenkinder zur Ordnung zu rufen. Allein, sie kriegt es nicht hin. Sie ist selbst Opfer und muss scheitern, wie die anderen Migranten. Diese Gleichmacherei ist sehr einseitig.
Dazu wird die Perspektive der Schüler überhaupt nicht erzählt, wir sehen sie nur als
Gruppe, nicht als Individuen. Das ist ja grundsätzlich das Problem, wenn man über Migranten redet. Da ist man schnell bei dem Klischee der dummen, schlecht erzogenen Migrantenkinder, die weder integrationswillig
noch integrationsfähig sind, wenn man Thilo
Sarrazin oder Necla Kelek folgt.
Ihre Inszenierung, eine Koproduktion von
Ruhrtriennale und Ballhaus Naunynstraße,
führt dieses Klischee zu Beginn ironisch ad
absurdum. Sie zeigen eine Klasse voller rotzender Rüpel, schlimmer als das Schreckbild
der Rütli-Schule. Hatten Sie keine Angst vor
dem Missverständnis, Sie selbst würden Vorurteile bedienen?
Erpulat: Angst nicht, aber bestimmte Reaktionen habe ich vorausgesehen. Es passiert
bei meinen Inszenierungen oft, dass Zuschauer
90 Prozent des Geschehens einfach ausblenden und sich nur auf das konzentrieren, was
sie sehen wollen, was sie vorher erwartet haben. Da verzweifle ich manchmal – an mir
selbst, nicht am Publikum. In „Verrücktes
Blut“ lasse ich die Schauspieler auf die Bühne kommen, sie reden normal miteinander,
ziehen die Kostüme an und steigen dann in
ihre Rollen ein – ganz nebenbei, das ist ja
nicht neu, das gibt es ja seit Brecht (lacht).
Aber diese Brechung wird schon von vielen
nicht wahrgenommen. Mir war es wichtig,
eine bestimmte Sichtweise auf diese Jugendlichen erst mal zu zeigen, um sie dann wieder dekonstruieren zu können. Ich inszeniere nicht, wie sie sind, sondern wie sie betrachtet
werden.
Weshalb rückt die Lehrerin in Ihrer Version
den Schülern mit Schillers „Ästhetischer Erziehung des Menschen“ und den „Räubern“
zu Leibe?
Erpulat: Erst mal: weil sie Theaterunterricht
macht! Und weil sie tatsächlich daran glaubt,
dass die Kunst Menschen zu besseren Menschen machen kann. Daran glaube ich übrigens auch. Sicher, ihre Methodik ist eher problematisch, aber anders als mit der Pistole in
der Hand dringt sie zu den Schülern nichtdurch. Ich will das gar nicht rechtfertigen,verstehen Sie mich nicht falsch, aber es
spiegelt die Wunschphantasie von vielen: Wir
möchten euch helfen, Freunde, aber wie soll
das gehen? Ihr seid so dumm und unreflektiert, dass man euch mit Gewalt erziehen
muss! Dieser Satz kommt auch der Lehrerin
über die Lippen.
Hätte es Sie genauso gereizt, Schiller im
Original zu inszenieren?
Erpulat: Ich wäre bereit, viele Klassiker zu
inszenieren. Ich habe eine klassische Ausbildung genossen, auch in der Türkei, nicht nur
an der Ernst-Busch-Schule in Berlin. Ich behaupte mal, dass ich Shakespeare besser ken-
ne als Neuköllner Straßengeschichten. Aber
den Intendanten fehlte bis jetzt der Mut, mich
auch solche Stoffe inszenieren zu lassen. Das
ändert sich gerade, was mich sehr freut, ich
habe jetzt auch Shakespeare- und TschechowAngebote bekommen. Bis dato war ich ja ausschließlich für interkulturelle Themen zuständig.
In „Verrücktes Blut“ wird auch darüber gespottet, dass die deutschen Bühnen für Schauspieler mit Migrationshintergrund nach wie
vor die Kanakenrollen reserviert haben. Macht
ein interkulturelles Ensemble wie das von Karin Beier in Köln da Hoffnung?
Erpulat: Leider ist Karin Beier ein Einzelfall.
Bis auf wenige Ausnahmen ist das deutsche
Theater weiß. Das gilt selbst für eines meiner
Lieblingstheater, das Grips. Mindestens 50
Prozent der Kinder und Jugendlichen, die da
hinkommen, haben einen Migrationshintergrund, bei manchen Vorstellungen sind es
deutlich mehr. Aber als ein Freund von mir,
ein wirklich guter Schauspieler, sich dort beworben hat, wurde ihm gesagt: Wir finden
dich super, wenn wir einen Türken brauchen,
rufen wir dich an!
Ist ein Theater wie das Ballhaus Naunynstraße so gesehen wichtig als Sprungbrett,
um Schauspieler oder Regisseure wie Sie an
die großen Häuser zu bringen?
Erpulat: Das Ballhaus ist ein Sprungbrett
und gleichzeitig ein eigenständiges Haus. Ich
finde es wichtig, dass es in dem Sinne nicht
nur Modell wird bzw. verschiedene Protagonisten weitervermittelt, sondern dass dort
tatsächlich viel produziert wird, auch auf
der Textebene, schwarz auf weiß. Das hat
noch einmal anders Bestand als das beste
Projekt. wurde 1974 in Ankara geboren und lebt seit 1999 in Berlin. Er studierte Schauspiel an der Dokuz
Eylül Üniversitesi in Izmir und Schauspielregie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in
Berlin. Vornehmlich arbeitet er in Berlin, aber auch in Hannover, Linz, Heilbronn und Istanbul. Zu seinen Regiearbeiten zählen u. a. „Faked“, „Jenseits – Bist du schwul oder bist du Türke?“, „Schattenstimmen“, „Man braucht keinen Reiseführer für ein Dorf, das man sieht“, „Lö Bal Almanya“. Ferner
war er als Lehrbeauftragter an der Universität der Künste Berlin tätig. Er ist 2011 Mitglied der Stückemarkt-Jury vom Theatertreffen Berlin. Seine neueste Produktion „Verrücktes Blut“, die in Koproduktion des Ballhauses Naunynstraße mit der Ruhrtriennale entstanden ist, wurde gerade für den Friedrich-Luft-Preis nominiert.
48
Foto Ute Langkafel
Nurkan Erpulat
TdZ · November 2010
STÜCK
Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hillje
Frei nach Motiven aus dem Film „Heute trage ich Rock“, Drehbuch und Regie von Jean-Paul Lilienfeld
Sonia Kelich, Lehrerin
Mariam, Schülerin
Latifa, Schülerin
Musa, Schüler
Bastian, Schüler
Hakim, Schüler
Ferit, Schüler
Hasan, Schüler
1. Szene
Übertriebene freundschaftliche Ghettobegrüßung zwischen den Schülern. Sonia tritt mit einem Stapel Reclamhefte auf die Bühne.
In dem Stück geht es nicht um die Schüler.
In dem Stück geht es nicht um die Lehrer.
In dem Stück geht es nicht um die Schule.
In dem Stück geht es um den Blick darauf,
es geht um das Publikum.
Prolog
Die Schauspieler kommen in den Raum. Sie unterhalten sich und ziehen sich um. Die Schauspielerin, die
Mariam spielt, bindet ihr Kopftuch usw.
Sie nehmen ihre Stühle und gehen auf die „Bühne“. Sie
stellen die Stühle in eine Reihe und setzen sich. Einer
nach dem anderen kommt als Privatperson an den vorderen Bühnenrand und wird dort zum Kanaken.
Hasan, Sonia, Latifa, Bastian, Mariam, Musa, Ferit,
Hakim stehen in einer Reihe und führen chorisch den
Kanon der Kanakengesten vor: Rotzen, Ausspucken,
Schwanzkorrigieren, Style-Korrigieren, Anmachen/
Flirten, Mit-dem-handy-Telefonieren, Über-Sex-Reden,
Fick-dich-Anpöbeln, usw. Auf jede Geste folgt ein Moment des Innehaltens. Stille. Blick ins Publikum.
Die Reihe löst sich auf. Die Schauspielerin, die die Lehrerin spielt, geht, um sich umzuziehen. Sie wird zu Sonia Kelich, der Lehrerin. Die anderen Schauspieler werden zur Schulklasse. Der Gestenkanon wird nun situativ in der Gruppe gespielt und endet in einem lauten
Streit.
Stille.
Oskar Gomez Mata /
Anton Reixa
23.11–05.12.
black.box
Sébastien Grosset /
Cie RDH
25.11–05.12.
white.box
TdZ · November 2010
SONIA:
Guten Morgen!
Sonia wiederholt es mehrfach, die Schüler ignorieren
sie. Sie wendet sich dem Publikum zu. Grüßt. Bastian
schubst Latifa nach vorne.
FERIT:
Affenarsch!
HAKIM:
Affengeiler Arsch.
LATIFA:
Hey!
HAKIM:
Hab’ ich dir schon mal gesagt, dass ich
auf dicke Ärsche stehe?
FERIT:
Was ist los mit dein Hintern? Hast du dir
Botox gespritzt?
HAKIM:
Ich hab noch nie so einen runden Arsch
gesehen.
LATIFA:
Doch deinen eigenen.
FERIT:
Brauchst du eine Arschmassage?
HAKIM:
Ich will nur einmal rüberstreicheln.
LATIFA:
Geht weg!
FERIT:
Wir haben Respekt vor Frauen.
HAKIM:
Nur ein bisschen.
LATIFA:
Fass doch seinen Arsch an.
HAKIM:
Nein man. Ist langweilig geworden. Der
ist klein.
FERIT:
Ja geil.
HAKIM:
Ja, so nen runden Arsch, so was mögen
wir.
LATIFA:
Dann geh doch zum Arsch deiner Mutter.
FERIT:
Dicker – ich hab ihren Arsch angefasst.
LATIFA:
Hey!
Bastian geht dazwischen.
BASTIAN: Ey sag mal, was soll denn das du Arschloch?
FERIT:
Was soll denn los sein?
HAKIM:
Was soll sein?
BASTIAN: Bist du behindert, oder was man?
FERIT:
Bleib’ mal ganz ruhig.
BASTIAN: Ihr zwei gegen ein Mädchen?
HAKIM:
Sowieso!
BASTIAN: Fasst euch doch gegenseitig an den Arsch.
Du auch Alter.
HAKIM:
Übertreib’s mal nicht!
Bastian fasst Latifa auch an den Po.
BASTIAN, FERIT, HAKIM: Affenarsch!
SONIA:
Hört auf, das ist sexuelle Belästigung.
BASTIAN: Dein Gesicht ist sexuelle Belästigung.
SONIA:
Setzt euch und lasst sie in Ruhe.
LATIFA:
SONIA:
LATIFA:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
Wir klären das allein, Fräulein.
Ich –
Mischen Sie sich nicht ein, ja? Bisschen
Respekt!
Genau, reden wir mal über Respekt. Es ist
8 Uhr 20 und wir haben immer noch nicht
mit Theaterunterricht anfangen können.
Das stimmt nicht, es ist 8 Uhr 19.
Wir haben entschieden, unseren diesjährigen Projekttag Friedrich Schiller zu
widmen. Wir wollen uns heute mit seinen
Dramen aus der Epoche des Sturm und
Drang beschäftigen und einige Szenen daraus lesen und spielen. Das wichtigste Drama dieser Zeit sind „Die Räuber“. Eine
junge Generation der deutschen Literatur
wendet sich im ausgehenden 18. Jahrhundert gegen Autorität und Tradition.
2. Szene
Bastian und Hakim wenden sich Hasan zu. Sonia spricht
während der folgenden Szene weiter und richtet sich
ans Publikum:
SONIA:
An Stelle von Regeln, die man in Dichterakademien lernen konnte, setzen die
„jungen Wilden“ die Selbstständigkeit des
Genies, das sein Erleben und seine Erfahrungen in eine individuelle künstlerische
Form bringt. Die überkommenen Regeln
werden mit dem Verweis auf das eigene
Können und die Kraft genialer Originalität
als Krücken verworfen. Nicht in eine Form
solle das Werk passen, sondern in die Welt,
wie die Generation des Sturm und Drang
sie erlebt und ihr Lebensgefühl widerspiegeln.
Das Gefühl rückte ins Zentrum der literarischen Aussage. „Die Stimme des Herzens ist ausschlaggebend für die vernünftige Entscheidung.“ Dieses Zitat von Johann Gottfried Herder zeigt den Protest
gegen die herrschenden Moralvorstellungen, die Entscheidungen von der Moral
und nicht vom Herzen abhängig machten.
Hinzu kam die Kritik am feudalen System.
Dessen Überwindung hatte die Aufklärung
ebenfalls zum Ziel, sah jedoch die Vernunft als höchstes Gut, während im Sturm
und Drang das Gefühl an erster Stelle
stand.
Die Hauptform der Dichtung in der Epoche des Sturm und Drang stellt das Dra-
SUIS À LA MESSE,
REVIENS DE SUITE
www.grutli.ch
I. Akt
Théâtre du Grütli
–Transthéâtre–Genf
Personen:
A L’OUEST DE L’HOMME
49
ENSEL
UND
KRETE
// Uraufführung nach dem
Roman von Walter Moers
// ab 12. November 2010
noch lebt und Karl kehrt inkognito in seine Heimat zurück, um sie zu sehen. Er
befreit seinen Vater und erfährt von den
Intrigen seines Bruders. Franz begeht
Selbstmord. Da Karl den Räubern Treue
geschworen hatte, kann er nicht mit ihr
glücklich werden. Nur ihr Tod kann ihn befreien. Er tötet sie und ist somit frei. Er
will sich dem Gericht stellen und die Belohnung auf seinen Kopf lässt er einem Tagelöhner zukommen.
Ihr solltet das Stück für heute gelesen haben. Wir fangen mal an mit der zweiten
Szene. Na wer möchte den Karl Moor lesen?
Bastian lässt Hasan aufstehen. Hakim führt ihn in die
Mitte.
BASTIAN: Na da ist ja der Hasan schon wieder.
HAKIM:
Der Hasan!
MUSA:
Hassaaaaaaaaaaaaaaaan!
HAKIM:
Hasanowitsch!
MARIAM: Hasanette!
LATIFA:
Knecht.
MUSA:
Patient.
MARIAM: Knecht.
FERIT:
Kunde.
HAKIM:
Shake hands … Guten Morgen.
FERIT:
Wie geht`s? Alles in Ordnung?
MUSA:
Was ist los man?
HAKIM:
Mensch, Hasan, mach mal nicht so.
Kommst hier bei uns herein und siehst aus
wie ein PlayboyFERIT:
Wuay, Playboy – Hassaaaaaaaan – Wie
viele Frauen hast du geknallt, he? Oder
Männer?
MARIAM: (überlappend) Hey, hast du Hausaufgaben
gemacht?
LATIFA:
Gib mal die Tasche.
MARIAM: Hast du die Hausaufgaben gemacht? Man,
gib doch mal her, Alter.
FERIT:
Sei mal nicht so geizig man.
HAKIM:
Gib doch mal her.
Hakim gibt Mariam die Tasche, die beiden Mädchen
setzen sich auf ihre Stühle und kramen in der Tasche.
HASAN:
Meine Tasche!
BASTIAN: (äfft ihn nach) Meine Tasche!
FERIT:
Geizkopf, Alter.
BASTIAN: Leih mir mal was.
HAKIM:
Darf ich ganz kurz, darf ich?
Hakim nimmt Hasan die Brille ab und gibt sie Musa.
BASTIAN: Klar darfst du, er ist unser Freund, oder?
FERIT:
Natürlich ist er unser Freund.
BASTIAN: Schicke Mütze ey!
HASAN:
Gib’s zurück.
BASTIAN: Was?
HASAN:
Ich möchte meine Mütze wieder.
HAKIM:
(äfft ihn nach) Ich möchte meine Mütze.
MUSA:
Bleib doch mal locker man.
MUSA:
Man Hasan jetzt nicht weinen, man.
FERIT:
Huähh.
BASTIAN: Heul doch.
HAKIM:
Hasan, du hast ja ein blaues Auge.
BASTIAN: Du musst dich doch nicht schämen.
HAKIM:
MUSA:
Steht dir.
(packt Hasan) Komm mal her man, lass
doch mal gucken, tut’s noch weh?
HASAN:
Ein bisschen.
BASTIAN: Ach, ein bisschen.
MUSA:
Soll ich das andere auch so machen?
HAKIM:
Abooo.
MUSA:
Soll ich?
BASTIAN: Hast du ein neues T-Shirt? Damenabteilung oder was?
FERIT:
Schööön.
Bastian zieht ihm sein T-Shirt aus, tanzt mit Musa, Hakim und Ferit und schwenkt das T-Shirt. Sonia will sich
Hasans Auge ansehen.
SONIA:
Wie ist das passiert?
HASAN:
–
SONIA:
Wer war das mit dem Auge? Das kannst
du mir ruhig sagen.
LATIFA:
(nimmt Mariams Handy) Zeig mal, zeig
mal, zeig mal...
MARIAM: Gib mir mal bitte mein Handy zurück.
SONIA:
Wir finden das schon heraus. (Weiter mit
ihrem Schillervortrag zum Publikum.)
LATIFA:
Mmh, wo hast du denn das her?
MARIAM: Ey, jetzt gib mir mal mein Handy zurück.
LATIFA:
Bleib mal ganz ruhig.
MARIAM: (sehr laut) Jetzt gib mir mal mein Handy.
LATIFA:
Da wird aber jemand aggressiv.
MARIAM: Gib mir mal mein Handy.
LATIFA:
Nein.
MARIAM: Ich habe dir gesagt du sollst mir mein Handy geben.
LATIFA:
Will ich aber nicht.
MARIAM: Ach nee, willst du aber nicht?
Mariam zieht Latifa an den Haaren quer über die Bühne. Die Jungs feuern sie an. Mariam nimmt Latifa das
Handy ab.
LATIFA:
Du Tussi.
SONIA:
Das Stück „Die Räuber“ hat auch heute
noch Aktualität, da die Themenbereiche,
z.B. Unterdrückung, Gewalt, Wunsch
nach Freiheit, Macht, Geld, Liebe und
Kommunikationsarmut noch nicht veraltet sind. Auch Konflikte in der Familie sind
heutzutage noch an der Tagesordnung …
BASTIAN: (zu Hakim) Man, hast du Kohle?
HAKIM:
Ich hab nichts, zwei Cent oder so.
BASTIAN: Ey, hast du ein bisschen Kohle für mich?
MARIAM: Nee.
BASTIAN: Wie, was nee. Du musst doch was haben.
MARIAM: Schülerticket, hallo.
BASTIAN: (zu Ferit) Du schuldest mir 10 Euro.
FERIT:
Seit wann?
BASTIAN: Seit zwei Sekunden.
FERIT:
Hab kein Geld.
BASTIAN: Ach ja?
FERIT:
Walla.
BASTIAN: Mal sehen!
Bastian zieht ihm einen Geldschein aus der Tasche.
FERIT:
Hey, gib mir das zurück.
BASTIAN: Vergiss es, man.
FERIT:
Gib mein Geld zurück.
SONIA:
Hört auf!
Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen
KINDER UND
JUGENDTHEATER
TÜBINGEN AM LTT
Bühnenbildentwurf
ma dar. Das immer wiederkehrende Thema ist der Konflikt der nach Freiheit strebenden, widerspenstigen Jugend, mit den
Schranken der bestehenden Weltordnung,
die die handelnden Personen als Aufrührer und Verbrecher erscheinen lässt. Die
exaltierte, ungebändigte und doch gefühlsund ausdrucksstarke Sprache des Sturm
und Drang ist voller Ausrufe, halber Sätze und forcierter Kraftausdrücke und neigt
zum derbrealistisch Volkstümlichen. Man
nimmt kein Blatt mehr vor den Mund und
bringt die Sprache des Volkes und der Jugend auf die Bühnen. Eine eigenständige
Jugendkultur in der Literatur war entstanden.
Friedrich Schiller wird am 10.11.1759 in
Marbach/Neckar geboren. Herzog Karl
Eugen von Württemberg zwingt den jungen
Schiller, in die Militärakademie Karlschule
zu gehen. Hier schreibt er heimlich an seinen ersten Stücken. „Die Räuber“ ist die
erste große dramatische Arbeit Schillers.
Sie entstand in seiner Jugendperiode, also
1779/1780. Der Anstoß für die Arbeit sind
mehrere Erzählungen, z.B. die über den
schwäbischen Straßenräuber Friedrich
Schwan. Die ersten Szenen der Räuber werden von Friedrich Schiller schon 1777 verfasst und 1780 vollendet. Da ihm der Herzog den Umgang mit Literatur verboten
hatte, druckt er sein Werk heimlich. Da
kein Verlag bereit war, das Werk zu veröffentlichen, schreibt Schiller eine Bühnenfassung, die 1782 in Mannheim Premiere feiert. Das Publikum ist von dem
Stück begeistert. Da ihm der Herzog verboten hatte, sich mit Literatur zu beschäftigen, flieht Schiller schließlich im
gleichen Jahr nach Mannheim.
Das Stück „Die Räuber“ hat auch heute
noch Aktualität, da die Themenbereiche,
z.B. Unterdrückung, Gewalt, Wunsch nach
Freiheit, Macht, Geld, Liebe und Kommunikationsarmut noch nicht veraltet sind.
Auch Konflikte in der Familie sind heutzutage noch an der Tagesordnung.
Das Drama handelt von der Selbstzerstörung einer Familie. In der Familie Moor
kommt es durch einen intriganten Brief
von Franz, dem Zweitgeborenen, zum
Bruch zwischen dem Vater und Karl. Aufgrund dieses Streits mit dem Vater wird
Karl Hauptmann einer Räuberbande.
Franz sagt seinem Vater, dass Karl tot sei
und der Vater fällt daraufhin in Ohnmacht
und wird in den Turm gesperrt. Somit wird
er Herrscher und will Amalia, die Braut
seines Bruders, als Frau. Doch sie willigt
nicht ein. Franz erzählt ihr, dass Karl tot
ist. Karl kämpft um Gerechtigkeit, die anderen Räuber begehen dagegen grausame
Verbrechen. Amalia erfährt, dass Karl
www.landestheater-tuebingen.de
50
TdZ · November 2010
SONIA:
Es reicht. Stellt die Stühle auseinander.
Mariam, Sie schalten sofort das Mobiltelefon aus. Hakim, Ferit, setzt euch bitte
auf eure Plätze. (Zu Musa und Bastian)
Und ihr zwei steht sofort auf.
FERIT:
Schon gut, mach dich mal locker, ey. Wir
haben uns die Plätze gegeben.
MUSA:
Ja, aber kein Problem, Jungs. Setzt euch
ruhig her. Es ist schon gut, wenn die Lehrerin sagt, setzt euch wieder hierher, dann
setzt ihr euch hierher.
HAKIM:
Wir sitzen super hier Frau Kelich, mehr
wollen wir nicht.
MUSA:
Sehen Sie Frau Kelich, wir sind nett. Ihr
könnt’s bezeugen, ist alles voll Zeugen hier.
(leiser zu Mariam) Was guckst du immer,
bin ich Kino?
SONIA:
Aufhören, Musa, jetzt übertreib’s nicht.
Wollen Sie mich für dumm verkaufen? So,
und jetzt zieht eure Jacken aus, die Mützen weg. Los, ein bisschen Beeilung, es ist
8 Uhr 35 –
MUSA:
Was ziehen Sie aus? Ey, ich schwöre ihre
Eltern müssen Terroristen sein, so Bombe
ist die.
SONIA:
Also, ihr solltet den Anfang der 2. Szene
auswendig lernen, aus dem 1. Akt von „Die
Räuber“. Mariam, kommen Sie doch bitte auf die Bühne.
MARIAM: Echt nicht Frau Kelich. Ich bin nicht verrückt. Ich stell mich nicht vor diese Schakals.
HAKIM:
Schakale.
MARIAM: Halt die Schnauze, du Arsch.
SONIA:
Mariam!
MARIAM: Nein, echt keine Chance, ich mach’s nicht.
SONIA:
Mariam, ich warte hier auf Sie! Oder können Sie den Text nicht auswendig?
BASTIAN: Spinnst du?
MUSA:
Ey, ich bin der Boss!
SONIA:
(zu Hakim) Du machst das gut, nur deutlicher.
FERIT:
Ey, Hasan wo hast du denn Deinen Cowboyhut gelassen?
SONIA:
(zu den anderen) Haltet den Mund!
HAKIM:
Jetzt frisch mit den Türken aus Asien,
weil’s Eisen noch warm ist, und Zedern
gehauen aus dem Libanon, und Schiffe gebaut –
SONIA:
Mach weiter, Hasan.
HASAN:
Kamerad! mit den Narrenstreichen ist’s
nun am Ende.
BASTIAN: (laut) Bist du geizige Judensau, oder was?
Ich schwör auf Koran, ich geb’ zurück.
MUSA:
Was weißt du von Koran? Weiße Käsefresse! (hält die Tasche weg von Bastian)
SONIA:
(nimmt ihm die Tasche weg) Was ist denn
so Wichtiges drin in dieser Tasche, he?
Musa und Bastian springen auf.
MUSA :
Du spinnst wohl, du Tusse. Gib sofort zurück.
SONIA:
Ach, ich werd auch noch geduzt.
MUSA:
Die Tasche, Alter!
SONIA:
Schluss jetzt, ich hab die Nase voll, ab
jetzt zum Direktor.
MUSA:
Ich habe schon lange die Nase voll.
SONIA:
Schluss jetzt.
BASTIAN: Willst du sterben, oder was?
MUSA:
Dazu haben Sie kein Recht, Frau Kelich.
Nehme ich Ihnen Sachen weg?
SONIA:
Musa, Sie sind intelligent genug. Sie wissen, das kann man nicht vergleichen. Und
jetzt raus.
MUSA:
Hör’n Sie mir zu Frau Kelich: Sie geben
mir die Tasche zurück oder ich skalpier’
Sie. Also, schön ruhig bleiben und kein
Gelaber von Direktor. Und ich schwöre,
keiner von Bastarden in der Klasse nervt
Sie mehr. Dann stehen Sie unter meinen
Schutz, Frau Kelich.
SONIA:
Ihr bleibt wo ihr seid und seid bitte ruhig,
keiner rührt sich hier weg.
BASTIAN: Wo willst du hin?
Bastian will Sonia aufhalten, packt die Tasche, eine
Pistole fällt aus der Tasche auf den Boden.
Stille.
SONIA:
Was ist denn das? Ihr beiden, sofort raus,
und das, das bleibt da liegen, habt ihr verstanden.
BASTIAN: Sag mal, geht’s noch, oder was?
Musa greift nach der Pistole, Sonia ist schneller
BASTIAN: Vorsicht, die ist echt!
MUSA:
Die gehört uns nicht, Frau Kelich. Ich hab
die geliehen. Die Typen bringen uns um,
wenn wir die nicht zurückgeben. Ist nichts
passiert. (zu den anderen) Keiner hat was
gesehen! (zu Sonia) Machen Sie was ich
sage und ich schwöre, Ihnen passiert nichts.
SONIA:
(richtet die Pistole auf Musa)
Raus hier! Es, es geht jetzt auf der Stelle
zum Direktor.
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Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt/M.
TdZ · November 2010
51
VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE
3. Szene
MARIAM: Klar kann ich auswendig, aber ich komm
trotzdem nicht vor.
SONIA:
Dann machen Sie es von Ihrem Stuhl aus.
MARIAM: Von mir aus: Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze,
als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen...
