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04
006003
190171
4
6 EURO
HEILIG
ROBERT POLIDORI
FOTOGRAFIERT
FRA ANGELICO
VISIONÄR
WIE EINE
APP DIE KUNSTWELT
REVOLUTIONIERT
MONSTRÖS
CHICAGOS
VERGESSENE
NACHKRIEGSMODERNE
MAI 2016
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 11
Marguerite
Humeau
AUFTAKT
„ Müssten die
vermeintlich großen
Erzählungen der
Kunstgeschichte nicht
viel kleinteiliger und
abschweifender erzählt
werden?“
Direktflüge sind eine feine Sache,
aber nichts geht über Zwischenstopps, die einen die Kunstwelt mit
neuen Augen sehen lassen. Meine
liebsten in den vergangenen Monaten:
Houston, Texas (dazu in einer
späteren Ausgabe mehr), und Chicago,
Illinois, wo ich Ende März einen
Tag verbringen durfte, ohne den diese
Ausgabe eine andere geworden wäre.
Alles begann mit einem Besuch des
Art Institute of Chicago, dem Museum, das, wie ich einem Aufkleber an
der Eingangstür entnehmen konnte,
kürzlich von Tripadvisor zum besten
Museum der Welt gewählt wurde.
Zwei Stunden später, die ich in den
Abteilungen für moderne und zeitgenössische Kunst verbrachte (das ganze
Museum zu besuchen hätte einen
Tag gekostet), war ich mit Tripadvisor
ganz einer Meinung. Es waren nicht
allein die Räume, die der jüngsten
Schenkung von Stefan Edlis gewidmet
waren (Johns, Rauschenberg, Twombly,
Richter, Warhol etc. – und von allen
nur das Beste). Es war die ständige
Sammlung, die mich am nachhaltigsten beeindruckte, und wie der junge
Direktor James Rondeau mit ihrer
Hilfe versucht, den Malereikanon zu
erweitern.
Blockbuster-Werke, die mit den
berühmtesten Arbeiten im MoMA
mithalten können, lässt er auf Unbekanntes und Vergessenes treffen.
Koreaner, Japaner, Südamerikaner:
Wohin man schaut, entdeckt man
neue Namen, denen es immer wieder
gelingt, mit den von Postern und
Postkarten bekannten Hauptwerken
der household names mitzuhalten. Ein
Höhepunkt von vielen: das Gipfeltreffen zwischen Jackson Pollock und
dem heute 90-jährigen, völlig unbekannten Afroamerikaner Ed Clark,
dessen Untitled von 1957 das wahrscheinlich erste shaped canvas-Gemälde
der Kunstgeschichte ist.
Von all den neuen Namen, die ich
im AIC notierte, begegnete mir
einer schon am Nachmittag wieder:
Dominick Di Meo. Das Smart Museum of Art der University of Chicago
4
zeigte Monster Roster – Existentialist Art
in Postwar Chicago, und was ich dort
von ihm und Malern wie Leon Golub,
Fred Berger und Ted Halkin sah, ließ
mich erneut darüber nachdenken, ob
die vermeintlich großen Erzählungen
der Kunstgeschichte nicht viel kleinteiliger und abschweifender erzählt werden sollten.
Nur gut, dass ich den Abend mit
den Kuratoren der Ausstellung
verbrachte, Jim Dempsey und John
Corbett. Und noch besser, dass
Corbett sich ganz nebenbei als einer
der renommiertesten Jazzkritiker
der USA entpuppte. Würde er für
BLAU die Geschichte der „Monster
Roster“ aufschreiben, jener vergessenen Künstlergruppe, deren Grundton
er mir nach einem Song von Thelonius
Monk als ugly beauty beschrieb? Er
würde. Und siehe da: Das erste Ergebnis meines Zwischenstopps lesen
Sie ab Seite 60.
CORNELIUS TITTEL
Happy Anniversary!
1966 –2016
50 Years of Lamy design.
Celebrating a timeless icon.
LAMY 2000
APÉRO
CONTRIBUTORS /
IMPRESSUM
19
ESSAY
Ein Akt des Patriotismus
22
NEUES, ALTES, BLAUES
24
HINTERGRUND
Ernst Wilhelm Nay
26
DICHTER DRAN
Jörg Albrecht
27
BEWEGTBILD
Thomas Scheibitz
27
DIE SCHNELLSTEN
SKULPTUREN DER WELT
28
BLITZSCHLAG
Lars Eidinger
Nr. 11 / Mai 2016
MARGUERITE HUMEAU
The Opera of Prehistoric
Creatures, 2011, Mixed Media,
50 × 115 × 30 cm, Australopithecus afarensis „Lucy“
„Wenn ich nicht an
meine Träume
glaube, wie sollten es
dann andere tun?“
— MARGUERITE
HUMEAU
FRA ANGELICO
WIE FÄNGT MAN DEN ZAUBER SEINER FRESKEN EIN?
MAN LÄSST ROBERT POLIDORI ZWEI WOCHEN MIT
IHNEN ALLEIN. EIN PORTFOLIO
s. 34
MEXICO CITY
DIE KUNSTSZENE FEIERT SICH ALS „NEUES BERLIN“.
GUT, DASS CHRIS SHARP WEISS, WO DIE
ZEIT STEHEN GEBLIEBEN IST: IN ROMA SUR
S. 30
HIGH DEFINITION
HORROR
VOODOO UND WISSENSCHAFT:
DAS DAZWISCHEN, SAGT MARGUERITE HUMEAU,
IST, WAS INTERESSIERT
s. 46
INHALT
6
Von oben im Uhrzeigersinn: FRA ANGELICO Das Abendmahl, Fresko im Klostermuseum San Marco, Florenz. Tortillería im Stadtteil Roma Sur, Mexico City, fotografiert von Carlos Álvarez Montero.
MARGUERITE HUMEAU Still aus dem Requiem for Harley Warren „Screams from Hell“ , 2015, Mixed Media, 800 × 420 × 950 cm
EIN KUNSTMAGAZIN
10
TO BREAK THE RULES,
YOU MUST FIRST MASTER
THEM.
DAS VALLÉE DE JOUX: SEIT JAHRTAUSENDEN WURDE
DIESES TAL IM SCHWEIZER JURAGEBIRGE VON
SEINEM RAUEN UND UNERBITTLICHEN KLIMA
G E P R Ä G T. S E I T 1 8 7 5 I S T E S D I E H E I M AT V O N
AUDEMARS PIGUET, IM DORF LE BRASSUS. DIE
ERSTEN UHRMACHER LEBTEN HIER IM EINKLANG MIT
D E M R H Y T H M U S D E R N AT U R U N D S T R E B T E N
DANACH, DIE GEHEIMNISSE DES UNIVERSUMS
DURCH IHRE KOMPLEXEN MECHANISCHEN
MEISTER WERKE ZU ENTSCHLÜSSELN. DIESER
PIONIERGEIST INSPIRIERT UNS AUCH HEUTE NOCH,
DIE REGELN DER FEINEN UHRMACHERKUNST STETS
ZU HINTERFRAGEN.
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ENCORE
74 WERTSACHEN
Was uns gefällt
78 GRAND PRIX
Die Kunstmarkt-Kolumne
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 11 / Mai 2016
79 BILDNACHWEISE
80 BLAU KALENDER
Unsere Termine im Mai
82 DER AUGENBLICK
Paul Graham
— LEON GOLUB
DIE MONSTER AG
WIE CHICAGO DEM NEW YORKER NACHKRIEGSZEITGEIST
TROTZTE – UND EIN ZU UNRECHT VERGESSENES KAPITEL
KUNSTGESCHICHTE SCHRIEB
s. 60
MUSEEN IM PRAXISTEST
BERLIN SUCHT NACH DEM STAR-ARCHITEKTEN
DER ZUKUNFT. WIR SAGEN, WO ER SICH INSPIRIEREN
LASSEN SOLLTE – UND WO NICHT
S. 54
MAGIC MAGNUS
WIRD DIESER MANN DIE KUNSTWELT
REVOLUTIONIEREN? ER SELBST GLAUBT FEST DARAN
s. 69
INHALT
8
Von oben im Uhrzeigersinn: LEON GOLUB The Ischian Sphinx, 1956, Öl und Lackfarbe auf Leinwand, 82 × 132 cm.
Kolumba Museum in Köln. Magnus Resch, fotografiert von Adam Golfer
„Ich bin ein Reporter und
ich berichte von diesen
Monstern, weil sie
tatsächlich existieren.
Das ist keine Fantasie,
kein Symbolismus. Die
Situationen, die solche
Kräfte zum Leben
erwecken, existieren
wirklich“
smeg.de
DEICHTOR
HALLEN
INTERNATIONALE KUNST
CONTRIBUTORS
UND FOTOGRAFIE
HAMBURG
WWW.DEICHTORHALLEN.DE
© COURTESY THE ARTIST
ANDREAS SLOMINSKI
DAS Ü DES TÜRHÜTERS
14. MAI – 21. AUGUST 2016
HALLE FÜR AKTUELLE KUNST
Robert POLIDORI
Spätestens mit seiner Bildreportage
zum Hurrikan Katrina hat sich der
kanadische Fotograf einen Weltruhm erarbeitet, der sich nicht
zuletzt in einer gefeierten Einzelausstellung im Metropolitan Museum
of Art spiegelte. Was ihn treibt, ist
eine unstillbare Neugier für das Ruinöse, Prekäre. Doch nicht
weniger faszinieren ihn Räume, wie er sie in Florenz entdeckte –
im Klostermuseum San Marco. Fast zwei Wochen verbrachte er
allein mit den berühmten Fresken, die Fra Angelico seinen
Klosterbrüdern Anfang des 15. Jahrhunderts in die Zellen
gemalt hat. Ihre Premiere feiern Polidoris Bilder in dieser
BLAU-Ausgabe. (Seite 34)
Wolf LEPENIES
KEN SCHLES, LIMELIGHT, 1983, © KEN SCHLES
KEN SCHLES
JEFFREY SILVERTHORNE
MIRON ZOWNIR
5. MAI – 7. AUGUST 2016
HAUS DER PHOTOGRAPHIE
Melancholie und Gesellschaft war nicht
nur der Titel seiner Dissertation,
sondern auch der des anschließenden Suhrkamp-Klassikers, mit dem
der Soziologe 1969 aus dem Stand
zum akademischen Star avancierte.
Ein Stern, der fortan nicht mehr
sinken sollte: 2006 wurde Lepenies für seine Lebensleistung
mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. In seinem BLAU-Essay widmet er sich nun Georges
Clemenceau und seiner Freundschaft zu Claude Monet –
einem seltenen Glücksfall der Verschränkung von Politik und
Kunst. (Seite 19)
John CORBETT
RAYMOND PETTIBON, NO TITLE (MY FIRST RIDE), 1983,
© RAYMOND PETTIBON
RAYMOND PETTIBON
HOMO AMERICANUS
28. FEBRUAR – 11. SEPTEMBER 2016
SAMMLUNG FALCKENBERG
PARTNER DER DEICHTORHALLEN
KULTURPARTNER
Jazzkritiker, Kurator, Produzent,
Galerist: Mit seinem Partner Jim
Dempsey betreibt John Corbett die
Galerie Corbett vs. Dempsey, die
sich nicht nur der Kunstszene ihrer
Heimatstadt Chicago verschrieben
hat, sondern auch internationale
Stars wie Albert Oehlen und Christopher Wool vertritt. Jazz veröffentlicht er auf dem gleichnamigen Label – und schreibt als Senior Reviewer des DownbeatMagazins. Für uns porträtiert er die fast vergessene Künstlergruppe „Monster Roster“, über deren Geschichte er soeben
auch eine Ausstellung im Smart Museum of Art in Chicago
kuratiert hat. (Seite 60)
IMPRESSUM
Redaktion
CHEFREDAKTEUR
Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.)
MANAGING EDITOR
Helen Speitler
STELLV. CHEFREDAKTEURIN
Swantje Karich
ART DIRECTION
Mike Meiré
Meiré und Meiré:
Philipp Blombach, Marie Wocher
TEXTCHEF
Hans-Joachim Müller
BILDREDAKTION
Isolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg
REDAKTION
Gesine Borcherdt,
Dr. Christiane Hoffmans (NRW)
SCHLUSSREDAKTION
Claudia Kühne, Max G. Okupski
REDAKTIONSASSISTENZ
Manuel Wischnewski
Autoren dieser Ausgabe
Jörg Albrecht, Uli Aumüller (Übersetzung), John Corbett, Lars Eidinger,
Hanno Hauenstein, Klaus Honnef,
Charlotte Klonk, Oliver Koerner von
Gustorf, Wolf Lepenies, Ulf Poschardt,
Chris Sharp, Marcus Woeller,
Ulf Erdmann Ziegler
Fotografen dieser Ausgabe
Yves Borgwardt, Alexandre de Brabant,
Jonnie Craig, Adam Golfer, Carlos
Álvarez Montero, Robert Polidori
Sitz der Redaktion BLAU
Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin
+49 30 3088188–400
redaktion@blau–magazin.de
BLAU erscheint in der Axel
Springer Mediahouse Berlin GmbH,
Mehringdamm 33, 10961 Berlin
+49 30 3088188–222
Nr. 11, Mai 2016
Verkaufspreis: 6,00 Euro
inkl. 7 % MwSt.
Abonnement und Heftbestellung
Jahresabonnement: 48,00 Euro
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Eva Dahlke (V. i. S. d. P. ),
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Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2
vom 01.01.2016. Copyright 2016,
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ROBERT LONGO
LUMINOUS DISCONTENT
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ANDREAS SLOMINSKI »A – ski« 23.04. – 28.05.16
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SCHÄFERGASSE 46 B, 60313 FRANKFURT/MAIN, WWW.GALERIE-GRAESSLIN.DE
Galerie Max Hetzler Berlin | Paris
Edmund de Waal
Irrkunst
29. April – 16. Juli 2016
Bleibtreustraße 45 | Goethestraße 2/3
10623 Berlin
maxhetzler.com
Basim Magdy
Die Sterne standen
gut für ein Jahrhundert
des Neubeginns
29.4.—3.7.
© Basim Magdy
»Künstler des Jahres« 2016
Deutsche Bank KunstHalle
Unter den Linden 13/15, 10117 Berlin
10—20 Uhr, montags Eintritt frei, deutsche-bank-kunsthalle.de
BASSENGE
Andy Warhol (1928–1987). Mick Jagger. 1975. Farbsiebdrucke. Feldman/Schellmann 138.
Kunstauktionen 26.–28. Mai 2016
Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphik des 15. bis 19. Jahrhunderts
Moderne und Zeitgenössische Kunst
Fotoauktion 1. Juni 2016
Mit einer Sammlung „Indien – Fotografien des 19. Jahrhunderts“
G A L E R I E B A S S E N G E · E R D E N E R S T R A S S E 5 A · 1419 3 B E R L I N
Tel.: +49 30-8938029-0 · Fax: +49 30-8918025 · E-Mail: art@bassenge.com · Kataloge: www.bassenge.com
EXHIBITION
APRIL 29–MAY 28 2016
Galerie Michael Haas
Niebuhrstraße 5
10629 Berlin-Charlottenburg
Lise-Meitner-Straße 7–9
10589 Berlin-Charlottenburg
Kunst Lager Haas
GALLERY WEEKEND BERLIN
APRIL 29–MAY 1 2016
Frühjahrsauktionen 2016
30. April
30. April
19./20. Mai
21. Mai
3./4. Juni
10./11. Juni
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Berlin Auktion (Berlin)
Russian Sale: Russische und sowjetische Avantgarde (Berlin)
Schmuck, Kunstgewerbe
Gemälde, Skulpturen und Zeichnungen des 15.–19. Jh.
Moderne Kunst, Photographie, Zeitgenössische Kunst
Asiatische Kunst
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Pieter Brueghel d. J. Hochzeitsmahl im Freien. Öl auf Holz, 42 x 59 cm. WVZ E 877. Auktion 21. Mai, Köln
Neumarkt 3 50667 Köln T 0221-92 57 290 Poststraße 22 10178 Berlin T 030-27 87 60 80
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ESSAY
EIN AKT
DES
PATRIOTISMUS
CLEMENCEAU und MONET in Giverny
Vor hundert Jahren besuchte
Georges Clemenceau
die Schützengräben von
Verdun – und den Garten
seines Freundes Monet.
Nie wieder haben sich Kunst
und Politik so befruchtet
Von Wolf Lepenies
V
erwirrt steht der Jurist Wassily
Kandinsky 1891 in einer Kunstausstellung vor einem Bild, dessen
Objekt er nicht „entziffern“ kann. Erst
der Blick in den Katalog belehrt ihn,
dass es sich um einen Heuschober handelt.
Missbilligend urteilt Kandinsky, kein
Künstler habe das Recht, so unklar zu malen.
Und nimmt erstaunt wahr, wie sehr das
Bild ihn doch beeindruckt: „Was mir klar
wurde, war die unerwartete Macht der
Palette, die mir bislang verborgen geblieben
war und die meine kühnsten Träume
überstieg. Das Bild enthüllte eine märchenhafte Kraft und Eleganz.“ Es war ein
Bild aus der Serie der Heuschober von
Claude Monet.
Die Episode zeigt, welch große Rolle
Monet in der Entfaltung einer malerischen
Moderne spielte, die sich von der Gegenständlichkeit emanzipieren wollte. Seine
spätere Wirkung verdankte Monet auch
einem Arzt und Politiker, dem französischen Ministerpräsidenten, der am Ende
des Ersten Weltkriegs von den Franzosen
als „Vater des Sieges“ gefeiert wurde:
Georges Clemenceau.
Im Rückblick erscheint die lebenslange Freundschaft zwischen Monet und
Clemenceau wie eine vergangene Utopie:
Kunst und Politik sind danach nie wieder in
eine vergleichbar enge und produktive
Beziehung zueinander getreten. Dass Kunst
und Politik wechselseitig Kritik aneinander
üben, ist die Regel. Ausnahme ist es, dass
ein Politiker den Mut zur Fremdkompetenz
fasst und Kunstkritiker wird.
Clemenceau war Bürgermeister von
Montmartre, Abgeordneter, Senator, Innenminister, Ministerpräsident (1906–1909,
1917–1920), ein gefürchteter Redner,
Journalist und Gründer mehrerer Zeitungen
und Zeitschriften, Autor eines Romans
und eines Theaterstücks. 1895 kann er „der
Lust nicht widerstehen, mich einen Tag
lang zum Kunstkritiker zu machen“. Er hat
bei einem Händler zwanzig Bilder der
Kathedrale von Rouen gesehen, die Monet
an unterschiedlichen Tageszeiten und bei
wechselndem Licht gemalt hat. Für seine
eigene Zeitung La Justice schreibt Clemenceau
einen sechsspaltigen Artikel mit der Überschrift Révolution de Cathédrales. Es wurde
ein Hymnus und präzise war er auch: „Der
APÉRO
19
Stein vibriert und diese Vibration gibt
Monet wieder … Äußerste Perfektion
der Kunst, bisher nie erreicht. Ich komme
davon nicht los.“
Den Staatspräsidenten Félix Faure
forderte Clemenceau auf, sich umgehend
die „Kathedralen“ anzusehen: „Es könnte
ja sein, dass Sie auf einmal etwas verstehen,
und im Gedenken daran, dass Sie Frankreich repräsentieren, könnte Ihnen vielleicht
die Idee kommen, Frankreich diese
zwanzig Bilder zu schenken.“ Ein Akt des
Patriotismus – und mehr. Es ist die politische Konsequenz aus der Einsicht in den
unverwechselbaren Charakter der Malerei
von Monet. Was sie einzigartig macht, sind
die Bilderserien, Versuche, auf von Marcel
Proust so genannten „erhabenen Leinwänden“ den Fluss der Zeit zu spiegeln
und den Betrachter zu lehren, das Licht
zu verstehen. Die Serien Monets als Ensemble zu bewahren ist Aufgabe des Staates.
Wenn Clemenceau in diesem Zusammenhang den Präsidenten daran erinnerte,
dass er Frankreich repräsentiert und deshalb
handeln muss, ist die Aufforderung zum
Staatseingriff nicht politisch, sondern
ästhetisch motiviert.
Das Kathedralen-Ensemble ließ sich
nicht zusammenhalten, die Bilder wurden
einzeln verkauft. Ebenso erging es den
Heuschobern, den Pappeln und der Themse bei
Westminster. Erst mit den Nymphéas, den
Seerosen im Garten Monets im Örtchen
Giverny, hatte Clemenceau Erfolg.
Die Voraussetzung für das Entstehen
dieser „Serie“ wurde vor hundert Jahren
geschaffen. Als 1916 in Verdun und an der
Somme die blutigsten Schlachten des
Ersten Weltkriegs tobten, fand Clemenceau
die Zeit, Monet in Giverny zu besuchen.
Dort war eine „gigantische Konstruktion“
vollendet worden, ein 250 Quadratmeter
großes Atelier. Sein Glasdach erlaubte es,
im Tageslicht zu arbeiten, „das weder von
links noch von rechts, weder von Norden
noch von Süden, sondern ganz einfach
vom Himmel kommt“. Jetzt konnte Monet
die großen panneaux, sie maßen bis zu zwei
mal drei Metern, auch im Atelier malen.
Bei Friedensschluss versprach Monet,
dem französischen Staat einige Leinwände
mit den Seerosen zu schenken: „Das ist
wenig genug, aber für mich ist es die einzige
Möglichkeit, an diesem Sieg teilzuhaben.“
Dann aber erkrankte der Maler auf beiden
Augen an Grauem Star, fürchtete zu
erblinden, zweifelte daran, das Projekt der
Nymphéas je vollenden zu können, und
wollte sein Geschenkversprechen zurücknehmen. Mit List überredete Clemenceau
den Freund zur Operation, wies Jahr für
Jahr seine Selbstzweifel zurück und drohte
mit Aufkündigung der Freundschaft, wenn
Monet sein Versprechen nicht erfüllen
sollte. Epische Sturheit zum Nutzen der
Kunst: „Arbeiten Sie, arbeiten Sie, nichts
anderes zählt, worauf es jetzt ankommt, ist
einzig, dass Sie keinen Löwenzahn malen,
wenn Sie Seerosen malen wollen.“ Monet
malte weiter, von seinen Seerosen aber
trennte er sich nicht. Erst nach Monets Tod
konnte im Mai 1927 Clemenceau die
Säle der Nymphéas einweihen. Gegen lang
anhaltenden Widerstand der Staatsbürokratie hatte er in der Orangerie der Tuilerien den passenden Ort für sie gefunden.
Er stellte sicher, dass die Bilder ungerahmt,
dicht aneinandergefügt und so tief
gehängt wurden, dass der Betrachter sich
wie in einem Garten fühlen konnte, die
„Tore zum Feenreich“ öffneten sich. Umso
mehr ärgerte Clemenceau, dass nur wenige
Besucher den Weg in die Orangerie fanden.
Eine kaum sichtbare kleine graue Tafel wies
auf die „Sixtinische Kapelle des Impressionismus“ hin, während daneben ein Riesenplakat eine Hundeausstellung ankündigte.
ei Ausbruch des Ersten Weltkriegs
waren Clemenceau und Monet 73 und
74 Jahre alt. Sie kannten sich seit
Jahrzehnten, teilten die Liebe zu Gärten,
schnellen Autos und gutem Essen:
„Halten Sie zwei getrüffelte Truthähne
bereit“, schrieb Clemenceau einmal an
Monet, „komme ich nicht, dürfen Sie sie
allein aufessen.“ Wenn man die Fotos
betrachtet, auf denen der Politiker und der
Maler in Monets riesigem Garten in
Giverny zusammen stehen, kommen sie
uns – rauschbärtig der eine, schnurrbartmächtig der andere – wie Figuren aus einem
Märchen vor. Stets wirken sie, als heckten
sie etwas miteinander aus: ein Komplott
zum Nutzen der Kunst. Von ihrer Korrespondenz sind nur die 153 Briefe des
„Tigers“ an seinen vieux camarade erhalten:
Dokumente einer Alterszärtlichkeit, in der
B
Selbstironie und schwärmerische Empathie
sich mischen. Clemenceaus letzter Brief
an Monet vom September 1926 endet mit
den Worten: „Ich bin genau so verrückt
wie Sie, aber meine Verrücktheit ist von
anderer Art. Deswegen werden wir uns bis
ans Ende verstehen.“ Im Dezember stirbt
Monet. Clemenceau stirbt 1929, sein letztes
Buch ist Monet und den Nymphéas gewidmet.
„Schutztruppe“, die Manets Skandalbild
Olympia vor Attacken bewahren wollte, und
als es einem Besucher dennoch gelang, das
Bild zu bespucken, stürzte sich Clemenceau
auf ihn, verprügelte ihn nach Strich und
Faden und stellte sich zum Duell. Die Mär
will es, dass er dem Gegner, der ihn nur
leicht verletzt hatte, später zur Begnadigung
verhalf, weil er ein so schlechter Schütze war.
Auch als Kunstliebhaber blieb
Clemenceau seinen politischen Überzeu„Ich bin genauso verrückt gungen treu. Der Sozialist unterstützte
das Projekt der Musées du Soir, in denen
wie Sie“, schreibt
im Osten von Paris den Arbeitern nach
der „Tiger“ Clemenceau an Feierabend die Kunst nahegebracht werden
sollte, der Laizist mochte Bilder religiösen
seinen vieux camarade
Inhalts wie Jean-François Millets Angelusläuten
Monet. „Aber meine
nicht, der Deutschenhasser Clemenceau,
im Versailler Frieden die Demütigung
Verrücktheit ist von anderer der
Deutschlands durchsetzte, lehnte den
Art. Deswegen werden wir entstehenden Kubismus als boche ab, weil
ersten Händler und Sammler Deutuns bis ans Ende verstehen“ seine
sche waren. Bracque und Picasso kamen
nicht in sein Blickfeld.