HAKIM:
Ey, nimm deine Treter darunter!
SONIA:
Hakim, wenn Sie sich äußern wollen, dann
gehen Sie auf die Bühne.
HAKIM:
Aber Frau Kelich, der stellt immer seine
Füße da drauf. Er denkt ich bin seine Fußmatte. Nimm die weg, du Bastard!
Bastian steht auf. Hakim steht auf und schubst ihn.
Musa steht drohend auf. Sonia geht dazwischen.
SONIA:
(zu Hakim) Kommen Sie auf die Bühne!
Ihr setzt euch sofort hin! Hasan, es bleibt
noch genügend Zeit zum Zuhören. Bitte
gehen Sie auf die Bühne. (gibt ihm ein
Textbuch)
BASTIAN: Los, du Drecksack.
FERIT:
Scheiß Streber!
Hasan kommt mit seinem Stuhl nach vorne.
SONIA:
Die Szene spielt im Stehen.
LATIFA:
Eh, Hasan hast du dich geschminkt vor
der Schule?
SONIA:
Pssst! (zu Hasan) Ah dass der Geist Hermanns ...
HASAN:
Ah! Dass der Geist Hermanns noch in der
Asche glimmte! – Stelle mich vor ein Heer
Kerls wie ich, und aus Deutschland soll
eine Republik werden, gegen die Rom und
Sparta Nonnenklöster sein sollen.
HAKIM:
Bravo! Bravissimo! Ich will dir was ins
Ohr sagen, Moor, das schon lang mit mir
umgeht, wie wär’s, wenn wir Juden würden und das Königreich wieder aufs Tapet
brächten!
HASAN:
Ah! Nun merk’ ich – nun merk’ ich – du
willst –
SONIA:
Hasan, dass ist gut aber …
MARIAM: (redet im Hintergrund mit Latifa) ... so
klein waren die.
SONIA:
… ein bisschen lauter. Hasan, nehmen Sie
sich Zeit, nehmen Sie sich die Zeit, ein bisschen lauter.
HASAN:
– du willst die Vorhaut aus der Mode bringen –
FERIT:
Ihr Schwuchteln!
SONIA:
Ist da mal langsam Ruhe?
HASAN:
– weil der Barbier die deinige schon hat?
HAKIM:
Daß dich, Bärenhäuter! Ich bin freilich
wunderbarerweis schon voraus beschnitten. Aber, sag’, ist das nicht ein schlauer
und herzhafter Plan? Wir lassen ein Manifest ausgehen in alle vier Enden der Welt
und zitieren nach Palästina, was kein
Schweinefleisch ißt. Da beweis’ ich nun
durch triftige Dokumente, Herodes sei mein
Großahnherr gewesen. Das wird ein Victoria abgeben, Karl, wenn sie Jerusalem
wieder aufbauen dürfen.
Während Hakim spielt, beugen sich Musa und Bastian
über eine Tasche und beginnen zu streiten.
Kidd Pivot Frankfurt RM © Jörg Baumann
Ferit schubst Bastian, Bastian schubst Ferit.
SONIA:
HÖRT AUF!
FERIT:
Ich fick dich!
BASTIAN: Du bist tot man.
SONIA:
HÖÖÖÖÖÖÖRT AUUUUUUUF!
FERIT:
Amına korum lan, ver paramı!
MUSA:
Heeey! Aufhören!
Sie hören auf.
MUSA:
(steht auf) Gib sein Geld zurück!
SONIA:
Ja, gib ihm bitte sein Geld zurück.
BASTIAN: Was?
MUSA:
Sofort, lan!
SONIA:
Sofort!
BASTIAN: Aber...
Bastian gibt ihm das Geld zurück. Ferit und Bastian
setzen sich.
MUSA:
Alles klar, Frau Kelich?
Sonia nickt.
MUSA:
So, gib das Geld zu mir!
Ferit gibt Musa das Geld. Musa scheucht Ferit und Hakim von den Stühlen, er und Bastian setzen sich auf
ihre Plätze. Musa gibt Bastian das Geld.
BASTIAN: Keiner kommt hier raus, bis wir das Ding
wieder haben.
MUSA:
Gib rüber, Süße.
SONIA:
Zurück!
MUSA:
Sag mal, weißt du, was du mit deinem Leben anstellst...
SONIA:
Weg da. Bleib weg.
MUSA:
Nur mal so’n Beispiel, du kommst nach
Hause in die Belfortstraße 22, 4. Stock
rechts, he. Ist dir klar, was da auf dich
wartet, ja? Zwei Riesenschwänze. Zwei
Riesentürkenschwänze, die es dir mal so
richtig besorgen, du Nutte.
MARIAM: Hör auf mit dem Scheiß verdammt.
MUSA:
Halt die Fresse.
Musa greift nach der Pistole, Sonia drückt ab.
(SCHUSS.)
MUSA:
Aaah!
Panik. Alle schreien durcheinander.
FERIT:
Scheiße!
LATIFA:
Hilfeeee!
HASAN:
Imdaaaaat!
LATIFA:
Sie hat ihn erschossen!
FERIT:
Kafayı yemis!
MUSA:
Diese Nutte hat mir die Hand abgeschossen!
MARIAM: Hilfeeeee!
HAKIM:
Sharmuta wallah!
HASAN:
Was haben Sie getan?
MUSA:
Man es tut weh ... Oh shit!
BASTIAN: Schon gut, is nur ‘n Streifschuss.
MARIAM: Wir brauchen einen Krankenwagen.
SONIA:
Was machst du da?
MARIAM: Ich rufe einen Krankenwagen.
SONIA:
Handy weg Mariam! Heul nicht Latifa.
HAKIM:
Er blutet.
BASTIAN: Geben Sie uns die Waffe und alle hier vergessen, was passiert ist. Ich schwör’s.
SONIA:
Bleib, wo du bist. Bleib weg. Ich schieße.
MUSA:
Jetzt steckst du voll in der Scheiße. Eine
Lehrerin schießt auf ihre Schüler. Du bist
ja voll psycho –
MARIAM: Hör auf Musa!
SONIA:
Wer ist hier der Psychopath, he? Wer hat
denn die Waffe mitgebracht, in meinen Unterricht?
MUSA:
Du Opfer!
SONIA:
Halt die Schnauze du blöder Lackaffe, du
hörst jetzt auf unseren Projekttag zu sabotieren. Du bist so doof, du kotzt mich so
an ...
Latifa, Ferit und Hakim wollen raus.
SONIA:
Nein nein nein nein.
Sie verschließt die Tür. Panik. Geschrei.
HAKIM:
Die ist verrückt.
LATIFA:
Lassen Sie uns raus!
SONIA:
Ruhe jetzt. Alle bleiben hier. Der Unterricht ist noch nicht zu Ende!
LATIFA:
Ich will hier raus.
FERIT:
Sind Sie bescheuert?
HASAN:
Seid doch endlich ruhig.
HAKIM:
Die blöde Kuh spinnt total.
LATIFA:
Hilfeeee!
SONIA:
Sei ruhig!
MARIAM: Hilfeeee!
(SCHUSS.)
SONIA:
Hinlegen. Legt, legt euch auf den Boden,
los, wie im Fernsehen. Alle auf den Boden.
Sie legen sich hin, Bastian zuletzt.
BASTIAN: Gleich sind die Bullen da, dann...
SONIA:
Dieser Raum ist absolut schalldicht. Habt
ihr verstanden? Schalldicht! Keiner kann
euch hören. Auch die Waffe nicht. Und
deswegen seid ihr jetzt ruhig.
MUSA:
Dafür gehst du in den Knast, du Schlampe.
SONIA:
Nenn mich nicht so! Ich bin keine Schlampe! Jetzt will ich mal wissen, wer immer
diese primitiven Schimpfwörter auf die
Innentafel schreibt, he, he, he? Wer Rock
trägt ist also eine Schlampe? He? Wer hat
das geschrieben? Steckt Ihr alle unter einer Decke, ihr Affen? Und wer hat die Reifen von meinem Auto aufgestochen, he?
Wer?
HAKIM:
Mann, was wollen Sie denn von uns?
MUSA:
Du machst dir echt Probleme, Schlampe.
HASAN:
Hör endlich auf!
BASTIAN: Halts Maul, du Stück Scheiße!
HAKIM:
Was macht die Nutte mit uns?
MARIAM: Was haben Sie denn jetzt vor?
(SCHUSS.)
SONIA:
Ruhe hab ich gesagt! Ich stelle euch jetzt
eine einzige Aufgabe und die lautet: Ihr
haltet jetzt einmal die Fresse! Keine Kommentare! Kein Muckser!
Lange Stille.
SONIA:
Es ist 8 Uhr 45. Ich glaube, wir können
dann jetzt zum Unterricht übergehen. Bevor wir wieder zu den Räubern kommen,
reden wir über Schiller und seine Idee von
ästhetischer Erziehung. Ein gutes Thema.
1. Lied
Alle stehen langsam auf und singen.
Wenn ich ein Vöglein wär
Wenn ich ein Vöglein wär’
und auch zwei Flügel hätt’
flög’ ich zu dir
Weil’s aber nicht kann sein,
weil’s aber nicht kann sein,
bleib ich allhier.
Bin ich gleich weit von hier,
träum ich doch stets von dir,
bin nicht allein
Wach ich vom Schlafe auf,
wach ich vom Schlafe auf,
bin ich allein.
0%4%2 5.$ $%2 7/,&
NACH DEM MUSIKALISCHEN -ËRCHEN VON 3ERGEJ 0ROKOFJEW
+OPRODUKTION VON 4(%!4%2 !. $%2 0!2+!5% UND
NORTONCOMMANDERPRODUCTIONS
W WW PAR KAUE DE
'EBURTSTAG
52
II. AKT
1. Szene
(SCHUSS.)
Alle legen sich schnell hin.
SONIA:
(Pistole in der Hand) Friedrich Schiller
schreibt „Über die ästhetische Erziehung
des Menschen“ nach den Schrecken der
Französischen Revolution. Er fragt sich:
Wie kann der Mensch dazu gebracht werden mit seiner Freiheit verantwortlich umzugehen – Ferit, was meinen Sie dazu?
FERIT:
Ey, was weiß isch –
SONIA:
ICH! ICH! ICH! und wie kommt man zu
einem Ich, das diesen Namen verdient?
He? Durch die Kunst, sagt Schiller, durch
Spiel, durch Selbstbildung im Spiel! Diese Arbeit an sich selbst führt zu innerer
Freiheit. Dann wird man auch zu äußerer
Freiheit fähig. Interessiert Sie das nicht,
Ferit?
FERIT:
Doch, doch, Frau Kelisch.
SONIA:
KeliCH. Sprich mir nach Ferit: Friedrich
Schiller
FERIT:
FriedrischSONIA:
FriedriCH
FERIT:
FriedriCH
SONIA:
Schiller
FERIT:
Schillller
SONIA:
Ästhetische Erziehung
FERIT:
Ästhe…ti…sche Erziehung
SONIA:
(liest vor) Man wird niemals irren, wenn
man das Schönheitsideal eines Menschen
auf dem nämlichen Weg sucht, auf dem er
seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die
griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der
Gelenkigkeit und an dem edleren Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn
das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators – (schaut auf Musa)
den haben wir schon – sich labt, so wird
es uns auf diesem einzigen Zug begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer
Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in
Rom, sondern in Griechenland aufsuchen
müssen. Nun spricht aber die Vernunft –
(zu Hasan) VERNUNFT
HASAN:
Vernumft.
SONIA:
Vernunft.
HASAN:
Vernumft.
SONIA:
Vernunft. Wer soll euch denn glauben, dass
ihr keine Affen seid, wenn ihr nicht mal
dieses schöne deutsche Wort richtig aussprechen könnt: Vernunft.
HASAN:
Vernunft.
SONIA:
Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße
Gestalt, sondern lebende Gestalt sein. Mithin tut sie auch den Ausspruch: der Mensch
soll mit der Schönheit nur spielen, und er
0REMIERE .OVEMBER 5HR
2EGIE "àHNE (ARRIET -ARIA UND 0ETER -EINING
+OSTàME !NDY "ESUCH
'RO”E *UBILËUMSWOCHE
VOM n .OVEMBER
TdZ · November 2010
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
HASAN:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
HASAN:
FERIT:
SONIA:
– aber wenn Blllutliebe?
Blutliebe.
Wenn Blutliebe zur Verräterin, wenn
Vaterliebe zur Me … ?
Megäre!
Megäre?
Ja. Schiller erklärt hier: Karl ist eigentlich nett, und wird nur böse, weil sein Vater ihm keine Anerkennung gibt.
Ah Megäre. Zur Megäre wird: verwildere
zum Tiger, samftmütiges Lamm …
sanftmütiges Lamm.
samftmütiges Lamm.
sanftmütiges Lamm. Ist wie Vernunft.
sanftmütiges Lamm.
sanftmütiges Lamm. Ist wie Vernunft.
Sanft.
Sanft.
Ist wie Vernunft.
Vernunft.
Sanftmütiges Lamm!!!
Sanftmütiges Muschi-Lamm! (Sonia richtet die Pistole auf ihn) Ok – und jede Faser
recke sich auf zu Grimm und Verderben!
Grimmm und Verderrrben!!!
Sind Sie voll durschgeknallt?
DURCHGEKNALLT. Sprich mir nach.
Sind Sie voll durchgeknallt?
Sind – Sie – voll – durchgeknallt?
Es geht doch. Du Muschi. Du kannst ja
richtig Deutsch sprechen. Du durchgedrehte Muschi!
–
Nicht aussteigen! Weiter! Los Hasan!
Hör, Moor!
Nicht Hör, Moor. Höre, Moor!
Höre, Moor! Was denkst du davon? Ein
Räuberleben ist doch auch besser, als bei
Wasser und Brot im Turm?
Ist das … Ist das Vatertreue? Ist das Liebe für Liebe? Ich möchte ein Bär sein und
die Bären sein … und die Bären des Nordlands wider dies mörderische Geschlecht
… anhetzen ... keine Gnade und kein
Er …
(laut) keine Gnade!
kkkkeine Gnade … keine Gnade und kein
Erbarmen!
(laut) kein Erbarmen!
Ja, ja, keine Gnade und kein Erbarmen!
(laut) Keine Gnade und kein Erbarmen,
ja?
Ja.
(lauter) keine Gnade und kein Erbarmen!
Ja! Ja!
(leise) Komm mit uns in die böhmischen
Wälder! Wir wollen eine Räuberbande
sammeln, und du –
Weg, weg von mir! Ist dein Name nicht
Mensch!
Warte, Warte – den Anfang habe ich nicht
verstanden. Noch mal. Komm mit uns in
die böhmischen Wälder … Das ist kon-
HASAN:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
spirativ –
(leise) Komm mit uns in die böhmischen
Wälder! Wir wollen eine Räuberbande
sammeln, und du –
Weg! Weg von mir!
Weg, weg von mir! … Weg, weg von mir!
Ist dein Name nicht Mensch! Hat dich
das Weib nicht gebrochen?
Was hast du gerade gesagt? Was hast du
gerade gesagt?
Geboren. (leise) Geboren.
(sehr sanft) Hat dich das Weib nicht geboren?
Hat dich das Weib nicht geboren? – Aus
meinen Augen, du mit dem Menschengesicht!
(schreit) DU mit dem MENSCHENgesicht.
Du mit dem Menschengesicht! – Ich habe
ihn so unausspreschlich geliebt!
unaussprechlich.
– Ich – habe – ihn – so – unaussprechlich
– geliebt! So liebte kein Sohn –
Schäumend. Schäumend auf die Erde
stampfend.
Was ist schäumend?
Schäumend. Vor Wut schäumend. Schäumend. Verstehst du? Schäumend. Er ist so
wütend, dass ihm die Spucke im Mund zusammenschäumt.
Schäumend. (Er geht schäumend auf Hasan zu)
(verzückt) Ja!
(leise) Du sollst unser Hauptmann sein!
Du musst unser Hauptmann sein!
(schreit) Du sollst unser Hauptmann sein!
(schreit) Du sollst unser Hauptmann sein!
Du musst unser Hauptmann sein!
Stiert ihn an: Wer blies dir das Wort ein?
Wer blies dir diese Worte ein? Höre, Kerl!
indem er Schweizer hart ergreift. – Ja,
pack ihn dir.
(ab jetzt ohne Textheft. Er packt Hasan)
Der Gedanke verdient Vergötterung – Räuber und Mörder! – So wahr meine Seele
lebt, ich bin euer Hauptmann!
Los jetzt: Alle mit lärmendem Geschrei.
Es lebe der Hauptmann!
(SCHUSS.)
ALLE:
Es lebe der Hauptmann!
FERIT:
Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem
nach Freiheit. – Mörder, Räuber! (wirft
Hasan zu Boden) – Ich habe keinen Vater
mehr, ich habe keine Liebe mehr!
SONIA:
Ja! Mörder, Räuber, das seid ihr jetzt –
ohne Vater und ohne Liebe – das seid IHR!
Und jetzt könnt Ihr es endlich mal aussprechen.
FERIT:
(spricht ab jetzt auch ohne Akzent) Kommt,
kommt! – (zu Musa) Ich bin euer Hauptmann! – Tretet her um mich ein Jeder, und
schwöret mir Treue und Gehorsam zu bis
in den Tod! – Schwört mir das bei dieser
männlichen Rechten! – Und bei dieser
6 and the City 5 - Die Stuttgart Lounge | Stuttgarter Fernsehturm
Künstlerische Gesamtleitung: Petra Weimer und Stephan Bruckmeier
Mit: Caroline Betz, Susanne Weckerle, Stephan Bruckmeier, Alexander Merbeth
Uraufführung: 01. November 2010 - Vorstellungen: 02. - 04. November 2010, 20 Uhr
Papas In Motion | Ronald Rudoll
Inszenierung und Bühne: Stephan Bruckmeier
Mit: Caroline Betz, Gabriela Hütter, Anita Kolbert, Angela Schneider, Petra Weimer,
Andreas Göbel, Anselm Lipgens, Alexander Merbeth, Ronald Rudoll und Peter Strauß
Stuttgart Premiere: 10. November 2010
Vorstellungen: 10. - 13. November 2010, 20 Uhr | 16. - 20. November 2010, 20 Uhr
November 2010
Der Krieger erwacht | Samuel Hof & Jonas Zipf
Eine Koproduktion mit dem O-TEAM
Inszenierung: Samuel Hof | Jonas Zip
Mit: David Berger, Folkert Dücker, Monika Hölzl, Barbara von Münchhausen, Sebastian Schäfer
Premiere: 26. November 2010
Vorstellungen: 27. | 30. November 2010 | 01. - 04. Dezember 2010 , jeweils 20 Uhr
TdZ · November 2010
Filderstraße 47 | 70180 Stuttgart
Karten: 0711. 620 09 09 - 16
Infos: 0711. 620 09 09 - 0 | www.theaterrampe.de
53
VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE
soll nur mit der Schönheit spielen. Denn,
um es endlich auf einmal herauszusagen,
der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist
nur da ganz Mensch, wo er spielt. Wir wiederholen den Satz jetzt zusammen: Er ist
nur da ganz Mensch, wo er spielt.
ALLE:
Er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
SONIA:
Noch mal.
ALLE:
Er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
SONIA:
Dieser Satz, der in diesem Augenblicke
vielleicht paradox erscheint, wird eine
große und tiefe Bedeutung erhalten. Er
wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze
Gebäude der ästhetischen Kunst und der
noch schwierigeren Lebenskunst tragen.
… er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
(überlegt einen Moment) – Ferit, stehen
Sie auf. Aufstehen.
Ferit steht zitternd auf, er hat Angst um sein Leben.
Das Drama „Die Räuber“ erzählt von einer völlig zerstörten Familie. Karl sitzt in
einer Kneipe und trinkt statt zu lernen und
zu studieren. Er hat Schulden, aber er
macht weiter Party. Seine Freunde wollen
ihn zur Gründung einer Räuberbande überreden. Aber Karl will zurück nach Hause
zu seinem Vater und zu seiner Braut Amalia. Er hofft, dass sein Vater ihm erlaubt
Heim zu kehren. Da kommt ein Brief, in
dem steht, dass er enterbt und verstoßen
ist, – ja, weil er respektlos war und Schande über die Familie gebracht hat. Karl gerät
außer sich. Er weiß nicht, dass dieser Brief
von seinem Bruder Franz manipuliert wurde. – Ferit, Sie sind Karl Moor. Hasan, Sie
sind Schweizer. Hallo, sind Sie noch unter uns? (zu Ferit) So, arbeiten wir erstmal an Ihrer Aussprache. Ich lese die Regieanweisungen und wir fangen an mit Seite 34, Karl tritt herein in wilder Bewegung
und läuft heftig im Zimmer auf und nieder.
FERIT:
Welsche Menschen. Nein. Menschen –
Menschen! falsche, heuchlarische Krokodilbrut!
SONIA:
Heuchlerische.
FERIT:
Heuchlarische.
SONIA:
(lauter) HEUCHLERISCHE.
FERIT:
(lauter) Heuchlllllllariische
SONIA:
Nicht mit dem Rücken zum Publikum.
Sonia blickt ins Publikum, Ferit ist irritiert, er sieht
das Publikum nicht.
Heuchlerische!
FERIT:
Heuchlerische!
SONIA:
Gut.
FERIT:
Heuchlerische.
SONIA:
Heuchlerische.
FERIT:
Heuchlerische – Na – Krokodilbrut
SONIA:
Weiter.
FERIT:
Ihre Augen sind Wasser! Ihre Herzen sind
Erz! Schwerter im Busen!... Löwen und
Leoparden füttern ihre Jungen, und er, er
SONIA:
Stille.
männlichen Rechten schwör’ ich euch hier,
treu und standhaft euer Hauptmann zu bleiben bis in den Tod! Den soll dieser Arm
gleich zur Leiche machen, der jemals zagt
oder zweifelt, oder zurücktritt! Ein Gleiches widerfahre mir von Jedem unter euch,
wenn ich meinen Schwur verletze!
Es funktioniert. Ja. Es funktioniert.
Weil der Vater Karl verstoßen hat, muss er
Räuber werden – genau wie ihr! Versöhnt
euch mit euren Vätern! Es gibt andere
Wege! Also für was steht der Vater?
2. Szene
Handyklingeln.
SONIA:
Von wem ist das? Wessen Handy ist das?
(SCHUSS.)
SONIA:
VON WEEEEM?
MUSA:
Meins, verdammt.
SONIA:
Habe ich nicht gesagt, dass ihr eure Handys ausschalten sollt. He?Man, man, man
... Ihr hört mir nicht zu. Ich möchte euch
helfen. Ich möchte euch was beibringen.
Das braucht einfach die Konzentration.
FERIT:
Helfen mit der Waffe?
SONIA:
Anders kriegt ihr das nicht hin. Latifa, steh
auf.
LATIFA:
Ich hab nichts gemacht.
SONIA:
Steh auf. Latifa, nimm sein Handy und leg
es auf den Stuhl.
Latifa durchsucht Musa, nimmt sein Handy.
MUSA:
Was macht sie?
SONIA:
Schnauze. Latifa, durchsuch alle nach
Handys. Mariam, hilf ihr!
BASTIAN: Ich lass mich nicht von ner Schlampe anfassen.
Ey ich knall dir eine.
MUSA:
Sie sind doch völlig verrückt.
HAKIM:
Fass mich nicht an du Nutte!
SONIA:
Was hat er gesagt, Latifa? Wie kommst
du denn darauf, dass Latifa eine Nutte ist?
Findet ihr das gut, dass Hakim Latifa als
Nutte beschimpft?
FERIT:
Das ist seine Meinung.
SONIA:
Hasan, was ist eine Nutte?
HASAN:
Ein Schimpfwort.
SONIA:
(zu den Mädchen) Weiter!
HAKIM:
Das ist respektlos.
SONIA:
Ah – Respekt, ja? Ich verstehe, Respekt.
Meine ganze Jugend lang habe ich nichts
anderes gehört. Das ist Betrug, dieser
Respekt. Was ist eine Nutte, Bastian?
Erklär mir mal, was eine Nutte ist.
BASTIAN: Ne Tussi, die mich anmacht, das ist für
mich ne Nutte.
SONIA:
Ihr redet alle über Begriffe und wisst noch
nicht mal, was eine Nutte ist. Mariam, was
ist eine Nutte?
MARIAM: Eine Nutte ist eine Frau, die für Geld mit
Männern schläft.
SONIA:
Noch mal.
MARIAM: Eine Nutte ist eine Frau, die für Geld mit
Männern schläft.
SONIA:
Kapiert?
FERIT:
Ja.
SONIA:
Kapiert?
FERIT:
Ja.
HAKIM:
Und solche Röcke trägt wie Sie.
SONIA:
Aha! Trägt Deine Mutti keine Röcke? Was
trägt denn Deine Mutti?
HAKIM:
Normale Hosen.
SONIA:
Durchsuchen.
HAKIM:
Fass mich nicht an!
SONIA:
Normale Hosen, ja?
HAKIM:
Ja.
SONIA:
Du lügst! – Hakim. Hast du jemals deine
Mutter als Nutte beschimpft?
HAKIM:
Was geht dich meine Mutter an, du verfickte Hure! Fick deine Mutter, ey … qiss
ummik, qiss uchtik ya sharmuta, wahid
qur’an, ich schwör Ihr Leben ist haram ...
(spuckt aus)
SONIA:
Wisst ihr, wozu ich jetzt Lust habe? Wir
ziehen dem Hakim jetzt die Hose aus und
machen aus ihm eine männliche Nutte.
Komm Latifa, zieh ihm die Hose aus. Zieh
ihm die Hose runter.
LATIFA:
Muss ich?
HAKIM:
Fass mich nicht an.
SONIA:
Zieh ihm die Hose aus. Mariam, hilf Latifa. Zieh ihm die Hose aus.
MARIAM: Wir wollen ihn aber nicht anfassen.
HAKIM:
Das ist Respekt.
LATIFA:
Nein, das ist Ekel. Du Arschloch.
SONIA:
Ekel. Latifa, was findest Du an Hakim eklig?
LATIFA:
Ihn.
SONIA:
Weißt du, was ich an ihm eklig finde? Ich
finde an ihm eklig, dass er sich ständig an
seinem kleinen Pimmel juckt. Eklig. Steh
auf. Steh auf.
HAKIM:
Ich?
SONIA:
Nein, deine Mutter. Steh auf. Los, steh auf.
Hose aus. Los, Hose aus. Große Fresse
nichts dahinter, große Fresse nichts dahinter.
HAKIM:
Ich mach’s nicht.
SONIA:
Komm Latifa, Hose aus.
HAKIM:
Ich will das nicht.
SONIA:
Los, Hose aus. (zu Mariam) Du schaffst
das.
MARIAM: Nee.
SONIA:
Nicht? Wir machen eine Nutte aus Hakim.
LATIFA:
Ich will das nicht sehen.
SONIA:
Ich will es aber sehen. Hose runter. Ich
zähle bis fünf. 1,2,3 – (zielt auf sie) Hose
runter. Hose runter. Hose runter. HEY.
Hose runter.
Latifa zieht ihm die Hose runter. Alle sind peinlich
berührt.
Stille.
SONIA:
Na, wie fühlst du dich?
HAKIM:
Nicht gut.
JOHANNES SCHRETTLE
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
Schämst du dich?
Ja.
Gut. – Jetzt haben wir die Konzentration.
Wir machen weiter. Jetzt fangen wir an
mit dem Unterricht. Hasan? Hasan, sind
Sie noch bei uns?
Ja.
Ich zähle bis fünf. Und auf fünf sitzen alle
außer Hakim und Latifa auf ihren Stühlen.
1, 2, 3, 4, 5. (gibt den beiden Texte in die
Hand) Kabale und Liebe. Du bist Ferdinand und du bist Luise. (zu Hakim) Du
kommst zu Luise um sie zur Rechenschaft
zu ziehen, du willst herausfinden, ob sie
eine Schlampe ist oder nicht. Kapiert? Er
denkt, dass sie eine Schlampe ist. Er denkt,
dass alle Frauen Schlampen sind. (zu Latifa) Und du hast ein Riesenproblem: Du
liebst diesen Typen, aber du hast deinem
Vater versprochen, dass du niemals die
Wahrheit sagen wirst. Ist das klar?
(wirft den Text auf den Boden) Ey ich hab
keinen Bock, nur weil Sie eine Waffe haben denken Sie, Sie können alles mit uns
machen.
Nimm den Text. Du kannst Ferdinand nicht
im Stich lassen.
Ferdinand kann mir einen lutschen.
(zielt auf ihn) Heb den Text auf. Ich bin
heute nicht zum Scherzen aufgelegt. Nicht
im Geringsten. (Hakim hebt den Text auf)
Ferdinand kommt mit dem Brief in der
Hand zu Luise und möchte von ihr hören,
ob dieser Brief der Wahrheit entspricht
oder nicht, verstanden Hakim? Ich bin
doch da um dir zu helfen. Luise, hast du
irgendwelche Fragen, Latifa? (sanft) Ich
bin da, um euch zu helfen, und ich möchte, dass ihr das versteht.
(SCHUSS.)
SONIA:
So, fang an.
HAKIM:
Guten Abend. Sprich, Unglückselige!
Schriebst du diesen Brief?
BASTIAN: Sie ist doch krank!
SONIA:
Schnauze. Das ist die Abschiedsszene.
LATIFA:
O dieser Brief, mein Vater –
HAKIM:
Giftige Natter, schriebst du diesen Brief?
LATIFA:
Ich schrieb ihn.
SONIA:
Sie lügt. Sie hat ihn nicht geschrieben. Sie
lügt ihrem Vater zuliebe.
HAKIM:
Luise! – Nein! So wahr meine Seele lebt!
Du lügst – Ich fragte zu heftig – Nicht
wahr, Luise – Du bekanntest nur, weil ich
zu heftig fragte?
LATIFA:
Ich bekannte, was wahr ist.
SONIA:
Fleh Sie an.
HAKIM:
Was?
SONIA:
Du sollst Sie anflehen.
HAKIM:
Wie jetzt?
SONIA:
Du hast diesen Brief entdeckt. Deine große
Liebe scheint jemand anderes zu lieben.
Fleh sie an. Du glaubst es nicht. Fleh sie
an.
FELICIA ZELLER
FLIEGEN/GEHEN/SCHWIMMEN
KASPAR HÄUSER MEER
MIT: DAVID ALLERS, GERRIT FRERS, PETRA SCHMIDIG,
NICOLE TOBLER, REGIE: HANNAH STEFFEN
VORSCHAU:
UTA KÖBERNICK: KLEINKUNST. NAHKUNST. KUNST HALT
18. NOVEMBER 2010
MATTO KÄMPF:TOAST HAWAII
08. – 11. DEZEMBER 2010
ANDREAS ZUMACH: POLITIK AM STEHTISCH
23. NOVEMBER 2010 / 21. DEZEMBER 2010
SCHWEIZER ERSTAUFFÜHRUNG
PREMIERE: 13. NOVEMBER 2010, 20.30H
VORSTELLUNGEN:
17. NOVEMBER BIS 04. DEZEMBER 2010
04. – 06. NOVEMBER
Theater Winkelwiese, Winkelwiese 4, CH-8001 Zürich, Telefon 0041 44 252 10 01, www.winkelwiese.ch, office@winkelwiese.ch
54
TdZ · November 2010
SONIA:
LATIFA:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
MUSA:
BASTIAN:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
HAKIM:
LATIFA:
HAKIM:
LATIFA:
HAKIM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
LATIFA:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
LATIFA:
Luise! – Nein! So wahr meine Seele lebt!
du lügst – Ich fragte zu heftig – Nicht wahr,
Luise – Du bekanntest nur, weil ich zu heftig fragte?
Ja. Ja – weiter.
(zitternd) Ich – bekannte – was – wahr –
ist ... – So geht es nicht. Bitte lassen Sie
uns gehen.
Hör auf ständig an Dir selbst zu zweifeln.
Weiter.
Darf ich mich wieder anziehen?
Nein.
Isch will anziehen verdammt.
ICH will anziehen.
ICH will anziehen.
Ich will anziehen, Bastian, was fehlt in
diesen Satz?
Deine Muschi.
Nur mit der Knarre hast du so ne große
Klappe.
Was hat er gesagt?
Fick disch, du Hure.
Dich. CH. Fick dich. Fick dich, du Hure!
(zielt auf ihn)
Fick dich, du Hure! (beginnt zu weinen)
1,2,3,4,5 Peng und du bist tot. Habt ihrs
jetzt kapiert? Habt ihrs jetzt kapiert? Mariam, sag noch mal ganz laut, was eine
Nutte ist.
Eine Nutte ist eine Frau, die für Geld mit
Männern schläft.
Lauter.
Eine Nutte ist eine Frau, die für Geld mit
Männern schläft.
Hast Du es kapiert Hakim? 1, 2, 3, 4 –
–
Hakim, ich gebe dir hier eine Chance.
(sanft) Verstehst du. Ich gebe dir hier eine
letzte Chance. Du darfst Ferdinand sein.
(hebt den Text auf) Wußtest du, was du
mir warst, Luise? Du wußtest nicht, dass
du mir Alles warst! Alles! O, es ist schrecklich!
Sie haben mein Geständnis. Ich habe mich
selbst verdammt, gehen Sie nun!
Gut! gut! Noch eine Bitte, Luise – die letzte! Mein Kopf brennt so fieberisch. – Ich
brauch Kühlung – Willst du mir ein Glas
Limonade zurecht machen?
Trinken Sie! Der Trank wird Sie kühlen.
(ab jetzt ohne Textheft) Das wird er auch
ganz gewiß – Die Metze ist gutherzig;
doch, das sind alle!
Was bedeutet Metze?
Schlampe!
Ja, Schlampe!
Warum sagt er Schlampe zu mir?
Weil er denkt dass du ihn betrügst. Aber,
Luise, du tust es nicht!
Weil er sie liebt. Aus Liebe heraus.
Weiter!
Das deiner Luise, Ferdinand?
SONIA:
LATIFA:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
HAKIM:
LATIFA:
HAKIM:
LATIFA:
SONIA:
HAKIM:
LATIFA:
HAKIM:
SONIA:
HAKIM:
LATIFA:
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
LATIFA:
HAKIM:
SONIA:
FERIT:
LATIFA:
HAKIM:
SONIA:
HAKIM:
LATIFA:
Was?
Das deiner Luise, Ferdinand?
So kommen wir nicht weiter. Latifa streng
Dich an.
Darf ich die Hose hochziehen?
Nein.
Bitte.
Nein. Komm. Mach die Passage noch mal.
Du machst das großartig. (Sie gibt Latifa eine Wasserflasche)
Gut! gut! Noch eine Bitte, Luise – die letzte! Mein Kopf brennt so fieberisch. Ich
brauch Kühlung – Willst du mir ein Glas
Limonade zurecht machen?
(ab jetzt ohne Textheft) Trinken Sie! Der
Trank wird Sie kühlen.
Das wird er auch ganz gewiß – Die Metze ist gutherzig; doch, das sind alle!
Das deiner Luise, Ferdinand?
Er tut das Gift rein.
(trinkt) Die Limonade ist matt wie deine
Seele – (streckt ihr die Flasche hin) Versuche. Versuche!
(trinkt) Die Limonade ist gut.
Wohl bekomm’s!
Er vergiftet sie und sagt dazu noch: Guten Appetit!
Luise! Hast du den Marschall geliebt? Du
wirst nicht mehr aus diesem Zimmer gehen.
Fragen Sie, was Sie wollen. Ich antworte
nichts mehr.
Ich antworte nichts mehr.
Sorge für deine unsterbliche Seele, Luise!
Ehe dieses Licht noch ausbrennt – stehst
du – vor Gott!
Sie stirbt! (Latifa sinkt zusammen) Nein,
nein bleib stehen!
Was ist das? – und mir wird sehr übel.
Gift! Gift! O mein Herrgott!
So fürchte ich. Deine Limonade war in der
Hölle gewürzt. Du hast sie dem Tod zugetrunken. Keine Rettung, musst jetzt schon
dahin – aber sei ruhig. Wir machen die
Reise zusammen.
Oh Gott! Er tötet auch sich selbst.
Ehrenmord!
Ferdinand, auch du? Gift, Ferdinand? Von
dir? O Gott der Gnade, nimm die Sünde
von ihm –
Sieh du nach deinen Rechnungen.
Aber sie stirbt unschuldig.
Sie stirbt unschuldig.
Nun kann ich nicht mehr schweigen – Der
Tod – der Tod hebt alle Eide auf – Ferdinand! – Ich sterbe unschuldig, Ferdinand.
Ich lüge nicht – hab’ nur einmal gelogen
mein Leben lang – als ich den Brief schrieb
an den Hofmarschall. Dieser Brief – Meine Hand schrieb, was mein Herz verdammte – dein Vater hat ihn diktiert. ...
Ferdinand – man zwang mich – vergib –
SONIA:
(gleichzeitig mit Latifa) Der Tod – der Tod
hebt alle Eide auf – Ferdinand! – Ich sterbe unschuldig, Ferdinand. Ich lüge nicht
– hab’ nur einmal gelogen mein Leben lang
– als ich den Brief schrieb an den Hofmarschall. Dieser Brief – Meine Hand
schrieb, was mein Herz verdammte – dein
Vater hat ihn diktiert.
SONIA:
Vergib ihr!
HAKIM:
Gelobt sei Gott, Luise!
SONIA:
Kommt euch langsam näher bitte. Du auch,
Latifa!
HAKIM:
Ich kann nicht.
SONIA:
Komm näher. Näher!
LATIFA:
Weh! Es ist dein Vater –
SONIA:
Näher.
HAKIM:
Mehr kann ich nicht.
SONIA:
Dass du nicht mehr kannst, weiß ich. Aber,
was du nicht weißt, ist, dass ich will, dass
du mehr kannst – verstehst du?
HAKIM:
Mörder und Mördervater!
SONIA:
Mörder und Mördervater!
HAKIM:
Mörder und Mördervater!
LATIFA:
Sterbend vergab mein Erlöser – Heil über
dich und ihn. (sinkt in sich zusammen)
SONIA:
(leise) Nein, bleib stehen. Bleib stehen.
HAKIM:
Halt! Halt! Engel des Himmels! Luise!
–Luise! – Ich komme –
SONIA:
Ja. Jetzt umarmt euch. Ihr sterbt, umarmt
euch.
HAKIM:
Ich fass sie nicht an.
SONIA:
Doch! Umarmt euch! Was machst du da?
LATIFA:
Ich sterb hier.
SONIA:
Langsam! Du liebst ihn doch, Luise!
LATIFA:
Aber ich will nicht, dass er mich anfasst.
SONIA:
Aber Luise liebt ihn doch!
LATIFA:
Das ist Theater.
SONIA:
Natürlich ist das Theater. Das ist mehr als
Theater.
LATIFA:
Aber ich fass ihn nicht an. Ich kann auch
langsam sterben, aber er fasst mich nicht
an.
SONIA:
Aber du liebst doch Ferdinand.
LATIFA:
Er nennt mich hier Metze und Schlampe.
SONIA:
Er sagt es, weil er dich liebt.
FERIT:
Hab ich doch gesagt, ja!
LATIFA:
Aber er bringt mich doch um.
SONIA:
So, ihr kommt jetzt zusammen.
BASTIAN: Das können Sie doch nicht –
SONIA:
Es ist ganz wichtig, dass ihr die Erfahrung macht. Schau sie dir an, sie stirbt unschuldig. Sie ist keine Schlampe. Umarmt
euch.
LATIFA:
(weint) bitte bitte
SONIA:
Dein letzter Satz noch mal.
HAKIM:
Halt! Halt! Engel des Himmels! Ich komme!
SONIA:
Umarmt euch, umarmt euch –
(SCHUSS.)
Latifa und Hakim umarmen sich
SONIA:
Es geht doch, jaaaa, ja, ja – es funktioniert.
Stille.
Uraufführung
U
raufführung
SCHNEEWITTCHEN
S
CHNEEWITTCHEN LEBT!
LEB
BT!
Eine K
Komödie
omödie für Kinder | nach Grimm
Grimm | von
von Katrin
Katrin
a
Lange
Lange
Premiere:
P
remiere: 21
21.. 11.
11. 2010 | Theaterhaus
Theaterhaus Saal
I: Irmgar
Irmgard Paulis A: Martin Käs
Käser
er
M: Michael R
Rodach
odach V
V:: Christian Hir
Hirschlipp
rschlipp
U
raufführung
Uraufführung
TIMM THALER
Nach J
Nach
James
ames Krüss | Spielfassung:
Spielfassung: Marion Firlus
Firlus
Premiere:
P
remiere: 27. 11.
11. 2010 | Kleine Büh
Bühne
hne
I: K
Katja
atja Lehmann A: J
Jule
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a R
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Rossum
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Fon 0341 . 486 60 16
www
.tdjw.de
www.tdjw.de
TdZ · November 2010
55
VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE
HAKIM:
SONIA:
Hasan, sind Sie noch bei uns? – Ihr versteht die Grundsituation Eurer Figuren?
Was lernen wir aus dieser Szene?
MUSA:
Wir lernen, dass schlechte Energien nicht
gut fürs Leben sind.
SONIA:
Luise ist keine Nutte.
MUSA:
Hab ich das nicht gesagt?
SONIA:
Luise ist keine Nutte!
FERIT:
War sie noch nie.
SONIA:
War sie noch nie! Und was lernen wir
noch, Musa? Manchmal werden Menschen zu Dingen gezwungen, verstehst du
das? Und es ist nicht fair, Menschen immer gleich zu verurteilen.
FERIT:
Sie könnte ehrenhaft sterben indem sie
sagt: Nein, ich werd das nicht schreiben?
SONIA:
Sie hats aber ihrem Vater versprochen.
MARIAM: Was redest du für Scheiße, ehrenhaft
sterben, wieso soll sie sterben?
FERIT:
Aber ehrenhaft.
HAKIM:
Dürfen wir ... auseinander gehen?
2. Lied
Ferit holt die Zweitwaffe, hält sie in die Luft und gibt
Sonia die Pistole.
Hakim zieht langsam die Hose hoch.
Herbstlied
Das Laub fällt von den Bäumen,
das zarte Sommerlaub,
das Leben mit seinen Träumen,
zerfällt in Asch’ und Staub.
Die Vöglein im Walde sangen;
wie schweigt der Wald jetzt still
Die Lieb’ ist forgegangen,
kein Vöglein singen will.
Die Liebe kehrt wohl wieder
im künft’gen lieben Jahr,
und alles tönt dann wieder,
was hier verklungen war.
Der Winter sei willkommen,
sein Kleid ist rein und neu;
den Schmuck hat genommen,
den Keim bewahrt er treu.
3. Szene
SONIA:
ALLE:
SONIA:
ALLE:
SONIA:
MUSA:
SONIA:
MUSA:
SONIA:
MUSA:
euer Hauptmann! – ich hab die dicksten
Eier –
SONIA:
Ja lass es raus.
MUSA:
(leise) Schlampe.
SONIA:
(leise) Zuhälter.
MUSA:
Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem
nach Freiheit. – Mörder, Räuber! – Mit
diesem Wort war das Gesetz unter meine Füße gerollt – Menschen haben
Menschheit vor mir verborgen, da ich an
Menschheit appellierte, weg denn von mir,
Sympathie und menschliche Schonung!
SONIA:
Freiheit! Räuber! Mörder! So, jetzt springen wir in den zweiten Akt und schauen
uns an, was aus unserem respektierten
Räuberhauptmann geworden ist. Ferit,
Sie sind der Roller und Sie machen den
Schufterle, Bastian.
Sonia drückt ihnen Texthefte in die Hand.
BASTIAN: Ich bin doch keine Schwuchtel man SONIA:
Doch, Sie kommen jetzt auch mal auf die
Bühne. Jeder ist mal dran. Sie brauchen
den gar nicht groß zu spielen, Sie sind
das ja schon. – Hey. Ich hab nichts gegen
Schwule. So aufstehen los. Karl hat den
Roller grad vom Galgen gerettet, Musa –
MUSA:
Nee, isch will nich
SONIA:
ICH
MUSA:
Nee, isch will nich
SONIA:
Ich
MUSA:
Icke
FERIT:
Ich!
SONIA:
So kommen Sie nicht weiter Musa, merken Sie das nicht?
MUSA:
Ich will auch nicht weiterkommen.
BASTIAN: Sie kommen auch nicht weiter.
SONIA:
Ich komm weiter, nur schnallt ihrs nicht,
das ist der kleine feine Unterschied. Er
verhindert, dass ihr weiterkommt.
BASTIAN: Mit Räuber? Damit Sie weiterkommen?
SONIA:
Euch sollte man ins Militär stecken. Ihr
Wichser!
MUSA:
Scheiß aufs Militär! Scheiß auf dich!
Scheiß doch auf die!
SONIA:
Ja genau soo muss man mit euch umgehen, beschimpfen muss man euch. Ja?!
Hat dein Papi dich gequält? Hat er dich
geschlagen? Gesagt, Musa, du bist zu
nichts nutze, hä? Wenn ihr euch selbst
nicht ernst nehmt, glaubt ihr etwa, dass
andere Menschen euch jemals ernst nehmen werden?!
MUSA:
Scheiß auf dich.
(SCHUSS.)
MUSA:
(schnell) Freiheit! Freiheit! – Der Stab
war schon über dich gebrochen –
FERIT:
Das war er freilich, und noch mehr. Ich
komme grades Wegs vom Galgen her, sag’
ich. Dem Hauptmann dank’ ich Freiheit,
Luft und Leben.
BASTIAN: (liest mit Leseschwäche) Es ... war ... ein
... Spaß ... der … sich ... hören ... lässt –
Laurent
Chétouane
Tanzstück #4 :
leben wollen
( zusammen )
Keith
Hennessy
A Brief History
(of my life
in performance)
theater
kosmos53
BRITNEY
BRITNEY
Foyerismus
Planet Porno mit
Patrick
Wengenroth
November 12)(13*)(14
November 18)
November 25)(26)(27
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*) Publikumsgespräch im Anschluss
56
Wie lauten die letzten Worte Karl Moors
in den Räubern?
Dem Mann kann geholfen werden.
Ich hab nicht alle gehört. Wie lauten sie?
Dem Mann kann geholfen werden.
Wie lauten sie?
Was ist? Der Schiller geht mir am Arsch
vorbei. Ich werd Fußballer, so sieht’s aus.
Wie lauten die letzten Worte Karl Moors
in den Räubern?
Fick doch deine Mutter, du Nutte.
Was hast du gesagt?
(steht auf, geht auf sie zu) Du sollst deine Mutter ficken.
Sonia gibt ihm eine Kopfnuss. Musa geht zu Boden.
BASTIAN: Was soll das?
SONIA:
Zidane hat getroffen, Zidane hat getroffen, ja. Zidane Kopfnuss, Kopfnuss. Was
denn, macht man doch so beim Fußball,
oder nicht? He, beleidigst du meine Mutter: Kopfschuss. (zu Musa, zielt auf ihn)
Wie lauten die letzten Worte Karl Moors
in den Räubern?
MUSA:
Scheiße, was willst du eigentlich von mir?
Ich hab dir nichts getan. Du bist doch völlig verrückt, drück doch ab, mir doch egal.
SONIA:
Eh, drück doch ab, Alter, fett, fett, fett,
fett. Wie lauten die letzten Worte Karl
Moors in den Räubern? (zielt auf Musa)
– Eins
MUSA:
Dem Mann kann geholfen werden. Ist gut
jetzt, lass mich, verdammt.
SONIA:
Ja sehen Sie, Sie können lernen, wenn
Sie wollen, he? – Man, aus dir kann ja
noch richtig was werden.
MUSA:
Sie haben keine Ahnung. Die Typen von
denen ich die Kanone hab, die sind was,
die kriegen Respekt. Das ist bei uns so.
SONIA:
Genau. Und deswegen soll ich mich nicht
einmischen, oder?! Jetzt sag ich dir mal
was. Multikulti-Kuschel ist das, nichts
weiter! – Sie beschneiden Frauen, das
gehört zu ihrer Kultur. Sie ermorden ihre
Schwester, ja schrecklich, aber das gehört
zu ihrer Kultur. Sie zocken den Staat ab,
ziehen deutsche Jugendliche auf der
Straße ab, sie schlagen halt schnell mal
zu, selber schuld, wenn du schwul bist.
Ja, ja, diese Gewalt, so sind sie halt, meistens bringen sie sich ja nur gegenseitig
um. Alles OK.
MUSA:
Ich hab’ ja keinen getötet.
SONIA:
Warum hast du dann diese Waffe mitgebracht?
MUSA:
Töten wollt ich bestimmt nicht.
SONIA:
Das ist egal. Gewalt ist Gewalt. Und die
hört nicht mehr auf, wenn es einmal angefangen hat. Ein bisschen Gewalt, das
gibt es nicht. Wenn du einmal eine Waffe in der Hand hast, wirst du auch
schießen. Aber Gewalt schlägt immer auf
einen zurück. Wer Wind sät, wird Sturm
ernten. (Überlegt kurz, nimmt ein Textheft, hält es Musa aufgeschlagen hin)
Los lesen Sie hier.
MUSA:
Nein.
SONIA:
Nehmen Sie Ihren Text.
MUSA:
Ich hab nein gesagt, Schlampe.
SONIA:
Zuhälter. Aber nicht mal das kriegst du
hin.
MUSA:
Zahltag, bald ist Zahltag und wenn dann
die Kohle nicht stimmt dann bläst du mir
einen.
SONIA:
Los lesen Sie hier.
MUSA:
(nimmt den Text) Räuber und Mörder! –
So wahr meine Seele lebt, ich bin
TdZ · November 2010
BASTIAN:
MUSA:
SONIA:
BASTIAN:
SONIA:
BASTIAN:
SONIA:
BASTIAN:
SONIA:
BASTIAN:
SONIA:
Gut. Bastian fangen Sie noch mal an. Die
Aufgabe ist, dass Sie Ihren Mitschülern
eine Geschichte erzählen und zwar – Sie
waren gestern Abend auf ner Party und
haben da was erlebt, und das erzählen Sie
so, dass diese Primaten alle zuhören und
nicht abhängen, ok?
OK.
Was hörst du auf die blöde Kuh, lan!
Ich versuch ihm einen Gedanken zu geben.
Sie waren auf ner Party und Sie hatten
Spaß. Können Sie sich das vorstellen?
(Blick zu Musa) Nein.
Los versuchen Sie’s. Versuchen wir mal
Spaß zu haben. Ich möchte, dass die Geschichte bei mir glaubwürdig ankommt.
Eins, zwei –
Es war ein Spaß –
Stop! Das glaub ich nicht: Es war ein
Spaß –
Wir feiern halt so.
Ihr feiert halt so, nee, also Sie kommen so
daher und sagen: Es war ein Spaß, der sich
hören lässt –
(versucht sie zu imitieren) Es war ein Spaß
–
Nein, noch mal und hör auf mit diesen Theatertönen, das kotzt mich echt an.
(SCHUSS.)
Das Textheft fliegt durch die Luft.
BASTIAN: (voll im Spiel) Es war ein Spaß, der sich
hören lässt. Wir hatten den Tag vorher
Wind gekriegt, der Roller werde morgen
am Tag – das war heut – den Weg alles
Fleisches gehen müssen – Auf! sagt der
Hauptmann, was wiegt ein Freund nicht?
– Wir retten ihn, oder retten ihn nicht, so
wollen wir ihm wenigstens doch eine Todesfackel anzünden, wie sie noch keinem
König geleuchtet hat. Wir passten die Zeit
ab, bis die ganze Stadt zum Galgen zog
dem Spektakel nach. Jetzt, sagt der Hauptmann, brennt an, brennt an!
SONIA:
Haben Sie gemerkt, wie Ihnen alle gebannt
folgen, wenn Sie sich selbst ernst nehmen,
he? Und jetzt Sie, Ferit, Sie spielen den
Einfachen, Ehrlichen.
FERIT:
Morbleu! – da lag die Stadt wie Gomorrha und Sodom – ... Gomorrah?
SONIA:
Das ist eine Stadt in der Bibel.
FERIT:
Aber ich bin doch kein Christ.
SONIA:
Hab ich gesagt, du bist Christ? Du bist
kein Christ. Du kannst trotzdem was lernen. Komm in die Mitte, trau dich.
FERIT:
(ab jetzt ohne Textheft) – da lag die Stadt
wie Gomorrha und Sodom, der ganze Horizont war Feuer, Schwefel und Rauch –
ich war losgebunden, da meine Begleiter
versteinert wie Loths Weib zurückschau’n.
BASTIAN: Macht sich die Stadt eine Freude daraus,
meinen Kameraden wie ein verhetztes
Schwein abzuschlachten, was, zum Hen-
ker! Sollten wir uns ein Gewissen daraus
machen, unserem Kameraden zu lieb die
Stadt drauf gehen zu lassen?
FERIT:
Sagt einmal, was habt ihr weggekapert?
– weggekapert?
MUSA:
Man, gekapert, wie Piraten -–
BASTIAN: Ich und Bügel haben einen Kaufladen
geplündert und bringen Zeug für unser
funfzig mit.
FERIT:
Weißt du nicht, Schufterle, wie viel es Tote
gesetzt hat?
BASTIAN: Drei und achtzig, sagt man. Der Turm allein hat ihrer sechzig zu Staub zerschmettert.
MUSA:
Roller, du bist teuer bezahlt.
SONIA:
Soviel Tote, das wollte Karl nicht. Er wollte doch nur Roller retten. Aber es kommt
noch schlimmer.
BASTIAN: Was heißt aber das? – ja, wenn’s Männer
gewesen wären – aber da waren’s Wickelkinder, eingeschnurrte Mütterchen, ausgedörrte Ofenhocker, die keine Türe mehr
finden konnten – Patienten, die nach dem
Doktor winselten.
MUSA:
Oh der armen Gewürme! Kranke, sagst du,
– Greise und Kinder?
BASTIAN: Ja zum Teufel! Und wie ich von ungefähr
so an einer Baracke vorbei gehe, hör’ ich
drinnen ein Kind, noch frisch und gesund,
das lag auf dem Boden unterm Tisch, und
der Tisch wollte eben angehen – Armes
Tierchen, sagt’ ich, du verfrierst ja hier,
und warf’s in die Flamme –
SONIA:
Wenn es Männer gewesen wären, aber es
waren Frauen und Kinder und Babies!
MUSA:
(ab jetzt ohne Textheft) Wirklich, Schufterle? Ich verfluche dich! Und diese Flamme brenne in deinem Busen, bis die Ewigkeit grau wird! – Fort. Ungeheuer! Laß
dich nimmer unter meiner Bande sehen!
Musa geht auf Bastian zu, der wehrt ihn ab. Musa schlägt
seine Hand weg.
Ich kotze, fasst mich nicht an!