Die Protagonisten dieser folie à deux zwischen
Clemenceau liebte die ostasiatische
Kunst und Politik erscheinen uns überleKunst und verehrte die griechische Antike.
bensgroß – im Sinne jener grandeur, in der
Die Verehrung der Klassiker aber war für
Charles de Gaulle, der Clemenceau verehrte, ihn trivial: Schon auf der Schule lernte man
das Wesen Frankreichs sah. Größe macht
sie zu schätzen. Enthusiastisch kämpfte er
Vergleiche gefährlich. Der französische
für die Kunst der Impressionisten, von der
Ministerpräsident Manuel Valls hatte schon lange Zeit das große Publikum mit dem
als Innenminister ein Foto Clemenceaus in Kritiker des Figaro behauptete, ihre Bilder
seinem Arbeitszimmer, stolz bezeichnet er
hätte auch ein Affe malen können. Für
sich als Clemenciste. Ironisch ist in der Presse Clemenceau musste die Politik Risiken auf
vom „Tiger Valls“ die Rede. Grandeur in
sich nehmen: Sie hatte die Pflicht zur
der Kunst ist geblieben, in der Politik sucht Avantgarde.
man sie heute vergeblich. Auch das macht
es schwierig, in unserer Zeit an eine große
Koalition aus Kunst und Politik zu denken,
wie Monet und Clemenceau sie einmal
verkörperten.
Die ästhetische Motivation politischen
Handelns macht Clemenceau zu einem
einzigartigen Akteur. Die Kunst war für ihn
keine Kompensation der Politik, sie war
nicht das Reich der schönen Freiheit im
Kontrast zur oft schmerzlichen Notwendigkeit politischen Handelns. Vorwärtsdrängende Kunst war im buchstäblichen Sinne
stets ein Kampf um Anerkennung. Und
so kämpfte Clemenceau nicht nur für die
Kunst, er schlug sich für sie. Rabiat in
der Politik, war er genauso rabiat in der
Kunst. Clemenceau gehörte zu einer
APÉRO
20
Two Figures, 2016, Mixed Media, 47 x 60 x 45 cm
Tamara Kvesitadze
Any Direction
23. April – 4. Juni 2016
Gallery Weekend | 29. April–1. Mai 2016
Fr, 11–21 Uhr | Sa + So, 11–19 Uhr
GALERIEKORNFELD
Fasanenstraße 26 | 10719 Berlin
Di – Sa, 11– 18 Uhr | www.galeriekornfeld.com
Papier!
23. April – 4. Juni 2016
Group show curated by Thole Rotermund & 68projects
www.68projects.com
GALERIEKORNFELD BERLIN
Fasanenstr. 68 | 10719 Berlin
APÉRO
NEUES, ALTES,
BLAUES
W
LICHTSPIELE
o liegen die Wurzeln der Fotografie? Wo fängt Kunst an? Und
wieso eiferte das neue Medium
der Malerei nach, statt mit den eigenen
Mitteln zu experimentieren? Dokumentation, Narration und das Piktoriale – für
den niederländischen Konzeptkünstler Jan
Dibbets haben die Säulen der Malerei das
Verständnis vom Lichtbild kaputtgemacht.
Die Ausstellung Pandora’s Box (bis 17. Juli),
ANNA ATKINS Padina Pavonia,
1843–1853
Oben: Nasa-Bild Viking Lander 1, 1976
die er nun im Musée d’Art moderne de
la Ville de Paris kuratiert hat, vereint
deshalb Fotografien, die eher im Bereich
der Wissenschaft angesiedelt sind – von
Biologen, Astrologen und Künstlern. So
nutzte Anna Atkins die Kamera, um
Pflanzentypen festzulegen. Sie gilt als erste
Fotografin – allerdings nicht im Kunstbereich. „Das sind hervorragende Fotos“, sagt
Dibbets, „die man bisher als reine Wissenschaft sieht. Aber nicht als Kunst. Dabei war
das der Anfang des Nachdenkens über
Fotografie! Malerei kann so etwas gar nicht
erfinden.“ Und die Nasa-Aufnahme vom
Mars: Ist das nur Wissenschaft oder auch
Kunst? Oder Bruce Nauman, der 1966
eine Wasserfontäne emporprustete – seine
Hommage an Duchamps Fountain spielt
auch mit dem perfekten Augenblick. „Wieso
befragen so wenige Fotografen den Apparat
selbst? Sie denken: Technisch kann ich das,
also mache ich schöne Fotos. Aber schöne
Fotos sind Quatsch.“ GB
APÉRO
22
U IER
E
N H
Zur Sammlung des Museum of
Modern Art gehören seine Bilder:
Otto Umbehr, genannt Umbo. Der
2014 verstorbene Berliner Galerist
und Sammler Rudolf Kicken kümmerte sich nach Umbos Tod 1980 um
das Vermächtnis des deutschen
Avantgardefotografen, vermittelte
Arbeiten bis nach New York. In
Deutschland aber könnte noch mehr
getan werden, um die Erinnerung
an diesen Pionier des Neuen Sehens
und einen der bedeutendsten Fotokünstler des Bauhauses lebendig zu
halten. Vor diesem Hintergrund
ist es jetzt eine kleine Sensation: Die
Berlinische Galerie, das Sprengel
Museum Hannover und die Stiftung
Bauhaus Dessau erwerben gemeinsam Umbos Nachlass. Der Kollektivankauf ist eine logistische Meisterleistung, an der 14 Förderer beteiligt
sind. Der Fotograf war von 1921 bis
1923 am Bauhaus in Weimar, lernte
bei Schlemmer, Kandinsky und Klee,
UMBO Träumende, 1928/29
bevor er nach Berlin ging. Dort
entstand seine berühmte Filmmontage Der rasende Reporter. Mit
der legendären Ausstellung Film
und Foto 1929 in Stuttgart zählte er
zur Foto-Avantgarde. Im Krieg aber
wurden seine 60.000 Negative
zerstört. Und so erlebte Umbo erst
Jahrzehnte später eine Würdigung,
die nun durch diesen Ankauf seiner
wichtigsten Werke, Kontaktbogen
und Notizen weitergeführt und für
die Zukunft gesichert wird. SWKA
Missbrauch. Die ungegenständliche Avantgarde
hingegen sei unschuldig. In
Amerika brach sich diese
nichtfigurative Kunst gerade
Bahn: Unter Anleitung des
deutschen Emigranten Josef
Albers hatte sich in New York
bereits die Künstlergruppe
„American Abstract Artists“
gegründet. Wenig später
formierte sich um Jackson
Pollock und Willem de
Kooning die berühmte New
CLEMENT GREENBERGS Apartment mit Werken von
KENNETH NOLAND (links) und JULES OLITSKI
York School. Und Clement
Greenberg wurde der
mächtige Wortführer einer
Weltanschauung, die den
Abstrakten Expressionismus
hne Clement Greenberg wäre New
in seiner ästhetischen Vorherrschaft überhaupt
York nicht zur Welthauptstadt der
erst legitimierte. Jetzt bietet sich die Chance,
zeitgenössischen Kunst im 20. JahrhunGreenbergs eigene Sammlung kennenzulernen,
dert aufgestiegen. Der Kritiker hatte frühzeitig
die er bis zu seinem Tod 1994 zusammengetraerkannt, dass die Wunde, die der Nationalsozialis- gen hat. 20 Höhepunkte der Kollektion kommen
mus und der Weltkrieg der europäischen Kunst
am 11. Mai bei Christie’s in New York unter den
zugefügt hat, nicht von Paris und
Hammer: abstrakte Gemälde
schon gar nicht von Berlin aus
von Friedel Dzubas, Kenneth
geheilt werden könnte, sondern nur
Noland oder Jules Olitski.
von New York aus. Dabei argumenHelen Frankenthaler nimmt
tierte er ebenso ideologisch wie
eine besondere Stellung ein:
ökonomisch clever. In seinem Essay
Von ihr ließ sich Greenberg
Avantgarde und Kitsch, der 1939 in
nicht nur bekochen, sie durfte
der linken Politik- und Literaturzeitihn auch porträtieren. Eine
schrift Partisan Review erschien,
Skizze aus dem Jahr 1950
warnte er vor den gefälligen Produkzeigt sein markantes Profil.
ten der Massenkultur, die in ihrer
So viel Repräsentation ließ
Anbiederung an Moden und Stile
„Clem“ dann doch einmal
KENNETH NOLAND
New
Problem,
1968
anfällig seien für propagandistischen
durchgehen. WOE
KRITIKERKUNST
O
Stern „(359103) Ottopiene“
EIN STERN
FÜR PIENE
„(359103) Ottopiene“ –
dieser Name beschreibt einen
jüngst entdeckten Stern
im Universum. Er trägt den
Namen Otto Pienes, des vor zwei Jahren verstorbenen Zero-Künstlers, der wie kein anderer den
Himmel zu seinem Aktionsfeld gemacht hat.
Für Otto Piene war er ein Zeichen für Freiheit.
Vor dieser Folie ließ er seine sternenförmigen
Lichtskulpturen tanzen, die unter dem Begriff
„Sky Art“ in die Geschichte eingehen werden.
Die Idee, dem Künstler selbst im Universum
einen dauerhaften Platz zu geben, hatte Pienes
Freund Dieter Jung. Zwei Jahre lang suchte der
Berliner Holografiekünstler, der in den 80erJahren gemeinsam mit dem Künstler am Center
for Advanced Visual Studies am MIT in Cambridge, USA, arbeitete, nach einem Wissenschaftler, der ihm helfen würde. Er gewann, nach
einigen Fehlschlägen, Felix Hormuth vom MaxPlanck-Institut für Astronomie. Der Wissenschaftler machte sich in der Sternwarte Calar Alto
auf die Suche und fand „(359103) Ottopiene“.
Mit diesem Stern hat Pienes Werk nun seine wahre
Vollendung gefunden: Mission completed. HO
APÉRO
23
DAS IST
KEIN
KOFFER,
DAS IST
KUNST
Tobias Rehberger macht
Kunst, die man nicht nur
anschauen, sondern auch
benutzen soll. Also fast
schon Design. Aber nur fast:
Moderne Möbelklassiker
ließ er von afrikanischen
Kunsthandwerkern nachbauen – nach Skizzen aus
seinem Gedächtnis. Künstlerfreunde porträtierte er als
Blumenvasen. Poppig-bunte
Sitzmöbel laden zum sozialen
Miteinander ein. Für das
schrille Interieur des Cafés
der Biennale von Venedig,
das er von einem Tarnmuster ableitete, erhielt er
2009 den Goldenen Löwen.
Nun hat der Professor
der Frankfurter Städelschule
für das Luxus-Modelabel
MCM eine exklusive Edition
für Taschen und Koffer
hergestellt. Auch hier diente
Camouflage als Vorbild.
Und auch hier gilt: Nicht nur
sehen, sondern bitte auch
gehen, tragen,
anfassen – und
vor allem:
gesehen
werden!
GB
Aus der MCM-Kollektion von
TOBIAS REHBERGER
HINTERGRUND
AN DIE
DECKE
Ernst Wilhelm Nay
sorgte 1964 auf der
Documenta III für
Kontroversen. Jetzt
ist seine Serie noch
einmal zu sehen –
auf dem Berliner
Gallery Weekend
s war einmal. So beginnen auch die
schönsten Erzählungen, die die
Kunstgeschichte überliefert. Es war
einmal ein deutscher Maler, der gemessen
am deutschen Format ungewöhnlich große
Bilder malte und dazu ungewöhnlich
große Worte sprach. „Bilder kommen aus
Bildern“, also sprach Ernst Wilhelm Nay.
Und das klang in einer Zeit, als die Kunst
noch immer an ihrem Weltbezug gemessen
wurde, schon wie schiere Überheblichkeit.
Ein Werk, nie vergessen, in Museumssammlungen und auf dem Markt noch
immer präsent und doch irgendwie eingefroren im märchenhaften Gestern. Und nun
steht man einigermaßen verblüfft vor diesen
Bildern, vor ihrer Hitze, ihrer unverbrauchten malerischen Wucht, ihrer Frische, als
seien die frühen 60er-Jahre von aller Patina
der zu Ende gehenden Adenauer-Epoche
gereinigt worden.
Die Berliner Galerie Aurel Scheibler
hat noch einmal acht der seinerzeit
berühmten Augenbilder von Ernst Wilhelm
Nay versammelt. Zwei von ihnen gehörten
zur Gruppe, die 1964 auf der Documenta III
in Kassel gezeigt
wurde und dort für
erregte Dispute sorgte.
Was genau den
Kritikerzorn entflammt
hatte, ist nur noch
schwer zu rekonstruieren.
Arnold Bode, der Documenta-Gründer und
vorerst unersetzliche Chef,
hatte trotz erster PopArt-Signale aus den USA,
trotz Fluxus und Nouveau
Réalisme noch einmal
der europäischen Malereitradition eine große Bühne
geben wollen. Ernst
Wilhelm Nay zählte er zu
den Bewahrern und
Erneuerern zugleich. In
einem etwas kühnen
Regieeinfall ließ er drei
der für die Documenta
gemalten Nay-Bilder in
einem relativ schmalen
Gang des Fridericianums
an der Decke befestigen.
Der Künstler soll nicht
E
Drei Bilder im Raum, Installationsansicht, Documenta III, 1964
Rechte Seite oben: Silberstern, 1964, Öl auf Leinwand, 200 × 160 cm
APÉRO
24
gerade begeistert von der Idee gewesen sein,
hat aber dann doch der Sonderbehandlung
zugestimmt. Umso mehr als seine Malerei
so an Prominenz und Auffälligkeit gewann.
Wohl nahm die luftige Präsentation auch
Bezug auf die neue Spielform Environment,
die ein paar Räume weiter der Italiener
Emilio Vedova mit seiner Installation aus
skulptural gestellten Bildern eindrucksvoll
vorführte.
Während Vedova einigermaßen ungeschoren durchkam, fiel der Schmäh auf
Nay. Klaus Jürgen-Fischer, selber Maler,
ein wenig altmeisterlich-ledern und als
Mitherausgeber des Magazins Das Kunstwerk eine kunstkritische Stimme von
Gewicht, mokierte sich über den „Sonderaufwand eines Kathedralraumes mit drei
an der Decke gestaffelten Riesenbildern von
Ernst Wilhelm Nay, den man offenbar
eingerichtet hat, um diesem Kölner Maler
eine Weltgeltung zu sichern, die er nicht
besitzt“. Die von Arnold Bode besorgte
Hängung sei geistreich, dass sie dem Falschen
zugutekomme, entspreche nicht nur einer
freundschaftlichen Vorliebe des DocumentaRates für diesen Künstler, sondern einem
nationalen Missverständnis: „Hier ist kein
Weltrang, sondern ein künstlerisches
Versagen zementiert worden.“
Wenn man an die ungewöhnliche
Schärfe des Urteils denkt, aus heutiger kunstkritischer Sicht fast erschreckend aggressiv,
dann lohnt es sich, noch einmal darüber
nachzudenken, was die Polemik in Wahrheit
munitioniert hatte. Jürgen-Fischer sollte
später noch deutlicher werden: „Der Maler
Ernst Wilhelm Nay ist deshalb zu einem
Fall geworden, weil seine unaufhörliche
Exponierung das deutlichste Symptom
für die chronische Schwäche eines immer
fester umreißbaren Lagers unserer kunstkritischen und kunstfördernden Intelligenz
darstellt, für die die ästhetische Kategorie
der bildnerischen Ordnung, Klarheit und
Disziplin nicht existiert.“
Es hallt wie ein Echo der bestimmenden
Nachkriegsauseinandersetzung. Der Siegeszug der Abstraktion, der von den lautstarken
Museumsleuten als Wiederanschluss an
die lange verpönte Moderne gefeiert wurde,
war für Maler, die beim Gegenstand geblieben waren, wie ein Verrat der fortschrittsunbedürftigen Kunst an den Fortschritt.
D
FORME ÎN TIMP –
VIITORUL
NOSTALGIEI
Art Collection Telekom
art-collection-telekom.com
20. 04.−
09. 10. 2016
National Museum
of Contemporary Art
MNAC Bucharest
3DODFHRIWKH3DUOLDPHQWZLQJE4,]YRU6W
Bucharest
Klarheit und Disziplin sorgen – anders
als es das Ressentiment wahrhaben wollte.
Man sieht das heute viel besser.
Und das erstaunliche Ensemble, das
Aurel Scheibler mithilfe der Nay-Stiftung
zusammenbekommen hat, führt die
ganze ungetrübte Qualität dieser Malerei
noch einmal eindrucksvoll vor Augen.
Nicht zuletzt sind es die Formate mit
ihrer Neigung zur grandiosen Dehnung
des Bildraums, die immer noch und
immer wieder überraschen. Es wäre eine
Untersuchung wert, welche Rolle
Sam Francis mit seinen gallertartigen
Farbriesenmolekülen spielte, die bereits
auf seinen Bildern auf und ab schwebten, als Nay seine Scheiben- und Augenbilder entwickelt hat. Ganz sicherlich
hat der Deutsche Maß an den amerikanischen Abstrakten Expressionisten
genommen.
Doch während in den USA bald das
Zepter an die Bildermacher des Pop-Jahrzehnts weitergereicht wurde, hat Ernst
Wilhelm Nay den Zeitgeist wie die Fliegen
abgewehrt. So ist sein Werk eingegangen
ins märchenhafte Gestern. Aber wie immer
bei Märchen hat weder die böse Stiefmutter
noch der böse Kritiker recht behalten.
TEXT: HANS-JOACHIM MÜLLER
AUSSTELLUNG IN DER BERLINER GALERIE
AUREL SCHEIBLER VOM 30. APRIL BIS 18. JUNI
SHAPE OF TIME–
FUTURE
OF
NOSTALGIA
,JRU*UXELþ366 Liberation Rituals'HWDLO
Ernst Wilhelm Nay, der als Karl-HoferSchüler realistisch begann und sich bei langen
Frankreich-Aufenthalten vom Surrealismus
beeinflussen ließ, war spätestens seit seinen
Scheibenbildern, mit denen er in den
50er-Jahren auftrat, ein Star der abstrakten
Szene. Und die Dynamik, die mit den
leuchtenden Farbkreisen in seine Bilder
einzog, machte ihn zusammen mit der
rhetorischen Brillanz, mit der er seiner
Malerei die Gestalt einer aufgeklärten
Farbtheorie gab, zum Pionier der ungegenständlichen Kunst.
abei hielt Nay stets Abstand zur
gestischen Abstraktion. Während
nicht wenige seiner Generation dem
malerischen Aktionismus huldigten, wie
er in Frankreich unter der BürgerschreckParole „Tachismus“ Kult war, blieb Nay
bei seinen besonnenen Entwürfen. Und auch
dort, wo sich die Farbe in kraftvoll-ungestümen Malhandlungen über die Bildfläche
ausbreitet, stößt sie immer wieder auf
gesetzte Formen, auf Scheiben, Kreise,
augenähnliche Gebilde, die dieser Malerei
Dynamik geben, aber auch für Ordnung,
DICHTER DRAN
NO-GOBOY
Jörg
ALBRECHT
Was für Energien werden frei,
wenn die Sprachkunst auf
die Bildkunst triff t? Für BLAU
hören Lyriker auf den Klang
der Kunst. Jörg Albrecht, Jahrgang 1981, sieht dem Tanz im
White Cube zu.
Inspiriert von
Félix GonzálezTorres
Was hast du da auf den Rücken tätowiert? Nen Anker? Den Eiffelturm? Nein,
das Gesicht meines Freundes Brian Storm. Er ist Performancekünstler
und Teilzeit-Go-Go-Boy. Oder Go-Go-Boy und Teilzeit-Performancekünstler?
Je nachdem, wer den Lebenslauf schreibt. Je nachdem, ist er Ami mit
deutschem Background oder Deutscher mit namibischem Foreground. Jedenfalls
wollte Brian Storm unbedingt diesen Job, wollte dieses Stück Kunst tanzen.
Bestandteile der Installation:
—
—
—
—
—
—
—
—
—
weißer Kasten, irgendwo im weißen Würfel
zirka sechsundvierzig Glühlampen am Rand dieses Würfels
Strom
ein Tänzer in silbernem Lamé-Höschen
Kopfhörer und Walkman [wenn möglich: gelb]
Musik, die niemand außer dem Tänzer hört
die Atemstöße des Tänzers beim Tanzen, fünf Minuten pro Tag
die Veränderung des Raumes durch den Auftritt des Tänzers
die Veränderung der Tanzstile durch die Jahrzehnte, von 1991 bis
zum heutigen Tag
— kein Schild: NICHT ANFASSEN, aber dennoch wird niemand anfassen
— der Respekt und die Scheu des Kunstpublikums, im Gegensatz zur
Gier des Klubpublikums
— das Ineinander von Poesie und Politik, das die frühen 90er noch prägte,
und das ich schmerzlich vermisse [VERMISSE!]
Dann der Anruf des Museums bei Brian Storm: Daß sie gedacht hätten, er sei
Latino, so wie der Künstler auch. Daß seine Haut so uneindeutig sei, so
halb-dunkel. Daß sie in jedem Fall einen gut trainierten Latino bräuchten, Latino,
jung und biologischer Mann. Meine Fresse, Brian! Die kuratierte Wirklichkeit!
Anstatt dessen: Einen alten Go-Go-Dancer jenseits der achtzig tanzen lassen. Ein
Mädchen von sieben Jahren tanzen lassen. Eine biodeutsche Frau um die
vierzig. Eine deutsch-türkische Frau um die sechzig. Einen brasilianischen Mann.
Einen koreanischen Mann im Rollstuhl. Eine indische Frau mit Trisomie 21.
Jeden Tag für fünf Minuten eine andere Art von Go-Go-Dance. Und da tanzt
du doch noch, Brian Storm, tanzt und tanzt und tanzt im White Cube.
[Critical White Cube.]
FÉLIX GONZÁLEZ-TORRES
Untitled (Go-Go Dancing Platform), 1991, Holz, Acryl, Glühbirnen, 55 × 183 × 183 cm,
Installationsansicht Kunstmuseum St. Gallen
APÉRO
26
BEWEGTBILD
DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT
DAS URCOUPÉ
THOMAS SCHEIBITZ über seinen
Lieblingsfilm Naked Lunch
„Naked Lunch, David Cronenbergs Film über oder besser:
um das gleichnamige Buch
von William S. Burroughs herum ist die Beschreibung einer
obsessiven Zwischenwelt. Der
genaue Ort ist unwichtig. Es
wird ein kreativer Akt beschrieben, der gleichsam vergessen wird und dabei Tiefe,
Dichte und komprimiertes Verlangen magnetisch anzieht.
Absurde Aufträge an Einbildungskraft und Flucht in eine
unter Einfluss stehende Fantasiewelt. Fantasie, die man
braucht, um Ängste, Beklemmungen und Co-Abhängigkeiten zu absorbieren. Untertauchen, um Abstand zu gewinnen. Das 1959 erschienene
Buch schien unverfilmbar, und
es verweigert sich einer logischen Erzählstruktur, was ich
bei jeder Kunst für zentral halte.
Multiperspektive ohne Narrative, die trotzdem nachvollziehbar bleibt,
ist große Kunst.“
DIE KUNSTHALLE
DARMSTADT
ZEIGT VOM 3. MAI
BIS 24. JULI
MALEREI ALS FILM,
U. A. MIT THOMAS
SCHEIBITZ
Von wegen biederistisch: Bei diesem Audi
war der hedonistische Urimpuls plötzlich
in jeder Chromschwingung
lebendig
Lässige Alternative: AUDI COUPÉ
H
erkunft ist Zukunft.
Audi baut seit Jahren
und Jahrzehnten
weitgehend perfektoide Autos,
aber der Erfolg hat viel Charme
gekostet. Die Anfänge von Audi
bieten Inspiration, insbesondere
der Start der heutigen Markengeschichte 1969. Damals
präsentierte der einst biederistische Beamtenkutschenhersteller
ein Coupé, dem die Sonne
Italiens in jedes Detail schien.
Das elegant und sportlich
geschnittene Auto kam überraschend – aber nicht aus dem
Nichts. Die Schwestermarke
NSU hatte mit
dem Ro 80 ein ähnlich
spektakuläres wie
wegweisendes Konzept
in die Aufbruchsära
der späten 60er-Jahre
geworfen, und so
konnte aus Audi wenig
später die Undergroundmarke für die
technische Intelligenz
werden. Reiche Leute
mögen Mercedes
Naked Lunch, 1991,
ein Film von David Cronenberg fahren, sportliche
BMW, aber die gebildeten
Stände hatten mit dem Ingenieur-Chic der Ingolstädter eine
lässige Alternative bekommen.
Die Fahrleistungen des Audi
Coupé waren für ein Auto der
gehobenen Mittelschicht Ende
der 60er-Jahre beeindruckend.
Der 1,9-Liter-Vierzylinder
machte den Audi 185 km/h
schnell und ließ ihn in elf
Sekunden von 0 auf 100 km/h
schnellen. Damit konnten
die S-Reihe und große BMWs
geärgert werden, noch wichtiger aber waren die Irritationen
in der deutschen Distinktionsgrammatik. Was hat es mit Audi
auf sich, welcher sozialen Logik
folgt deren nüchtern beschwingtes Design?
Gerüchte besagen, dass der
damalige Entwicklungschef der
Auto Union gern ein Coupé als
Dienstwagen haben wollte und
ein ebensolches in Auftrag gab.
Dieser hedonistische Urimpuls
ist in jeder Chromschwingung
lebendig. Designt hatte den
meisterlichen Entwurf ein Twen
namens Hartmut Warkuß, der in
APÉRO
27
den 90er-Jahren Designchef
von Volkswagen wurde. Wie
auch beim Lamborghini Miura,
dem Maserati Ghibli oder
dem Porsche 911 waren es ganz
junge Burschen, die Ungeheuerliches entwarfen. Heute sind
derart juvenile Geniestreiche
eher undenkbar.
Das Coupé war teuer, technisch nicht sonderlich robust
und deswegen auch kein
Erfolg – verkäuferisch. Heute
ist das Fahrzeug eine Rarität
und auf Oldiemessen ein
Publikumsmagnet. Wie schön
wäre es, wenn Audi wieder
so eine Sensation entwerfen
könnte wie dieses zauberhafte
Urcoupé. Vielleicht würde
sich dann auch das Klientel der
Audi-Fahrer ändern, die das
Autobahn-Unsympathentum
anführen, gefolgt von ŠkodaEhrgeizlingen und Posern in
asiatischen Günstig-SUVs.