BASTIAN: Was bist denn so aggressiv, man?
MUSA:
Murrt ihr? Überlegt ihr? – Verfluchter
Hund!
BASTIAN: Verdammt, warum schlägst du mich?
Musa prügelt Bastian, Bastian geht zu Boden.
SONIA:
Das reicht Musa! Lass ihn los. Karl ist
selbst schuld an dem Tod dieser wehrlosen
Kindern und Frauen. Er ist der Hauptmann.
BASTIAN: Mann Ihr seid doch bekloppt.
MUSA:
(leise) Fort mit ihm, sag’ ich, Volltrottel,
wenn ich befehle folgt ihr mir. Wer überlegt, wenn ich befehle? – (packt Ferit) Es
sind noch mehr unter euch, die meinem
Grimm reif sind.
SONIA:
Bereue es!
MUSA:
Ich ... ich ...
BASTIAN: Man, sie will uns nur gegeneinander aufhetzen, merkst du das nicht, mit ihrem
Scheißtheater?
MUSA:
Ihr versteht doch gar nichts, ihr Idioten,
was macht ihr den ganzen Tag?
BASTIAN: Hast doch auch was von, hast du was zu
rauchen, was solln die Scheiße.
MUSA:
Du wolltest doch bei der Alten einsteigen.
SONIA:
Was redet ihr da?
BASTIAN: Ich habe dir nicht gesagt, dass du deswegen ne Knarre in die Schule bringensollst.
MUSA:
Wenn du Idiot nicht die Knarre rausgeholt
hättest –
BASTIAN: Man –
MUSA:
– halt die Klappe. Jetzt hat sie die Knarre und wir sitzen hier.
BASTIAN: Is doch nicht meine Schuld man. Ich wollte nur n bisschen nachhelfen, mehr nicht.
SONIA:
Wovon redet ihr?
MUSA:
Idiot. Du wolltest meinen Namen in den
Dreck ziehen.(geht auf ihn los)
Sowas kannst du nicht machen.
BASTIAN: Wollt’ ich auch nicht.
Musa würgt ihn.
MARIAM: Frau Kelich!
(SCHUSS.)
Musa lässt ihn los. Stille.
LATIFA:
Was haben sie jetzt vor?
SONIA:
Gute Frage!
MARIAM: Warum versuchen sie uns mit Gewalt beizubringen, dass –
SONIA:
Weil ihrs nicht anders gelernt habt, ihr
Versager! Rausgeschmissenes Geld seid
ihr! Ihr seid ohne Disziplin, ohne Willen.
Was euch fehlt, ist Mannszucht, wie das
früher hieß. Ihr macht den ganzen Tag einen auf dumme Machos und seid auch noch
stolz drauf. Hier rumficken wie eine Sau
und am Ende eine Unberührte aus dem
Dorf importieren! Das ist für euch Tradition! Und ihr Mädels, schön die Haare bedecken, damit ihr nicht in die Hölle kommt,
auf euren Schatz achten zwischen den Beinen und sich lieber in den Arsch ficken lassen, damit der zukünftige Ehemann keinen Koller kriegt in der Hochzeitsnacht
und der Bruder euch keine Kugel in den
Kopf jagt!
Und alles im Namen der Religion! Ja, der
Islam! In den Hinterhofmoscheen loben irgendwelche Hodschas Osama bin Laden
und sie landen nicht im Knast, das ist Meinungsfreiheit! Ich ficke deine Mutter! Das
ist keine Meinungsfreiheit! So denkt ihr!
Was meint ihr, was der Prophet mit seiner
neunjährigen Braut in der Hochzeitsnacht
gemacht hat? Playstation gespielt? Aber
auf die Schweinefresser runterschauen: pädophil, das sind für euch nur die anderen,
die katholischen Priester! Jetzt sag ich
euch mal was. Die haben euch aber einiges
voraus! Die jammern nicht immer, die anderen sind schuld. Die kritisieren sich selbst.
Glaube mit Vernunft! Ich bin nicht deiner
24.11. Premiere
TdZ · November 2010
: 26.11. : 27.11.
butscheidtplatz.de
Vampires of the 21st Century
oder Was also tun?
1 Lorant Racz
theatercombinat / Claudia Bosse
57
VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE
SONIA:
Meinung, aber ich würde mein Leben dafür
opfern, damit du deine Meinung frei äußern
darfst! Das bedeutet Aufklärung. Kriegt
ihr das hin? Wenn nicht, dann geht zurück
nach Hause!
4. Szene
SONIA:
HAKIM:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
FERIT:
SONIA:
LATIFA:
SONIA:
LATIFA:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
FERIT:
MARIAM:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
58
Wisst Ihr was hier falsch läuft? Das Problem sind nicht die Jungs. Nein. Das Problem ist, dass die Mädchen das mitmachen.
Genau, ist doch gut.
Das hast du falsch verstanden, Idiot, aber
das ist normal, der Islam ist ja 500 Jahre jünger. Ihr lebt gerade im Mittelalter
von Europa.
Ey, was sagen Sie da?
Es gab keine Aufklärung! Die Männer unterdrücken euch. Ihr müsst euch dagegen
wehren, versteht ihr?
Ich bin nicht unterdrückt.
Ach ja? Woher kommt das hier?
Sie ist gläubig!
Bist du Muslima, Latifa?
Ja.
Gläubig?
Ja.
Es geht auch ohne Kopftuch.
Ich will aber das Kopftuch.
Falsch. Es wurde dir so beigebracht, verdammt.
Es schützt vor Blicken von Männer.
Zum Beispiel.
Siehst du, genau das meine ich. Wehr dich
dagegen. Du musst dich dagegen wehren.
Hasan! Hasan, steh auf. Steh auf! Du wirst
der Mariam helfen. Wir spielen weiter.
Räuber. Friedrich Schiller. Da ist das alles drin. Versteht ihr nicht? Ihr habt großes
Glück. Das Glück in Deutschland leben zu
dürfen. Vielleicht ist es in eurer Heimat
schwierig, sich zu entfalten. Aber ihr sei
ja in Deutschland, in einer Demokratie.
Nutzt diese Chance. Ihr könnt ja dann irgendwann in eure Heimat zurückkehren
und euren Landsleuten helfen.
Ich bin Kurde. Wir haben kein Land.
Oh man! Immer dieser Nationalismus. Du
und dazu diese wehleidigen Muschis, ihr
macht mich alle. Du spielst jetzt Franz.
Hat man dir in deiner Heimat die Eier ausgerissen? Wo ist denn deine Männlichkeit?
Deine stolze anatolischer Männlichkeit?
Ach ja, du bist ja ein gepeinigter Kurde.
Oh weh, na da machst du jetzt mal das Beste draus. Wir wollen mal mutig sein. Wenn
nicht jetzt, wann dann? Nimm dein Schicksal in die Hand, Hasan. Du bist jetzt Franz.
Franz?
Franz. Nix jetzt Hasan anymore. Und Franz
hat ziemlich dicke Eier. Franz hat keine
Angst. Franz hat ein ziemlich großes Selbstbewusstsein. Mariam, würde so ein Franz
aussehen, den ich grade beschrieben habe?
Nein würde er nicht. Müssen wir dran arbeiten, Hasan. Wir fangen damit an, dass
du den Kopf hebst. Kopf heben!! Sehr gut,
immer geradeaus schauen, nie auf den Boden gucken, erste Regel. Zweite Regel, das
Atmen nicht vergessen. Gut, Mariam, könnte so ein Franz aussehen?
(nickt)
Ja, find ich auch. Also Franz ist supergut
drauf. Weil der den Posten seines Vaters
übernommen hat. He’s the king of the city,
Hasan. Und jetzt vergiss mal dein trauriges kurdisches Schicksal. Leg das mal ab.
Diese ganzen Traumata, ich kann’s nicht
mehr hören. Du bist jetzt Franz. Und das
ist gut, weil, Mariam wird jetzt Amalia
spielen. (zu Mariam) Komm steh auf. Ma-
HASAN:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
HASAN:
MARIAM:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
HASAN:
MARIAM:
HASAN:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
MARIAM:
HASAN:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
HASAN:
riam will rebellieren lernen. Und du hilfst
ihr dabei, ok? Du kommst nämlich, um
Amalias Herz zu erobern. Du hast den Posten des Königs, aber der Posten der Königin ist noch frei, und ohne Muschi ist er
nichts wert ok? – Du hast wieder diesen
Angstblick. Was ist die erste Regel?
Augenhöhe.
Augenhöhe! Ihr müsst immer auf Augenhöhe sprechen. Kommen wir zu Amalia.
Er ist der Bruder von Karl –
(nickt)
– und du liebst Karl und den hat sein eigener Bruder, der Franz, verraten und jetzt
kommt der her und will, dass du seine Frau
wirst. Und das mit einer Selbstverständlichkeit ja, für ihn ist das sauklar aber für
dich nicht, ok? Ab jetzt, Hasan, bist du
Franz, ok? Franz tritt auf.
Kein so finsteres stolzes Gesicht! Du betrübst mich, Amalia –
Du betrübst mich auch Hasan! Nicht mit
wackligen Knien. Wie soll sich Mariam
gegen dich wehren, wenn du kein Arschloch
bist. Wie kann sie das lernen? Gegen dich
zu rebellieren ist zu einfach, du kleine
Maus. Du musst das Arschloch spielen, tu
es für sie, damit sie weiterkommt.
Kein so finsteres stolzes Gesicht! Du betrübst mich, Amalia. Ich komme, dir zu
sagen –
Ich komme dir zu sagen, ich, der große
Franz, komme dir zu sagen –
Ich komme, dir zu sagen –
Ich muss wohl hören, Franz von Moor ist
ja gnädiger Herr worden.
Aha, Amalia weiß Bescheid.
Ja, ich bin Herr. Aber ich möchte es vollends ganz sein, Amalia. –
(zielt mit der Pistole auf ihn) Fass dich an
die Eier! Fass dich an die Eier! Und spürst
du sie, spürst du sie, hey?
Ja.
Ja! Dann zeig mir, dass du sie spürst. Ich
spür deine Eier nicht. Auf man so eine kleine Schlampe, das schaffst du doch Du weißt, was du unserm Hause warst, du
wardst gehalten wie Moors Tochter, selbst
den Tod überlebte seine Liebe zu dir, das
wirst du wohl niemals vergessen?
Niemals.
Die Liebe meines Vaters musst du in seinen Söhnen belohnen, und Karl ist tot –
Staunst du? Schwindelt dir?
Bitte Hasan, beweise mir, dass du kein hoffnungsloser Fall bist. Fass dir noch mal an
die Eier. Nachfassen!
Franz tritt die Hoffnungen der edelsten
Fräuleins mit Füßen ... Franz kommt und
bietet einer armen, hilflosen Waise sein
Herz, seine Hand und mit ihr all sein Gold
an und all seine Schlösser und Wälder.
Tja, da will dich einer kaufen.
Du hast meinen Geliebten ermordet, und
Amalia soll dich Gemahl nennen!
(ab jetzt ohne Textheft) Nicht so ungestüm,
allergnädigste Prinzessin! – Franz spricht,
und wenn man nicht antwortet, so wird er
– befehlen.
Jaaa, jetzt spür ich die Eier!
Wurm, du, befehlen? Mir befehlen?
Befehlen?! Der kann doch nicht befehlen!
Beschimpf ihn, Wurm, provozier ihn,
Wurm, genau ein Wurm ist er.
(ab jetzt ohne Textheft) Wurm, du, befehlen? Mir befehlen? – und wenn man den
Befehl mit Hohnlachen zurückschickt?
Das wirst du nicht. Gib Acht! Jetzt hast
du mich die Kunst gelehrt, wie ich dich
quälen soll – Diese ewige Grille von Karl
soll dir mein Anblick aus dem Kopfe
geißeln; an den Haaren will ich dich in die
SONIA:
HASAN:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
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SONIA:
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SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
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HASAN:
MARIAM:
SONIA:
HASAN:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
Kapelle schleifen, –
Ja es funktioniert doch!! Ja!! Fass noch
mal nach! Jaa! Nachfassen! So weiter.
An den Haaren will ich dich in die Kapelle schleifen, den Degen in der Hand dir den
ehlichen Schwur aus der Seele pressen,
dein jungfräuliches Bette im Sturm ersteigen und deine stolze Scham mit noch
größerem Stolze besiegen.
Nimm erst das zur Aussteuer hin. (stößt
ihn weg)
Der will dich in die Kapelle schleifen, dich
zur Ehe zwingen, an den Haaren will er,
den Degen in der Hand, dir den Schwur
aus der Seele pressen. Dich besteigen!Was? Was bistn du für ne Muslima? Hast
du nicht gehört, was er gesagt hat? Und
er hat’s so gut gesagt. Hau ihm eine runter! Scheuer ihm eine!!
Nimm erst das! (fängt an ihn zu ohrfeigen)
Er will dich an den Haaren ziehen. Er will
deine Jungfräulichkeit.
Nimm erst das.
Schlag ihn! Ja, noch mal. Wehr dich. Nimm
Rache.
Nimm erst das. Das. Das.
Ja. Hasan, Text. Franz!
Nicht meine Gemahlin – meine Maitresse
–
Maitresseeeeeee!
Meine Maitresse sollst du werden. Komm
– Komm mit in meine Kammer – ich glühe
vor Sehnsucht.
Er will dich in sein Schlafzimmer zerren!
Ja.
Er glüht vor Geilheit, dich zu vögeln, er
nennt dich Mätresse.
Ja. (schlägt ihn zu Boden)
Mariam lass alles raus ja! LAAAASS EEEEEES RAUUUUUUUS! Weiter!
Siehst du, Bösewicht, was ich jetzt aus dir
machen kann?
Weiter!
Ich bin ein Weib, aber ein rasendes Weib
–
Ja, ich bin ein Weib und ich schäme mich
auch nicht dafür, zeig deine Titten!
Ich bin ein Weib!
Siehst du, was er für’n Haufen Elend ist?
Spast.
Spast.
Fleuch auf der Stelle!
Komm Hasan, Text.
Was machen wir?
Versteh kein Wort.
Wir verstehen dich nicht, lauter!
–
Und ab. Uiiiiiiiii. Verstehst du, du hast ihn
fertig gemacht. Wie wohl dir ist... ja ja...
Ah! wie mir wohl ist! – Jetzt kann ich frei
atmen – ich fühlte mich stark wie das funkensprühende Roß, –
Ich mich auch, jaaaaa!
– grimmig wie die Tigerin, dem Sieg brüllenden Räuber ihrer Jungen nach – Bettler, sagt er? So hat die Welt sich umgedreht, Bettler sind jetzt Könige, und Könige sind Bettler! – In den Staub mit dir,
du prangendes Geschmeide!
Genau, weg damit!
Seid verdammt...
Ja!
Seid verdammt, Gold und Silber und Juwelen zu tragen, ihr Großen und Reichen!
Seid verdammt, an üppigen Mahlen zu zechen! Verdammt, euren Gliedern wohl zu
tun auf weichen Polstern der Wollust! So
bin ich Wert –
Ja, befreie dich von allem.
Seid verdammt... ihr Wichser, ihr Spastis,
ihr Kurdenficker, ihr könnt mich am
TdZ · November 2010
3. Lied
Nun ade, du mein lieb Heimatland
Nun ade, du mein lieb Heimatland, lieb Heimatland
ade!
Es geht jetzt fort zum fernen Strand, lieb Heimatland
ade!
Und so sing’ ich denn mit frohem Mut,
wie man singet, wenn man wandern tu, lieb Heimatland, ade!
Und so sing’ ich denn mit frohem Mut,
wie man singet, wenn man wandern tu, lieb Heimatland, ade!
Begleitest mich, du lieber Fluß, lieb Heimatland ade!
Bist traurig, daß ich wandern muß, lieb Heimatland,
ade!
Vom moos’gen Stein am wald’gen Tal,
Da grüß ich dich zum letzten Mal, lieb Heimatland ade!
Vom moos’gen Stein am wald’gen Tal,
Da grüß ich dich zum letzten Mal, lieb Heimatland ade!
Lieb Heimatland, ade!
III. AKT
FERIT:
1. Szene
Alle sitzen auf ihren Stühlen.
SONIA:
Eure Eltern sind fort aus ihrer Heimat,
damit ihr später ein besseres Leben habt
als sie. Ihr müsst das einfach schaffen, hört
ihr, damit das Opfer eurer Eltern einen
Sinn hat. Versucht euch mal vorzustellen,
was das bedeutet, ihr verlasst von heute
auf morgen eure Heimat, ihr kommt in ein
fremdes Land, wo alles neu ist, wo ihr die
Sprache nicht könnt.. – Und alles damit
ihr es besser habt. Damit ihr später glücklich sein könnt in Eurem Leben. Ihr müsst
das, was ich sage Ernst nehmen. Wenn
man in dieser Gesellschaft ein Moslem ist,
Araber, Türke, Kurde –
Aber das ist kein Grund, dass ihr sagt ‚ich
bin ein Opfer’, das ist nicht meine Schuld.
Ihr könnt die Verantwortung für euer Leben nicht auf andere schieben. Weil man
ein Opfer ist, heißt das nicht, dass man
nicht auch zum Henker werden kann. Eure
einzige Chance ist, dass ihr in der Schule
arbeitet. Sonst war das alles umsonst. Tut
es nicht mir zuliebe, tut es euren Eltern
zuliebe.
Du kannst doch, wenn du willst, Ferit. Beweis es denen, du kannst es doch. Ihr habt
so viel Energie in euch, um euch zu wehren. Nutzt sie doch. Häh? Latifa. Musa,
du warst so ein großartiger Räuberhauptmann –
MUSA:
Frau Kelich mir ist schwindelig. (kippt vom
Stuhl)
HAKIM:
Eh, Musa, eh
SONIA:
Musa, Musa hörst du mich?
HASAN:
Sie haben ihn umgebracht.
SONIA:
Kannst du mich hören?
BASTIAN: Ey, man, jetzt sind Sie hier die Verbrecherin.
MARIAM: Ich rufe einen Krankenwagen.
SONIA:
Hörst du mich, Musa, hörst du mich?
Musa packt Sonia, wirft sich auf sie und würgt sie.
HAKIM:
Hör auf, Musa.
Mariam hebt die Pistole auf und zielt auf Musa.
MARIAM: Hör auf. Hör auf, du Idiot. Hör auf Musa!
(SCHUSS.)
MARIAM: Hör auf!
HASAN:
Mariam!?
HAKIM:
Was machst du? Was machst du da?
MARIAM: Halt die Fresse.
FERIT:
Was soll die Scheiße?
BASTIAN: Bist du behindert oder was?
MUSA:
Gib die Waffe her.
MARIAM: Bleib da, wo du bist.
MUSA:
Gib die Waffe her.
(SCHUSS.)
FERIT:
Mariam, mach kein Scheiß.
MARIAM: Haltet die Fresse!
LATIFA:
Was bringt das?
MARIAM: Dass ihr endlich mal die Fresse haltet.
zürcher premiere
10. november
premiere
25. november
F WIE FÄLSCHUNG
(NACH
ORSON WELLES)
Ein Abend von
und mit Malte Scholz
Regie: Boris Nikitin
ARE YOU STILL
AFRAID OF
VIRGINIA WOOLF?
www.theaterneumarkt.ch
Willst du den totalen Krieg?
TdZ · November 2010
Was machst du da? Bist du jetzt eine von
uns oder nicht du Verräterschlampe?
MARIAM: Wer ist hier die Schlampe? Bin ich eine
Schlampe? Ich bin ne Schlampe? (zielt auf
ihn) Hose runter.
FERIT:
Bist Du verrückt geworden?
MARIAM: Hose runter oder ich schieße.
Ferit zieht seine Hose runter.
MARIAM: Was ist ne Schlampe?
FERIT:
Du bist ne miese Schlampe.
MARIAM: Falsch. Du Affe. Latifa, was ist eine
Schlampe, sag was eine Schlampe ist.
LATIFA:
Hey hör auf, lass uns raus gehen.
MARIAM: Falsch. Falsch. Also, eine Schlampe ist eine
Frau, die … he? He?
LATIFA:
… die für Geld mit Männern schläft.
HASAN:
Lass uns raus Mariam.
MUSA:
Isch mach dich kalt du Muschi.
MARIAM: Ich mit CH. ICH, wiederhole.
MUSA:
ICH
MARIAM: (zu Bastian) Buchstabier mal Muschi.
SONIA:
Muschi. M-u-s-c-h-i
MARIAM: Der kann das alleine Frau Kelich. Was ist
eine Muschi? Sag doch.
BASTIAN: Keine Ahnung.
MARIAM: Wo kommst du her?
BASTIAN: Aus Berlin.
MARIAM: Nein, wo bist du rausgeschlüpft? Aus der
Muschi deiner Mutter. Hat dich das Weib
nicht geboren? Ihr seid alle Muschigeburten. Sag – Ich bin eine Muschigeburt.
BASTIAN: Ich bin eine Muschigeburt.
MARIAM: Hasan, sind Sie noch bei uns? Steh auf.
HASAN:
Schon wieder ich?
MARIAM: Man, du Weichei! Geh zu Bastian und hau
ihm eine runter.
Hasan ohrfeigt Bastian.
MUSA:
Ach Frau Kelich, ich kann jeden Tag die
Waffe mit zur Schule bringen, wenn Sie
wollen.
MARIAM: Du hältst den Mund. Du hältst definitiv
den Mund. Du hörst jetzt auf mich als
Schlampe zu bezeichnen, du hörst auf
schlecht Deutsch zu sprechen, du hörst auf
Waffen mit in die Schule zu bringen, du
hörst auf Frauen nicht zu respektieren. Und
du umarmst jetzt Frau Kelich. Musa hilf
ihr auf. Du nimmst sie jetzt in den Arm
und sagst, dass es dir leid tut. Ich schieße.
MUSA:
Es tut mir leid.
MARIAM: Jetzt sagst du ihm, dass du die Entschuldigung annimmst.
SONIA:
Ich nehme die Entschuldigung an.
MARIAM: Nein, nein, nein. Ich will ein bisschen Emotion sehen. Und zum Publikum. Latifa, fass
Hakim an seinen fetten Arsch. Hakim, du
küsst Bastian.
MUSA:
Es reicht das Theater hier. Gib mir die
Pistole, und wir verlassen den Saal.
MARIAM: Komm mir bloß nicht näher.
(SCHUSS.)
MARIAM: Musa, auf den Boden. Hasan, fessle ihn.
Ey, ich hab dich gerufen. (Hasan schüttelt
den Kopf.)
Ein Projekt von Barbara Weber
und Michael Gmaj
Regie: Barbara Weber
Von mir aus.
59
VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE
Arsch lecken...
Ja, Text weg, ja, jetzt Kopftuch weg.
Nee.
Doch, das geht alles weg.
Nee, mach ich nicht.
Mariam, du bist kurz davor. Du bist kurz
bevor, dich zu befreien. Kopftuch weg. Spür
der Amalia nach.
MARIAM: –
SONIA:
Wir sind so nah dran, was ist denn los?
MARIAM: Ich mach mein Kopftuch nicht weg.
SONIA:
Warum nicht?
MARIAM: Was gefällt ihnen denn nicht an meinem
Kopftuch?
SONIA:
Es unterdrückt dich.
MARIAM: Nein.
SONIA:
Doch.
MARIAM: Nein.
SONIA:
Ich möchte einfach, dass du dich frei entfaltest, als Mensch!
MARIAM: Ich bin frei entfaltet.
SONIA:
Bist du nicht.
MARIAM: Bin ich wohl.
SONIA:
Ein Scheißdreck bist du!
MARIAM: Ich weiß gar nicht, was sie von mir wollen.
SONIA:
(richtet die Pistole auf sie) Ich möchte,
dass du deine Angst besiegst. Ich möchte
in deinen Augen die Angst nicht mehr sehen. Ich möchte nicht, dass die Leute dich
wegen deines Kopftuchs angucken.
MARIAM: Die gucken doch, sollen die doch.
SONIA:
Ich zähl bis fünf.
Mariam schüttelt den Kopf. Sonia zielt auf Hasan.
SONIA:
Ich erschieß den. Den braucht sowieso keiner. Wenn du dein Kopftuch nicht abmachst.1, 2, 3, –
MARIAM: Ich machs. (Sie fängt an, es auszuziehen.
Zu Hasan) Guck weg. Spast.
SONIA:
Stopp. Du machst es doch wieder für einen Mann. Du solltest es doch für dich machen. Verdammt.
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
MARIAM:
SONIA:
Saarländisches
Staatstheater
Scheiße. Na, kriegt Ihr das mit? Das ist
der große Gangster, der uns das ganze Jahr
nervt. Und du Hakim? Bi-t-hâfu minhû akfâr mâ bi-t-hâfutullâh!
HAKIM:
Was redest du da ey?
MARIAM: Du weißt, was ich gesagt habe. Du hast
mehr Angst vor ihm als vor Gott.
MUSA:
He, Imam, kannst du nur Schimpfwörter
auf Arabisch? Wie betest du denn?
HAKIM:
Sprich dein Gebet. Bete!
MUSA:
Was?
HAKIM:
Bete, Du weisst, dass du gleich stirbst. Bete,
denn ich bring dich um. Du Sohn einer
Hure. (packt Musa)
MUSA:
Lass mich los.
MARIAM: Lass ihn los, Hakim. Das bringt es nicht.
Eh, das bringt es echt nicht. Fessel’ seine
Hände.
HAKIM:
Wie? Ich hab’ nichts zu fesseln.
MARIAM: Hier. Fessel ihn mit dem Tuch.
Mariam nimmt sehr langsam das Tuch ab und wirft es
auf den Boden.
MARIAM: (ihr Körper zuckt wie von einem Urschrei)
Grroughoäääääää.
LATIFA:
Mariam, was ist los? Was ist denn los?
MARIAM: Cool, cool, cool, ich bin cool.
Mariam sieht ihr Haar und erschrickt davor. Das Zucken
ihres Körpers verwandelt sich in einen Tanz. Sie gibt
die Pistole Hakim.
HAKIM:
Alles in Ordnung?
FERIT:
Mariam, was bist du jetzt?
Mariam tanzt mit Latifa. Hakim gibt die Pistole Ferit
und fesselt Musa mit dem Kopftuch die Hände. Hakim
reißt sich die Kleidung vom Leib. Ferit tanzt mit der
Pistole. Mariam nimmt sich Musas Handy, um zu filmen.
MUSA:
Was machst du mit meinem Handy?
MARIAM: Halt die Klappe, du Wichser.
MUSA:
Nutte.
MARIAM: Hasan. Hasan!
HASAN:
Eh, bleib mir bloß weg du.
MARIAM: Geht das schon lange?
HASAN:
Was soll schon lange gehen? Ich versteh
nicht, was Du meinst.
HAKIM:
Was ist los?
MARIAM: Geht das schon lange?
LATIFA:
Was ist mit Hasan?
MARIAM: Das bist du auf dem Film.
HASAN:
Lasst mich in Ruhe.
Mariam zeigt den anderen den Film auf Musas Handy.
Sie nimmt die Pistole zurück.
HAKIM:
(zu Musa) Wie kannst du sowas tun? Wie
kannst du so was tun?
LATIFA:
Das wirst du teuer bezahlen, du Arschloch!
MARIAM: Gucken Sie mal das an, Frau Kelich!
FERIT:
Was macht ihr da mit ihm, wieso ist er
nackt? Wie kann man das einem Mitschüler antun, he?
MUSA:
Ich hab nix gemacht, ich hab nur gefilmt.