Das Urcoupé und alle
anderen Audi Coupé werden im
Werksmuseum in Ingolstadt bis
18. September ausgestellt.
ULF POSCHARDT
BLITZSCHLAG
„DER TOD IST
PERFEKT“
Es ist ein Augenblick der Gewissheit: Dieses Kunstwerk trifft
mich im Kern. Lars Eidinger
über ein Monochrom von Yves
Klein, vor dem
ein Schlüsselerlebnis
hatte ich vor einem
Bild von Yves Klein, plötzlich die Zeit
das 2001 im Deutschen Guggenstillstand
heim hing. Erst sah ich nur
M
eine blaue Leinwand und wollte
weitergehen, aber dann entschied
ich mich, stehen zu bleiben. Je
länger ich es betrachtete, desto
mehr entfaltete es eine Wirkung
auf mich. Einen regelrechten
Sog. Das Blau ist leicht rotstichig,
flirrt und leuchtet scheinbar
von innen heraus. So entsteht
Bewegung, obwohl es ein stilles
Bild ist. Die Tatsache, dass
einen etwas, das sich scheinbar
sofort erschließt, verweilen lässt,
faszinierte mich. Was passiert,
wenn man sich Zeit nimmt?
Mir fiel auf, dass ich der einzige
Besucher war, der so lange
davorstand. Was ich in dem
Moment verstanden habe – auch
über die Kunst, die ich selber
ausübe –, war, dass man sich für
Kunst öffnen muss. Es gibt ein
Zitat von Julian Schnabel: „Wenn
Menschen Kunst anschauen,
müssen sie einfach nur fühlen.
Und zwar ihre eigenen Gefühle,
nicht meine. Das Kunstwerk ist
tot, bis jemand davorsteht und
es anschaut.“ Das leuchtet mir
ein, vor allem bei diesem Bild.
Ich mache auf der Bühne oft
die Erfahrung, dass sich
Zuschauer verweigern, sowohl
mir als Darsteller als auch der
Kunst allgemein. Da ist Kunst
machtlos. Das ist wie mit einem
Orgasmus. Man kann niemanden vergewaltigen mit dem Ziel,
ihn zum Orgasmus zu bringen.
Das geht nur, wenn sich
das Gegenüber öffnet. Für mich
drückt das Bild das aus. Es
drängt sich nicht auf, sondern
ich entscheide, mich ihm
auszusetzen. In der Zero-Ausstellung letztes Jahr habe ich
gelesen: Jede Linie auf einem
Bild ist bereits eine Einschränkung. Das Einfarbige ist die
größte Freiheit, eine Form von
Anarchie. Das fasziniert mich
auch beim Spielen: In dem
Moment, in dem ich die Bühne
betrete, gibt es keine Regeln,
die ich nicht brechen könnte.
Was nicht heißt, dass ich das
ständig ausreizen muss, aber ich
finde die Option attraktiv. Mich
LARS EIDINGER, Star der Berliner Schaubühne,
fotografiert von ALEXANDRE DE BRABANT
fasziniert auch der Anspruch,
aus dem Nullzustand heraus
zu agieren. Oft arbeitet man sich
gedanklich an der Vergangenheit und Zukunft ab, aber mich
interessiert das Jetzt. Ich
versuche mich vor der Vorstellung in diesen Zustand zu
versetzen. Das ist natürlich paradox, weil man den Moment
nicht festhalten kann. Diesen
Widerspruch gilt es auszuhalten.
Die Sehnsucht nach Stillstand,
Erlösung und Ruhe ist zugleich
eine Todessehnsucht. Der Tod
ist perfekt. Es gibt ein Stück
von Peter Handke, Zurüstungen
für die Unsterblichkeit. Da gibt
es die Raumverdränger, deren
Parole lautet „Reiz statt Raum“.
Der Reiz stellt eine permanente
Bedrohung dar. Er schränkt
uns ein und lenkt ab. Ich habe
eine Sehnsucht nach Raum
und dem Reizlosen. Der Transzendenz. Kunst kommt nicht
von Können, aber Rezipieren
von Wollen.
APÉRO
28
YVES KLEIN
Monochrome bleu sans titre (IKB 68), 1961
WIR VERBINDEN FOTOGRAFIE MIT
700 JAHREN KUNSTGESCHICHTE.
Mit der DZ BANK Kunstsammlung, der größten Sammlung ihrer Art, machen wir zeitgenössische Fotokunst seit
über 20 Jahren für alle erlebbar – mit Ausstellungen in unserem ART FOYER sowie in langjähriger, erfolgreicher
Zusammenarbeit mit dem Städel Museum. Die älteste Museumsstiftung Deutschlands umfasst Werke aus
700 Jahren europäischer Kunstgeschichte. Wir freuen uns, mit 200 Werken dazu beizutragen, künstlerische
Fotografie auf diese Weise zu fördern. Mehr unter » www.dzbank.de
UM DIE ECKE
ROMA SUR, MEXICO CITY
Jede Stadt hatt ihre
Mikrokosmen, wir
stellen sie vor. Mit
Chris Sharp streifen
wir durch das
Zwielicht von Mexico
City, vorbei an
der besten Saftbar
der Stadt, einer
wilden Pozolería und
dem Kunstraum
Bikini Wax
I
m Jahr 2013 eröffneten der Künstler
in Soto Climent und ich einen ProjektMartin
Lulu“ in Martins Atelierraum namens „Lulu“
wohnung. Sie liegt im fast dörflichen Stadtteil Roma Sur in Mexico City. Die Gegend
war damals so einfach und authentisch, dass
ich als offensichtlich einziger Ausländer hier
zu scherzen pflegte, ich sei eben der Gentrifizierungsagent von Roma Sur. Auch wenn
es kaum zu glauben ist, ich bin noch immer
allein auf weiter Flur. Jedwede Kolonisation
der Arbeiterviertel in Mexico City durch die
Kreativklasse scheint sich zuverlässig auf die
nördliche Flugbahn in Juárez und San Rafael
zu beschränken. Dort befinden sich Galerien und Projekträume wie Joségarcía_,mx,
Marso, Lodos Contempo ráneo, Casa
Maauad und viele andere. Roma Sur aber hat
sich seit meiner Ankunft in Mexico City im
Herbst 2012 kaum verändert – es ist noch
genauso zu erleben, wie ich es damals vorgefunden habe.
APÉRO
30
Mit der Ausnahme ein
einiger Starbuckssteht die Gegend vvor allem aus kleiLäden besteht
nen, freundlichen Ma an
and Pa enterprises –
Schneidereien, Schönheitssalons, Bäckereien,
comida corrida-Restaurants und Ähnlichem.
Die alte Architektur ist ein bisschen heruntergekommen und patiniert und kaum höher
als zwei Stockwerke. Die Häuser sind im
Pueblostil aus den frühen 20er-Jahren des
letzten Jahrhunderts erbaut. Zusammen mit
der Art-déco-Mischung aus dem benachbarten Stadtteil Condesa und jüngeren Bauten
aus den 80er-Jahren trägt diese vertikale
Bescheidenheit ihren Teil dazu bei, dass man
insgesamt das Gefühl hat, sich in einem
Dorf zu befinden – und das in einer der
größten Städte der Welt.
SÜSSE MATTIGKEIT
MITTE: CHRIS SHARP
GRÜNDETE VOR
DREI JAHREN DEN
PROJEKTRAUM LULU. BIS
HEUTE IST ER DER
EINZIGE KURATOR IN
ROMA SUR – DIE GEGEND
FÜHLT SICH NOCH IMMER
AN WIE EIN DORF.
UNTEN: DIE ECHTE LULU
IST CHEFIN DER SAFTBAR
JUGOS Y LICUADOS LULU
Im Frühling ist das Wetter lau, eine
Brise flüstert in den Blättern der umliegenden Bäume und die Sonne belebt behutsam
die unebenen und gerissenen Bürgersteige
mit ihren Fleckenwürfen. Gegen halb sechs
beginnt der Sonnenuntergang. Dieser weiche, unbeschreibliche Zauber des Zwielichts ist der eigentliche Grund, weshalb ich
nach Mexico City gezogen bin. Voll süßer
Mattigkeit, urban und zeitlos zugleich, ist
der Sonnenuntergang hier anders als an
jedem anderen Ort, den ich kenne. Er hat
eine sehr liebevolle und dezente Art, einen
innehalten zu lassen, egal was man gerade
tut – wie in einem Moment der Stille zwingt
er dich, seinen honigsüßen Schwellenzustand zu beobachten.
Doch muss ich zugeben, dass ich gerade
in diesem Augenblick wieder von allerlei
Unbehagen bestürmt werde, ganz so als
würde ich nur die halbe Wahrheit erzählen.
Die Bedenken kommen immer, wenn ich
gebeten werde, über mein Leben in Mexico
City zu schreiben oder davon zu erzählen.
Ich fühle mich beinahe schuldig, im Guten
wie im Schlechten, zum Mythos dieser Stadt
als urbaner Utopie in der globalen Vorstellung beizutragen. Gerade vor ein paar Monaten führte die New York Times Mexico City als
eines der Top-Reiseziele für 2016 an. Die
Kunstwelt feiert sie ständig auf die eine oder
andere Weise als „das neue Berlin“. Einerseits
bin ich mir vollkommen bewusst, dass Städte
den Stoff von Mythen und Legenden bilden –
schließlich war die reichhaltige, subkulturelle
Geschichte von Schriftstellern wie William S.
Burroughs und Thomas Pynchon, die nach
Mexiko zogen, um dort zu leben und zu
schreiben, einer der Gründe, der mich hierhergelockt hat.
APÉRO
31
Ich spüre, wie diese geistigen Einflüsse
die Stadt bestimmen, begleiten, vollenden.
Andererseits ist mir klar, wie naiv das aus der
Sicht eines chilango (Einheimischen) erscheinen muss. Denn sie, die chilangos, wissen: Es
ist eine Sache, die Stadt für eine oder zwei
Wochen zu besuchen – aber eine andere, hier
wirklich zu leben. Vom Verkehr, der einer
höheren Gewalt zu gehorchen scheint, der
starken Umweltverschmutzung und der
unheimlichen, unsinnigen Bürokratie, die
einen bereits beim Einlösen eines Schecks
erwischt, über die schlechte Wasserqualität bis
hin zum Lärm, ganz zu schweigen von der
Kriminalität (die abgenommen hat, aber
immer noch Alltag ist), ist Mexico City weit
von der Utopie des 21. Jahrhunderts entfernt,
die die Medien daraus machen. Dies ist eine
harte Stadt; es gibt viel zu lieben und nicht
wenig zu hassen. Ich habe meine guten und
meine schlechten Tage, aber ich lebe hier seit
über drei Jahren und bin immer noch da und
liebe den Ort.
Was ich an ihm liebe? Abgesehen vom
Zwielicht, der unvergleichlichen Atmosphäre und der Liebenswürdigkeit der Menschen? Es ist definitiv das Essen. Einige
Lieblingsorte in meiner Nähe sind das
Jugos y Licuados Lulu, die Taquería Los
PINKE PAUSE
DER HIMMEL ÜBER
MEXICO CITY GIESST
SEINE FARBEN IN ALLE
STRASSEN. IM CINE
TONALÁ (LINKS UNTEN)
GIBT ES KINO UND
COCKTAILS. RECHTS
OBEN: DER KÜNSTLER
DANIEL AGUILAR
RUVALCABA HAT DEN
KUNSTRAUM BIKINI WAX
INITIIERT. UND IM
CASA DE TOÑO (RECHTS
UNTEN) HERRSCHT
DAUERND HOCHBETRIEB
Parados und das Casa de Toño. Das Jugos y
Licuados Lulu – der Fruchtsaftladen, nach
dem wir unseren Projektraum benannt
haben, liegt nur anderthalb Blöcke die Straße
hinunter auf der Bajío. Lulu ist ein kleiner
Straßenstand, der vor allem auf Säfte und
Smoothies von frischen Früchten der Saison
spezialisiert ist. Lulu heißt auch die Besitzerin. In den mehr als zwanzig Jahren, in denen
sie Säfte herstellt, hat sie ihre Kunst zur
Meisterschaft gebracht – jede ihrer Gesten
destilliert sie in eine perfekt entschiedene
und beinahe maschinenartige Wirtschaftlichkeit. Ich bestelle oft einen entsprechend
köstlichen antigripal („gegen Grippe“) aus
Guave, Orangen, Limette und Honig, dazu
kommen, wenn ich darum bitte, Rote
Beete. Ich bin immer wieder erstaunt
von dem Tempo und der Effizienz,
mit der Lulu das Ganze vor mir in
einen Becher zaubert.
Etwa fünf Minuten zu Fuß vom Lulu,
die Tehuantepec hinunter, an der Ecke Monterrey und Baja California, ist Los Parados,
berühmt als eine der besten Taquerías in
Mexico City. Der Name bezieht sich auf die
Tatsache, dass es hier keine Tische oder
Stühle gibt, sondern die Menschen beim
Essen stehen – auf jeder verfügbaren Oberfläche (parado heißt auf Spanisch „stehend“).
An manchen Tagen ist es extrem voll. Jedes
Mal wenn mich der Koch kommen sieht,
blickt er gestresst vom Grill auf, schaut mich
an und sagt: ¿Holá güero, hamburguesa? („Hallo
Weißer, Hamburger?“), als wäre das alles, was
ich dort essen würde. Alles wird sauber und
APÉRO
32
frisch am Grill zubereitet und schmeckt
lebensverändernd gut.
Wenige Blöcke die Straße weiter, auf der
Avenida Cuauhtémoc in Narvarte, befindet
sich eine Dependance des Kettenrestaurants
Casa de Toño – eine lange, kantinenartige
Pozolería (von pozole, einem Maiseintopf). Ich
genieße den Weg die Bajío hinunter dorthin.
Entlang einer der Hauptschlagadern der Stadt
ist die breite Wohnstraße Miguel Alemán
gesäumt von Bäumen, einem oder zwei Antiquariaten und einigen besonders schönen
Häusern im Pueblostil. Das Casa de Toño ist
immer laut und überfüllt, eine Meute hungriger Mexikaner ergießt sich die Treppen hinunter. Sie haben eine Nummer gezogen und
warten nun darauf, aufgerufen und platziert
zu werden. Doch wegen der slapstickartigen
Schnelligkeit, mit der die wimmelnde Menge
buchstäblich sprintender Kellner Bestellun-
Treppenabsatz zum ersten Stock. Was ich
daran liebe, ist, dass sie vor allem mit der lokalen Gemeinschaft arbeiten und andauernd
Ausstellungen machen, egal was passiert. Sie
organisieren Diskussionen und Studiengruppen und fungieren dabei als Zelle, aus der sich
eine ganze Generation mexikanischer Künstler herausbildet. Einer ihrer Gründer, Daniel
Aguilar Ruvalcaba, dessen neugierigem, offenem und aufmerksamem Wesen der Ort seine
positive Atmosphäre verdankt, ist zugleich
einer der aufsteigenden Sterne am Kunsthimmel Mexikos.
ine Tonalá, das in Roma Sur startete,
genau einen Block von meiner Wohnung auf der Calle Tonalá entfernt,
hat sich inzwischen zu einer Art Franchise
entwickelt. In La Merced im kolumbianischen
Bogotá wurde eine Filiale eröffnet, und ein
dritter Ableger in Tijuana, im Nordwesten
Mexikos, ist in Planung. In erster Linie ist
Cine Tonalá ein kleines Kino, das Independent- und Festivalfilme zeigt. Aber es gibt
auch eine Bar, ein Restaurant und eine Konzerthalle (ich habe sogar zeitgenössischen
Tanz dort gesehen). Ausgestattet mit viel
Holz und Eisen, Filmpostern und einer Markise, wirkt das elegante Interieur warm genug,
um sich hier willkommen, aber nicht allzu hip
zu fühlen. Die Organisatoren arbeiten mit
ortsansässigen Künstlern und Projekträumen, und so umarmt der Ort auf bewundernswerte Weise das Lokale, ohne seine
ursprüngliche Funktion als Kino zu verlieren.
Im Gegensatz zu den meisten Kinos ist Cine
Tonalá dezidiert sozial – an den Freitag- und
Samstagabenden tummelt sich hier eine
attraktive, cocktailtrinkende Menge an 20- und
30-Jährigen. Tonalá, das vom Aztekischen
herrührt und „der Ort, von dem die Sonne
kommt“ bedeutet, ist auch eine meiner Lieblingsstraßen in Roma Sur. Ironischerweise ist
Tonalá, trotz seines linguistischen Ursprungs,
im Zwielicht ein beinahe magischer Ort. Auf
dieser schläfrigen, ruhigen, baumgesäumten
Straße, auf der kaum Autos fahren, würde ich
am liebsten für immer im Abendrot entlangspazieren. Und in Gedanken, während ich
diese Zeilen schreibe, tue ich das auch jetzt.
C
gen aufnimmt, Essen herbeiträgt und Tische
säubert, muss man nie lange warten. Die Spezialität des Hauses ist Pozole, eine prähispanische Suppe und ursprünglich ein heiliges
Aztekengericht mit Menschenfleisch. Sie
besteht heute aus einem Sud, Maisgrütze und
nichtmenschlichem Fleisch, das man mit
allerlei Zutaten garnieren kann, etwa Limette,
Avocado, Tortilla und Chili. Doch Vorsicht:
Je nach der eigenen Reizschwelle führt der
Verzehr dieser Suppe zu einem semieuphorischen Essenskoma.
Und noch etwas liebe ich an Mexico
City: den kulturellen Reichtum. Die Stadt
kann mit mehr Museen als die meisten europäischen Städte prahlen. Seit einigen Jahren
flutet eine neue Welle von Initiativen die
Stadt, angeschoben von mexikanischen
Künstlern und jungen Kunstleuten. In dieser
Gegend gibt es zwei sehr unterschiedliche
Schlüsselorte: zum einen den von Künstlern
betriebenen Projektraum Bikini Wax und
zum anderen das Cine Tonalá, ein Independentkino mit Restaurant und Konzerthalle.
Bikini Wax liegt unweit vom Lulu im benachbarten Escandón. Die Ausstellungen finden
in jedem Winkel der notorisch unaufgeräumten Wohnung der Künstler statt, von den
Schlafzimmern bis unters Dach oder auf dem
TEXT: CHRIS SHARP, KUNSTKRITIKER UND
FREIER KURATOR
FOTOS: CARLOS ÁLVAREZ MONTERO
ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT
APÉRO
33
Pablo Picasso, Arlequin à cheval (Étude), 1905
© Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
FRA
ANGELICO
Von
Robert Polidori
TEXT:
HANS-JOACHIM MÜLLER
Seit der kanadische Fotograf
Robert Polidori Fra Angelicos
Fresken im Florentiner
Klostermuseum San Marco
entdeckte, ließen sie ihm
keine Ruhe. Nach jahrelangem
Drängen erhielt er endlich
die Erlaubnis, sie zu fotografieren. Raum für Raum wartete
er in den nachmittäglichen
Schließstunden auf das
richtige Licht. Entstanden ist
eine Bildersuite, so feierlich
still, wie es die Tage in den
Zellen gewesen sein müssen,
bevor wir, die Touristen,
sie fluteten. Jetzt zeigt Polidori
sie erstmals in BLAU
DAS ABENDMAHL
Noch einen Schritt weiter und man steht in der Zelle und sieht, wie Christus die Hostie verteilt
Auftaktseite: DIE VERSPOTTUNG CHRISTI
Einer spuckt, eine Hand schlägt
DIE VERKÜNDIGUNG
Der heilige Dominikus schaut vom Garten aus zu, wie der Engel im Bogengang
gelandet ist und der ergebenen Maria ihr Schicksal verkündet
DIE AUFERSTEHUNG
Maria trauert, der heilige Dominikus hat eine Vision, Christus erhebt sich aus dem Grab —
und wie aus dem Off erscheinen an der schwarzen Wand Szenenbruchstücke der Passionsgeschichte
DIE BEWEINUNG CHRISTI
Der tote Christus wird gepflegt, als ob es noch etwas zu pflegen gäbe.
Und Fra Angelico malt die Grabhöhle so weich und zart wie den Faltenwurf der Gewänder
DIE KREUZIGUNG MIT DEM LANZENSTICH
Kreuzigungsfresken finden sich in San Marco in vielen Zellen. Doch nur hier kann
Maria nicht zuschauen und birgt entsetzt ihr Gesicht in den Händen
J
etzt trippelt die Gruppe. Und jetzt hält
sich die Gruppe die Ohren zu. Muss ja
auch nicht sein, dass einer mit der getunten Vespa durch die Via Ricasoli donnert.
Ringsum dämmert die Stadt in den Morgen.
Und wenn der japanische Touristenfleiß
nicht wäre, man würde Florenz nicht anmerken, dass sich irgendetwas verändert hat seit
den Tagen, als Dante durch alle Himmel und
Höllen reiste.
Wer das schmale Sträßchen nach Norden trippelt, hat nur ein Ziel: San Marco,
damals Kloster, heute Museum, wo der
Dominikanermönch Fra Angelico Jahre seines unbekannten Lebens verbracht und seinen Brüdern im Glauben Wunschfresken in
die Zellen gemalt hat. Es würde sich empfeh-
Fra Angelico hat seinen Ordensbrüdern nichts
erklären müssen. Sie haben seine Zeichensprache,
seine malerischen Kürzel gut verstanden
len, ein wenig schneller zu gehen. Vielleicht
schafft man es ja noch vor dem Andrang am
Kassenhäuschen. Aber von rechts aus der
Via del Pucci quellen schon die Holländer.
Und hundert Meter weiter an der Via Guelfa
hat man die Briten eingeholt. Nie ist man
allein mit Fra Angelico.
Nur Robert Polidori war mit ihm allein.
Der kanadische Fotograf hat die Fresken vor
Jahren bei einem Besuch im Kloster entdeckt
und war, wie er erzählt, sofort tief beeindruckt von ihrem Ernst, ihrer mysteriösen
Eleganz. Wie sich Zelle um Zelle die erzählenden Bilder zu einer geheimnisvollen
Enzyklopädie verbinden, das hat alles übertroffen, was er von Fra Angelico aus Büchern
kannte. Dass er wiederkommen würde, war
abgemacht. Aber es sollte dann doch noch
Jahre dauern, bis er die Erlaubnis bekam,
dort zu fotografieren, wo die Mönche einmal
wie in einem Museum gelebt haben.
Es war Frühjahr, als Polidori mit einem
Kameraassistenten und zwei 500-Watt-Lampen vor der Klostertür stand. Immer nachmittags, wenn San Marco geschlossen ist und
die alte feierliche Stille einkehrt, hat er geduldig gewartet, bis im Gleichgewicht von
Kunstlicht und eindringender Sonne die
Fresken zu leuchten begannen, als seien sie
eben aus dem Dämmer der Zeiten erwacht.
IM FEIERLICH-STILLEN
WELTABSCHLUSS
Was Robert Polidori von jenen Nachmittagen mit Fra Angelico aufbewahrt hat, ist hier
zum ersten Mal zu sehen. Und so wie der
Fotograf in die Räume blickt, ist es allerschönste kontrafaktische Erzählung. Nur so,
im feierlich-stillen Weltabschluss wird noch
einmal jene Schwellenzeit vorstellbar, als das
späte Mittelalter nicht mehr spätes Mittelalter
und noch nicht ganz frühe Neuzeit, die
Gotik nicht mehr Gotik und noch nicht ganz
Renaissance gewesen war.
Es passt nur einer in jede Zellentür und
weiter darf man nicht hinein. So steht man,
wie man sonst nie vor Bildern steht – im
Rücken das Völkergemisch, vor einem die
gewölbte Kammer, das tief eingeschnittene
Fenster, die Wand, in deren halbrunde Oberkante der Maler sein Gemälde mit der halbrunden Oberkante eingepasst hat, dass man
denken könnte, es lehnte sich an die Schultern des leeren Raums.
Maria Magdalena hat gerade die Grabhöhle verlassen. Vom Schreck über den verschwundenen Leichnam ist ihr nichts anzumerken. Sie kniet in der blühenden Wiese.
Ein heiterer Ostermorgen, der ein wenig
schmunzeln muss über die Pinie und die
Palme dort und hier über die Zypresse, die
so gar nicht nach botanischer Vorschrift
geraten scheinen. Da kommt der weiß
gewandete Auferstandene vorbei und der
Kreuzschritt, den er tut, ist überaus kompliziert. Es ist fast wie Schweben durchs hohe
Gras. Und weil er eine Hacke über der Schulter trägt und es ja nicht anders sein kann,
meint Maria, es sei der Gärtner. Und streckt
die Hand nach ihm aus. Und der vermeintliche Gärtner sagt: Rühr mich nicht an. Und
wie er seine Hand über ihre Hand hält, dass
es aussieht wie ein Berührungswunsch, der
nicht mehr ganz Berührungswunsch und
REVUE
42
noch nicht ganz Berührung ist, das ist so
kaum einmal gemalt worden.
Einige würden sagen, sagt Giorgio
Vasari, der Maler habe nie den Pinsel in die
Hand genommen, ohne vorher gebetet zu
haben, und nie ein Kruzifix gemalt, ohne
dass ihm die Tränen über die Wangen
geströmt seien. Nun muss man dem großen
Biografen der großen Maler des 14. und
15. italienischen Jahrhunderts ja nicht alles
aufs Wort glauben. Und vor den mancherlei
Kreuzigungsfresken in den Nachbarzellen
mit den routiniert rinnenden Blutrinnsalen
darf einem die heilige Dreifaltigkeit aus Pinsel, Tränen und Gebet auch wie ein Markenzeichen vorkommen. Aber diese Christusund die Mariengebärde, ihre berührungslose
Berührung, das ist so voller Empfindungszauber, dass man nicht glauben mag, dass
zwischen ihren Händen und unseren Händen fünfeinhalb Jahrhunderte liegen.
Weil Fra Giovanni ein so
außerordentliches Maltalent
war, nannten sie ihn Fra
Angelico, den Engelsgleichen
In der langen Zeit ist manches vergessen
worden. Man weiß heute wirklich nicht mehr
viel. Guido di Pietro stammt wohl aus Vicchio, einer kleinen Gemeinde im toskanischen Hügelland nördlich von Florenz.
Schon als junger Mann trat er dem Dominikanerorden von Fiesole bei. Von nun an hieß
er Fra Giovanni. Und weil Fra Giovanni ein
so außerordentliches Maltalent war und sich
in Florenz und über Florenz hinaus einen
bald legendären Namen machte, nannten sie
ihn Fra Angelico, den Engelsgleichen. Und
der bedankte und revanchierte sich nach
Kräften und trug mit Engeln und anderen
überirdischen Personen nachhaltig zur irdischen Wohlfahrt seines Ordens bei.
Tatsächlich war es keine schlechte Vermögensanlage, einen Meister wie ihn im
Konvent zu haben. Die Dominikaner von
Fiesole, die – zur Armut verpflichtet – immer
knapp bei Kasse waren, hätten Anfang des
17. Jahrhunderts den Offenbarungseid leisten müssen, wenn da nicht noch eine stille
Rücklage gewesen wäre. Für 1.500 Dukaten
verkauften sie im Jahr 1611 des Malers
berühmte Verkündigung Mariens an einen Farnese-Herzog. „Lob und Dank sei dem
Herrn“, diktierte der Prior in die Chronik,
„aber auch unserem Maler Angelico, von
dem unser Kloster noch nach 160 Jahren
eine solche Wohltat erfahren darf.“
Immerhin reichte die erwirtschaftete
Summe für einen Glockenturm an der Klosterkirche und einen neuen Sakramentsschrein auf dem Hochaltar. Heute gehört das
Gemälde dem Prado in Madrid und auch
wenn man die Bewunderung etwas anders
ausdrücken würde, gilt noch immer, was
Michelangelo über seinen hochgeschätzten
Kollegen gesagt hat: Der Maler eines solchen
Gemäldes habe es verdient, im Himmel zu
sein, um das zu bewundern, was er auf Erden
so schön geschaffen hat.
nd jetzt – zwei Zellen weiter – stehen
wir vor der Verkündigung, die er in San
Marco so schön geschaffen hat. Vor
jener Szene aus dem Geschichtenbuch des
Evangelisten Lukas, die der Kunstgeschichte
stets Anlass für großes Figurentheater war:
der Engel Gabriel mit den apart gefiederten
Flügeln, der sich Zugang verschafft ins Mariengemach und mit hehren Worten die Seelenruhe seines Menschenopfers zerstört, ihm
von der Fremdbestimmung seines Leibes
erzählt, von göttlicher Insemination, vom
menschenvaterlosen Kind, und gleich wieder
verschwindet. Immer haben die Maler die
heikle Stelle der christlichen Erzählung als
faktische Überrumpelung gegeben, als heilsgeschichtlich notwendige Form der Vergewaltigung, bei der der ancilla Domini, der
Magd des Herrn, gar nichts anderes übrig
bleibt, als sich mit matter Abwehrgeste ins
Schicksal zu fügen.
U
Christus stürmt in die Vorhölle, erlöst die auf
Erlösung Wartenden, und dem Teufel fällt die Tür
auf seinen missratenen Leib
men. Aber das zumindest ist urkundlich
beglaubigt, dass sie den „Guido di Pietro
dipintore“ am 31. Oktober 1417 in die Compagnia di San Niccolò, eine der Florentiner
Malerzünfte, aufgenommen haben. Es muss
nicht sein, dass er da schon einen beträchtlichen Ruf gehabt hat. Nach den Regularien
stand die Malergilde auch dem Nachwuchs
offen. Aber es ist eher wahrscheinlich, dass
die Handwerkerzunft – und damals gehörte
die Malerei noch dem Handwerkerstand an –
ihre Privilegien und Lizenzen nur Leuten
verlieh, die bereits im Netzwerk der kirchlichen und bürgerlichen Aufträge eine auffällige Rolle spielten.
DIE FEHLENDEN
ANDERTHALB JAHRZEHNTE
Er ist aus den frommen Geschichten nicht
wegzudenken, der mustergültig nachdenkliche
heilige Dominikus, der Gründer des Ordens
Bei Fra Angelico sind sich Engel und
Maria gegenüber wie zwei, die sich wortlos
verstehen. Es ist so gut wie keine Körperbewegung gemalt. Das Rauschen der Engelslandung, das sonst noch in der Luft liegt, ist
völlig verstummt. Keine ausgestreckte
Begrüßungshand, kein Zeigen, Bedeuten,
Zurückweichen, kein lautes Zeichen. Maria
kniet auf ihrer Bank, der Engel steht vor ihr,
beide haben die Arme vor der Brust verschränkt, beide schauen sich an, und niemand schlägt die Augen nieder. Vielleicht
stehen und knien sie schon eine ganze Weile
so da und werden noch eine ganze Weile so
stehen und knien bleiben. Beobachtet nur
vom heiligen Dominikus in den Arkaden, der
hier in San Marco immer zur Stelle ist und
das Unwahrscheinliche bezeugt.
Vielleicht sieht er ja, was wir auch sehen.
Sieht mit der gleichen Faszination den
schmalen, spitz zulaufenden, dunklen Schatten hinter der Maria an der Wand. Nie hat Fra
Angelico Figurenschatten gemalt. Nur einmal und nur hier. Als traute er dem Frieden,
der ihm so unvergleichlich gelungen ist, doch
nicht alles zu.
Woher er das hat? Wenn man’s wüsste!
Bei irgendjemand muss er in der Werkstatt
gewesen sein. Ohne Ausbildung, ohne Lehrjahre ist damals keiner Maler geworden, hat
keiner, mag er noch so staunenswert begabt
gewesen sein, irgendwelche Aufträge bekomREVUE
43
Magnolia Scudieri, die Direktorin des Museums San Marco, hat ihr Büro in einem finsteren Gang hinter dem ehemaligen Refektorium des Klosters, wo heute der Bookshop
ist. Alle müssen an ihr vorbei, wenn sie wieder ans Florentiner Licht wollen. Jahrzehnte
hat die Kunsthistorikerin mit dem Maler
ihres immer wieder stillen Hauses verbracht.
Was man über Fra Angelico sagen kann,
guten wissenschaftlichen Gewissens, hat sie
gesagt, geschrieben, immer wieder. Mit
Nachdruck betont, dass man Vasari, dem
großen Biografen der großen Maler des 14.
und 15. italienischen Jahrhunderts, wirklich
nicht alles aufs Wort glauben darf. Bei ihm ist
der Maler 1387 geboren. Und so liest man es
auch in der römischen Dominikanerkirche
Santa Maria sopra Minerva, wo sie ihm nach
seinem Tod 1445 ein schmuckloses Grabmal
eingerichtet haben. Wenn es stimmt, wäre er
bei der Aufnahme in die Compagnia di San
Niccolò vierzig Jahre alt gewesen. In einem
Alter also, in dem einer längst über die Lehrzeit hinaus ist.
Muss aber nicht stimmen. In der Zwischenzeit führt die Forschung gute Gründe
an, Fra Angelicos Geburt wesentlich später
anzunehmen, vielleicht erst kurz nach 1400.
So lange nichts entschieden, nichts entscheidbar sei, sagt Magnolia Scudieri, müsse
man mit beiden Zeitrechnungen rechnen.
Dann freilich fehlen anderthalb Jahrzehnte im Leben des Malers. Und so hat es
nicht ausbleiben können, dass sie kräftig
wucherten, die Fantasien, und man ohne ver-
lässliche Führerschaft Fra Angelico hin und
her durch das Florenz seiner Zeit begleiten
wollte. Hat er bei Lorenzo Monaco studiert,
der die Spätgotik ins Bizarre aufzulösen
begann? War er mit Filippo Lippi zusammen,
der so ziemlich die erste Galerie der stolzen
frühhumanistischen Erfolgsmenschen
gemalt hat? Hat er die Seelentiefe seiner
Figuren bei Masaccio oder Masolino gelernt,
die in Santa Maria del Carmine, in der
berühmten Brancacci-Kapelle, Menschen im
Aufruhr ihrer Gefühle freskiert haben, wie
man das so noch nie gesehen hatte?
DIESE MISCHUNG AUS
INNIGKEIT UND NAIVITÄT
Ist alles möglich. Aber wenn man dann vor
dem Weihnachtsbild steht, vor der Innigkeit,
mit der das puppig-steife, nackte Neugeborene angebetet wird, während hinten Ochs
und Esel aus einem Kübel fressen und sich
dabei anstarren, als sei ihnen gerade ihre
Artfremdheit bewusst geworden, dann ist
man sich doch ganz gewiss, dass diese
Mischung aus Innigkeit und Naivität, alter
Bildformel und neuer Erzählweise ohne
wirkliches Vorbild ist.
an gewöhnt sich rasch an diese
unverwechselbare Malhandschrift,
würde nach einem Morgen in San
Marco darauf wetten, Fra Angelico unter
allen Mitbewerbern im grandiosen Contest
der Frührenaissance heraussehen zu können.
Schon wie er Felsen, Hügel, Berge gemalt
hat. Immer kahl. Immer rundlich ausgewaschen, wie Klippen, an denen die Brandung
seit Urzeiten nagt. Man könnte sich vorstellen, dass er sich im Atelier kleine Holzgerüste
gebaut und graubeige Tücher darübergelegt
hat. Jedenfalls hat die Landschaft in diesem
Werk ihren eigenen Faltenwurf und mutet so
weich an wie die Gewänder der Figuren,
durch die ein Knie oder ein Arm drückt.
Ist das der stile nuovo, als den die Kunstwissenschaft die malerische Schwellenepoche zu Beginn des 15. Jahrhunderts
bezeichnet? Schon Giotto, ein ganzes Säkulum früher, hat ja die erstarrten Konturen
des ikonischen Personals mit ungesehener
Emotion aufgeweicht. Wenn man in den
Uffizien vor seiner thronenden Madonna
steht, dann ist es, als sei jetzt vollends der
Schmerz aus seiner Schmerzmaske gebro-
M
chen. Aber erst Fra Angelico wird dann das
Schmerzmotiv bis in die Figurenregie hineinverfolgen. Beim Kreuzigungsfresko in
Zelle 42 muss sich Maria abwenden und
bedeckt voller Schauder ihr Gesicht mit den
Händen, während der heilige Dominikus entsetzt zuschaut, wie der Soldat seine Lanze
dem Gekreuzigten in die Rippen bohrt.
Das ist neu. Und neu ist auch, wie Fra
Angelico seine Geschichten mitunter comicartig abkürzt. Auf einem der seltsamsten
Bilder sitzen Dominikus und Maria versunken in fromme Lektüre und trauernde
Anschauung. Jeder für sich, in kolossaler
Weise einsam. Ist das allein schon von
bestürzender Intensität, so bekommt die
Szene etwas Magisches, indem sich hinter
den Figuren auf einer Art heruntergerollter
Projektionsleinwand die Passionsgeschichte
wie in Sprech- oder Traumblasen abspielt.
Der dornengekrönte Christus mit verbundenen Augen, umgeben von isolierten Schlagehänden. Eine hält einen Knüppel, eine hebt
spöttisch einen Hut, eine zupft am Heiligenschein. Ein Solokopf spuckt. Das ist ziemlich grotesk, und solche zeichenhafte Abbreviatur sollte man nicht mit jener Volksbelehrung verwechseln, die auf einem
mittelalterlichen Altarbild die Marterwerkzeuge versammelt, um an das Leiden Christi
zu gemahnen.
In der Summe haben diese
Fresken kein anderes Thema
als Versenkung, Vision,
vorbewusste Gewissheit
Fra Angelico muss ja niemanden belehren.
Jeder hier kennt die überlieferten Geschichten mitsamt ihrem pädagogischen Mehrwert.
Anders als im Außendienst, bei dem die
Dominikaner als ordo praedicatorum, als Predigerorden, in Erscheinung traten, sind sie hier
in ihrer Florentiner Kloster-Dependance
unter sich und ohne Publikum. Kein Geringerer als der berüchtigte Girolamo Savonarola, der wortmächtige Hetzer gegen kirchlichen und politischen Sittenverfall, der die
aufgeschreckten Wutbürger um sich scharte,
bis man ihn als Staatsfeind auf der Piazza
della Signoria erhängte und verbrannte, hatte
in San Marco seinen Stamm- und RückREVUE
44
zugstrakt. Mit Bravour spielten die Dominikaner ihre herausgehobene Rolle bei den
kulturellen Umbrüchen des frühen 15. Jahrhunderts. Und ihr malender Bruder, den sie
immer wieder auch mit Leitungsaufgaben
betraut haben und der doch alle künstlerischen Freiheiten genoss und im monastischen Atelier so viele Gehilfen beschäftigen
durfte, wie er brauchte, musste keinem in die
Zelle malen, was alle in- und auswendig
kannten.
Vielleicht liegt es ja am Ort, der nichts
von seiner gebieterischen Ausstrahlung verloren hat, dass man bald wie unter Hypnose in
eine Laiennachdenklichkeit verfällt. Gibt es
denn so etwas wie ein Bildprogramm, das sich
Zelle um Zelle und die langen Gänge entlang
entfalten würde? Haben die Novizen und
geweihten Konventualen bestimmen dürfen,
mit welchen Bildern sie ihr Klosterleben teilen wollten? Auch das wüsste man gern. Ja,
auch das wüsste man gern, sagen alle, die wie
Magnolia Scudieri dem Maler und seinem
Werk unermüdlich auf der Spur sind.
Verlässt man sich auf den Augenschein,
dann wird aus den einzelnen Bildern an den
Wänden kein neutestamentlicher Geschichtenfries. Alles, fast alles hier hat seinen
Ursprung in der Passion, in jenem Zwischenreich zwischen Tod und Auferstehung, das
die christliche Botschaft als ihre geheimnisvollste und zugleich erfolgreichste Pointe
hütet. Und in der Summe haben diese kaum
verblassten Fresken kein anderes Thema als
Versenkung, Verklärung, Abkehr, Traum,
Erscheinung, Vision, vorbewusste Gewissheit. Fra Angelico hüllt, was er malt, in einen
somnambulen Dämmerzustand. Und wenn
man sich an sein pastellenes Farblicht
gewöhnt hat, dann entdeckt man auch, dass
alles fehlt, was auf Welt hindeuten könnte.
Das eben ist der Unterschied zur bald
beginnenden Renaissance und ihrem drängenden Interesse an allem, was Welt ist und
Welt war und Welt sein soll. Mit Fra Angelico
hätte man nicht über Vergil und Ovid diskutieren können. Und von den Gebräuchen und
Gepflogenheiten der neuen bürgerlichen
Machtelite hatte er nicht viel Ahnung. Seine
Welt ist auf wundersame Weise weltentlastet.
Nur einmal ist der Malermönch – ein
bisschen politisch geworden. Zumindest
wollen wir es so annehmen. Denn ganz hinten im Kloster-Umgang hatte Cosimo de’
DIE ANBETUNG DER KÖNIGE
In diese Zelle zog sich Cosimo de’ Medici gelegentlich zurück. Fra Angelico
empfahl dem Machtmenschen, es so zu halten wie die demütigen Könige
Medici seinen bescheiden-behaglichen
Unterschlupf. Der sündhaft reiche Banker,
der Päpste, Könige und Kaiser finanzierte,
der mit seiner Familie ein knappes Jahrhundert lang die Machtfäden seiner Stadt in der
Hand hielt, der bewunderte Freund von
Künstlern und Gelehrten, dieses Modellsubjekt aufgeklärter Bürgerlichkeit – er also,
Cosimo mit den spitzen Ohren und der spitzen Nase, bewohnte – gelegentlich – Zelle 38.
Schließlich hatte er die vom Baumeister
Michelozzo entworfene Klosteranlage mit
rund 50.000 Florinen gesponsert. Das wären
heute umgerechnet rund eine Million.
F
ür den Machtmenschen eine Art Spa,
verbunden mit doch irgendwie lukrativer Investition ins Seelenheil. Ob
Cosimo im Refektorium bei dünner Suppe
saß, wissen wir nicht. Aber das wissen wir,
dass ihm Fra Angelico eine muntere Anbetung der Könige und Magier aus dem sogenannten Morgenland in die Kammer gemalt
hat. Einerlei ob der Aufmarsch und Kniefall
der Edelleute vor dem Kind im Stall bestellt
worden war oder nicht. Hier jedenfalls hat
der Maler in schönster Unbescheidenheit
dem illustren Klostergast etwas zum Schauen,
Staunen und Nachdenken gegeben.
REVUE
45
Und weil es mit dem Schauen, Staunen
und Denken einfach kein Ende haben kann,
richtet sich jetzt der Mann von seinem Wärterstuhl auf, auf dem er die ganze Zeit mit
geschlossenen Augen saß. Gleich würden die
schweren Tore ins Schloss fallen. Und wenn
er uns einschlösse? Dann geradewegs zurück
zur Verkündigung. Und dann stünde man
neben dem heiligen Dominikus in den Arkaden und schaute dem Engel und der Maria
zu, wie sie sich noch immer unverwandt
anschauen. Und weil es bald dunkel würde,
wäre auch der schwarze Schatten an der
Wand nicht mehr da.
THE OPERA OF PREHISTORIC CREATURES, ENTELODON
„HELL PIG“, 2012, MIXED MEDIA, 360 × 320 × 100 CM
REVUE
46
Marguerite
Humeau
HIGH
DEFINITION
HORROR
REVUE
48
MARGUERITE HUMEAU, FOTOGRAFIERT IN LONDON VON
JONNIE CRAIG
THE OPERA OF PREHISTORIC CREATURES, 2011, MIXED MEDIA, 700 × 405 × 900 CM
Von links nach rechts: ENTELODON „HELL PIG“, AUSTRALOPITHECUS AFARENSIS „LUCY“, AMBULOCETUS „WALKING WHALE“
IHR DING SIND DIE
GROSSEN GEGENSÄTZE:
ZUKUNFT UND VERGANGENHEIT, MAGIE UND
TECHNIK, ELEFANTENTRÄNEN UND 3-D-DRUCKER.
IHRE VISION: DEN URSPRUNG
DER WELT NACHSPIELEN.
EIN TREFFEN MIT
MARGUERITE HUMEAU
arguerite Humeau trägt heute Kleopatra-Schmuck, denn
der ist gut für ihre Nerven. Das etwas muffige HipsterCafé im Londoner Stadtteil Dalston, in dem wir uns treffen,
ist der Abklatsch einer Szenekneipe aus Kreuzkölln, nur dass hier
der Wildkräutersalat doppelt so teuer ist. Alle hier wirken irgendwie
jung und wichtig, angehende Start-up-Unternehmer oder Designer,
für die dieses alternative Ambiente als hedonistische Kulisse ihrer
Geschäfte dient. Sie komme gar nicht oft hierher, lacht Humeau,
nur die Journalisten wollten sie immer hier treffen. Man fragt sich
warum. Die Musik ist so laut, dass wir uns anschreien müssen.
Auf den ersten Blick passt Humeau mit ihrem langen Rock und den
Doc Martens ganz gut in diese Umgebung. Sie sei ständig auf
Reisen, habe kein Atelier, arbeite nur in einem kleinen Büro, plane
ihre Ausstellungen lediglich am Computer, hatte Duve, ihre Berliner
Galerie, im Vorfeld verkündet.
Man könnte sich Humeau als Post-Internet-Profi vorstellen,
eines dieser Millionen Wesen, die in Lokalen mit Wifi-Anschluss
skypen oder auf ihr Notebook einhämmern, die aussehen, als hätten
sie Spaß, sich vor allem aber selbst ausbeuten. Tatsächlich treffen
auch wir uns hier wie alle anderen zum Arbeiten. Schaut man genau
M
REVUE
49
hin, ist auch Humeau eine gewisse Erschöpfung anzumerken.
Doch da ist auch diese andere, fast romantische Aura, die sie
ausstrahlt: Mit ihrer opulenten Silberkette, dem abgepuderten
Gesicht, roten Lippen, welligen Haaren wirkt sie wie eine
Figur aus den poetischen Filmen, die Jean Vigo oder René Clair
in den 30er-Jahren gedreht haben. Eine dieser Heldinnen, die
in Kaufhäusern arbeiten, aber einen großen Traum haben. Gerade,
so erzählt sie mit dieser flapsig-rauchigen Stimme, die alle
Französinnen haben, wenn sie Englisch sprechen, habe sie ihre
Haare abgeschnitten.
Das Gespräch ist für sie eine willkommene Auszeit von den
Vorbereitungen zu ihrer ersten großen institutionellen Einzelausstellung im Juni im renommierten Palais de Tokyo in Paris. Anders
als die Frauen in den alten Schwarz-Weiß-Filmen träumt Humeau
nicht von einem Mann oder einer besseren Zukunft. Ihre Vision,
erklärt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, sei es, den Ursprung
des Lebens nachzuspielen, ganz besonders von fühlenden und
intelligenten Lebensformen. Es sind Geschichten von verlorenen
oder jenseitigen Welten, die Humeau interessieren, von prähistorischen Ungeheuern, dem Ägypten der Pharaonen, außerirdischen
Raumschiffen oder geheimen Bestattungsritualen von Elefanten.
Sie selbst bezeichnet sich als eine Art „Indiana Jones in den Zeiten
von Google“.
Die „Kleopatra-Kette“, wie sie sie nennt, ist eine Referenz an
ihr Projekt Cleopatra – That Goddess, das sie 2014 für den von Hans
Ulrich Obrist kuratierten Extinction Marathon realisierte, eine Veranstaltung in der Londoner Serpentine Gallery, die sich mit dem
Aussterben und gleichzeitig mit Visionen für die Zukunft beschäftigt hat. An Kleopatra fasziniert Humeau besonders, dass es zwar
zahlreiche Berichte über ihre überwältigende Schönheit gibt, aber
nicht davon, wie wohl ihre Stimme klang. Humeaus Plan: sie wieder
als Diva des 21. Jahrhunderts auferstehen zu lassen – durch ihre
Stimme. Die Pharaonin Kleopatra soll neun Sprachen beherrscht
haben, neben Altgriechisch, Aramäisch oder Althebräisch auch
lange ausgestorbene Dialekte. Humeau reiste um die Welt,
THE THINGS? – A TRIP TO EUROPA, PROPOSAL 2 FOR SERENADING OUTER
SPACE CREATURES WITH STUNTS, VIBRATIONS, CHEMISTRY,
LIGHT, AND LIVE MAGIC, 2014, PVC UND LUFT, 300 × 150 × 300 CM
um Experten zu finden, die diese Sprachen übersetzen können, und
ließ Kleopatras Stimme von der Speech Research Group des
Machine Intelligence Laboratory, einer Spezialabteilung der University of Cambridge, nachbauen. Zuvor hatte sie präzise Beschreibungen von Historikern, Sprach-und Kommunikationswissenschaftlern, Chirurgen und Forschern für Stimmorgane eingeholt. Das
Liebeslied, das Humeaus Kleopatra singt, stammt aus dem Ägyptologischen Institut des University College London. Diese Idee,
Stimmen wieder zum Leben zu erwecken, eine Art digitale Reinkarnation zu versuchen, ist maßgeblich für Humeaus ebenso fantastisches wie philosophisches Werk.
„Wie abstrakt kann Leben sein?“, fragt
Marguerite Humeau. Und: „Wie figurativ
muss es sein?“
Zu Beginn ihrer Laufbahn stellte sie nicht nur in der Serpentine
Gallery und im Victoria and Albert Museum aus, sondern auch
im MoMA, das gleich ihre Abschlussarbeit des Designstudiums am
Londoner Royal College of Art für seine Sammlung ankaufte.
In diesem Sommer wird sie auch auf der von Christian Jankowski
kuratierten Manifesta 11 in Zürich zu sehen sein. Um ihre Karriere
zu starten, nahm Humeau einen hohen Kredit auf und setzte alles
auf eine Karte. „Wenn ich nicht an meine Träume glaube, wie sollen
es dann andere tun?“, sagt sie.
Mit nur 29 Jahren hat sie organisch-technoide Maschinenskulpturen aus lackiertem Styropor gebaut, die wie Aliens wirken.
Ihre Oberflächen sind so glatt wie die weißen Helme der Stormtroopers bei Star Wars. Sie stehen auf Metallbeinen und wirken
wie Prothesen. Ausgestattet sind diese Wesen mit Stimmbändern,
die 3-D-Drucker produziert haben. Für The Opera of Prehistoric
Creatures generieren sie Laute aus der Urzeit, dem Jenseits oder der
Zukunft, die auch aus Steven Spielbergs Jurassic Park oder einer
Zwölftonoper stammen könnten. Die Kreaturen tragen Namen
wie „Lucy“, „Mammoth Imperator“ oder „Terminator Pig“.
„Ich war gar nicht immer an der Vorzeit interessiert“, sagt
Humeau, „ ich hatte mich schon lange mit Stimmen beschäftigt. Als ich mein Projekt für das RCA begann, dachte ich eher
an die Zukunft der Performance. Ich hatte dieses Video eines
japanischen Ingenieurs gesehen, der wirklich Organe in 3-D
ausdrucken konnte. Und ich fragte mich, was wohl passiert,
wenn man seinen Kehlkopf ausdrucken und zur selben Zeit
an verschieden Orten singen oder sprechen könnte, und was
das wohl für die Performance bedeuten würde.“
Spätestens seit ihrer Show Echoes bei Duve, die zum
Berliner Gallery Weekend 2015 eine kleine Sensation auslöste,
gilt Humeau als geniale Bildhauerin und Installationskünstlerin. Für die Ausstellung hatte sie urtümliche, nach altägyptischen
Gottheiten benannte Wesen entwickelt, die in künstlichen
Blutkreisläufen Gifte und Gegengifte, Elixiere des Lebens und
des Todes produzieren. Die Wände der Ausstellungsräume
strich Humeau mit neongelber Farbe, in die sie homöopathische Dosen von Mambagift träufelte. Einen „liquiden Körper“
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ALIEN SIGNAL (BLACK POWDER), EXTRACT FROM DIRECTOR’S CUT, 2013, DIGITALER HD-DRUCK
nennt sie diesen Anstrich, ein „Fresko“. Dieses Prinzip des
dekonstruierten Körpers, der nur feinstofflich oder reanimiert, wie
ein Gespenst präsent ist, wird auch die Ausstellung im Palais
de Tokyo bestimmen. „Die große Frage in meiner Arbeit ist, was
Leben und Tod sind, wo das eine anfängt und das andere aufhört“,
erläutert Humeau. „Am interessantesten ist der Zustand, der
dazwischenliegt. Wie konstruiert, wie designt man ihn? Wo liegt die
Grenze? Was bedeutet Existenz? Und was braucht man, um zu
existieren? Nur eine Stimme? Im Film Her ist Scarlett Johansson
nur eine Stimme, aber existiert sie? Lebt sie oder nicht? Ist das
eine andere Lebensform? Wie abstrakt kann Leben sein? Wie
figurativ muss es sein?“
en Ausgangspunkt der Pariser Schau bildet die hypothetische Frage, was wäre, wenn die Evolution nicht den
Menschen, sondern ein anderes Säugetier zu einem empfindsamen, selbstbewussten und intelligenten Wesen hätte werden
lassen. Die Idee dazu kam Humeau beim Lesen des Buches
Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen, wo Jared
Diamond die These aufstellt, dass nur die völlig zufällige Transmutation eines einzigen Gens den Kehlkopf der ersten Menschen so
D
veränderte, dass Sprache entstehen konnte. In Anspielung darauf
entwickelte Humeau für Paris gemeinsam mit dem Wissenschaftler Pierre Lanchantin eine Ursonate für das 21. Jahrhundert: einen
synthetischen Chor aus 108 Millionen Stimmen, in denen alle nur
möglichen Varianten einer Ursprache durchgespielt werden. Dabei
simuliert Humeau mit einem speziellen Programm nicht nur die
Sprachen, die tatsächlich gesprochen wurden, sondern auch jene,
die möglich gewesen wären und erst jetzt durch ihre Kunst zum
Leben erweckt werden. Die Soundarbeit begleitet eine wahrhaft
psychedelische Installation, ein evolutionärer Showroom.