Filmen ist kein Verbrechen.
MARIAM: (zielt auf Musa) Du hast das gefilmt und
sagst, du hast nichts gemacht? Das hat einen Namen im Gesetz: Mittäterschaft.
60
MUSA:
Ne Schwuchtel ist das. Warum hat er sich
nicht gewehrt, wenn’s ihm wehgetan hat?
LATIFA:
Warum hast du dich nicht gewehrt?
MARIAM: Was soll ich nur mit dir machen?
Mariam geht zu Sonia und hält ihr die Pistole hin.
LATIFA:
Mariam?
BASTIAN: Spinnst du? Mach das nicht, die ist total
durch.
MARIAM: Hier. Scheiße, machen Sie schon.
SONIA:
Ich will nicht mehr.
MARIAM: Frau Kelich, bitte kümmern Sie sich drum,
dass es gut wird.
BASTIAN: Man, wir hätten alle rausgehen können.
FERIT:
Sei still, du verfickter Hurensohn.
SONIA:
Also, ich hab Bauchschmerzen und mir gehen auch langsam die Ideen aus. Ich finde, du machst das gut, Mariam, weiter so.
Du siehst fantastisch aus.
MARIAM: Machen Sie was, Frau Kelich! Das sind
die Versager, die Hartz IV-Empfänger, faule, kriminelle Machos, das sind die Hinterhofmoscheegänger, die Unterdrücker,
die Bauchklatscher im Prinzenbad, das
sind die Abzocker, die Schwesternhasser,
die Ehrenmörder, die Pädophilen, Rassisten, Antisemitisten, das sind die Schulklassenniveausenker, die Integrationsverweigerer, das sind die Ghettogangster. Sie
haben doch gesehen, was er Hasan angetan hat. Machen Sie was!
SONIA:
Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich
weiß wirklich nicht, was ich machen soll.
MARIAM: Scheiße. Ich auch nicht. (legt die Pistole
auf den Boden) Sie sind doch die Intelligente hier. Wir reißen uns den Arsch für
Sie auf und Sie lassen uns im Stich.
LATIFA:
Bitte Frau Kelich.
FERIT:
Wir brauchen Sie.
Hakim legt Sonia seine Hand auf die Schulter.
SONIA:
Ihr habt Recht. Ihr habt doch Recht. In
Anbetracht der Situation sind wir ziemlich weitergekommen. (legt ihre Hand auf
Hakims Hand)
Ich bin stolz auf euch. OK, (nimmt die Pistole) Ihr stimmt ab.
HAKIM:
Was?
SONIA:
Ja, wir machen eine demokratische Abstimmung. Ihr entscheidet. Was machen
wir mit Musa? Es ist ganz einfach; es gibt
zwei Möglichkeiten. A: Freilassung. B:
Hinrichtung.
Stille.
SONIA:
Also, ich erschieß den, das bleibt dann unter uns und dann können wir alle nach Hause gehen. OK? Ihr stimmt ab.
4. Lied
Sonia hilft Musa hoch.
Gelübde
Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand
dir Land voll Lieb und Leben, mein deutsches
Vaterland
dir Land voll Lieb und Leben, mein deutsches
Vaterland
Will halten und glauben an Gott fromm und frei
will Vaterland dir bleiben auf ewig fest und treu
will Vaterland dir bleiben auf ewig fest und treu
Laß Kraft mich erwerben in Herz und in Hand
zu leben und zu sterben fürs heil’ge Vaterland
zu leben und zu sterben fürs heil’ge Vaterland
2. Szene
Stuhlkreis. Musa steht vor seinem Stuhl in der Mitte.
MUSA:
Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.
Ich weiß nicht warum ich so was gemacht
habe. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich ... Ich entschuldige mich bei
euch allen. Das wars. (setzt sich)
SONIA:
Also, Auswertung: Freilassung, hmm. Freilassung. Freilassung. Wie jetzt? Freilassung, Freilassung, Freilassung. Ihr seid alle
für die Freilassung? Spinnt ihr? Hä?!
HAKIM:
Gewalt ist keine Lösung, Frau Kelich.
FERIT:
Er ist auch nur ein Mensch. Jeder Mensch
macht mal Fehler –
SONIA:
Schnauze.
FERIT:
Ich weiß, innen drin ist er ein guter Mensch.
LATIFA:
Ich finde, dass Musa eigentlich ein ziemliches Arschloch ist, aber wenn wir ihn töten, dann bringt ihn das auch nicht weiter.
Ich glaube, er kann mal drüber nachdenken, whatever ...
SONIA:
Habt Ihr sie nicht mehr alle – wie könnt
ihr denn so einen Vollidioten frei lassen?
Der ist gewalttätig durch und durch.
BASTIAN: Ich glaube, jeder Täter ist früher mal Opfer gewesen und in einer Welt wo 20 Länder im Krieg sind –
SONIA:
Aaaaah!
HAKIM:
Wir dürfen nicht versuchen, einen Menschen mit Gewalt zu verändern. Der Mensch
ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
SONIA:
Du, auch Hasan?
HASAN:
–
SONIA:
Du … Du enttäuschst mich! Boah, ihr seid
blöder als ich gedacht hab. Ich würd ihn
erschießen.
MARIAM: Ich bin nicht deiner Meinung, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du deine
Meinung frei äußern darfst. Die Französische Revolution und ihr Unterricht haben mir gezeigt, dass ich mich frei –
SONIA:
Schnauze. Französische Revolution? Fang
mir jetzt bloß nicht mit der Französischen
Revolution an. – was ist denn passiert mit
Robespierre?
FESTIVAL FRANKOPHONER GEGENWARTSDRAMATIK
FESTIVAL D’ÉCRITURE DRAMATIQUE CONTEMPORAINE
17.–
20. November 2010, Saarbrücken / Forbach
.......................................................................................................................................................
Karten: (0681) 3092- 486, www.saarlaendisches-staatstheater.de
TdZ · November 2010
3. Szene
SONIA:
Halt die Klappe! Setzt Euch hin und tut
nicht auf einmal so als hättet ihr irgendetwas begriffen. Ihr habt doch keine Ahnung von der Demokratie. (Hasan setzt
sich) Ihr … Ihr ... Ihr Muschis ... Machos
... Spasten ... Sizi, zavalli Aptallar! Delikanli olun. Azicik delikanli olun! Söylediginiz sözün arkasinda kalin bari...
BASTIAN: Was?
SONIA:
Ne bakiyorsunuz öyle salak salak? He?
Daha önce Türkce konusan birini görmediniz mi?
FERIT:
Sen Türksün?
SONIA:
Delikanli! Bu mu senin delikanliligin?
MARIAM: Bist du Türkin oder was?
MUSA:
Warum haben Sie uns das nicht gesagt?
SONIA:
Weil das niemand was angeht! Das hier
ist eine deutsche Schule, hier wird deutsch
gesprochen, klar?
LATIFA:
Aber Sie heißen Kelich.
SONIA:
Ich habe einen Deutschen geheiratet, du
dummes Stück.
FERIT:
Sie sind Türkisch!
SONIA:
Ist doch vollkommen scheißegal, ob ich
Türkin bin oder nicht. Ich erschieße den
jetzt trotzdem.
HAKIM:
Krass, wenn Sie das früher gesagt hätten...
SONIA:
Was dann?
HAKIM:
Keine Ahnung, aber...
SONIA:
Was dann? Egal. Ist ja auch egal, was mache ich gerade? Was mache ich hier? Was
spielen wir? Für wen? Ich fühle mich...
(blickt ins Publikum) Ich fühle mich beobachtet. Ich bin... was bin ich?
Es tut mir leid... Was machen wir? Es tut
mir wirklich leid. Den Schuldigen finden
wir heute eh nicht mehr. Musa, kusura bakma, (löst Musas Fesseln) canini yaktim galiba. Cocuklar, kusura bakmayin.
MUSA:
Canim ne önemi var?
FERIT:
Bazen geliverir öyle bosver...
SONIA:
Ey, ich hab kein Bock mehr. Immer diese
Kanakenselbsthassnummer, das steht mir
echt bis hier. Was bringt das denn? Bak iste
bunlara oynuyoruz... Cok birsey anladilar
sanki... Lass uns aufhören! Die Schuhe
drücken wie Sau. Die Perücke löst sich auch
langsam auf. Außerdem hab ich Hunger.
SIMPLE LIFE
FESTIVAL
HAMBURGER
KLANGWERKTAGE
FESTIVAL FÜR NEUE MUSIK
TdZ · November 2010
FERIT:
Lass uns Döner essen gehen.
BASTIAN: Döner macht schöner.
FERIT:
Ja man, außerdem ich schwitze, ich
stinke, (ab hier alle Sätze zum Publikum)
hep aynem bok bu teater
HAKIM:
Halas, harra
MARIAM: Immer diese Kopftuchnummer, sexuelle
Befreiung, ich hab keinen Bock mehr eure
Kümmeltürken zu spielen. Ich mach jetzt
‘nen Tarantino-Film...
LATIFA:
Ich will nicht immer geschlagen werden,
ich will eine vernünftige Rolle, wo ich auch
mal die anderen schlage.
HAKIM:
Kacinci oynadigim Kanacke rolü, Hose
runter, Hose runter, sikildim, bitsin artik...
MUSA:
Benim de ... Hep adam vur, döv, öldür...
Normal bir rol oynayamadim ...
Alle reden durcheinander, räumen ihre Sachen zusammen und wollen die Bühne verlassen.
Das Weihnachtsmärchen!
Thilo Reffert
König
Drosselbart
Premiere: 20.11. Theater Koblenz
MERLIN
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Tel. 04137 - 810529
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Epilog
HASAN: (hat die Pistole) Keiner geht hier raus.
(SCHUSS.)
BASTIAN: Was ist denn jetzt mit dir?
MARIAM: Was soll das denn?
MUSA:
Es ist vorbei, komm runter ...
HASAN:
Halt die Klappe, Musa ...
MUSA:
Ich bin kein Musa mehr ...
HASAN:
Doch, bist du ... Bist du! Du bist Musa.
MUSA:
Oh man, komm ...
SONIA:
Tu das mal weg, es is vorbei jetzt ...
FERIT:
Man, ist doch fertig, wir können Döner essen gehen...
HASAN:
Ihr legt euch jetzt hin alle. Alle hinlegen.
BASTIAN: Das ist jetzt doch nicht dein Ernst.
LATIFA:
Tu die Pistole weg, man...
HASAN:
Geb ich die Waffe nicht zurück. Geb nicht
zurück. Gehen wir hier raus, und was dann?
Was passiert dann? Ändert sich gar nichts.
Also will ich, dass das hier mein Leben
lang weiter geht.
HAKIM:
Bitte...
HASAN:
Haltet die Schnauze. Wir spielen weiter.
Räuber.
(SCHUSS.)
HASAN:
Und ich werde Franz spielen. Ich bin Franz
und ich bleibe Franz …
Ich habe große Rechte über die Natur ungehalten zu sein … Warum musste sie mir
diese Hässlichkeit aufladen? Gerade mir
diese Hottentottenaugen?
Was seht ihr in mir? Einen Schauspieler
oder einen Kanaken? Immer noch?
Frisch also! mutig ans Werk! – Ich will
alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin.
Wer hat wann wem was verweigert? Wer
ist Schuld? Was wollen Sie von mir? Das
Einzige was in dieser Schule funktioniert,
ist die Bühne. Theaterbühne! Wir spielen
Theater. Aber was wird aus mir, wenn das
LOLA ARIAS / BECKER & BECKER,
DANCETHEATER CHANG, MOOK WAT E.V.,
DIN A13, DANCE FACTORY ACCRA,
PEEPING TOM, CIE CRÉATION EPHÉMÈRE,
PIPPO DELBONO
WWW.KAMPNAGEL.DE
hier zu Ende ist? Oberstudienrat, wie Sie
Frau Kelich? Ein echter Erfolgskanake?
Oder Ehrenmörder in Alarm bei Cobra 11.
Tja, tut uns Leid, aber Erfolgskanakenkapazität ist gerade zu Ende. Der Kanakentatortkommissar ist schon besetzt. Wie
viele Erfolgskanaken erträgt das Land?
Schwimme, wer schwimmen kann, und wer
zu plump ist, geh unter!
Solang wir spielen geht’s klar. Einziger
Ort, der funktioniert. Und er ist schalldicht. Schalldicht! Hört uns jemand?
Herr muß ich sein, daß ich das mit Gewalt
ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit
gebricht.
Hasan richtet die Pistole auf das Publikum.
SONIA:
(wendet sich zum Publikum) Der Unterricht ist zu Ende.
(SCHUSS.)
Letztes Lied
Alle kommen nach vorne an den Bühnenrand.
Schlaflied
Schlafe mein Kindchen schlaf balde
schließe die Äugelein zu
Vöglein schlafen im Walde
schlafe, nun schlafe auch du
schlafe, nun schlafe auch du
© Nurkan Erpulat und Jens Hillje 2010
A. T. DE KEERSMAEKER,
JÉRÔME BEL
ELBPHILHARMONIE AUF KAMPNAGEL
NOVEMBER
K A MP N A G E L H
A MBURG
61
VERRÜCKTES BLUT_NURKAN ERPULAT UND JENS HILLJE
MUSA:
Ich verspreche, ich mach’s nie wieder.
MARIAM: (tritt zu Musa, legt ihm die Hand auf die
Schulter) Musa hat Reue gespürt. Deshalb
wollen wir ihm eine Chance geben sich zu
bessern. Sie hatten Recht. Ich danke Ihnen dafür, was Sie heute mit uns gemacht
haben.
SONIA:
Jetzt auf einmal, oder was?
MARIAM: Musa hat sich geändert, Frau Kelich. Also
– (zieht Latifa zu sich. Alle stellen sich
hinter Musa) Wir haben uns geändert. Sie
haben uns –
MAGAZIN
Flanieren
Mit „Ciudades Paralelas /
Parallele Städte“ lässt sich
vergleichen, wie sich Alltag
zusammensetzt – etwa durch die
Optimierung von Betriebsabläufen
in Gerardo Naumanns „Fabrik“
im Mercedes-Benz-Werk (oben)
oder durch das Putzen von Hotelzimmern in Lola Arias’ Beitrag
„Zimmermädchen“ im IbisHotel. Fotos Bresadola/Drama
62
„Ciudades Paralelas / Parallele
Städte“ – das Berliner Hebbel am
Ufer als Ausgangspunkt für einen
Parcours auf Reisen
Das neue Projekt der beiden Theatermacher
Lola Arias (Buenos Aires) und Stefan Kaegi (Berlin) ist eine Art wanderndes Festival,
das acht verschiedene Performance-Installationen in mehreren Städten zeigt: Das vom
Berliner Hebbel am Ufer mit dem Schauspielhaus Zürich koproduzierte, von der Bundeskulturstiftung, Pro Helvetia und vom Goethe-Institut geförderte Projekt hatte jetzt in
Berlin Premiere, im November folgt Buenos
Aires, nächstes Jahr Warschau und Zürich.
Die Produktionen der acht beteiligten Künstler werden in allen Städten neu erarbeitet,
den jeweiligen Spielorten und Kontexten angepasst. So eröffnet das Projekt neue Horizonte für ortsspezifische Produktionen, die
gerade mit der Austauschbarkeit funktionaler Orte arbeiten: Bibliothek, Hotel, Fabrik,
Shoppingcenter, Haus, Dach, Bahnhof und
Gericht. Die Touren, welche die Inszenierungen verknüpfen, machen das Theater des
Alltags auf neue Weise erfahrbar.
Insgesamt werden die „Parallelen Städte“
einen Rahmen auch für die Wahrnehmung
von Differenzen schaffen: Ein Gericht in Buenos Aires hat jedenfalls eine andere Geschichte und Atmosphäre als in Berlin oder
Zürich. Schon am einzelnen Ort wird ein vergleichender Blick angeregt: Über dem Eingang zum Festivalzentrum zeigen drei Monitore nebeneinander Bilder der jeweiligen
Orte in Berlin, Buenos Aires und Zürich.
Auch innerhalb einer Stadt machen die Touren den Vergleich der Orte und Situationen
intensiver, als es bei einem beliebigen Mix
von Einzelaktionen der Fall wäre.
Eine kuratorische Handschrift ist durchaus
spürbar, nicht explizit oder gar didaktisch,
sondern in Korrespondenzen. Die Installationen, Rundgänge oder szenischen Situationen fordern uns als Zuschauer heraus –
indem wir zu Akteuren werden, unser Verhalten als Voyeure oder auch als Zeugen reflektieren können und zugleich wahrnehmen,
wie sich gerade das alltägliche Leben in Städten aus zahlreichen parallelen Welten zusammensetzt.
TdZ · November 2010
Am Anfang der ersten Runde steht die Bibliothek mit der Installation „The Quiet Volume“ von Tim Etchells (Sheffield) und Ant
Hampton (London). Die Besucher werden zu
zweit an einem Tisch der Bibliothek platziert
und durch ein Notizbuch sowie über Kopfhörer mit Instruktionen versorgt. Flüsternde Stimmen lassen uns einige Seiten in bereitgelegten Büchern lesen und eine Vielzahl
kleiner Geräusche wahrnehmen: Blättern,
Atmen, Schritte im Hintergrund. Die intensive Reise durch Texte und Atmosphären der
neuen Grimm-Bibliothek der Humboldt-Universität eröffnet einen eher intimen Zugang
zum städtischen Leben im Lesesaal, der –
wie Foucault die „Heterotopie“ beschreibt
– verschiedenste Zeiten und Räume in sich
fassen kann. Im Anschluss geht es ins IbisHotel, wo Lola Arias’ Installation uns mit
dem Leben der „Zimmermädchen“ konfrontiert. Im Akkord putzen die zumeist aus
asiatischen Ländern stammenden Frauen und
Männer die Zimmer der Gäste, die sie kaum
zu Gesicht bekommen. Die Teilnehmer stoßen in den Zimmern auf Spuren: Gegenstände, Bilder, Filme von den Reinigungskräften, die ihren Alltag, ihre Geschichte und
ihre Träume dokumentiert haben. Sie sind
Teil des Ortes, führen aber ein gespenstisches
Schattendasein, das wir ebenso rasch durcheilen, wie hier sonst geputzt wird: zehn Minuten pro Zimmer.
Die zweite Tour „Fabrik“ findet bei Mercedes-Benz in Marienfelde statt, inszeniert von
Gerardo Naumann (Buenos Aires). Die Besucher werden von einem Mitarbeiter zum
nächsten geführt, durch die Verwaltungsetagen bis in die Montagehalle für Automotoren. Wir hören viel über die Optimierung
und Kontrolle jedes Handgriffs, aber auch
über das private Leben der Werktätigen, die
mit ihrem Betrieb hoffnungslos verwachsen
scheinen – eine ebenfalls gespenstische, fast
schon vollautomatische Inszenierung von Effizienz.
Eine Leistungssteigerung für Passanten ist
im Shoppingcenter zu erleben. Die Gruppe
Ligna (Ole Frahm, Torsten Michaelsen und
Michael Hueners) hat in den „Arkaden“ am
Potsdamer Platz eine „kollektive Zerstreuung“ organisiert, durch Anweisungen, die mit
Radios und Kopfhörern zu empfangen sind.
Die Shopping-Mall wird zum Handlungsspielraum. Um „Agent“ für die „Erste Internationale der Shopping Malls“ zu werden, lernen die Besucher: sich unauffällig verhalten, jemand anders werden, den Rhythmus
der Passage spüren und verändern, sich in
Waren einfühlen, Gruppen bilden, auf den
Spuren von Walter Benjamins Flaneur für
eine Stunde subversiv werden. Im Prunktreppenhaus des Amtsgerichts Berlin-Mitte
wird – komponiert von Christian Garcia (Lausanne/Berlin) – ein Wechselgesang vorgeführt, mit dem sich die Sänger wie in einer
liturgischen Prozession allmählich zum Publikum herunter begeben. Im Namen des Volkes regiert die strenge Zeremonie, Gerichtstheater zwischen Kirche und Gefängnis.
Den Blick aufs private Leben lenkt Dominic
Huber (Zürich) mit der Station „Prime Time“
in einem Haus am Mehringplatz: fünf Wohnungen, in denen gleichzeitig die Wohnzimmerlichter aus- und die Fernseher angehen.
Die überwiegend türkischen Familien verbeugen sich auf ihren Balkons vor dem kleinen Publikum, das draußen über Kopfhörer
an ihrem Leben teilnehmen konnte. Noch expliziter mit Zufällen arbeitet Mariano Pensotti (Buenos Aires), der im Hochbahnhof
Hallesches Tor vier Leinwände installiert hat.
Darauf wird als Text projiziert, was die vier
anwesenden Autoren (Jörg Albrecht, Gesine
Danckwart, Anne Habermehl und Tilman
Rammstedt) gerade notieren. Teilnehmer und
Fahrgäste merken allmählich, dass ihr Verhalten lesbar wird: ein Theater des Wartens,
der wechselseitigen Beobachtung.
Auf dem Dach des HAU 2, inszeniert von
Stefan Kaegi, erzählt ein blinder Musiker
(Markus Virck) aus seinem Berliner Leben
und singt uns das Lied von den „unsichtbaren Augen der Dinge“. „Review“ heißt dieser Ausblick auf die nächtliche Stadt, der
auch einen Rückblick auf die am Tag erlebten Orte und Situationen erlaubt. Nicht alle
waren gleichermaßen intensiv, manche hätten länger dauern oder stärker die sozialen
Konstruktionen der jeweiligen Orte thematisieren können. Was die Reise durchs alltägliche Leben eröffnet, ist eine Erfahrung unserer Existenz in parallelen Städten und Welten, Theater unterwegs. Patrick Primavesi
63
MAGAZIN
zwischen Orten und Ländern
Auch wenn das Leben danebengeht
Das 7. GlückAufFest
„Dostoprimetschatelnosti“
der Neuen Bühne Senftenberg
zwischen Bühne und Zuschauerraum und platziert uns – die wir nicht nur die Beobachtenden, sondern auch die Betroffenen sind, anteilnehmend an den Sehnsüchten, Irrtümern,
Zu Gast in der russischen Provinz – bei den
„Drei Schwestern“
(v.l.n.r.) Eva Kammigan,
Juschka Spitzer und
Maria Priestel sowie
Inga Wolff als Natalja.
Foto Steffen Raschke
Nach gut sieben Stunden Theater waren alle
wie besoffen – erleichtert, glücklich, begeistert. Das Konzept des diesjährigen GlückAufFests als Gesamtkunstwerk, nicht nur als
Anhäufung von Einzelstücken, ist voll aufgegangen. Begonnen hatte es mit einer schon
für das Frühjahr geplanten Inszenierung von
Tschechows „Drei Schwestern“: Man fand sie
zu „schade“ für den Repertoirealltag und beschloss, sie zum Ausgangs- und Mittelpunkt
eines nun „Dostoprimetschatelnosti“ (Sehenswürdigkeiten) genannten Überblicks über
russische Dramatik des letzten Jahrhunderts
zu machen, eines ebenso empathischen wie
kritischen Blicks auf Russland als Ort der
Sehnsucht, der Hoffnungen, der Utopien.
„Nach Moskau!“ ist ja auch eine Metapher,
eine weiträumige dazu.
Im Grunde beruht das Konzept auf einem (oder
zwei) sehr schlichten, aber ungemein einleuchtenden Gedanken: dass das „richtige“
Leben immer woanders ist als man selber und
dass – wie es in den „Drei Schwestern“ heißt
– das Leben solchen Spaß macht, auch wenn
es völlig danebengeht. Der durchschlagende
Erfolg des Senftenberger Unternehmens beruht auch darauf, denke ich, dass damit ein
spezifisch ostdeutsches Lebensgefühl berührt
wird. Wir Zuschauer sind zu Gast bei den
Schwestern in der russischen Provinz. Bühnenbauer Tobias Wartenberg setzt die große
Familientafel auf die (aufgehobene) Grenze
64
Selbsttäuschungen der Spielenden – drum herum. Und wir werden selbstverständlich in
den Pausen auch mit Keksen, Tee und Wodka versorgt. Geht Castorf in der Volksbühne
mit seiner neuen Tschechow-Version eher zurück (in Spielweise wie szenischem Outfit an
seine Dostojewski-Inszenierungen anknüpfend), so schaut Sewan Latchinian vorwärts,
quasi via Ibsen (die „Lebenslüge“) auf die Gegenwart, unsere Gegenwart. Und er hat dafür ein wunderbares Ensemble zur Verfügung.
An der Spitze die drei Schwestern Eva Kammigan, Juschka Spitzer und Maria Prüstel.
Ihnen gelingt, auch die psychologischen Nuancen auszuloten, die Ambivalenz in den Beziehungen bzw. Nichtbeziehungen, die offenen und versteckten Animositäten, die oft
schroffen Brüche zwischen Beleidigung und
Umarmung. Anfängliche Hektik und ein gelegentliches Chargieren weichen schnell einem ruhigen, dennoch spannungsvollen Rhythmus von Auf- und Abschwüngen.
Nach diesem Hauptstück des Abends (in der
kräftig-heutigen Übersetzung von Thomas
Brasch, ohne gewaltsame Kürzungen) hat der
Zuschauer die Wahl zwischen vier „Miniaturen“ auf den Probe- und Studiobühnen. Der
Hausherr selber inszenierte Nikolai Erdmans
„Selbstmörder“ als Posse in der StummfilmÄsthetik der Entstehungszeit des Stücks
(1928) mit dem vielversprechenden Senftenberger Neuzugang Marco Matthes als Pod-
sekalnikow. Christoph Schroth entdeckte „Die
Kröte“ des Zeitgenossen Sergej Medwedjew
(1960 geboren), Esther Undisz wiederentdeckte „Zwanzig Minuten mit einem Engel“
von Alexander Wampilow (1962 geschrieben), und Justus Carriere inszenierte als deutsche Erstaufführung „Nächtliche Stimmen“
von Nikolaj Schmeljow (Monolog nach einer
1988 entstandenen Erzählung) mit Sybille
Böversen.
Es hat vermutlich kaum jemanden überrascht,
zum Abschluss des langen Abends im Saal
wieder den Tisch der Schwestern vorzufinden, das ganze szenische Arrangement der
Tschechow-Inszenierung. Auch in Mehrheit
deren Darsteller, die nun zum Finale schreiten: „Na sdorowje!“ vulgo Prost, mit natürlich russischem Liedgut. Auch das eine Zeitreise, von den „Moskauer Abenden“ über
„Kalinka“ (den Hit des legendären Alexandrow-Ensembles) bis zu den aufrührerischen
Liedern Wladimir Wyssozkis und den wodkaseligen Hits der Russendiscos unserer Tage.
Angefeuert von den Musikern von Wallahalla (die schon beim „Selbstmörder“ Akzente
setzten), ging es tief hinein in die russische
Seele. Und es hat funktioniert, das „Konzert“
organisch aus dem Milieu und der Stimmung
der „Drei Schwestern“ heraus zu inszenieren
und damit den Kreis zu schließen, das Gesamtkunstwerk „Dostoprimetschatelnosti“
zum krönenden und bejubelten Abschluss zu
bringen.