Für ihn ermittelte die Künstlerin die Menge aller chemischen
Elemente, aus denen ein 80 Kilogramm schwerer menschlicher
Körper besteht – wie etwa Wasserstoff, Sauerstoff und Schwefel.
Aus den Festformen dieser Elemente entwickelte sie eine Art
von Pigmenten. Diese mischte sie zusammen und versetzte sie
dann mit dem Gift des Stechapfels, dem Sinnbild der „verbotenen Frucht“ im Garten Eden. Mit der aus dieser Mischung
angefertigten Farbe färbte sie einen Teppich ein – einen weiteren
„liquiden Körper“, in dem Menschwerdung und Sündenfall
stofflich vereint sind.
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THE LIVING DESCENDANTS I (ELEPHAS MAXIMUS),
2011, DIGITALER HD-DRUCK (3-D-REKONSTRUKTION
EINES CT-SCANS)
Auf diesem Teppich platziert sie eine Skulpturengruppe,
die von jenem Säugetier inspiriert ist, das nach weltweiten Umfragen bei Experten und Forschern den Platz des Menschen als
führende Spezies hätte einnehmen können – dem Elefanten. „Ich
habe mich intensiv mit ihnen beschäftigt“, erzählt Humeau.
„Sie haben ihre eigenen Totenrituale. Ich las diese faszinierende
Geschichte eines Forschers, der ein Muttertier beobachtete,
das gerade erst gestorben war. Seine Familie versammelte sich still
darum. Am zweiten Tag begannen sie Blätter und Blumen zu
sammeln und es damit zu bedecken, am dritten Tag trompeteten
sie und gingen zurück in den Urwald.“
ie Skulpturen, die Humeau entwickelt, sind wie alle ihre
Objekte eher prothesenhaft, dekonstruiert, hybrid –
wie zukünftige Lebensformen. Die Trauer der Elefanten
hat die Künstlerin ihren Skulpturen buchstäblich eingeimpft:
Tatsächlich fuhr sie in ein thailändisches Reservat, um Elefantentränen zu sammeln, die sie mit Wasser verdünnte und dann in
ihre Werke injizierte.
Ein schamanisch anmutender Materialismus, der sich unverkennbar mit einem aktuellen (Um-)Denken in der Kunst und
Philosophie verbindet, das das uneingeschränkte Primat des Menschen infrage stellt. Bereits auf Carolyn Christov-Bakargievs
Documenta 13 wurde über ein nichtanthropozentrisches Weltbild
und die Intelligenz von Bienen und Erdbeeren verhandelt. Die
von Susanne Pfeffer kuratierte Ausstellung Speculations on Anonymous
Materials gab 2014 dann den Startschuss für die radikale Verzahnung von Kunst mit Ökologie, Naturwissenschaften, Politik und
Philosophie und versinnlichte den Einfluss philosophischer
Strömungen, wie sie vom Spekulativen Realismus oder Akzelerationismus ausgehen.
D
So interessieren sich Künstler wie Philosophen für einen
Zugang zur Welt, unabhängig von Sprache und menschlicher
Perspektive. Die Aussagen der Naturwissenschaften über Jahrmillionen Erdgeschichte, die es vor dem menschlichen Bewusstsein
gab, sind deshalb für den Neuen Realismus so faszinierend, weil sie
auch das Denken über die Zukunft betreffen, die irgendwann
ebenfalls ohne menschliches Bewusstsein sein wird. Dieses „posthumane Denken“ wird noch belächelt. Doch Humeaus Kunst
zeigt, dass in der Materialität einer durch Kunst aufgeladenen Elefantenträne universelles, existenzielles Leid und zugleich die Möglichkeit einer Befreiung steckt. Die absurden Odysseen und endlosen
Recherchen, die sie auf sich nimmt, die vermessenen Experimente,
die dem Leben auf die Schliche kommen wollen, sind notwendig, um
ein neues Denken zu entwerfen, das keine festen Parameter für
Leben und Bewusstsein mehr kennt. Begriffe wie „Ich“ und „Körper“ verlieren ihre Festigkeit.
„Ich versuche diesen erleuchteten Horror zu erzeugen“, sagt
Humeau, „etwas sehr Helles, Glänzendes, das dich anzieht. So
wie Kleopatras Stimme. Du willst dich von ihr verführen lassen, bei
ihr verweilen. Doch zugleich merkst du irgendwann, dass sie
schrecklich und geisterhaft ist. Genauso ist es mit meinen Werken;
wenn man näherkommt, merkt man, dass es Körperteile und
körperlose Stimmen sind, dass die ganze Sache viel beunruhigender
ist, als sie aussieht.“
Die Stimmen und Kreaturen, die Humeau aus grauen
Vorzeiten oder dem Jenseits channelt, ähneln Erscheinungen bei
spiritistischen Sitzungen. Es gehe ihr genau um diese geisterhafte
Präsenz, sagt sie. Sie erzählt von ihrer Faszination für den Regisseur
Apichatpong Weerasethakul, der in Filmen wie Uncle Boonmee
erinnert sich an seine früheren Leben (2010) die spirituelle Tradition
Thailands mit völlig neuen Erzählformen verbindet. „Für mich
ist er absolut zeitgemäß, weil er Geister und Reinkarnationen völlig
ohne Special Effects zeigt, so als ob das Übernatürliche ganz
selbstverständlich neben uns existiert. Wenn man sich alte Kirchen
anschaut, ist es ähnlich. Sie versuchen wirklich, ein ganz reales
Erlebnis des Erhabenen zu kreieren. Die Sixtinische Kapelle ist ein
Riss von dieser in eine andere Welt.“
Immer wieder ist Humeau mit einer irren Forscherin verglichen
worden, doch während sie spricht, leuchtet in ihr die Entdeckerin
auf. Was veranlasst sie eigentlich, solche Strapazen auf sich zu
nehmen, um den Ursprung des Lebens, Stimmen einer toten Königin
oder die Träne eines Elefanten zu finden? „Ich habe mich immer
für große Odysseen und die Abenteuer in den Romanen von Jules
Verne begeistert“, antwortet sie. „Entdecker und Lotsen faszinieren
mich. Ich stamme aus einer Seefahrerfamilie. Mein Großvater war
der Doktor auf einem großen Segelschiff und fuhr hoch bis zum
Nordpol. Wir haben ein Haus in Südfrankreich, mit vielen Palmen
im Garten, die die Kapitäne in unserer Familie gepflanzt haben.
Wenn wir in den Ferien dorthin kamen, sagte meine Mutter: Sieh mal,
die Palme da drüben, die stammt von deinem Urgroßvater, er hat
das Kap Hoorn umsegelt und sie mitgebracht.“
TEXT: OLIVER KOERNER VON GUSTORF
AUSSTELLUNG: PALAIS DE TOKYO PARIS, 23. JUNI BIS 11. SEPTEMBER
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TAWERET, 2015, MIXED MEDIA, 90 × 180 × 230 CM
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AUF WEN W
KONNEN
WIR
BAUEN?
NEW YORK! MAILAND!
BASEL! DIE AUSSTELLUNGSHÄUSER WERDEN ZURZEIT
IM SCHNELLEN TAKT
GEPLANT. WÄHREND IN
BERLIN DIE ENTWÜRFE
ZUM NEUEN MUSEUM AM
POTSDAMER PLATZ
ENTTÄUSCHEN, FREUEN SICH
IN LONDON ALLE AUF DEN
SPEKTAKULÄREN TURM
DER TATE MODERN. WIE
ABER ERLEBEN WIR
AUSSTELLUNGSHÄUSER?
HALTEN DIE STARARCHITEKTEN, WAS
SIE VERSPRECHEN? EIN
PRAXISTEST
ir lieben das Museum! Aber zufrieden sind wir mit ihm
selten. Kann es nicht wieder so sein wie in der Antike?
Als hier die Musen wohnten. Als im althellenischen
Museion die Schutzgöttinnen verehrt, aber auch angemessen
schwungvolle Feste mit ihnen gefeiert wurden. Als hier der Kult,
aber auch der Geist seine Heimat hatten. Und als gebaute
Form und ihr Inhalt in Einklang waren. Denn gerade heute gilt
das Museum wieder als der öffentliche Raum par excellence.
Kein Wunder, dass es zu den vornehmsten Bauaufgaben für
Architekten gehört.
Am Ideenwettbewerb für das geplante Museum des
20. Jahrhunderts in Berlin haben sich gerade mehr als 400 Büros
beteiligt. Das kaum zufriedenstellende Ergebnis zeigt zumindest
dies, dass der Bau von Museen zu den großen Herausforderungen
gehört: Der Ort für die Kunst muss selber großartige Kunst sein
und zugleich ihr untertäniger Diener. Die Architekten geraten in
den Zwiespalt zwischen ihrem Anspruch, hehre Baukunst zu
produzieren, und der Verpflichtung, profane Funktionen zu erfüllen.
Von den Zwängen, die ihnen Brandschutz, Haustechnik und
Energiebilanz heute auferlegen, ganz zu schweigen. Bilbao-Effekte
will niemand mehr, trotzdem werden die Erwartungen an das
Museum immer noch größer.
Jenseits von äußerer Erscheinung und ihrem unmittelbaren
Zweck, Kunstwerke auszustellen, zu vermitteln und zu beschützen,
soll das Museum außerdem noch ein Markenzeichen sein, ein
Problemlöser für die Stadtplanung, ein multifunktionaler Raum
und ein erkennbarer Ort der Hochkultur, der niemanden ausgrenzt und Mäzene wie Kinder gleichermaßen magisch anziehen
soll. Alles was man liebt, muss vor Ausbeutung geschützt
werden. Nicht so einfach – im Zeitalter des „ästhetischen Kapitalismus“, wie es der Philosoph Gernot Böhme in seinem neuen
Buch beschreibt. Für die Ökonomie werde heute alles so lange
ästhetisiert, bis der „Inszenierungswert der Waren zum neuen
Gebrauchswert aufsteigt“. Böhme kritisiert die „ungeheure Ausbreitung von Inszenierungsstrategien, die ursprünglich in den
Bereich der Warenästhetik gehörten“. Und der Architektur komme
in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle zu, schreibt
er: „Sie gestaltet den Auftritt von Gebäuden und dient damit dem
Marketing von Firmen und Unternehmen einerseits und dem
Image von Institutionen andererseits.“ Museen stehen da sozusagen an vorderster Front.
Von ihren Architekten kann man also erwarten, ihre Bauten
nicht nur ästhetisch, sondern auch ethisch im Griff zu haben.
Wie aber erleben wir Besucher die spektakulären Ausstellungshäuser? Halten die Architekten, was sie versprechen? In diesem
Sinne haben wir die gefeierten Neubauten der letzten Jahre einem
Praxistest unterzogen. Und waren überrascht, dass ausgerechnet
das gefeierte Whitney Museum in New York durchfällt. Und das
beste Museum der Welt für uns auch nicht in London oder Rom
steht. Sondern ausgerechnet im Rheinland.
MARCUS WOELLER
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WHITNEY, NEW YORK
VERKEHRTE WELT
Außen hui, innen eine Enttäuschung
m Ende der Highline, wenn man so einige zugeknöpfte
Galerien in Chelsea hinter sich gelassen hat, sieht
man schon von Weitem ein Gebäude, an dem sich außen
Menschen auf Terrassen aufhalten oder auf Stahltreppen
in die Höhe schrauben. Es ist das im letzten Jahr eröffnete neue
Whitney Museum of American Art. Entworfen und erbaut
wurde es vom italienischen Architekten Renzo Piano. Von außen
ist es ein kantiges, stahlig-silbergraues Gebilde. Doch auf Straßenhöhe saugt es die Besucherströme durch eine gläserne Wand
ein und öffnet sich zugleich nach allen Seiten. Rechts schwappt
das elegante, minimalistische Café auf den Bürgersteig unter der
Highline in den Meatpacking District, links öffnet sich der Blick
auf die andere Seite des Hudson River, und geradeaus spülen einen
die geräumigen, von Richard Artschwager gestalteten Aufzüge
in die darüberliegenden Geschosse und hinaus auf die weiten
Terrassen mit Blick über Manhattan.
Im obersten Ausstellungsgeschoss erwartete die Besucher in
diesem Frühjahr erst einmal ein Kontrastprogramm. Das herrliche
Licht und die Freizügigkeit der Blicke
von der Terrasse im Osten und
durch die verglaste Wand im Westen
musste hinter sich lassen, wer die
erste Einzelausstellung der Filmemacherin Laura Poitras sehen wollte.
In vier dunklen Räumen, die nur
langsam wieder heller wurden, begab
man sich auf die Schattenseite des
öffentlichen Gemeinlebens und in die
zwielichtige, zum Teil grausame
Welt der US-amerikanischen Sicherheitsbehörden. Noch ganz benebelt
und nachdenklich taumelte man
dann in die Sammlungspräsentation
RENZO PIANO
A
in den Stockwerken darunter. Auch hier öffnet sich das Museum zur
Stadt im Osten und zum Fluss im Westen. Doch auf den vielen
von Kunstlicht beleuchteten Quadratmetern dazwischen läuft man
die Kunst an hallenhohen Wänden ab, als wäre sie ein abfahrender
Zug auf einem Bahngleis, von dem man hofft, dass er einen bald
schon in die Weite der Welt trägt. Da hilft auch keine rotgetünchte
Wand, um die Salonatmosphäre wiederherzustellen, in der viele der
Werke am Ende des 19. Jahrhunderts zu sehen waren. Kein Wunder,
dass sich an schönen Tagen mehr Menschen auf den Terrassen
aufhalten als im Innenraum des Museums.
Es ist eine merkwürdig verkehrte Welt: ein Kunstmuseum, das
seine Öffentlichkeit zur Schau stellt, die Kunst aber zur Durchgangsstation erklärt. Was in der Tate Modern noch gut funktioniert –
eine stark belebte öffentlich zugängliche Turbinenhalle und Aussichtsplattformen mit Cafés über der Themse, zugleich eigenwillige
und sehr unterschiedliche Räume für die Kunst –, bleibt hier ein
leeres Versprechen. Na gut, denkt man, weil ja seit dem Besuch der
Ausstellung von Laura Poitras selbst der Sternenhimmel nicht
mehr zum Träumen einlädt, und registriert beim Rausgehen in der
Lobby noch einmal die hohen Eintrittspreise des Museums:
Freiheit hat also seinen Preis. Hier bekommt man sie auf Kosten
der älteren Kunst.
CHARLOTTE KLONK
PÉREZ ART MUSEUM, MIAMI
TRAUMHAUS
Ein Museum als überdimensionertes Pfahlhaus
ie bei einem Tauchgang fühlt man sich, wenn man auf
das Pérez Art Museum in Miami zuläuft. Von oben
brennt die Sonne auf die Wasseroberfläche der Biscayne
Bay. Vor dem Auge taucht ein von hängenden Gärten überwuchertes Holzskelett auf, es erinnert an die traditionellen Pfahlbauten der
Gegend. Dieses neue „Stiltsville“ ist riesig. In hochwassersicheren
W
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sechs Metern Höhe beginnt das Erdgeschoss, hinauf führt eine
breite Treppe, darum herum erstreckt sich ein Park, der bis ans
Wasser führt. Oben auf der Veranda spürt man das warme Holz
unter den Füßen. Überhaupt: Holz überall, bis hinauf zum
imposanten Strebedach. Wie in einem Nest hockt die dreiteilige
Betonarchitektur darunter, scheint aus manchen Perspektiven
zu schweben. Die Wände sind teilweise aus gemeißeltem, rauem,
dann poliertem, reflektierendem Beton. Die Architekten
und Pritzker-Preisträger
Jacques Herzog und Pierre
de Meuron haben das 2013
vollendete Museum bis ins
kleinste Detail geplant. Wir
kennen die Basler von der
Hamburger Elbphilharmonie,
der Münchner Allianz Arena
JACQUES HERZOG UND
und der Tate Modern in
PIERRE DE MEURON
London, wo die Architekten
im Juni einen neuen Gebäudekomplex eröffnen werden. Was
sie in Miami geschaffen haben, ist das perfekte Museum. Bitte nicht
falsch verstehen, es geht nicht darum, anhand dieses Hauses
eine Schablone zu erarbeiten, vielmehr geht es darum, diese mutige
Adaption zu begreifen – ganz unabhängig davon, welche Qualität
die Kunst darin hat. Unabhängig davon, ob man es gut findet,
dass der Name des Museums an einen einzigen Stifter verkauft
wurde, obwohl die Einwohner der Stadt jetzt die von 5 auf 14 Millionen Dollar gestiegenen Betriebskosten tragen müssen. Der Museumsbau hat 220 Millionen Dollar gekostet und hat die weltweit
größten hurrikansicheren Fenster. Schauen wir also einmal nur
auf die Architektur: Das Pérez Art Museum ist ein Kunstwerk.
Aber eben nicht nur – es dient auch der Kunst.
Warum ist es so gelungen? Weil sich die Architekten explizit
Gedanken gemacht haben, wie die Kunst gezeigt werden soll,
wie sie die Menschen abholen wollen. Es gibt im Museum fließende
Räume für die Sammlung und architektonisch-extravagante
Einzelkabinette, in denen die Aufmerksamkeit ganz allein einer
Arbeit gehört. All diese Räume haben feste, ruhige Wände, ein
Gegenüber für die Künstler und Kuratoren. Und es gibt keinen
verschenkten Raum, keine Spielereien, kein ödes Auditorium,
das den Großteil der Zeit leer steht. Man fühlt sich nicht gehetzt
und nicht stillgestellt. Im Innern gibt es viel ruhige Wand für
die Kunst, ganz ohne klassischen White Cube. Zur Eröffnung des
Museums 2013 zum Beispiel in der Ausstellung Image Search:
Photography from the Collection: In einem quadratischen Betonraum
mit seinem warmen Holzboden, einem holzumrahmten Fenster
und Sitzen mit Blick auf die Biscayne Bay hingen Fotos ganz
unterschiedlichen Formats in Petersburger Hängung. In der
Mitte konnte man sitzen und auf Tablets entscheidende, präzise
Information abrufen. Selten habe ich so intensiv Fotografie
gesehen, obwohl die Arbeiten, zum Beispiel von Eugène Atget
oder Rineke Dijkstra, schon bekannt waren. Auch in London
beim Neubau für die Tate Modern geht es den beiden Architekten
darum, zu begreifen, was ein Museum im 21. Jahrhundert sein
sollte: Dort entsteht ein partizipatives Lernzentrum. Auch das
Haus in Miami propagiert diese Offenheit. Die große, lange
Treppe, die alle Stockwerke verbindet, kann in ein Diskussionsforum umfunktioniert werden. Das Pfahlhaus von Miami zieht
an einem wie ein Riff beim Tauchen, man kann sich dort einnisten,
sich von den Wellen auf und ab heben lassen, man stöbert und
forscht, sucht und findet.
SWANTJE KARICH
KOLUMBA, KÖLN
DAS BESTE
Die schönste Säulenhalle der jüngsten Museumsgeschichte
er lieber über Knopf im Ohr hört, was man sieht, ist im
Kolumba am falschen Ort. Ebenso wenig finden sich
neben und unter den Gemälden, Reliefs, Fotografien und
Zeichnungen die vertrauten Schrifttafeln. Im unaufwändigen Foyer
des Museums erhalten die Besucher zwar ein schmales Heftchen mit
Raumplan und knappen Texten über die gezeigten Zeugnisse aus
Kunst und Kulturgeschichte, doch bei trübem Wetter oder ungünstigem Lichteinfall fällt es schwer, die Anmerkungen vor den Werken
zu entziffern. Dann muss man sich zu einem der oft bodennahen
Fenster mit Blick auf Köln begeben. Sie spenden Licht. Das wechselnde Licht ist Faktor der Raumgestaltung. Nicht die Beleuchtung.
W
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Wegen solcher und anderer
vermeintlicher Mängel erhielt
das „Kunstmuseum des Erzbistums Köln“ in einem „Tripadvisor“ lediglich zwei von fünf
Sternen. Das Fazit des Ratgebers:
„Eine Museumspersiflage“. Mit
salvatorischem Fragezeichen
versehen.
Für mich ist das Kolumba
das beste Museum in Deutschland. Der Grund: Das Kolumba
PETER ZUMTHOR
nimmt die Bilder ernst. Zu den
Bildern zählen illuminierte Handschriften, Skulpturen, Altäre und
Filme. Es sind nur die Bilder, die in seinen wohlproportionierten
Räumen reden. Nicht die geschriebenen und gesprochenen Worte.
Die Bilder beherrschen die grauen Backsteinwände und entfalten
ihren Eigenwillen. Nichts lenkt vom Betrachten ab. Deshalb nimmt
das Kolumba mit den Bildern auch seine Besucher ernst. Weil es
ihnen zutraut, ohne Anleitung sehen zu wollen und zu können. Im
Kolumba sind die Besucher auf sich gestellt. Auf das Spektrum
ihrer sensorischen und emotionalen Fähigkeiten.
Ja, das Kolumba ist eine echte Herausforderung. Dieses
Museum provoziert. Bewusst. Es provoziert die Wahrnehmung.
Es stimuliert das Sehen und setzt dabei auf die menschliche
Neugierde. Es veranlasst mit sanftem Zwang, genauer hinzusehen.
Länger und intensiver als gewohnt. Das Museum soll „zur
Sensibilisierung der Wahrnehmung“ beitragen, hieß es schon im
Aufgabenkatalog für den Architekten. Denn wer wirklich sieht,
denkt zwangsläufig und empfindet. Das menschliche Gehirn ist
so konstruiert. Allerdings ist das „sehende Sehen“ im Sinne von
Max Imdahl ohne eigene Anstrengung nicht zu haben. Die tagtägliche Überflutung mit belanglosen Bildern und nichtssagenden
Verbalgeräuschen hat die optische Wahrnehmung abgestumpft
und die Menschen auf bloßen Empfang abgerichtet.
Ein Museum für Kenner? Selbst die blicken mitunter ratlos
drein und bedürfen zusätzlicher Informationen. Dazu gibt es
Gelegenheit in einem wunderbaren Leseraum. Dort kann sich, wer
Lust hat, mithilfe des kleinen Textbuches und weiterführender
Literatur fachlich fit machen. Führungen und Gespräche sind
ebenfalls im Angebot. Und Wünsche gefragt. Andererseits ist
das Kolumba ein Museum der katholischen Kirche. Einer Institution, die schon früh um Macht und Ambivalenz der Bilder
wusste und stets darauf geachtet hat, dass ihre Bildprogramme alle
Gläubigen erreichten. Gerade diejenigen, die nicht schriftkundig
waren. Aber schon vor 90 Jahren hat László Moholy-Nagy prophezeit, die Bildunkundigen seien die Analphabeten der Zukunft.
Nur bedarf es Zeit und Geduld, um wieder sehen zu lernen. Rare
Güter. Im Kolumba unbedingt erforderlich.
Bevor der große Schweizer Architekt Peter Zumthor, der im
Kunsthaus Bregenz sein Meisterwerk für die Gegenwartskunst
geschaffen hat, hier auf dem Grundriss der zerbombten Kirche
St. Kolumba seinen Bau realisierte, lag das inhaltliche Konzept vor.
Nicht weiter verwunderlich, dass er ein Haus der Kunst für die
Kunst geschaffen hat. Keine selbstgenügsame Architekturikone.
Gleichermaßen für die Kunst vor der Kunst und die Kunst mit
Autonomieanspruch. Eröffnet wurde es 2007. Nur einmal im Jahr,
am 14. September, gibt es eine neue Ausstellung. Jede widmet
sich einem bestimmten Thema und jede kombiniert Kunstwerke
aus dem glanzvollen Kirchenschatz mit Kunstwerken der Moderne.
Gegenwärtig läuft die achte unter dem Titel Der rote Faden – Ordnungen
des Erzählens. Sie ist exemplarisch für die Richtung des Kolumba
unter der umsichtigen Leitung von Stefan Kraus.
Über die Räume verteilt elf Gemälde des „Meisters der
Ursulalegende“ – ein Kinofilm des späten Mittelalters (um 1500).
Wie in den Gemälden zweigen sich in der Ausstellung die unterschiedlichsten Wege und Formen des visuellen Erzählens in inspirierender und bisweilen verblüffender Korrespondenz ab. Vom
Mittelalter bis zur „medialen“ Jetztzeit. Eingeschlossen Verweigerung und Parodie, etwa in der grandiosen Installation „Transzendentaler Konstruktivismus“ von Anna und Bernhard Blume durch
Anna Blume. Das Tageslicht verändert das Outfit der Bilder
ständig. Auch das gehört zum Kolumba-Prinzip: Verzicht auf wohlfeile Antworten, Fragen aufwerfen, Zusammenhänge stiften.
Nicht zuletzt durch außergewöhnliche Künstler, die nicht die immer
gleichen Schemata kommerzieller Kuratorenkunst reproduzieren.
Kurzum, das Kolumba ist ein vorbildliches Museum.