Natürlich entsprach auch das Ambiente dem
Thema des Abends, im Zarenzimmer wie an
der Feldküche (mit authentisch russischer Besetzung) gab es Soljanka und Pelmeni, jede
Menge Wodka und Krimsekt und ein augenzwinkerndes Einverständnis zwischen Theatermachern und Besuchern. Ohne prostituierendes Ranschmeißen an das Publikum gelingt eine vertrauensgestützte Begegnung auf
Augenhöhe. Das zu bewirken, ist vielleicht
überhaupt das Wichtigste an den GlückAufFesten, und die sind damit auch ein praktischer Beitrag zur immer noch verkrampften
Diskussion um die Zukunft der deutschen
Stadttheater, um verkrustete Strukturen und
strangulierende Sparzwänge. Wer in diesem
Prozess das Publikum auf seiner Seite weiß,
hat noch nicht gewonnen, aber die bessere
Ausgangsposition. Martin Linzer
TdZ · November 2010
„King Kongo – Eine skandalöse
postkoloniale Revue“ erzählt auf dem
Festival Fidena 2010 in Bochum vom
schweren Erbe eines Landes
Der Gradmesser des internationalen Figurenund Objekttheaters, das Festival Fidena in Bochum, forderte dieses Jahr mit dem Motto
„Let’s get loud!“ programmatisch dazu auf,
sich Gehör zu verschaffen. Passend zum
50. Jahrestag der Unabhängigkeit des Kongos hieß es, dass diese Forderung wohl am
besten von dem Stück „King Kongo – Eine
skandalöse postkoloniale Revue“ erfüllt werden sollte. Es wurde in Kinshasa und Bochum
produziert und feierte nun im Rahmen des
Festivals in der Bochumer Kunstkirche Christ
König Weltpremiere. „Laut wird es auf jeden
Fall und leidenschaftlich wird es auf jeden
Fall“, hieß es dazu von der Festivalleitung.
Laut und leidenschaftlich tanzten und musizierten dann auch schon vor der Premiere einige der vornehmlich jungen kongolesischen
Darsteller durch die Innenstadt Bochums.
Dass sie nicht wie eine multikulturelle Beigabe zu den anderen Projekten des Eröffnungstages wirkten, verdankt sich vor allem
ihrer darstellerischen Kraft. Die Jugendlichen
sind Teil der „Fanfare Masolo“, einer von
Nious Lulemba geleiteten Brassband, die aus
der Arbeit des Kulturzentrums „Espace Masolo“ in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa entstand. Das mittlerweile international renommierte Sozialprojekt bildet auf der
Straße lebende Kinder und Jugendliche in
kreativen Disziplinen aus und bereitet sie
darauf vor, mit künstlerischen Mitteln ihren
Lebensunterhalt zu bestreiten.
Inhaltlich greift die Inszenierung, die u. a. in
Zusammenarbeit mit den Projektleitern des
Gütesiegel Kultur, Stefanie Oberhoff und Lambert Mousseka, entstand, auf verschiedene
Ebenen zurück. Zum einen auf die Inbesitznahme des Kongos durch den belgischen König Leopold II. bei der Berliner Konferenz von
1884/85, die das Land in eine langanhaltende, gewaltsame Repression stürzte. Zum anderen auf die persönlichen Erfahrungen der
Mitwirkenden, die zum Teil noch immer mit
den Auswirkungen dieses Zustands zu kämpfen haben. Eingebettet werden die harten Fakten in eine märchenhafte Geschichte von der
TdZ · November 2010
Entstehung des Menschen, der Gemeinschaft,
der Kultur und der (Kolonial-)Herrschaft.
Die Probe eines königlichen Besuchs bildet
den Hauptteil der Handlung und führt im weiteren Verlauf zu ungekannten Machtspielen,
Streit und Gewalt, stets karikierend überhöht
und mit französisch gesprochenen Kommentaren des kongolesischen Erzählers Hubert
Mahela versehen. Die bewusst subjektive deutsche Dolmetscherin (Stefanie Oberhoff) greift
dessen Rede vor, stellt manches als unglaubwürdig dar und übersetzt frei, sogar aus dem
ihr sonst unverständlichen Lingala. Er wiederum spricht daraufhin deutsch, was die Konstellation ganz ad absurdum führt. Unterhaltsam wird so mit der ernsten Form der rituellen Erzählung gebrochen und zugleich auf
die Schieflage interkultureller Verständigung
verwiesen. Einzig die stets präsente Musik
bleibt unmissverständlich, wobei auch die
Kommunikation via Buschtrommel amüsant
versagt.
Das betont körperliche Spiel der jungen Darsteller, das sich besonders in Initiations- und
Überraschungsmomenten abzeichnet, besticht
besonders durch seine gute Choreografie.
Ebenso wie die Mimik bewegt es sich an der
Grenze des Maskenhaften, rutscht dabei aber
nie ins Lächerliche ab. Die Spieler bieten präzisen, pointierten Slapstick, wenn sie durch
den weitläufigen Saal rennen, klettern und
stürzen und dabei wie nebenher Bilder der
Unterdrückung aufscheinen lassen.
MAGAZIN
Was sonst nicht gehört wird
Zugleich reflektiert sich die Inszenierung
selbst als armes Theater, das sich seiner beschränkten Mittel stets bewusst sein muss.
Die Ausstattung ist karg und muss doch dem
majestätischen Ansinnen genügen. Stöckelschuhe, Bart und natürlich die vieldiskutierte Krone sind nötig für die Wahrwerdung des
Bühnenkönigs. Die Requisiten werden zu Reliquien, mit Bedeutung aufgeladen durch die
Imagination der Probenden. Musikinstrumente werden entfremdet und zum Foltern
und Hinrichten von Widersachern genutzt.
Ihren Höhepunkt erreicht die Aufführung
schon vor dem spektakulären musikalischen
Abgang. Die Darsteller setzen sich nach und
nach auf den Boden der Kirche und berichten
leise und vielstimmig von ihrer eigenen Geschichte. Das Stück pausiert, und das Erzählerduo versucht, all den Stimmen gerecht
zu werden und sie dem Publikum zu übersetzen. Doch nur Bruchstücke dringen durch. Sie
deuten Leid an, lassen aber auch erkennen,
dass es niemals möglich sein wird, alles zu
erfahren. In diesem Moment zeigt sich die
wahre Intensität der Inszenierung. Wenn sie
auch sonst bravourös ihrer Ankündigung gerecht wird und sehr laut, aber vor allem gekonnt auf die politischen und sozialen Hintergründe deutet, so zeigt sich die Stärke vor
allem dann, wenn auf das verwiesen wird, was
nicht gehört oder überhört wird. Gerrit Münster
Laut, leidenschaftlich, aber vor allem
gekonnt – „King
Kongo“ mit
kongolesischen
Jugendlichen beim
Fidena Festival in
Bochum. Foto
Christian Schaubelt
65
etc.
Bücher
„Die Stadt Hamburg ist eine gute Stadt. Hier herrscht
nicht der schändliche Macbeth, sondern hier herrscht
Banko“, kalauerte Heinrich Heine einmal. Lang, lang
ist’s her – und angesichts der jüngsten Erdbeben in
der hanseatischen Metropole, die ihre Kultureinrichtungen rigoros zusammenschrumpft, um im gleichen
Moment eine Kulturtaxe einzuführen, müsste man, in
Heines Manier weitergewitzelt, heute wohl eher von
der Herrschaft „Blankos“ sprechen.
Zugegeben, es gibt bessere Pointen als Banko-Blanko. Und doch ist ihr Niveau noch immer höher als das,
auf dem die Hamburger Jobcenter ihre spezielle Art
von Theater betreiben – nicht in der bedrohten Institution der Hochkultur nämlich, sondern als Hartz-IVMaßnahme. Seit einiger Zeit gibt es in Hamburg den
Prototyp eines „Aktivierungs-Centers in Form einer
Übungsfirma“, eine Bezeichnung, hinter der sich ein
kompletter Fake-Supermarkt inklusive simuliertem
Lagerraum verbirgt. Allen Ernstes werden Jobsuchende hier dazu verpflichtet, maximal neun Monate
lang Supermarkt zu spielen, um sich auf eine eventuelle Tätigkeit als Arbeitskraft bei Lidl oder Aldi vorzubereiten. 85 Hartz-IV-Empfänger fahren 40 Stunden pro Woche (es gibt Stechuhren) mit dem Gabelstapler Warenpakete im Lager hin und her, packen sie
aus oder sortieren sie korrekt in die Regale ein: Käsekugeln, Joghurtpaletten, Eierkartons, Wein und Saft.
Allerdings sind die Käsekugeln aufblasbare Plastikbälle, die Joghurts leer, die Eier aus Schaumstoff und
Wein und Saft in den Flaschen gefärbtes Wasser. Andere Arbeitslose müssen das Kassieren proben; es gibt
eigens angefertigtes Spielgeld, das auch schon einmal
von, ebenfalls eigens angefertigtem, Falschgeld unterschieden werden muss – Simulation in der Simulation. Wieder andere dürfen die Käufer spielen und sich
spätrömischer Dekadenz hingeben: Sie können an einem Tag Tausende Euro Theatergeld für gefakte Waren hinblättern, die sie sich realiter und mit ihren außerhalb des „Übungssupermarkts“ gültigen 359 –
nein, mittlerweile ja 364! – Euro auch in einem halben Jahr nicht leisten könnten. Manchmal wird ein
Ladendiebstahl simuliert. Und der Geschäftsführer des
Schulungszentrums heißt – wahrscheinlich das Einzige, was hier keine Inszenierung ist – mit Nachnamen
auch noch Westerwelle. Wenn es die Realität nicht
schon gäbe, dann müsste man sie erfinden. Wenn allerdings Heine seinerzeit schon das normale Theater
zu den Merkwürdigkeiten Hamburgs zählte (ein Gebäude voller „Hausväter, die sich nicht verstellen können und niemanden täuschen können“) – zu welchen
Spottgedichten hätten ihn erst die Inszenierungskünste
im heutigen Deutschland angeregt. Sebastian Kirsch
Regie: Ruth Berghaus.
Geschichten aus der Produktion.
Hrsg. von Irene Bazinger, Rotbuch, Berlin
2010, 304 S., 22,95 EUR,
ISBN 978-3-86789-117-2.
66
Die Schauspielerin Christine Gloger, die eine
jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Ruth
Berghaus am Berliner Ensemble und an der
Staatsoper verband, erzählt von einer „Lukullus“-Probe, auf der die Berghaus sie fragte: „Ach, kannst du nicht wie ein Schmetterling kommen?“ Also kam Gloger, die in der
Inszenierung die „Kommentierende Frauenstimme“ spielte, als Schmetterling die schmale Feuerleiter herunter: ein unvergesslicher
Auftritt. „Und dann hat sie gelacht und dann
war’s der Schmetterling.“
Es sind diese Momentaufnahmen aus Arbeitsgesprächen und Proben, die in Irene Bazingers Erinnerungsbuch die Regisseurin Ruth
Berghaus lebendig und ihre Ästhetik sinnfällig werden lassen. 1927 in Dresden geboren
und an der Palucca-Schule in Tanzregie und
Tanzpädagogik ausgebildet, hat ihr Weg an
die Oper und zum Theater mit Musik und Choreografie begonnen. Nach ihrem Umzug nach
Berlin arbeitete Berghaus als Choreografin
und Regieassistentin am Theater der Freundschaft, hospitierte am Berliner Ensemble,
lernte dort Paul Dessau kennen und inszenierte dessen „Verurteilung des Lukullus“
1960 an der Staatsoper. 1964 ging sie als
Choreografin ans BE, wo sie es nach Helene
Weigels Tod bis zur Intendantin brachte. Ihre
Zusammenarbeit mit Heiner Müller, Karl Mickel und Einar Schleef trug ihr das Misstrauen
der SED ein, ihre modellfernen Brecht-Inszenierungen Konflikte mit den allwissenden
Erben. 1977 musste sie als Intendantin zurücktreten, und was zum Trauerspiel am
Schiffbauerdamm wurde, erwies sich für die
Oper als Glücksfall. Ruth Berghaus inszenierte ab 1978 in Berlin, Frankfurt am Main,
Dresden, Wien und Hamburg und wurde zu
einer der führenden und umstrittensten Opernregisseurinnen Europas.
Irene Bazinger hat Intendanten, Komponisten, Sänger, Schauspieler und künstlerische
Mitarbeiter aus all diesen Jahren versammelt,
die über ihre Erfahrungen mit Ruth Berghaus
berichten. Darunter finden sich Opernlegen-
den wie Anja Silja und Michael Gielen, Regisseure wie Jürgen Flimm und Hans Neuenfels, Bühnenbildner wie Achim Freyer und
Erich Wonder. Wichtige Stimmen, vor allem
aus den Anfangsjahren in der DDR, fehlen,
manche haben sich verweigert, andere sind
verstummt. Aber selbst für den Leser, der nur
eine der späten Arbeiten von Ruth Berghaus
auf der Bühne sehen konnte, entsteht ein ebenso faszinierendes wie widerspruchsvolles
Kunst- und Lebensbild einer außergewöhnlichen Frau. Es erzählt von einer Zeit, da das
Singen und Spielen noch geholfen hat und der
Orchestergraben noch keine Trennungslinie
zwischen Künstlern und Publikum war. Die
Fotografien von Maria Steinfeldt zeigen, dass
es auch eine heitere Zeit war, allen Repressalien zum Trotz, und die gestrenge Ruth Berghaus ein fröhlicher Mensch. Holger Teschke
Penelope Wehrli: raum partituren.
Ich wohne in der Möglichkeit.
Benteli Verlag, Sulgen 2010, 332 S.,
32 EUR, ISBN 978-3-7165-1615-7.
Penelope Wehrli dürfte den meisten Theatergängern in maximal zweierlei Gestalt begegnet sein. Die meisten mögen sie als Bühnenbildnerin – und hier vor allem als Gestalterin
der kühlen Räume für das aufgeladene Choreografische Theater Johann Kresniks – kennengelernt haben. Vielen ist die in Berlin lebende Schweizerin ebenso als virtuose Arrangeurin medial geschichteter Klang-, Bildund Gehräume bekannt. Sie könnte aber auch
noch anders bezeichnet werden, aufgrund ihres Zugangs zu ihren Figuren, z. B. Orpheus
und Emily Dickinson, und Themen, u. a. Stanislaw Lems „Solaris“ und die Katastrophe
TdZ · November 2010
Bücher
von Tschernobyl, als Poetin etwa, die lediglich mit technologisch avancierteren Instrumenten als Stift und Papier operiert. Frühen
Weggefährten ist sie als Performerin vertraut.
Die kürzlich im Schweizer Benteli Verlag erschienene Monografie „raum partituren. Ich
wohne in der Möglichkeit“ übernimmt nun
die dankenswerte Aufgabe, Wehrli chronologisch in all ihren Gestalten vorzustellen. Sie
entwirft das Bild einer Künstlerin, die sich
systematisch mit den Elementen auseinandergesetzt hat, die das Theater ausmachen:
Körper, Blick, Klang, Wort, Raum, Material, Bewegung, Zuschauer, Kommunikation.
Wehrli ist in dieser jahrzehntelangen Tour de
Force auf dem Planeten der darstellenden
Kunst nicht nur zu bemerkenswerten Positionen gelangt. Die Publikation, die diese präsentiert, erweckt sogar die Lust, mit all diesen neu konfigurierten Elementen auf einmal
zu spielen und so die Möglichkeiten eines
Theaters der Zukunft auszuloten. Insofern ist
„raum partituren“ mehr als eine Künstlermonografie. Es ist ein Manifest.
Das Buch setzt in den 80er Jahren ein, als
Wehrli mit Aufhänge-Performances im Stile
Stelarcs auf sich aufmerksam machte. Zwar
rammte sie sich nicht wie der spätere Prothetiker die Haken ins nackte Fleisch (sie hing in
Seilen und Netzen), aber der damals verbreitete Ansatz, sich erstens den normativen Kräften der Welt – wie etwa der Schwerkraft – zu
entziehen, zweitens durch Stillstellung und
Neupositionierung des Körpers zu neuen künstlerischen Positionen zu gelangen, drittens das
Bewusstsein für den Ort, an dem das Ereignis
sich vollzieht, zu wecken und viertens Realräume und Kunsträume füreinander durch-
TdZ · November 2010
aufgelesen
lässig zu gestalten, wird offensichtlich. Die Verfahren zur Organisation des Blicks und der
Schichtung von visuellen Elementen, die Wehrli in ihren frühen Performances entwickelt hat,
finden sich dann auch in den „klassischen“
Bühnenarbeiten ab 1990 wieder. Sie staffelt
und rahmt die Tänzer („Frida Kahlo“, „Ulrike Meinhof“). Sie schafft gleißende, sowohl
abweisende wie durch Spiegelung das Geschehen wieder inkorporierende Flächen
(„Francis Bacon“). Sie erobert die Vertikale
(„Gastmahl der Liebe“, „Norma“) und inszeniert die Vervielfältigung der Objekte („Antonin Nalpas“). Sie (wieder-)entdeckt die leere Raummatrix („Kaspar“) und kreiert ein
Palimpsest aus Raumschichten („Platonov“).
All diese Verfahren setzt sie ab 1998 – konsequenter und radikaler – in ihren eigenen
multimedialen Räumen ein. Bild, Performer,
Klang und Sprache sind nun gleichberechtigte Elemente in einem Handlungs- und Assoziationslabyrinth. Manchmal fragte man sich
als durch diese Räume Stromernder allerdings, ob die Fülle der Überlagerungen nicht
der Angst vor dem Erkennen einer Haltung
geschuldet ist. Der auch in der Monografie
wiederholt platzierte Imperativ „Zuschauer,
konstruiere selbst deinen Abend!“ ist banal.
Denn, mit den sich überlagernden Stimmen
des Kommunikationswissenschaftlers Paul
Watzlawick und des Neurobiologen Umberto
Maturana gesprochen: Wir können nicht nicht
konstruieren; selbst dann nicht, wenn wir in
einem Theaterraum sind. Wer das SelberKonstruieren als Quintessenz von Wehrlis
Kunst ausgibt, wird deren Potenzial nicht gerecht. Es gelingt ihr nämlich, mit ihren gestochen scharfen Bildern jene Unbestimmbarkeit und Rätselhaftigkeit zu erzeugen, die
Marshall McLuhan am unscharfen Gepixel
des frühen Fernsehens so sehr begeisterte,
dass er ihm aufgrund der Kognitionsarbeit des
Betrachters das Attribut des „kühlen“ Mediums zuerkannte. Und mit ihren Kommunikationsanordnungen wie etwa „Aether“ oder
„Kriegshörplatz“ führt sie das Theater in jene
kommunikativen Weiten, die real wie digital
durchsetzt sind und neue Versammlungsformen für globale Nomaden ermöglichen. Penelope Wehrli lädt ein, in den Möglichkeiten
zu wohnen. Man muss nur noch mitwohnen
wollen. Tom Mustroph
Der Suhrkamp-Verlag ist immer wieder für Überraschungen gut. Jetzt bringt er – 53 Jahre nach ihrer
französischen Erstveröffentlichung – die erste vollständige Ausgabe von Roland Barthes’ „Mythen des
Alltags“ auf den Markt (326 S., 28 EUR), ein Werk,
das bislang in ein schmales Suhrkamp-Bändchen gepresst war. Nun kann man ja getrost sagen, dass die
„Mythen des Alltags“ in einem halben Jahrhundert
selbst mythischen Charakter angenommen haben (in
Intellektuellenkreisen selbstredend). Umso erstaunter
dürfte also sein, wer das französische Original nicht
kennt und jetzt den neuen, schönen, dicken Hardcoverband mit dem zerfledderungsanfälligen Taschenbüchlein von vor Jahr und Tag vergleicht: Erklärte damals eine Herausgebernotiz, dass in der deutschen Ausgabe „einige kürzere Texte des ersten Teils“ fortgelassen
wurden, „deren Thematik und Bedeutung einem mit
den Verhältnissen in Frankreich wenig vertrauten Leser nur unzureichend sich erschlossen hätten“, so stellt
sich jetzt plötzlich heraus: Ganze 34 von insgesamt 53
Alltagsmythologien enthielt man einst dem deutschen
Publikum vor! Und es braucht schon höhere barthessche Dechiffrierkunst, um herauszubekommen, welche
mythischen Vorstellungen vom deutsch-französischen
Verhältnis 1964 geherrscht haben müssen, dass grandiose Lesestücke etwa über die „Welt des Catchens“,
die „Marsmenschen“ oder über „Seifenpulver und Detergenzien“ den Deutschen nicht zugetraut wurden.
Nun, dafür scheint die bald viermal so teure neue Ausgabe, auf deren Umschlag – natürlich – nach dem berühmtesten Text der Citroën DS 19 in Serie prangt,
laut auszurufen: „Roland Barthes, zum ersten Mal
ganz und vollständig“, und sich mit der ganzen Autorität des Klassikers auf den alten draufzusetzen. Es ist
schon ein verflixtes Ding um die Mythenbildung.
Um dieser auf die Spur zu kommen, sind die „Mythen
des Alltags“ allerdings noch immer unerlässlich. 53
hinreißend scharfe Texte, die allesamt darauf abzielen, das zu entwickeln, was man mit dem – damals für
Barthes ausschlaggebenden – brechtschen Vokabular
die „Zuschaukunst“ nennen könnte; und dann der berühmte theoretische Anhang, der die Methode systematisiert und erklärt, was es mit dem Mechanismus
des (Trivial-)Mythos auf sich hat: Ein zweites semantisches System besetzt das erste, in dem ein Gegenstand steht, und naturalisiert dieses dabei, verwandelt
also die Geschichte des Dings in scheinbare Selbstverständlichkeit. Wenn sich seitdem die Theorie auch
verfeinert hat: Barthes’ „Mythen des Alltags“ waren
und sind noch immer eine der elegantesten Sehschulen, die je eingerichtet wurden. Sebastian Kirsch
67
RADIOVORSCHAU
Hingehört von Gerwig Epkes
Frau Kitty Warren führt einen getarnten Bordellbetrieb. Selbst einst Prostituierte – durch
soziale Not dazu gezwungen –, zog sie ihre
Tochter Vivie mit dem „unmoralisch“ verdienten Geld groß. Als diese davon erfährt,
ist sie schockiert über die Unmoral ihrer
Mutter. Kitty Warren ist ihrerseits schockiert
über das Verhalten ihrer Tochter. Die puritanische Erziehung und Ausbildung in Cambridge haben also nicht nur Tochter und Mutter entfremdet, sondern auch das Gefühl von
Dankbarkeit verhindert. Vivie verlässt ihre
Mutter, will auch nicht durch Heirat ihren
Lebensunterhalt sichern, sondern durch eigene Arbeit. 1893 schrieb George Bernard
Shaw dieses Schauspiel, das erst 1926 in
England Premiere hatte. Die sozialen Ursachen der Prostitution mussten genauso beflissen vertuscht werden, wie die Bordelle nur
getarnt funktionieren konnten. „Frau Warrens Gewerbe“ von George Bernard Shaw
Andrea Maria Schenkel
KALTEIS
4 D, 3 H
Bühnenfassung: Anna Wenzel
UA: frei
In einem Rausch war ich,
… wie ein wildes Tier, …
ich bin wieder los …
immer wieder.
THEATERSTÜCKVERLAG · Korn-Wimmer
München · Tel. +49/(0)89/36101947
www.theaterstueckverlag.de
ist ein Theatermitschnitt des Senders RIAS
aus dem Jahre 1955, den der berühmte Theaterjournalist Friedrich Luft für die damaligen Sendereihen „Wir gehen ins Theater“
und „Mit dem RIAS ins Theater“ besorgte.
Produktion: RIAS 1955. Frau Warrens Gewerbe, MDR Figaro, Montag, 1. November
2010, 22.00 Uhr.
Die hohen Weihen der Kunst des Glücklichseins – das sucht eine Truppe junger
Schauspieler im alten Babylon. Nirgends
aber scheint das Glück von Dauer. Der Regisseur Jörg Jannings, der im November seinen 80. Geburtstag feiert, setzte George Taboris Hörspiel Wie man glücklich wird, ohne
sich zu verausgaben um. Produktion: RIAS/
SWF 1991. Deutschlandfunk, Samstag, 13.
November 2010, 20.05 Uhr.
Leo Tolstoi beginnt 1890 ein Stück zu schreiben: „Und das Licht scheint in der Finsternis“. Es soll eine dramatische Autobiografie werden, bleibt jedoch unvollendet. Interessant ist, dass Tolstoi darin seine
dramatische Flucht in ein Dasein ohne Besitz und Familie vorwegnimmt, die er 1910
dann selbst vollzog. Das Stück behandelt
aber nicht nur seine Konflikte in Leben und
Werk, sondern Probleme, die auch heute noch
aktuell sind. Zum 100. Todestag von Leo Tolstoi: Und das Licht scheint in der Finsternis.
Von Leo Tolstoi. Hörspielbearbeitung von
Gerhard Ahrens. Produktion: DLF 2010.
Ursendung. Deutschlandfunk, Samstag, 20.
November 2010, 20.05 Uhr.
Joël Pommerat gründete vor 20 Jahren die
Compagnie Louis Brouillard. 20 selbstgeschriebene Theaterstücke brachte er bisher mit
der Truppe zu Uraufführungen, stets unter eigener Regie. Der Saarländische Rundfunk hat
viele seiner Stücke als Hörspiele adaptiert. So
auch „Die Händler“. Es geht um die Beschäftigten einer ganzen Region, die von der
Arbeit bei der Waffenfirma Norscilor leben.
Auch eine junge Frau, alleinerziehende Mutter eines neunjährigen Sohnes, möchte bei dieser Firma arbeiten. Nun erscheint sie aber allen etwas seltsam. Auch Norscilor. Deshalb
wird sie nicht eingestellt. Als eines Tages jedoch der Standort von Norscilor geschlossen
zu werden droht, kann nur eine alle Arbeitsplätze retten. Die Händler. Von Joël Pommerat.
Aus dem Französischen von Bettina Arlt. Produktion: SR 2008. SR2 Kulturradio, Donnerstag, 25. November 2010, 18.00 Uhr.
Der liberale jüdische Arzt Bernhardi hindert
im Wien um 1900 einen katholischen Priester daran, einer jungen Frau die letzte Ölung
zu erteilen. Bernhardi möchte vermeiden,
dass der Frau, die sich nach einer Abtreibung in einem kritischen Zustand befindet,
bewusst wird, dass sie in Lebensgefahr
schwebt. Eine antisemitische Kampagne gegen Bernhardis menschliche Entscheidung
ist die Folge. Er erhält Berufsverbot und zwei
Monate Kerkerhaft. Bernhardi wird zur
Galionsfigur der Liberalen. Professor Bernhardi. Von Arthur Schnitzler. Produktion:
DRS 1966. WDR 3 Bühne: Radio, Sonntag,
28. November 2010, 20.05 Uhr.
Culturescapes China:
Shanghai Lounge | Jin Xing Dance Theatre & Liquid Loft/Chris Haring 9 NOV 10
RMB City Opera | Cao Fei 11 & 12 NOV 10
Young Choreographer‘s Project | Zhang Mengqi, Xiao Ke, Tao Dance Group, He Yufan 16 NOV 10
Heiler werden | CapriConnection & Treatment | Living Dance Studio
17 & 19 NOV 10
Memory | Living Dance Studio 21 NOV 10
KASERNE BASEL / KLYBECKSTRASSE 1B / 4005 BASEL / SCHWEIZ / WWW.KASERNE-BASEL.CH
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TdZ · November 2010
Linzers Eck (29)
E
inen Monat nach dem 20. Jahrestag der Beitrittszeremonie
war nicht zu erwarten, dass der
21. Jahrestag der Demonstration auf dem Alexanderplatz öffentliches Interesse finden würde. Aber da warf
Christoph Links, dessen Verlag sich – seriös
und wissenschaftlich fundiert – an der Geschichte der DDR abarbeitet, ein Büchlein auf
den Markt, das die Vorgeschichte der legendären Demo dokumentiert. Ein Tontechniker
des Deutschen Theaters hatte am 15. Oktober 1989 die Veranstaltung mitgeschnitten,
die von einer Gruppe Berliner Schauspieler
(vom DT dabei Thomas Neumann, Johanna
Schall, Jutta Wachowiak) als „Protestversammlung“ gegen die brutalen Übergriffe von
Stasi und Polizei auf friedliche Demonstranten am 7. und 8. Oktober geplant war und mit
dem Antrag auf Genehmigung einer Demonstration am 4. November endete. Der Archivar des DT, Hans Rübesame, hat erst später den unter Verschluss gehaltenen Mitschnitt
entdeckt, ihn transkribiert, vom damaligen
Moderator der Versammlung Thomas Neumann prüfen lassen, und Christoph Links hat
ihn gedruckt, mit einem ausführlichen Vorwort des Herausgebers.