KUS HONNEF
MAXXI, ROM
SCHWINDELGEFAHR
Verspielte Architektur mit langen Wegen
ls die gebürtige Irakerin Zaha Hadid unlängst verstarb,
rühmten die Nachrufe die fantastische Kurvenkunst der
„Stararchitektin“. Niemand habe so kühn fließende
Eleganz entworfen, niemand so viel Dynamik in schwerfällige
Baukörper gebracht. Und kein beschwingtes Lobeswort war zu
A
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viel. Es gibt berühmte Museumsprojekte von Zaha Hadid. In Cagliari
auf Sardinien, in Reggio di Calabria, in Cincinnati, im schottischen
Glasgow. Es gibt das Phaeno-Museum in Wolfsburg. Am stolzesten
aber ist ihr der florale Dekonstruktivismus beim Maxxi in Rom
gelungen. Tatsächlich scheint an diesem Haus alles weich. Geht man
um das Maxxi herum, hat man eine rechte Wanderung hinter sich,
aber könnte nicht sagen, wie man den Eindruck der Architektur
beschreiben sollte. Und drinnen ist die Wanderung nicht kürzer.
Man folgt den schlauchartigen Aufgängen von Ebene zu Ebene,
kurvt an geschliffenen Betonwänden und wulstigen Treppengeländern entlang, schlurft über Stahlgitter, steigt aufwärts, steigt
abwärts, ist immer unterwegs. Die Leute in Bewegung halten, sagte
Zaha Hadid bei der Eröffnung
2010, das sei ihr Programm.
Wobei es nicht ganz so verständlich ist, warum die Leute ausgerechnet in einem Museum
dauernd in Bewegung sein sollen.
Es sei denn, man rechnet
mit Massen, deren Durchfluss
architekturorganisatorisch zu
regeln ist. Es gibt im Maxxi viel
Raum, aber kaum einen abgeschlossenen. Kein Kabinett der
Stille, keinen Platz, an dem
die Kunst ihren Zauber spielen
könnte. Überall geht es weiter.
Und jeder Kunstauftritt ist
ZAHA HADID
nur Station auf dem Weg zum
nächsten. So wie hier hat noch keiner von Zaha Hadids
illustren Kollegen und Kolleginnen das Primat der reinen Form
vor der Funktion behauptet. Auch wenn man nach zwei, drei
Jahren wiederkommt, bleibt der Befund: ein Museum ohne Kenntnis seiner Aufgabe. Ein Museum, dem der Titel „Museo nazionale
delle arti del XXI secolo“ so fremd ansteht, wie der Baumeisterin
die Belange und Bedürfnisse eben dieser Kunst der Gegenwart
fremd sein müssen. Dass es ein Touristenmagnet wäre, kann man
nicht sagen. Wer fährt auch schon nach Rom der zeitgenössischen Kunst zuliebe. Inzwischen hat das Haus nicht wenige Direktionen verschlissen. Und international ist es bis heute kein ernst
zu nehmender Partner. Andererseits ist schon wahr, dass das Maxxi
zur Gentrifizierung des Quartiers beträchtlich beigetragen hat.
Nur, ist das Bauziel Museum schon erreicht, wenn man urbanistisches Übersoll leistet, aber den Museumsleuten zumutet, dass
sie auf die gute alte Stellwand zurückgreifen, wie man sie aus dem
Kunstverein kennt? Wohl nicht umsonst erfüllt sich die populäre
Unterhaltungskunstarchitektur gerade im Museumsbau so ergiebig.
Kann sie doch bei keiner anderen Bauaufgabe prätentiöser
vorführen, wie frei sie ist, wie erhaben sie sich fühlt, wie kunstähnlich, wie kunstüberbietend sie geworden ist. Aber triumphaler
als hier zwischen der Tiberschleife und dem Parioli-Hügel hat sich
kaum einmal die dienende Gattung Architektur in spektakuläre
Selbstgefälligkeit aufgelöst.
HANS-JOACHIM MÜLLER
MUSEUM FOLKWANG, ESSEN
LICHTER BLICK
Klare Linien, freie Flächen und viel Licht für ein Traditionshaus
s ist nun wirklich nicht so, als hätte Sir David Chipperfield
die ersten Besucher des neuen Essener Folkwangs mit
ausgestreckten Armen empfangen. Als ich im Januar 2010
auf der Bismarckstraße aus dem Taxi stiegt, fröstelte es mich.
Nicht weil die Temperatur gegen Null ging, sondern weil sich die
Fassade in ihrer Businessparkhaftigkeit so kongenial deprimierend
in die Essener Stadtlandschaft fügte. Schlimmer noch, der einstöckige Pavillonkomplex präsentierte sich auf einem Steinpodest,
für das Chipperfield ein oxidierendes Grün gewählt hatte, das mich
augenblicklich an die Hautfärbung einer Wasserleiche erinnerte,
ohne dass ich je eine gesehen hätte. Kurz: Chipperfield hatte so
konsequent auf Understatement gezielt, dass man es Underwhelment
hätte nennen müssen, gäbe es diesen Begriff.
Aber dann! Einmal drinnen, wollte man nicht mehr raus. Essen?
Vergessen. Schon die leeren Räume versprachen Großes. Die
Deckenhöhe, das Licht, der Übergang von Pavillon zu Pavillon, die
Durchblicke in die asketischen Innenhöfe, der mit Rheinkieseln
gesprenkelte Boden: Hier würde die Kunst, einmal eingezogen,
strahlen. Sie würde für sich sprechen können, sie würde ihre
Kräfte schonen dürfen für den eigenen Auftritt. Das Duell Kunst
versus Architektur: abgesagt. Knapp sechs Jahre und etliche
Besuche später darf konstatiert
werden: Dass Wilhelm Lehmbrucks Skulpturen so herzerweichend traurig den Blick senken,
kann alles und jedem angelastet
werden, nur nicht dem Architekten. Der erste Eindruck hat
nicht getäuscht. Und auch
Chipperfields Idee, die Raumabfolge so zu gestalten, dass man
immer neue Wege durch die
DAVID CHIPPERFIELD ständige Weltklassesammlung
E
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nehmen kann, hat sich bewährt. Schnell ist das Lieblingswerk
gefunden, doch stetig ist der Sog der Bezüge, die sich von ihm aus
entfaltet. Und noch eine Ahnung hat sich bestätigt: dass der kühle
Brite im Berliner Exil letztlich viel eher das Erbe der ebenso großen
wie bescheidenen deutschen Wirtschaftswunderarchitekten
angetreten hat als die Flughäfen- und Stadienbauer, die hierzulande
als Stararchitekten durchgehen. Auch wenn sie sich über die lichten
Raumhöhen gewundert hätten: Sep Ruf und Egon Eiermann
hätten das neue Folkwang geliebt.
CORNELIUS TITTEL
FONDAZIONE PRADA, MAILAND
MATERIALWUNDER
Architektur, die nicht angestaunt, sondern ertastet, benutzt werden will
illiger Effekt, mag man denken, ein Fabrikgebäude mit
Blattgold zu überziehen. Aber schließlich will jedes Museum
ein Leuchtturm sein, manche wie die Tate Modern in
London haben sogar einen. Das vergoldete Haus der Fondazione
Prada in Mailand strahlt von sich aus. Sogar bei dem berüchtigten
Nebel, der die Stadt in der Poebene viele Tage im Jahr verschleiert.
24 Karat erfüllen ihren Zweck – und sei es als gar nicht billiges
Fassadenmaterial.
Um Material-Werte geht es auch Miuccia Prada, die als wichtigste Modedesignerin der Gegenwart gilt und Präsidentin der
Kunststiftung ist, die neben einem Palazzo in Venedig seit 2015
auch eine ständige Vertretung in Mailand hat. Miuccia Prada führte
ungewöhnliche Produktionsverfahren ein, belebte den Stoffdruck
wieder und kombinierte Naturmaterialien mit Kunststoffen. In
Rem Koolhaas hat die Trendsetterin einen Architekten gefunden,
der ähnlich unkonventionelle Wege geht, am Ende aber ein
Produkt schafft, das sich doch in den Dienst der Nutzbarkeit stellt.
So ist die Fondazione Prada in ihrem Mix aus Bestandsgebäuden
einer Schnapsbrennerei und futuristischen Neubauten nicht nur ein
B
glamouröses Schmuckstück geworden, sondern bespielt 12.300
Quadratmeter Museumsfläche, die gestalterisch und funktional auf
der Höhe der Zeit sind.
Während man von der Terrasse der 50ies-poppigen „Bar
Luce“ – ausgestattet von Regisseur Wes Anderson – noch die
Vergoldung des „Haunted House“ prüft, wo sich eine ständige
Installation mit Werken von Louise Bourgeois und Robert Gober
befindet, fällt der Blick auf den Boden, der mit rohen Holzbohlen
gepflastert ist. Das Spiel der Kontraste geht in einem versteckten
Foyer weiter, das die Besucher verteilt. Hier wird der Goldputz zur
profanen Innenwand. Drei majestätische Rundbögen daneben
weisen den Weg in einen stützenlosen Saal: Zwei riesige Quader
sind zum kühnen „Podium“ gestapelt. Ehe man eintritt, bleibt
man wieder an einer überraschenden Fassade hängen, deren silbern
schimmernde Betonhaut porös ist wie ein Schwamm. Gegenüber
ist das Tonnengewölbe der flankierenden „Sud“-Hallen hinter glatten
Kunststoffplatten zu erahnen, und in den nächsten Hof kommt
man nur durch einen Vorhang aus Thermolamellen.
Rem Koolhaas hat eine Architektur entworfen, die nicht wie
viele Museumsneubauten angestaunt werden will, sondern untersucht, ertastet, benutzt. Bald läuft man wie ein Materialwissenschaftler durch den Komplex und streichelt kostbare Kalksteinplatten,
kratzt an Metallprofilen oder lehnt sich an alte Bäume, die wie
Skulpturen herumstehen. Es geht industrielle Rampen hinauf, an
Terrakottadächern vorbei, über exaltierte Treppen, hinab in einen
engen Stollen (wo sich Thomas Demands Processo Grottesco verbirgt)
und hinauf ins „Cinema“, eine langgezogene High-Tech-Schachtel,
die im Inneren ein dunkler Aufführungssaal, außen ein Spiegelriegel
ist, der den Hof optisch vergrößert. So staffeln sich die unterschiedlichsten Raumformate – drinnen und draußen, für Flachware
wie für Dreidimensionales, für Performances und Videokunst.
Ein Jahr bevor die Fondazione Prada eröffnet wurde, hatte
Rem Koolhaas als Leiter der Architekturbiennale von Venedig
schon seine Typologie architektonischer Elemente vorgestellt. Hier
in Mailand scheint er nun alles noch einmal zusammengefasst zu
haben. Vom Korridor über die Fensterfront bis zum Turm – über
dem hintersten Winkel der Anlage ragt noch der Rohbau des
„Torre“ in die Höhe. Er soll ab 2017 ein Restaurant und die stetig
wachsende Unternehmenssammlung aufnehmen.
Für die Kunst ist die Anlage jetzt schon ein elementarer
Gewinn, weil sie alle Art von Raum bekommt. Sie kann sich
ausbreiten, wo sie muss, sich an der
Architektur messen, wo sie es verträgt,
und zurückziehen, wo sie Ruhe
braucht. Und der Besucher? Bleibt
frisch, weil er ständig das Setting
wechselt, nie durch Raumfluchten irrt
und bei der Begutachtung von
Fassadendetails und Hofpflasterungen
immer wieder Geist und Auge
reinigt. Man darf sich wie als Tagesgast in einem Kloster der visuellen
Konzentration fühlen.
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59
MARCUS WOELLER
REM KOOLHAAS
FRED BERGER
Untitled, 1958, Öl auf Leinwand, 127 × 183 cm
DIE
MONSTER,
DIE SIE
RIEFEN
Chicago in den
50er-Jahren: Während in
New York der Abstrakte
Expressionismus regiert,
setzt in der Stadt der
Schlachthöfe eine junge
Generation von Künstlern
auf schonungslose
Figuration, in der sie
Kriegserfahrungen und
andere Traumata
verarbeiten. John Corbett
erinnert an die „Monster
Roster“, eine Gruppe,
die keine sein wollte und
doch gemeinsam ein zu
Unrecht vergessenes
Kapitel Nachkriegskunstgeschichte schrieb
DOMINICK DI MEO
Torso/Landscape, 1962, Vinyl auf Leinwand, 51 × 36 cm
Linke Seite: TED HALKIN
Angel, 1953, Öl über Gouache auf Tafel, 125 × 100 cm
D
DOMINICK DI MEO
Torso, 1962, Mixed Media auf Leinwand, 51 × 36 cm
er Krieg war zu Ende. Und angesichts des wirtschaftlichen
Wohlstands, der sich am Horizont abzuzeichnen begann,
verspürten viele Amerikaner überschwänglichen Optimismus. In Chicago jedoch gab es in den späten 40er-Jahren einige
Künstler, die anders empfanden und andere Töne anschlugen. Sie
malten dunkle, groteske, schonungslose Bilder in düsteren Erdfarben
mit aufblitzendem Violett. Abgetrennte Glieder, leere Augen, aufgeblähte Körper, lädierte Torsi, Geburtswehen und Todeskämpfe, abgeschabte, aufgeschlitzte Oberflächen. Obwohl sie keine Arbeitsgruppe
bildeten und sich nie offiziell organisierten, spürten diese Künstler,
dass sie etwas verband, und andere bemerkten die Verbindung auch.
Doch erst 1959 wird ein Künstler und Journalist, der früher
selbst einmal zur Gruppe gehörte, seine alten Kollegen „Monster
Roster“ taufen. Der Name blieb hängen, auch wenn nicht alle einverstanden waren. Monströs waren ja auch nicht alle Werke – trotz der
gemeinsamen Sicht auf das Drama der menschlichen Existenz. Aber
in diesem Fall ist es schon bedeutsam, dem malerischen Stil einen
Namen zu geben, umso mehr, als die Monster Roster mit ihrer ästhetischen Vision zur ersten originalen Bewegung in der Chicagoer
Kunst werden sollten.
Es ist ein angespannter, ernster Ton, der in den Werken herrscht.
Und in der Entschiedenheit, mit der die Künstler für ihre Themen
gegenständliche Bildzeichen wählten, grenzten sie sich von der Abstraktion ab, die damals die amerikanische Szene bestimmte. Die
Monster Roster waren allesamt figurative Maler, die aus antiken und
klassischen, literarischen und europäischen Quellen schöpften. Und
wenn sie auch mit großer Aufmerksamkeit die neuen Entwicklungen
DOMINICK DI MEO
Torso, 1962, Vinyl auf Leinwand, 51 × 36 cm
in New York und Paris verfolgten, blieben sie doch Künstler und
Intellektuelle vom alten Schlag, allemal bereit, die disparaten Einflüsse zu einer machtvollen Vision der Menschheit in der Jahrhundertmitte zusammenzufassen.
Wenn sich eine Bewegung herausbildet, spielt der Ort eine wichtige Rolle. Die Malerei der Monster Roster entstand in einer Stadt,
von der man lange meinte, es spuke in ihr. Damals die zweitgrößte
amerikanische Stadt, war sie ein wirtschaftlicher Knotenpunkt mit
Eisenbahnzügen voller Güter und Menschen, die von einem Ende
des Landes ans andere gebracht wurden.
Vielleicht rührt ja das Makabre an Chicago von all den Schlachthöfen her, von der gespenstischen Anwesenheit der Tiere, die im
finsteren Herzen der Stadt mit industrieller Sachlichkeit ausgenommen und verarbeitet wurden. Oder vielleicht erforderte die Gründung einer Metropole auf einem Indianerhandelsposten einfach
diese nüchterne Grenzermentalität, die dann im Blutvergießen gipfelte, das den Weg erst freimachte für die aufstrebende Stadt. Eine
Erinnerung, die in gruseligen Fratzen dann und wann aus dem sumpfigen Untergrund hochkam. Vielleicht auch wurde die unheilvolle
Stimmung durch die Spannungen der Rassentrennung erzeugt, durch
die aufgestaute Wut, die sich immer wieder entladen hat. Er sei nur
ein Berichterstatter, hat Leon Golub einmal gesagt. Er berichte über
diese Monster, weil diese Monster tatsächlich existierten. Nichts an
ihnen sei Schein, nichts Fantasie: „Die Situationen, die solche Kräfte
zum Leben erwecken, existieren wirklich.“
Woher es auch stammen mag, das Monster ist in Chicago eine
vertraute Figur. Und mehr als ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Welt-
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63
COSMO CAMPOLI
Absalom, Absalom, 1958, gefärbter Gips, 79 × 76 × 76 cm
krieg erlebte die Kunst der „Windy City“ einen regelrechten Ansturm
von Monstern, die berühmtesten in den Werken von Leon Golub,
George Cohen, Cosmo Campoli und June Leaf. Wie in einem Zombiefilm steigen in ihren Bildern die bösen Geister auf.
abei gab es schon Monster vor den Monstern. Carl Hoeckners Gemälde The Homecoming of 1918 zum Beispiel, unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gemalt, zeigt
eine Legion von ausgehungerten, einbeinigen Ghulen, leichenfressenden Wesen, die anklagend vor dem Betrachter aufmarschiert
sind. Oder Ivan Albright und seine morbide Faszination für das
Groteske. Seine Bilder sind so übergenau gemalt, wie sie verstörend
wirken. Sie reflektieren die Erfahrungen, die der Maler als Sanitäter
im Ersten Weltkrieg sammelte. Bilder wie Into the World There Came
a Soul Called Ida („Eine Seele namens Ida kam zur Welt“) von 1929
bezeugen den Schock angesichts abgetrennter Glieder und klaffender Wunden.
Streng genommen waren die Monster Roster kein Team. Nie
arbeiteten sie gemeinsam oder kollektiv. Es gibt kein Manifest von
ihnen. Was sie zusammenhielt, war ihr Glaube an die Möglichkeiten
der figurativen Kunst in einer von der Abstraktion beherrschten
Epoche. Obwohl ihre Arbeiten gelegentlich in Ausstellungen anderer
D
Künstler gezeigt wurden, galten sie
nicht als Ausstellungsgruppe, wie es
die Chicago Imagists in den 60er-Jahren waren oder die Hairy Who, die
False Image, die Nonplussed Some.
„Monster Roster“, das Label
erfand der Kunstkritiker Franz
Schulze, der es 1959 erstmals in einer
Besprechung in ARTnews verwendete. Wenig später erschien im TimeMagazin ein Artikel mit dem Titel
Jetzt kommen die Monster über Chicagos
„neue Horrorschule“, in dem es
namentlich um Campoli, Cohen,
Golub und Fred Berger ging. Im selben Jahr nahmen Campoli, Golub
und H. C. Westermann an der von
Peter Selz kuratierten, bahnbrechenden Ausstellung New Images of Man
im MoMA teil, die bei der Kritik keinen Erfolg hatte. Schulze selbst hat
darauf hingewiesen, dass Selz ihm
womöglich mit dem „Monster“-Etikett voraus war, als er Ende der Fünfzigerjahre Irving Petlin gegenüber
verkündete, er wolle in seiner bevorstehenden Ausstellung „der Welt
Chicagos Monster zeigen“. „Jedenfalls hatte der Name ‚The Monster
Roster‘ den Sound von gutem Kunstjargon“, erinnerte sich Schulze. „Es
machte mir Spaß, ihn zu prägen, weil
ich – ich geb’s gern zu – als junger
Kunstkritiker die Chance sah, aus einer neuen Kunstrichtung eine
einprägsame Marke zu machen.“
Dabei spielte Schulzes Signatur „Monster Roster“ viel weniger
auf die Eigenart der Werke an als auf die Chicago Bears, die Footballmannschaft der Stadt, die damals besser bekannt war unter dem
Namen „Monsters of the Midway“. Doch der Spitzname passte und
half, diese lose Verbindung von Künstlern zu definieren, die sich alle
kannten und respektierten. Einige standen sich sogar sehr nahe. Golub
und Nancy Spero waren verheiratet; Di Meo und Golub waren Zimmergenossen gewesen; Campoli und Golub ebenso; Cohen und Golub
waren an der University of Chicago intellektuelle Sparringspartner;
June Leaf und Seymour Rosofsky waren befreundet und eine Zeit lang
ein Liebespaar; Leaf und Don Baum waren befreundet, genauso wie
Ted Halkin und Evelyn Statsinger und Di Meo und Campoli. Und alle
hatten an der School of the Art Institute of Chicago (SAIC) studiert.
Die meisten Monster Roster waren Weltkriegsveteranen, Campoli, Cohen, Golub, Halkin, Rosofsky. Irving Petlin, ein wenig jünger,
meldete sich zur Armee in den späten Fünfzigern. Don Baum und
Fred Berger machten ihren Universitätsabschluss vor Kriegsende, die
anderen aber nutzten die GI Bill, ein amerikanisches Stipendienprogramm, das Veteranen erlaubte, an Hochschulen zurückzukehren.
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64
Die gemeinsame Erfahrung am SAIC waren prägende LehrerSchüler-Beziehungen. Hinzu kam, dass die Kunstschule mit einem
angeschlossenen enzyklopädischen Museum arbeiten konnte, das
vor allem die Künstlerin und Kunsthistorikerin Kathleen Blackshear
„ Art Brut stimmte gut mit der ChicagoÄsthetik überein. Splitt, Oberfläche,
die Straße, alles was sozusagen Un-Kunst
ist, hat uns sehr angezogen“
nutzte. Sie war es, die in ihrem Kurs über primitive Kunst ihre Schüler anwies, im Field Museum of Natural History Stücke aus der ethnografischen Sammlung zu zeichnen, herausragende Beispiele der
präkolumbianischen, ozeanischen und afrikanischen Kunst. Eine Art
der Ausbildung, die nicht nur für das SAIC ungewöhnlich war, sondern einzigartig im amerikanischen Kunststudium.
Die Monster Roster teilten ein starkes Empfinden für die Kraft
nichtwestlicher Kunst. So galt Golubs Interesse vor allem der
Antike – der griechischen, etruskischen, hethitischen und immer wieder auch der römischen. Seine frühen Gemälde bewegen sich zwischen dem Monströsen und dem Heroischen hin und her.
ichtwestliche Kunst, das ist die eine Referenz. Geradezu
magnetisch aber fühlten sich die Künstler auch von Europa
angezogen. Halkin und Campoli besichtigten zusammen die
Kathedrale von Chartres und verweilten einige Zeit in Campolis
Haus auf Mallorca. Golub und Spero sowie Leaf und Petlin zogen
in den Fünfzigern nach Paris; Di Meo verbrachte in den frühen Sechzigern zwei Jahre in Italien. Schulze reiste während seines Studiums
mit einem Konrad-Adenauer-Stipendium ausgiebig durch Europa.
Die sichtbaren Auswirkungen des Krieges, das Entsetzen vor den
Bildern des Holocaust, die gerade bekannt wurden, die Vernichtung
der europäischen Kultur, die Reaktionen der existenzialistischen
Schriftsteller, das alles machte enormen Eindruck auf die Chicagoer.
Zumal die meisten dieser Künstler auf die eine oder andere Weise
gesellschaftlich marginalisiert waren, als Juden oder jüngst Eingewanderte, was die Ereignisse in Europa für sie und ihre Familien
umso persönlicher machte. Zumindest in dieser Hinsicht waren sie
mit manchen ihrer Kollegen in der New York School eng verbunden.
Das Engagement der Monster Roster für die Figur unterschied
sie jedoch und bildete einen unüberbrückbaren Graben zu den Abstrakten Expressionisten. Eher fanden sie ihre Verwandten bei europäischen Pionieren wie Alberto Giacometti, Francis Bacon oder Jean
Dubuffet. Dubuffets Vortrag Anticultural Positions, den er 1951 im
Arts Club of Chicago hielt, wirkte wie ein Fanal. Dubuffet verfocht
die Geltung der Kunst von Geisteskranken, plädierte für die Beschäftigung mit Stammeskunst, verwies auf unberührte Quellen der Inspiration, dass es den jungen Chicagoern in den Ohren klang. „Art
Brut stimmte gut mit der Chicago-Ästhetik überein“, sagte Di Meo
einmal. „Splitt, Oberfläche, die Straße, alles was sozusagen Un-Kunst
ist, hat uns sehr angezogen.“
Auf einem Wandtext für eine Ausstellung in einer New Yorker
Galerie formulierte Golub: „Ich denke, wir leben in einer Zeit der
N
kreativen Degeneration, in der nur die
Unwissenden, die Naiven und Primitiven einfach und klar sprechen. Hin
und wieder erhebt sich ihre andere
Stimme, aber der Bombast und Kitsch
der Stereotypen und Konventionen
übertönen sie. Für mich ist der kreative Prozess eine moralische Verpflichtung, die allen Formalismus transzendiert.“ Und in der Art, wie die Monster
mit den inneren Dämonen rangen,
reihten sie sich ein in eine europäische
Tradition, die über James Ensor und
Francisco de Goya bis hin zu Hieronymus Bosch und Matthias Grünewald
zurückverfolgt werden kann.
Künstler wie Di Meo, Cohen
und Golub bedienten sich in ihrer
meisterhaften Malerei ungewöhnlicher Techniken und Materialien,
bevorzugten raue Oberflächen, ließen
sie gesprenkelt, geschabt, zerrissen
aussehen, tauchten ein in dunkle
Farbräume. Ugly Beauty, die Komposition des Pianisten Thelonious Monk
hätte ihr Motto sein können. Und dies
war die heimliche Agenda der Monster Roster: Eine Gegenästhetik aus
verpönten Materialien – Teer, Ruß,
Schlamm, Fäkalien, Blut.
Die Essays von Jean-Paul Sartre
und Albert Camus, die Stücke von
Antonin Artaud, die Romane von
Franz Kafka und James Joyce, Begriffe
wie „Angst“ und „Absurdität“, die
Konzepte des Unbewussten, die
Ahnung der unvordenklichen Schrecken, die aus den Bildern und Berichten aufstieg, nachdem die USA ihre
Atombomben auf Hiroshima und
Nagasaki abgeworfen hatten – all diese
kulturellen und gesellschaftlichen
Erfahrungen sind in die zwischen
Expressionismus und Surrealismus
schwankende Bildsprache der Künstler
eingegangen. Jeder Einzelne der Monster Roster hatte seine eigene Grammatik. Doch im langen Abstand kann
man gut erkennen, wie all diese Werke
aus einem gemeinsamen Genpool der
Gefühle und Gedanken stammen.