Das ist ein ebenso erstaunliches wie auch anrührendes Dokument, das die gesellschaftliche Stimmung der Wendezeit, also der wundersamen Zeit der Anarchie zwischen dem 7.
Oktober, dem aus dem Ruder gelaufenen 40.
Jahrestag der Gründung der DDR, und dem
9. November, dem Tag der Maueröffnung, authentisch wiedergibt: den Zorn der Dagebliebenen auf die Agonie und den Zynismus der
honeckerschen Gerontokratie (die den massenhaft Flüchtenden „keine Träne nachweiTdZ · November 2010
nen“ wollte), ihre Unsicherheit im Umgang
mit der neuen, zwar herbeigesehnten, aber sie
überfordernden Situation, ihre Hoffnungen
auf einen Neuanfang – aber doch im Sinne
eines reformierten, menschenfreundlichen Sozialismus. Noch galt: Wir sind das Volk! Noch
nicht: Wir sind ein Volk! (Heiner Müller: Ich
bin Volker.) Forderung der Alex-Demo war
der Respekt vor den Artikeln 27 (Meinungsfreiheit) und 28 (Versammlungsfreiheit) der
Verfassung der DDR, nicht der Ruf nach Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD.
Die Dokumentation der hitzigen, manchmal
auch hektischen Diskussion im DT erinnert
daran, dass es auch in den Großbetrieben der
DDR gärte (Kollegen vom VEB BergmannBorsig meldeten sich zu Wort), dass es auch
in anderen Kunstbereichen Protest gab, sich
Widerstand regte (bei den Rockmusikern wie
bei den bildenden Künstlern), dass das Neue
Forum schon aktiv war (der von Jutta Wachowiak mitgebrachte Antrag auf Genehmigung einer Demonstration kam aus deren Reihen), sie erinnert auch daran, dass ein junger
Rechtsanwalt, Gregor Gysi, professionelle Hilfe anbot, aber sie erinnert vor allem daran,
dass es Theaterleute waren, die den Protest
öffentlich machten und sich selber die „Bühne“, also den Alexanderplatz organisierten.
Wobei es gewiss kein Zufall ist, dass die Initiative vor allem aus Theatern kam, die auch
in ihrer Arbeit, mit ihren Projekten den Finger in die offenen Wunden des real existierenden Sozialismus gelegt hatten. Aus dem
Deutschen Theater, wo Heiner Müller 1988
den „Lohndrücker“ inszenierte, auch gestützt
durch die Autorität des Intendanten Dieter
Mann; aus dem Maxim Gorki Theater, wo Thomas Langhoffs Inszenierung von Brauns
Foto Holger Herschel
Ich stelle den Antrag, die Demonstration zu
beantragen oder Wie es zum 4. November 1989 kam.
Eine Buchempfehlung
„Übergangsgesellschaft“ die Zuschauer aktivierte; aus Dresden, wo Wolfgang Engel mit
den „Nibelungen“ nicht nur die deutsche Vergangenheit befragte, wo in Christoph Heins
„Ritter der Tafelrunde“ sich die abgewirtschaftete Altherrenriege der Partei abgespiegelt sah. Die Dresdner Resolution aus jenen Tagen „Wir treten aus unseren Rollen heraus“ war das wahrscheinlich klarsichtigste
Pamphlet, das die Wende mit vorbereitete.
An vielen Orten hatten Theaterleute politische
Verantwortung übernommen – und damit auch
ihren Beruf richtig verstanden, nicht nur passive Chronisten ihrer Zeit zu sein. Zeitgleich
mit der Demo auf dem Alexanderplatz fand
eine Kundgebung in Wittenberg statt, Theaterleute initiierten Demos in Dresden, Erfurt,
Frankfurt (Oder), Karl-Marx-Stadt, Rudolstadt, in Schwedt dann am 19., in Schwerin
am 20. November.
Und heute? Da bin ich fast gerührt, wenn sich
ein bekannter Fernsehkommissar auf die Seite der Gegner von „Stuttgart 21“ stellt. Und
erfreut, wenn sich Berliner Theaterschaffende für den Erhalt des Kulturstandorts Thälmann-Park engagieren, auch wenn es da nicht
um ihre eigenen Brötchen geht. Ich erwarte
auch gar nicht mehr, dass die Schauspieler
wieder auf die Straße gehen, wenn sie nur in
ihrem Kerngeschäft, also auf der Bühne, Flagge zeigen würden. Aber das ist nun, mit meinem Kritikerkollegen Theodor Fontane zu
reden, ein weites Feld. Martin Linzer
Apropos, die Buchempfehlung: „Antrag
auf Demonstration. Die Protestversammlung
im Deutschen Theater am 15. Oktober 1989“,
hrsg. von Hans Rübesame, Christoph Links Verlag,
Berlin 2010, 156 Seiten, 19,90 EUR.
69
PREMIEREN 2010 | 2011
Eine Auswahl
Oliver Kluck
Warteraum Zukunft
Nationaltheater Weimar, Schauspielhaus
Salzburg, Junges Theater Göttingen
–
Pedro Almodovar / Samuel Adamson
Alles über meine Mutter
Theater Osnabrück
–
Philipp Löhle
Die Überflüssigen
Schauspielhaus Wien, ÖE
–
Ralf Westhoff
Shoppen
Winterhuder Fährhaus
–
Philipp Löhle
Die Unsicherheit der Sachlage
Theater St. Pölten, ÖE
–
Jordi Galceran
Die Grönholm-Methode
Schauspiel Essen, Noordtheater Antwerpen,
BE, Volkstheater Wien, Theater Kanton Zürich
–
Laura de Weck
Lieblingsmenschen
Gostner Hoftheater
–
Lilian Groag
Die weisse Rose
Fritz-Rémond-Theater im Zoo,
Stadttheater Bruneck
–
Oliver Schmaering
Trailer für die nahe Zukunft
Theater Plauen, UA
–
Moises Kaufman
33 Variationen
Volkstheater Wien, Tournee des Euro-Studios
Landgraf
–
Franca Rame / Dario Fo
Offene Zweierbeziehung
Theater der Jungen Welt Leipzig, Vereinigte
Bühnen Bozen, Theater der Altmark Stendal
–
Volker Ludwig
Linie 1
Theater Lüneburg, Schleswig-Holsteinisches
Landestheater, Kammertheater Karlsruhe,
Landestheater Linz
–
Holger Schober
Clyde und Bonnie
Theater Aachen, Theater Hagen,
Theater Lübeck, Theater Schloss Maßbach,
de Toneelmakerij
–
Mike Kenny
Der Junge mit dem Koffer
Hans-Otto-Theater Potsdam, DSE,
Theater der jungen Welt Leipzig,
Nationaltheater Mannheim
–
Jonas Hassen Khemiri
Fünf mal Gott
Theater Biel-Solothurn, DSE
–
David Pharao
Der Gast
Theater Krefeld-Mönchengladbach
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70
Große Liebe?
Hans Fallada
Kleiner Mann, was nun?
Eigenbearbeitung möglich
Nora Ephron / Marcy Kahan
Harry und Sally
3D, 4H, Statisten
Thomas Richhardt
Bonnie und Clyde
1D, 2H
Samuel Taylor
Sabrina
5D, 5H, Nebendarsteller
Eva Rottmann
Eidechsen und Salamander
4D, 3H
Jan Liedtke
Kamikaze Pictures
1D, 2H, 1 Stimme
Carole Fréchette
Das kleine Zimmer im ersten Stock
4D, 1H, frei zur DSE
Jonathan Harvey
Beautiful Thing
2D, 3H
Shaun McKenna
Diktat der Leidenschaft
4D, 5H, frei zur DSE
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Telefon 030-313 90 28 Telefax 030-312 93 34
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TdZ · November 2010
Wo wird bei Ihnen gespart? Eine Frage und acht Antworten
Baden-Württemberg:
„Musterländle“ der Kultur
Eigentlich versteht das Land derzeit nur Bahnhof – mit Blick auf „Stuttgart 21“. Was die
Theateretats des Landes 2008 bis 2010 angeht, so wurden sie „nicht nur gehalten, sondern auch ausgebaut“, sagt Kulturstaatssekretär Dr. Dietrich Birk. Dennoch: Zwei Zitate aus dem „Musterländle“ der Kultur
werfen Schlaglichter auf die disparate Situation. Während Hasko Weber, Intendant des
Staatsschauspiels Stuttgart, das momentan
für 24 Mio. Euro generalsaniert wird, meint,
das, was das Land und Stuttgart derzeit für
die Kultur und besonders für die Staatstheater leisten, sei „im bundesweiten Vergleich
einzigartig“, gesteht Enrico Urbanek, Intendant der Reutlinger Kleinbühne Die Tonne, einer städtischen GmbH mit einem Etat von
rund 900 000 Euro: Die Tonne ist nicht im
Deutschen Bühnenverein, denn würde das
Theater Tarif zahlen, „könnten wir gleich zumachen“. Otto Paul Burkhardt
Hamburg:
Zur Musical-Boomtown degeneriert
„Hey Stuth, don’t make it bad“, protestieren
und spotten die Kulturschaffenden in der Hansestadt Hamburg mit Galgenhumor über blamablen Politiker-Dilettantismus. Bürgermeister Ahlhaus und Kultursenator Stuth
planen, die Subventionen des Deutschen
Schauspielhauses um 1,2 Mio. Euro – die Hälfte des künstlerischen Etats – zu kürzen. Interimsintendant Jack Kurfess, ein erfahrener
Rechner, sieht das größte deutsche Sprechtheater existenziell bedroht. Auch die Privatbühnen müssen mit Kürzungen in Höhe von
700 000 Euro ihrer gerade aufgestockten Förderung rechnen, denn um bis zu 10 Mio. Euro
will die „Kulturmetropole des Nordens“ ihre
Ausgaben für die Kunstinstitutionen senken.
Eine Katastrophe für die endgültig zur Musical-Boomtown degenerierte Hansestadt. Klaus Witzeling
Hessen: Alle wurden errettet!
Aus Klaus Wowereits „Berlin ist arm, aber
sexy“ macht Dieter Buroch, Frankfurts Mousonturm-Intendant: „Frankfurt ist heute nicht
nur sexy, es hat auch das nötige Geld dazu.“
Recht hat er – und das gilt für die Rhein-MainTdZ · November 2010
Region gleich mit. Sogar neue Geldtöpfe wie
der Kulturfonds Frankfurt Rheinmain sind
aufgetaucht und finanzieren von Burochs erfolgreicher Tanzoffensive über die Studioförderung am Schauspiel Frankfurt bis zum
Frankfurt-Lab manche Wunschkinder mit. Die
Schließungen des TAT und von Ballett Frankfurt (2004–2005) sind fast so vergessen wie
der Kulturdezernent, der sie umsetzte. Frankfurts Kulturpolitiker wollen ihr Theater und
ihre Kultur. Wiesbaden und Darmstadt geht
es ähnlich gut. Fast möchte man meinen, es
sei doch noch eingetroffen, wovon William Forsythes Tänzer in ihrem Abschiedsstück 2005
nur träumen konnten: „In der letzten Sekunde der Ära dieses Prinzen ist ein Wunder passiert, und alle wurden errettet!“ Marcus Hladek
Mecklenburg-Vorpommern:
Ein vorprogrammiertes Fiasko!
Im Nordosten Deutschlands scheint die Landespolitik noch mehr als anderswo zu glauben, sie allein bestimme die Konditionen, unter denen Theater gemacht werden kann. Eine
bürokratische, phantasielose, die Kunst selbstherrlich missachtende Art und Weise des Umgangs mit den Theatern prägt die Kulturpolitik Mecklenburg-Vorpommerns. Die Theater
sind in all diese Fusionsplanspiele gar nicht
erst einbezogen worden. Die auf dem Papier
bereits bestehenden „Kulturkooperationsräume“ – sinnlose Großstrukturen für einen Theaterverbund von Neubrandenburg bis Putbus –
sind für die Kulturpolitik Mecklenburg-Vorpommerns das, was „Stuttgart 21“ für die
Bahn ist. Ein vorprogrammiertes Fiasko! Gunnar Decker
Niedersachsen: Die Szene lebt
Schon fast beängstigend ruhig geht es in der
niedersächsischen Kulturszene zu. Oder ist sie
bereits in Todesstarre verfallen? Nein, nein:
Die staatlichen Häuser in Hannover, Braunschweig und Oldenburg machen nach wie vor
spannendes Theater. Und das größte kommunale Theater in Osnabrück macht ohnehin von
sich reden – nicht weil Geld fehlt, sondern
weil’s auf der Bühne rundgeht. Und als die
Kulturverwaltung der freien Szene in der drittgrößten Stadt Niedersachsens an den Kragen
wollte, formierte sich lautstarker Protest, und
Die Kontrakte des Kaufmanns; Schauspiel Köln. Foto David Baltzer
Aus den Korrespondentenbüros
die Sparkommissare ruderten zurück. Ganz
klar: Die Szene lebt. Ralf Döring
Sachsen:
Lieber beim „Provinztheater“ sparen
Sächsische Finanzminister, angefangen bei
Milbradt bis hin zu Unland, hätten die Landesbühnen Sachsen, die einzige deutsche Landesbühne in reiner Landesträgerschaft, schon
immer gern der Kommune aufgehalst. Der
Haushaltentwurf 2011/12 macht damit Ernst:
Lieber beim „Provinztheater“ eine Sparte
schließen, als die acht Kulturräume für die
Mitfinanzierung der Landesbühnen nun 7 Mio.
Euro abgeben zu lassen. Michael Bartsch
Sachsen-Anhalt: Ebbe und etwas Hub
In Sachsen-Anhalts Kassen herrscht Ebbe, mit
Hoffnung auf ein wenig Hub: Während der Intendant des Anhaltischen Theaters in Dessau,
André Bücker, Hoffnung schöpft, städtische
Kürzungen ab 2013 noch rechtzeitig abwehren zu können, ist es in Halle fünf vor zwölf.
Das Thalia Theater, größtes Kinder- und Jugendtheater des Landes, soll geschlossen werden. Wenn nicht kurzfristig ein Haustarifvertrag zustande kommt, sogar bereits zum Ende
der laufenden Spielzeit. Christian Horn
Schleswig-Holstein: Fällt der Vorhang
endgültig?
„Rettet das Landestheater“, schallt der Hilferuf durch Schleswig-Holstein. Bastelt die
Verwaltung in Kiel zunächst noch vorsorglich
an Szenarien, wie das Theater Kiel nach 2012
dastehen würde, wenn bis zu 3 Mio. Euro an
Subventionen eingespart werden müssten, so
könnten zu diesem Zeitpunkt in den drei Landesbühnen mit 950 Beschäftigten die Lichter
bereits ausgegangen sein. Der neue Intendant
des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters
Peter Griesbach muss mit einer Finanzierungslücke von 600 000 Euro starten und sieht
2012 den Vorhang endgültig fallen, wenn sich
das Land weiterhin weigert, die Tariferhöhungen auszugleichen. Klaus Witzeling
71
Heiner Goebbels wird nach einer Entscheidung der Kultur Ruhr GmbH neuer Intendant der Ruhrtriennale für die Spielzeit
2012 bis 2014. Der 58-Jährige leitet das Institut für angewandte Theaterwissenschaften
an der Justus-Liebig-Universität Bonn und
komponiert und inszeniert Hörstücke, Konzerte, Stücke für Ensembles und Musiktheaterstücke.
Dem Theaterregisseur Christoph Schroth
wurde für sein berufliches Engagement das
Bundesverdienstkreuz verliehen. Schroth arbeitete am Maxim Gorki Theater und inszenierte an der Berliner Volksbühne und am Landestheater Halle/ Saale. 1974 bis 1989 war
er Direktor des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, bevor er für zwei Jahre
zum Berliner Ensemble ging. 1992 bis 2003
war er Intendant des Staatstheaters Cottbus.
Seither ist er Freiberufler. Ebenfalls ausgezeichnet wurden der Filmregisseur Fatih Akin
und die Schauspielerin Katja Riemann.
Die Hamburger Kultursituation spitzt sich
zu: Nachdem Schauspielhaus-Intendant Schirmer wegen der angekündigten Einsparungen
um 330 000 Euro Ende September zurückgetreten ist und die Kürzungssumme von Senator Stuth auf 1,2 Mio. Euro nach oben korrigiert wurde, formiert sich in der Stadt eine
stärker werdende Protestbewegung. Während
der Uraufführung von Volker Löschs „Hänsel
und Gretel gehn Mümmelmannsberg“ ging das
Stück in eine Auflehnungsbekundung vieler
Bühnenangehöriger über und erweckte Zustimmung seitens des Publikums. Mit Musikern, Künstlern und Bürgern der Stadt soll in
den kommenden Wochen der Protest gegen die
Einsparungen organisiert werden.
BRUT IM +~NSTLERHAUS „ UND /KTOBER
UND .OVEMBER 5HR
Doris Uhlich „ 2ISING 3WAN
brut im Konzerthaus
11. bis 14. November, 20 Uhr
Dramatikerinnen und Dramatiker aus ganz
Europa sind aufgefordert, neue Stücke für den
Stückemarkt des Theatertreffens 2011 einzusenden. Unter dem Motto „Erkenne dich
selbst, verrate den anderen“ werden Texte gesucht, die zu den Schieflagen unserer Gegenwart Stellung beziehen und neue Impulse für
das Theater liefern. Der Stückemarkt verleiht
zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung den mit 5000 Euro dotierten
Förderpreis für neue Dramatik und den mit
7000 Euro dotierten Werkauftrag des tt
Stückemarkts. Bewerbung bis 01.12. unter:
www.stueckemarkt.de
Leichter Besucheranstieg für staatliche
und städtische Theater in der Spielsaison
2008/09: Laut Statistik des Deutschen Bühnenvereins hatten die Stadt-, Staatstheater
und Landesbühnen 1,7 Prozent mehr Besucher als in der Vorsaison. Die Gesamtbesucheranzahl für alle Theater und Orchester lag
bei etwa 31,1 Mio. Die Zahl der Mitarbeiter,
der Abendgäste und der produktionsbezogenen Gastverträge nahm ebenfalls zu. Die Statistik umfasst die Angaben von 144 Stadtund Staatstheatern, Landesbühnen, 129 Orchestern, 196 Privattheatern und 33 Festspielbetrieben.
Der Aufsichtsrat der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle hat am 8. Oktober die
Schließung des Thalia Theater beschlossen.
Um die Umsetzung des Beschlusses hinauszuzögern, sprach sich der Aufsichtsrat gleichzeitig für die Aufnahme von Haustarifvertragsverhandlungen aus. Im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen wird das Thalia
Theater zum Ende der Spielzeit 2010/2011
geschlossen und das Ensemble aufgelöst.
brut im Künstlerhaus
.OVEMBER BIS $EZEMBER 5HR
05331.808-417
Wie erst jetzt bekannt wurde, starb nach
langer Krankheit am 17. August in Bremen
die Begründerin des Litag Theaterverlags Angela Kingsford Röhl. Nach mehreren Engagements als Schauspielerin und Dramaturgin
gründete sie 1978 den Verlag, mit dem sie
speziell englischsprachige, aber auch deutsche
und später auch israelische Stücke des zeitgenössischen Theaters aufnahm.
Der Schweizer Schauspieler Renato Grünig, der die Bremer Shakespeare Company
mitbegründet und die Kulturszene der Stadt
geprägt hat, ist am 28. September im Alter
von 64 Jahren gestorben. Grünig stand mehr
als 30 Jahre lang mit der Shakespeare Company, aber auch im Theater am Leibnitzplatz
und bei mehreren Gastspielen in ganz Europa
auf der Bühne. Seit 2007 war er Mitglied des
Ensembles des Lübecker Theaters.
Erratum
Die Übersetzung des Textes „Ein Stern für
die Schiffbrüchigen“ (10/10, S.43) aus dem
Französischen stammt von Kira Taszman.
Gin/i Müller
brut im Künstlerhaus
18. bis 20. November, 20 Uhr
Who shot the Princess?
"OXSTOP 4ELENOVELAS
TESTAMENT
She She Pop und ihre Väter
Verspätete Vorbereitungen zum
Generationswechsel nach Lear
Ann Liv Young „ #INDERELLA
brut im Konzerthaus: 11. bis 14. November
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TdZ · November 2010
PREMIEREN
DEUTSCHLAND
Bamberg
E. T. A.-Hoffmann-Theater H. Darjes/C. Alexander: Shakespeare in Trouble (B. Tauber, 20.11.)
Berlin
Ballhaus Naunynstrasse O. Pamuk: Schnee (H. S. Mican,
25.11.)
Berliner Festspiele T. Williams: Un Tramway (K. Warlikowski,
20.11.)
Box BrotfabrikBühne Berlin Silflay: Die Schildkröte und der
Wunschfelsen (Silflay, 07.11.); M. TiMaru: Shirokurochan
(M. Kondo/T. Longo, 25.11.); J. Capek: Winterzeit bei Hündchen und Kätzchen (K. Balsevicius, 28.11.)
Deutsches Theater S. Kaminski: Kaminski on Air: Es kam von
oben (S. Kaminski, 07.11.); Junges Deutsches Theater: Corpus
(G. Herrbold/B. Tornau, 11.11.); O. Kluck: Warteraum Zukunft (S. Solberg, 13.11.); R. Schimmelpfennig: Peggy Pickit
sieht das Gesicht Gottes (M. Kušej, 19.11., DEA); S. Berg:
Nur Nachts (R. Sanchez, 26.11.)
Hebbel am Ufer (HAU) H. Kroesinger: Black Water. Private
Military Companies (H. Kroesinger, 04.11., UA); C. Kondek/C.
Kühl: Money – It came from outer space (13.11., UA)
Schaubühne am Lehniner Platz M. v. Mayenburg: Perplex (M.
v. Mayenburg, 20.11., UA)
Theater an der Parkaue n. S. Prokofjew: Peter und der Wolf
(norton.commander.productions, 16.11.)
Theater Thikwa K. Valentin/L. Karlstadt: Sturzflug – Lachforschung mit Texten von Karl Valentin (G. Hartmann, 25.11.,
UA)
Theater und Komödie am Kurfürstendamm P. Quilter: Glorious
(M. Woelffer, 07.11.); T. Firth: Kalender Girls (M. Woelffer,
27.11., DEA)
Theater unterm Dach G. Heym: Heymweh (C. Clemens, 11.11.)
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz W. Mehring: Der Kaufmann von Berlin (F. Castorf, 18.11.)
Bochum
Prinz Regent Theater H. W. Henze/P. M. Davies: Der
Idiot/Eight Songs for a Mad King (S. Broll-Pape, 18.11.)
Bundesbühne Bochum K. Wiefel: Cortés – The Killer (D.
Schwantes, 04.11.)
Bonn
Theater Bonn E. Kästner: Pünktchen und Anton (F. Heuel,
06.11.); H. Ibsen: Hedda Gabler (K. Weise, 13.11.)
Braunschweig Staatstheater Braunschweig F. Zorn: Mars (H. Koffler,
05.11.); M. Jinghui: Lebensansichten zweier Hunde (M.
Becker, 20.11., DEA)
Bremerhaven
Stadttheater Bremerhaven F. Schiller: Maria Stuart (K. Uttendorf, 06.11.)
Bruchsal
Badische Landesbühne A. Ayckbourn: Doppeltüren (Jü. Lingmann, 18.11.)
Cottbus
Staatstheater Cottbus W. Shakespeare: König Lear (M. Holetzeck, 20.11.)
Darmstadt
Staatstheater Darmstadt B. Erasmy: Supernova (H. Schein,
21.11., UA)
Dresden
Dramaten G. Büchner: Woyzeck (V. Metzler, 20.11.)
Eisleben
Landesbühne Sachsen-Anhalt Lutherstadt Eisleben J.
Schwarz: Die verzauberten Brüder (P. Kube, 25.11.)
Frankfurt a. M. Schauspiel Frankfurt N. Stockmann: Die Ängstlichen und die
November 2010
Fürth
Gera
Göttingen
Halle
Hamburg
Hannover
Heidelberg
Heilbronn
Hildesheim
Karlsruhe
Kassel
Kiel
Koblenz
Brutalen (M. Kloepfer, 12.11., UA); A. Lindgren: Ronja Räubertochter (M. Schönfeldt, 13.11.); Showcase Beat Le Mot/n.
B. Grimm: Die Bremer Stadtmusikanten (Showcase Beat Le
Mot, 23.11.)
Theater Willy Praml n. J. W. Goethe: Faust 1. Solo. Goethe
(W. Praml/M. Weber, 19.11.)
Stadttheater Fürth C. Schidlowsky/A. Maar: Luzi und die Tanten (C. Schidlowsky, 20.11., UA)
TPT Theater & Philharmonie Thüringen n. H. C. Andersen/H.
Gehlen/E. Gehlen: Die Schneekönigin (A. Zacek, 26.11.)
Junges Theater Göttingen A. d. Bont: Mutter Afrika (G. Grünewald, 11.11.); Die Berater (Ensemble des Jungen Theaters,
27.11.)
Neues Theater Halle W. Shakespeare: Der Sturm (C. Werner,
13.11.); S. v. Lohuizen: Der Junge im Bus (O. Lisewski,
23.11.); R. Dresser: Wonderful World (H. Frank, 26.11.)
Thalia Theater Halle G. Hänel/n. B. Grimm: Brüderchen und
Schwesterchen (M. Sostmann, 17.11.); G. Stein: Die Welt ist
rund (G. Hänel, 25.11.); R. Dahl: Sophiechen und der Riese
(T. Richter, 27.11.)
Hamburger Kammerspiele T. Holman/T. v. Gogh: Das Interview (H. Bock, 14.11.)
Thalia Theater n. C. Funke/R. Koall: Steinernes Fleisch (M.
Storman, 03.11.); n. B. Grimm: Der gestiefelte Kater (W.
Sprenger, 07.11.); R. Schimmelpfennig: Peggy Pickit sieht das
Gesicht Gottes (W. Minks, 20.11.); n. H. Hegemann: Axolotl
Roadkill (B. Kraft, 21.11.); W. Shakespeare: Was ihr wollt
(J. Bosse, 27.11.)
Schauspiel Hannover lunatiks produktion: Die Welt ohne uns
(III): Wachsen oder Weichen – Drei Jahre nach Ende der
Menschheit (lunatiks produktion, 04.11., UA); E. Kästner: Das
doppelte Lottchen (F. Fiedler, 14.11.); A. Ayckbourn: Ab jetzt
(T. Kühnel, 20.11.)