REVUE
65
Von oben nach
unten: Leon Golub,
Dominick Di Meo,
June Leaf, Ted
Halkin, Cosmo
Campoli
JUNE LEAF The Salon, 1965, Öl auf Leinwand, 112 × 91 cm
Linke Seite: LEON GOLUB Colossal Figure, 1961, Lackfarbe auf Leinwand, 266 × 200 cm
Die Ausstellung The Chicago School 1948–1954 wurde die bislang
umfassendste Übersicht über die Monster Roster. Zusammengestellt
hatte sie 1964 Don Baum, der Direktor des Hyde Park Art Center in
Chicago. Da hatten die Monster Roster bereits ihren Zenit überschritten, hatten sich künstlerisch und geografisch in alle Winde zerstreut. So wurde die Ausstellung Retrospektive und Nachruf zugleich.
Im Klima nach der ersten Welle der Pop-Art erschien so ziemlich
alles an den Bildern der Monster Roster vergangen, gestrig, abgetan,
von ihrer erdigen Palette bis zu den Selbstverletzungen, die sich ihre
gewaltsame Malerei beibrachte, vom humorlosen Ton bis zum untergründigen Machogehabe. Das Dunkle schien out angesichts der glatten Oberflächen, die die Pop-Art versprach. „Dies ist nicht Kunst
um der Kunst willen“, hatte Golub noch 1963 über seine Arbeit
geschrieben, „dies ist weder Ironie noch Spiel.“ Aber Ironie und
Spiel waren eben in Mode gekommen. Und im Vergleich mit der
Energie eines Peter Saul, dessen in Chicago entstandene und gerade
wiederentdeckte Vietnam-Bilder vehement und ironisch zugleich
wirkten, oder mit seinen eigenen, zunehmend konkreter, gegenständ-
licher werdenden Bildern von Krieg, Folter und Politikern, muteten
Golubs Arbeiten aus der Chicago-Zeit mühsam an. „Wären die
Monster Roster eine Gruppe in New York und nicht in Chicago
gewesen“, sagte Fred Berger, „wären sie in den Rang eines nationalen
Phänomens aufgerückt. Und sofort hätte die Bewegung Anerkennung und Erfolg gefunden. Aber so wie es nun einmal geschehen ist,
zündete der Funke nur einen Augenblick und verglühte.“
Im größeren Rahmen, während Kunsthistoriker weiter daran
arbeiten, das Profil der amerikanischen Kunst des 20. Jahrhunderts
neu zu interpretieren, bieten die Monster Roster eine provozierende Alternative zur Hegemonie des Abstrakten Expressionismus,
einen dynamischen und vielfältigen Kontrapunkt, gleichermaßen
verankert im kosmopolitischen Humanismus und einem elementaren Korpsgeist.
ÜBERSETZUNG: ULI AUMÜLLER
DAS SMART MUSEUM OF ART IN CHICAGO ZEIGT BIS 12. JUNI DIE AUSSTELLUNG MONSTER ROSTER: EXISTENTIALIST ART IN POSTWAR CHICAGO
REVUE
67
ENCORE
MAGNUS-APP —
—
WERTSACHEN — AU KT IO NE N
GR AND PRIX — BL AU K ALENDER
— DER AUGENBLICK
Magnus,
der Allwissende
Das ist die Revolution: Ein Foto von der Kunst,
und schon hat man alle Informationen auf dem Smartphone.
Was bedeutet das für die Kunstbetrachtung?
S
o sieht die neue Kunstzeitrechnung
nach Freischaltung der App
Magnus aus: Wir gehen in eine
Galerie oder ein Museum oder eine
Privatwohnung, schauen uns kurz um.
Wenn uns ein Bild gefällt, wir mehr
wissen wollen, halten wir unser Smartphone hoch, machen ein Foto und
lassen uns erzählen, was die Datenbank
so alles gespeichert hat: Gesammelt
hat der Erfinder dieser CrowdsourcingApp Magnus Resch schon Künstlerna-
men, Titel, Jahre, höchste Preise, Ausstellungen, andere bereits verkaufte Bilder,
die wir mit Herzen versehen, wenn sie uns
gefallen. Und es gibt natürlich einen
Link zur Galerie. Die App wurde für den
Kunstmarkt entwickelt, um für Transparenz im Dschungel der internationalen
Megapreismacherei zu sorgen. Wir
können uns aber auch auf einem Stadtplan anschauen, welche Ausstellungen
in der Umgebung eröffnen, und uns über
die Künstler informieren.
ENCORE
69
Mit Magnus hat die App-Digitalisierung also auch die Kunst erreicht. In
einem Restaurant genießt man ja schon
länger einen guten Wein, scannt
das Etikett, bekommt auf Vivino einen
mittleren Preis für die Flasche genannt,
eine Bewertung und Information über die
Rebsorte, Geschmack, Ranking, Jahresvergleich und wo man ihn in der Nähe
kaufen kann. In einer Kneipe hört man
ein Lied, das einem gefällt, man hält sein
Smartphone in die Höhe und lässt sich
„ Jeder
bekommt
alle Infos.
Sofort und
umsonst!“
DER ÖKONOM UND
SOCIAL-MEDIA-STAR
MAGNUS RESCH HAT
SEINE APP ZUR KUNSTERKENNUNG SELBSTBEWUSST MAGNUS GENANNT. EIN GESPRÄCH
Herr Resch, Sie haben in den
USA gerade eine App gelauncht,
die den Kunstmarkt radikal
verändern soll. „Magnus“
erkennt Kunstwerke und liefert
alle Informationen dazu: Künstler, Preis und Ausstellungsorte.
Mit mehr als acht Millionen
Einträgen haben Sie die größte
Kunstdatenbank der Welt auf
der Basis von Crowdsourcing.
Sie sprechen vom „Shazam“ für
die Kunstwelt. Wie kamen Sie
auf diese Idee?
— Sie ist über Jahre gereift.
Schon seit meinem BWL-Studium wundere ich mich über
die fehlende Transparenz auf
dem Kunstmarkt. Der Besuch in
Galerien bereitet mir nach wie
vor Unbehagen. Sie fühlen sich
elitär an, obwohl sie öffentlich
sind. Und wenn man nach dem
Preis fragt, wird er oft gar nicht
genannt. Ich habe selbst kurz
eine Galerie geführt. Damals
fand ich es fast lustig, dass man
Preise meist aus dem Bauch
heraus bestimmen konnte. Nur
bei der Malerei gibt es eine –
allerdings schräge – Formel:
Länge mal Breite mal Multiplikator. Kommt dann jemand
vorbei, der ein bisschen wohlhabender aussieht, schlägt man
2.000 Euro drauf, um mehr
Spielraum für den Handel zu
haben. Der Preis ist aber doch
etwas Essenzielles. Auf dem
Kunstmarkt benehmen sich alle
wie auf einem Basar.
Und nun sollen die Teilnehmer
dort die Hüllen fallen lassen,
und Sie verdienen damit Geld.
— Zunächst einmal: Die App
ist gratis. Ich mache bisher
kein Geld damit. Aber ich bin
natürlich auch nicht von der
Heilsarmee, die Monetarisierung
kommt später. Zuerst will ich
den Kunstmarkt zugänglicher
machen. Ich bündele die Suche
auf handliche, digitale Weise,
sortiere nach Preisen, Orten,
Ausstellungen, Künstlern. Im
Gegensatz zu Datenbanken
wie Artnet oder Artprice findet
man aber nicht nur Preise aus
Auktionen, sondern auch
aus Galerien. Wir decken den
kompletten Markt ab.
Magnus Resch, fotografiert von Adam Golfer in New York
Wer Ihre App nutzt, kann jetzt
Kunstberatern wie Helge
Achenbach oder Yves Bouvier
auf die Finger gucken. EntTatsächlich hat die Undurchspricht Magnus – was ja ein
sichtigkeit in den vergangenen
Jahren Betrügereien begünstigt. bisschen größenwahnsinnig
von Shazam zeigen, wer da singt, verlinkt
mit einer Seite zum Erwerb des Liedes.
Die Kunst aber, so dachte man lange,
bleibt außen vor. Sie hat nach dem
Verlust ihres Originalität-Schutzschirms
durch Instagram und Co. jedoch keine
Mittel mehr, sich der Gesichtserkennung
zu entziehen, die unsere Welt derzeit
durchsichtig macht. Magnus wird unseren
Blick auf die Kunst nachhaltig verändern.
Denken wir die App weiter: Von nun
an können wir unsere Neugierde ganz
ohne Vorkenntnisse befriedigen. Erinnern
wir uns an die Zeiten, als man sich durchs
Internet schlängeln musste, hindurchzappte, Link auf Link folgte, bis man sich
irgendwo verloren hatte – mit dumpfem
Kopf vor dem Rechner hing. Natürlich ist
Magnus nichts für Forscher. Doch den
Anspruch hat die App auch nicht.
ENCORE
70
klingt – einem allgemeinen
Bedürfnis nach Kontrolle und
Transparenz?
— Transparenz, Demokratisierung, das behauptet heute doch
jede Online-Plattform. Aber
Schauen wir uns eher den Vorteil gegenüber Brockhaus-Zeiten an, als die dicken
Bände im Regal verstaubten. Dann
kam Wikipedia – am Anfang verpönt. Wer
aber kann von sich sagen, die Seiten
nicht zu nutzen? Die stets aktualisierten
Literaturlisten geben einen möglichen
Pfad zur tieferen Beschäftigung frei. Im
Museum sieht man immer häufiger
Leute, die sich auf ihren Smartphones
fast überall muss man hohe
Beiträge bezahlen, um an
Informationen zu kommen.
Meine App aber ist unabhängig.
Und extrem einfach: Man
macht ein Foto von einem
Kunstwerk und erfährt sofort
alles darüber: den Preis, den
Künstlernamen und die Ausstellungshistorie. Ein Sammler
kann sich ein eigenes Profil
erstellen, bekommt Meldungen
über Künstler, die er gut findet,
erfährt, wo sie ausstellen oder
ob sie gerade in Auktionen
angeboten werden. Außerdem
vergleichbare Werke und Preise.
Ein Käufer sieht: Dieses Werk
aus der Galerie wurde schon bei
Christie’s 2011 für einen
bestimmten Preis versteigert.
Wir führen also die Preisentwicklung vor. Und die
User helfen dabei.
Die App erkennt Bilder, die
bereits in der Datenbank
sind. Wenn nicht, wird das
Foto neu registriert, und man
erhält am nächsten Tag Informationen dazu. Findet man auch
Skulpturen, Konzeptkunst
und Performance? Oder weiße
Leinwände von Robert Ryman?
— Nein. Die Technologie der
Wiedererkennung von Bildern
ist noch nicht so weit, dass
sie Dreidimensionales wahrnimmt, da sind wir noch genauso
rudimentär wie Google und
Amazon, die mit derselben
Software arbeiten. Und rein
weiße Leinwände wird keine
Technologie der Welt als
konkretes Kunstwerk definieren können. Aber dann sucht
man einfach nach dem Künstlernamen, spezieller auch
nach Entstehungszeitraum oder
Größe der Leinwände, und
kommt der Information schon
näher. Wir lassen zwar die
Software auf Kunsterkennung
hin verfeinern, so wie Amazon
auf Objekte oder Vivino auf
Weinlabels – künstliche Intelligenz steckt ja noch in den
Anfängen. Aber sie ist nicht das
Herzstück der App, sondern
unsere Datenbank.
Fotografiert man ein Werk, bekommt
man Informationen zur Kunst und
konsumfreundlich: den Preis
Mit Magnus kann man sich in der
Stadt bewegen, von einer aktuellen
Ausstellung zur anderen
Er erstellt damit seine digital
collection. So erfährt er etwas über
Wertzuwächse und den aktuellen
Preis seiner Künstler in Galerien.
Viele Werke befinden sich in
Museen, wo man nicht fotografieren darf, oder in Privatsammlungen. Auch manche
Galerien werden ein Fotoverbot
verhängen, weil sie ihre Preise
nicht publik machen wollen.
Galeristen untersagen den
Zeitungen jetzt schon, Preise
öffentlich zu machen. Wie
werden Sie Ihrem Anspruch auf
Vollständigkeit und Fehlerfreiheit gerecht?
— Wo keine Fotos erlaubt
sind, können wir nichts
zeigen. Wo keine Preise
öffentlich sind, zeigen
wir nur das Bild und das,
was wir dazu wissen. Oft
erfahren wir die Preise dann
durch Galeriebesucher – und
haben ja auch noch die Auktionszuschläge. Spätestens der
nächste Käufer kennt den Preis.
Vielleicht nutzt er unsere App
und speist seinen Neuerwerb
dort ein. Ich war schon bei
vielen Sammlern zu Hause und
habe noch nie erlebt, dass ich
keine Fotos machen durfte. Wir
zeigen ja nicht, wo ein Bild
hängt. Einer der wichtigsten und
größten Sammler aus New York
ist mit meiner App durch sein
Haus gelaufen, hat alles abfotografiert und Preise eingegeben.
die Grundinformation mühsam bei
Wikipedia holen. Magnus könnte das
jetzt alles ablösen.
Wollen wir aber überall mit unseren
Handys auf die Kunst zielen? Uns
nicht lieber über das Gesehene austauschen? Als Shazam und auch Spotify
an den Start gingen, war die Hochkultur
in großer Sorge. Werden wir in der
Kunst auch bald die Hit Song Science
bekommen, die bislang nur von Auktionshäusern ganz analog betrieben
wird, wenn sie junge Künstler hypen?
Dank der App-Info lässt sich errechnen,
was ein Hit wird. In der Musikbranche
gibt es Firmen, die Big-Data-Ströme
auswerten, um festzustellen, was gut
läuft. Welche Songs Taylor Swift veröffentlicht, darüber entscheiden die
Algorithmen.
ENCORE
71
Aber viele Sammler haben kein
Interesse daran, dass überall
bekannt wird, was sie zu Hause
hängen haben. Aus steuerlichen
Gründen, aus Angst vor Einbrüchen oder nervenden Leihanfragen. Sammeln ist etwas Privates.
In Deutschland hört man
das angesichts des geplanten
Kulturgutschutzgesetzes ziemlich
häufig. Wenn Sie Ihre App in
einigen Monaten auch hier
anbieten, könnte Zurückhaltung
bei den Kunstkäufern herrschen.
Für wen ist die App dann gut?
— Noch mal: Die App zeigt
nicht, wem ein Werk gehört und
wo es sich befindet. Google,
Malen Künstler bald Bilder nach den
Wünschen der Magnus-Nutzer? Die
Antwort ist wahrscheinlich: Ja. Magnus
zeigt, dass auch die Kunst ihre Sonderrolle längst verloren hat. Anders als
in der Musik aber baut die Kunst immer
noch sehr hohe Hürden auf für die
Besucher.
Passend dazu definiert die neue
Direktorin des Kunstmuseums Bern
Uber, Instagram und Facebook
wissen mehr über uns alle,
als ich jemals wissen werde. Die
App ist einfach für jeden,
der sich für Kunst interessiert!
Nehmen Sie diesen Fall: Ein
Tourist steht in New York und
möchte wissen, welche Ausstellungen gerade laufen. Entweder
er googelt nach Galerien oder
Websites, die Shows zahlender
Mitglieder oder andere gefilterte
Empfehlungen nennen. Oder er
greift sich einen Flyer, auf dem
die Galerien für ihre Ausstellungseinträge ebenfalls bezahlen.
Bei mir aber finden Sie nicht
nur fast jede Galerie der Stadt,
sondern ich sage Ihnen auch,
welche Ausstellung genau
diesen Touristen interessieren
könnte, weil die App sein Profil
auswertet. Zudem listen wir die
Lebensläufe aller Künstler
detailgenau. Auch das
musste man sich bisher
mühsam auf Websites
zusammensuchen.
Wenn die App alles weiß – wird
das Gespräch mit Galeristen
und Experten jetzt überflüssig?
— Die App bietet ja nur einen
Wissensvorsprung. Da kann
man doch nicht ernsthaft davon
sprechen, dass hier ein wichtiges
Gespräch verloren geht. Wenn
ich in einer Galerie nach dem
Preis frage, spreche ich meist
mit dem Praktikanten oder dem
Sales Director. Der intensive
Dialog findet da eh nicht statt.
Vielleicht interessiert manch
einen ja auch die Kunst selbst,
und nicht nur der Preis?
Der Markt ist in der Kunst doch
ohnehin schon so dominant.
Befeuert das Digitale diese Entwicklung und verlagert sich die
Kunstrezeption bald komplett
ins Smartphone?
— Ich glaube, dass das Digitale
den Offline-Markt nicht
ersetzt, sondern unterstützt.
Die bestehenden Player – Artnet, Artsy, Auctionata, Paddle8,
Artspace und Artbinder –
finde ich großartig. Aber online
werden doch nur weniger
als zehn Prozent des gesamten
Marktes umgesetzt. Auctionata
zum Beispiel verdient mit
Uhren, Autos und Antiquitäten
mehr Geld als mit Kunst. Ich
bin überzeugt, dass das Digitale
den Markt vergrößert, aber
ihn nie verdrängen wird. Die
Inspiration kommt allein durch
den direkten Kontakt. Man
kann Kunst nur offline erleben.
Trotzdem treten Sie nun in
Konkurrenz mit Online-Plattformen, die das Sehen und
Kaufen von Kunst in den letzten
Jahren stark beeinflusst haben.
Nina Zimmer die Bedürfnisse des
Kunstschauenden heute eindeutig: Es
gebe viel mehr als vor zehn oder fünfzehn
Jahren Bedarf an Basiswissen. Die
Grundmotive der christlichen Ikonografie seien den meisten unbekannt.
Sobald ein Hauch des Bildungskanons
vorausgesetzt werde, führe das schon
dazu, dass die Besucher die Ausstellung ablehnten. Die Vermittlung der
— Ich bin eine App. Eine
Preisdatenbank wie Artnet oder
Informationsplattform wie
Artsy sind Websites. Dort gibt
es ein anderes Userverhalten.
Trotzdem ist für mich jemand
wie Hans Neuendorf, der vor
20 Jahren Artnet gegründet hat,
ein absoluter Revolutionär.
Er hat Transparenz in den Markt
gebracht, indem er Auktionsergebnisse gebündelt an einem
Ort zugänglich macht. Das hat
etwas Entscheidendes verändert: In Auktionsräume,
wo früher nur Experten saßen,
kamen plötzlich andere Leute,
die sich vorab informiert hatten.
Früher musste man Kataloge
anfordern und Preislisten
sammeln. Nun waren die Preise
verfügbar, zumindest für
Mitglieder. Bei uns ist es
klar: Jeder bekommt alle
Informationen sofort und
umsonst. Wir decken den
kompletten Kunsthandel ab,
nicht nur den Auktionsmarkt.
Preise aus dem Primärmarkt zu
sammeln war bisher der heilige
Gral. Außer uns hat sich dorthin
noch niemand vorgewagt.
Verliert der Kunstbetrieb nicht
seinen Reiz, wenn alles sofort
verfügbar und konsumierbar ist?
— Nein. Für mich entsteht der
Reiz nicht dadurch, dass
künstlich Exklusivität aufgebaut
wird. Das ist reines Marketing.
Auch das Verheimlichen der
Preise ist Teil davon. Der Reiz
Grundlagen muss also stimmen. Und so
ist Magnus vielleicht der Anfang einer
kleinen Revolution für den Kunstbetrachter. Ganz im Sinne des Kulturpolitikers
Hilmar Hoffmann, der diese demokratische Öffnung der Kunst schon in den
70er-Jahren forderte und „Kultur für
alle“ nannte. Die Kunst überrumpelt im
besten Fall unsere Sinne sowieso – und
wir vergessen das Smartphone in der
ENCORE
72
entwickelt sich durch das
Kunstwerk selbst. Wenn ich
daran jedes Detail beschreibe,
alles erkläre, es totinterpretiere –
vielleicht geht dann etwas
verloren. Aber ich setze nur die
Hürden herab, damit mehr
Menschen Kunst sehen können.
Vor drei Jahren haben Sie Ihre
Doktorarbeit als Handbuch
herausgegeben, in dem steht, wie
Galerien mehr Geld verdienen
können, etwa durch Kundenbindung mit Armbändchen, auf
denen Kunst abgedruckt ist. Sie
selbst kommen aus dem Startup-Bereich. Was versprechen Sie
sich finanziell von der App?
— Eines ist klar: Ich verkaufe
keine Userdaten, und die
Basisfunktionen der App werden
immer gratis bleiben. Was
kostenpflichtig dazukommen
könnte, sind Extra-Services
wie bei Spotify. Es gibt die
Gratis- und die Premiumversion mit Sonderleistungen
wie Market-Alerts. Ich könnte
mir auch vorstellen, dass
Galerien irgendwann selber
Daten hochladen und Zugang
zu den Analysen der App
erhalten. Sie sehen dann: Wie
oft wurde dieses Bild in
meiner Galerie fotografiert?
Die Galeristen werden so meine
Partner. Aber auch dann
müssen sie keine 250 Dollar
pro Monat zahlen.
INTERVIEW: GESINE BORCHERDT
Tasche. Holen wir es aber raus, kann die
Kunst uns lehren, dass wir sie vielleicht
noch nicht verstanden haben, wenn wir
alle schnellen Informationen über sie
besitzen.
KOMMENTAR: SWANTJE KARICH
ILLUSTRATIONEN: AHAOK
&
Sienna Miller
#jungbleiben
WERT
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Was uns gefällt: Highlights
und Abseitiges aus dem Angebot
des Kunsthandels
In seiner berühmten Blackboard-Serie sieht
man es: Cy Twomblys wahre Leidenschaft
galt dem Schreiben. Die schwarz-weißen
Bilder, die zwischen 1966 und 1971 entstanden, bilden die Essenz eines Œuvres, das
zwar keine Gegenstände zeigt, aber trotzdem
sehr viel erzählt – von Poesie und Mythologie, Mallarmé oder Ovids Metamorphosen. Fast minimalistisch
wirken die Schreibschlaufen, die Twombly rhythmisch auf schwarzen Grund gesetzt hat. Wie das bei
einem Format von 154 mal 174 Zentimetern ging? Ganz einfach: Er setzte sich auf die Schultern eines
Freundes, schwenkte vor der Leinwand hin und her und zog so seine Linien. Untitled (New York City),
das Sotheby’s auf 40 Millionen Dollar schätzt, fällt aus der Blackboard-Reihe: Twomblys Wachsstift ist hier
blau statt weiß. Der Besitzer erwarb das Bild direkt im Atelier, es
Nachkriegs- und Gegenwartskunst
wurde nie öffentlich gezeigt – bis jetzt. Gelockt wurde er sicherlich
11. und 12. Mai bei Sotheby’s
von Twomblys jüngstem Rekord bei Sotheby’s; ein Bild gleichen
in New York
Namens brachte unlängst 70,5 Millionen Dollar. GB
BLAUPAUSE
Expression
ade
M
A
R
I
O
N
E
T
T
E
Man sieht es dem artigen Sujet
nicht an, dass es in eine kunstgeschichtlich spannende Beziehungsgeschichte verwickelt ist. Als
sich die Dresdner
Moderne Kunst „Brücke“-Maler 1905
3. Juni bei zur Gruppe formierLempertz in ten, suchten sie bald
Köln
nach Gesinnungsfreunden und setzten
einige Hoffnung auf den Schweizer
Cuno Amiet, der, mit Matisse
bekannt, ihnen die Tür nach
Frankreich öffnen sollte. Amiet
gesellte sich kurzzeitig zur
„Brücke“, die heftige Expressivmalerei aber blieb ihm fremd.
Schön zeigt das Stillleben aus dem
Jahr 1908, wie viel näher ihm
sein Pariser Freund Matisse war.
Lempertz schätzt das Gemälde
auf 80.000 bis 120.000 Euro. MÜ
ENCORE
74
Nach dem Ersten Weltkrieg, der die
Menschen erschüttert hat wie keine
Kampfhandlung davor, panzerte sich
der Mann auch im Alltag. Die Ritterrüstung der Neuen Sachlichkeit waren
der schwarze Mantel, das taillierte
Sakko, der gestärkte Kragen und der
steife Hut. Erich Kästner hat ihr in
Emil und die Detektive ein Denkmal
gesetzt. August Sander fotografierte den
Kölner Maler und Kriegsheimkehrer
Anton Räderscheidt in diesem Aufzug.
Und der Maler selbst nennt sein
Epochenbild Junger Mann mit gelben
Handschuhen. Räderscheidt steht
unbeholfen da, „geschützt … aber
umso einsamer“, schreibt Wieland
Schmied. Das kleine Gemälde von 1921
galt als im Krieg verloren, erst in den
70ern tauchte es auf. Grisebach schätzt
es auf 180.000 bis
Ausgewählte Werke
240.000 Euro (ein
2. Juni in der
Foto von Sander gibt
es als Beigabe). WOE Villa Grisebach in
Berlin
EINE AUSWAHL der BLAU
REDAKTION
AUKTIONEN
6./7. MAI
NAGEL IN STUTTGART
Asiatische Kunst
7. MAI
DR. FISCHER IN HEILBRONN
Kunst und Antiquitäten
9./10. MAI
SOTHEBY’S IN NEW YORK Impressionismus und Moderne
10./11. MAI
QUITTENBAUM IN MÜNCHEN Jugendstil und Art déco
10./11. MAI
CHRISTIE’S IN NEW YORK
Nachkriegs- und Gegenwartskunst
11./12. MAI
BONHAMS IN NEW YORK
Impressionismus und Moderne, Nachkriegs- und Gegenwartskunst
11./12. MAI
SOTHEBY’S IN NEW YORK
Nachkriegs- und Gegenwartskunst
11.–13. MAI
ZISSKA & LACHER IN MÜNCHEN
Seltene Bücher und Grafik
12./13. MAI
CHRISTIE’S IN NEW YORK Impressionismus und Moderne
13./14. MAI
VAN HAM IN KÖLN Alte Kunst, Europäisches Kunstgewerbe
18.–20. MAI REISS & SOHN IN KÖNIGSTEIN
19. MAI
SOTHEBY’S IN LONDON Fotografie
20. MAI
CHRISTIE’S IN LONDON Fotografie
20./21. MAI LEMPERTZ IN KÖLN
Kunstgewerbe, Alte Meister und Kunst des 19. Jahrhunderts
23./24. MAI KETTERER IN HAMBURG Wertvolle Bücher
25. MAI
CHRISTIE’S IN LONDON Shakespeare: Die vier Folianten
25. MAI
KETTERER IN MÜNCHEN Kunst des 19. Jahrhunderts
26. MAI
SOTHEBY’S IN NEW YORK Alte Meister
Helmut Newton, French Vogue, Paris 1969 © Helmut Newton Estate
Wertvolle Bücher, Handschriften, Reise, Fotoalben und Grafik
HELMUT
NEWTON
PAGES
FROM THE
GLOSSIES
26.–28. MAI BASSENGE IN BERLIN
Kunst des 15. bis 19. Jahrhunderts und Moderne
30. MAI
CHRISTIE’S IN ZÜRICH Schweizer Kunst
31. MAI
SOTHEBY’S IN ZÜRICH Schweizer Kunst
1. JUNI
BASSENGE IN BERLIN Fotografie
1.–4. JUNI
VILLA GRISEBACH IN BERLIN
Moderne und Gegenwartskunst, Fotografie
2. JUNI
VAN HAM IN KÖLN Moderne und zeitgenössische Kunst
3./4. JUNI
LEMPERTZ IN KÖLN Moderne und Gegenwartskunst
GREG
GORMAN
COLOR
WORKS
BIS 22. MAI 2016 | HELMUT NEWTON FOUNDATION | MUSEUM FÜR FOTOGRAFIE
JEBENSSTRASSE 2, 10623 BERLIN | DI, MI, FR 10-18, DO 10-20, SA, SO 11-18 UHR
PFLICHTLEKTÜRE
E
BELL
E
Ob wir uns den
Fotografie
New Yorker
1. Juni bei Bassenge
Paparazzo Arthur
in Berlin
„Weegee“ Fellig
so besessen vorstellen dürfen wie Jake
Gyllenhaal als Psycho-Paparazzo im
Film Nightcrawler? Beschrieben wird er
jedenfalls als Mann ohne Scham und
Scheu, der sich auf der Rückseite seiner
Bilder mit „Weegee the Famous“
auswies und dicke Zigarren rauchte. Im
New York der 30er- und 40er-Jahre
folgte er den Hinweisen des Polizeifunks, keine Grausamkeit war ihm
zu hart. 2007 zeigte das C/O Berlin in
einer Ausstellung mit 220 Bildern, wozu er fähig war. Beim Auktionshaus
Bassenge in Berlin wird jetzt eines seiner harmloseren Motive versteigert, ein Vintage
seiner Marilyn Monroe on Pink Elephant, 1955, 25,3 mal 20,5 Zentimeter klein. Abstand
aber hält der Fotograf auch hier nicht. Die Taxe liegt bei 2.000 Euro. SWKA
FAMOUS
ENCORE
76
Die Zeit der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert nennt man nicht
ohne Grund die Belle
Époque. Bestes Beispiel ist
diese Vase mit „PhänomenDekor“ aus der Kunstglasmanufaktur Joh. Loetz Witwe aus
Klostermühle in Böhmen. Ein
filigranes Gefäß aus kobaltblauem und transparentem,
silbern und perlmuttfarben
irisierendem Überfangglas, das
nur zu einem Zweck gefertigt
wurde: staunen zu lassen. So
geschehen auf der Weltausstellung 1900 in Paris.
Quittenbaum
Jugendstil und Art déco
schätzt die Vase auf
10. und 11. Mai
8.000 bis 10.000
bei Quittenbaum in
Euro. WOE
München
QU
Ein Bild aus dem Frühwerk Corinths, als der Maler noch an
der Pariser Akademie studierte und dort dem impressionistischen Zeitstil mit Skepsis begegnete. Gleichwohl sieht man
dem genussvollen Schwelgen in abgestuften Grüntönen an, dass
sich der Maler an der Lichtregie der Franzosen und ihrem
aufgelösten Kolorismus orientiert. Wobei der deutsche Impressionismus immer noch ein wenig symbolistisch gebunden bleibt.
Tatsächlich könnte man bei der Rückenfigur neben dem
beherrschenden Baumstamm an eine Böcklin-Szene denken,
an einen Wiedergänger aus einem mythischen Arkadien, der
hier im sonnendurchfluteten Wald Pans Stunde genießt. Wie
Thomas Deecke, die unbestrittene Corinth-Autorität, betont,
ist das Motiv singulär im Werk, was das
Alte Kunst
Gemälde Im Walde (1886) umso bedeut13. Mai bei
samer macht. Van Ham schätzt es auf
Van Ham in Köln
40.000 bis 60.000 Euro. MÜ
ÉPO
PANS STUNDE
Er wirkt fast wie
Tarnung, der Titelkupfer. Man könnte
an eine pathetische
Schäferszene denken,
wenn man nicht
wüsste, was 1781 nur
wenige wussten:
dass sich zwischen den
Buchdeckeln ein
dramatischer Sprengsatz versteckt, der
Lot und seine Töchter
vom bürgerlichen
8. bis 12. April bei
Moralgefüge nur noch
Christie’s in
Trümmer hinterlassen
New York
wird. Die überaus
seltene Erstausgabe
von Schillers anonym
publizierten Räubern
Wertvolle Bücher
stammt aus dem Nachlass der
23. und 24. Mai bei
Widerstandskämpferin Ruth
Ketterer in Hamburg
Andreas-Friedrich. 1947 hat Peter
Suhrkamp in den veröffentlichten Tagebuch-Aufzeichnungen
(Der Schattenmann) auf die Schriftstellerin aufmerksam gemacht, die
zusammen mit ihrem Partner Leo Borchard und der Flüchtlingshilfegruppe „Onkel Emil“ Juden beim Versteck oder Exil half. Die
gut erhaltenen Räuber kommen bei Ketterer mit einer Schätzung
von 10.000 Euro zum Aufruf. MÜ
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ZAUBERKUNST
Sind Fälscher
geniale Illusionisten?
Eines jedenfalls
a steht es: wizard. Während der Lektüre eines Interviews im Art Newspaper bin ich an
diesem so wunderbar zischenden Wort hängen geblieben: wizard. Die amerikanische
ist sicher: Ihr
Kunstzeitung warb mit einem Exklusivgespräch. Gesprochen hat Ann Freedman.
Man muss wissen: Ann Freedman schwieg ungefähr fünf Jahre – außer vor Gericht. Dort
Handwerk wurde sie gezwungen. 2011 flog der von ihr geleiteten Galerie Knoedler in New York ein Fälschungsskandal um die Ohren. Ann Freedman hatte jahrelang Bilder verkauft, die von Jackson
wird bald Pollock und Mark Rothko sein sollten, die aber ein Chinese in Manhattan in seinem Studio gemalt
hatte. Die Zwischenhändlerin Glafira Rosales hatte großartige Geschichten von einer natürlich
aussterben tollen historischen Sammlung erzählt. Und fast alle haben ihr geglaubt. Besonders Ann Freedman.
TITELBLATT VON
LYMAN FRANK BAUMS
THE WIZARD OF OZ
D
Die Folgen: Die Knoedler-Galerie wurde nach 165 Jahren geschlossen, die Vermittlerin der Fälschungen Glafira Rosales angeklagt, doch kurz bevor Ann Freedman dran war, wurde das Verfahren eingestellt. Eine dramatische Geschichte. In Erinnerung geblieben ist mir aber von dem Interview nur ein Wort: wizard. Genauer sagte Ann Freedman: Sie sei das perfekte Opfer gewesen und
die Betrüger „exquisitely conspiratorial wizards“ – Zauberer, ja Illusionisten. Sie haben ihre Sinne
getäuscht. Der vermeintliche Jackson Pollock war natürlich ein Pollock, der falsche Rothko war ein
Rothko. Im Bann des Zauberspruchs sind sie es noch heute. Während ich das Wort wizard wie
Brause auf der Zunge spüre, erst kurz, dann länger an die vielen „Zauberer“ in den „Panama
Papers“ denke, die auch mit Illusionen arbeiten, lande ich schließlich bei Petrosilius Zwackelmann
aus Der Räuber Hotzenplotz von Otfried Preußler. Petrosilius Zwackelmanns größter Erfolg war es,
Kasperl mit einem Zauber zu belegen, um ihn daran zu hindern, über die Mauer zu klettern, sich
aus der Gefangenschaft zu befreien. So muss es für Ann Freedman gewesen sein, im Bann von
Petrosilius Zwackelmann. Die amerikanischen Zeitungsleser denken vielleicht eher an den Zauberer
von Oz. Demnach wäre Ann Freedman die warmherzige, geradlinige Dorothy und Glafira Rosales
der Zauberer von Oz. Bevor Dorothy und ihre Freunde das Reich des Zauberers betreten dürfen,
müssen sie grüne Brillen aufsetzen, damit sie nicht vom Glanz der Smaragdenstadt geblendet werden. Eine grüne Brille trug Ann Freedman nicht. Sie wurde zum Zauberlehrling, der die Kontrolle
verliert. Von wizards im Kunstmarkt aber wird man schon bald nichts mehr lesen. Ihre Sprüche
werden nicht mehr wirken – auch ohne grüne Brillen. Big Data wird’s richten, Algorithmen werden
die Wahrscheinlichkeit von Fälschungen berechnen, unmöglich machen. Auch die guten Illusionisten-Künstler werden dann vielleicht nicht mehr gebraucht.
SWANTJE KARICH
ENCORE
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BILDNACHWEISE
Nr. 11 / Mai 2016
Titel: Peter Watkins Collection, Museum of Modern
Art, New York. Editorial: S. 4: Foto Yves Borgwardt für
BLAU. Inhalt: S. 6 l. u.: TBA21 Thyssen-Bornemisza. Foto:
Jens Ziehe. S. 6 M. o.: Foto: Robert Polidori. S. 6 r. u.:
Carlos Álvarez Montero für BLAU. S. 8 l. u.: Foto: Adam
Golfer für BLAU. S. 8 M. o.: Collection of Ulrich and Harriet Meyer. Art © Estate of Leon Golub/Licenced by
VAGA, New York. S. 8 r. u.: Foto: Roland Halbe. Contributors: S. 10 M.: Foto: Mary Scherpe. S. 10 u.: Foto: Isolde Ohlbaum/Laif. Essay S. 19: Foto: Getty Images. Apéro: S. 22 o.: © NASA. Courtesy Daniel Blau, München.
S. 22 l.: © Paris, Bibliothèque du Musée d’histoire naturelle. Direction des bibliothèques et de la documentation. S. 22 r.: Stiftung Bauhaus Dessau. S. 23 l. o./M.:
Courtesy Christie’s. S. 23 r.: Courtesy MCM. Ernst Wilhelm Nay: S. 24: Foto: Günther Becker / Documenta
Archiv. S. 25: Courtesy Aurel Scheibler. Dichter dran:
S. 26: Dauerleihgabe aus Privatbesitz. Kunstmuseum St. Gallen. Foto: Sebastian Stadler. Bewegtbild:
S. 27 l. o.: Atelier Scheibitz. S. 27 l. u.: Foto: DDP Images.
Schnelle Skulpturen: S. 27 r.: Foto: Audi. Blitzschlag:
S. 28 o.: Foto: Alexandre de Brabant für BLAU. 28 u.:
Private Collection. © Yves Klein / Adagp, Paris, 2016.
Foto: Banque d’Images de l’Adagp. Um die Ecke Mexico City: S. 30: Illustration: Kristina Posselt für BLAU.
S. 31 bis 33: Carlos Álvarez Montero für BLAU. Fra Angelico: S. 34 bis 45: Fotos: Robert Polidori. Margueri-
te Humeau: S. 46/47: Foto: Felipe Ribon. S. 48: Foto:
Jonnie Craig für BLAU. S. 49: Foto: Pierre Antoine for
STUK. S. 50: HEAD Genève (Dylan Perrenoud). S. 51:
Marguerite Humeau/Le Studio Humain. S. 52: Marguerite Humeau und IZW. S. 53: Marguerite Humeau / Duve
Berlin. Foto: Trevor Good. Museen: S. 55 l. o.: Foto: Thomas Spier / Artur Images. S. 55 l. u.: Foto: Getty Images.
S. 55 r. u.: Foto: Roland Halbe. S. 56 l.: Courtesy Herzog & de Meuron. S. 56 r.: Foto: Roland Halbe. S. 57 l.:
Foto: DPA/Picture Alliance. S. 57 r.: Foto: Iwan Baan.
S. 58 l.: Foto: DDP Images. S. 58 r. o.: Foto: Christian
Eblenkamp / Artur Images. S. 58 r. u.: Foto: Caro. S. 59 r.:
Foto: Iwan Baan. S. 59 l.: Lydie Lecarpentier / REA / laif.
Monster Roster Chicago: S. 60/61: Smart Museum of
Art, The University of Chicago, Gift of Robert and Mary
Donley. S. 62: Collection of the Illinois State Museum.
S. 63: Collection of Scott Nielsen and Adrianna Ballén,
Chicago. S. 64: Smart Museum of Art, The University
of Chicago, Gift of Joyce Turner Hilkevitch in memory
of Carl Turner and Jonathan B. Turner. S. 65 v. o. n. u.:
Courtesy of Mary Baber. Courtesy of Jim Falconer.
Courtesy of Joel Press. Courtesy of Mary Baber. Courtesy of Art Shay. S. 66: Ada S. Garrett Prize Fund. The
Art Institute of Chicago. S. 67: Roy and Mary Cullen Art
Collection. Art © June Leaf. Encore/Magnus Resch:
S. 69: Illustration: Anna Szilit / Ahaok. S. 70: Foto:
Adam Golfer für BLAU. Kalender: S. 80 l. o.: Centre
ENCORE
79
Pompidou, Paris. Don de la Galerie Alexandre Guillemain, 2015. © Collection Centre Pompidou, Musée national d’art moderne. Foto: Georges Meguerditchian.
S. 80 l. u.: Centre Pompidou, Paris. Don de Maia Paulin,
2015. © Collection Centre Pompidou, Musée national d’art moderne. Foto: Georges Meguerditchian.
S. 80 M.: Courtesy the artist and Cabinet, London.
S. 80 r.: Tate. Presented by W. Graham Robertson
1940. S. 81 l. o./l. u.: © Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg. S. 81 M.: Courtesy the artist
and Modern Art, London. Foto: Robert Glowacki.
S. 81 r.: © Staatliche Graphische Sammlung, München.
Der Augenblick: S. 82: The Museum of Modern Art.
Acquired through the generosity of Shirley C. Burden.
Foto: Scala Archives
VG Bild-Kunst, Bonn, 2016
Leon Golub, Yves Klein, Ernst Wilhelm Nay, Kenneth
Noland, Jules Olitski, Anton Räderscheidt, Thomas
Scheibitz, Umbo
PA
E
UL
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CENTRE POMPIDOU,
Paris
11.05. – 22.08.2016
Rund 24 Jahre unseres Lebens
schlafen wir. Durchschnittlich
7,5 Stunden am Tag sitzen wir
auf dem Drehstuhl am Computer
oder vor dem Fernseher. Und
was noch schlimmer ist: Wir
verbringen diese Zeit meist nicht
auf einem Sessel des französischen Interiordesigners Pierre
Paulin (1927–2009). Neben Arne
Jacobsen und Verner Panton
gehörte er zu den Gestaltern, die
das Sitzen zu einer foto- und
telegenen Lifestyle-Beschäftigung gemacht haben. Grellbunt
und organisch geformt waren
seine Entwürfe – mit Beinamen
wie „Zunge“, „Schleife“ oder
„Champignon“. Also nicht ganz
das, was man bislang unter dem
Oberbegriff „Stuhl“ kannte. Im
allem Futuristischen zugeneigten
Frankreich seiner Zeit machte
sich Paulin schnell auch politische Freunde. Er richtete Georges
Pompidous Privaträume im
Élysée-Palast ein ebenso wie
François Mitterrands
Präsidialbüro. Nun
wird sein
Lebenswerk
anhand
von
70 Entwürfen
gewürdigt.
F300, 1967
woe
THE NEW
HUMAN
MODERNA MUSEET, STOCKHOLM
21.05. – 04.12.2016
PAINTING
WITH LIGHT
CM 170, genannt
„Tripode Cage“, 1964
DANTE GABRIEL ROSSETTI Proserpine, 1874
Unsere TERMINE im Mai
TATE BRITAIN, LONDON
11.05. – 25.09.2016
Als die Fotografie
erfunden wurde,
war ein neues
ED ATKINS Even Pricks, 2013
Medium hinzugeWie lange halten sich Visionäre visionär? Wie lange ist kommen, das die
Malerei keinesihre Sicht auf die „Zukunft“, die sie erkunden, neu,
aufregend, wahr, weil gegenwärtig? Die Ausstellung The wegs konkurrenzieren wollte.
New Human im Moderna Museet in Stockholm zurrt
Noch war es
zur Klärung dieser Fragen an einem Ort zusammen,
unvorstellbar, dass
was in den vergangenen Jahren durch die vercyborgte
Kunstwelt waberte: Ed Atkins, talentierter Shootingstar Knipsen und
Klicken mal zur
und großer Erzähler, zeigt uns in seinem Video Even
Pricks von 2013, wie sehr wir von der Facebook-Tech- Laientechnik
werden könnten.
nologie-Denkweise durchdrungen sind. Seitdem sein
Für die FotopioMenschenaffe auf dem Screen auftauchte, war er mit
niere galt die
Einzelausstellungen in der Tate Britain, in der Chisengleiche Professiohale Gallery, im MoMA PS1, auf der Biennale in
nalität, die auch
Venedig – fast also ein Alter Meister
vom Atelierarbeiunserer Zukunft. Wie auch
ter erwartet wurde.
der gefeierte Ryan Trecartin, in
Und geradeso, wie
hysterisch-tiefem Ernst schon
eine Weile suchend. Das Moderna sich die Fotografie
am malerischen
Museet bringt sie und viele
andere mit Langzeitvisionären wie Blick orientierte,
entdeckten auch
Harun Farocki zusammen. Ein
die Maler die
Utopietreffen des alten und des
Möglichkeiten der
neuen Menschen. swka
ENCORE
80
Kamera. Painting
with Light macht
die Wechselbeziehung an
Beispielen englischer Malerei
und Fotografie
des 19. Jahrhunderts einmal mehr
anschaulich.
Rossetti, Whistler,
Millais, John
Singer Sargent,
Margaret Cameron – all die
großen Namen
sind dabei. Und
wenn die Maler
der Präraffaeliten
in antikisierende
Fantasiewelten
entführen, dann
fotografiert Roger
Fenton seine
Water Carrier im
exotischen Kostüm. MÜ
YNGVE
HOLEN
Die mystische Vermählung der hl. Katharina, um 1692
PAUL GOESCH
KUNSTHALLE
BASEL
13.05. – 07.08.2016
SAMMLUNG PRINZHORN,
HEIDELBERG
12.05. – 18.09.2016
Eine gute Ausbildung führt nicht zwingend zum Erfolg.
Bevor Paul Goesch (1885–1940) seinen Lebensmittelpunkt in Nervenheilanstalten verlegte, hatte er Malerei
und Architektur studiert, als Regierungsbaumeister in
Berlin gearbeitet und war als expressionistischer
Maler in der Avantgardeszene aktiv. Diese
Umstände reichten aus, dass Hans Prinzhorn
ihn aus seinem wegweisenden Buch Bildnerei
der Geisteskranken (1922) ausschloss und Alfred
Kubin ihn als „uninteressant“ ob seiner
„unangenehm technischen ‚Ausbildung‘ “ abtat.
Dass Goesch unter Nervosität litt und ab 1917 in
psychiatrischen Kliniken lebte, spielte keine Rolle.
Inspiriert von strengem Katholizismus, Rudolf
Steiners Anthroposophie und Sigmund Freuds Psychoanalyse verlor sich Goesch in Fantasiearchitekturen,
abstrakten Kompositionen und mythologischen
Szenen. Er malte unermüdlich auf Packpapier und
Briefumschlägen. Als einziger Künstler aus der
Sammlung der Universitätsklinik Heidelberg tauchte er
1937 in der Ausstellung Entartete Kunst auf. Zehn Jahre
später wurde er von
Naziärzten ermordet.
Goesch geriet in
Vergessenheit. Zwar
tauchten immer
wieder Blätter in
Gruppenausstellungen
auf und 1977 fand
in Berlin eine Einzelausstellung statt. Doch
erst jetzt erhielt die
Sammlung Prinzhorn
340 neue Blätter von
Goeschs Familie –
und der Maler selbst
endlich eine RetrosOhne Titel (Sitzender), 1920
Oben: Phantastische Landschaft,
pektive. gb
1917–1919
Unsere Welt wird immer
technoider und wir selbst
mit ihr. Konsequenterweise
stellt Yngve Holen Fabrikware zu Readymades
zusammen, deren Dreh- und
Angelpunkt der menschliche Körper ist. Mit CT-Scannern, Waschmaschinen,
Wasserkochern und Autoscheinwerfern überführt der
Deutsch-Norweger, Jahrgang 1982, die Prinzipien
von Pop- und Minimal
Art
Ha
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15
in die Ära „Post-Internet“.
Auch wenn er sich diesem
Begriff nicht unterordnen
will: Holens Skulpturen sind
aalglatte Hybride aus
Mensch und Maschine, Medizin und Massenproduktion.
So hängt er die Front eines
CT-Scanners als Relief an
die Wand, überzogen mit
neonfarbenen Netzstrümpfen. – Wer nicht mehr weiß,
was Op-Art ist, denkt jetzt
einfach an OP. Was wir im
Alltag übersehen, verwandelt er in hyperdesignte
Prothesen, Symbole für den
Körper – gescannt, geschleust und ständig optimiert. GB
ENCORE
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JOHANN
ANDREAS WOLFF
Pinakothek der Moderne,
München
05.05. – 17.07.2016
Er hat sich
getreulich an
den Kanon
gehalten und
seine Themen
und Motive aus dem
gültigen Vorrat
geholt. Er hat nichts
besser gemacht
als seine Kollegen.
Aber was Johann
Andreas Wolff
gemalt hat, das war
exquisites Handwerk. Weshalb er in
seiner Zeit einen
guten Namen hatte
und als Qualitätsgarant galt, wenn es
um gestalterische
Regie beim großen
barocken Ausstattungstheater ging.
So war er Hofmaler
beim Kurfürsten
in München, stand
in Diensten des
Fürstbischofs in
Freising und war an
zahllosen Schmuckund Illustrationsaufgaben im
süddeutschen Raum
beteiligt. Die vielen
Spuren, die der
Maler hinterlassen
hat, sind in der
schmalen WolffLiteratur bis heute
nicht lexikalisch
erfasst. Dafür
erinnert jetzt – zum
300. Todestag –
die Pinakothek der
Moderne an den
etwas vergessenen
Künstler. Gerade an
dem umfangreichen
Zeichnungskonvolut, das die Graphische Sammlung
München verwahrt,
wird die Virtuosität
anschaulich, mit der
Wolff seine Projekte
von der Skizze zu
bildhafter Perfektion
trieb. MÜ
DER AUGENBLICK
LEERE MITTE
Ein Bild und seine Farbe
PAUL GRAHAM
Waiting Room, Poplar DHSS, East London, 1985, chromogener Farbdruck, 68 × 88 cm
L
ange Zeit galt das SchwarzWeiß der Fotografie als
Zeichen des Dokumentarischen überhaupt. Farbe war
Werbung oder Kalenderblatt,
damit wollten seriöse Fotografen nichts zu tun haben. Eine
jüngere Generation, in den
50er-Jahren geboren, hat das
verändert. Zu ihr gehört in
vorderster Linie der Engländer
Paul Graham.
Der Thatcherismus
hatte das Land voll im Griff,
als Graham durch Londoner
Arbeitsämter tingelte. Man
nannte so etwas damals „ein
Projekt“, was bedeuten sollte,
es sei kein Auftrag. Der Fotograf mit seiner Kamera war sein
eigener Unternehmer.
Anders als anderswo hatten
die Architekten dieser behördlichen Kastenbauten immer ans
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SCHRIF
Tageslicht gedacht. Das kam
dem Fotografen zugute.
Mit Konturen wäre er nicht
zufrieden, das Blitzlicht zu
bösartig gewesen. Grahams
Beobachtung richtete sich
auf unwahrscheinliche Dinge
in einer mehr als alltäglichen
Szene: Der lackierte Sockel des
Wartesaals, hoch angesetzt,
in seinen Schattierungen von
Braun, und dagegen die
ENCORE
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nagellackroten Bänke! Eine
steile Unverträglichkeit.
Wir befinden uns hier im
Bereich bildlicher Strapazen
und sozialer Paradoxien. Die
Sitzenden zeigen mit ihren
Körpern auf eine leere Mitte.
Es gibt keine Akteure, nur
Zuschauer, die allerdings nicht
schauen. Vielleicht sollte man
sie Passagiere nennen, denn der
ganze Raum ist aus seiner
Achse gekippt wie ein Schiff bei
schwerem Wellengang. Die
Uhr und der Spiegel erinnern an
Bullaugen, das weiße, vertikale
Fenstergitter an eine Reling.
Krücken wurden rechtzeitig beiseitegestellt; ein älterer Mann
fängt sich an der Schiffswand auf,
die hinter ihm nachgibt. In der
Tiefe des Decks grübelt ein
Philosoph, wie wohl das Ganze
ausgehen mag.
Auf der Website von Paul
Graham (www.paulgrahamarchive.com) kann man sich durch
die Serie Beyond Caring klicken,
sein zweites fotografisches Projekt überhaupt. Der Titel,
sprachspielerisch, meint wohl
zweierlei: die Grenzen der
Fürsorge und das Egal-seinLassen, das Aufgeben. Was man
hier fotogeschichtlich sieht,
ist der Übergang von einer
didaktischen Fotografie zu einer
umfassenden Beschreibung.
Subtext: Am britischen Arbeitsmarkt erscheint der Fotograf
als ungesehener Engel der
Verkündung. Die Zukunft liegt
in Aufgaben, die einer sich
selber stellt.
ULF ERDMANN ZIEGLER
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