Theater und Philharmonisches Orchester der Stadt Heidelberg
M. Scheye: Medicament (A. Milstein, 14.11., UA); J. v. Düffel/n. J. Swift: Gullivers Reise (A. Büschelberger, 20.11., UA);
n. R. Schamoni: Dorfpunks (T. Schweigen, 28.11.)
Theater Heilbronn D. Isitt: Gatte gegrillt (C. Marten-Molnár,
13.11.); S. Sinclair/A. McCarten: Ladies Night (T. Rese,
19.11.)
TfN • Theater für Niedersachsen M. McKeever: Der süßeste
Wahnsinn (Jö. Gade, 06.11.)
Badisches Staatstheater Karlsruhe n. B. Grimm/T. Goritzki:
Der gestiefelte Kater (T. Goritzki, 07.11.); E. Palmetshofer:
hamlet ist tot. keine schwerkraft (F. v. Hoermann, 25.11.); A.
Tschechow: Der Kirschgarten (J. Lepper, 27.11.)
Staatstheater Kassel J. Schwarz: Die verzauberten Brüder (P.
Seuwen, 17.11.); E. Labiche: Das Sparschwein (V. Schmalöer,
27.11.)
Schauspielhaus F.-L. Engel / n. H.-Chr. Andersen: Die kleine
Meerjungfrau (F.-L. Engel, 20.11., UA); H. Ashman / A. Menken: Der kleine Horrorladen (A. Kloos, 27.11.)
Theater der Stadt Koblenz T. Reffert/n. B. Grimm: König Drosselbart (C. Göbel, 20.11.)
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TdZ · November 2010
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Köln
Krefeld
Leipzig
Lüneburg
Mannheim
Meiningen
Orangerie wehrtheater: Spiegelungen (A. Bleikamp, 12.11.,
UA); I. Pratama: Nostalgie einer Stadt (K. Szabo, 17.11.)
Studiobühneköln All Inclusive – Eine Tourismus-Trilogie (Jö.
Fürst, 10.11., UA)
Theater der Keller M. Becker: Meier, Müller, Schulz oder nie
wieder einsam (P. M. Gehle, 05.11.); D. Loher: Blaubart –
Hoffnung der Frauen (E. Baumeister, 12.11.)
Theater Krefeld G. Büchner: Lenz (F. Hänig, 18.11.); G. Büchner: Woyzeck (M. Gehrt, 25.11.)
Centraltheater Leipzig n. T. Mann: Der Zauberberg (S. Hartmann, 06.11.); F. Kater: we are blood (S. Hawemann, 19.11.)
Spinnwerk R. Gehn: Kein Ort (R. Gehn, 05.11.)
Theater der Jungen Welt J. Krüss/M. Firlus: Timm Thaler (K.
Lehmann, 27.11., UA)
Theater Lüneburg O. Preußler: Das kleine Gespenst (S. Bahnsen, 27.11.)
Nationaltheater Mannheim T. Walser/K. H. Ott: Die ganze
Welt (B. C. Kosminski, 20.11.)
Das Meininger Theater – Südthüringisches Staatstheater G.
Büchner: Leonce und Lena (S. Wirnitzer, 04.11.); D. O. Hanke:
Weihnachten im Zelt – ein Theaterzirkus (A. Altaras, 26.11.,
UA)
Theaterhalle E. Bell/n. C. Collodi: Pinocchio (J. Jensen,
11.11., UA)
Mönchengladb. Theater Mönchengladbach L. Jordan: Cowboys und Prinzessinnen – Folge 2 (D. Schwantes, 17.11.)
München
Münchner Volkstheater H. Ibsen: Ein Volksfeind (B. Bruinier,
25.11.)
TamS-theater B. Fassnacht: VIRGIN WOOL (H. Schneider,
04.11., UA)
Münster
Städtische Bühnen Münster D. Böhling/n. G. v. Bassewitz: Peterchens Mondfahrt (M. Kopf, 21.11.)
Neuss
Rheinisches Landestheater Neuss J. Kander/F. Ebb: Cabaret
(B. Jahnke, 20.11.)
Nürnberg
Staatstheater Nürnberg S. Berg: Nur Nachts (S. Khodadadian, 11.11., DEA); F. Schiller: Kabale und Liebe (C. Mehler,
12.11.)
Oberhausen
Theater Oberhausen n. E. Ronstand/J. Roets/G. Vissers: Cyrano (B. Mannes, 07.11.); A. Lindgren: Mio, mein Mio (M.
Storman, 20.11.)
Oldenburg
Oldenburgisches Staatstheater A. Sommer-Bodenburg: Der
kleine Vampir (I. Putz, 14.11.); B. Wegenast: Erwin und
Frosch (G. Vierhuff, 28.11.)
Osnabrück
Theater Osnabrück S. Beckett: Das letzte Band (D. Nieder,
14.11.)
Radebeul
Landesbühnen Sachsen J. W. Goethe: Faust I (A. Retzlaff,
13.11.); J. Neumann: goldfischen (M. Mienert, 25.11.)
Rostock
Volkstheater Rostock U. Hub: Nathans Kinder (A. Straube,
04.11.); n. T. Storm/K. Wuschek: Der Schimmelreiter (K. Wuschek, 19.11.); n. F. Wolf/P. Ensikat: Die Weihnachtsgans Auguste (T. Heilmann, 26.11.)
Rudolstadt
Theater Rudolstadt J. M. Synge: Der Held der westlichen Welt
(H. Olschok, 20.11.); N. Ebel: Ox und Esel (M. Kliefert,
27.11.)
Schwerin
Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin C. Gellrich: Fressen Lieben Kotzen (M. Wünsch, 05.11.)
Stuttgart
Altes Schauspielhaus und Komödie im Marquardt F. Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (V. Kamm, 04.11.); J. Popplewell/M. Hirschle: Koi Leich’ ohne d’Lilly (S. Stroebele,
12.11.); E. E. Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa (C. H.
Voss, 19.11.); L. F. Baum: Der Zauberer von Oz (I. A. Keppel, 24.11.)
Moers
THEATERTREFFEN 06. BIS 22. MAI 2011
t t TALENTE GESUCHT !
STÜCKEMARKT
NEUE STÜCKE GESUCHT !
INTERNATIONALES FORUM
THEATERMACHER GESUCHT !
Dramatiker / innen und Theaterverlage aus
ganz Europa sind aufgerufen, neue, noch
nicht aufgeführte Stücke in allen europäischen Sprachen einzusenden. Eine Jury
wählt acht Autoren aus, fünf Texte werden
in szenischen Lesungen präsentiert, drei
weitere Autoren zum Dramatikerworkshop
eingeladen. Der Stückemarkt vergibt den
»Förderpreis für neue Dramatik« und den
»Werkauftrag«, Deutschlandradio Kultur
wählt ein Stück als »Theatertext als Hör-
Das Internationale Forum (08. bis 22. Mai
2011) ist ein zweiwöchiges, international
ausgeschriebenes Programm für professionelle Theatermacher. Es beinhaltet neben
den Workshops Besuche der TheatertreffenAufführungen sowie Werkstattgespräche.
spiel« aus.
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www.goethe.de /internationalesforum bis 15. 01. 2011
www.theatertreffen-blog.de | www.theatertreffen-berlin.de
BEWERBUNG DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH
www.internationales-forum.de bis 31. 01. 2011
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Debatten im Netz kennen keine Grenzen.
Die dritte Ausgabe des Theatertreffen-Blogs
lädt deutsch-, englisch- und spanischsprachige Blogger bis 35 Jahre ein, das Theatertreffen 2011 zu begleiten. Es gilt, neue Feuilletonformate zu erproben, die sich multimedial und vielseitig mit dem Theatertreffen sowie aktuellen kulturellen Themen
auseinandersetzen.
www.prohelvetia.ch bis 31. 01. 2011
BEWERBUNG
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www.stueckemarkt.de bis 01. 12. 2010
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kontakt: yvonne.buedenhoelzer @ berlinerfestspiele.de
Telefon +49 (0) 30 254 89-318
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Das Theatertreffen wird
gefördert durch die
TdZ · November 2010
Theater Trier P. Turrini: Josef und Maria (F. Burg, 17.11.)
Zimmertheater Tübingen B. Kohlhepp/A. Krauße: Macht hoch die
Tür (A. Krauße, 06.11.)
Ulm
Theater Ulm C. Sternheim: Bürger Schippel (P. Jescheck, 18.11.);
M. Bartlett: Nachwehen (M. Kaiser, 19.11.)
Wasserburga.I. Belacqua Theater H. v. Kleist: Der zerbrochne Krug (A. Segerer,
26.11.)
Weimar
Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Weimar O. Kluck:
Kluck-Labor (C. Meyer, 12.11., UA); n. J. Swift/J. v. Düffel: Gullivers Reise (M. Diaz, 13.11., UA)
Wilhelmshaven Landesbühne Niedersachsen Nord L. Hall: Kunst statt Kohle (J.
Steinbach, 20.11., DEA); W. Menge: Ein Herz und eine Seele,
Folge 11 (A. J. Fündeling, 27.11.)
Theater am Meer S. Keck: Wi Rockt op Platt Episode twee (A.
Preuß, 05.11.)
Wuppertal
Wuppertaler Bühnen D. Kelly: Liebe und Geld (P. Wallgram, 12.11.)
Zittau
Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau E. d.: Tiefland (K. Arauner,
06.11.); n. B. Nemcová: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (T.
Quaas, 27.11.
PREM
P
REM IO
IO
ÖSTERREICH
Graz
Innsbruck
Linz
St. Pölten
Wien
SCHWEIZ
Basel
Luzern
St. Gallen
Zürich
Schauspielhaus Graz Der Fall Dorfrichter Adam (B. Nikitin,
27.11., UA)
Tiroler Landestheater H. Hirzenberger: Von einem anderen Stern
(H. Hirzenberger, 21.11., UA)
Landestheater Linz n. B. Grimm/A. Proto: Rumpelstilzchen (V.
Koch, 14.11.); W. Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung
(K. Hiller, 18.11.)
Landestheater Niederösterreich R. L. Stevenson: Die Schatzinsel
(A. Hochholdinger, 27.11., ÖEA)
Schauspielhaus Wien Franzobel: Die Pappenheimer oder das O der
Anna O. (J. Gockel, 04.11., UA)
TAG – Theater an der Gumpendorfer Straße P. tefan: The Sunshine Play (K. Cherif, 17.11., DEA)
Volkstheater Wien B. Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti
(T. Schulte-Michels, 19.11.)
Theater Basel F. Loewe: My fair Lady (T. Ryser, 11.11.); C. Marthaler: Meine faire Dame – Ein Sprachlabor (C. Marthaler, 12.11.);
J. Spyri: Heidi (F. Klepper, 18.11.)
Luzerner Theater Playstation: Familie (C. Friedrich, 18.11.)
Kellerbühne St.Gallen A. Tabucchi: Die drei letzten Tage des Fernando Pessoa (J. v. Jascheroff, 17.11., SEA)
Theater St. Gallen Ö. v. Horváth: Der jüngste Tag (T. Kramer,
12.11.)
Schauspielhaus Zürich n. M. Frisch: Stiller (H. M. Goetze, 10.11.);
J. Tardieu: Der Schalter (A. Munteanu Rimnic, 18.11.)
Theater Winkelwiese J. Schrettle: fliegen/ gehen/ schwimmen (H.
Steffen, 13.11.)
FESTIVAL
Fernsehturm Autorenprojekt: 6 and the City 5 (S. Bruckmeier,
01.11., UA)
Staatstheater Stuttgart G. E. Lessing: Emilia Galotti (B. Brüesch,
04.11.); G. Kaiser: Von morgens bis mitternachts (N. Mattenklotz,
20.11.); F. Günther/n. W. Shakespeare: Was ihr wollt (C. Weise,
23.11.)
Theater Rampe R. Rudoll: Papas in Motion (S. Bruckmeier,
10.11.); S. Hof/J. Zipf: Der Krieger erwacht (J. Zipf/S. Hof,
26.11., UA)
Uraufführungs-P
Uraufführungs
P
Produktion
DEUTSCHLAND
Berlin
Bielefeld
Dresden
Leipzig
Münster
Potsdam
Berliner Festspiele spielzeit´europa (11.11.–21.12.)
Theaterlabor im Tor 6 360° (30.10.–06.11.)
Theater Junge Generation Frühe Kindheit (04.11.–07.11.)
euro-scene Leipzig (02.11–07.11.)
Städtische Bühnen Münster HALBSTARK (03.11.–10.11.)
Hans Otto Theater Internationales Theaterfestival UNIDRAM
(29.10.–06.11.)
Weitere Ver anst alt un gen im November
und im Schl achthaus: www.schl achthaus .ch
S a 3 0 . 1 0 . ( P re m i e re ) , M i 3 . 1 1 . , D o 4 . 1 1 . , Fr 5 . 1 1 . , S a 6 . 1 1 . / j e w e i l s 2 0 : 3 0
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Eine Theaterrrecherche von Kefei Cao
C und Mats Staub (Peking/Bern)
(
Mit: Wenmin Jowanka Zhang,
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Qin Streller-Shen, Cao Maan, Xu Qin Hauser, Tingshan Cav
velty, Sebastian Krähenbühl
und dem Chiao-Aii Chor. Produktion: Peter-Jakob Kelting,
K
North By North West Ku
ulturprojekte (Basel).
In Koproduktion mit:: Schlachthaus Theater Bern, Kleeintheater Luzern und Beijing Co
ome&Go Center fo
for Arts.
In Kooperation mit dem
d
Theater Roxy Basel.
TdZ · November 2010
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PREMIEREN
Trier
Tübingen
MUT ZUR FREIHEIT
DSE Steinbeck
Miller
JENSEITS VON EDEN
Sarantos Zervoulakos
TOD EINES
HANDLUNGSREISENDEN
Pamuk
Felix Rothenhäusler
SCHNEE
DSE Becker
Martin Süß
JAKOB DER LÜGNER
Martin Nimz
UA Rottmann
UNTER JEDEM DACH
(EIN ACH)
UA Nunes, Bauer & Kahnwald
Dominique Schnizer
DON´T WANNA DIE
WATCHING SPIDERMAN 3
Schamoni
Antú Romero Nunes
DORFPUNKS
Tomas Schweigen
Theaterpartnerschaft
FAMILIENBANDE
Akin
UA Scheye
GEGEN DIE WAND
MEDICAMENT
Mareike Mikat
Avishai Milstein
DSE Edelstein, Milshtein
UA
BERG
THE PEACE SYNDROME
Timo Krstin
UA Stockmann
UA Šagor
EXPEDITION & PSYCHIATRIE
MY FATHER
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TdZ · November 2010
Foto: Daniel Josefsohn
Theater Marie
von: Samuel Beckett
mit: Insassen der JVA Lenzburg
Öffentliche Aufführungen
25. und 27. November in der
Justizvollzugsanstalt Lenzburg
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Theater Marie Aarau
info@theatermarie.ch
www.theatermarie.ch
TdZ · November 2010
Michael Bartsch, Journalist, Autor und Kritiker, Dresden
Simone von Büren, freie Autorin, Bern
Otto Paul Burkhardt, Kritiker, Tübingen
Ralf Döring, Kulturredakteur, Osnabrück
Gerwig Epkes, Hörfunkredakteur, Baden-Baden
Friederike Felbeck, Kulturjournalistin, Düsseldorf
Nicole Gronemeyer, Lektorin, Berlin
Ralph Hammerthaler, Autor, Berlin
Markus Hladek, Kritiker, Schwalbach/Taunus
Christian Horn, Kritiker, Leipzig
Renate Klett, Theater- und Tanzkritikerin, Berlin
Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur, München
Martin Linzer, Kritiker, Berlin
Mehdi Moradpour Sardehaie, Theaterwissenschaftler, Hispanist und Übersetzer, Berlin
Ute Müller-Tischler, Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin, Berlin
Gerrit Münster, Theaterwissenschaftler, Karlsruhe
Tom Mustroph, freier Autor, Berlin
Patrick Primavesi, Theaterwissenschaftler, Leipzig
Bianca Schillinger, Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaftlerin, Konstanz
Anna Schughart, Literatur-und Politikwissenschaftlerin, Konstanz
Judith Staudinger, Kritikerin, Wien
Holger Teschke, Schriftsteller und Regisseur, Berlin
Patrick Wildermann, Theaterkritiker, Berlin
Klaus Witzeling, Kritiker, Hamburg
IMPRESSUM
Theater der Zeit
Die Zeitschrift für Theater und Politik
Herausgegeben von der Interessengemeinschaft Theater der Zeit e.V., Berlin
Redaktionsanschrift
Im Podewil, Klosterstraße 68, 10179 Berlin, Tel (030)24722414 / Fax (030)24722415
Redaktionsleitung Harald Müller (V.i.S.d.P.), Dr. Frank Raddatz
Redaktion
Dorte Lena Eilers, Lena Schneider, Sebastian Kirsch, Dr. Gunnar Decker
(030)24722414 / (030)24630950, redaktion@theaterderzeit.de
Mitarbeit Jana Fröbel (Korrektur), Denise Czerny (Hospitanz)
Verlagsleitung
Harald Müller (030)24749809, h.mueller@theaterderzeit.de
Verlagsbeirat
Dr. Friedrich Dieckmann, Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte, Prof. Heiner Goebbels, Martin Linzer,
Dr. Johannes Odenthal, Kathrin Tiedemann
Anzeigen
(030)2423626, anzeigen@theaterderzeit.de
Gestaltung Sonja Hennersdorf, Avenir Medienbüro, Berlin
Bildbearbeitung Margret Kowalke-Paz
Marketing /PR Paul Tischler (030)2423626, p.tischler@theaterderzeit.de
Abo / Vertrieb Ramona Griebel
(030)2423688, abo-vertrieb@theaterderzeit.de
Einzelpreis € 7,– / CHF 14,–
Jahresabonnement € 70,– / CHF 140,– / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch
Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand.
Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,–/
CHF 45,– berechnet.
20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage
eines gültigen Nachweises.
Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge
von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber.
Druck: TASTOMAT Druck, Eggersdorf
gedruckt auf Recycling-Papier
65. Jahrgang. Heft Nr. 11, November 2010. ISSN-Nr. 0040-5418
Redaktionsschluss für dieses Heft: 7.10.2010
www.theaterderzeit.de
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TdZ · November 2010
IMPRESSUM
Autoren
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Vorschau
Nina Hoss. Foto Bresadola/drama-berlin.de
Irgendetwas läuft da doch völlig schief. Während sich deutsche Politiker auf die
Schultern klopfen, wie toll sie die Finanzkrise gemeistert haben, und auch international ganz stolz aus der Wäsche schauen, wird unterm Kassentisch in Deutschland
kräftig zugetreten. Leidtragende ist die Kultur. Schauspielhaus Hamburg, Oper Leipzig, nun das Thalia Theater in Halle. Ein Betrieb nach dem anderen springt über die
Finanzklinge der Stadt- und Landespolitiker. Nur ein regionales Problem? Von wegen.
Anfang des Jahres war es, von manchen inzwischen fast vergessen, das Goethe-Institut, dem der Bund die Mittel empfindlich kürzte.
Nun ein Drama in Halle: Im Februar 2010 wurden die Tariferhöhungen des öffentlichen Dienstes beschlossen. Rolf Stiska, Geschäftsführer der Theater, Oper und
Orchester GmbH Halle, wusste spätestens seitdem, dass steigende Löhne sein Budget
für die Spielzeit 2010/11 sprengen. Das Kürzungsbeil wollte er jedoch durch den Aufsichtsrat fallen lassen, unter Vorsitz der Politik. Am 8. Oktober dann der Beschluss:
Schließung des Thalia Theaters, des größten Kinder- und Jugendtheaters in SachsenAnhalt, Ende dieser Spielzeit. Sollte ein Haustarifvertrag doch noch zustande kommen, schließt man erst, wenn dieser abgelaufen ist. Den famosen Schlusssatz dieses
Verwaltungslangweilers sprach die Aufsichtsratsvorsitzende und Bürgermeisterin
der Stadt Halle, Dagmar Szabados (SPD): „Für mich hat der Haustarifvertrag absoluten Vorrang gegenüber der Umsetzung einer schnellen Schließung.“ Ach?
Allerdings: All das ist eigentlich nur folgerichtig. Politiker, die nicht in der Lage
sind, halb so kreative Lösungen in der Kulturpolitik zu entwickeln, wie sie dies für
die Finanzpolitik tun – Stichwort: Bad Bank –, müssen die Konsequenzen ziehen.
Punkt, Absatz, zwei Häkchen. Die Frage ist aber auch, wie sich der Kulturbetrieb demgegenüber verhalten soll. Vor wenigen Wochen ist in Hamburg der Intendant des
Schauspielhauses Friedrich Schirmer demonstrativ von Bord gegangen, weil er sein
Haus massiv unterfinanziert sah. Zugegeben, etwas kurzfristig. Auch innerhalb der
Theaterfamilie kritisierte man ihn heftig. Doch warum sollte ein Theaterprofi wie er
sich einem Unternehmen verschreiben, das ihm aussichtslos erscheint? Hat er mit
seinem Abgang wirklich im strategischen Sinne dem Haus und seinen Mitarbeitern
geschadet? Von keinem Arbeitnehmer, von keinem Manager wird ein Bleiben in solchen Momenten verlangt. Die Politik spekuliert auf diesen selbstauferlegten Moralanspruch der Treue von Theaterkünstlern zu ihren Häusern.
Annegret Hahn, Intendantin des Thalia Theaters Halle, hat mit ihrer öffentlichen
Reaktion auf den Schließungsbeschluss zwei Tage gewartet. Dann wendete sie sich
mit einem klugen Schreiben an die Öffentlichkeit. Darin prominent der Hinweis auf
Kooperationen mit der Deutsche Bank Stiftung, der IKEA Stiftung, Lotto-Toto und großen deutschen Kulturstiftungen. Längst hatte sie breitere Produktionsstrukturen
etabliert, als die schmale städtische Schulter sie tragen kann. Dramaturgen sind an
ihrem Haus durch Projektleiter ersetzt. Vom kommunalen Institutionsverständnis
hatte man sich gelöst. Das zahlt sich für die Mitarbeiter beim Finden neuer künstlerischer Betätigungsfelder hoffentlich aus.
Und während mancherorts immer noch zu viel Energie verschwendet wird, trantütige Kulturpolitiker zu schmähen, hat Florian Stauch, Schauspieler am Thalia Theater, klar erkannt: „Ich glaube nicht, dass eine Lichterkette vorm Rathaus irgendwelche Abhilfe schaffen kann. Wir als Schauspieler haben uns entschieden, dass wir
unsere Leistung für uns sprechen lassen wollen. Das ist unsere Form, uns mit der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen. Wir haben 300 Plätze, die können gerne alle voll
werden. Wir werden bis zum letzten Mann spielen.“
Einige Zeit ist es her, dass Halle bereits schon einmal die Rücklichter des Kulturbetriebs sah. Vor den Toren der Stadt hatte ein umtriebiger Mann aus Weimar ein
Theater errichtet. Hier, in Bad Lauchstädt, kurte die finanzkräftige Gesellschaft, und
es wurde ein einträgliches Geschäft. Dies obendrein, da ganz unerwartet weiteres Publikum anreiste. Denn in Halle hatte man, die Stadtväter waren Pietisten, das Theater kurzerhand ganz verboten. Der Mann hieß Goethe und er wusste: Wer aussitzt,
hat verloren. Christian Horn
Theater der Zeit
Porträt: Nina Hoss ist Filmstar und Bühnenarbeiterin
zugleich. In beidem überzeugt sie mit strengem Anspruch
an sich und ungewöhnlicher Ausdruckskraft. Was macht
das Schauspiel dabei zur Kunst? Wie spielt man ein
Geheimnis? Theater der Zeit traf die Schauspielerin
anlässlich der Inszenierung von Gorkis „Kinder der
Sonne“ am Deutschen Theater Berlin.
Foto © Bresadola/drama-berlin.de
KOMMENTAR
Halle: Aussitzen ist out
Musiktheater: Ist die Oper zu retten? Jürgen Flimm,
neuer Intendant der Berliner Staatsoper, startete gleich
mit einer Grundsatzfrage in die Spielzeit. Warum geht es
in den meisten – auch zeitgenössischen – Inszenierungen
mehr um das Verklären von Wirklichkeit als um Aufklärung?, war eine seiner Überlegungen auf einem Symposium im Oktober. Eine Frage, die wir uns schon lange stellen – und deren Beantwortung nicht nur Christoph
Schlingensiefs unvollendetes Opus „Metanoia“ an der
Staatsoper versucht, sondern auch und vor allem die freie
Szene. Kleiner, flinker und näher am Leben dran, so könnte man die Produktionen zwischen Neuköllner Oper und
Hebbel am Ufer, Sophiensaelen und dem Radialsystem
beschreiben. Während sich in den großen Häusern die Oper
meist in voller Größe und Prächtigkeit über die Bühne
wälzt, experimentieren auf den kleinen Bühnen Komponisten, Musiker und Regisseure an neuen Formen, Ästhetiken und Themen. Wir blicken in einem Schwerpunkt auf
den Auftakt an der Staatsoper, streifen durch die Berliner
Off-Musiktheaterszene und diskutieren die Ausbildungssituation junger Musiktheatermacher, Sänger und Bühnenbildner an den Berliner Hochschulen.
TdZ · November 2010
Titel November 2:Layout 1
19.10.2010
17:25 Uhr
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„Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje
malawi
CROSSING BORDERS – VON SEE ZU SEE
EINE KOOPERATION DES THEATER KONSTANZ
MIT NANZIKAMBE ARTS IN BLANTYRE, MALAWI
NKHATA BAY (AT) (UA)
REGIE UND STÜCKENTWICKLUNG CLEMENS BECHTEL
02.2011 THEATER KONSTANZ
07.2011 GASTSPIEL IN MALAWI
NANZIKAMBE ARTS (UA)
06.2011 GASTSPIEL IN KONSTANZ
A NEW DIVISED PLAY (UA)
GEMEINSAME INSZENIERUNG DES
THEATER KONSTANZ UND NANZIKAMBE ARTS
06.2012 IN KONSTANZ
07.2012 IN BLANTYRE, MALAWI
GEFÖRDERT IM FONDS WANDERLUST DER
MIT UNTERSTÜTZUNG DES GOETHE-INSTITUT
VERBINDUNGSBÜROS MALAWI
Theater der Zeit
EUR 7 / CHF 14 / www.theaterderzeit.de
November 2010 · Heft Nr. 11
Setting of a Drama
Bühneninstallationen von Bert Neumann
togo
EN ATTENDANT GODOT
SAMUEL BECKETT
EIN PROJEKT DES THEATER KONSTANZ IN ZUSAMMENARBEIT
MIT LA COMPAGNIE LOUXOR DE LOMÉ
2010 IN LOMÉ, TOGO
2011 IN KONSTANZ
THEATER KONSTANZ
INTENDANT PROF. DR. CHRISTOPH NIX
INSELGASSE 2-6, 78462 KONSTANZ
WWW.THEATERKONSTANZ.DE
Theater der Zeit November 2010
konstanz
FOTO © SPIECKERMANN
GEFÖRDERT IM RAHMEN DER
AKTION AFRIKA DES AUSWÄRTIGEN AMTES
Neues deutsches Theater
Wer ist wir?
Gespräch Shermin Langhoff, Azadeh Sharifi, Nuran David Calis, Stefan Kaegi
Gintersdorfer / Klaßen und Heimathafen Neukölln im Porträt
Stück „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje