Warum schief - Pester Lloyd

Transcription

Warum schief - Pester Lloyd
Ungarn-Glossen von
Siegfried Brachfeld
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PESTER LLOYD VERLAG
Budapest
?
Siegfried Brachfeld
Mit diesem vierten Buchprojekt
„Warum ist die Krone schief?“
stellt der PESTER LLOYD VERLAG
einen Autor vor, der in den 70er
Jahren zu den bekanntesten zweisprachigen Kabarettisten und
Satirikern Ungarns gehörte.
Die Montagabendprogramme im
Budapester Rundfunk, in denen
Siegfried Brachfeld gemeinsam mit
Sándor Novobáczky regelmäßig
mit freundlich-kritischen Sketchen
und Kabarett-Texten an die
Öffentlichkeit trat, gehörten zu
den beliebtesten Sendungen des
Landes. Mütterlicherseits ist
Brachfeld deutscher Abstammung,
hat in Berlin Germanistik studiert
und dort auch promoviert. Er lebte
bis zu seinem Freitod im Jahre
1978 in Ungarn und war auch mit
einer Ungarin verheiratet. Er verfügt über einen heiteren und
eleganten Stil, über einen hintergründigen Humor und über einen
scharfen Blick für das Typische
an Land und Leuten.
Für diese Ausgabe sind Glossen
ausgewählt worden, die in den
60er und 70er Jahren bereits in
anderen Publikationen – darunter
in der Budapester Rundschau erschienen, aber seit Jahren vergriffen sind. Darüber hinaus stellte
uns die Witwe des Autors, Anna
Brachfeld, unveröffentlichte
Manuskripte zur Verfügung, die
erstmals innerhalb der vier Kapitel
dieses Buches erscheinen.
Die beiden Vorworte stammen
vom ehemaligen Mitarbeiter des
PESTER LLOYD und ersten
Kulturminister Ungarns, Dezsô
Keresztury, sowie vom
Herausgeber und Chefredakteur
des PESTER LLOYD, der deutschsprachigen Zeitung Ungarns,
Gotthard B. Schicker. Das „letzte
Wort“ zu „seinem“ Buch hat der
Autor selbst verfasst.
Warum ist die Krone schief ?
Ungarn-Glossen von Siegfried Brachfeld
Siegfried Brachfeld:
Warum ist die Krone schief?
Ungarn-Glossen
Auswahl und Bearbeitung: Marco Schicker
Lektorat: Nathalie Olivier
Fotos und Dokumente:
Privatarchiv Anna Brachfeld
Grafiken: Rita Kelemen Czakó
Warum ist die Krone
schief ?
Ungarn-Glossen
von Siegfried Brachfeld
1. Auflage, Budapest 2003
PESTER LLOYD VERLAG
Buda-Pester-Lloyd GmbH
Falk Miksa utca 30
H-1055 Budapest
verlag@pesterlloyd.hu
www.pesterlloyd.hu
Mit einem Vorwort von
Dezsô Keresztúry
Herausgeber und Chefredakteur:
Gotthard B. Schicker
Verlagsleiterin:
Anikó Halmai
Budapest 2003
ISBN 963 210 702 0
Druck: Gyomai KNER Nyomda Rt., Gyomaendrôd
© All rights reserved. Alle Rechte vorbehalten.
Nachnutzung in jeglicher Form, auch auszugsweise, nur mit
ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages.
PESTER LLOYD VERLAG
Budapest
I N H A LT
Wer war
Siegfried Brachfeld wirklich?
Vorwort
von Gotthard B. Schicker 5
Vorwort
von Dezsô Keresztúry 11
I
Körülbelül
Ein bißchen Ungarisch
Ajjajjaj! 15
Finnugor 17
Tilos 19
i 21
Vokalharmonie 23
Wortfolge - Sprechmelodie 25
Kleine und große Freiheit 27
Nyaraló 28
Tschinagln 29
a 31
Hogy van? 32
Tudniilik 33
Gáz 35
Persze 37
Kutya 39
Vigyázz 41
Nincs mese 43
Link 44
Körülbelül 45
Édes 47
Fárad-fáradt 49
Der Ungar und sein
Schimpfwort 50
II
Warum ist die
Krone schief?
Ein bißchen Ungarn
Balaton oder Plattensee? 55
Warum ist die Krone schief ? 57
Heimweh 59
Museum 61
Anonymus 62
Budapest 65
Ausländische Gäste 67
Kaiser- und Königsbad 69
Hauptstädtische Hauptstadt 71
Der Burgbauer 73
Jury 74
Muffeltiere 75
Rákóczi- und Pandurquelle 77
Puskás Telefonzentrale 79
Die Postleitzahl 81
Der Déli pu. 83
Citadella 84
Das Weihnachtsgeschenk 85
Das Zsóri Bad und die
Zivilisation 87
Geschichtsbewusstsein 89
Mezôlövesd 91
Die Größten, die Besten 93
Idegen ideg 95
Königsgrab 97
Grüne Wellen 99
Die Margareteninsel 101
Ungarn in der Welt 103
III
Die Julischka aus
Budapest
Von Frauen, Männern
und ein bißchen mehr
Die ungarische Frau 109
Der ungarische Mann 111
Szív 113
Nem igen 115
Kismama 116
Csókolom und Szervusz 117
Mädchen, die rauchen 119
Küsse im Hellen 121
Die Julischka aus Budapest 123
Légy... 125
IV
Gulyásparty
Vom Essen, (bißchen)
Trinken und Festen
„Hühnenbrust” und
Zimmerfrau 131
Sült hal 133
Zigeunerliebe 135
Fasching heißt farsang 137
Stampedli 139
Schwiagamoutta jetzt
gaiht´s guat 141
Tarhonya 143
Italienische oder
ungarische Gänse? 144
Lúdláb, lúdtalp 145
Gulyásparty 147
Macht nichts! 149
Betrunkene Pogatschen 151
Must und Murci 153
Kirschschnaps 155
Gänseleben, Gänseleber 157
Langer Schritt und
Hausmeister 159
Das Beschwerdebuch 160
Das letzte Wort 162
Bücher aus dem
PESTER LLOYD VERLAG 163
Sponsoren 165
Vorwort
Vorwort
Deutscher Ungar
– ungarischer Deutscher
Wer war dieser Siegfried Brachfeld
eigentlich wirklich?
Siegfried Brachfeld, 1966
„...er war ein sehr humorvoller, optimistischer, offener und
lebensfroher Mensch“ – erzählte kürzlich in unserer Redaktion
Anna Pap – genannt „Panni“ – von ihrem dreizehn Jahre älteren
Mann, mit dem sie von 1953 bis zu seinem Freitod im Jahre 1978
verheiratet war und für den die „Agentur Panni“ in seiner wissenschaftlichen und künstlerischen Laufbahn offenbar den Lebensmittelpunkt bildete. Diese Offenheit und Freundlichkeit, von der
Anna Brachfeld spricht, wurde aber oftmals missverstanden und
ausgenutzt. Sie schildert ihren Mann als einen hochsensiblen Menschen, bei dem so manches Verhalten der Zeitgenossen oftmals
auch Enttäuschung und Misstrauen auslöste.
Siegfried Brachfelds Muttersprache war Deutsch und sein Vaterland Ungarn. Die Mutter kam aus Ostpreußen und der Vater aus
Budapest. Der sprach nur Deutsch, weil er meinte, dass die ungarische Sprache nur bis zur Grenze des Landes seine Gültigkeit
besäße. Er hatte eine Konzertagentur in Berlin und leitete dort das
damals durchaus bekannte Oscar-Brachfeld-Orchester. In einem
Kaffeehaus lernte er ein 17jähriges Fräulein kennen, mit dem er
eine lebenslange Beziehung einging und die im Laufe der Jahre
zwei Mädchen und am 17. April 1917 in Berlin schließlich Siegfried
zur Folge hatte.
Nach dem Gymnasiumsabschluss arbeitete Siegfried Brachfeld
zunächst als Zeitungsausträger, Laufbursche und Straßenverkäufer. In einem Münchner Warenhaus lernte er Annemarie, eine
blonde Schönheit und seine erste große Liebe, kennen, die einen
tragischen Verlauf nahm. In dieser langen und traurigen Geschichte spielt der Stiefvater des Mädchens eine unrühmliche
Rolle. Von Anfang an hatte er etwas gegen die Verbindung der beiden jungen Leute, und tat alles, um diese zu verhindern. Eine flapsige Bemerkung von Siegfried über das Hitlerbild im Schlafzimmer
der Eltern von Annemarie kam ihm gelegen. Er zeigte ihn wegen
staatsfeindlicher Hetze bei den Behörden an und ließ seine
Stieftochter in eine Nervenheilanstalt einliefern.
5
Vorwort
Vorwort
Während des Prozesses gegen Siegfried Brachfeld tauchte Annemarie auf, die aus dem Irrenhaus geflüchtet war und ihrem Liebsten beistehen wollte. Das Gericht entschied, den Verurteilten als
Schutzhäftling nach Dachau zu schicken und dort bei den Politischen einzusperren. Durch eine Intervention Horthys wurden er
und seine Eltern dann im Jahre 1940 nach Ungarn, in das Herkunftsland des Vaters, abgeschoben. Siegfried ist dadurch per Gesetz ungarischer Staatsbürger
geworden. Anna Brachfeld erinnert sich noch an die Erzählungen
ihres Mannes, in denen er die Abschiebung über die ungarische
Grenze beschrieb: Ein Grenzpolizist habe ihn aufgegriffen, mit
nach Hause genommen und mit
Pflaumenmus versorgt. Erstaunt
war er darüber, dass der Beamte
Unterwäsche aus der Produktion
eines kaiserlich-königlichen Hoflieferanten namens Brachfeld
trug – von seinem Großvater
also. Der Vater wurde zum Militärdienst in die ungarische Armee
einberufen und bekam – wegen
seiner mangelhaften, aber immer
besser werdenden Sprachkenntnisse – einen Schwaben als Dolmetscher zur Seite.
Großvater Siegfried (Szigfrid) Brachfeld
im Jahre 1903
Visitenkarte des kaiserlich
und königlichen, sowie
Belgischen Hoflieferanten
für Weiß- und Herrenwäsche, Szigfrid Brachfeld
(der Großvater) und
Söhne, gegr. 1856 in der
Nádor utca, neben dem
Leopoldstädtischen
Casino
6
Das Oscar-Brachfeld-Orchester Berlin spielt im Jahre 1914 im Lokal „Gambrinus“ auf.
Ab 1944 beginnt auch der Sohn Siegfried, die ungarische Sprache
intensiv zu lernen. Dies ermöglichte ihm, während seiner Militärdienstzeit in Königsberg deutschen Soldaten als Dolmetscher zur
Seite zu stehen. In Königsberg geriet er 1945 in Gefangenschaft,
aus der er erst Ende 1949 wieder nach Budapest zurückkehrte.
Hier arbeitet Siegfried Brachfeld zunächst in einer Buchhandlung
und ab 1950 im deutschen Studio von Radio Budapest. Beim
Sender lernte er auch seine spätere Frau Anna kennen. Wegen seiner guten Landes- und Sprachkenntnisse übertrug man ihm 1956
die Berichterstattung über den Ungarn-Aufstand beim Rundfunk
der DDR in Berlin. Während dieser Zeit begann er in ein Metier einzusteigen, das ihn später in Ungarn ausgesprochen beliebt machen
sollte – das des Conférencier.
Viel wichtiger war es ihm aber, zunächst an der Budapester ELTEUniversität, bei Prof. Dr. Ferenc Mádl, Germanistik – Zweitfach
Theaterwissenschaften – zu studieren. Dieser regte ihn auch zum
Thema seiner Dissertation an, die er 1970 an der Philosophischen
Fakultät der Freien Universität in West-Berlin mit cum laude
abschloss. Das Thema der Arbeit lautete: „Deutsche Literatur im
PESTER LLOYD zwischen 1933 und 1944“. Es handelt sich dabei um
eine der ersten, aber mustergültigen Analysen des Blattes in einem
Zeitraum, in dem solch bedeutende Schriftsteller wie Thomas Mann,
Stefan Zweig, Joseph Roth, Alfred Polgar, Egon Erwin Kisch, Erich
Kästner und viele andere aus dem Exil für diese meinungsbildende
ungarische Zeitung in deutscher Sprache geschrieben haben.
7
Vorwort
Vorwort
Brachfeld lebte jetzt in Berlin-Wilmersdorf, wohin seine Eltern
bereits 1958 wegen der anstehenden Entschädigungszahlungen
zogen. Als sein Vater die Summe der Entschädigung erfuhr, hat
dieser für immer die Augen geschlossen.
Der Urlaub wurde von nun an nur noch in Ungarn, meist am
Balaton, verbracht, wo er auch mit Kulturprogrammen unterwegs
war. Es war die Zeit, in welcher der ungarische Rundfunk für ihn
und seinen Mit-Conferencier, den bekannten Publizisten Sándor
Novobáczky, einen ständigen Sendeplatz einräumte. Aber auch im
Fernsehen nahmen die beiden „Kempen der Satire“ – wie sie bald
bezeichnet wurden – menschliche Schwächen, typische ungarische
Verhaltensweisen oder den Umgang mit der Bürokratie kritisch,
charmant, humorvoll und scharf pointiert unter die Lupe.
Ab 1971 hatte Brachfeld auch eine ständige satirische Kolumne
in der „Budapester Rundschau“, jener deutschsprachigen Zeitung,
die seit 1967 das gefällige Sprachrohr des ungarischen Außenministeriums war, aber auch wegen ihrer oftmals „Gulaschkommunisten“-Art in der DDR nicht durchgängig vertrieben werden durfte. Dies war mit ein Grund, warum diese Zeitung im Jahre 1999
vom PESTER LLOYD wiederbelebt wurde und seitdem als wöchentliche Beilage über die hauptstädtischen Ereignisse berichtet.
Diese Brachfeld-Texte aus der Zeitung - und noch viele andere
- wurden seit den 70er Jahren zur großen Freude der Leser in
„Diese Ungarn“, „Mitten am Rande“ und „Also nein, diese Ungarn“
meist von ostdeutschen Verlagen publiziert. Heute sind diese heiteren Büchlein, in denen auch sehr viel über die ungarische
Sprache und Mentalität zu erfahren ist, allesamt total vergriffen.
War Siegfried Brachfeld auf der einen Seite voller Tatendrang,
mit reichlich Mutterwitz ausgestattet und an Ideen überschäumend, verstärkten sich andererseits Mitte der 70er Jahre seine
Depressionen. Man begegnete in dieser Zeit immer mehr einem
enttäuschten und an Verfolgungswahn leidenden Menschen. Hinzu
kam ein Einbruch ins Haus der Brachfelds am Balaton im Jahre
1974. Obwohl es sich um eine Einbruchsserie in der gesamten
Gegend handelte, glaubte er, diese Tat sei gegen in gerichtet. Sein
Nervenleiden nahm mit den Jahren immer mehr zu und wurde für
ihn und seine Umgebung mitunter unerträglich. Kein geringerer als
sein Freund Dezsô Keresztury, (u.a. erster Kulturminister Ungarns
nach dem Krieg, Schriftsteller, Dichter, Direktor des Berliner FinnoUgrischen Institutes) versuchte ihm einen Arzt zu vermitteln, der
sein Leiden mildern könnte. Doch seine Witwe erzähltä, dass kurz
vor dem Besuch dieses Arztes, am 22. Juni 1978, Dr. Siegfried
Brachfeld selbst über sein Leben entschieden hatte.
Dieser heitere, lebensfrohe Mensch hat uns ein Werk hinterlassen, das wichtige Einblicke in die deutsch-ungarische Geschichte
und in das nicht immer einfache Zusammenleben zweier Völker
vermittelt. Brachfelds Ton ist von einem charmanten Dauer-Witz
durchzogen und wird von eleganter Satire begleitet. Das Kleine ist
ihm wichtig, und damit erhält das scheinbar unbedeutende Gestalt
und Bedeutung. Alles groß gemachte, das künstlich Aufgeblasene
oder gar folkloristischer Pathos, ist nicht sein Ding. Er gibt solche
Erscheinungen – ohne dabei ungarische Gefühle zu verletzen –
gekonnt der Lächerlichkeit preis. Brachfeld ist ein meisterlicher
Fabulierer und ein Meister des kurzen, pointierten Gedankenblitzes. Nicht alle seine Texte sind von gleicher Qualität, das Tagesgeschäft schimmert da und dort sympathisch durch. Seine Satiren
zeugen von einer großen Liebe zu Menschen aller charakterlichen
Schattierungen. Sein Umgang mit der ungarischen Sprache, die
humorvollen Erläuterungen komplizierter grammatikalischer oder
lexikalischer Zusammenhänge, stellen ob ihrer verblüffend einfachen Logik so manches Sprachinstitut oder sich wissenschaftlich
gebende Lehrbücher – natürlich satirisch – in Frage.
8
9
Anna und Siegfried Brachfeld 1960
Vorwort
Aber Brachfeld war nicht nur ein zu unrecht fast vergessener
Satiriker und begabter Schriftsteller, sondern auch ein Literaturwissenschaftler, der mit Sachverstand und politischer Reife analytisch arbeiten konnte. Das für uns verwertbarste Beispiel hierfür
ist seine Dissertations-Schrift. Einer der wenigen Texte, die sich
mit einer solchen Intensität mit einer Zeitung wie dem PESTER
LLOYD beschäftigt haben. Brachfelds diesbezügliche Arbeit ist ein
wertvoller Beitrag dafür, das deutsch-ungarische Verhältnis in
einer komplizierten Zeit besser zu verstehen und einordnen zu
können. Nicht nur wegen der Nähe dieser Zeitung zu Siegfried
Brachfeld, und auch nicht allein wegen seiner vergriffenen Bücher
in den Regalen, sondern vielmehr wegen der bestehenden Gefahr
des Vergessens eines wichtigen „ungarischen Deutschen“, – der im
Laufe seines Lebens auch ein „deutscher Ungar“ aber niemals ein
„Ungarndeutscher“ wurde – haben wir uns entschlossen, seine
Satiren in einer neu geordneten Publikation und mit bisher unveröffentlichten Texten aus seinem Nachlass herauszugeben.
Ich bedanke mich insbesondere bei Frau Anna Brachfeld (Foto,
2003), die unser Buch-Projekt – quasi wieder als „Agentur Panni“
- in allen Fragen aufgeschlossen und hilfreich unterstützt hat.
Gotthard B. Schicker,
Budapest im September 2003
10
Vorwort
Vermittler zwischen
zwei Kulturen
Von Dezsô Keresztúry
Im Bewusstsein der Völker erhalten sich oft Charakterbilder wie
zählebige Platitüden, die, mit der Wirklichkeit konfrontiert, oft
humorvoll oder absurd wirken wie ein Blick in den Zerrspiegel. Sie
werden vom betroffnen Volk nicht selten missmutig oder aber mit
verständnisvoll-selbstironischem Lächeln wahrgenommen; eine
leidenschaftlich, erboste Ablehnung könnte leicht zu Missverständnissen führen.
Nach einem ungarischen Sprichwort hat der Wütende nie recht.
Die Diskrepanz zwischen romantisierender Legende und konkreter
Wirklichkeit wird aber in unseren Tagen, in denen Ungarn ganz
grundlegende Wandlungen seiner Daseinsform erlebt, verständlicherweise doch mit Vehemenz empfunden.
Auch aus diesem Grund kann man dieses Buch von Siegfried
Brachfeld freudig begrüßen. Er nimmt sehr behutsam wichtige
Korrekturen eines längst überholten, aber auch des nur erst in
manchen Wünschen lebenden Ungarnbildes vor. Mit objektiver
Teilnahme eines zu Dank verpflichteten Eingeweihten, der ein verständnisvoll witziger Berichterstatter und ein ergreifend subjektiver Lyriker zugleich ist, entledigt er sich dieses Anliegens.
Er versteht es, tiefe Wahrheiten und wichtige Zusammenhänge
über unsere Gegenwart ungezwungen mitzuteilen. Nicht gezielt,
und doch – oder gerade deswegen – überzeugend.
Siegfried Brachfeld, Mitarbeiter der „Budapester Rundschau“
und beliebter Conférencier an ungarischen Bühnen, schrieb unter
anderem für seine Wochenzeitung – in Arbeitsteilung mit Sándor
Novobáczky – humorvoll kritische Feuilletons über das tägliche
Leben in Ungarn. Das fand Anklang und hatte die Herausgabe
einer Anthologie dieser wohlgeschliffenen Skizzen zur Folge. Sie
erschienen, mit beachtlichem Erfolg, 1974 unter dem Titel „Also
nein, diese Ungarn!“ Brachfeld fand inzwischen einen anderen,
sehr interessanten Themenkreis.
11
Vorwort
Er lernte Ungarisch, als er bereits erwachsen war; hatte also zu
diesem eigenartigen, in der indogermanischen Sprachlandschaft
Europas fast ganz einsamen finnougrischen Idiom Distanz und
Liebe genug, um es mit der Erfahrung des geschulten Philologen
und dem geschärften Blick des Journalisten zu betrachten. Dazu
besitzt er auch die Fähigkeit, über wesentliche Momente des
Ungarischen in flüssig humorvollen Wendungen des Feuilletonisten
zu plaudern. (...) Es ist das Werk eines Deutsch-Ungarn, der in
den oft tragisch-spannungsvollen Jahrzehnten seines Lebens am
eigenen Schicksal erlebte, wie gefährlich und wie schön es sein
kann, im Grenzgebiet zweier Kulturen zu leben; der so mehrmals
an „zweifachen Klippen“ in ernster Lebensgefahr stand und es
doch nicht aufgab, Vermittler zwischen diesen beiden Kulturen zu
sein. Seine Erzieher waren diese zwei Welten, ihr tägliches Leben
und ihre Klassiker.
Ein optimistisch offener, humanistisch geprägter, lebensbejahender, gefühlsbetont kluger Mensch, wurde er zu einem scharfen
Beobachter seiner Umgebung, die er mit den Augen des freundlichen Ironikers und nicht mit dem schwarzen Humor eines verwundeten Misanthropen betrachtet. So vermag er viel Wesentliches über unsere ernst erlebte und heiter beschriebene Welt mitzuteilen. Er dient in seiner Vatersprache dem Mutterland und in
seiner Muttersprache dem Vaterland.
Prof. Dr. Dezsô Keresztúry (1904-1996)
schrieb dieses Vorwort im Mai 1978 in
das von Siegfried Brachfeld herausgegebene Bändchen „Mitten am Rande –
ein bisschen Ungarn“. Keresztury
gehört zu den großen kulturellen und
politischen Persönlichkeiten Ungarns.
Er war u.a. Lehrer und Wissenschaftler,
Schriftsteller und Dichter, Direktor des
Institutes für Hungarologie der
Königlichen, heute HumboldtUniversität zu Berlin, bis 1945 leitender
Mitarbeiter und Feuilleton-Redakteur
des PESTER LLOYD sowie Direktor des
Eötvös-Collegiums Budapest - und
schließlich war er auch der erste
Kulturminister Ungarns
nach dem Zweiten Weltkrieg.
12
I
Körülbelül
Ein bißchen Ungarisch
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Ajjajjaj!
Wissen Sie, dass Ungarisch sehr schwer ist? ... Mit diesem Satz
begann einmal ein Schlager. Und wie ging er weiter? ... „Ajjajjaj
wie ist das schwer!“ Da haben Sie also schon ein ungarisches Wort
gelernt, nämlich ajjajjaj. Sie meinen, dass sei ein schweres Wort?
Sagen Sie einfach dreimal hintereinander ganz schnell Ei und verbinden Sie die beiden letzten Eier jeweils mit einem j. Sehen Sie,
schon haben Sie´s. Das heißt soviel wie: Du meine Güte! Oder:
Mein Gott! Na, nee! Was Sie nicht sagen?! Wenn Sie das letzte Ei
etwas in die Länge ziehen, ließe sich vielleicht der logischste aller
deutschen Sätze der Umgangssprache konstruieren: Das darf doch
nicht wahr sein!
Nehmen Sie nun nur das erste Ei und setzen Sie ein j davor,
etwa wie die jutjebratene Jans, dann können Sie schon ungarisch
„Ach!“ sagen. Unterschätzen Sie dieses Wort nicht. Es ist in so
mancher Situation recht vielsagend. Denken Sie nur an Kleists
Amphitryon. Als Alkmene merkt, wie ihr Gatte dem Gotte für eine
Nacht zum Verwechseln ähnlich ist, endet das Lustspiel mit einem
„Ach?!“ auf Alkmenes Lippen.
Nehmen wir also an, Sie haben sich in Budapest verirrt, finden
Ihr Hotel nicht, dann rufen Sie laut „Jaj!“, und jeder wird Ihnen den
Weg weisen. Natürlich könnten Sie noch zwei kleine Wörtchen hinzulernen, wenn´s recht ist, nämlich: Hol van...? (Das v wird immer
wie w ausgesprochen.) Hol van heißt Wo ist...? Und wenn Sie jetzt
noch einen einzigen Laut anfügen, das a (das a wird im
Ungarischen wie ein offenes o ausgesprochen), dann haben Sie fast
schon einen ganzen Satz: Hol van a ...? Wo ist der, die das?
Falls Sie sich nun Ihre Straße oder den Namen Ihres Hotels
gemerkt oder aufgeschrieben haben, müssen Sie bitte nur noch
darauf achten, ob dieser Name mit einem Konsonanten oder mit
einem Vokal beginnt; davon hängt nämlich ab, ob Sie den
bestimmten Artikel mit dem einen Laut a oder mit den zwei Lauten
az bilden (merken Sie: das ungarische z wird immer wie ein Stimmhaftes deutsches s ausgesprochen). Also: Hol van a Rákóczi út
heisst. Wo ist die Rákóczistraße? (út = Straße). Aber: Hol van az
15
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
eszpresszó? Da Espresso mit einem vokal beginnt, heißt der
bestimtme Artikel az, während er bei Rákóczi út nur a lautet, weil
eben Rákóczi mit einem Konsonanten anfängt. Aber sollten Sie´s
einmal verwechseln oder gar völlig durcheinanderbringen, so
macht das auch nichts. Schlimmstenfalls sagen Sie, was Sie bisher am besten gelernt haben, einfach: Jaj! Und man wird Ihnen
helfen oder deutsch mit Ihnen reden.
Finnugor
Sprachwissenschaftler haben nachgewiesen, dass die ungarische
und die finnische Sprache miteinander verwandt sind. Allerdings
sind heutzutage weder Finnen noch Ungarn in der Lage, das
Gemeinsame ihrer Sprachen aufzudecken, ebenso wenig wie beispielsweise die Germanen ihre Zugehörigkeit zu einer anderen
indogermanischen Sprache, sagen wir zum Französischen.
Allerdings weiß ein Berliner, was Friseur heißt.
Da kam ein blutjunges Mädchen namens Taimi aus Helsinki
nach Budapest. Sie hatte allein schon wegen der uralten Sprachverwandtschaft und der dazugehörigen natürlichen Sympathie, die
zwischen unseren Völkern besteht, schnell einige Worte ungarisch
gelernt und dann den Entschluß gefasst, sich in Ungarn Arbeit zu
suchen und die Fremdsprache im Lande selbst weiter zu lernen.
Als sie nach einem Monat fleißiger Tätigkeit ihren ersten Lohn bekommen sollte, schickte man sie zum Lohnbüro, ungarisch: bérosztály, das sich in einem anderen Gebäudeteil ihres Betriebs befand. Damit Taimi das Lohnbüro auch finde, schrieb man ihr das
Wort bérosztály auf einen Zettel. Taimi aber verwechselte den
Hauseingang zum Lohnbüro mit dem danebenliegenden Eingang
zur Ambulanz und wies dem Portier ihren Zettel vor. Der gewissenhafte portás besah sich das Wort sorgfältig durch seine Brille,
erfasste mit sicherem Gefühl die Situation der Fremden, die sich
wohl finnisch verständlich machen wollte, nahm seinen Bleistift
hervor und verbesserte ihr das é im Wort bér auf ô. Danach erklärte er mit gutem Wissen und Gewissen seiner Muttersprache, dass
dieses Wort hier falsch geschrieben worden sei, denn bôrosztály
schreibe man eben nicht mit é, sonder mit ô, weil es die Abteilung
für Hautkrankheiten sei. (Bôr = Haut, bér = Lohn, osztály = Abteilung.) So landete Taimi, zwar mit dem Verdacht auf ein
Missverständnis, beim Abteilungsarzt für Hautkrankheiten, und
wandte nun vergeblich all ihre finnisch-ungarischen Sprachkenntnisse an, um den Arzt von dem Irrtum zu überzeugen. Der
Mann in weißem Kittel beruhigte sie auf Ungarisch, dass es nicht
weh tun würde, und dass sie nur den Oberkörper frei zu machen
16
17
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
brauche. Taimi redete immer aufgeregter unser verwandtschaftliches Finnisch, aber der Arzt, sicher ein gebildeter Mann, verstand
kein Wort. In letzter Verzweiflung deutete Taimi nur noch mit den
Fingern symbolisch das international verständliche Geld an. Der
Arzt hingegen machte ebenfalls mit Zeichensprache verständlich,
dass es nichts koste. Als Taimi an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt
war, hatte sie zwar keinen bér (Lohn) bekommen, aber dafür 2
Ampullen Blut in der Ambulanz gelassen.
Übrigens ist das eines der wenigen Worte, die heute noch in der
finnischen Sprache fast gleichklingen: veri = Blut, ungarisch: vér.
Doch kommt man leider mit der Blutsverwandtschaft, da sich
unsere Sprachen in mehr als tausend Jahren so weit voneinander
entfernt haben, wie das Germanische vom Sanskrit, nicht weit.
18
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Tilos
Im Jahre 1975 ist eine erweiterte Straßenverkehrsordnung in Kraft
getreten. Daher sollten vor allem Sie, verehrte Gäste, die Sie auf
vier Rädern nach Ungarn zu kommen beabsichtigen, sich ein paar
Wörter einprägen. Achten Sie bitte als erstes auf unsere Überschrift (am Ende wie sch gesprochen). Überall, wo Sie das Wort
sehen oder hören, ist was verboten. Tilos parkírozni! = Parken verboten! Hat ja ein internationales Verbotszeichen. Aber wenn Sie
doch einmal so ein Schild übersehen, Verbotenes betreten oder
sonst irgendeine Übertretung begangen haben, dann finden Sie
entweder das Wort tilos auf jenem Zettelchen, das an Ihrer
Windschutzscheibe klebt und sich als Strafgebühr entpuppt, oder
aber der Ordnungshüter erwartet Sie höchstpersönlich an Ihrem
Fahrzeug und belehrt Sie freundlich, die Hand am Mützenschirm:
Jó napot kívánok! Itt tilos megállni! = Guten Tag! Hier ist Halten
verboten! Ob es nun trotzdem noch ein guter Tag für Sie wird,
hängt davon ab, wie lange Sie Ihren Wagen dort abgestellt haben,
wo es verboten war, und auf welche Summe sich die Ordnungsgebühr beläuft.
Wenn Sie unter dem bekannten Schild – roter Rand auf blauem
Grund und dem roten Querbalken – die Aufschrift finden: 1 óra,
dann heißt das, Sie dürfen hier eine Stunde parken. Vielleicht
steht aber auch unter dem weißen P auf blauem Grund an der
Parkuhr: hétköznap = wochentags 8-18, szombat = Sonnabend 814. Also können Sie innerhalb dieser Zeiten mit Parkuhr, ansonsten ohne Gebühr parken.
Sie fahren gut in Stadt und Land, wenn Sie die arabischen
Ziffern von 1 bis 120 auch in ungarischer Schreibweise entziffern
können, die so aussieht: 1, 2, 3... usw. Auf der Autobahn sind 120,
auf anderen Straßen 100 und in Ortschaften 60 Stundenkilometer
a megengedett sebesség = die zulässige Höchstgeschwindigkeit,
vorausgesetzt, sie wird durch anderweitige Hinweise nicht herabgesetzt. Im Übrigen sind die Ungarn am Lenkrad nicht schlechter
und nicht besser als andere Autofahrervölker auch. Vielleicht
unterscheiden sie sich nur in puncto Kraftausdrücke von den Ihnen
19
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
geläufigen, die vielleicht im besten Fall Esel und im schlimmsten
Hornochse lauten. Oder sind sie gar noch wortgewandter? Sollten
Sie einmal in die peinliche Situation geraten, dass Ihnen beim
Überholen jemand aus dem offenen Wagenfenster etwas zuruft,
merken Sie sich als Antwort nur den einen Satz: Ön után, kérem!
= Bitte, nach Ihnen. Das hat – Sie werden es merken – eine kolossal erzieherische Wirkung... Es bleibt Ihnen frei, sich später bei
Ihren ungarischen Bekannten einmal danach zu erkundigen, was
man sich hier so von Wagen zu Wagen zuruft!
Die Erkenntnis wird verblüffend sein.
20
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
i
Der Punkt auf dem i hat in Ungarn neben der allgemein bekannten Bedeutung noch eine andere Funktion. Dieser Buchstabe mit
dem Punkt ist kurz, mit dem kleinen Schrägstrich darüber ist er
dagegen lang. Zum Beispiel wird der helle laut in ivás = der Trunk
wie immer ausgesprochen; ívás = der Laich (nicht die Bierleiche)
hingegen klingt eher wie „Sowas wie die Ida war noch nie da...“
Wenn Sie es nicht so genau hinkriegen, macht es auch nichts, weil
dieser Unterschied bei der gesprochenen Sprache manchmal kaum
zu hören ist. Wer aber richtig und schön ungarisch sprechen will,
muß natürlich darauf achten.
Das ist die eine Seite des i. Über die andere muß mehr gesagt
werden. Das Punkt-i entspricht auch der deutschen Verkleinerungssilbe -lein oder -chen. Die Ungarn bilden anhand dieses liebenswürdigen, eher herzlich gemeinten kleinen i erst einmal die
Kosenamen. Heißt also jemand z.B. Mátyás (Matthias), so wird er
im Umgang von seinen Freunden, Kollegen und selbstverständlich
von den Familienangehörigen Matyi genannt. Sollte ihn einmal
seine Frau Mátyás rufen, dann ist Gefahr im Anzug. So können Sie
alle Namen der Reihe nach durchgehen.
Pál (Paul) Pali, György (Georg) Gyuri, Miklós (Nikolaus) Miki,
Tivadar (Theodor) Tivi oder Titi, Lajos (Ludwig) Lajcsi oder Lali,
Tibor (gibt’s auf Deutsch überhaupt nicht) Tibi. Nun, ich höre
schön Ihre Antworten: Das gibt’s ja auch bei uns! Z.B. Hans-Hansi,
Siegfried-Sigi usw. usw. gut. Aber das gibt’s bei Ihnen nicht: foci
(die Verniedlichung oder besser die Verkleinerung) – denn kleiner
geht’s schon nicht mehr – für Fußball. Oder suli die Verharmlosung
für iskola = Schule.
Oder, Sie können es täglich hören, wenn jemand seinen Freund
oder Kollegen um eine Zigarette bittet: Van egy cigid? Hast du
eine Zigi? Kinder und Erwachsene rufen in heißen Tagen nur nach
fagyi für fagylalt = Speiseeis, oder nach einer eiskalten limcsi =
Limonade. Für das Kino gibt es kaum noch einen anderen Namen als
das Wort mozi, einfach eine Abkürzung von Mozgókép = bewegliches Bild. Selbst die Ferien oder Urlaub werden von szabadság
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
auf szabi verkleinert, auch wenn sie wochenlang dauern. Aber den
originellsten Kosenamen hat wohl der Balaton, immerhin vor dem
Bodensee der größte See West- und Mitteleuropas. Er wird im
Volksmund Balcsi genannt. Wenn Sie also sagen können: Nyáron
megyek a Balcsira = ich fahre im Sommer zum Balcsi (das cs wird
wie tsch gesprochen), dann sind Sie ein richtiger Ungar geworden,
der hier ausnahmsweise lieber verkleinert, um allem Größenwahn
vorzubeugen.
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Vokalharmonie
Sie haben schon etwas erfahren von der ungarischen Betonung,
die stets auf der ersten Silbe liegt, von kurzen und langen Vokalen
ohne und mit Strich darüber. So können wir jetzt einmal von der
Harmonie heller und dunkler Vokale sprechen. Als ich ungarisch
zum ersten mal zusammenhängend sprechen hörte (dem, der mit
seiner Muttersprache aufwächst, fällt das erst auf, wenn er darüber nachdenkt!), kam es mir vor, als würden einmal lauter e-s und
ein andermal lauter a-s an aneinandergereiht. So sagte jemand
empört: Ez megengedhetetlen! = das ist nicht zu erlauben.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich mir da erlauben wollte, und
warum es nicht zu erlauben war. Wichtig ist, sich daran zu erinnern, dass hier nicht nur sehr vokalreich erlaubt wird, sondern
dass in einem Wort meist nur helle oder nur dunkle Vokale vorkommen. Im oben genannten Wort sind – man sehe und staune –
sechs helle e-Vokale.
Das oben erwähnte Wort heißt in der dritten Person Einzahl
enged = er, sie, es erlaubt. Aus dem drangehängten –hetetlen
wird klar, dass etwas nicht erlaubt ist. Hier drückt der Ungar also,
weil das Stammwort im Vokal hell ist, alles Dazugehörige dementsprechend mit hellen Vokalen aus. Wenn Sie ihn aber fragen,
warum das nicht erlaubt ist, dann wird alles dunkel, dann wird er
nämlich eventuell so antworten: megmagyarázhatatlan = unerklärlich. Weil der Vokal des Stammwortes in der dritten Person
Einzahl magyaráz = er, sie, es erklärt, dunkel ist, zieht er drei a-s
hinterher.
Nun, ich finde es recht diplomatisch, wenn jemand manchmal
nicht sagen will oder kann, warum etwas nicht erlaubt ist. Ein feines Empfinden! Dafür unseren Dank = Köszönetünk. Sehen Sie,
da haben wir wieder eine wundervolle Vokalharmonie. Die Endung
–ünk = unser richtet sich nach den ö-Vokalen in köszönet =Dank.
Der Ungar hat jedoch für den Dank noch ein zweites Wort: hála in
diesem Dank ist etwas mehr Dank, etwa Dankbarkeit), das Sie nun
aufgrund des Gelernten schon selbst harmonieren können im
Plural. Na?
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Wenn -ünk das unser von köszönet ist, muß also laut der Regel
nach dem dunkel klingenden hála eine dunkle Endung folgen. Aber
bitte nicht -unk! Denn das hieße: wir schlafen, sondern -ánk,
hálánk, das heißt: unser ganz besonderer Dank. Kapiert? Hála az
égnek = Dank dem Himmel.
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
WortfolgeSprechmelodie
Thomas Mann, der Sprachgewaltige, äußerte einmal über die
ungarische Sprache, sie wirke, ohne dass er sie verstehe, wohlklingend auf ihn, ähnlich wie das Italienische. Fraglos ist dabei der
Vokalreichtum gemeint, wenn wir an die dunklen und hellen, kurzen und langen Vokale a, á, o, ó, u, ú, e, é, ö, ô, i, í, û, denken.
Selbst ö, i und ü können entweder lang oder kurz sein, wie das Öl
oder die Öffentlichkeit, der Irrtum oder die Isabella, die Sünde
oder die Sühne. Doch sicher hat auch bei Thomas Mann wie bei
jedem, der einmal den Versuch macht, Ungarisch in längeren
Perioden auf sich einwirken zu lassen, selbst ohne es zu verstehen,
die Wortfolge zu jenem Urteil beigetragen: denn die Wortfolge
ergibt ja letzten Endes die Sprechmelodie.
Wenn ich zum Beispiel deutsch sage: Ich habe ein gutes, nettes, freundliches, hübsches, sauberes Zimmer bekommen, so muß
der Zuhörer erst alle Eigenschaftswörter abwarten, bis er erfährt,
was ich, und dass ich überhaupt etwas bekommen habe. Wenn wir
also die Sprechmelodie dieses Satzes beschreiben wollen, dann ist
sie vom unvollendeten „ich habe” bis zum entscheidenden
„bekommen” ein recht bewegtes Auf und Ab. Der Ungar, der das
Wichtigste immer an den Anfang stellt, beginnt den gleichen Satz
mit: kaptam = ich habe bekommen. (Wobei noch die Betonung auf
der ersten Silbe liegt.) Der Zuhörer weiß also sofort: der hat was
bekommen. Während man beim Deutschen erst am Ende des
Satzes erfährt, dass es kein Kind oder sonst was war, was er
bekommen hat, verrät es der Ungar schon im zweiten Wort: egy
szobát = ein Zimmer. Wenn wir des Ungarn Wortfolge also wörtlich übersetzen, sagt er: ich habe bekommen ein Zimmer und erst
dann zählt er alle Eigenschaften des Zimmers auf.
Versuchen wir nun des Ungarn Sprechmelodie zu ergründen,
dann spüren wir schon im ersten Wort kaptam (das drei deutsche
Wörter vereint) durch die Betonung auf der ersten Silbe einen
trochäischen oder fallenden Rhythmus. Versuchen Sie einmal,
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
um das richtig zu hören und zu verstehen, den Rhabarber nur auf
der ersten Silbe zu betonen, so wird ein Rhabarber daraus. Das
wäre also die Sprechmelodie für kaptam oder megkaptam (das
meg davor gebraucht der Ungar, wenn er etwas ganz bestimmt
bekommen hat). Die deutsche Sprechmelodie für ich habe bekommen ist demnach Rhabarber-Rhabarber. Das ist, kurz gesagt, der
Unterschied – um es einmal ganz wissenschaftlich auszudrücken –
zwischen der ungarischen agglutinierenden und der deutschen
flektierenden Sprache. Das große jambische Palaver aller indogermanischen Sprachen fällt im Ungarischen weg, ab, fort, aber es
fällt nur so, daß es sich sofort wieder erheben kann wie ein
Stehaufmännchen.
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Kleine und große Freiheit
Wenn Sie das Wort Sabbat mit scharfem S aussprechen, haben Sie
ein vielbedeutendes ungarisches Wort, unter gewissen Umständen
einen ganzen Satz gelernt. Es heißt: Szabad = frei. Es kann aber
auch heißen: Ist was frei? (Der Eingang? Der Ausgang? Das Örtchen? Der Stuhl? Der Tisch?) Gestatten Sie... (dass ich einsteige,
aussteige, Sie einlade, auffordere zum Tanz, zum Tee, zum Nachtmahl, zum Téte-á-téte.) Sind Sie noch frei? Sie sehen also, durch
wie viele Situationen man sich wursteln kann mit jenem kleinen
Wörtchen. Einmal habe ich sogar gehört, wie ein stürmischer Liebhaber auf einer Bank im Rosengarten auf der Margareteninsel ein
Mädchen nur mit diesem einen Wort belagerte, während sie sich
eine Zeitlang mit nem szabad (nem = nein, nicht) = es ist nicht
erlaubt, wehrte.
Wenn Sie nun an dieses kleine szabad ein ság dranhängen,
dann haben Sie die große ungarische Freiheit. Sie werden bei
einem Besuch bei uns diesem Wort öfter begegnen. Es gibt einen
Szabadság-Berg, einen Szabadság-Platz, eine Szabadság-Brücke,
mehrere Straßen, ein Hotel, manche Kinos führen diesen Namen.
Und die größte Tageszeitung heißt Népszabadság (nép bitte nicht
wie nepp aussprechen), nép = Volk), also Volksfreiheit und ist das
Organ der USAP, der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei.
Sie können aber das gleiche Wort auch gebrauchen, wenn Sie
sagen wollen, dass Sie Ferien machen, Urlaub heißt nämlich auch
szabadság. Ein sinnreiches Wort. Nicht wahr? Die Freiheit vom
Alltag, vom Arbeitsplatz, von Zuhause, manchmal von der Ehehälfte mit Schwiegermutter und Familie. Also: Ich gehe oder fahre
in den Urlaub heißt: szabdságra megyek. Sie sehen, fünf deutsche
Wörter lassen sich ungarisch in zwei sagen. Ist das nicht einfach?
Doch wer fragt schon, ob er mit zwei ungarischen Wörtern oder
mit sechs deutschen in Urlaub geht. Die Hauptsache, es ist Urlaub.
Nicht zu vergessen dabei die Aussichten auf Kurschatten, unwichtig, ob mit oder ohne Sonne, wichtig ist nur in dieser Hinsicht das
eine Wort um weiterzukommen. Szabad?
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Nyaraló
Tschinagln
Jemand hat gehört, daß der Sommer bei uns nyár heißt und das
Pferd ló. Als er nun zur Sommerfrische hier war, hörte er das Wort
nyaraló und übersetzte es logischerweise – eventuell auch weil er
schon etwas über die Vokalharmonie wusste – als Sommerpferd.
Nyarló ist aber der Urlauber, der Feriengast, der in die Sommerfrische geht. Nicht etwa so zu verstehen, daß das ló = Pferd hier
ein Synonym für den Gast wäre; nein, ein nyaraló ist eben einer,
der in der Sommerfrische weilt, kurz der Urlauber. (Übrigens heißt
auch das Haus, in dem man den Sommerurlaub verbringt nyaraló.) Damit also aus einem Sommerfrischler kein Sommerhengst
wird, merken Sie sich am besten: Wenn das ló am Ende eines
Wortes steht, hat es mit einem Pferd nichts gemein. Zum Beispiel
ist vasaló kein Eisenpferd, sondern ein Bügeleisen. Vas = Eisen,
vasalni = bügeln. Oder ein udvarló ist kein Hofpferd (udvar = Hof),
sondern einer, der einem Mädchen den Hof macht, also ein
Hofmacher. Ein vásárló ist auch kein Marktpferd (vásár = Markt),
sondern ein Käufer, also der Mensch, der auf dem Markt einkauft.
Steht das ló aber am Anfang des Wortes wie zum Beispiel bei
lóvásár, dann wird ein Pferdemarkt daraus. Am besten merkt man
sich vielleicht, daß das ló am Anfang des Wortes immer etwas mit
Pferden zu tun hat, wenn es aber am Ende steht, dann wird etwas
menschliches daraus.
Doch da fällt mir gerade ein Wort ein, das meine Theorie glatt
über den Haufen wirft. Versenyló (verseny = Wettstreit). Da steht
doch dieses verflixte ló am Ende und heißt nicht Wettstreiter, sondern Rennpferd. Womit bewiesen ist, daß auch im Ungarischen die
Ausnahme die Regel bestätigt und umgekehrt.
Aus Wiener Neustadt waren Freunde bei uns zu Besuch. Sie sind
nicht zum ersten Mal hier und haben schon eine Ahnung von der
ungarischen Sprache. In Verbindung mit irgendeiner dringenden
Arbeit am neu gebauten Häuschen sagte ich vor ihnen zu meiner
Frau: Ezt muszáj megcsinálni, was soviel heißt wie: das muß
gemacht werden. (Der Ungar ist in seiner Sprache weniger passiv,
sondern vielmehr aktiv.) Meine Wiener Neustadt-Freunde hörten
aus diesem Satz nur das csinálni = machen und sagten voller
Freude über die Entdeckung: „Das habt ihr von uns, dieses tschinagln!“
Nun, ich glaube, es ist eher umgekehrt. Die Österreicher, und
hier im Besonderen die Burgenländer, haben das tschinagln aus
dem Ungarischen abgeleitet und in ihre Sprache so volkstümlich
integriert, daß aus letzten zwei Silben -nálni eben ein Burgenländisches -nagln wurde. Also einer, der in Wiener Neustadt was
tschinagln tut, ist ein Tschinagler, nämlich jemand, der was nagelt,
hämmert, kurz: was macht.
Wir hingegen, damit es nicht eingleisig zügelt zwischen uns,
haben von ihnen das Wörtchen muß, so entstand der österreichisch-deutsch-ungarische Satz: muszáj csinálni. Csinálni ist
der Infinitiv, csinál die dritte Person Einzahl = er, sie, es macht.
(Die anderen Formen können Sie in einer ungarischen Grammatik
nachlesen.) Valamit csinálni kell sagt der Ungar, wenn was gemacht werden soll oder muß. Kell = muß, valamit = etwas, das t
am Schluß ist der Akkusativ.
Wenn´s nicht mehr weitergeht mit der charmanten österreichisch-ungarischen Schlamperei, wenn´s auf den Nägeln
brennt, dann wird aus dem ungarischen kell ein österreichischdeutsches muß = muszáj.
Der Ungar aber, und das spricht sehr für seine Lebensweisheit,
hat für sein csinálni noch eine mildere Stufe, nämlich das csinálgatni. Dieses kleine -gat zwischen csinál und der Endung -ni macht
das Machen nicht so tierisch ernst. Es erlaubt dazwischen ein
kleine Pause, ein bisschen Ruhe auf eine Zigarettenlänge, unter
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Umständen eine kleine Erfrischung mit großem Plausch über das,
was gemacht werden soll, oft aber auch über die Politik des Tages.
Und dabei haben wir zum Beispiel Muße zur Bewunderung des
gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Raumfahrtunternehmens, aus dessen Perspektive das, was wir hier in unseren
Grenzen tschinagln tun, doch überhaupt nicht, wirklich nicht der
Rede wert ist.
A
Schwierig zu begreifen, und darum schwer erlernbar sind die
Geschlechtswörter der, die, das für den Ungarn. Er vermag sehr
wohl die Geschlechter nicht zu verwechseln, zum Beispiel die Frau
= a nô, der Mann = a férfi, das Kind = a gyer(m)ek, wie aber aus
diesem Beispiel ersichtlich, ist ihm kein grammatisches Geschlecht
geläufig. Ob der, die und das, für ihn bleibt es ein a.
Daher denkt der Ungar logisch und fragt, wenn es sich um die
deutsche Sprache handelt: Warum ist die Kirche weiblich, der
Turm darauf männlich und das Kreuz auf der Spitze sächlich?
Warum haben die Männer eine Brust, während es bei den Frauen
der Busen heißt? Warum wird der männliche Regen zum sächlichen Wasser in der weiblichen Pfütze? Warum hat die weibliche
Blume ein sächliches Blatt am männlichen Stengel? Warum haben
die Weiber einen männlichen Mund und die Männer eine weibliche
Stimme? Warum muß immer der männliche Magen die weibliche
Speise verdauen, die einzeln betrachtet doch wieder alle
Geschlechter enthält: Das sächliche Brot, die weibliche Milch oder
den männlichen Honig?
Und so könnte der Ungar weiterfragen, den lieben, langen,
männlichen tag lang bis in die weibliche Nacht. Warum? Warum?
Wie einfach hat er es dagegen mit seinem einzigen kleinen a als
Artikel, der sich nur vor Wörtern, die mit einem Vokal beginnen,
zu einem az verändert. Die Wörter a férfi = der Mann, a nô = die
Frau, a gyerek = das Kind beginnen mit Konsonanten. Aber der
Mensch = az ember hat den Vokal im Anlaut und erhält darum wie
az idô = die Zeit oder az ég = der Himmel den mit dem weichen s
der Rose gesprochenen Artikel az.
Ist das nicht als Regel ohne Ausnahme einfacher, leichter, verständlicher und vor allem logischer als das Durcheinander der
deutschen Geschlechtswörter?
Wer kann da nicht den jungen Mann aus Budapest begreifen,
der im Kreis ihn umschwärmender Wienerinnen auf die Frage:
„Sprechen Sie unsere Sprache?“ antwortete: „Ja, ich habe nur etwas Geschlechtsschwierigkeiten!“
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Hogy van?
Wie geht’s? Wenn Sie diesen allgemein üblichen Höflichkeitssatz
ungarisch sagen wollen, fragen Sie, genaugenommen nicht: Wie
geht es ihnen, sondern wie sind Sie? (Én vagyok, te vagy, ô van =
ich bin, du bist, er, sie, es ist – hogy = wie.) Als Ungar geht es mir
also nicht so wie einem Mitmenschen deutscher Muttersprache,
sondern ich bin gut = jól vagyok. In diesen zwei Wörtern des
Frage- und Antwortsatzes liegt, so empfinde ich es, eine typisch
ungarische Verhaltensweise des sehr bewusst befühlten Seins. Auf
die Frage: Wie hat es Ihnen denn gestern bei uns gefallen? Würde
ein Ungar kaum antworten: Ganz prima! Oder: Herrlich! Oder:
Sagenhaft! Oder: Das war wunderwunderschön!, sondern er wird
sagen: Nagyon jól éreztem magam. = Ich habe mich sehr gut
gefühlt. Leider wird in der übermäßig schnellebigen Zeit dieses
Hgy van? auch bei uns oft so im Vorbeigehen hingeworfen und
erhält dann eine ebenso oberflächliche Antwort, bei der ein kurzes
köszönöm = danke zu kösz verstümmelt wird, was noch weniger
ist, als wenn man beim „Guten Tag“ den „guten“ fortlässt und sich
einfach mit „Tag“ begrüßt.
Also mit Hogy van? Können Sie entweder ein Gespräch beginnen
oder es gar nicht erst zustande kommen lassen. Wollen Sie es dennoch, fragen Sie: Hogy érzi magát = wie fühlen Sie sich? Dann fühlt
sich der Ungar angesprochen und wird Ihnen unter Umständen sein
ganzes Leben erzählen, wobei, wenn Sie gut aufpassen, das
Wörtchen hogy in so manchen Variationen zu hören ist, als wie und
was und weil und daß. Es sei denn, Sie unterbrechen ihn in seinem
Redefluß und fragen mal kurz dazwischen: Hogyhogy? = wie, wie,
was so viel heißt wie: wieso? Tatsächlich? Wie meinen Sie das?
Vielleicht wird er darauf antworten: hogyne, megtörtént!, wortwörtlich: wie nicht, ist es geschehen! Sinngemäß: na und wie, na
und ob...
Eben, weil der Ungar durch seine Sprache zu den außergewöhnlich gefühlsbetonten Menschen gehört, wird immer ein wenig mehr
in der Geschichte seines Lebens stecken. Und weil er das fühlt, fügt
er beim Erzählen oft den Satz hinzu: Hogy rövid legyek, wortwörtlich: daß ich kurz sein soll, sinngemäßL: kurz und gut. Doch je
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
öfter er das sagt, um so länger wird seine Geschichte. Versuchen
Sie es, dabei einfach mal mit dem offen ausgesprochenen Zweifel:
Ugyan már! = Aber was! Er wird darauf antworten: Dehogynem!
Oder noch bestimmter: Dehogyisnem! Wortwörtlich: aber wie auch
nicht!, sinngemäß: nein, ganz bestimmt ist es so! Danach können
Sie vielleicht glauben, daß es eventuell bestimmt so ist, wenn es so
war.
Tudniillik
Ein ausländischer Student an der Budapester Universität meinte
kürzlich, daß tudniillik für ihn ein komisches Wort wäre, das ihn
zum Lachen reize. Ich finde das gut; denn was zum Lachen ist, regt
zum Nachdenken an, wenn es kein dummer Witz ist. Tudniillik ist
kein Witz, sondern ein zusammengesetztes Wort aus tudni = wissen und illik = passen, gebühren, schicken. Also wortwörtlich heißt
tudniillik: es schickt oder gebührt sich zu wissen. Aber man
gebraucht es heute oft als Satzanfang wie: das heißt, oder nämlich.
Nun kann ich mir lebhaft einen Professor an der Budapester
Universität vorstellen, wie er fortwährend mit tudniillik erläutern
will, was er eben ausführlich erklärt hat; weil es hier wie überall
manchmal Professorenart ist, das Sein und Bewusstsein, das heißt
deren Kausalität, das heißt, die Dialektik beider Phänomene, daß
heißt tudniillik die Abhängigkeit voneinander, tudniillik die
Bestimmtheit, oder tudniillik deren Priorität, einfacher ausgedrückt
tudniillik das Wissen vom Wissen zu wissen tudniillik...
Darüber kann dann ein Student, wenn er noch dazu die ungarische
Sprache nicht ganz beherrscht, nachdenken, bis sich die vielen tudniilliks wie Ohrenwürmer durch alle Gehirnwindungen schlängeln.
Mit tudniillik also brauchen Sie sich Ihren Kopf und die Zunge
nicht zu zerbrechen. Aber wenn Sie beide Wörter auseinander nehmen, dann wissen Sie von tudni, daß es das Zeitwort wissen ist und
von illik das, was sich schickt. Wenn Sie jetzt an das Wörtchen nem
= nein oder nicht denken, dann können Sie ungarisch sagen, daß
sich nicht schickt, was sich nicht schickt: nem illik semmit nem
tudni = es schickt sich nicht, nichts zu wissen. Jedenfalls sollte man
bei uns vom Wissen soviel wissen, bis man wie Sokrates weiß, das
man nichts weiß.
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Gáz
Sie wissen es längst, daß das z, ganz gleich wo immer sie es lesen,
am Ende, am Anfang oder in der Mitte, wie ein s, so weich wie die
Seide ausgesprochen wird. Es ist daher verständlich, daß das Gas,
für das selbst die ungarische Sprache, die an Fremdwörtern so selten was Fremdes lässt, kein einheimisches Wort gefunden hat, daß
also jedwedes Gas mit z und selbstverständlich mit langem á geschrieben wird.
Im Pionierlager Csillebérc, auf dem Szabadság-hegy (Freiheitsberg) in Budapest, wo auch viele ausländische Kinder ihre Ferien
verbringen, lief ein Junge aufgeregt zu seiner Gruppe und sagte:
„Gáz van!“. Ein deutsches Mädchen mit schneller Auffassung und
Verständigungsbereitschaft, die nicht zum ersten Mal hier war,
konnte diese beiden Wörter zwar übersetzen: Gáz van = Gas ist,
aber den Sinn dieses Ausrufes nicht verstehen.
Also plaudern wir ein wenig übers Gas und seine in unserer
Sprache eigentümlich vielseitige Bedeutungen. Gas hat oft einen
üblen Geruch. Darum entspricht gáz van ungefähr dem Sinn von:
Kinder, da stinkt was! Der Junge, der es gerufen hatte, wollte
seine Kameraden aufmerksam machen, daß man dem, was er ausgefressen hatte, auf der Spur war.
Alle Wörter, von gázfejlesztés = Gasentwicklung bis zum gázosító = Vergaser werden also für meine verehrten Leser logisch und
verständlich sein. Nur ein Wort steht im Lexikon zwischen gáznyomás = Gasdruck und Gázolaj = Gasol, das zwar den gleichen
Stamm und dennoch nichts mit dem Wort Gas gemein hat: gázol.
Die Endung –ol bedeutet die Konjugation der dritten Person
Einzahl; z.B. táncolni = tanzen, táncol = er, sie, es tanzt. So müsste, wenn es nach der Logik ginge, gázol soviel heißten wie : er,
sie, es gast, oder wenn wir an das erste Sprachbild denken: stinkt.
Aber gázol ist die dritte Person Einzahl vom Infinitiv gázolni =
waten, gázol = er, sie, es watet. Es kann aber auch heißen: er, sie,
es tritt (mir meinen Rasen kaputt). Und mit einem el- davor sogar:
er, sie, es überfährt, rempelt jemanden an, baut einen Unfall. Ich
habe es bei einem Unfall auf der Straße gehört, wie jemand sagte:
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Gázolt és tovább hajtott. = Er hat überfahren und ist weitergefahren (geflüchtet). Mit dem gleichen Wort lässt sich auch jemandes
Ehre in den Staub zerren: Valakinek = jemandem a becsületébe =
Ehre seine in gázol = treten.
Aber bitte geben Sie Acht! Sollten Sie zufällig hören, daß einer
vom anderen sagt: gazember! (ember = Mensch), dann ist nicht
der Gasmann gemeint, sondern ein Schurke, ein Schuft, Gauner,
Bösewicht, Spitzbube, kurz: ein Erzhalunke; denn wäre dieser
Hundekerl ein Gasmann, müsste er mit langem á geschrieben und
gesprochen werden. Kommt aber der Gasmann, heißt es nur: jön
a gázos = (Es) kommt der Gasige.
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Persze
Dieses Wörtchen mit dem typischen Zischlaut zwischen den beiden
nach ä klingenden Vokalen wurde von einem, der die Ungarn zum
ersten Mal sprechen hörte, für ein Schimpfwort gehalten, „schon
darum, weil es so häufig vorkommt“, sagte er.
Persze aber heißt = natürlich. Natürlich heißt auch freilich, freilich auch allerdings, allerdings auch eben, eben auch auch. All das
ist in persze enthalten, das übrigens aus dem lateinische per se =
seinetwegen stammt. Sie sehen, wie einfach es sich der Ungar
macht, wenn er allerdings, freilich, eben, auch, halt, natürlich,
sagen will. Daher hört jeder, der gut hinhört, dieses persze sehr
häufig.
Versuchen Sie einmal auf die Frage: Sprechen Sie ungarisch?
Nicht mit dem üblichen Lehrbuchsatz: Igen, beszélek egy kicsit
magyarul. = Ja, ich spreche ein bißchen ungarisch, nur einfach mit
persze zu antworten. Sie werden staunen, was das für einen Eindruck macht. Ungefähr so, als würde ein Ungar auf die Frage, ob
er deutsch spreche, antworten: Na klar; Mensch! Ob sie es dann
in diesem Stil weiterkönnen, ist im Augenblick nicht so wichtig.
Tud valamit Magyarországról? = Wissen Sie etwas über Ungarn? Persze! Auch wenn Sie nichts wissen. Manche Ungarn wissen auch nichts und sagen doch: Persze!
Tud valamit Petôfirôl? = Wissen Sie etwas von Petôfi? Persze!
Valamit Kodályról? Vagy Bartókról? = Etwas von Kodály? Oder
Bartók? Persze! Der eine war´n Dichter, die anderen beiden Musiker oder so was Ähnliches. (So antwortete kürzlich bei uns jemand
in einem Quizspiel auf diese Fragen.)
Sind Sie noch frei, noch zu haben? Persze! Auch wenn es nicht
ganz stimmt. Mit persze immer rein ins Vergnügen! Man kann nie
wissen, ob nicht doch was Besseres nachkommt. Nem fél? =
Haben Sie keine Angst? Persze hogy nem! Achten Sie bei dieser
Antwort bitte auf das kleine hogy (bitte nicht wie hogi aussprechen!) vor der Verneinung nem. Wenn Sie es fortlassen und einfach wie im Deutschen natürlich nicht (persze nem) sagen, ist es
nicht rund genug, nicht echt ungarisch.
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Wir verwenden das hogy gewissermaßen als Verstärkung für
unsere Angst- und Furchtlosigkeit.
Auf die aktuelle Frage, ob das Lebensniveau aufgrund einiger
erhöhter Preise bei uns nicht sinkt, wird jeder mit Überzeugung
antworten: Persze hogy nem!
Kutya
Obwohl die Ungarn ihren Hund aus der serbokroatischen Sprache
geerbt haben, behandeln sie ihn doch so, als wär´s ein Stück von
ihnen und können das Tier sogar – wozu sonst niemand imstande
ist – durch alle Zeiten in allen Formen beugen.
Ein Fremder, der schon einiges davon wusste, wie viele HundeSprachbilder es hier gibt, war doch völlig erstaunt, als er jemanden sagen hörte: „Sokat kutyagolok“. Er übersetzte es für sich:
sokat = viel, kutya = -golok = Endung eines Zeitwortes in der
Gegenwart erster Person Einzahl, dachte lange darüber nach, was
wohl diese Mensch mit seinem Hund gemacht hat: Ich hunde? Was
soll das heißen? Bei aller Anerkennung für die reiche Phantasie der
Ungarn hat ein Zeitwort hunden doch keinen Sinn.
Und doch! Kutyagolni ist tatsächlich ein aus dem Hund gebildetes Zeitwort und heißt: Zu Fuß gehen, marschieren, also wie ein
armer Hund laufen.
Wer hier demnach noch nicht mit dem Auto fährt und weit von
der nächsten Haltestelle wohnt, muß manchmal sehr viel kutyagolni. Schauen Sie einmal nach, was alles noch mit dem Hund ausgedrückt werden kann. Vom kutyabôr = Adelsbrief (solche Dokumente sind einmal auf Hundeleder geschrieben worden) bis zum
kutyafáját! = des Hundes Baum! (Lassen Sie sich das von einem
Ungarn mal genau übersetzen) – gibt es so viele Anspielungen,
Bilder und Vergleiche, daß wer sich da nicht auskennt, fast in
Gefahr kommt, alles durcheinanderzubringen. Selbst in diesem
Wort durcheinanderbringen steckt der Hund; denn wenn Sie sich
völlig verfranst haben in der ungarischen Grammatik und mit dieser Sprache auf den Hund gekommen sind, dann können Sie verzweifelt rufen: Ezt összekutyultam! = Das habe ich zusammengehundet!
Eigenartig, daß man hier wie überall zum Hundeleben greift, um
Menschliches auszudrücken. Ein kis kutya = kleiner Hund ist einer,
der wenig, und ein nagy kutya = großer Hund einer, der viel zu
sagen hat, also ein hohes Tier. Wobei das hohe oder große Tier,
ungarisch: nagy állat wieder nicht das bedeutet, was man in der
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
deutschen Sprache darunter versteht. Kutyabaja sincs = wortwörtlich Hundeunglück keins hat dagegen jemand, dem nichts
fehlt.
Die Hunde selbst jedoch haben Menschennamen. Auf kutya =
Hund hört kein ungarischer Hund, es sei denn, Sie liebkosten ihn
neben seinen meist sehr menschlichen Namen mit kutyuskám =
mein Hünchen. Oder vielleicht noch besser mit kutyulimutyuli, was
soviel heißt wie kutyulimutyuli. Sollten Sie einmal sehr verliebt
sein – nicht in einen Hund -, können Sie das kutyulimutyuli auch
ausnahmsweise für Ihren Liebling gebrauchen.
Darüber lässt sich nachdenken!
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Vigyázz!
Da haben wir nun endlich nach so viel k.u.k. Mischmasch ein ganz
reines ungarisches Wort aus der finnisch-ugrischen Sprachfamilie:
vigyázz! = Achtung! Vorsicht! Wo Sie dieses Wort lesen oder
hören, geben Sie acht auf den letzten Buchstaben z. Wenn ein
zweites z dahinter steht, dann lauert Gefahr: ein beißender Hund,
ein tiefes Loch oder ein noch tieferes Wasser, eine Hochspannungsleitung, eine Tür, die andersrum aufgeht, als man denkt,
eine unvorhergesehene Stufe, eine frisch gestrichene Bank. Oder
es ist auf Straßen, Parkplätzen und Parkanlagen, in allen öffentlichen Verkehrsmitteln und Gebäuden die Aufforderung, auf
Reinlichkeit zu achten.
Also vom vigyázz! = Achtung! Wenn Sie über den Damm gehen, bis zum vigyázz a késsel! ( a kés = das Messer, a késsel =
mit dem Messer), bevorzugt man dieses Wörtchen, obwohl man
sich auch ungarisch vorsehen = óvakodni oder anders ausdrücken
könnte. Das kürzeste und disziplinierteste, zum Kommando verhärtete vigyázz aber gibt´s beim Militär und heißt: Stillgestanden! Und das allerliebenswürdigste, weitgehendste und vielsagendste vigyázz gebrauchen alle Menschen, die sich lieb haben,
beim Abschied.
Wenn Ihnen Ihr ungarischer Freund (oder Ihre Freundin) beim
ersten Aufwiedersehen vor der Haustür, und sei es auch nur beim
Abschied bis morgen früh, sagen wird: Vigyázzon magára! =
geben Sie acht auf sich!, also wenn sie oder er das sagt, dann
müssen Sie wissen, daß er Sie lieb hat, wenn nicht gar schon mint
egy ágyú = wie eine Kanone (eine typisch ungarische Metapher für
das Hals-über-Kopf-Verliebt-sein) in Sie verknallt ist. In diesem
meist leise gesprochenen Wort steckt viel mehr als das Achtgeben.
Es liegt darin die Angst und Furcht um den lieben, vielleicht geliebten Menschen, dem ein Unglück, also ein Anderer oder ein Andere
zustoßen könnte. Also vigyázz magadra! Damit du dich für mich
unbeschädigt erhältst.
Achten Sie bitte sehr deutlich auf Betonung und vor allem auf
die Situation, in der dieser Satz gesagt wird. Denn nehmen wir an,
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Sie sind hier irgendwo irgendwie unangehehm aufgefallen, angestoßen mit oder ohne Auto, und jemand wird darauf zu Ihnen
sagen: Vigyázzon magára! Dann heißt das genau das Gegenteil.
Dann müssen Sie aufpassen auf Ihren Mund und vielleicht sogar
auf die Zähne.
Nincs mese
Keine Mätzchen! Keine Ausrede! Keine Fisematenten! Keine Ausflüchte! Für all das und noch mehr verwendet der Ungar in der
Umgangssprache die beiden worte unserer Überschrift: nincs =
kein(e), mese = Märchen. Vergessen Sie dabei nicht die richtige
Aussprache! s = sch. Wenn Sie mese nach Ihrer Sprachempfindung mit einem deutschen s und der Betonung auf dem
ersten e sprechen, wird so was Ähnliches wie Honig = méz daraus,
oder sagen Sie es mit scharfem s, haben Sie anstelle von nincs
mese, nics messze = es ist nicht weit, gesagt.
Nun kann der Ungar fast aus jedem Hauptwort gleichzeitig ein
Zeitwort bilden. Er hängt einfach an mese = Märchen die Endung
–l und hat damit das Verb mesél = erzählen, gebildet (achten Sie
bitte dabei auf die Veränderung des kurzen Vokals e zum langen
Vokal é). Sie können jetzt sagen: Das könnten wir ja auch in der
deutschen Sprache mit dem Hauptwort Erzählung, das aus dem
Zeitwort erzählen entsteht. Aber es hört sich schon recht komisch
an, würde jemand sagen: Erzähl mir keine Erzählung! Da müsste
schon für die Erzählung das Wort Märchen stehen. Einfacher ist es
jedoch im Ungarischen. Sie brauchen sich nur das Wort mese zu
merken und können damit vieles sagen: Ne mesélj! = Was du
nicht sagst! (Das -j am Ende ist die Aufforderung). Mese habbal =
Quatsch mit Soße (hab = Schaum). Meséld a nénikédnek! = Das
kannst du deiner Tante erzählen; solche Märchen kannst du einem
anderen aufbinden. Nekem mesélhetsz! = mir kannst du das nicht
weismachen, höchstens einem anderen). Esti mese = Abendmärchen, damit ist der Nachtgruß für die Kinder im Fernsehprogramm gemeint und manchmal auch der darauffolgende Kommentar. Ezt nekem akarod bemesélni? = Das willst du mir erzählen? Andersen meghalt, nincs mese = Andersen ist tot, es gibt
keine Märchen mehr!
Und wenn auch bei uns nicht wie im Schlaraffenland die Zäune
aus Würsten gemacht sind, so ist es doch egy meseország = ein
Märchenland; schon allein darum, weil das Wort meseország hier
einen so romantisch vieldeutigen Klang hat.
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
der russischen Sprache und war von 1906 bis 1917 das russische
Parlament. In unserer Sprache lebt es heute noch täglich, und wird
immer angewendet, wenn jemand dumál = quatscht, schwafelt,
schwatzt oder quasselt. Aber wenn Sie mit uns zu einem kleinen
angenehmen Gespräch zusammenkommen wollen, dann sagen
Sie: jövök egy kis dumcsira = ich komme auf einen kleinen
Plausch. Kommen Sie! Aber vergessen Sie es nicht!
Link
Sie meinen, da ist an der Überschrift ein Buchstabe vergessen
worden? Entweder ein -e oder -s, oder beides zusammen, damit
aus dem verstümmelten Link wenigstens was Linkes wird? Nein,
geirrt!. Mit link ist kein deutsches, sondern ein ungarisches Wort
gemeint. Sie sind erstaunt? Ja, ich war es ebenfalls, als ich es so
zum ersten Mal hörte: Ez egy link kifogás = Das ist eine faule
Ausrede. Wie kommt der Ungar für faul zu diesem link, das doch
auf den ersten Blick ein deutsches Lehnwort ist? Im neuesten
ungarischen etymologischen Wörterbuch, herausgegeben vom
Budapester Akademia-Verlag, steht dazu: Link ember (ember =
Mensch): eine zur Unterwelt gehörende, geriebene, gerissene
Person, und weiter: unecht, falsch, unzuverlässig, schwindelhaft,
lügnerisch und die Bemerkung, daß dieses Wort aus der deutschen
Sprache stammt.
Wir kennen aus dem Großen Deutschen Wörterbuch von Warhig
neben linken Armen, Beinen, Seiten, die Linke und die Rechte und
im besten Fall das Wort linkisch in der Bedeutung von unbeholfen
oder ungeschickt. Und selbst ein Linkshänder ist doch kein
Unterwelts- sondern oft ein sehr geschickter Allerweltskerl. Also,
wie kommt dieses herablassende, beschämende, beleidigende link
in die Sprachwelt der Ungarn? Ich weiß es auch nicht, und kann es
mir nicht enträtseln. Fast meine ich, daß dieses Wörtchen sich im
Dunkel der Sprachwelt verhüllt und bis zur Mutter aller indoeuropäischen Sprachen, zum Sanskrit, verfolgt werden müsste, um
dem Ungarn, der heute linkel sagt – auch dieses Verb wird in der
Umgangssprache häufig gebraucht für jemanden, der nicht die
Wahrheit sagt -, dies etymologisch zu klären und zu erläutern.
Bleibt also nur die freudige Feststellung, daß Sie mit diesem
Wort sehr leicht etwas echt Ungarisches gelernt haben, und es bei
nächster Gelegenheit anwenden können, wenn jemand Ihnen bei
uns etwas erzählt, was unglaubwürdig erscheint. So können Sie
ihm also perfekt ungarisch antworten: Link duma, was soviel
heißt, wie Mumpitz, oder dummes Gefasel. Aber bitte glauben Sie
nun nicht, daß duma von dumm abgeleitet ist! Duma stammt aus
„Ein ulkiges Wort“, sagte jemand, als er dieses körülbelül zum ersten Mal hörte, „und sehr schwer auszusprechen.“
Wirklich nicht leicht! Aber doch endlich mal ein Wort, das genau
so gesprochen wird, wie es da geschrieben steht; wobei Sie überhaupt nichts verkehrt machen oder falsch betonen können. Und
wenn Sie es zehnmal (weniger Begabte zwanzig- bis dreißigmal)
laut vor sich hergesagt haben, können Sie ungarisch damit soviel
ausdrücken wie: annähernd, ungefähr, etwa, gegen, beiläufig,
zirka oder klassisch gebildet sogar: approximativ. Das sind immerhin sieben Wörter, für die ein Ungar sich siebenmal mehr anstrengen muß, wenn er umgekehrt lernen will, was man für körülbelül
alles deutsch sagen kann.
Also: Wann werden Sei in diesem Sommer zu uns kommen?
Körülbelül augusztus közepén = etwa gegen Mitte August.
Das ist körülbelül die schönste Zeit am Balaton mit körülbelül
zehn Sonnenstunden am Tag und körülbelül günstigen Preisen (in
der Nachsaison). Fragen Sie aber nach den Preisen, dann bitte
nicht mit körülbelül, sondern immer mit mennyibe kerül. Das hört
sich am Ende fast so an wie das körülbelül, heißt aber genau übersetzt: mennyi = wie viel, -be = in, kerül = kommt, sinngemäß: für
wie viel geben Sie das? Oder: was kostet es?
Also fragen Sie immer, wenn Sie etwas kaufen wollen, nach dem
mennyibe kerül, damit Sie zuletzt nicht darüber nachdenken müssen, wie viel Sie körülbelül mehr bezahlt haben, als das, was es
wirklich gekostet hat. Unsere Preise sind sowohl staatlich festgesetzt, wie es auch freie Preise gibt. Alle werden zwar ständig durch
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Körülbelül
Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
die Volkskontrolle überprüft, aber erstens gibt es noch privaten
Handel und privates Gewerbe, und zweitens Menschen, die auch in
staatlichen Diensten, so manchmal, aus Versehen, körülbelül rechnen.
Natürlich will man im Urlaub nicht kleinlich sein, auf jeden
Forint sehen. Dann machen ja die ganzen Ferien keinen Spaß. So
denken viele. Und auf diese angenehme Weise kommt körülbelül
jeder auf seine Rechnung. Und wenn Sie wieder zu Haus sind und
mal so körülbelül nachrechnen, was Sie der ganze Spaß bei uns
gekostet hat, werden Sie sehen, daß es körülbelül noch immer billiger war als woanders.
Sollte es Ihnen dennoch zu schwer fallen, dieses Wort auszusprechen, können Sie auch in der modernen und sehr gebräuchlichen Abkürzung einfach mit kb. fragen. Körülbelül besteht nämlich
aus zwei Wörtern, körül = von außen und belül = von innen.
Hierzu eine Anekdote. Ferenc Deák, ein namhafter Jurist, der in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte und zum Ausgleich
(1867) zwischen Österreich und Ungarn wesentlich beigetragen
hatte und deshalb a haza bölcse, der Weise des Vaterlandes,
genannt wurde, verwechselte einmal seinen Hut mit dem eines
Abgeordneten. Na ja, meinte der, unsere Köpfe sind eben körülbelül gleich. Körül = von außen schon, antwortete darauf Deák,
nicht aber belül = von innen.
Um die Bedeutung in der Zusammensetzung des Wortes zu verstehen, versuchen Sei einmal umgekehrt das Wort ungefähr in seiner etymologischen Bedeutung zu erforschen. Es kommt dabei
auch so was Ähnliches heraus wie: Ohne Gewähr.
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Édes
Ich habe mich schon oft darüber lustig gemacht, daß wir alle unsere Familienangehörigen mit dem Attribut édes = süß schmücken.
So werden der Vater édesapa = süßer Vater, die Mutter édesanya
= süße Mutter, das Kind édes gyerek = süßes Kind, wenn es ein
Mädchen ist: édes lányom = meine süße Tochter, oder ein Junge:
édes fiam = mein süßer Sohn oder die Schwestern und Brüder:
édes testvéreim = meine süßen Geschwister genannt. Ein älterer
Bruder ist im Ungarischen nicht nur der ältere, sondern auch der
süße = édes bátyám und der jüngere, der süße = édes öcsém.
Merken Sie was? Hier hat der Ältere einen besondren Namen:
bátyám, während der Jüngere öcsém heißt, Und auch die ältere
Schwester ist eine = édes nôvérem, während die jüngere édes
húgom genannt wird. So also kann im großen und ganzen die
ungarische Verwandtschaft um alle Ecken und Kanten als eine ausgesprochene süße Familie bezeichnet werden.
Sollte Ihnen beim nächsten Urlaub in Ungarn jemand den
jüngstgeborenen Nackedei in natura oder auf einem Foto zeigen,
die Ungarn tun das bei der ersten besten Gelegenheit liebend
gerne – selbst eine Großmutter zeigt die Fotos ihrer Enkelkinder
mit so viel Stolz, als ob sie sie selbst zur Welt gebracht hätte -, so
brauchen Sie nur mit drei kleinen Wörtchen darauf zu reagieren:
Jaj, de édes! = Ach, wie süß! Das genügt, um Mütter-, Väter-,
Tanten-, Onkelherzen und die ganze Verwandtschaft über zwei bis
drei Generationen weichzukriegen. Auch wenn an dem kleinen
Ding nichts Süßes zu sehen, zu entdecken, zu riechen ist, liegen
Sie mit diesem Jaj, de édes! immer richtig und können nie etwas
verderben. Sollte das Kind hässlich, unartig, frech und ganz ungezogen sein, überlassen Sie es immer den Eltern, ein anderes
Attribut als édes zu finden. Allein sie haben das Recht, ihren
Sprössling büdös kölyök = stinkender Fratz zu nennen.
Nur manchmal bekommt das édes einen sauren Beigeschmack,
wenn er, der es sagt, ein ernstes, vielleicht sogar wütendes Gesicht dazu macht. Nach dem Sprichwort: Der Ton macht die Musik.
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Geben Sie acht auf den Ton, wenn jemand zum Beispiel sagen sollte: Idefigyeljen, édesapám! = Hören Sie mal her, süßer Vater! Bei
dieser Anrede ist gewiß nicht mein oder Ihr süßer Vater gemeint,
sondern mein lieber Schwan oder mein lieber Freund. Ganz
schlimm steht´s, wenn jemand zu Ihnen sagen sollte: Tûnj el,
édesapám! Wortwötlich: Verschwinde, süßer Vater! In diesem Fall
haben Sie´s bei einem Ungarn hoffnungslos verdorben. Dann
nützt auch nicht mehr das jaj, de édes!, dann sollten Sie nie an
den süßen Vater denken, sondern nur noch daran, so schnell wie
möglich eltûnni = (zu) verschwinden.
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Fárad-fáradt
Wer bei dieser Überschrift vielleicht an ein ungarisches Fahrrad
denkt, der irrt. Doch das deutsche Fahrrad kann zur Stütze werden beim Lernen der ungarischen Vokabel fáradt = müde. Dabei
bietet sich wieder ein Vergleich in beiden Sprachen an. Während
das deutsche Wörterbuch nur zwei Wörter: müde und Müdigkeit
kennt, füllen im ungarischen Wörterbuch drei lange Spalten mit
mehr als 30 Wörtern fárad und fáradt mit allen seinen
Ableitungen. Ein müder Mann ist egy fáradt férfi. Aber passen Sie
auf! Einer, der sich darum bemüht, nicht müde zu sein, der
braucht für sein Bemühen nur das fárad ohne –t. Ist es nichts
spaßig, daß hier Müdigkeit und Mühe mit dem gleichen Wort ausgedrückt werden? Der ganze Unterschied liegt nur in einem –t
fáradság = Mühe, fárdtság = Müdigkeit. Also, wenn Ihr temperamentvoller ungarischer Gastgeber Ihnen nach den Anstrengungen
eines Tages noch das Nachtleben zeigen will, denken Sie an das
Fahrrad und sagen Sie einfach: fáradt vagyok = ich bin müde.
Aber bitte geben Sie acht! Sollte Ihr Gastgeber, wenn Sie zu ihm
auf seine Bude zu Besuch gekommen sind, sagen: Örülök, hogy
idefáradt, dann bedeutet das –t nicht das Wort müde, sondern die
Vergangenheit, und heißt also nicht: Ich freue mich, daß Sie müde
sind, sondern: Ich freue mich, daß Sie sich herbemüht haben.
Etwas kompliziert, nicht wahr? Aber ulkig! Der Unterschied zwischen dem –d und dem –dt lässt sich nämlich kaum wahrnehmen.
Solche Missverständnisse können oft zu peinlichen Situationen
führen. Ich hörte kürzlich in einem modernen Hotel mit dünnen
Wänden, wie mein Nachbar im Nebenzimmer schnarchte, und wie
daneben jemand laut an die Wand klopfte. Am nächsten Morgen
saßen wir gemeinsam am Frühstückstisch. Die Dame von nebenan sprach deutsch, benutzte mich als Dolmetscher und ließ mich
meinem Nachbar, dem Schnarcher, ihre Frage übersetzen, ob er es
nicht gehört hätte, daß sie in der Nacht laut an seine Wand
geklopft habe. Er antwortete darauf: „Igen, de ôszintén szólva túl
fáradt voltam.“ = Ja, aber ehrlich gesagt, ich war zu müde. Aus
Anstand habe ich es der Dame nicht übersetzt. Doch Sie sollen
wissen, was Sie sagen müssen, wenn Sie zu müde sind.
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
Der Ungar
und sein Schimpfwort
Von der Ungarn ureigenstem Schimpfwort, das in keiner anderen
Sprache in dieser Form existiert, soll hier die Rede sein. Es steht
so dicht neben dem typisch höflichen „kezeit csókolom” (Küß die
Hand!), daß man oft meint, man hätte danebengehört, wenn ein
Ungar, plötzlich über etwas erbost, seinen Gottesfluch durch die
Zähne zischt. Es ist nicht etwa nur der harmlose Götz von Berlichingen im Deutschen oder das Kruzitürk des Österreichers, sondern es ist der Wunsch, der liebe Gott möge seine Männlichkeit
beweisen, indem er das Ding da, das nicht geht und lebt, begatte,
um Lebendigkeit in ihm zu zeugen. Also ein recht tiefsinniger
Fluch, der nur darum so wenig gesellschaftsfähig ist, weil er sehr
drastisch (sonst wäre es nicht Ungarisch) ausgedrückt wird. Viel
weniger verständlich ist der Fluch mit dem Pferdeschwanz, den ein
Ungar demjenigen, auf den er böse ist, in sein Hinterteil wünscht.
Was das zu bedeuten hat, erfuhr ich selbst erst, als man mir folgende Geschichte erzählte: Eine kleine Universitätsbühne in der
DDR hatte die Komödie „Die Schlacht bei Lobositz” von Peter
Hacks einstudiert und ein paar anwesende ungarische Studenten
eingeladen, sich die Aufführung anzusehen, mit dem Hinweis: „Es
wird darin auch Türkisch gesprochen.” Gewiß war man der
Meinung, daß Ungarn auch Türkisch verstehen müßten, nachdem
ja die Türken mehr als eineinhalb Jahrhunderte (1526-1686) das
Land beherrschten.
Aber was die Ungarn da während der Aufführung von den die
türkischen Landsknechte darstellenden Schauspielern hörten, war
nicht türkisch, sondern ungarisch, und zwar laut und deutlich in
steter Wiederholung eben jener Fluch vom Pferdeschwanz. Die
Ungarn lachten laut und herzlich, obwohl es in dieser Szene an
sich gar nichts zu lachen gab. Und nach der Vorstellung sprachen
sie mit dem Regisseur und erfuhren, daß ein Universitätsdozent
ungarischer Abstammung ihm diesen Fluch aufgeschrieben hatte,
mit der Bemerkung, das seien ein paar geeignete türkische Worte
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Körülbelül - Ein bißchen Ungarisch
für diese Szene. Der Dozent, der sich diesen derben Witz geleistet
hatte, wurde konsultiert, und man war nicht wenig erstaunt, als
jener beteuerte, dieses ungarische Schimpfwort sei ursprünglich
wirklich ein türkisches Wort gewesen und bedeutete soviel wie ein
am Ende angespitzter Holzpfahl (lofat), den die Türken demjenigen in sein Hinterteil wünschten, dem sie sehr böse waren. (Das
Pfählen war auch wirklich eine grausame Strafe im Mittelalter.) Die
Ungarn sollen dieses Wort in ihre Sprache integriert haben, und sie
brauchten nur den letzten Buchstaben - vom t zum sz - zu ändern
(eine im Ungarischen durchaus plausible Konsonantenverschiebung), um aus dem Holzpfahl einen Pferdeschwanz zu machen.
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II
Warum ist die
Krone schief ?
Ein bißchen Ungarn
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Balaton oder Plattensee?
Ich weiß nicht, warum man so bemüht ist, in den Reiseprospekten
unseren Balaton immer wieder mit dem Namen Plattensee zu
übersetzen. Was heißt Plattensee? Keinem Ungarn würde es einfallen, den Bodensee Padlóstó zu nennen, weil er einen Boden hat.
Warum Plattensee? Ist nicht jeder See platt, wenn kein Wind weht
und Wellen aufpeitscht? Woher auch immer dieser Name Plattensee stammt, weg mit ihm! Ein antiquierter Name, wo wir einen so
schönen haben: Balaton. Darin liegt Musik. Wollen Sie mitsingen?
Hullámzó Balaton tetején... (Auf den wogenden Wellen des Balaton…) Wollen Sie mitfahren? Im Ruder- oder Segelboot, Dampfer
oder auf der Luftmatratze? Manche lassen sich so treiben; über
sich den Himmel voller Geigen, unter sich den See voller fogas,
dem einmaligen Balatonfisch.
Doch gibt’s auch noch andere Fische im See: Karpfen und Zander, Hechte und Aale, und wer weiß, was noch alles. Aber sie sind
nicht der Rede wert. Hier muß man fogas essen – beim Aussprechen mit einem sch am Ende -: knusprig gebraten auf dem
Bauch liegend, so daß Kopf und Schwanz hochstehen. In dieser
Pose wird er serviert, mit einem Stück Zitrone im Maul, daß einem
das Wasser im Mund zusammenläuft. Und dazu schmeckt balatonfüredi rizling aus dem Tonkrug und nicht „Plattensee-Riesling“ aus
der Flasche.
Keinem Italiener oder Spanier würde es in den Sinn kommen,
seinem Chianti oder Malaga für Ausländer extra einen anderen
Namen zu geben. Bei uns wird der kékfrankos aus Sopron für das
Ausland in einen lächerlichen „Blaufranken“, oder der berühmte
szürkebarát aus Badacsony am Balaton in den nichtssagenden
„Grauen Mönch“ verwandelt. Lernen Sie, bitte, ungarische Weinsorten und Namen kennen. Es gibt außer dem Tokajer noch einige.
Sie schmecken anders, wenn man sie beim richtigen Namen nennt.
Auch der Balaton benimmt sich anders, wenn Sie ihn nicht mit
dem faden Plattensee anreden. Zum Balaton können Sie du sagen;
dann fühlt er sich geschmeichelt und gestreichelt; dann breitet er
sich ganz flach aus und strahlt 80 Kilometer lang blank geputzt,
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
dann schimmert er vom hellsten Blau über dunkles Grau bis zum
durchsichtigsten Grün; dann spielt er mit seinen Farben in allen
Schattierungen, nicht ganz unabhängig von Himmel und Wolken
über ihm. Er ist überhaupt nicht „er“. Für uns Ungarn kann er
ebenso gut auch „die See“ sein.
Der, die, das Balaton ist wie ein junges, schönes Mädchen auf
Figur bedacht; und es hat eine, mit ganz schmaler Taille an der
engsten Stelle bei Tihany, von weißen Fährschiffen wie mit einem
Perlengürtel geschmückt. Und das saubere, spiegelblank geschliffene Fräulein kokettiert auch mit einer Weite, die sich sehen lassen kann und gesehen werden will. Also kommt und seht und
staunt! Laßt Euch von dem seidig weichen Wasser umspülen, oder
beschaut Euch die Schöne von oben. Es gibt ringsum viele herrliche Aussichtspunkte.
Aber lasst Euch etwas einfallen, wenn Ihr vom Balaton schreibt
oder singt; auf daß es Euch nicht so ergehe, wie der Gesellschaft,
die in einem Camping am See in weinseliger Stimmung das Lied
anstimmte: „Im weißen Rössl am Wolfgangsee...“. Danach setzten
sich alle in ein Ruderboot und Fräulein Balaton kippte sie ins
Wasser. Als sie naß in ihre Quartiere kamen, sagte jemand: „Wir
haben gar nicht gewusst, daß der Plattensee so temperamentvoll
sein kann.“
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Warum ist
die Krone schief ?
„Was ist schief?”
„Na, die Krone.“
„Die Krone? Wieso?“
„Na, das Kreuz oben drauf.“
„Ach ja, das Kreuz auf der Krone... das kommt daher... warten
Sie ... das weiß ich eigentlich nicht.“
Dieser Dialog fand neulich zwischen einem Ausländer und seinem
ungarischen Begleiter neben der Mátyáskirche vor dem Reiterstandbild des Königs Stephan statt. Er sitzt dort auf einem prachtvoll geschmückten Gaul, das Haupt bekränzt mit der von Papst
verliehenen Krone, auf deren Spitze das Kreuz schräg nach links
verbogen ist.
Also warum ist das Kreuz schief? Eher können manche Budapester wahrscheinlich begründen, warum die Banane nicht gerade
ist, als auf diese Frage eine Antwort zu geben. Aber wenn das
ungarische Krönungskronenkreuz schon schief steht, sollte man
diesem Kuriosum doch auf den Grund gehen oder von Sagen sagen lassen.
So hört denn: Es geschah zu jener Zeit, da Ladislaus IV., der
Kumane, ermordet wurde, nämlich im Jahre 1290, und Andreas
III., Enkel Andreas´II., auf den Thron gelangte, nebst Verlobung
der Tochter von Andreas mit Wenzel III. von Böhmen. Auch andere hatten es auf den ungarischen Thron abgesehen. Einer von
ihnen wollte sogar die nicht mehr zu haltende Krone dem Herzog
von Bayern überlassen... Einfacher gesagt: Nach Ladislaus´ des
Kumanen Tod hatte der jüngere Andreas, ein Herzog, dem älteren,
dem Onkel, den er von seinem angestammten Platz verdrängen
wollte... der der Enkel... Genauer: Wenzel II. von Böhmen, gekrönt als Ladislaus, nahm die Krone mit nach Prag, als Andreas III.
gestorben war und Otto von Bayern sowie...
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Kurzum: Die Krone war weg. Nicht das erste und auch nicht das
letzte Mal in ihrer Geschichte. Später dann, im Jahre 1440 soll eine
Dame aus dem engeren Hofkreis diese Krone unter ihren weiten
Röcken aus der Hochburg von Visegrád entwendet und auf Befehl
der verwitweten Königin Elisabeth von Luxemburg auf diese Weise
nach Komárom geliefert haben, wo am nächsten Tag die Krönung
des neugeborenen Königssohns als Ladislaus V. erfolgte. Danach
wurde er samt Krone sogleich ins Ausland gebracht. Inzwischen
war bereits das Kronenkreuz leicht verbogen. Wie es passiert ist
und wo und wann? Ob schon früher oder unter den Röcken der
Hofdame auf dem Hin-, oder aber durch schlechte Verpackung auf
dem Rückweg, darüber steht in den Chroniken nichts.
Es heißt: Alle späteren Könige und Kaiser sowie deren Mörder,
Widersacher nebst allen Abkömmlingen hätten aus lauter Pietät
das Kreuz so schief gelassen.
Im Übrigen ist die Krone, während ich dies schreibe, wieder einmal zu Haus. Am Ende des zweiten Weltkrieges geriet sie samt
schiefem Kreuz – via Pfeil- und Hackenkreuzanhänger – in die USA
und kam erst Anfang 1978 zurück. Aber das ist schon eine andere, eine ganz und gar nicht schiefe Geschichte.
Also, nun wissen Sie´s und können die Sache mit der Krone
weitererzählen, falls Sie danach gefragt werden. Sogar besichtigen
können Sie sie samt schiefem Kreuz, Krönungsinsignien sowie
Krönungsmantel. Wir werden Sie zwar nie wieder benötigen für
einen König, doch gibt es bei uns heute Leute, die kiskirály = kleiner König genannt werden, und denen zur Vervollständigung ihres
Habitus nur eben diese Krone auf dem Haupte zu fehlen scheint.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Heimweh
Wenn es von Heimweh eine Steigerung gäbe, müsste sie heißen:
Heimweh, Heimweher, Ungar.
„Wer nie sein Brot mit Tränen aß“, weiß nicht was die Ungarn
leiden, wenn sie irgendwo in der Welt in irgendeiner nichtungarischen Speise stochern und dabei an ein töltött káposzta = gefülltes Kraut, an einen frisch gebackenen almás rétes = Apfelstrudel,
oder an ein csirkepaprikás galuskával = Paprikahuhn mit Nockerln
denken.
Während anderen Menschen das Heimweh von der Seele auf
den Magen schlägt, ist es bei den Ungarn gerade umgekehrt.
Ich habe von einem in den Vereinigten Staaten gehört, dem
dicke Tränen beim Hören der Zeile aus einem Volkslied geflossen
sind: Lesz még szôlô, lágy kenyér = Es wird noch Wein geben und
weiches Brot. Man muß einmal dieses weiße, weiche ungarische
Brot zusammen mit den Weintrauben gekostet haben, um den zu
verstehen, den allein Brot und Wein übers große Wasser nach
Hause ziehen. Natürlich ist darunter nicht so sehr das Brot aus dem
Bäckerladen gemeint, sonder ein selbstgebackenes, wie es die
Mutter zu Haus – irgendwo in Ungarn – noch selbst geknetet hat,
ein Laib Brot, groß und rund mit hellbrauner, knuspriger Kruste.
Das Brot ist überhaupt des Ungarn wichtigste Speise, denn Brot
auf dem Tisch darf bei keinem Mittagessen fehlen. Brot zur
Vorspeise, Brot zur Suppe, Brot zum Fleisch mit Kartoffeln. Ein
Ober in Berlin brachte, als wir Brot zur Suppe bestellten, kopfschüttelnd zwei weiche Schrippen, weil im Restaurant kein Brot
aufzutreiben war. So beginnt das Heimweh. Eventuell versteht das
der Berliner, der in Budapest Heimweh nach seinen frischen
Schrippen hat. Alles ist zu ersetzen: Az akácos út = die von
Akazien gesäumte, nach ihr duftende Straße, a muskátlis ablak =
das Fensterbrett voll roter Geranien, die Bank vorm Elternhaus,
der Arbeitsplatz in der Stadt, die Oper und die Eisbahn, das Espresso und die Schwebebahn, das Dampfbad und die Weinschenke, nur eins gibt´s auf der ganzen Welt nicht: csigatészta =
die kleinen selbstgedrehten Schneckennudeln in der Gemüsesuppe.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Eine Frau hatte einen einfachen Nudelmacher in ihrer Reisetasche.
Sie fuhr zu Verwandten ins Ausland. Dem Zollbeamten auf dem
Flugplatz war dieser kleine, mit Aluminiumdraht durchzogene
Holzrahmen bei der Kontrolle aufgefallen. Und da er nach der
Verwendung fragte, führte ihm die Frau bereitwillig vor, wie man
damit csigatészta macht. Der Zöllner und alle Umstehenden empfanden tiefe Rührung für dieses selbstfabrizierte Nudelgerät, das
nun irgendwo in der Welt dazu beitragen wird, das ungarische
Heimweh zu lindern.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Museum
Das Museum wird ungarisch so geschrieben: múzeum und auf der
ersten Silbe betont, nicht wie im Deutschen auf der zweiten. Wenn
Sie also in Budapest oder in irgendeiner anderen Stadt ein
Museum besuchen wollen – bei Regengüssen zwischen zwei Sonnentagen kann das eine willkommene Abwechslung sein – dann
fragen Sie nicht nach dem Museeum, sondern nach dem Muuseum. Denken Sie bitte bei der Aussprache zuerst ans Muh und dann
ans seum. Wenn Sie nämlich an die Kuh denken, dann sprechen
Sie´s ungarisch richtig aus: Muhsäum, und ein jeder wird Ihnen
hilfsbereit zeigen, wo es ein solches zu sehen gibt.
Da finden wir in vielen Gegenden die empfehlenswerten Freilichtmuseen, wo uralte Wohnsiedlungen gezeigt werden, so, wie sie
einst den Menschen mit Haus, Hof und Herd dienten. Nebenbei
können Sie in speziellen Ausstellungen auch die alten Trachten der
Ungarn bewundern, die sie an Werk- und Feiertagen trugen.
Heutzutage wird man höchstens noch in entlegenen Dörfern beobachten können, wie farbenfroh einst Mädchen und Frauen sonntags auf der Hauptstraße promenierten oder was sie zum Kirchgang
anzogen. Sollten Sie sich übrigens für die bekannten Blusen interessieren, die so duftig leicht, auf Ärmeln und Brustseite bunt
bestickt sind, so fragen Sie nach einer hímzett blúz (hímzett =
bestickt). Sie sehen, aus der französischen blouse wurde die deutsche Bluse und schließlich die ungarische blúz, für die es bis heute
kein anderes ungarisches Wort gibt. Was natürlich nicht heißen soll,
daß die Ungarin bevor die französisch-deutsche Bluse nach Ungarn
kam, „oben ohne“ gegangen wäre. Na, Sie werden es ja bei den
alten Trachten erleben.
So passierte es kürzlich einem Ungarn, der sich in einem
Berliner Museum nach den „alten Abendtoiletten“ erkundigte, daß
ihm die Aufsicht am Eingang zu verstehen gab: „Wat? So wat ham
wa nich´. Bei uns jibs nur neue und die sin´n janzen Tach offen,
aba nich am Abend, da is hier nämlich zu.“
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Anonymus
Da sitzt dieser bronzene Anonymus nun schon seit ungefähr 80
Jahren im Budapester Városliget (Stadwäldchen), blickt weder
nach rechts noch nach links, auch nicht nach vorn oder hinten,
sondern verbirgt sein Antlitz hinter einer tief ins Gesicht gezogenen Mönchskapuze.
Bei jedem, der ihn dort je gesehen hat, taucht die Frage nach
der Identität dieses Jemand auf, mit dem Federkiel in der rechten
Hand und den gebündelten Pergamentblättern in der Linken, auf
denen unter anderen in lateinischen Wörtern eingemeißelt steht:
„Gloriosissimi Belae regis notarius“. Doch warum blieb der Notarius des “allerglorreichsten Königs Béla“ anonym?
Warum durfte, wollte oder konnte er der Welt seinen Namen
nicht preisgeben, als er damals, unter dem Titel Gesta Hungarorum (Die Taten der Ungarn) über diese berichtete? Das geschah,
als König Béla Ungarn von 1173 bis 1196 regierte. Er beschrieb in
lateinischer Sprache, hier und da ein paar ungarische Sprachbrocken verstreuend, a honfoglalást (die Landnahme) – welch
schönes Wort anstelle von Eroberung, nicht wahr? Ich habe selbst
bei Anonymus und in anderen Geschichtsbüchern nachgelesen und
bin zu dem Schluß gekommen, daß eigentlich die Aggressoren
jener Zeit a besenyôk = die Petschenegen waren.
Man kann das heute ruhig sagen, schon darum, weil doch keiner von ihnen mehr lebt, also nicht sprechen, beleidigt sein und
dagegen protestieren kann. Diese Petschenegen – schon das Wort
allein klingt wie ein Schlag – haben die Ungarn, die damals irgendwo in Etelköz, dem Zwischenstromland zwischen Don, Dnepr und
dem Unterlauf der Donau, eben ihr Stammesoberhaupt Árpád zum
Fürsten gewählt hatten, ansonsten sich vermehrten und friedlich
jagten, aus ihren Heimen vertrieben, als diese im Dienst von Byzanz gegen den bulgarischen Zaren zu Felde gezogen waren. Wohlgemerkt: im Dienst! Ob die Petschenegen auch im Dienst handelten, darüber schweigt die Geschichte. Wer weiß?
Einerseits war das nicht schön von ihnen, daß sie, während die
Ungarn – ich meine die Kämpfenden – nicht zu Hause waren...
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Andererseits verdanken alle Ungarn ihnen, den Petschenegen, daß
sie auf diese Weise hinter der Gebirgskette der Karpaten ihr Leben
retten und fortsetzen konnten.
Nun berichtet Anonymus nicht nur, wie es begonnen hat mit den
Ungarn in Ungarn, sondern wie es weiterging bis zum Tod seines
Königs Béla.
Sie hatten es, wenn wir es nicht im Dunkel der Geschichte, sondern die Geschichte bei Lichte besehen, nicht weniger faustdick
hinter den Ohren als jene, die sie vertrieben haben. Ob sie das
alles von denen abgeguckt oder von anderen Räubern gelernt
haben, bleibe dahingestellt. Doch wie sie sich während ihrer
Streifzüge gegenüber den Slawen, Bayern und Italienern aufführten, war nicht weniger rabiat, jedoch in jener Zeit allgemein
üblich. (Das wissen wir nicht von Anonymus, sondern aus anderen
Quellen.) Sogar Konrad dem Roten, Herzog von Lothringen, so die
Legende, soll ja der Haudegen Lehel, der 955 auf dem Lechfeld bei
Augsburg vom deutschen Kaiser Otto gefangengenommen und
zum Tode verurteilt wurde, mit dem Horn, mit dem er zum Angriff
geblasen hatte, den Schädel eingeschlagen haben. (Nach Lehel
wird heute der bekannte ungarische Eisschrank benannt. Vielleicht, weil Lehel so eiskalt zugeschlagen hat?) Und als auch Lehel
danach auf dem Schlachtfeld seine Seele aushauchen musste,
kamen die noch überlebenden Ungarn auf den vernünftigen
Gedanken, daß man mit eingehauenen Köpfen nicht weiterdenken
kann und daß sich mit Raubzügen und Kriegen überhaupt keine
Probleme lösen lassen.
Die Schamanen-Nomaden-Magyaren traten später zum Christentum über und ließen ihren ersten König Stephan vom Papst krönen. So hat es begonnen mit dem ungarischen Staat.
Nun wollte Anonymus – und das ist verständlich – der damals
Ordnung und Recht liebenden ganzen christlichen Welt beweisen,
daß die Magyaren dieses Land eigentlich nur zurückerobert hatten
(es hieß in der damaligen Sprache zurückgenommen), da es doch
– so denken auch heute noch viele Ausländer – schon einmal vor
ein paar hundert Jahren den Vorfahren der Ungarn, den Hunnen
gehört hatte.
Man sagt: hier irrte der Mönch. Ungarn hätten nichts mit den
Hunnen und die Hunnen nichts mit den Ungarn gemein.
Ich weiß es nicht. Mir ist die Sache etwas verdächtig, weil ich in
Budapest, in der Attila út, also in der Straße des Hunnenkönigs
wohnte. Wenn man Attila, dieser Geißel Gottes, wie er damals in
ganz Europa genannt wurde, noch eine Straße in Budapest gelas
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
sen hat, wenn man sie noch nicht umtaufte auf Straße des 1. Mai
oder 1. November, ist vielleicht doch was Wahres an der Geschichte gewesen?
Vielleicht sollten alle Geschichtsschreiber Anonymus heißen.
Budapest
Geschulte Fremdenführer sind Mangelware im ständig steigenden
Fremdenverkehr. Ich hörte, wie ein Mann, der gelegentlich
Aushilfsdienste leistete, einigen deutschen Gästen die Sehenswürdigkeiten von Budapest so erklärte: „Donau linkisch! Donau rechtlich! Jetzt hinauf auf Burg! Nach Krieg lange sie hat ausgäsähän
sähr bäschießen.!“
Die Touristen lachten. Der Cicerone zog eine saure Miene und
sagte lange nichts. Dann zeigte er nach unten auf die Brücke, die
Donau und die beiden Stadtteile und sagte: „Buda linkisch, Pest
rechtlich, wie Sie ersähän. Ersähän Sie es umgedräht, es ist
umgedräht. Aber das Donau ist immer in Mitte.“
Die Leute lachten wieder. Und jetzt lachte auch der biedere
Mann, denn erspürte, daß er einen Witz gemacht hatte. Und wenn
ein Budapester spürt, daß die Leute über seine Witze lachen –
wenn es nicht eben solche sind, die mit dem letzten Krieg Zusammenhang stehen - dann freut er sich.
Da stellte einer der Touristen die Frage, warum Budapest eigentlich Budapest heiße. Der „Fremdenführer“ sagte, ohne in Verlegenheit zu kommen: „Ich habe keine Schule, aber ich kann sagen, was
sagen die Leute von däm. Pest ist gewesen immer der Pest.“
Jemand warf ein: „Die Pest“. Unser Mann ließ sich nicht beirren:
„Der Stadt ist immer gewäsen der Pest. Der Stadt hier, wo jetzt wir
stähän, ist gewäsen der Buda, oder auch was früher genannt
haben die Menschen, die Ofen.“ Jemand bemerkte: „Der Ofen.“
„Der Ciccerone blickte mürrisch drein und fuhr fort: „Dann ist noch
gewäsen eine alte Ofen, was früher genannt haben die Menschen
Óbuda.“ Eine Stimme meldete sich: „Ein alter Ofen heißt also
ungarisch Óbuda?“
Die Leute lachten. Unser Mann sagte: „Nein, eine alte Ofen heißt
ungarisch: öreg kályha, aber ich habe schon gesagt, ich habe
keine Schule und kann nur sagen, was sagen die Leute von däm.
Drei Stadt, Óbuda, Buda und Pest sind zusammengäeint geworden
gewäsen hundert Jahr bevor.“
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Da sprang ich dem Mann und dem Missverständnis zu Hilfe und
erklärte, daß der Stadtteil Pest links der Donau nichts mit der Pest,
und Buda mit Óbuda oder auch Alt-Buda rechts der Donau, nichts
mit einem Ofen gemein hätten. Das Wort Pest stamme wahrscheinlich aus dem Slawischen und habe, als hier noch rechts und
links der Donau slawische Stämme wohnten, soviel wie Hütte oder
Ofen, oder auch Talmulde, bedeutet, worum sich die Wissenschaftler allerdings noch stritten. Vielleicht könne man den Streit
beilegen, wenn man sich vorstelle, daß die Hütte ein Ofen war,
nämlich ein Hüttenofen, ein Schmelztiegel... Weniger Streit aber
gebe es um den Namen Buda. Buda sei der Bruder des Hunnenkönigs Attila gewesen, dessen Namen dieser Ort hier links der
Donau schon getragen habe, als die Ungarn noch hinter den Karpaten wohnten. Wobei das heutige Óbuda = Altofen zuerst bestanden habe.
Alle sahen mich erstaunt an, ich zog meinen Hut und ging
zufrieden weiter. Kürzlich begegnete ich dem redseligen Mann wieder, als er jemandem selbstsicher erklärte: „Unter uns sähän Sie
die Donau. Rechtlich Pest, was ist gewäsen ein Schmelztiegel, linkisch Buda, was ist gewäsen junger Bruder von Attila. Hinten
Óbuda, was ist gewäsen alter Bruder Attila. Hundert Jahre bevor
beide Buda-Bruder wurden zusammengäeint gewäsen geworden
im Schmelztiegel Pest zu Budapest. Ich habe eine Schule.“
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Ausländische Gäste
Wir hatten ausländische Gäste zu Besuch. Sie waren zum ersten
Mal hier, also wollte ich ihnen soviel wie nur möglich zeigen. Doch:
Wer die Wahl hat, hat die Qual. Es gibt allein in unserer Hauptstadt
soviel Sehenswertes, daß ich die Stadtrundfahrt ein wenig nach
der Geschichte von Budapest ausrichtete.
Zuerst zeigte ich ihnen den romantisch mittelalterlichen Stadtteil im Burgviertel von Buda mit der einmalig schönen, alten
Mátyás-Kirche; daneben das Hilton-Hotel, wo die Architekten Altes
mit Neuem vereinend, Mauerreste und Kreuzgang eines ehemaligen Klosters harmonisch in den Hotelbau eingefügt haben. Wir
tranken einen Kaffee auf der Terrasse der Fischerbastei mit herrlichem Ausblick auf die Stadt; ich erklärte die Geschichte ihres
Namens und zeigte meinen Gästen die wichtigsten Gebäude und
Anlagen jenseits der Donau.
Später auf dem Gellértberg, vor dem Befreiungsdenkmal, dem
Monumentalwerk des Bildhauers Kisfaludi Strobl, vor der riesigen
Frauengestalt, die mit erhobenen Händen einen Palmenzweig zum
Zeichen des Friedens nach Osten hält, erzählte ich Einzelheiten der
Geschichte, die unsere Stadt auf so tragische Weise mit dem letzten Weltkrieg, mit der Räterepublik 1919, den Freiheitskriegen
1848/49 und 1703-11 und mit der Christenverfolgung im 11.
Jahrhundert verbindet.
Auf dem Heldenplatz, neben dem Reiterstandbild des Fürsten
Árpád samt den sechs anderen Stammesfürsten – dahinter stehen
im Säulenrund Abbilder der bedeutendsten Könige, Fürsten und
Staatsmänner der tausendjährigen Geschichte - streifte ich kurz
die wechselvollen tragischen Geschehnisse seit dem 9. Jahrhundert, seitdem der Stammesvater Árpád dieses Land einnahm
mit ungefähr 30.000 Ungarn (Wissenschaftler streiten sich über
diese Zahl, wahrscheinlich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, denn
damals wurde noch kein Personenstandsregister geführt).
Wir gingen nebenan ins Museum der Bildenden Künste, besahen Werke alter Meister der Malerei und Bildhauerkunst aus dem
Ausland, fuhren von dort durch das Theaterviertel, vorbei an der
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Staatsoper ins Nationalmuseum. Im Museumsgarten, vor den
Stufen, die majestätisch breit zum klassizistischen Säulengang
hinaufführen, sprach ich über unseren Freiheitsdichter und
–Kämpfer Sándor Petôfi, über sein „Nationallied“, mit dem er hier
auf diesen Stufen am 15. März 1848 Zehntausende begeisterter
Budapester zur Revolution anfeuerte. Ich erwähnte dabei, daß er
ein schweres Leben hatte als Sohn einer einfachen Fleischerfamilie, als mich beim Wort „Fleischerfamilie“ einer meiner
aufmerksamen Zuhörer mit der Frage unterbrach: „Wo gibt’s hier
Salami?“
Der Anfang des „Nationalliedes“ – ich wollte es eben meinen
Gästen zitieren – blieb mir im Hals Stecken:
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Kaiser- und Königsbad
Die Frage: „Wo gibt’s hier Salami?“ katapultierte mich aus der
von Pulverdampf erfüllten Vergangenheit in unsere friedlich nach
Benzin vor sich hin stinkende Gegenwart.
Wo gibt es hier Salami? Ich wusste es nicht. Von da ab machte
sie mit den Gästen Stadt- und Landrundfahrten, von denen diese
jedes Mal glücklich zurückkehrten, mit Salami und Barack
(Aprikosenschnaps), Trachtenpuppen und Hirtenflaschen, Gulaschkesseln, Holzkellen, bestickten Pantoffeln und Gott weiß, was alles
noch.
Goethe hatte recht, als er sagte: „Wer in die Vergangenheit
geht, vergisst sich dort gern zu lang und kehrt gealtert wieder.
Also bleiben wir jung mit Salami und Barack und all dem anderen Zeug unserer glücklichen Gegenwart.
Vor einiger Zeit entstand neben dem alten Budapester Császár
fürdô (Kaiserbad) eine nach modernsten Erkenntnissen errichtete
neue Schwimmhalle. Sie wurde nach Béla Komjádi, dem verdienten Organisator des ungarischen Wasserballsports benannt.
Inzwischen erwies es sich aber, daß unsere Leute wenig von
dem Namen beeindruckt sind und weiterhin in den „Csaszi“ gehen.
Also zum Schwimmen, Baden und Sonnen dem „Kaiserli“ den
Vorzug geben, eine Befürchtung, die ich von Anfang an hegte.
Das altehrwürdige Restaurant „Gundel“ im Budapester Stadtwäldchen (seit Jahren wegen Renovierung, für weitere Jahre
wegen Renovierung geschlossen) scheint mir dafür die glaubhafte
Bestätigung zu liefern. Es wurde nämlich von den Gästen erst wiederentdeckt und ein beliebter Ort der „inneren“ Einkehr, als man
auf den glücklichen Einfall kam, diesem Lokal mit der komfortablen Innenausstattung, guter Bedienung und Küche, den alten
Namen „Gundel“ einer sehr ehrbaren Familie nahmhafter Budapester Gastronomen wiederzugeben.
Aber zurück zum Kaiserbad. Woher stammt der Name? Wir hatten nie einen Kaiser. Die Römer jedoch, die hier schon vor der
Zeitenwende warme Quellen entdeckten, könnten mit ihrem lateinischen Cäsar zum ungarischen Császár beigetragen haben. 1832
fand man einen Sarkophag an jener Stelle, der einem der römischen Cäsaren als letzte Ruhestätte diente.
Es ist kaum anzunehmen, daß österreichische oder deutsche
Kaiser hierher zum Baden gereist sind. Die hatten´s doch in Baden
bei Wien oder meinetwegen auch in Karlsbad viel näher.
Am Eingang des alten Kaiserbades ist auf einem Stück roten
Marmor eine türkische Inschrift aus dem 16. Jahrhundert erhalten
geblieben. Und da wir jedem Hinweis dankbar sind, mag er von
den Römern, den Österreichern oder den Türken stammen, gilt
auch diesem unsere Aufmerksamkeit. Nur leider, gebricht es mir
an türkisch. Trösten wir uns, hinter den Namensgeschichten verbergen sich oft schöne Geschichten oder gar keine. Da steht zum
Beispiel in der Budapester Fô utca das Király fürdô (Königsbad).
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Auf! Die Heimat ruft, Magyaren!
Jetzt heißt´s: Sich zusammenscharen!
Wollt ihr frei sein oder Knechte?
Hier die Frage, wählt das Rechte!
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Noch heute ist die achteckige Badehalle in Betrieb, die im Jahre
1566 durch Pascha Sokoli Mustafa ihrer Bestimmung übergeben
wurde. Im warmen Wasser sitzend, kann sich jeder, der Phantasie
besitzt, vorstellen, wie hier einst auf dem noch heute erhalten
gebliebenen Boden des Beckens aus rotem Marmor die Haremsdamen ihren Pascha umplanscht haben. Durch die Butzenscheiben
im Kuppeldach fällt sanftes Licht. Kaum ein lautes Wort stört die
Gedanken. Das leise Plätschern des Wassers wirkt einschläfernd.
Auch das Baden erheischt Kultur. Wir haben sie unter dem türkischen Halbmond übernommen und pflegen sie weiter mit kleinen
Lendentüchern, die, mir ganz unverständlich, von manchen vorne
und von anderen hinten getragen werden. Es schickt sich nicht,
danach zu fragen, warum.
Doch warum diese anscheinend für die Ewigkeit gebaute Türkensauna Königsbad genannt wird, danach darf man fragen.
Nachdem die Türken endlich wieder zu Hause badeten – man
half ihnen dabei ein bißchen nach - wurde das Bad nicht etwa
einem ungarischen König zuliebe so benannt, sondern nach der
Budapester Familie Király (König), die genügend Geld besaß erhielt seinen Namen einfach nach dem Beruf z.B. Szabó =
Schneider, Molnár = Müller oder Kovács = Schmied. Und wer gar
keins hatte, hieß eben Fekete =Schwarz oder Fehér = Weiß.
Heutzutage jedoch baden Schwarz und Weiß, Kovács und Szabó
gleichermaßen für einen Pappenstiel oder gar auf Kosten der Krankenkasse im ehemaligen türkischen Haremsbad, oder deutschösterreichisch-ungarischen „Kaiser- und König-Gesundungs- oder
Reinigungsdomizil“ von gestern, dem Volksvergnügungsort von
heute.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Hauptstädtische
Hauptstadt
Es gibt bei uns einen hauptstädtischen Zirkus, hauptstädtische
Modesalons, das Hauptstädtische Operettentheater. Wir fahren in
hauptstädtischen Straßenbahnen, Bussen oder Taxen in die hauptstädtischen Bäder oder zum hauptstädtischen Lunapark. Das Brot
der hauptstädtischen Bäckereien ist nicht besser als das Brot aus
Miskolc, der zweitgrößten Stadt, wie auch die meisten hauptstädtischen Künstler nicht besser spielen als die aus Debrecen oder
Pécs. Aber dennoch unterstützen manche Programmgestalter in
der Provinz den hauptstädtischen Fimmel und drucken aufs Plakat:
„Heute bunter Abend unter Mitwirkung von hauptstädtischen
Künstlern.“
Dieser Tage las ich auf einem amtlichen Briefkopf die Anschrift:
„An das Budapester Hauptstädtische Gesundheitsamt im Budapester Hauptstädtischen Rat.“
Als wolle man immer wieder mit Nachdruck betonen, daß Budapest und eben keine andere die Hauptstadt des Landes ist.
Dafür gibt es Erklärungen.
Budapest feierte 1972/73 sein hundertjähriges Bestehen. 1872
wurden die drei damals noch getrennten Städte Óbuda, Buda und
Pest zu Budapest vereint. Als sich Budapest danach zur Metropole
entwickelte, wuchs eine stille Konkurrenz zur alten Kaiserstadt
Wien. Da hieß es auf einmal: Budapest, die Perle der Donau!
Prachtbauten entstanden und Prachtstraßen. Am Donaukorso ging
die Welt spazieren. Ja, es gab sogar Ansätze, Wien den Rang abzulaufen, wenn man an den Bau der Untergrundbahn denkt, die im
Jahre 1896 nach London die zweite in Europa war, oder nehmen
wir die prachtvollen Anlagen auf der Margareteninsel, die bizarre
Fischerbastei, das märchenhafte Parlamentsgebäude, das Hotel
Gellért mit Wellenschwimmbad usw. bis zu den einmalig schönen
Brücken zwischen Buda und Pest. Unter solchem Blickpunkt mag
man die sprachliche Schrulle von der hauptstädtischen Hauptstadt
mit einem Lächeln verzeihen, denn Budapest ist mit seinen über
71
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
zwei Millionen Einwohnern nicht nur das Zentrum des Landes, sondern hat auch eines der schönsten weltstädtischen Gesichter.
Die neue U-Bahn, nach dem Muster der Moskauer Metro gebaut, durchfährt heute die Donau von unten. In der Innenstadt
geht es drunter und drüber. Und am Rande wachsen in rasantem
Tempo Wohnsiedlungen, Kinderspielplätze, Schulen, Einkaufszentren und Sportanlagen.
Und dennoch, und dennoch! Sieht man genau hin, fehlt es noch
an manchem in und an der hauptstädtischen Hauptstadt. Vielleicht,
weil sie uns niemand mehr streitig macht?
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Der Burgbauer
140 Burgen und Burgruinen sind in Ungarn stumme Zeugen
mittelalterlicher Lebensgewohnheiten. Im Anblick dieser mehr
oder weniger erhaltenen Ringmauern, Wehr- oder Wohntürme,
Rondelle und Kasematten mache ich mir immer wieder Gedanken
über die so viel schnellere Vergänglichkeit unserer heutigen Lebensspuren.
Ähnliches muß auch der Mann gedacht haben, der am Rande
der Stadt Sopron seit 15 Jahren an seiner Turmburg baut und nach
eigenen Aussagen bis zum 60. Lebensjahr – jetzt ist er 45 – damit
fertig sein will. Es hat sich schon im Lande herumgesprochen, daß
da ein Familienvater in jeder Stunde seiner Freizeit – er arbeitet
als Färber in der Soproner Tuchfabrik – mit Hilfe seiner Familienmitglieder in mühseliger Arbeit Stein auf Stein trägt. Zwei oder
drei Türme sind schon fertig, von deren Spitzen hoch über der
Stadt sich klirrende Metallfahnen im Winde drehen.
Ich weiß nicht, ob István Taródi sich in seinen Türmen verteidigen oder ob er nur viel Aussicht schaffen will. Bisher konnten die
Verantwortlichen in der Abteilung für Städtebau des Soproner
Stadtrates dem komischen Kauz seine mittelalterlichen Gedanken
und Pläne nicht ausreden und müssen sich nun wohl oder übel
damit abfinden, daß Sopron – es hieß einmal Ödenburg – allen
Besuchern neben den alten sehenswerten Burgmauern auch funkelnagelneue zu bieten hat.
Wie es auch immer war, als einst hierzulande die 140 Burgen
entstanden sind, ihre Geschichten sind sich doch sehr ähnlich. Sie
zeigen oder lassen ahnen, wie Burgherren und Burgfräuleins in
ihren Zinnen die Zeit oder sich gegenseitig vertrieben, wie sie
Angreifer abgewehrt oder um ihr Leben gegen Türken oder Habsburger gekämpft haben.
Nun gibt es eine Grenzburg, in der alle Besucher kommender
Jahrhunderte sich davon überzeugen können, wie im 20. Jahrhundert ein einfacher Soproner Tuchfabrikarbeiter gearbeitet, gelebt
und mit den Behörden um die Baugenehmigung gekämpft hat.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Jury
Die Jury ist eine Körperschaft. Nähme man sie auseinander, wäre
sie sinnlos wie ein Körper ohne Schaft. Eine Jury besteht aus mehreren Meinungen und Tafeln mit Nummern von 1 bis 10, die, vom
Computer schnell zusammengerechnet, eine Zahl ergeben als Bewertung für Schlagersänger, Schlittschuhläufer, Schauspieler, Dirigenten und ähnliche Wettstreiter, die wissen wollen, wer von ihnen
Erster, Zweiter oder Dritter ist. Ein mit Beethoven oder Bartók um
eine Zehntelsekunde schneller durch die Noten jagen; doch ob er
am Schluß Erster oder Letzter wird, entscheidet nicht die Stoppuhr, sondern die Jury.
Wir hatten im Fernsehen, dem größten Kommunikationsmittel
auf der Welt zur Bildung einerseits und zur Verdummung andererseits, erst kürzlich wieder eine internationale Jury aus halb Europa
zu Gast, die darüber abstimmte, wer von unseren jüngsten Schlagersängern und Beatmusikern die drei besten im Lande sind. Da
saßen sie beim Endentscheid im Budapester Nationaltheater – ich
hätte sie mir eher in eine Sporthalle gewünscht – den ganzen weiten Rang entlang: zehn, zwanzig, dreißig, ich weiß nicht wie viel
Personen, schön bunt durcheinander mit den Nummernschildern
zwischen den Knien. Und jedes Mal wenn die Fernsehkamera an
ihnen entlang fuhr, hoben sie mit grinsenden oder todernsten
Gesichtern ihre Meinungen hoch, vom Publikum beklatscht oder
ausgepfiffen. Aber auch das Publikum spielte im weitesten Sinne
als Jury mit; ihm war das Recht vorbehalten, seine Punktzahl per
Post einzusenden und auf diese Weise Sänger oder Musikensembles aus der Versenkung, in die sie durch die Jury gefallen
waren, wieder ans Rampenlicht zu befördern.
All das hat viel Mühe und viel Geld gekostet. Ein ganzes Volk
weiß nun, wer fürs Schlagersingen, Spielen und Popowackeln die
ersten drei Preise und dazu hohe Summen bekam. Und die ferner
liefen, erzählen es nun überall, daß sie wenigstens mit dabei waren.
Ich habe darüber nachgedacht. Ließe sich denn nicht mit dem
Aufwand einer solchen Jury einmal feststellen, wer die ersten Straßenbauarbeiter bei uns sind? Die höflichsten Verkäufer und Be74
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
amten? Die schnellsten Bauarbeiter, Postboten? Die ehrlichsten
Kellner? Die pünktlichsten Lokomotivführer und Büroangestellten?
Die gründlichsten Automonteure und –Wäscher? Die anständigsten Marktweiber und Ehemänner? Die saubersten Putzfrauen und
Serviererinnen? Die treuesten Ärzte und Ehefrauen? Die
sparsamsten Kalkulateure und Mütter? Die sichersten Piloten und
Staatsmänner? Die klügsten Lehrer und Fernsehkommentatoren?
Kurz: Wer die Freundlichsten, Hilfsbereitesten, Selbstlosesten,
Gutgelauntesten und Fleißigsten unter uns sind?
Dafür würde ich im größten Saal auch meine winzig kleine
Stimme gern in die Waagschale werfen.
Muffeltiere
Wer in den Budapester Straßen oder vor den Hotels Hirschgeweihe
auf Dächern von Autos sieht, der weiß, jetzt ist in den Jagdgefilden
etwas los.
Eben zu jener Zeit geschah es, daß ein „Jäger aus Kurpfalz“ in
den Piliser Bergen – dem herrlichen Jagdrevier, eine halbe Autostunde von der Hauptstraße entfernt – einen prächtigen Mufflon
erlegte. Und da der Jägersmann, verwundert über sein Jagdglück,
danach fragte, woher sich denn diese Wildschafe mit dem schönen, querrunzligen Schneckengehörn in die ungarischen Wälder
verlaufen hätten, erzählte man ihm, daß vor Jahrzehnten aus
Korsika ein paar Muffeltiere hier ausgesetzt worden seien, sich
seitdem in ihrer neuen Heimat zu ihrem eigenen und zum Glück
der Jäger beträchtlich vermehrt hätten und sich bis zum Abschuß
ausgezeichneter Gesundheit erfreuten. In der nächsten Saison reiste nun der Jäger auf die Insel Korsika, um diesen Widdern in ihrer
Urheimat auf die Spur zu kommen. Doch vergeblich kraxelte er die
weißen Felsen hoch und suchte sie in allen Jagdrevieren. Als er bei
der Bevölkerung und schließlich beim Bürgermeister einer kleinen
Stadt nach ihnen fragte, erhielt er die Auskunft, daß diese Tiere
dort ausgestorben sind, genauer gesagt, im letzten Weltkrieg von
hungrigen Menschen aufgegessen wurden. Auch das letzte Muffeltier habe dran glauben müssen.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
„Aber in Ungarn leben sie“ – verkündete der Jäger und erzählte, wie er dort selbst eins erlegt hatte. Der Bürgermeister horchte
auf, suchte Verbindung zu den hiesigen Stellen und es dauerte
nicht lange, bis vom Forstzentrum in Piliscsaba 10 Wildschafe aus
der Piliser Bergwelt in Korsika eintrafen.
Nun bleibt nur zu hoffen, daß sie sich in ihrer einstigen Heimat
wieder einleben. Ich habe noch nie einen Widder gekostet, aber
gehört, daß er gut zubereitet großartig schmecken soll.
Darum könnte es geschehen, daß der Piliser Muffel als paprikás
gulyás oder Jungfernbraten bei uns in Mode kommt und sich für
In- und Ausländer zur Delikatesse empormuffelt. Und wenn es
darum vielleicht bei uns keine Muffeltiere mehr geben wird, da sie
alle zur Strecke gebracht oder verzehrt worden sind, dann können
wir uns ja wieder von der Insel Korsika ein paar ungarische
Wildschafe holen.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Rákóczi- und
Pandur-Quelle
Jeder Ungar wird hellhörig, wenn er im Ausland über seine Heimat
Worte vernimmt wie: Puszta, Paprika, Salami, Gulasch, Tschardasch oder Piroschka.
In Bad Kissingen, dem bekannten Staatsbad in Bayern, heißen
die ältesten Heilquellen Rákóczi und Pandur. In der Verordnung zur
Trinkkur steht unter anderem: „Morgens nüchtern am Brunnen
langsam trinken: 1 Glas 200-300 Gramm Rákóczi warm entgast,
danach 20 Minuten gehen.“
Ein Ungar geht mit seinem Trinkglas durch die große Wandelhalle, oder bei schönem Wetter vorbei am Regentenbau, durch
gepflegte Gartenanlagen. Und während die Mineralquelle in ihrer
Verbindung von Chlornatrium, Eisen und Kohlensäure eine Anregung der Schleimhautfunktion sowie einen gelinden Anreiz der
Darmtätigkeit bewirkt, zur Steigerung des Appetits, zur Beschleunigung des Blutkreislaufs und zur Förderung des Stoffwechsels
beiträgt, durchdringt Rákóczi auch sein Klein- und Großhirn.
Neben blitzblank geputzten Messingrohren, während niedliche
Kissingerinnen „Rákóczi“ aus dem Hahn lassen, bittet ein beleibter
Herr um ein Glas Brunnenwasser von Rakotschi – mit Betonung
auf dem o. Dem Ohr des Ungarn ein Greuel, der darum verbessert: „Gestatten Sie, darauf aufmerksam machen zu dürfen, daß
das cz in Rákóczi wie ein tz gesprochen wird und die Betonung auf
dem á liegt.“ Der Angesprochene ist erstaunt. So was, er hat
immer nur was von Rakotschi gehört. Auf völlig falscher Spur aber
ist, wer auch noch das „t“ verschluckt.
Man kommt beim Weitergehen ins Gespräch. „Warum wurden
die Quellen hier eigentlich nach Rákóczi und dem Pandur benannt?“ fragt der Ungar. Sein Gegenüber weiß es nicht. Die Frau
neben ihm auch nicht. Eines der Brunnenmädchen dreht Rákóczi
den Hahn ab und macht große Augen: „Rakotschi und Pandur...?
Ja, so heißen die Quellen, aber warum...?“ Sie hebt die Schultern
und lächelt bayerisch-fränkisch-freundlich.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Der Ungar aber will es wissen. Er fragt die Garderobenfrau vor
dem Lesesaal, den Mann, der die Zeitungen abhängt, den Ober im
Kurcafé und den im Spielkasino. Niemand kann Auskunft geben.
Endlich, in der Kurverwaltung, überreicht man ihm Prospekte und
Broschüren mit der Bemerkung: „Da steht alles über Kissingen
und seine Bäder.“ Alles ist gut. Zwar ist sehr gründlich die Wirkung
von sechs Quellen auf die verschiedensten Leiden beschrieben,
aber kein Wort darüber, warum mit Rákóczi und Pandur gekurt und
geheilt wird. In jeder Saison ein großer Kurball. Auf den Einladungen steht: „Fürst Rákóczi gibt sich die Ehre...“ Wo aber steht,
wer er war, woher er kam, ob er mit dem Wasser oder das Wasser
mit ihm etwas zu tun hatte.
Nun, so soll die schnell vergessende Welt wissen, daß Ferenc
Rákóczi II. von 1703 bis 1711 an der Spitze eines Freiheitskrieges,
gemeinsam mit vielen anderen Patrioten, für die Unabhängigkeit
seiner Heimat gegen das Wiener Kaiserhaus gekämpft hat. Im
Jahre 1701 brachten ihn seine Häscher, die Panduren – ein im
Dienst der Habsburger stehender Soldat hieß ungarisch pandúr –
nach Wiener Neustadt und von dort in den Kerker. Seine Frau – die
Tochter des Landgrafen von Hessen-Rheinfels- befreite ihn und
verhalf ihm zur Flucht nach Polen. Rákóczi wurde vom kaiserlichen
Hof zum Tode und zum Verlust seiner Güter verurteilt. 1703 suchten ihn die Anführer der aufständischen Leibeigenen auf.
An ihrer Spitze, im Bund mit einigen patriotisch gesinnten
Adelsherren, rief er die Nation zum Aufstand gegen die habsburgische Unterdrückung auf. Sieben Jahre lang führte er mit seinen
Soldaten, den Kurutzen, diesen Freiheitskrieg, den am 1. Mai 1711
die Adelsherren ohne sein Wissen mit dem Frieden von Szatmár
beendeten. Rákóczi nämlich, 1707 zum Fürsten proklamiert, verhandelte damals in Petersburg mit dem Zaren. Er floh von dort zunächst nach Polen, dann nach Frankreich und emigrierte schließlich 1717 in die Türkei. Dort, in Rodosto, starb er am 8. April 1735.
Die Quellen von Kissingen wurden 1737 entdeckt. Um diese Zeit
lebten nur mehr die Häscher, die Panduren. Wo und wem aber der
Gedanke kam, die Quellen nach ihm, dem Revolutionär, und seinen Häschern Rákóczi und Pandur zu benennen, konnte der Ungar
nicht ausfindig machen. Er fand es nur symbolisch, daß ihm die
Kur aus dem Pandurbrunnen, das heißt aus der Quelle der
Häscher, nicht verordnet wurde. Wahrscheinlich wusste wenigstens einer, der weise Kurarzt, warum.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Puskás´ Telefonzentrale
Wer den Namen Puskás hört, denkt heute immer zuerst an den,
der zusammen mit den anderen sogenannten aranylábú fiúk
(goldfüßigen Jungen) im Jahre 1953 den Engländern im Wembley
Stadion die Niederlage von 6:3 beibrachte – und später „die Fahne
verließ“.
Doch man sollte auch den anderen Puskás, den, der vor ihm
lebte, nicht vergessen, der Edisons Mitarbeiter war und am 11.
Februar 1887 für die im Entstehen begriffene Welt der Quasselstrippe, für die erste Budapester Telefonzentrale, seine bedeutende Erfindung, den Multiplex-Schaltkasten, aufgestellt hatte. Man
muß sich diese Sensation nur einmal vorstellen! Da nahm der
glückliche Telefonbesitzer den Hörer ab, worauf sich eine liebliche
Stimme meldete: Hier Puskás-Zentrale! Oder so etwas. Der Mensch
am Ende des Drahtes nannte die Nummer, mit der er zu sprechen
wünschte – und die Verbindung war hergestellt. Und wie viele
Drähte es auch gab, und wie viele Sprechmuscheln an ihren
Enden, so viele konnten, wenn sie wollten, auf einmal miteinander
reden und sich auch über weite Entfernungen verstehen.
In Puskás´ Schaltkasten klappte es immer. Vielleicht hat das
Wort „klappen“ hier sogar seinen Ursprung. Dann hätten die Ungarn der Welt nicht nur Tivadar Puskás geschenkt, sondern auch
den Ausdruck, daß etwas klappt, wenn es geklappt hat.
90 Jahre danach nehme ich von meinem schmucken weißen
Telefonapparat den Hörer ab und warte, warte auf das Zeichen,
den Summton unserer automatischen Telefonzentrale. Ich höre
deutlich, wie in meiner Muschel andere sprechen, nicht nur einer,
sondern mehrere durcheinander, dazwischen ist auch das Besetztzeichen zu hören und das Klingeln für jemanden, der vielleicht
nicht zu Hause ist oder den Hörer nicht abhebt, weil er schlafen
will. Nur das Zeichen, daß ich wählen kann, bleibt aus. Ich lege
den Hörer einige Sekunden auf, in der Hoffnung, daß sich das
Durcheinander in der Automatik legen werde. Als ich ihn wieder
abnehme, vernehme ich das gleiche Stimm- und Tonwirrwarr.
Jetzt halte ich mit der rechten Hand den Hörer ans Ohr und
beginne mit der linken die Taste zu drücken, zuerst langsam, schön
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
ruhig, im Rhythmus der Vernunft und des Verständnisses für den
Unverstand einer Automatik, die durch alle möglichen Einflüsse
aus den Fugen geraten zu sein scheint. Nach zwei bis drei Minuten
wird der Rhythmus des Niederdrückens unwillkürlich schneller und
immer schneller, bis die Nerven in den Fingerspitzen durchdrehen,
ich die Wählerscheibe ziehe, rupfe, stoße und das ganze Ding auf
den Tisch haue. Verflucht! Es muß doch.. Nein, es muß nicht! Eine
Automatik hat kein Gefühl für meine Emotionen. Ich nehme Mantel
und Hut, laufe zur nächsten öffentlichen Telefonzelle und rufe die
Störungsstelle an. Besetzt! Besetzt! Ich fahre in meine Telefonzentrale. Höflich führt man mich in einen Saal, wo sich dauernd
und mit großem Lärm unzählige Scheiben auf vertikalen Achsen
drehen. Aber nichts klappt hier mehr wie bei Puskás.
Woran es liegt, will ich wissen. Der Verantwortliche weiß es
auch nicht. Die Zentrale ist einfach überlastet! Es gibt zu viele
Anschlüsse! Es wird zu viel geredet! Es muß was getan werden!
Wo ist ein neuer Puskás? Wir brauchten dringend einen hier – und
den anderen auf dem Fußballplatz.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Die Postleitzahl
Auch in Ungarn werden schon seit längerer Zeit auf Briefen und
Karten Zahlen unter die Namen der Dörfer, Städte und Stadtbezirke gesetzt, um der Post die Verteilung zu erleichtern. Auch bei
uns war es für die Briefschreiber gewiß nicht einfach, sich an diese
Umstellung zu gewöhnen; den erstens sollte die eigene vierstellige Postleitzahl des Absenders auswendig gelernt, und dann bei
jedem Brief, jeder Karte im eigens dafür herausgegebenen Büchlein die entsprechende Zahl für den bestimmten Ort bzw. Straße
gesucht werden.
Da gibt es also das bekannte Heftchen mit dem rotschnabeligen
Raben auf dem Deckel. (Übrigens der Rabe aus dem Wappen des
Matthias Corvinus, der laut Legende dem jungen Matthias, als er
noch nicht König, sondern Gefangener des böhmischen Königs
war, in wenigen Stunden den Brief seiner Mutter im Schnabel übermittelte.)
Das Heft also enthält eine Unmenge Zahlen, alphabetisch geordnet für alle neuen Postleitbezirke, in die die Hauptstadt eingeteilt ist. Es gibt aber außerdem noch ein gleiches Heft mit den
Zahlen für die anderen fünf Großstädte und ihre Bezirke. Wer also
die Postleitzahlen der Stadt Debrecen sucht, findet sie in dem andren Büchlein.
Sucht man jedoch nach den Leitzahlen von Székesfehérvár –
eine ebenfalls alte und ansehnliche Stadt, so findet man sie in
einem dritten Büchlein. Natürlich hätte man bei der Post auch alle
drei in einem vereinen, ich meine zum Beispiel bei Budapest
anstelle des Hinweises auf die Stadtbezirksleitzahlen im anderen
Heft, diese gleich fortlaufend aufführen können. Aber das wäre zu
einfach. Auf einen so einfachen Gedanken kommen im Allgemeinen die Menschen schwerlich, die von und mit Postleitzahlen
leben. Man ist da sozusagen von Zahlen berauscht, befangen,
gefangen. Das beweist schon, daß es in Budapest mit den Leitzahlen der Bezirke erst bei 1.000 beginnt, obwohl es doch nach
Adam Riese bei1 beginnen könnte.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Als ich diesen einfachen, aber, ich gebe zu, recht unfachkundigen
Gedanken einmal habe laut werden lassen, schüttelten die Fachleute von der Post über einen derartigen Unsinn ihre zahlenträchtigen Köpfe; denn das gäbe doch Anlaß zu unmöglichen Verwechslungen. Ich habe darüber selbstkritisch nachgedacht und bin zu
dem Schluß gekommen, daß zum Beispiel bei 1.000 doch viel
leichter eine Null vergessen, weggelassen werden kann, als bei
einer Zahl, bei der es keine Nullen gibt. Abgesehen davon ist es
mir nicht gleichgültig, ob die Nullen rechts stehen oder links.
Wie doch aber auch ohne alle Postleitzahlen, ja selbst ohne
Adresse einer seinen Brief erhält, bewies mir kürzlich folgende
kleine Begebenheit: Ein Landmann – man sah es an seiner Festtagskleidung, dem schwarzen Hut, der schwarzen Joppe, der in
schwarzen Schaftstiefeln steckenden Hose – machte Winterurlaub
vom Arbeitsplatz, von Haus und Familie in einem der Gewerkschaftsheime der Budaer Berge. Er schrieb schwer – ich sah es ihm
an – an einer Budapester Ansichtskarte nach Haus. Als Adresse
stand nichts weiter als:
„An meine Frau in Fenékpuszta.
Wenn sie nicht hinten im Gärtchen ist, ist sie in der Küche.“
Und welch Wunder, die Karte ist angekommen.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Der Déli pu.
Kürzlich antwortete jemand auf meine Frage, woher er komme
und wohin er jetzt gehe: „Ich komme vom Keleti pu. Und fahre
jetzt zum Déli pu.“
Was meint er mit pu, dachte ich, und fragte vorsichtig, um ihn
nicht zu verletzen wegen des offensichtlich falsch verstandenen
Wortes: „Verzeihung, ich habe nicht gut hingehört, wohin fahren
Sie jetzt?“ Er wiederholte es deutlich“ ...zum Déli pu.“, wobei er
das Déli = Südlich ganz richtig auf der ersten Silbe mit einem langen é betonte. Aber was pu ist, wollte ich wissen: „Na, der pu, der
Bahnhof da!“ antwortete der Gast mit Sicherheit und ein wenig
Entrüstung in der Stimme. Er hatte recht. Es ist mir und sicher
auch manch andrem überhaupt noch nicht aufgefallen, daß die
Abkürzung von pályaudvar = Bahnhof, also die ersten beiden
Anfangsbuchstaben von pálya und udvar: pu., nicht nur am Bahnhof selbst, sondern sogar im Budapester Telefonbuch steht. Die
Einheimischen lassen das Wort Bahnhof aus Bequemlichkeit fort,
wenn sie sagen: A Délirôl indulok = ich fahre vom Südlichen ab,
also vom Südbahnhof. Es gibt in Budapest drei bedeutende Bahnhöfe, von denen man ab- und anreisen kann: a Keleti, a Nyugati
és a Déli pályaudvar = der Ost-, der West- und der Südbahnhof.
Die Abkürzung pu. Steht zwar daneben, aber niemand gebraucht
sie. Und wenn es ein Fremder so sagt, wie es da steht, kann es
missverstanden werden. Der pu. so für sich gesprochen, könnte
fast etwas anderes bedeuten. Sie verstehen? Aber das ist die
Schuld derer, die sich mit all ihren Abkürzungen fast lächerlich
machen.
Übrigens gehört es zu den originellen Gegensätzen, daß wer
aus dem Westen zu uns reist, immer am Keleti, also am Östlichen
ankommt. Reisen Sie vom Osten her an, steigen Sie am Nyugati,
am Westlichen aus. Aber wenn Sie weiter wollen in Richtung
Balaton, müssen Sie durch Pest – wenn der Budapester von seiner
Hauptstadt spricht, lässt er Buda nur so aus Bequemlichkeit weg
– zum Déli, also zum Südlichen. Und mit dem pu. machen Sie´s
am besten so wie wir, verschweigen Sie ihn.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Citadella
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Vielleicht wusste es mein Großvater noch, wer damals die vielen Kanonen abgeholt hat, die da ringsum in den Schießscharten
auf Pest und Buda gerichtet waren. Ich weiß nur, daß sich die
Citadella zwischen den beiden Weltkriegen zum idealen Platz der
Sterngucker verwandelte, und daß sie im letzten Weltkrieg mit
Geschützen der Nazis bestückt war, die jetzt nicht nur nach unten,
auf die Stadt, sondern auch nach oben auf Flugzeuge schossen.
„Komm mit“ sagte ich zu meinem Gast, „ich zeig´ Dir die Citadella von heute.“ Am Tor, an dem es vor 1945 nur auf eine geheime Tagesparole Einlaß gab, bezahlt man heute einen geringen
Eintritt und gelangt über Kopfsteinpflaster in den Innenhof. Dort,
wo einst Soldaten gedrillt wurden, werden jetzt Hühner in Fett
gegrillt und nur geschäftig umherlaufende Kellner schwitzen unter
der Last ihrer vollen Tabletts zwischen den immer besetzten
Tischen eines dort eingerichteten Restaurants. Die ehemaligen
Kasematten im Innern dienen heute als Jugendhotel. Und tief
unten in den Gewölben, wo einst Pulver und Kugeln gelagert
waren, laden bunt gedeckte Tische zu ungarischem Schmaus mit
Zigeunermusikbegleitung ein. Hier kann man vom Wein berauscht
singen: Im tiefen Keller... oder ein neues Lied über die Lust zum
Leben in Frieden und Freiheit.
Ein Gast aus Berlin, zum ersten Mal in Budapest, zeigte am Fuß
des Gellértberges auf ein Straßenschild mit einem Pfeil, über dem
„Citadella“ geschrieben stand und sagte: „Ach, da gib´s wohl
Wurscht!“ Er hatte die Citadella mit der Mortadella verwechselt.
Auweia! Wir sollten einsichtig sein. Wir sind schon soweit weg von
dem Wort Citadella, daß man es verzeihen kann, wenn jemandem
bei dieser Aufschrift die Zervelatwurst auf der Zunge liegt. Außerdem wird die italienische Citadella deutsch schon längst Zitadelle
geschrieben. Wir aber halten noch bei der älteren, schöneren
Schreibweise, denn abgesehen von dem C – auch den ungarischen
Zement schreibt man cement – finde ich das –della am Schluß
schöner als die –delle. Obwohl gerade bei dieser Festung eine
Delle den Anfang vom Ende bedeutete. Über dem Eingang hat
nämlich dieses fast 130 Jahre alte Gemäuer ein sichtbar großes
Loch, das nicht der letzte Krieg als Andenken hinterließ.
An ihn erinnert das Befreiungsdenkmal an der östlichen Spitze
der Citadella – das Monumentalwerk des Bildhauers Kisfaludi
Strobl-, auf dessen Sockel auf der einen Seite der Drachentöter,
auf der anderen der Fackelträger steht. In der Mitte, wo die Namen
hunderter gefallener Sowjetsoldaten eingemeißelt sind, erhebt
sich eine 30 Meter hohe Frauengestalt, den Palmenzweig in den
erhobenen Händen haltend.
Die Delle aber über dem Eingang, ungefähr sieben Meter hoch
aus der vier Meter dicken Mauer gerissen, erinnert auch an eine
Befreiung, die jedoch nur so groß war, wie der Spalt im Verhältnis
zur gesamten Riesenfestung.
Vor rund 90 Jahren als der Kaiser in Wien einsehen musste, daß
man mit den Ungarn auf solche Weise nicht weiterkommt, wenn
man ihre Hauptstadt von dieser Festung aus – er selbst hat sie
1851 nach der niedergeschlagenen Revolution und dem Freiheitskrieg 1848/49 bauen lassen – von österreichischen Landsern
bewachen lässt, wurde jenes Loch als Symbol des neuen Geschichtsabschnittes zwischen Österreich und Ungarn über dem
Eingang zur Citadella gesprengt.
Es geschah zum ersten Weihnachtsfest nach dem letzten Weltkrieg, als sich Freunde in der Schweiz brieflich danach erkundigten, womit sie zum bevorstehenden Fest eine Freude machen
könnten. Der Familienrat beschloß für jedes Mitglied das zu nennen, was in den Grenzen der Bescheidenheit lag und in denen der
Notwendigkeit. Für mich wurde der Wunsch nach einem weißen
Oberhemd beschlossen, denn nur noch ein einziges war mir geblieben. Aber auch dieses eine Hemd war deutlich von der Zeit
mitgenommen. Aus dem Gesäßteil hatte die Flickschneiderin ein
Viereck ausgeschnitten, als der Kragen zum erstenmal unansehnlich und untragbar geworden war und machte aus jenem ausgeschnittenen Stück Hemd einen neuen Kragen. Sie setzte dafür
einen buntkarierten Fleck ein. Ich erinnere mich, daß die Man
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Das Weihnachtsgeschenk
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
schetten zu gleicher Zeit umgedreht worden waren und so für
lange Zeit mir und der Umwelt den Schein eines neuen Hemdes
vortäuschten. Aber der Krieg hielt länger an, als Kragen und Manschetten aushielten.
So wurde denn dieses Hemd nicht nur als Zeichen des Notstandes an die Adresse jener guten Schweizer Freunde gesandt,
sondern auch um die genaue Kragenweite anzugeben. Die Freunde,
sicherlich zutiefst gerührt von unserem Elend, ließen fünft maßgeschneiderte Hemden aus bester Qualität nach vorliegendem Muster
nachfertigen. Und allen fünf wurde am Gesäß ein viereckiges, buntkariertes Stück Stoff eingenäht. Man möge sich den Schreck und
das Gelächter beim Anblick dieses Weihnachtsgeschenks vorstellen. Was müssen sich wohl die Freunde in der Schweiz und die
Hemdennäherin für Gedanken über uns Ungarn gemacht haben, bis
sie sich dazu entschlossen, dieses buntkarierte Viereck in das
Hinterteil des Oberhemdes einsetzen zu lassen.
Ich trug die Hemden lange. Aber um den guten Menschen ihre
Freude nicht zu verderben, haben wir nie in den Dankesbriefen
etwas davon erwähnt.
Nach schweren Nachkriegsjahren zog langsam auch bei uns ein
relativer Wohlstand ein. Wir kauften nicht nur Hemden und neue
Kleider, sondern auch neue Möbel und ein Auto. Wir machten
Reisen ins Ausland und besuchten auch unsere Freunde in der
Schweiz. Und für viel Genossenes revanchierten wir uns, indem
wir sei nun endlich einmal nach Budapest einluden. Sie kamen mit
Freude und vielen Weihnachtsgeschenken. Nichts hatten sie vergessen. Nicht einmal meine Kragenweite. Und so lagen denn unter
dem Weihnachtsbaum für mich drei prachtvolle, nach neuester
Mode auf Taille gearbeitete, feinste, weiße Batisthemden. Doch als
ich am nächsten Tag unseren Gästen zu Ehren eines der Hemden
anziehen wollte, fand ich im Gesäßteil wieder den viereckig eingesetzten buntkarierten Flicken. Tragikomische Erinnerungen! Nun
aber müssen sie endlich erfahren – und alle sollen es wissen, die
sich in der Schweiz seit 30 Jahren über dieses mysteriöse bunte
Stück Stoff im Hinterteil der Herrenhemden ungarischer Männer
den Kopf zerbrochen haben, die womöglich daran dachten... ich
wage diesen Gedanken nicht niederzuschreiben ... Sie alle müssen
die wahre Bedeutung dieses karierten Hinterteils endlich erfahren.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Das Zsóri-Bad
und die Zivilisation
Am Rande von Mezôkövesd, der kleinen Stadt in Nordungarn, woher die berühmten Matyó-Stickereien kommen, ließ einst ein reicher Mann namens Zsóri nach Öl bohren und stieß in nicht geringer Tiefe auf heißes Quellwasser, das seitdem mit über 70 Grad
Celsius, an Mineralien reich, aus der Erde sprudelt. Da er mit Öl
also kein Geld verdienen konnte, ließ er an Ort und Stelle ein kleines Wasserbecken bauen, zog einen Zaun darum und stellte ein
paar Holzbuden als Umkleideräume auf. Das heiße Wasser lief von
der Quelle in einer Rinne ins Becken, wurde dort mit kaltem
Wasser gemischt, und fertig war das Zsóri-Bad.
Die Bewohner des kleinen Ortes und die Dorfbevölkerung der
Umgegend kamen an Sonn- und Feiertagen zu Fuß, auf Fahrrädern
oder mit Pferdefuhrwerken und badeten für ein geringes Eintrittsgeld im Thermalwasser. Und da wenige von ihnen je etwas von
Badekultur gesehen oder gehört hatten, badeten sie in ihren
Unterkleidern, die Frauen in Unterröcken, die Männer in den zum
Teil aus hausgewebtem Leinen hergestellten langen Unterhosen.
Damit war nicht nur etwas für die Gesundheit getan, sondern
auch für die Wäsche, die im heißen Wasser auf diese angenehme
Weise gleich sauber wurde. Und da das Wasser unaufhörlich Tag
und Nacht in großen Mengen aus der Quelle lief, wurde es jeden
Abend aus dem Becken abgelassen und bis zum nächsten Morgen
war das Becken wieder voll.
Ich weiß nicht, wie viele Jahre lang die Menschen dort dieses
Geschenk der Natur in friedlicher Ruhe, unangetastet von jeglicher
Zivilisation, genossen haben. Doch langsam machte das Zsóri-Bad
bei Mezôkövesd in weiteren Kreisen von sich reden. Fachleute
kamen aus der Hauptstadt und stellten genaue Wasseranalysen
auf. Ärzte nannten alle Krankheiten, zu deren Vorbeugung oder
Heilung diese warme Quelle diente. Papier häufte sich auf Papier
beim Gemeinde-, Stadt- und Kreisrat. Das kleine Zsóri-Bad war
plötzlich ins große Getriebe der Zivilisation geraten.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Vom Wasseramt bis zum Gesundheitsministerium zerbrach man
sich die Köpfe über die ungeahnten Perspektiven. Neue Bassins
wurden angelegt, bessere Umkleideräume (nun schon auf Staatskosten), Parkanlagen und Blumenbeete, Restaurants und ein kleines Hotel entstanden. Ein Wasserbecken wurde überdacht und auf
diese Weise für den Winter eingerichtet. Für die Betreuung der
Badenden sorgten von nun an Badeärzte und Bademeister mit
einem ganzen Stab von Dienst- und Hilfspersonal. Die zivilisierte
Badekultur hatte Einzug gehalten und mit ihr selbstredend auch
Hausordnungen, Vorschriften und Verbotstafeln.
Da erschien unter manchen Bekanntmachungen auch ein Schild
am Rande des Bassins mit der Aufschrift: „In Unterröcken und langen Unterhosen ist das Baden verboten!“ Das löste in den Kreisen
der einfachen Dorfbevölkerung fast revolutionäre Gedanken aus.
Ich beobachtete einen der Ureinwohner, wie er sich trotz der
Verbotstafel in seinen langen, grauweißen Leinenunterhosen dem
Wasserbecken näherte. Ein schriller Pfiff des Bademeisters hielt
ihn vor dem letzten Schritt zurück. Dieser nahm den Alten freundlich am Arm, führte ihn in eine Badekabine und gab ihm eine
kurze, aber für den kleinen Mann etwas zu große, sehr einfache
Dreieckbadehose. Der Alte, der so ein Ding sein Lebtag nie gesehen hatte, drehte es nach allen Seiten und wusste nicht, in welche
der drei gleichen Öffnungen er hineinsteigen sollte. Schließlich
entschloß er sich, beide Beine in ein Loch zu stecken, und was von
dem Lappen übrig blieb, schlang er sich um die Hüfte und stopfte
das Ende von oben hinein. Ich überlasse es der Phantasie der
Leser, wie er darin aussah, als er danach langsam auf das Wasserbecken zuging. Wieder schreckten ihn ein schriller Pfiff und die
Worte des Bademeisters zurück: „Mann, um Himmelswillen, so
können sie doch nicht baden gehen!“ Worauf der Alte in aller Ruhe
etwas außerordentlich Kluges sagte: „Na, sehen Sie, ist das nun
vielleicht besser mit diesen modernen Dingern?“
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Geschichtsbewusstsein
Wenn es so ist, daß jedes Volk in Sprachbildern seiner und der
Menschheit Geschichte lebt, so stimmt dies für den Ungarn erst
recht. Wo zum Beispiel etwas verloren geht, beruhigt man sich
oder den anderen, indem man mit der Hand abwinkt und sagt: Bei
Mohács ist mehr verlorengegangen! Gemeint ist die verlorene,
entscheidende Schlacht gegen die Türken am 29. August 1526 bei
Mohács, die Ungarns Schicksal besiegelt und für 150 Jahre dem
türkischen Halbmond unterwarf.
Noch heute sagt man von dem, der kein Jota abweichen, nichts
von seinen Prinzipien aufgeben will: Er gibt nichts von 48! Damit
ist die Revolution des Jahres 1848 angesprochen, deren Errungenschaften das Wiener Kaiserhaus Schritt für Schritt rückgängig zu
machen versuchte. Nach dem Ausgleich mit den Habsburgern im
Jahre 1867 galt dann nur jener Politiker als richtiger Patriot, der
sich konsequent an die Forderungen von 1848 hielt. Heute wird
damit bezeichnet, daß jemand hartnäckig an seinen Vorstellungen
festhält.
Vor kurzem sahen wir in einer kleinen ungarischen Stadt im
Kreise einer Familie die aktuelle Abendsendung des Fernsehprogramms, als die Hausfrau beim Anblick eines Sprechers sagte:
„Da ist ja wieder unser Tatarenkopf!“ Es war der Mann mit dem
sehr spärlichen Haarwuchs, von dem die Fernsehkamera nie etwas
sehen lässt, weil sie nicht von hinten photographiert. Glattrasierte
Schädel ungefähr dieser Größenordnung hatten die Tataren, die
1241/42 in das Land eindrangen und es verwüsteten.
Gleich danach – nicht nach dem Mongolensturm, sondern nach
der Sendung – traten unsere Schlagersänger mit ihren neuesten
Liedern auf. Beim Anblick einer von Natur ohne große Vor- und
Nachteile bedachten Sängerin, deren Haare lang und glatt das
schmale Gesicht umrahmten, daß nur ein paar zusammengezogene Augenbrauen durchblickten, sagte die Hausfrau: „Schaut, da
singt wieder die schmerzensvolle Genoveva!“
Ich habe später erst im Lexikon nachgelesen, um zu erfahren,
welche Genoveva hier gemeint war: die französische Heilige oder
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
die von Brabant? Und nachträglich bin ich nun doppelt erstaunt,
daß diese rührende Gestalt deutscher Sagendichtung, die Tochter
des Herzogs von Brabant, die – als Gemahlin des Pfalzgrafen
Siegfried, von dessen Haushofmeister verleumdet, die ehelich
Treue gebrochen zu haben – zum Tode verurteilt, aber von einem
Knecht aus Mitleid gerettet, sechs Jahre lang mit Kind und einer
Hirschkuh in einer Höhle des Ardenner Waldes versteckt worden
war, daß also diese Schmerzensreiche aus dem Jahre 731 bei den
Ungarn heute noch gegenwärtig ist, wenn jemand so leiderfüllt,
zehnfach durchs Mikrophon verstärkt, wehklagt wie jene, von der
man weiß, daß man nicht weiß, ob ihr Jammer wahr war.
Mit welchen Bildern man bei anderen Völkern, in anderen
Sprachen die Häßlichkeit ausdrückt? Wer kann es sagen? So hässlich wie ... ein jeder möge hier einsetzen, was er denkt, was er
gewöhnt ist. Die Ungarn sagen schon lange: Der (die, das) ist so
hässlich wie der Weltkrieg!
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Mezôkövesd
Schon so oft habe ich über diesen bezaubernden Ort im Norden
Ungarns geschrieben – bezaubernd wegen seiner bunt bestickten
alten Volkstrachten, über die Matyós - matyók (so werden die
Bewohner in Mezôkövesd und Umgebung genannt, wahrscheinlich
nach dem König Matthias im 15. Jahrhundert, der diese talentierten, fleißigen Menschen unterstützte und ihren Wohnsitz schon
damals zur Stadt erhob)-, ist schon viel über sie selbst und ihr
Leben berichtet worden, daß man vielleicht glauben könnte,
Ungarns Bevölkerung bestünde nur aus Matyós.
Nun, ich will es nicht leugnen, daß ich diese Menschen, ihre
bunten Kleider von einst, die Häuser und Gärten und alle ihre
Einrichtungen noch immer durch die rosarote Brille des Verliebten
betrachte, der vor vielen Jahren einem der schönen Matyómädchen – ihre Schönheit ist allgemein bekannt – den Hof machte und
sie nach allen Regeln, Sitten und Gebräuchen schließlich heimführte.
Meine Frau brachte dieser Tage von zu Haus einen Fremdenverkehrsprospekt mit, der auch in deutscher Sprache verfasst worden
ist. So liebenswert wie das hier mit all den kleinen stilistischen und
anderen Fehlern verfasst wurde, so sind sie, die Matyós. Also, bitte
lesen Sie:
„Das Matyó Hochzeitsfest. Die in Volkstracht gekleideten Mitglieder des Ensembles empfangen die Gäste – im Allgemeinen im
Hof des Hausmuseums – und bieten Ihnen Brot und Schnaps an,
dann bekommen sämtliche Teilnehmer einen Rosmarin.
Die Volksmusikkapelle spielt langsame und frische Tschardasch,
in der Rolle des Brautführers begrüßt ein Volkskünstler die Hochzeitsgäste mit alten Sprüchen und bietet den Anwesenden Wein
an.
Die Gäste – falls sie Lust dazu haben – können am gemeinsamen Tanz teilnehmen; die Darsteller führen die Brautwerbung
nach den uralten Sitten vor: Abschied der Braut und des Bräutigams. Der Bräutigam bekommt sein Trauungshemd, ein Rosmarin
wird daraufgesteckt, dann folgt ein Doppeltanz.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Der Bräutigam bittet das Bett der Braut aus – was nicht ohne
volle Volkstracht gekleidete Braut ein. Der Polstertanz wird vorgeführt und ertönt das ergreifende Abschiedsgedicht zu den Eltern.
Die Braut und der Bräutigam stellen sich nebeneinander, und eine
symbolische Trauung findet statt. Schließlich folgt unter Hinzuziehung der Gäste das gemeinsame Hochzeitsmahl. Die einzelnen
Gerichte werden nebst humorvollen Sprüchen aufgetragen, und in
der Pause werden die Kerzen- und Brauttänze vorgeführt.
Alles geschieht in traditioneller, feierlicher Ordnung.
Das charakteristische Mezôkövesder Hochzeitsmahl wird mit guten Weinen, laut separaten Speisekarten zusammengestellt, aufgetischt und bedeutet ein wahres gestronomisches Erlbenis.“
So etwas haben Sie sicher noch nie erlebt, wie ein Bräutigam
das Bett seiner Braut vor allen Anwesenden „ausbittet“.
Kommen Sie also nach Mezôkövesd!
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Die Größten, die Besten
Die Ungarn neigen manchmal etwas zur Übertreibung. Das ist
ebenso bekannt wie verständlich. Ein kleiner Mann misst sich
immer an einem noch kleineren. Und der mit dem spärlichen Haarwuchs zählt die Haare auf dem Kopf des anderen. Wo in Ungarn
ein Haus mit 10 Stockwerken gebaut wird, spricht man von einem
Turmhaus, und 20 Etagen genügen schon, um das Gebäude einen
Wolkenkratzer zu nennen. Mag sein, daß in Ungarn die Wolken tiefer hängen als woanders, denn die Hügel im Nordosten oder
Südwesten Ungarns (Mátra und Mecsek) nennt man Gebirge und
den Balaton das ungarische Meer. Selbst die, die im deutschen
Sprachgebiet auf dem Meer nur zur See fahren, heißen auf dem
Balaton tengerész = Hochseeschiffer.
Eines der neuerbauten Luxus-Hotels am Nordufer, das Annabella-Hotel, wird auf allen Prospekten als das größte Strandhotel
in Mitteleuropa bezeichnet. „500 Zimmer! Jedes mit Aussicht aufs
ungarische Meer!“ Kleinere Strandhotels auf der Promenade in
Siófok sind wenigstens die größten in Südost-Mitteleuropa. Und
wenn man das Garn der Fischernetze der gesamten Balatoner
Fischerei-Flotte ausrollen würde, reichte es der Länge nach fast
um die Erde und der Höhe nach fast auf den Mond. Die Balatonfischer fangen Fische von seltener Größe! Und einmalige Fische.
Der Fogas schwimmt auf der ganzen Welt nur im Balaton. Für
ihn – den Zander – gibt es keinen anderen Namen als den, den die
Ungarn ihm gaben: fogasch. Dieser ungarische Fisch ist also das
dritte Wort in der ungarischen Sprache, neben huszár = Husar und
kocsi = Kutsche, das zu einem internationalen Begriff geworden
ist. Ein Beweis mehr für die These, daß die ungarische Sprache auf
dem besten Wege ist, eine Weltsprache zu werden.
Die Ungarn bezeichnen sich gern als ein sprachbegabtes Volk
unter den Kleineren. Für den Ungarn sind weniger die Fremdsprachen das Hindernis, als vielmehr die Geschlechtswörter der
Fremdsprachen. Dennoch steigt die Geburtenzahl ständig. Das
lässt sich an den statistischen Zahlen ablesen, die von den
Zeitungen regelmäßig bekanntgegeben werden, nach denen zum
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Beispiel im vergangenen Jahr in der zweiten Augustwoche am
Balaton zwei Millionen sechshundertfünfunddreißigtausendzweihundertelf, und zur gleichen Zeit in diesem Jahr drei Millionen
einhundertfünfundzwanzigtausendsechshundertachtundzwanzig
Flaschen Bier getrunken worden sind.
Ungarn ist – und das sicherlich ohne jede Übertreibung – unter
den Kleinen der größte Kaffeeverbraucher der Welt; und sicher
auch einer der größten Verbraucher an Lebensmitteln in Europa,
aber zumindest doch in Mitteleuropa, aber ganz sicher in seinen
Grenzen; denn was man hier so konsumiert, ist fast grenzenlos.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Idegen ideg
Ideg ist der Nerv und idegen (also ein Wort mit dem gleichen
Stamm – so scheint es – und der Endung –en) heißt fremd oder
auch der Fremde, der Unbekannte, der Ausländer. Ich möchte
daher vorschlagen, diese beiden Wörter gründlich zu betrachten
und mit all ihren Möglichkeiten der Deklination zu lernen, damit es
Ihnen nicht so ergeht, wie einem, der ungarisch sagen wollte, daß
er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehe, und sich so ausdrückte: Idegen összeroppanás elôtt állok. Genau übersetzt hieße
das: Ich stehe vor einem Fremdenzusammenbruch.
Manchmal kann ein idegösszeroppanás tatsächlich durch einen
idegen = Fremden, oder durch mehrere Fremde = idegenek (der
Plural wird am Ende immer durch ein –k gebildet) ausgelöst werden. In diesem Falle könnte jemand sagen: Az idegen az idegemre megy = Der Fremde geht mir auf den Nerv. Besonders, wenn er
alles falsch versteht, kann man schon nervös = ideges werden.
Aber des Ungarn liebenswürdigste Eigenschaft, die Gastfreundschaft, öffnet den Fremden = az idegeneknek Tür und Tor. Sollten
Sie hier dennoch irgendwo auf einer Tafel lesen: Idegeneknek
belépni tilos! = Fremden ist der Eintritt verboten!, so sind nicht die
Ausländer damit gemeint, sondern die Unbefugten.
Übrigens soll man solche Aufschriften nie zu ernst nehmen. Ich
gehe im Prinzip immer da hinein, wo der Eintritt verboten ist, weil
ich von Natur aus neugierig bin, und rede mich dann, wenn´s
wirklich verboten war, damit heraus: Nem vagyok idegen. = Ich
bin kein Fremder, kein Unbefugter.
Aber nehmen wir an, Sie sind bei uns wirklich einmal wo hineingetreten, hineingekommen, wo Sie nicht hingehören, und nicht
wissen, wie Sie da wieder herausfinden, dann sagen Sie einfach,
was Sie heute gut gelernt haben: Idegen vagyok. = Ich bin fremd,
hier unbekannt. Man wird Ihnen helfen.
Aber geben Sie Acht, daß Sie es nicht zu gut, ich meine zu
ungarisch, aussprechen, sonst könnte es sein, daß man es Ihnen
nicht glaubt und der Meinung ist, sie wollten sich mit diesem altbekannten Trick eine extra nachsichtige Behandlung erschleichen.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Ich muß aufrichtig gestehen, wir sind oft zu den Fremden = az
idegenekhez höflicher als zu uns selbst. Das geht mir manchmal
auf die Nerven = ez néha az idegeimre megy.
Königsgrab
Von jeher galt meine Bewunderung den Archäologen, die in mühsamer Kleinarbeit aus der Erde durch Knochen-, Stein und Scherbenreste die Vergangenheit menschlicher Kulturen mit präziser
Genauigkeit feststellen und gegenwärtig machen. Es ist viel mehr
als die Liebe zum Beruf. Es ist die Berufung von oben oder unten,
aus dem Elysium oder dem Hades, wenn zum Beispiel - ich habe
es von einem Archäologen persönlich gehört - aus einem Stückchen Stein, einer Rosette auf dem Sarkophag allen bisherigen Behauptungen, daß darin einmal ein großer ungarischer König begraben worden sein soll, widersprochen und das Gegenteil (zweifelsfrei) festgestellt wurde. Was ist für einen Laien das Gegenteil eines
Königsgrabes? Ein Bettlergrab. Über solchen Unsinn werden alle
Wissenschaftler die Nase rümpfen. Ähnliche Gedanken können nur
im Kraut eines Spaßmachers wachsen.
Nun wollte es aber das Schicksal, daß in jener uralten Stadt wieder bei Ausgrabungen ein bisher unbekanntes Königsgrab gefunden
wurde. Doch welch fatale Überraschung! Das Grab war ausgeplündert, der König samt seinen wertvollen silbernen und güldenen
Anhängseln verschwunden. Wer weiß? Man suchte nach ihm in
allen Ecken und auch wohl nach dem doppelten Boden. Warum sollte es vor rund 1000 Jahren nicht schon solchen Hokuspokus gegeben haben? Und nach dem bewährten Sprichwort: „Wer lange
sucht, wird endlich finden” - kamen plötzlich, ganz unerwartet, und
tagelang nicht gesehen, ein paar alte Knochen ans Licht. Aber erst
die Sonne brachte es an den Tag, daß sie nicht dem König, sondern
aller Wahrscheinlichkeit nach dem Plünderer gehörten, der wiederum - und hier kommt der Narr zu seinem Recht - doch alles weniger als ein König gewesen sein konnte, sondern eben ein Bettler,
der es nicht auf die alten Knochen, sondern eben auf die wertvollen Anhängsel abgesehen hatte.
Vielleicht ist ihm dabei der schwere Sargdeckel auf den Kopf gefallen? Doch dann mußte doch auch noch der König daneben liegen. Vielleicht hat gar ein Dritter den Bettler für den König ins Grab
gelegt, so wie es kürzlich in einer Pyramide entdeckt wurde, wo
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
anstelle der ägyptischen Herrschermumie eine alte Affenmutter
gefunden ward. Vielleicht aber - und das möchte ich behaupten,
bis es von den Fachexperten einwandfrei widerlegt wird - hat ein
Spaßmacher bei Nacht und Nebel vom Friedhof nebenan ein paar
alte Knochen eingesammelt und ungesehen in einer Ecke des
Königsgrabes versteckt, damit sich die Archäologen noch lange
darüber die Köpfe zerbrechen können.
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Grüne Wellen
Der Verkehr platzt aus allen Gassen und ergießt sich in grünen
Wellen durch die Hauptverkehrsstraßen. Man kann zum Beispiel
auf so einer grünen Welle vom Ostbahnhof bis zur Elisabethbrücke
mit 40 bis 50 Stundenkilometern Geschwindigkeit schwimmen,
wenn nichts dazwischen kommt. Geheimnisvoll, wie das „Sesam
öffne dich” einer Photozellentür gibt es Vorfahrt an jeder Kreuzung
für jeden Wagen, der sich ihr nähert, wenn nichts dazwischen
kommt. Kommt aber ein Fußgänger auf den Zebrastreifen, dann
tritt der menschenfreundliche Autofahrer - es werden ihrer immer
mehr in Budapest - auf die Bremse und macht die straßenkameradschaftliche Geste: Bitte nach Ihnen! Ob er, und alle, die
mit ihm anhalten müssen, es auch wirklich so höflich meinen,
bleibt dahingestellt.
Ein Fußgänger auf dem Zebrastreifen hat Vorgehrecht, hat die
Macht, der schönsten, größten, längsten grünen Welle entgegenzutreten, ihr Einhalt zu gebieten, sie anzuhalten, solange er will.
Manche genießen es ordentlich, dem Tempo der Autofahrer des
ständig wachsenden Verkehrs ihre verbriefte Trägheit entgegenzustellen. Denn vom Fußgänger aus gesehen entwickeln sich alle
Menschen am Steuer von Fahrern zu Überfahrern und können
daher nur noch mit Tiernamen angeredet werden, freilich solange,
bis die Fußgänger nicht selbst am Steuer sitzen, dann gehören
selbstverständlich alle schlechten Eigenschaften nur Latschenden,
Träumenden, schwätzenden alten Eseln und Eselinnen, die über
den Fahrdamm stolpern, kriechen, schlendern. Eigentlich müßte
bei der ständig steigenden Zahl von Autos in unserem Land, wo
Benzin und Öl fließen wie Milch und Honig, bald der Tag ohne
Fußgänger kommen, an dem sich alle grünen Wellen so recht
genießen ließen und man nur auf die böse zu sein brauchte, die
durch fortwährendes Wechseln der Fahrspuren den fließenden
Verkehr verlangsamen oder ihn gar durch Halten und Parken zum
vorübergehenden Stillstand bringen.
Autofahren wird erst dann zum richtigen Vergnügen, wenn man
fahren kann, ohne zu bremsen und zu halten. Darum wünscht sich
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
jeder Autofahrer einen Vordermann in Fahrt. Jeder Lastkraftwagen, der vor einem fahrenden Autofahrer anhält, muß aus dem
Grunde seines Herzens verflucht und in die Nacht verwünscht werden, wo er doch seine Waren bei geringerem Verkehr ruhiger ausladen könnte. Und für einen fahrenden Autofahrer sind auch alle
Autobus-, Trolleybus-, Straßenbahn- und Taxifahrer verkehrsbehindernde Subjekte. Man sollte sie verbieten wie die Radfahrer.
Und wiederum für alle am Steuer der öffentlichen Verkehrsmittel
sind die Herren und Damen das größte Hindernis im Straßenverkehr. Aber die Hunde bellen und die Karawane zieht weiter. Vor
zehn Jahren sagten die Skeptiker: In fünf Jahren gehts nicht mehr
weiter, wenn es so weitergeht. Aber es geht weiter. Und es sieht
von außen ganz fließend aus und zivilisiert mit den Grünen Wellen.
Doch „wie´s da drinnen aussieht, geht niemanden was an”.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Die Margareteninsel
In dem Brief einer Leserin aus Berlin, den sie zu unserer großen
Überraschung in ungarischer Sprache verfaßte, steht die Frage, ob
die Margitsziget (Margareteninsel) zu den wandernden Inseln
gehört, die nur durch die beiden Brücken, die Árpádhíd am oberen
und die Margithíd am unteren Ende festgehalten wird.
Nun, ich weiß nicht, ob hier nicht einer unserer ungarischen
Spaßvögel dieser Leserin einen Floh ins Ohr gesetzt hat, so wie
der, der einem Fremden während einer Stadtbesichtigung erzählte, daß die Kettenbrücke bei Regenwetter in den dahinter liegenden Tunnel geschoben oder die Donau für besondere Gäste blau
gefärbt wird.
Nehmen wir aber an, die Frage wäre berechtigt, dann hätte die
Insel doch spätestens wieder mit ihrer Wanderung beginnen müssen, als die Margaretenbrücke am unteren Ende, während des
letzten Krieges, in die Luft gesprengt wurde. Denn erstens kann
keine Insel flußaufwärts wandern, und zweitens gab es damals am
oberen Ende noch keine Brücke zum Festhalten. Die Insel blieb an
ihrer Stelle, bis die untere Brücke wieder hergestellt war und erst
1950 oben die Árpádbrücke fertig wurde.
Vielleicht aber hat unsere Leserin erfahren, daß die Insel ursprünglich aus drei Teilen bestand. Bei einer Flußregulierung wurde die obere kleine Badeinsel von Menschenhand abgetragen und
am Ende des 19. Jahrhunderts die untere kleinere, sogenannte
Malerinsel, mit der eigentlichen Margareteninsel durch Auffüllung
verbunden.
Übrigens ist die Geschichte des Namens Margit (Margarete)
nicht uninteressant. Einer der Könige aus dem Haus der Arpaden
versprach im 13. Jahrhundert, seine Tochter Margit ins Kloster auf
diese Insel zu schicken, wenn die Tataren, die damals das Land
besetzt hielten, von hier abzögen. Aus welchen Gründen auch
immer, sie taten ihm den Gefallen und er hielt sein Versprechen.
Kaum würde heute noch jemand daran denken, wenn das arme
Königskind nach seinem Ableben nicht selig gesprochen worden
wäre. Und so also Insel und Brücke ihren Namen bekamen.
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Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Jeder, der heute über die nichtwandernde Insel wandert, kann
noch ein paar Mauerreste des alten Klosters sehen. Aber man geht
heute auf die Insel nicht ins Kloster, sondern zum Schwimmen,
Tennisspielen, zum Tanzen, ins Theater, Hand in Hand durch den
duftenden Rosengarten oder zum Abendessen in ein Restaurant
und genießt die Gegenwart bei einem pikant zugerichteten
Tatarenbeefsteak.
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
Ungarn in der Welt
Die Nachricht von der Verleihung des Nobelpreises an Denis Gábor,
den Erfinder der Holographie, ist bei den Ungarn mit Stolz und
Freude aufgenommen worden. Nicht so sehr, weil es nun eine dreidimensionale Photographie gibt - damit wissen nur wenige etwas
anzufangen, sondern weil wieder mal ein Ungar Weltruhm erlangt
hat. Denn Denis Gábor hieß ursprünglich Dénes Gábor und wurde
in Budapest geboren. Und wie sagte Goethe schon: „Geborenwerden ist der erste Schritt zur Unsterblichkeit.”
Daß der junge Gábor nach den ersten Schritten seine Heimat
verließ, in Berlin studierte und alle weiteren, großen Schritte in
England machte, tut der Freude über den jüngsten „ungarischen”
Nobelpreisträger für Physik keinen Abbruch. Auch wenn es der
Welt schnuppe ist, die Ungarn registrieren den Ruhm ihrer Landsleute auf dem weiten Erdenrund wie ein Seismograph, und seit
sich herausstellte, daß selbst Albrecht Dürers Vater aus dem ungarischen Ájtos nach Regensburg ausgewandert war, wittern sie hinter jedem Genie, wo immer es sich auch entpuppt, mindestens
eine ungarische Großmutter. Und wo sich auch beim besten Willen
keine nachweisen läßt, da genügt schon ein kurzer Aufenthalt in
Ungarn, eine freundliche Geste diesem Lande gegenüber, vielleicht
ein ungarisches Wort im Tagebuch, eine Liaison mit einer Ungarin
- so wie jene zwischen Beethoven und dem Schloßfräulein von
Martonvásár -, um zu behaupten: Nun gut, Beethoven ist nicht so
ein Ungar wie Franz Liszt, aber die Mondscheinsonate hat er doch
hier komponiert. Was wäre schon aus ihr geworden, ohne den
Mondschein von Martonvásár? Und wem verdankt die Welt Schuberts Unvollendete? Der unvollendeten Liebe des Komponisten zu
einer vollendeten Ungarin. Und wer hat der Welt jenes bedeutende pädagogische Werk geschenkt? János Ámos Comenius. Bitte?
Der Mann hieß Komensky und war ein Tscheche? Ja, aber er hat
vier Jahre im berühmten Kolleg von Sárospatak gewohnt.
In der Tat, es ist ein Wunder, wieviele große Geister von diesem
kleinen Völkchen inspiriert wurden oder aus ihm hervorgingen.
Und wenn die Ungarn sich noch immer in betontem Nationalstolze
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103
Warum ist die Krone schief ? - Ein bißchen Ungarn
an ihren Taten und denen ihrer großen Söhne ergötzen, so doch
nur darum, weil alle Welt noch immer lieber den Ziehbrunnen in
der Puszta sehen will als das hypermoderne Wasserkraftwerk an
der Theiß, lieber einen mit Geige schluchzenden Zigeuner als einen mit Reagenzglas experimentierenden Chemiker, weil Ausländer
beim Namen Ungarn eher an Piroschka denken als an den Erbauer
der neuen Elisabethbrücke in Budapest.
Oder liegt es vielleicht nur daran, daß die Ungarn es noch immer nicht gelernt haben, sich propagandistisch ins rechte Licht zu
rücken?
Ich entdeckte kürzlich im Ausland wieder ein Plakat, das für
eine Reise nach Ungarn mit ein paar wild dahinjagenden Pferden
warb. Symbolisch gesehen ist das durchaus zutreffend, denn jene
Pferde drücken, wenn man so will, das von jeher ungestüme Vorwärtsstreben dieses kleinen Völkchens aus. Aber vielleicht sollte
man die Symbolik in unserer Zeit etwas deutlicher machen, etwa
mit dem Zusatz: Kennen Sie ungarische Paradepferde? Oder noch
besser: Kennen Sie das kleine Land der großen Köpfe? Ach, Sie
meinen, das könnte missverstanden werden, wegen der Pferdeköpfe? Also dann, klipp und klar: Besuchen Sie das Land, wo jeder
zweite ein Genie ist! Sie meinen, das sei nun wieder übertrieben?
Gut, dann sagen wir: Besuchen Sie das Land, wo jeder zweite
-kein Genie ist!
104
III
Die Julischka
aus Budapest
Von Frauen, Männern und
ein bißchen mehr
Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Die ungarische Frau
Wie es nur kommen mag, daß man im Ausland von ungarischen
Frauen und Mädchen eine grundverkehrte Vorstellung hat? Man
glaubt nämlich, sie hätte ein Herz aus Paprika, die Juliska, die
Juliska aus Buda... Buda...pest.
Vergleicht man die Ungarin von heute mit anderen Frauen in
Europa, so findet man wohl kaum wesentliche Unterschiede. Die
Mädchen in Stadt und Land kleiden sich nach der neuesten Mode
und ihrem Geldbeutel. Wie überall haben sie auch hier die Hosen
an. Außer in der Schule, da bestimmt noch immer der Lehrer. In
ihrer Freizeit schwärmen sie für Popmusik, Popstars, sie treffen
sich in Clubs mit jungen Männern zum Tanz, sie verlieben sich
ohne große Worte und gehen auseinander, wenn es zusammen
nicht mehr geht.
Mit der verheirateten Ungarin hingegen steht es ähnlich wie mit
jener Frau, von der ihr Mann begeistert sagt: Meine Frau arbeitet
und mir gehts gut!
Immer wieder wird auch in höchsten Stellen in Ministerien und
Regierung von der großen Bedeutung der Frau in Beruf und Familie
gesprochen, und man überlegt, wie man ihr die sogenannte „zweite Schicht” im Haushalt, durch entsprechend moderne Haushaltsgeräte und -maschinen sowie vorgefertigte Speisen erleichtert
werden könnte. Aber der Ungarin ist oftmals nicht zu helfen. Als
ausgezeichneter Köchin schmeckt ihr nichts so gut wie das, was
sie eigenhändig zubereitet hat. Wer die Speisekammer einer ungarischen Frau nicht kennt, kennt die Ungarin nicht. Die Wohnungseinrichtung muß nicht unbedingt vollständig sein, doch die Speisekammer ist es auf jeden Fall, sie ist vollgestopft mit Lebensmitteln
bis obenhin. Diese wollen allerdings erstmal eingekauft und nach
Hause befördert sein - ein besonderes Vergnügen am Wochenende
- und wo sich in einer Neubauwohnung die Speisekammer als zu
klein erweist, da muß der Kühlschrank herhalten. Die berufstätige
Frau dirigiert häufig sogar ihren Haushalt auch vom Arbeitsplatz
aus, per Telefon und natürlich mit dem stillschweigenden Einverständnis ihres Chefs, dessen Frau es auch nicht anders macht,
109
Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
nämlich so etwa: „Hallo Liebling, vergiß nicht, die Kinder aus dem
Kindergarten abzuholen und bring von unterwegs noch etwas
Suppengrün mit. Hol die Wäsche vom Trockenboden und gib den
Schlüssel wieder beim Hausmeister ab! Ich komme heute später,
ich habe noch eine wichtige Besprechung.”
Und natürlich bringt der Vater die Kinder auch ins Bett. Neulich
hörte ich einen Nachbarn, wie nach dem Abendmärchen im
Fernsehen der jüngste Sprößling die Frage stellte, ob denn alle
Märchen mit „Es war einmal...” begännen. Darauf der Vater: „Nein
nicht alle Märchen. Manche fangen auch so an: Ich habe noch eine
wichtige Besprechung...”.
Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Der ungarische Mann
Die Meinung der Frauen über den ungarischen Mann ist voller
Widersprüche: bezaubernd und ohne Sinn für Romantik, zärtlich
und ungeschlacht, feurig, aber durch und durch untreu, vieles versprechend und nichts haltend, gutherzig, kaltschnäuzig, grob, einschmeichelnd, zu Strohfeuern neigend, jähzornig, einfallsreich,
einfältig, kindisch, klug, feinfühlend, mit ausgeprägtem Familiensinn, großzügig, geizig, unzuverlässig, alkohol-, vergnügungs- und
eroberungssüchtig.
Und welche Meinung haben Sie vom ungarischen Manne, verehrte Leserin? Ausländerinnen behaupten, sie würden sich in der
Gesellschaft eines ungarischen Mannes wohlfühlen, einfach, weil
er ein Mann ist. Manch glauben auch, es stecke noch etwas von
einer ursprünglichen Wildheit in ihm. Gewiß empfindet das eine
nichtungarische Frau anders als die einheimische Geschlechtsgenossin die sich, wenn es auch mancherseits immernoch bestritten wird, daß ihre Vorfahren einst mit den ungarischen Stämmen aus Asien über die Karpaten eingewandert sind, im Laufe von
rund tausend Jahren nur recht schwer damit abgefunden hat, daß
der Mann „úra és parancsolója”, ihr Herr und Gebieter ist und sich
auch häufig noch so benimmt.
Nun hat die neue Zeit zwar die Parität zwischen Mann und Frau
hergestellt, aber Papier ist bekanntlich geduldig, und die Wurzeln
der Tradition sind oft noch recht fest verhaftet.
Einer der großen Dichter der ungarischen Romantik, Dániel Berzsenyi, unternahm in seinem Gedicht „Die Tänze” den Versuch,
von den Volkstänzen der verschiedenen Völker auf den Charakter
ihrer jeweiligen Männer zu schließen. Beim Ungarn heißt es da:
Pindaros gleicht der Magyar,
von Leidenschaften durchlodert,
feurig verkündet sein Schritt,
was ihn im Taumel bewegt.
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Bald ist er schwebender Windhauch,
Bald sich verzehrende Sehnsucht,
und seiner Sinnlichkeit Glut
webt er zu tanzender Zier.
Szív
(übertragen von Kerpel-Claudius)
Ungefähr einhundertfünzig Jahre sind vergangen, seit der
Dichter diese Verse schrieb. Im ungarischen Leben hat sich doch
einiges verändert. Aber noch heute kann man beobachten, wie ein
Magyar, wenn es ihn gepackt hat, zum Tanz antritt und „feurig verkündet”, was ihn „im Taumel bewegt”. War es seinerzeit der feurige Csárdás, so sind es heute die heißen Pop-Rhythmen, die den
Tänzer vom Stuhl reißen. Und wenn gar der Alkohol die Hirnbremsen löst, dann kullern dicke Tränen an dem feurigen Kerl herunter,
dann fängt er förmlich an zu dampfen - und nun ist unser Ungar
soweit, daß er an der Brust der Geliebten um die verlorene Mutter
oder an der Mutterbrust um die verlorene Geliebte heult, dann
steigert er sich in eine Stimmung hinein, in der er unter ÉljenRufen alles in Scherben schmeißen möchte.
Im Übrigen ist der ungarische Mann als solcher treu und überzeugt davon, daß seine die bessere Ehefrau von allen ist und zwar
solange, bis er sich vom Gegenteil überzeugt hat.
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Wir plaudern über das ungarische szív = Herz. Es gibt viel darüber
zu sagen. Mehr als im Deutschen. Schauen Sie einmal selbst in
den Wörterbüchern nach. Sie werden staunen, wie wenig Wörter
es vom einfachen Herz bis zur Herzverfettung, und wie viel es dagegen vom szív bis szívzörej = Herzgeräusch gibt. Deutsch sind es
nicht einmal hundert Wörter, ungarisch dagegen fast viermal so
viel. Also, mit dem szív und allen Ableitungen ist die ungarische
Sprache um vieles reicher. Ob das an größerer Herzlichkeit liegt?
Ich will es nicht behaupten. Aber die Sprache erklärt manches.
Für die freundliche Aufforderung: Sei so gut... verwendet der
Ungar lieber das szíves = herzlich. Also, das von szív abgeleitete
légy szíves = sei so freundlich, genau übersetzt: herzlich, ist die
am aller häufigsten gebrauchte Redewendung, wenn der Ungar
jemanden bittet zu kommen, oder wenn er ihn auffordert dahin zu
gehen, woher er gekommen ist.
Haben Sie mit dem Angesprochenen noch keine Brüderschaft
getrunken, heißt es: Legyen szíves! Oder wollen Sie es mit dem
Wörtchen so verstärken: Legyen olyan szíves! Wenn Sie dabei mit
der Hand nach der Tür zeigen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als
so herzlich zu sein und das Weite zu suchen.
Alles was ein Ungar tut, macht er szívesen oder nem szívesen,
- herzlich oder nicht herzlich. Gehen wir tanzen? = Megyünk táncolni? Szívesen. Gehen wir arbeiten = Megyünk dolgozni? Nem
szívesen. (Sie können diese Antworten natürlich nach Belieben
umdrehen.)
Sehr verbreitet ist – besonders unter Eheleuten – der Kosename szívem = mein Herz (womit nicht das meine gemeint ist)
oder szívecském = mein Herzchen; wem das alles zu lang ist, abgekürzt einfach: szivi, ungefähr wie das Herzi.
In meiner Nachbarschaft höre ich oft durch die dünnen Neubauwände, wie der Mann zu seiner Frau sagt: Szívem, mindjárt kapsz
egy pofont! = Mein Herz, du kriegst gleich eine Ohrfeige! So herzlich leben die miteinander, daß ich a legszívesebben = am allerliebsten gar nicht hinhören möchte.
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Als es einmal sehr laut wurde da drüben, habe ich an der Tür
geklingelt und gesagt: Kérhetek egy szívességet? Szíveskedjék a
szívecskéjét halkabban felpofozni! Genau übersetzt: Darf ich um
eine Herzlichkeit bitten? Wären Sie so herzlich, Ihr Herzchen leiser
zu ohrfeigen?
Ich muß es aufrichtig gestehen: Ezt nem vette szívesen = Das
nahm er nicht herzlich auf.
Nem igen
Sie sollen nicht nur wissen, was auf ungarisch ja = igen und nein
= nem heißt, sondern ein bißchen mehr. Das nem ist einfach, weil
Sie dazu wie beim Berliner Nee den Kopf schütteln können. Das
igen scheint etwas schwerer, erstens weil man nicht mindenre
igent mond = zu allem Ja und Amen sagt (minden = alles, -re =
zu, mond = sie es sagt) und zweitens weil igen nicht nur ja heißt,
sondern auch: sehr, außerordentlich, besonders, überaus, ungemein; ja, mit ez davor kann sogar ein ganzer Satz gebildet werden; ez igen = Das lass´ich mir gefallen. Und wer es sich gefallen
lassen muß, der kann auch, wie im Deutschen, ein wohl ans Ja
hängen, und auf kurze Befehle seines Feldwebels zu Haus igenis
(is = auch) jawohl! Sagen. Solche Männer heißen bei uns nur
papucs = Pantoffel ohne Held. (Sie sehen daran, daß in Ungarn ein
Mann, auch ohne Held zu sein, ein Pantoffel sein kann.)
Damit haben wir das igen fast erschöpft. Ich will nur wieder
nachdrücklich auf die Betonung der ersten Silbe hinweisen; denn
wenn Sie sagen igeen, also mit der Betonung auf der zweiten
Silbe, dann haben Sie fast ein völlig anders Wort ausgesprochen,
nämlich igény = Anspruch. Nun, nur der hat also einen Anspruch
darauf, igen hamar = gar bald verstanden zu werden, der igen mit
igény nicht verwechselt. Und nun kommen wir zum nem, das
erstens nein, zweitens nicht und drittens Geschlecht heißen kann.
Nachdem es aber in der ungarischen Sprache bekanntlich die
Geschlechtswörter der, die, das nicht gibt, müssen Sie sich mit
dem dritten nem nicht den Kopf belasten.
Es gibt zwar auch a gyengébb = das schwache und az erôsebb
nem = das starke Geschlecht. Wenn aber bei uns eine Vertreterin des schwachen Geschlechts nem sagt, dann seien Sie gewiß, daß es auch so gemeint ist. Selbst wenn Sie zufällig einmal
das nemigen zusammen gesprochen hören sollten, so heißt das
nicht wörtlich: neinja oder vielleicht jein, sondern es heißt genau
übersetzt: nicht sehr, oder kaum. Sollten Sie also mit großer Hoffnung im Herzen fragen Látom magát ma este? = Sehe ich Sie
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
heute Abend? Und sie antwortet. Nemigen, dann haben Sie kaum
Chancen bei ihr. Dann ist es zu empfehlen, sich schnell nach einer
anderen umzusehen, nach einer, die nemigen mond nemet = kaum
nein sagen wird.
Und wenn das kleine, eben Geborene demnächst in der Wiege
schreit, und zufällig ein Mädchen ist, dann nimmt es die Kismama
mit aller Mutterliebe in den Arm und beruhigt es in ihrer finnischugrischen Muttersprache mit den Worten: „Ne sírjál, kisanyám!“
„Weine nicht, meine kleine Mutter!“ Hier verrät die ungarische
Sprache wirklich ihren ureigensten Inhalt, denn in diesem kleinen
Würmchen steckt heute schon die kismama von morgen und die
nagymama = Großmutter von übermorgen.
Kismama
Csókolom und szervusz
Die Trolleybusschaffnerin rief laut durch den Wagen: „Kérek egy
helyet a kismamának!“ „Ich bitte um einen Platz für die Kleinmutter“. Und die Fahrgäste wussten sofort, daß da vorne oder hinten eine Frau in guter Hoffnung oder vielleicht schon mit dem
Kindchen auf dem Arm zugestiegen war. Männer und Frauen
(selbst die Alten) erhoben sich und boten der Kismama ihre Plätze
an.
Ein eigenartiges Attribut der ungarischen Sprache ist nicht nur
dieses Wörtchen kis (klein) für die Mütter, die manchmal überhaupt nicht klein sondern groß und sehr umfangreich sind; ebenso komisch klingt das internationale Wort Mama, das die Ungarn
sonst kaum gebrauchen oder manchmal nur im Volksmund, wenn
von einer alten Mutter die Rede ist. Die ungarische Anya = Mutter,
die mit so vielen entzückenden, liebenswürdigen, herzlichen
Variationen angeredet wird, wie: Anyu! Anyám! Anyukám! Anyuci!
usw. tritt im Zustand des Mutterwerdens oder mit einem Säugling
auf dem Arm aus der finnisch-ugrischen Sprachfamilie in die indoeuropäische Sprachwelt und wird zur „Kleinmama“, der man respektvoll Plätze anbietet, Türen öffnet, Kinderwagen in die Fahrstühle trägt. Alle Kismamas stehen besonders jetzt nach dem neuesten ungarischen Baby-Boom in noch höherem Ansehen, denn es
muß etwas getan werden für einen intensiveren ungarischen
Familienzuwachs. Die ungarische Nation soll leben! Das Volk greift
ihnen unter die Arme und der Staat in die Tasche, um zu helfen,
daß es allen Kismamas besser gehe. Neben vielen Vergünstigungen und Erleichterungen für die Berufstätigen gibt es höhere
Summen bei jeder Geburt, progressive höhere Kinderzulagen nach
ein, zwei, drei und mehreren Kindern. Es finden auch im Fernsehen Modeschauen für die Kismamas und ihre Umstandskleider statt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, als schlagartig die alte Gesellschaftsordnung abgelöst wurde, versuchte man von oben her den
feudalen Gruß „Küss´die Hand“ abzuschaffen und das einfache, in
jeder Sprache gebräuchliche schlichte „Guten Tag“ einzuführen.
Aber das konnte sich nicht bewähren. Die Ungarn suchen über den
„Guten Tag“ hinaus schon in der Begrüßung das Persönliche, die
engeren, herzlicheren Beziehungen.
Im Wörtchen Servus liegt das vertrauliche Du. Guten Tag, sagt
nur, wer ganz fremd ist. Und ganz fremd sind sich die Ungarn selten.
Dem ungarischen Jungen, der von einem deutschen Mädchen
mit „Guten Tag“ begrüßt wurde, nachdem sie sich gestern Nacht
im Haustor geküsst hatten, war es, als bekäme er eine eiskalte
Dusche auf den heißverliebten Kopf, und er sinnierte, was er wohl
an der innigen Beziehung zu ihr verdorben hatte.
Und zum Beispiel das Mädchen aus Leipzig, dem der Budapester
Ingenieur zum erstenmal „Küss´die Hand“ sagte, kicherte und
wollte nie wieder etwas mit diesem „Spinner“ von gestern zu tun
haben.
Mit csókolom also haben Sie zunächst einmal, sprachlich jedenfalls, eine klare Situation geschaffen. Jetzt ist die Frage - bei uns
keine unbedeutende – was Sie küssen wollen, die Wange, die
Hände oder den Mund. Bitte lachen Sie nicht. Der Ungar (oder die
Ungarin) meint es mit allen dreien ernst. Den Wangen- oder
Bruderkuß kennen Sie (er ist oft auch unter Männern, auch unter
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Staatsmännern, die keine Brüder sind, üblich). Den Handkuß kennen Sie auch. Er hieße genau gesagt: csókolom a kezeit. Das
kommt fraglos aus dem österreichischen Küss´die Hand, heißt
aber wortwörtlich: ich küsse Ihre Hände. Während also der Österreicher nur eine küsst, nimmt der Ungarn gleich alle beide. Sicher
hat ihm dieser kleine Unterschied die in der Damenwelt allgemeinverbreitete Ansicht eingebracht, daß er der höflichste Mann...
usw. usf. Nun, der Hof ist schon lange im Eimer, aber seine Reste
leben noch immer unter uns. Ob die Frauen oder die Männer sich
so schwer davon trennen können, weiß ich nicht. Doch langsam ist
ihm eine Verstümmelung anzumerken. Sie können einer Dame
csókolom sagen, in dem zwar noch der alte Handkuß steckt, aber
ohne Hand. Und ich habe schon manche Frauen gesehen, die die
Hand fortziehen, damit es dem Mann gar nicht erst einfallen sollte. Aber ich kenne auch solche, die dem, dem es überhaupt nicht
mehr einfällt, den Handrücken hinreichen.
Wer kennt sich da noch aus?
Sollten Sie, lieber Leser, zur Jugend gehören, dann sagen Sie
ruhig gleichaltrigen Jungen oder Mädchen in Ungarn szervusz. Und
wenn Sie das auch in anderer Gesellschaft tun sollten, sebaj! sagt
der Ungar: kein Problem. Man wird höchstens darüber lachen oder
sich freuen, daß man so schnell und ohne alle Umschweife einen
neuen Duzfreund gefunden hat.
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Mädchen, die rauchen...
...und Hühnern, die krähn,
denen soll man beizeiten die Hälse umdrehn.
Ich habe diesen Reim in meiner Kindheit in deutscher Sprache
gehört. Von Mädchen, die pfeifen. Hier aber geht´s um Rauchen.
Es ist mir nicht bekannt, ob es auch im Ungarischen etwas Ähnliches gibt zur Abschreckung für pfeifende oder zigarettenrauchende Mädchen oder krähende Hühner. Wollte aber jemand hier
solchen Rat ernst nehmen - ich habe ihn kürzlich beim Anblick rauchender junger Mädchen auf einem Budapester Bahnhof von einer
älteren deutschen Dame mit Verachtung sagen gehört - so müßte
wenigstens der Hälfte aller bezaubernden ungarischen Backfische
die Hälse...
Mein Gott, ich will dieses Wort nicht noch einmal wiederholen.
Ja, ungarische Mädchen, die rauchen, rauchen nicht versteckt
im Klo oder von den Erwachsenen ungesehen in ihren Kellerclubs,
sondern sie tun es ungeniert auf der Straße, in den öffentlichen
Verkehrsmitteln oder eben dort, wo es auch jungen Männern
erlaubt ist. Ob ihn nun jemand schön oder häßlich findet, den
Anblick eines Mädchens mit einer brennenden, im Mundwinkel
hängenden Zigarette, das ist Geschmackssache des Beschauers
oder eine Frage der Erziehung.
Ist das entzückende Mädchen schöner, das wie ein Wald- und
Wiesenwiederkäuer den Kaugummi von einem Mundwinkel in den
andren schiebt und ab und zu durch ihre Lippen einen weißen
Luftballon bläst? Oder sind es vielleicht die, die weder rauchen,
noch kauen, keine Höschen oder dünnen Schlabberkleider tragen,
doch es faustdick hinter den Ohren haben?
Ich denke, wir sollten, was unsere Jugend allgemein und im
besonderen die rauchenden Mädchen angeht, uns von althergebrachten Sprüchen und Maßstäben nicht so beeinflussen lassen.
Die Jugend wird von selbst erwachsen und einsichtig. Und was
ihnen schadet oder nützt, werden sie bald selbst merken und
danach handeln.
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Ich kenne - nur so nebenbei gesagt - eine vierfache Urgroßmutter am Rande der Puszta. Sie hat fast 100 schöne, gesunde
Enkelkinder. Und nie hat sie jemand anders gesehen, als mit einer
dicken Zigarre im Mund; oder ab und zu bei Familienfesten mit
einer Pfeife. Sie glauben es mir nicht? Ich zeige Ihnen den Weg zu
ihr, denn wenn sie nicht gestorben ist...
Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Küsse im Hellen
Als ich zum ersten- oder zweitenmal verliebt war, haben wir uns
im Dunkeln hinter Bäumen, auf der Bank im Park, im Hauseingang, in Mauernischen oder in verdunkelten Zimmern geküßt. Bei
Tageslicht konnten Erwachsene höchstens ahnen, daß die beiden
„zusammen gehen”, wenn sie ab und an mal die kleinen Finger
ineinanderhakten.
Ich will hier keine ungarischen Sitten mit anderen vergleichen,
sondern nur feststellen, daß bei uns heute die Küsse aus der
Dunkelheit ans Licht der Sonne, also an den Tag gebracht worden
sind. Verliebte in Budapest - in anderen Städten habe ich es noch
nicht beobachtet - nehmen sich ungeniert mitten auf der Straße,
oft sogar mitten auf dem Fahrdamm, in die Arme und küssen sich
inniglich an- und aushaltend, auch wenn die Verkehrsampel schon
längst von Rot auf Grün geschaltet hat. Dann machen die Autofahrer lächelnd einen Bogen um sie, oder witzige Passanten kommentieren es laut mit lustigen Bemerkungen. Doch die im Hellen
Küssenden lassen sich dadurch nicht stören, und jeder wird es
beobachten können, daß ihre Zahl in Budapest stetig zunimmt. Sie
tun es nicht etwa ostentativ, um die „Alten” zu ärgern oder gar zur
Nachahmung aufzufordern, sondern man küßt sich auf offener
Straße im Hellen - so glaube ich es jedenfalls - weil es für unsere
Jugend die natürlichste Sache der Welt ist, um die es sich nicht
lohnt, viele Worte und viel Federlesen zu machen.
Nun lädt die Stadt Budapest ja an allen Ecken und Enden mit
ihren zahlreichen Plätzen, besonders an den so warmen Tagen im
Sommer zu derartigen Zärtlichkeiten geradezu ein. Da ist zum
Beispiel die Fischerbastei, wo in unzähligen Mauernischen mit
absoluter Rückendeckung oder von rechts und links von Säulen
verdeckt, ungestört im Anblick des gestirnten Himmels darüber
und des Lichtermeers der Stadt darunter sich Himmlisches oder
Irdisches zuflüstern läßt. Oder nicht weit davon kann man eng
umschlungen, gedankenverloren durch die kleinen Gassen der
Altstadt Buda schlendern, wo fast jeder Toreingang, mit eingebauten Sitznischen aus Steinen zum Verweilen auffordert.
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Und der andere Berg daneben, der mitten aus der Stadt herauswächst? Der Gellért-Berg? Ist er nicht so, wie er dort steht, mit
den dicken Mauern der alten Zitadelle auf der Spitze, den Blumenhainen, den sich durch dichtes Strauchwerk windenden Wegen, ist
er nicht der ideale Platz für alle Verliebten?
Doch wer keine Höhen erklimmen will um ein paar Küsse, dem
bietet die Stadt unten ebenso viel heimliche Plätze in den jetzt
blühenden Rosengärten auf der Margareteninsel, auf den Stufen
und Promenaden am kilometerlangen Donaukai oder unter dichtem Baumwerk im Stadtwäldchen und den anderen Parks.
Doch die neue Romantik, so scheint es, liegt weniger in sternenklarer, mondbeschienener, von Blütenduft erfüllter, kühler
Nacht, sondern vielmehr auf heißem Asphalt in greller Sonnenflut
mitten in der benzin- und rauchgeschwängerten Luft des Großstadtverkehrs.
Ich glaube, ich bin dem Geheimnis dieser neuen Romantik auf
der richtigen Spur. Kürzlich sprach ich mit einem Mädchen sehr
offen darüber. Sie sagte: „Warum muß man seine Gefühle vor der
Umwelt verbergen, und übrigens, da oben in den dunklen Nischen
der Fischerbastei, da müßte man sich ja zwischendurch irgendwas
sagen. Und da fällt uns nie was Gescheites ein.”
So wird mir der heiße Kuß unter der Verkehrsampel verständlich; denn dabei ist jedes Wort überflüssig. Das Wort hat da immer
nur der Zuschauer.
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Die Julischka
aus Budapest
Ein weltbekannter Schlager hieß einmal: Die Julischka, die Julischka, aus Buda-Buda-Pest...
Es geht darum, daß die Juliska und der Jancsi (Kosename von
János) und alle anderen der rund 10 Millionen Ungarn, wohin sie
auch gehen in der Welt, eigentlich immer aus Budapest kommen.
Ich habe wirklich noch kaum gehört, daß zum Beispiel jemand
geantwortet hätte: Ich bin aus Balassagyarmat oder Törökszentmiklós, zwei ebenso schön klingende Städtenamen, von denen es
doch so zahlreiche gibt: 79 Städte und 3.135 Gemeinden! Neben
der Zweimillionenstadt Budapest wohnen in Miskolc um 200.000,
in Debrecen ungefähr 160.000 oder in Pécs - um nur die drei größten Städte nach Budapest zu nennen - rund 150.000 Menschen.
Wenn die Juliska oder Piroska auch aus Hódmezôvásárhelykutasipuszta stammt, als Gast im Ausland danach gefragt, woher
sie kommt, wird sie gewiß antworten: aus Budapest. Man denke
aber nicht, daß so etwas aus Angabe oder Großtuerei getan wird,
sondern eher, weil ein Fremder ungarische Städtenamen kaum
aussprechen kann, vorausgesetzt er weiß, daß es außer Budapest
überhaupt noch so viele Städte in Ungarn gibt. Die Hauptstadt ist
ein allgemeiner Begriff in der Welt. Wenigstens weiß man doch
soviel, daß es eine schöne Stadt an der schönen blauen Donau ist.
Abgesehen davon hat die Juliska gewiß Beziehungen zur Hauptstadt; denn irgendein Verwandter ihrer Familie lebt oder arbeitet
ganz bestimmt hier. Das ist auch der Grund, warum die Budapester selbst in den allerschwersten Zeiten ihrer Geschichte kaum
am Hungertuch genagt haben. Tante Juliska oder Onkel János aus
der Kleinstadt oder dem Dorf schickten oder brachten persönlich
Eier, Wurst und Speck, Schinken und Hühner, Enten und Gänse.
Und selbst heute, wo das doch überhaupt nicht mehr notwendig
ist, in Anbetracht der von Lebensmitteln überquellenden Märkte
und Geschäfte, selbst heute kann man beobachten, wie zum Beispiel am Ostbahnhof Menschen vom Lande aussteigen, denen das
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Geflügel aus dem Gepäck gackert oder die schwer an Körben und
Taschen schleppen, in denen halbe Schweine verarbeitet sind. Sie
glauben das nicht? Stellen Sie sich einmal am Freitagabend, wenn
das Wochenende beginnt, auf den Bahnsteig und fragen den, der
da mit einem Rucksack und zwei schweren Taschen kommt, nach
dem Inhalt.
Meine Schwiegermutter, zum Beispiel, bringt jedesmal, wenn
sie aus Mezôkövesd (Nordungarn) zu uns zu Besuch kommt, eine
Tasche voll Eier, eine andere voll Hühner, eine dritte voll Wurst und
Speck. Und immer sind hilfsbereite Mitreisende da, die ihr beim
Aussteigen und Tragen helfen. Und auf alle meine Einwendungen,
daß sie sich damit nicht abschleppen solle, weil man doch auch
alles hier bekommt, gibt es immer die gleiche Antwort: „Das ist
alles viel besser!”
Aber als man sie auf unserer letzten Auslandsreise danach fragte, woher sie denn komme, antwortete auch sie, als wäre es das
Selbstverständlichste der Welt: aus Budapest.
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
Légy...
Da stand ein verliebter junger Ungar – man kann jemandem so
etwas an der Nasenspitze ansehen – am Geländer der Terrasse des
Budapester Flughafens, winkte einem Mädchen zu, das eben im
Begriff war, sich mit einer Interflug-Maschine von ihm und der
ungarischen Erde abzusetzen, und rief ihr laut übers Rollfeld hinterher: Légy jó!
Nehmen wir an, das Mädchen hat das nicht verstanden – es
kommt vor, daß Liebende sich verstehen ohne sich zu verstehen –
dann wird sie vielleicht doch, während das Flugzeug noch über
Budapest kreiste, in einem Taschenwörterbuch nachgelesen haben, was er als letztes Wort gerufen hat. Im kleinen Langenscheidt
wird das Mädchen als erstes unter légy (bitte nicht wie legi aussprechen, sonst hat es was mit Luft zu tun): Fliege finden. Jó ist
gut, sie hat das schon öfter gehört: so hieße denn: légy jó = Fliege
gut! Sie hätte gedacht, daß ein verliebter Ungar beim Abschied zu
mehr oder Schönerem fähig ist, zu so etwas wie z.B. szeretlek
édes! Ich liebe Dich, Süße! Oder: gondolj rám! Denke an mich!
Oder: ne csalj meg! Betrüge mich nicht!
Aber falsch gedacht. Er hat ihr mit Légy jó! etwas sehr Schönes
nachgerufen: Sei gut! Légy jó mindhalálig = Sei gut bis zum Tod!
Lautet der ungarische Titel des schönen Jugendromans „Mischi
und das Kollegium“ von Zsigmond Móricz.
Das zweite légy im Wörterbuch hatte sie übersehen. Dahinter
steht: imp. zu lenni. Das heißt: Imperativ oder die Befehlsform zu
sein; also: Sei gut! So drückt sich der Ungar aus, wenn er nicht
der Fliege = a légynek, sondern az embernek = dem Menschen,
der ihm am Herzen liegt, etwas mit auf den Weg geben will. So
könnte man Légy jó! auch sinngemäß mit: Bleib mir gut! übersetzen oder meinetwegen: daß mir nichts Schlechtes über Dich zu
Ohren kommt. Sei gut zu mir! Zu Vater und Mutter! Zu Tanten und
Onkeln! Aber nicht zu anderen Kerlen!
Jetzt wissen Sie, liebes unbekanntes Mädchen in dem Flugzeug,
was Sie Ihrem lieben Budapester Jungen schuldig sind, und vor
allem, was Sie ihm, wenn er einmal nach Berlin kommt, in Schönefeld
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Die Julischka aus Budapest - Von Frauen und Männern...
beim Abflug zurufen können. Wenn Sie das dritte Wort mindhalálig
(mind = immer, halálig = Tod, -ig =bis) noch dazulernen, wird das
einen gewaltigen Eindruck auf ihn machen; vielleicht so sehr, daß
er Ihnen vom Fleck weg sagen wird: Légy az enyém! Sei mein!
Nun wissen Sie schon, daß das nichts mehr mit einer Fliege
oder dem fliegen zu tun hat. Nun wissen Sie es. Handeln Sie danach!
126
IV
Gulyásparty
Von Essen, Trinken (bißchen)
und Festen
Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Hühnenbrust und
Zimmerfrau
Schon des öfteren habe ich mich über den deutschen Sprachgebrauch in Ungarn mokiert und ich beginne – ehe ich es bei anderen tue – erst einmal bei mir selbst. Auch mir passiert es häufig,
daß ich deutsche Zungenwurst aus der ungarischen Salami mache
oder umgekehrt. Daß es auf den deutsch geschriebenen Speisekarten ungarischer Restaurants von lustigen Fehlern oft nur so
wimmelt, das werden unsere deutschsprachgien Gäste oder Urlauber gewiß schon selbst gemerkt und sich darüber amüsiert
haben; wenn nämlich statt gebackener Hühnerbrust gebackene
Hühnenbrust auf betyárer Art angeboten wird oder eine wilde
Rehstelze statt einer Rehkeule auf Wildbretart, oder Gänseleben in
eigenem Schmalz statt Gänseleber in Gänseschmalz, oder ein
Rückenschwein mit Bohnengrün statt Schweinerücken mit grünen
Bohnen.
Heute aber, da ausländische Touristen en masse das Land besuchen, findet man gelegentlich auch an öffentlichen Stellen schon
Hinweisschilder in deutscher Sprache. Es hat mich so manches Mal
gewundert, daß in Geschäften, wo deutsch gesprochen wird,
neben dem „English spoken“ stets die Formulierung „Man spricht
Deutsch“ zu finden ist.
Warum nicht: Hier wird deutsch gesprochen? Um das zu verstehen, muß man von der ungarischen Grammatik wissen, daß es
hier das Passiv „wird gesprochen“ nicht gibt. Zwar kennt man auch
das „man“ nicht, aber ein Ungarn kann sich eher noch vorstellen,
daß man spricht, als das gesprochen wird. Im Ungarischen wird
nicht gearbeitet, sondern ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie arbeiten,
also der einzelne Mensch arbeitet (wenn er muß oder will), aber
immer nur im Aktiv, nie im Passiv.
Das trifft natürlich auch auf das Erlernen der deutschen Sprache
zu. Jeder (der muß oder will), bemüht sich, gut Deutsch zu lernen
und das Gelernte auch möglichst sinnvoll anzuwenden. Doch wenn
ein Ungar nicht genügend Deutsch gelernt hat, kann man so nette
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Sachen lesen, wie am Fenster eines Hauses in Balatonfüred:
Zimmerfrau! Anstelle von Zimmer frei! Oder, an der Mole des
Siófoker Hafens am Balaton: Das Betreten des Molos ist (wegen
dem ins Wasserfallen) verboten.
Sült hal
In vielen Ausflugsorten der Donau und der Theiß oder an anderen
Flüssen und Seen findet man häufig ein Schild mit zwei Wörtern:
sült hal. Also gibt es hier gebratenen Fisch (sült = gebraten, hal =
Fisch). Man sollte sich das aber nicht nur darum merken, weil die
gebratenen See- oder Flussfische gut schmecken, sondern auch
deshalb, weil es mit dem Wort hal auch bei uns einige geflügelte
Worte gibt.
Se hús, se hal = Weder Fleisch noch Fisch heißt es von Dingen
oder Menschen, deren Äußeres oder Inneres im Wesen und wesentlichen manchmal unbestimmbar durcheinandergeraten ist. Eigentlich ist das nicht ganz logisch, weil doch auch der Fisch Fleisch hat
um seine Gräten. Hier denkt man aber, wenn man vom Fleisch
spricht, doch wohl zuerst an das der Rindviecher, schon darum, weil
es bei uns davon mehr gibt als Fische. Will man sagen, daß jemand
wie ein Fisch in die Gegend glotzt, wird der Satz mit dem Wort sült
= gebraten ergänzt und heißt: Bámul, mint egy sült hal = Er (sie,
es) starrt wie ein gebratener Fisch. Dabei kommen die Stielaugen,
das erstaunte Mundaufsperren bestens zum Ausdruck.
Betrachten wir nun den allgemein bekannten und tiefsinnigen
Satz: Der Fisch fängt am Kopf zu stinken an. Wer dieses Sprachbild von wem übernommen hat, ist unwichtig. Wichtig ist, wie es
sich ungarisch anhört: Fejétôl bûzlik a hal. Wortwörtlich: Kopf von
stinkt der Fisch. Merken Sie, wie die ungarische Sprache auf den
Kopf losgehend, das Wichtigste an den Anfang stellt? Wenn der
Fisch bei all diesen Gemeinplätzen auch im ungarischen Sprachbild
eine ziemlich negative Rolle spielt, so ist es andererseits erstaunlich, wie das Leben dieser stummen Flossentiere als beispielhaft
glücklichstes mit dem Dasein des ehemaligen „Kaiser von China“
oder „Gott in Frankreich“ verglichen wird. Der Ungar sagt über
jemanden, der sorgenlos gut lebt: Úgy él, mint hal a vízben. = Er
lebt wie ein Fisch im Wasser.
In der deutschen Sprache ist ein kleiner Fisch ein unbedeutender Mensch oder eine belanglose Sache. Für einen Ungarn hat der
kleine Fisch ebensowenig Bedeutung wie das große Tier. Wollte
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
man das geflügelte Wort vom großen Tier in die ungarische
Sprache übersetzen, wird daraus nicht jemand mit großer Stellung
oder großem Einfluß, sondern egy nagy állat, nämlich ein wirklich
großes, dummes Tier. Das große Tier hingegen heißt ungarisch
nagy kutya = großer Hund. Sie sehen allein daraus, daß der Ungar
mit dem Hund nicht auf den Hund kommt. Aber kommen wir vom
Hund zurück zum Fisch. Ein allgemein bekanntes Sprichwort heißt:
Kleine Fische – gute Fische. Genauso, wie Sie es hier lesen. Sie
glauben es nicht? Versuchen Sie nächstens einmal einen Ungarn
danach zu fragen.
Er wird Ihnen die Bedeutung ungarisch erklären.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Zigeunerliebe
Violinen schluchzen, Zimbelschlegel tanzen, Bassgeigen husten,
Flöten pfeifen die Tonleiter hoch bis zum Piep. Der Kapellmeister
glänzt – auch auf der Stirn. Er würde sich gerne den Tropfen von
der Nase wischen, aber jetzt braucht er beide Hände für Wichtigeres; die eine hält den Taktstock hoch, die andere die Faust; oben
auf der Bühne geht der Zigeunerhochzeitstanz in seine Apotheose
über. Zigeunerinnen, breitbeinig von einem Fuß auf den anderen
stampfend, schütteln Flickenröcke und halbbedeckte Oberteile,
während die Tänzer in winzigen Schritten um sie herumtrippeln
und ab und zu mal trotzig mit ihren Stiefelabsätzen die Bretter treten, die die Welt bedeuten. Im Halbdunkel des Hintergrundes ihrer
Wagenburg halb stehend, halb liegend, klatschen Statisten kräftig
im Rhythmus der Zigeunersynkope. Scheinwerfer huschen
gespenstig dazwischen und lassen hier oder dort etwas durchflimmern und aufblitzen. Und alles zusammen gerät im gesteigerten
Wirbel von Tanz und Musik in eine Ekstase, daß die bunten Fetzen
staubig durcheinanderflattern.
Der Vorhang fällt. Applaus braust auf. Die Zigeunerdarsteller
verneigen sich im Rampenlicht.
Wer sagt, daß es mit der Operette aus ist? „Die Csárdásfürstin“
ist unsterblich! „Der Zigeunerbaron“ frißt seinen Schweinespeck
bis zu unser aller Lebensende. Und „Die Zigeunerliebe“ – Lehár
würde sich vor Freude im Grab umdrehen – lebt, liebt und wird
geliebt.
Alle Nichtzigeuner sind schon einmal hinter dem Vorhang verschwunden, aber die begeisterte Menge will sie noch einmal sehen,
in den hübschen bunten Lappen, mit glitzerndem Geschmeide auf
Stirnbändern und Kopftüchern, an Ohren, Nasen, Händen und
Füßen. Ach, mein Gott, diese armen schönen Zigeuner!
Man geht langsam durch die Pause, bleibt an eine Marmorsäule
gelehnt unter goldener Stuckgirlande stehen und lässt das Publikum an sich vorbeischlendern. Da, zwei blasse Mädchen in langen,
bis zur Erde reichenden Röcken aus lauter bunten Flicken grob
zusammengenäht.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Die blonden Haare verdecken eng um den Kopf geschlungene
Tücher, von denen kleine, an den Rand genähte glitzernde Metallblättchen baumeln. Der Kostümbildner hinter der Bühne hätte sie
nicht besser ausstatten können. Zwei junge Männer treten hinzu
und bringen ihnen Limonade. Ihre Hosenbeine schleifen in Fransen
über den Boden wie die Haare über den Schultern. Ach Gott, nein,
sie sind keine „armen“ und keine „schönen“ Zigeuner!
Der Blick schweift zu einer anderen Gruppe. Drei Damen unterschiedlichen Alters in langen, schwarzsilbrig glitzernden, eleganten
Abendkleidern mit dezentem, echtem Schmuck am Hals und an
den Handgelenken unterhalten sich leise mit drei Herren in gut sitzenden dunklen Abendanzügen. Sie erwecken Aufmerksamkeit,
nicht wegen ihrer Kleider, sondern wegen ihrer Haut- und Haarfarbe. Man möchte wetten, das sind waschechte Zigeuner.
Könnte Meister Lehár sie hier sehen, er würde sich gewiß im
Grabe nach ihnen umdrehen, nach den echten und den falschen
Zigeunern, denn beide bringen ihm sein Konzept im Konflikt mit
der „Zigeunerliebe“ völlig durcheinander.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Fasching heißt farsang
Sie sind kaum noch zu zählen, die Einladungen verschiedenster
Berufsgruppen zum farsang. Ein Sammler hätte seine Freude
daran, zu sehen, wie sich alle zu überbieten scheinen in Ankündigung ihrer Faschingsbälle. Wo nimmt man so viele Künstler her
zur Bestreitung des Programms, so viele Musikkapellen, wenn an
den Wochenenden der Faschingszeit in den 22 Budapester Stadtbezirken durchschnittlich 5 bis 10 Bälle veranstaltet werden? Es
bleibt mir ein Rätsel, wie das alles reibungslos abläuft.
Nun bekam ich unter vielen anderen auch die Einladung zum
„Gold- und Silberschmiedeball“. Ich war schon beim Presse- und
Schauspielerball, auch schon beim Hausmeister- und Straßenfegerball, aber Gold- und Silberschmiede in einem Ballsaal vereint,
habe ich noch nicht erlebt. So nahm ich die Einladung an, in der
Hoffnung auf blitzende Wunder.
Die Gesellschaft hatte sich den großen Speisesaal des EuropaHotels gemietet, saß unauffällig, fast schmucklos um die gedeckten Tische. Eine kleine Kapelle spielte dezente Musik. So einfach
benahmen sich diese wahren Künstler, die Budapester Silber- und
Goldschmiede, so ohne jede Maskerade. Sie strahlten Gelassenheit
und Ruhe aus, genau so wie an ihren Arbeitsplätzen. Ich habe sie
einmal dort beobachtet, wo aus edlen Metallen und Steinen fast
lautlos märchenhaft schöner Schmuck entsteht.
Plötzlich wurde es dunkel im Saal. Scheinwerfer leuchteten auf
und vor die Kapelle trat eine von Kopf bis Fuß glitzernde, blitzende Sängerin in buntem, weitem Fransenrock, durchsichtiger Bluse,
die außer der nackten Schulter noch manches ahnen ließ. Um die
Ohren, Finger und Fußknöchel funkelte Gold und Silber, und tausendfach brach sich rotes, grünes, blaues und weißes Licht im
Schliff der Steine. Blauschwarze Haare fielen ihr lang und wellig
über den Rücken. Aus grünen Augen besah sie sich zunächst ihr
Publikum, um sie dann mit langen schwarzen Wimpern zu verdecken und stimmte ein wehklagendes Lied über ein betrogenes,
unglückliches Zigeunermädchen an. Gold- und Silberschmiede
applaudierten höflich, was die Künstlerin veranlasste, noch ein Lied
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
zu singen, und dann noch eins, wobei sie mit immer schnelleren
Bewegungen alle Muskeln spielen ließ, die Finger schnalzten den
Takt, bis ihr Geschmeide zu bimmeln und zu klimpern begann. Auf
diese Weise sang sie sich in eine Ekstase, die aber niemanden so
richtig mitriß.
An meinem Tisch saß ein hübsch gekleidetes, rotblondes Mädchen und sagte ohne zu applaudieren verächtlich: „Alles unecht.“
„Nun gut“, antwortete ich, „der Schmuck und die Wimpern,
aber die Zigeunerin vielleicht doch nicht“.
„Doch, die auch, sagte sie mit Bestimmtheit, „so kleidet und
schmückt sich keine und so singt sie auch nicht.“
„Woher wissen Sie das?“ wollte ich wissen.
„Weil ich selbst eine bin“, sagte sie bescheiden und fügte leise
hinzu: „Ich erlerne die Goldschmiedekunst.“
Dieses Zigeunermädchen auf dem Faschingsball kann längst
Echtes von Unechtem unterscheiden. Ich glaube, es ist an der Zeit,
daß es auch die Zigeunerliedersängerin lernt. Und so nebenbei gesagt, auch diejenigen, die ähnliche Programme oft für In- und Ausländer veranstalten.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Stampedli
Jetzt habe ich doch einmal unseren bekannten Germanisten und
Wörterbuchautoren, Elôd Halász, bei einer kleinen Ungenauigkeit
erwischt. „Was ist ein stampedli?“ fragte mich ein deutscher Gast,
der von seinem ungarischen Gastgeber aufgefordert wurde: „Trinken Sie einen stampedli mit mir!“ Vorsichtig lehnte er ab, da er auf
seine Frage, was denn ein stampedli sei, die Antwort erhalten
hatte: „Ein stampedli ist eine Stampfe.“
Nun, ich kann mir lebhaft vorstellen, wie dem Mann die Stampfe
oder Ramme, mit der Pflastersteine oder Stahlträger in den Boden
getrieben werden, durch Kopf und Magen gegangen ist. Den Ungarn ist ja mit ihren scharf gewürzten Speisen und Getränken so
manches zuzutrauen.
„Stampedli“, beruhigte ich ihn, „ist nach der Größenordnung
das kleinste Gläschen Schnaps und hat nichts mit dem Stoßgerät
oder einer Stampfe gemein.“ „Aber“, sagte er mit Bestimmtheit
„so steht es im großen ungarisch-deutschen Wörterbuch, im Halász!“
Ich habe tatsächlich nachgelesen, so steht´s da: „stampedli =
Stampfe“.
Wie ist das zu erklären? Der hervorragende Wörterbuchredakteur geht ganz sicher richtig von dem österreichisch-bayerischen
Stamperl aus, dem Wein- oder Schnapsglas ohne Stiel, das in der
Umgangssprache als Diminutivform zum Stampfer gebraucht wird.
Aber wohl gemerkt, Stampfer und Stampfe sind zweierlei. Wer
mehrere Stampfer getrunken hat, kann wie ein Schiff bei hohem
Seegang in Längsrichtung auf und nieder nach Hause stampfen.
Aber weder die Stampfe noch die norddeutsche Hauddramme,
noch der Stößel eignen sich als Trinkbehälter. Hier ist eigentlich
nur das r am Ende zuviel. Aber lassen wir dem Druckteufelchen
seine Freude.
Das bayerisch-österreichische Stamperl verändert im Ungarischen nur seine Endung –erl in –edli, wie zum Beispiel die österreichischen Nockerln, die Mehl- oder Grießklößchen, hier nokedli
genannt werden.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Also, wenn Ihnen, liebe Leser, nächstens ein stampedli angeboten wird, nehmen Sie ihn ohne Bedenken an, und wenn der
Schnaps daraus geschmeckt hat – meist ist er vortrefflich - dann
können Sie ruhig sagen: Kérek még egy stampedlit! = Bitte noch
ein stampedli!
Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Schwiagamuotta
jetzt gaiht´s guat
Bei der deutschsprechenden Minderheit, oder einfacher gesagt, bei
unseren Schwaben war wieder was los. Auf drei großen Schwabenbällen in Budapest – ich weiß nicht wie viele kleine sie in anderen
Städten und Gemeinden jährlich veranstalten – haben sich an die
fünftausend auf ihre Weise köstlich amüsiert.
Was die Zahl der Bälle und ihre Ballgäste anbetrifft, sind sie
immer an erster Stelle. Ein lustiges Völkchen, wenn es zum Teil in
altdeutschen Trachten bei Blasmusik mit Alkoholzusatz in Stimmung gerät, zum Walzer und Hopsassa antritt oder am Tisch schaukelnd das alte, von seinen Urgroßvätern nach Ungarn mitgebrachte deutsche Volkslied singt. Und obwohl allerorts, wo die Schwaben heute noch ansässig sind, eigene Sing- und Spielgruppen mit
viel Hingabe dafür sorgen, daß die zahlreichen alten, schönen
Volkslieder, Sitten, Gebräuche und Trachten, also das gesamte
schwäbische Kulturgut nicht in Vergessenheit gerät und ihnen der
„Demokratische Verband der Deutschen in Ungarn“ dazu jede Hilfe
und Unterstützung gewährt, ist und bleibt beim fröhlichen Gesang
am Tisch oder auf dem Tanzparkett das Lied „Schwiagamuotta
jetzt gaiht´s guat...“ der Ungar-Schwabenhit Nummer 1.
Ich beobachte das sehr lange. Kein Lied hat bei den Schwaben
größeren Erfolg, keines ist da, das der Schwiagamuotta Konkurrenz bieten, ihr den ersten Platz streitig machen könnte. Sie ist
nicht nur der Karnevalsschlager, sondern ein Schlager an sich.
Zwar habe ich keinen Einblick in die intimen Familienverhältnisse
einer ungarisch-schwäbischen Familie, aber ich bin fest davon
überzeugt, daß die Schwiegermutter da eine besondere Rolle
spielt, eine ganz besonders gute oder..?
Nein, das kann ich mir nicht denken, denn sonst würde das
Lied nicht so beginnen: Schwiagamuotta jetzt geht’s gut. Schon
in diesem ersten Satz steckt viel Sinn- und Wertvolles über die
Schwiagamuotta, die man teilhaben lassen möchte an der Freude,
nicht ausschließen will vom Vergnügen: im Gegenteil, der man
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
gewissermaßen, in dem man sie besingt, das allgemeine Wohlbefinden zuerst mitteilt, sie vielleicht sogar als wichtigste Person
in der Familie betrachtet.
Das ist nicht das Lied von der Oma, der man ihr kleines Häuschen versäuft.
Wie geht das Lied eigentlich weiter? Ich weiß es nicht. Dabei
hab ich ja genau hingehört. Aber nach dem ersten Satz war es mir
immer unverständlich, und ich schrieb es zuerst dem mir nicht
sehr geläufigen schwäbisch-ungarischen Dialekt zu. Dann habe ich
nachgefragt, wie und ob es überhaupt weiter geht im Text. Aber
niemand wusste ihn. Ein korpulenter, rotbackiger, blauäugiger
Mann antwortete nur mit ausgebreiteten Armen ungarisch: „Nem
mindegy? = Ist es nicht egal?“ Und dann stimmte er aus vollem
Hals, nicht schön aber sehr laut das Lied an: „Schiagamuotta jetzt
gaiht´s guat la la la la la la la ...“
Das Gegenteil erlebte ich kürzlich in Backnang, einer kleinen,
hübschen Stadt bei Stuttgart, in der jetzt viele Schwaben wohnen,
die vor dem Krieg in Ungarn lebten. Bei einem „Ungarischen Weinlesefest“ sangen sie, von Zigeunermusik begleitet, stundenlang
ungarische Volkslieder und tanzten Csárdás besser als manche
Ungarn zu Haus. Das Lied von der Schwiagamuotta hörte ich den
ganzen Abend über kein einziges Mal.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Tarhonya
Was wissen Sie über die ungarischen Suppen? Das könnte fast
eine Preisfrage sein. Das Wort unserer Überschrift tarhonya sollten
Sie sich für alle Fälle merken – es ist das einzige ungarische Wort,
das auch die Königin von England weiß – weil ich es auf vielen
Speisekarten schon vergeblich in englischer Übersetzung gesucht
habe. Wenn Sie es richtig aussprechen, das ny wie nj, dann kann
nichts schief gehen, dann bringt Ihnen der Ober zum Beispiel
tarhonya = Eiergraupen zum Pörkölt. Kosten Sie das mal! Es
schmeckt zum paprikagewürzten Fleisch besser als Kartoffeln.
Nun, tarhonya wird auch als Suppe serviert. Dann müssen Sie
eine tarhonyaleves (leves = Suppe) bestellen. Sie ist ähnlich wie
eine Nudelsuppe, mit dem Unterschied, daß die Nudeln eigentlich
keine Nudeln sind, sondern Eiergraupen. Wenn Sie eine wirkliche
Nudelsuppe essen wollen, müssen Sie nach einer tésztaleves fragen (tészta = Teig, metélt tészta = Nudelteig).
Ich habe kürzlich in einem Budapester Restaurant einen fremden Gast beobachtet, der wahrscheinlich stolz über seine ungarischen Sprachkenntnisse dem Ober sagte: „Kérek fôtt tésztát“ (fôtt
= gekocht). Der Mann war also der festen Überzeugung, daß er
gekochte Nudeln, selbstverständlich zu einer Suppe verkocht, bestellt hatte. Der Ober fragte: „Mákkal vagy dióval?“ = mit Mohn
oder Walnüssen? Da wurde es dunkel um den Gast. Ich sah, wie
er den Ober hilfesuchend anblickte und danach fragte, was das
wohl für eine Suppe wäre mit Mohn oder Nuß?
Der Ober erklärte, daß Nudeln gekocht bei uns keine Nudelsuppe, sondern eine Mehlspeise aus Nudeln sind. So wie das gulyás (in Deutsch auch Gulasch geschrieben), was Sie als kleine
Fleischstückchen mit Kartoffeln und Soße kennen, bei uns wiederum eine Suppe ist, nämlich die gulyásleves = Gulaschsuppe.
Wollen Sie aber, ungefähr nach Ihrem Geschmack, nur ein
bißchen ungarischer, mit Paprika oder Tomatensoße zubereitet,
einen Gulasch essen, dann bestellen Sie nicht Gulasch, sondern
pörkölt. Und dazu entweder burgonya = Kartoffeln oder tarhonya
= Eiergraupen. Sie sehen, die Endungen - onya - beider Wörter
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
gleichen sich. So können Sie sich also, damit´s leichter wird,
zuerst das tar merken. Aber vergessen Sie nicht das –honya hinten dran, sonst heißt das Wort kahl. Und bei aller Vielseitigkeit und
Raffinesse ungarischer Speisen gibt es dennoch keine tarleves,
also keine kahle Suppe. Nein, die gibt’s nie!
aus dem Süden? Zwar überfüllten die Gänse das ihnen vorgeschrieben Plansoll von 130.000 Eiern und legten 212.000, von denen aber nur 23.000 befruchtet waren. Das Unternehmen mußte
einen Verlust von mehr als vier Millionen Forint verbuchen. Die Genossenschaftsmitglieder beschlossen, den Verlust bei der Universität für Agrarwissenschaft einzuklagen. Und der Prozeß scheint
für die Gänse aus Italien schlecht auszugehen. Die ungarischen
Gänse dieser Gegend aber schnattern lauter denn je, heben die
Köpfe noch höher und machen die Schnäbel noch weiter auf: Denn
es zeigt sich wieder einmal, wohin man mit der Vorliebe für manch
Fremdes gekommen ist. Was die Italiener können, das können wir
Ungarn schon lange! Wenn nicht vielleicht sogar viel besser.
Italienische oder
ungarische Gänse?
Lúdláb, lúdtalp
Wahrscheinlich hat schon mancher von Ihnen während seiner
Reise durch Ungarn irgendwo am Dorfteich Gänse in größeren
Scharen beobachtet, die von weitem gesehen, fast den Eindruck
einer verschneiten Winterlandschaft im Sommer machen. Wie sie
dann bei Sonnenuntergang nach Sippe und Zusammengehörigkeit
anstehen und in Reih und Glied nach Hause watscheln, sich an
Wegkreuzungen in mehrere Gruppen trennen und immer den richtigen Weg finden. Alle sind sichtbar mit verschiedenen Farben
gekennzeichnet und erkennbar gemacht. Die Gänse wissen auch
ohnedem, zu wem sie gehören. Das Wort von der „dummen Gans“
besteht zu Unrecht.
Die ungarische Gans im Ganzen, oder nur ihre Gänseleber und
die weichen Federn bringen uns harte Valuten. Darum haben sich
zwei reiche Genossenschaften dazu entschlossen, gemeinsam eine
Gänsezuchtstation einzurichten. Man brachte über 50 Millionen
Forint zusammen für die Anlagen und für den Ankauf der Zuchtgänse, die nach dem Plan einer Expertengruppe so bald wie möglich 130.000 Bruteier legen sollten. Die Universität für Agrarwissenschaft empfahl einen Zuchtgänserich aus Italien, der sein Können
schon mehrfach unter Beweis gestellt hatte und dessen Potenz der
des ungarischen Gunars (so heißt die ungarische Gans männlichen
Geschlechts) weit überlegen zu sein schien. Doch die Italiener bekamen in ihrer neuen ungarischen Umgebung plötzlich Minderwertigkeitskomplexe.
Oder beeinträchtigten andere Einflüsse, deren Ursachen noch
geprüft werden müssen, die Fortpflanzung des weißen Federviehs
Da haben wir schon wieder ein komisches Wort, das zu
Verwechslungen führen kann, denn einmal ist lúdláb ein Gänsefuß,
ein anderes Mal ein Tortenstück, nicht etwa von den vorzüglichen
ungarischen Zuckerbäckern so benannt, als ob lúdláb nach einem
Gänsefuß schmecke, sondern eher deshalb, weil diese Schokoladenkremtorte so aussieht wie ein gespreizter Gänsefuß.
Da fragte kürzlich ein Gast und Freund unserer Sprache, der
diesen wohlschmeckenden lúdláb schon einmal gekostet hatte,
den Geschmack noch halb im Gaumen, das Wort noch halb im Ohr,
in der gleichen Konditorei den Ober: Van lúdtalp? = Haben Sie
einen Plattfuß? Der Ober, erschrocken über diese indiskrete Frage,
antwortete mit Humor: Ja, den habe ich, kann ihn aber nicht servieren, doch einen ludláb, den bringe ich sofort.
Láb ist also der Fuß oder das Bein, und talp ist die Fußsohle,
wobei aber auch talp manchmal im Sinne von Bein verwendet
wird. Das berühmte Nationallied des Dichters Sándor Petöfi, das er
zu Beginn der Revolution 1848/49 schrieb, beginnt mit den Worten: Talpra magyar! Es wäre schlecht übersetzt mit dem Satz: Auf
die Beine, Ungar! Auf die Sohlen ... hört sich noch schlechter an,
also muß es heißen: „Auf, Magyaren!“
Daß die Gans ungarisch lúd heißt, wissen Sie nun. Aber wenn
Sie jemanden eine dumme Gans nennen wollen, müssen Sie buta
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
liba sagen. Eine buta lúd gibt es nicht. Sie sehen, der Ungar hat
zwei Namen für seine Gänse. Nur der liba wird die Eigenschaft
dumm zugeschrieben, der lúd aber die Eigenschaft ludas = der
Schuldige.
Nunmehr können Sie also nicht nur eine ungarische Torte bestellen oder jemanden eine dumme Gans nennen, sondern sogar
einen ganzen Fragesatz stellen: Ki a ludas? = Wer ist der Schuldige? Und Sie werden darauf viel lustige Antworten finden in unserem Witzblatt Lúdas Matyi = Der Gänsehirt. Und wenn Sie das
nächste Mal bei uns sind, können Sie einmal darin blättern, während Sie einen lúdláb mit Schlagsahne verzehren.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Gulyás-party
Sie finden diese Überschrift in vielen Programmen des ungarischen
Fremdenverkehrs. Und mit ein wenig Phantasie lässt sich vorstellen, was Sie auf einer Gulyás-party (oder auch wie man deutsch
sagt: Gulasch-Party) erwartet. An erster Stelle natürlich Gulasch.
Doch weniger phantasiebegabte Teilnehmer möchte ich auf einiges
aufmerksam machen: Die mit viel Paprika gewürzte Gulyássuppe
wird meist in tiefen irdenen Tellern serviert und oft mit Tonlöffeln
gegessen, die eher kleinen Suppenkellen ähneln, weil man sich
damit weniger den Mund verbrennen kann; denn eine Gulyássuppe muß heiß sein, wie das Temperament aller auf einer Gulyásparty.
Da spielen Ihnen, während Sie die Suppe schlürfen, das Rindoder Schweinefleisch zerkauen, die Zigeuner in bestickten paprikaroten Westen scharfe Sachen vor, zur Steigerung der Gulyássuppen-Partystimmung. Sicher werden dabei Lieder zu hören sein,
wie: „...beteg vagyok, fáj a szívem...“ = ich bin krank, mein Herz
tut weh... und ähnliches. Wenn Sie dazu klatschen – Zigeunergeiger sind das vom ungarischen Publikum nicht gewöhnt und
spielen zum Essen immer ohne Applaus, dann wird der Primasch
seiner Kapelle einen Wink geben und sofort mit „Wien, Wien, nur
du allein“ fortsetzen.
Und erst, wenn Sie noch während des Essens oder später beim
Trinken deutlich zu erkennen geben, daß Sie nicht aus Wien, sondern nehmen wir an, aus Hamburg sind, dann spielen die Zigeuner
sofort mit allergrößtem Eifer „In München steht ein Hofbräuhaus“
und singen vielleicht auch dazu, wobei sie München wie Münken
aussprechen werden, weil für den Ungarn das ch ebenso schwer
ist, wie die Artikel der, die, das.
Haben Sie also schon so viel Gulyássuppe und Wein in sich, daß
Sie den Mut aufbringen, dem Ober mitzuteilen, er möchte doch
den Zigeunern sagen, daß Sie nicht aus München sind, dann müssen Sie nicht staunen, wenn der Ober antwortet: „Sehr wohl! Ich
werde das Primasch sagen, der Kapelle soll die Lied aus Hamburg
spielen“ - und Sie können gewiß sein, die Zigeuner auf einer Gulyás147
Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
party spielen für Sie das Lied von der Reeperbahn. Sie können
alles, von „Untern Linden, untern Linden“, das sich auch als „Váci
utca, Váci utca“ singen lässt, bis zum neuesten Weltschlager.
Am besten aber, Sie sagen gar nichts und lassen die Zigeuner
spielen, was sie wollen. Dann werden sie Ihnen ganz bestimmt
„die Lerche“ von Dinicu vorzwitschern und dabei auch dem Zymbalspieler, dem Flötisten und dem Bratschisten ein Solo überlassen, denn ein selbstbewusster Primasch weist mit dem Bogen auch
auf das Selbstbewusstsein seiner Mitspieler hin.
Wem alles so gut gefallen hat, daß er noch einmal eine Gulyásparty mitmachen möchte, dem ist zu raten, dem Primasch die
Hand zu drücken mit einer Kleinigkeit dazwischen. Sie können es
auch auffällig machen, indem Sie einen Geldschein auf die Spitze
seines Fiedelbogens spießen. Danach wird er Ihnen Ihr Lieblingslied noch einmal vorspielen, und Sie dabei bis zum Ausgang
begleiten.
Nun habe ich ganz vergessen zu sagen, daß bei einer Gulyásparty noch viele hübsche ungarische Mädchen in bunten Volkstrachten tanzen und singen und meist sehr lustig sind, auch wenn
sie am Tage Ärger gehabt haben. Vielleicht bietet sich sogar die
Möglichkeit, mit einem dieser niedlichen, reizenden, immer lachenden Mädchen ins Gespräch zu kommen, dann erfahren Sie etwas
vom Ernst des Lebens hinter der Gulyássuppe.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Macht nichts!
Jedermann weiß, wie schwer es ist, sich in erregtem Zustand in
einer fremden Sprache ausdrücken zu müssen. Selten fallen in solchen Augenblicken die passenden Worte ein, und da der Mensch
im Allgemeinen, und der Ungar im Besonderen, in solchen Hochspannungsmomenten nicht in fremden Worten, sonder lieber in
der eigenen Muttersprache die treffenden und passenden Ausdrücke sucht, um den überflüssigen Dampf abzulassen, mag sich
der Leser folgende Geschichte vorstellen:
Meine Frau Panni hatte für einen deutschen Gast den Tisch mit
der prachtvollen, in allen Farben eines ungarischen Bauerngartens
leuchtenden Tischdecke von zu Haus, aus Mezôkövesd, gedeckt
(bekannt für die berühmten Matyó-Stickereien). Auf dem Küchenherd stand die Halászlé = Fischersuppe brodelnd auf kleiner
Flamme. Jedem Fremden wird sie mit ein paar passenden Worten
angekündigt, weil sie Geruchs- und Geschmackssinne in außerordentliche Stimmung versetzt, dabei durch ihre dunkelrote Farbe
auch das Auge reizt und ein schier unerschöpfliches Gesprächsthema ist über Herkunft, Zubereitung und Zutaten. Eine Fischersuppe wird meist in einem kleinen, an einem Ständer aufgehängten Kochkessel (bogrács) serviert. Und als meine Frau mit niedlich
ungarischem Akzent in der gelernten deutschen Sprache aufforderte: „Bittä sär, bädienen Sie sich“ – da geschah es, als der Gast
die Suppe aus dem schwankenden Kessel löffeln wollte, daß sie
überschwappte, und auf dem schneeweißen Leinentuch am Rande
eines bunten Blumenmusters einen großen roten Klecks hinterließ,
der in Form einer roten Kussrose (Kussrose ist ein typisches Stielelement in der Matyó-Stickerei) gar nicht schlecht wirkte. Aber
eine Hausfrau im Allgemeinen und meine im besonderen sieht einen roten Fleck anders, und sie sagte etwas in ihrer Muttersprache,
wofür ich ihr noch heute dankbar bin, daß sie nicht versuchte, es
übersetzen zu wollen. Es wäre ja auch für unseren Gast schwer zu
verstehen gewesen. So entstand die bekannte peinliche Situation,
wenn der Schuldige Entschuldigungen stammelt, und der Betroffene die im Deutschen dafür übliche Redewendung gebraucht:
„Macht nichts!“
149
Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Ungarn lernen in der Deutschstunde sicher vieles für alle möglichen Situationen. Aber „macht nichts“ habe ich noch in keinem
deutsch-ungarischen Sprachführer gefunden. Na, macht nichts.
Ich erklärte dies meiner Frau später, als Gast und Fleck längst weg
waren.
Und es kam wieder ein deutscher Gast und es gab wieder die
herrlich duftende Fischersuppe. Und wieder schmückte den Tisch
die in Mezôkövesd gestickte, längst gereinigte Tischdecke. Meine
Frau war vorsichtig geworden und teilte nun selbst die paprikarote Suppe aus. Da geschah das Unerwartete: es kleckste etwas auf
die helle Hose unseres Freundes: worauf meine Frau mit bezauberndem Lächeln und mit dem so reizend klingenden ungarischen
Akzent „Macht nichts!“ sagte.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Betrunkene
Pogatschen
Ein Preuße, als ihm hier einmal Pogatschen angeboten wurden,
fragte: „Wat für Latschen?“ Pogatschen jedoch sind nichts für die
Füße, sondern etwas zum Essen. Wenn sie auf der Zunge wie
Butter zergehen, dann sind es die richtigen, die feinen, die Grammel, oder meinetwegen auch Speckgriebenpogatschen, ohne die
es in Ungarn kein Weihnachten, kein Neujahr und überhaupt keinen Feiertag gibt.
Besonders da, wo Schlachtfeste gefeiert werden, gehören die
Grammelpogatschen dazu wie ein Dessert nach dem Festmahl. Am
besten schmecken sie noch dampfend heiß. Man braucht dazu nur
etwas Mehl, Fett, zerkleinerte Speckgrieben und Salz. Der Teig
wird wie zum Strudel gerollt und mit Grieben überstreut, dann wie
ein Tischtuch zusammengelegt und mit einer runden Form ausgestochen – so kommt er in den Backofen.
Ich habe es selbst einmal versucht. Es war wirklich sehr einfach, doch es kam am Ende wirklich fast ein alter Latschen heraus.
Dann habe ich es mir von der Schwiegermutter zeigen lassen. Die
Kunst beginnt schon beim Rollen des Teigs; je dünner, desto besser, dann wird er liegengelassen. „Man muß es im Gefühl haben,
wie lange“, sagte sie. „Und dann wieder rollen und wieder liegen
lassen, während die zerkleinerten, durch einen Fleischwolf gedrehten Grieben vorbereitet werden.“
Ihre Handbewegungen beim Kneten und Rollen wirkten wie die
eines Zauberers, der zum Schluß seinen Hokuspokus darüberstreicht. Nachdem die Pogatschen schon ausgestochen waren,
nahm sie sie alle noch einmal einzeln zwischen die hohlen Hände
und drückte die einen leicht nach rechts, die anderen nach links.
Und das erklärte sie folgendermaßen: „Das werden die betrunkenen Pogatschen.“
Als sie nach fünfzehn Minuten aus dem Backofen genommen
wurden, standen sie wirklich alle wie kleine Männchen da, die
ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle haben.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Ihre knusprig braun gebackenen, aufgetürmten Teigblättchen bogen sich nach links und rechts, nach vorn und hinten. Und zwei
von ihnen hielten sich so aufrecht wie Säufer, die umfallen würden,
lehnten sie sich mit ihren Köpfen nicht aneinander.
Wie nach so einer Grammelpogatsche ein Glas Wein schmeckt,
sollte jeder einmal versuchen. Man kann das natürlich auch öfter
wiederholen, bis man so schief steht wie die betrunkenen Pogatschen.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Must und murci
Damit, wer an schönen Herbsttagen durch Weingärten spazieren
geht, auch den Leuten, die da geschäftig Reben lesen, Körbe tragen, Trauben mahlen und pressen, etwas zurufen kann, nehme er
das erste Wort unserer Überschrift und setze ein jó = gut davor
und ein Fragezeichen dahinter; dann hat er die Frage gestellt, ob
es ein guter Most ist.
Die Angesprochenen werden sich darüber freuen, denn erstens
ist der must (ganz offensichtlich ein deutsches Lehnwort in der
ungarischen Sprache, bei dem man nicht vergessen soll, daß das
s wie sch gesprochen wird), in diesem Jahr im Durchschnitt süßer
als zur letzten Weinlese, und zweitens wird der Angesprochene
seinen must loben wie das eigene Pferd, den eigenen Wagen oder
das eigene Kind. Wenn Sie den must danach zu kosten bekommen, denn das war ja der Anrede tiefer Sinn, ist er auf alle Fälle
der süßeste von allen, die Sie eventuell bereits woanders gekostet
haben. Merken Sie sich das!
Sie brauchen da kein weiteres ungarisches Wort zu kennen.
Wenn Sie beim Kosten nur bedächtig, verständig mit dem Kopf
nicken, und dazu das auch Ihnen bekannte Hm! sagen, wird man
noch ein Gläschen einschenken und vielleicht noch eins. Sie können sich vielleicht noch die beiden Wörter merken: nagyon édes =
sehr süß, dann werden Sie so viel must trinken können, wie Sie
wollen. Um Gottes willen, fragen Sie nie danach, ob da eine
Zuckerlösung hinzugemischt worden ist.
Jeder selbstbewusste Weinzüchter wird es verneinen. Nach dem
Grad der Süßigkeit können Sie fragen, oder besser gleich mit Kennermiene sagen: húsz fok = zwanzig Grad. Ein Winzer, der was auf
sich hält, hat überhaupt keinen must unter húsz fok. Kommt Ihnen
bei diesem Hm! und nagyon édes! vielleicht auch der Gedanke,
mal vom Wein des letzten Jahrganges zu kosten, dann lernen Sie
bitte die drei Wörter: jó bor lesz! = es wird ein guter Wein! Sie
werden sehen wie der Winzer, Ihre Gedanken erratend, sofort seinen gläsernen Weinheber in das alte Faß steckt und den besseren
vom vorigen Jahr heraussaugt.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
So leicht verständlich für Sie aber der must ist, so schwer verständlich wird Ihnen das Wort murci erscheinen. Uns auch. Und
solange sich die Sprachwissenschaftler darüber streiten, ob wir es
aus den slawischen oder anderen Sprachen übernommen haben,
können Sie den murci mal probieren. Es ist der Rauscher oder
Sauser, also der must, in dem der Gärungsprozeß schon begonnen
hat. Aber geben Sie acht! Ein Rausch von diesem Rauscher ist
nicht von schlechten Eltern. Besonders wenn Sie aus dem Keller an
die frische Luft kommen, macht er sich plötzlich bemerkbar.
Sollten Sie dann überhaupt noch etwas Gescheites zusammenbringen, denken Sie an das Wort jó = gut, und konjugieren einfach
den murci in der ersten Person Mehrzahl der Vergangenheit: Jót
murciztunk, das heißt wortwörtlich: wir haben gut gemurcit, oder
meinetwegen: gerauscht oder gesaust; mit einem Wort: wir haben
uns einen Rausch angetruken. Halt! Nein, das sind ja sechs
Wörter! Nur im Ungarischen ist es eins: becsíptünk.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Kirschschnaps
Die Internationale Budapester Herbstmesse ist wieder in vollem
Gange - ich meine sie ist voll bis zum Rand mit Neuheiten aller Art
und Neugierigen, die nach dem Rundgang voll sind, von Kostproben aller Art.
„Ja, ja der Wein ist gut...” - und die Gänseleber und die Salami
und das neueste vorgekochte Schnellgericht für Junggesellen oder
Kochmuffel. Auch der Technik neuester Stand kann nicht so umlagert sein, wie der alte Wein am Kostprobenstand.
Was braucht der Mensch zum Leben? Eine vollautomatische
Waschmaschine? Den ferngesteuerten Fernseher? Die allerneueste
Bohrmaschine? Ein billiges und zugleich sicheres Auto? Aufblasbare Möbelstücke? Oder einen neuen Hut? Was nützt der letzte
Schrei der Mode und der Technik, wenn der neueste Eisschrank mit
aufgesetzter Tiefkühltruhe leer steht? Der leere Teil für Flaschen,
ist schließlich für volle gedacht.
Also, wo gibts den alten Schnaps oder Wein?
Eben gerade jetzt hat ein Mann, zwischen 90 und 100 Jahre alt,
im Fernsehen nach dem Geheimnis seines Alters in Gesundheit
befragt, die Antwort gegeben: „Der Schnaps, mein Herr! Der
Schnaps! Jeden Morgen ein halbes Dezi, das bringt den Magen und
den ganzen Tag in Ordnung!”
„Wo gibts den berühmten barack, den Aprikosenschnaps der
Magyaren?” fragte ich einen Herrn vor einem dieser Riesenfässer,
in denen Weinkostproben verkauft werden. Er nahm vertrauensvoll meine Hand und führte mich in einen Pavillon für neueste
Haushaltsgeräte hinter eine der Kojen, wo auf bequemen Sesseln
die Geschäfte abgeschlossen werden.
Aus dem Wandschrank nahm er eine Flasche Kirschschnaps und
zwei Gläser mit den Worten: „Immer dieses Vorurteil mit dem
Barack! Wissen Sie denn nicht, daß der Kirsch besser schmeckt
und gesünder ist?”
Er goß ein und prostete mir zu.
„Wirklich, ich habe ihn eigentlich noch nie so richtig gekostet”,
sagte ich, „ausgezeichnet im Aroma.”
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
„Das freut mich”, sagte mein Gastgeber und goß wieder ein,
„ich sage immer, man soll auch mal die andere Marke versuchen.
Sehen Sie, das hier zum Beispiel ist unser neuestes Fernsehgerät
Venus gegen den alten Jupiter.”
Der Tisch lag mit Prospekten voll und ringsum stand die Venus
in strahlender Pracht.
„Sehen Sie, alles schwört auf Jupiter, aber ich sage Ihnen, Venus ist besser, schöner und preiswerter.” Er goß noch einmal ein.
Und ich dachte, während ich trank, ich werde von nun an nur noch
diesen Kirschschnaps trinken.
„Nun”, fragte mein Gastgeber, „wie gefällt Ihnen die Venus?”
Ich sagte: „Gut, aber ich habe schon einen Jupiter.”
„Ach was”, sagte der freundliche Mann, „trennen Sie sich vom
Jupiter und...”, er goß noch einen Schnaps ein und danach noch
einen. Lächelnd reichte ich ihm die Hand, nachdem der Kaufvertrag unterschrieben war, verabschiedete mich und ging. Sagte
ich nicht, die Messe sei in vollem Gang. Als ich sie dann etwas
wankend verließ, fiel mir wieder ein, was der Mensch zum Leben
braucht: Kirschschnaps.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Gänseleben, Gänseleber
„Fuchs, du hast die Gans gestohlen...” - das singen ungarische
Kinder nicht, obwohl hier - wie überall - ungarische Füchse ungarischen Gänsen auflauern und sie klauen, wo es ihnen gelingt.
Doch ich behaupte, daß im Verhältnis zu anderen Ländern bei
uns weniger Gänse von Füchsen gestohlen werden. Meine Annahme liegt vorläufig jedoch nur in einer Umfrage begründet, wieviele Gänse hier und dort, bei kleinen und großen, genossenschaftlichen, staatlichen und privaten Gänsezüchtern von Füchsen
gestohlen worden sind. Gänse sind bei uns überall gut behütet,
oder werden im „Prozeß der Stopfung” gar nicht erst aus ihren
sicheren Bestallungen gelassen. Dieses Stopfen, eins so ausgeführt, indem mit der einen Hand der Schnabel gespreizt, mit der
anderen nacheinander die Maiskörner in den Schlund gesteckt
wurden, vollbringt heute in modernen Zuchthäusern die Stopfmaschine. Müheloser für den Menschen und „gefahrloser” für die
Gänse.
Nun, aufrichtig gesagt, als Tierfreund gefallen mir beide Methoden nicht. Noch weniger natürlich die, einer Gans soviel Freiheit zu
lassen, daß sie schließlich vom Fuchs geholt und aufgefressen
wird. Nein! Dann sehe ich die Gänsebrust lieber in meinem Bauch.
Und selbst, wenn ich Vegetarier wäre, ließe ich Gänse nicht in alle
Ewigkeit leben. Erstens, weil sie sich sehr schnell vermehren, und
es bei uns soviel Füchse heute gar nicht mehr gibt, die sich den
Überschuß holen würden. Und zweitens, weil auf die nicht unwichtige Frage des Exports von Gänsebrüsten, Gänselebern und noch
ganz gelassenen Gänsen die klipp und klare Antwort gegeben werden muß: Es lebe die ungarische Gans und ihre Gänseleber!
Eigentlich stimmt dieser Satz nicht. Auch wenn er sich reklamemäßig für unseren Außenhandel gut anhört. Man müßte eher sagen: Es lebe die tote Gans und ihre tote, krankhaft aufgedunsene
Gänseleber!
Ich sehe ein, daß sich mit einem solchen Reklametext sehr
schwer etwas verkaufen ließe. Also soll, wer immer auf der Welt
von einer im fetten Gänseschmalz steckenden, dicken, großen
Gänseleber ein Scheibchen abschneidet, es in den Mund steckt und
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
auf der Zunge wie Butter zergehen läßt, aus dem Kopf zumindest
die Gedanken verscheuchen, wie eine so kleine Gans zu einer so
großen Leber kam. Denn, ganz unter uns gesagt, meine ich, daß
die dickste, schönste, größte, schwerste ungarische Gänseleber
eine kranke, für das Viech jedenfalls eine bösartige, schlechte
Leber ist. Sicher sagt man daher auch bei uns allgemein zu jemandem, der sehr bösartig ist: rosszmájú vagy. = Du hast eine
schlechte Leber...
Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Langer Schritt
und Hausmeister
Es ist allgemein bekannt, daß die Ungarn nicht nur einen guten
Wein anbauen, sondern ihn auch trinken. Sie rangieren übrigens in
punkto Alkoholverbrauch unter den ersten zehn Ländern der Welt.
Das kann man sowohl positiv als auch negativ bewerten. Ich für
meinen Teil glaube: Wenn das Trinken in gewissen Grenzen bleibt,
ist es ein gutes Zeichen. Mir persönlich sind Menschen lieber, die
Wein trinken anstatt Limonade. Nein, die Ungarn sind keine Alkoholmuffel. Sie lieben das Leben, mit allem, was dazugehört. Zum
Beispiel den Wein und all die schönen Sachen, die man damit
anfangen kann.
Von Goethe stammen jene bekannten Verse, die er flugs den
„Herren am Tische” schrieb, als diese sich darüber mokierten, daß
er Wein mit Wasser mischte.
Die Ungarn mischen verschiedene Mengen von Wein und Wasser. Da gibt es beispielsweise den „kisfröccs”, den kleinen Gespritzten, bestehend aus einem Dezi Wein und einem Dezi Sodawasser, dann den „nagyfröccs”, den großen Gespritzten, mit zwei
Teilen Wein und einem Teil Wasser. Symbolische Namen tragen der
„Lange Schritt” und der „Hausmeister”. Während man den ersten,
den „hosszú lépés”, mit einem Dezi Wein und zwei Dezi Wasser
trinkt, gebühren dem „házmester” drei Dezi Wein und zwei Dezi
Wasser. Ihn trinkt in erster Linie natürlich derjenige, dem zu Ehren
diese Mischung benannt wurde - der Hausmeister. Er genießt heutzutage in städtischen Lokalitäten etwa noch das gleiche Ansehen
wie seinerzeit der „csikós”, der Pferdehirt in den Pusztaschenken.
Er stand höher im Kurs als der Schafhirt oder gar der Schweinehirt. Und ein ungarischer Hausmeister ist nicht zu vergleichen mit
einem österreichischen Hausmeister oder einem deutschen Portier,
sondern er ist eben ein echt ungarischer Hausmeister, dem unter
Umständen noch ein Vizehausmeister zur Seite steht. Und ein solcher Vize trinkt keinesfalls auch einen „házmester”, sondern bestenfalls einen „Langen Schritt”.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Das Beschwerdebuch
„Das Fleisch kann ich nicht essen“, sagte der Gast zum Kellner,
„bitte rufen Sie den Geschäftsführer.“ „Sehr wohl mein Herr“, erwiderte der Kellner, „aber der wird es auch nicht essen können.“
Solche dummen Witze gehören in Ungarn der Vergangenheit
an. Erstens darum, weil ein Geschäftsführer heute nicht so einfach
gerufen werden kann. Ein Geschäftsführer nimmt seinen Beruf
ernst. Er führt Verhandlungen, Sitzungen, Besprechungen meist
außer Haus, oft außer Landes. Wem etwas nicht schmeckt, passt,
gefällt, dem steht das Beschwerdebuch zur Verfügung. Bitte, da
hängt es am Bindfaden sogar mit einem Bleistift dabei und fordert
direkt zur Beschwerde heraus. Manchmal muß man die Verkäuferin oder Kassiererin, den Ober oder den Postangestellten oder
sonst wen danach fragen. Dann wird es aus irgendeiner Ecke hervorgeholt und, je nach dem Wesen des Betreffenden, mit eisigem
Lächeln vorgelegt, oder mit drohender Miene hingeworfen.
Man kann nun seine Beschwerde durch ein Durchschlagpapier
in zwei Ausfertigungen eintragen, und wenn die volle Adresse nicht
vergessen wurde, nach geraumer Zeit auf Antwort warten. Ich
bekam erst kürzlich einen Brief von der Generaldirektion eines
großen Unternehmens, die mich mit aller Höflichkeit davon verständigte, daß ich mit meiner Beschwerde völlig im Recht sei, alles
sei unternommen worden, um solche Vorkommnisse in Zukunft
zu vermeiden und der Verantwortliche seines Postens enthoben
wurde.
Der Fall lag so lang zurück, daß ich längst vergessen hatte,
worüber ich mich eigentlich beschwert hatte. Und es plagte mich
jetzt rückblickend das Gewissen, daß einer so lausigen Beschwerde wegen ein Mensch, womöglich der Ernährer einer großen
Familie, seine Stellung verloren hatte. Ich ging der Sache nach
und fand jenen Mann in der gleichen Firma, im wahrsten Sinne des
Wortes seines Postens enthoben – in gehobener Stellung.
Sehen Sie, das ist das geniale an einem Beschwerdebuch. Es
schafft den vernünftigen Abstand von der plötzlichen Erregung bis
zur Nüchternheit und vermeidet auf diese Weise größere Schäden
in den zwischenmenschlichen Beziehungen.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Denn was ist der Beschwerde tiefster Sinn? Daß der, der sich
beschwert, sein Recht haben soll, wo er recht hat. Das ist durch
das Beschwerdebuch vollends gesichert.
Ein ausländischer Gast beschwerte sich kürzlich darüber, daß
eine Delegation zum Frauenkongreß sein Zimmer besetzt hatte.
Diese Beschwerde wird jetzt gründlich untersucht und der Verantwortliche gesucht. Dabei ist schon festgestellt worden, daß der
Direktor und alle seine Stellvertreter keine Verantwortung tragen,
weil sie zur Zeit des Geschehens außer Haus, außer Landes oder
außer sich waren. Die Ermittlungen erstrecken sich jetzt auf die
Reisegesellschaft IBUSZ. Aber auch da steht es schon fest, daß der
Direktor und alle seine Stellvertreter zur Zeit des Geschehens ...
usw. Vielleicht lag es gar am eigenmächtigen Handeln der Frauen
des Frauenkongresses? Es wird sich herausstellen, daß auch dort
alle Geschäftsführerinnen und ihre Stellvertreterinnen zur Zeit..
usw. usf.
Aber seien Sie gewiß, lieber ausländischer Gast, daß Sie, wenn
Sie schon längst nicht mehr daran denken, einen Brief erhalten, in
dem Ihrer Beschwerde in völligem Einklang mitgeteilt wird, daß
der Verantwortliche zur Verantwortung gezogen wurde. Und wenn
Sie wieder einmal im Lande sind, fragen Sie doch mal nach beim
Geschäftsführer, denn ich bin gewiß, daß aus dem Verantwortlichen etwas geworden ist.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Das letzte Wort
Als ich schon so einigermaßen sprechen konnte, sagten meine
Mitmenschen oft zu mir: „Daß Du immer das letzte Wort haben
musst!“ Sie hatten nicht unrecht. Ich weiß nicht, wie es kam, aber
ich hatte es wirklich.
Und wenn ich manchmal an diese letzten „Worte“ zurückdenke
– ich glaube, sie rührten daher, daß mir zum Schluß immer noch
etwas einfiel, was ich vergessen hatte. Im Bett oder auf der Treppe
beim Nachhause gehen formulierte ich oftmals, was ich eigentlich
hätte sagen sollen. Leider ist es mir nicht gegeben, im rechten
Augenblick das Rechte, das Treffende zu treffen. Aufrichtig gestanden: meine ganze Bewunderung gilt den Schlagfertigen. Das war
ich nie. Für mich geht das Nachdenken übers Vordenken. Darum
steht bei mir am Ende jedes Mal der Gedanke: Das hätte ich alles
noch viel besser, klarer, schöner, prägnanter ausdrücken sollen.
Da ist zum Beispiel dieser Titel: Mitten am Rande – ein bißchen
Ungarn. Wird man das nicht falsch verstehen? Etwa so, daß wir mit
unsrem Land am Rande stehen? Ich muß also erklären, wie es
überhaupt dazu kam, ich meine wie wir soweit gekommen sind. Da
waren zuerst unsere Glossen in der „Budapester Rundschau“ unter
dem Titel „Diese Ungarn“, einfach deshalb, weil über Schwächen
und Stärken der Ungarn schon fast alles gesagt worden war, mir
es aber darum ging, die kleinen Geschehnisse am Rande unseres
Lebens in den Mittelpunkt zu stellen. Dazu gesellten sich im Laufe
der Zeit die Plaudereien über die ungarische Sprache unter dem
Titel „Ein bißchen ungarisch“, die eigentlich von Lesern der „Budapester Rundschau“ angeregt worden waren. So kam es zur Zusammenfassung beider Titel, wobei ich das „ungarisch“ absichtlich
in „Ungarn“ umgewandelt habe, weil ich vermeiden wollte, daß der
Leser womöglich zu dem Schluß kommt: Aha, das ist wahrscheinlich ein ungarisches Sprachlehrbuch, was soll ich damit!?
Denn ich wollte und will mit diesen Plaudereien über die Sprache
der Ungarn kein Lehrbuch schreiben, sondern lediglich den Humor
aufspüren, der hier seine tiefsten Wurzeln hat.
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Gulyásparty - Von Essen, Trinken (bißchen) und Festen
Ein bekanntes Sprichwort habe ich einmal so abgewandelt Sage
mir, worüber du am liebsten lachst, und ich sage dir, wer du bist.
Lachen wird hier groß geschrieben, obwohl es in der Rechtschreibung wie alle Zeitwörter klein steht. Allerdings bedarf es
noch zweier Dinge: des Witzes und des Humors. Und da Witz bekanntlich vom Verstand kommt und Humor vom Herzen, muß man
beides haben, um von ganzem Herzen mit klarem Verstand lachen
zu können.
Der große ungarische Klassiker János Arany sagte einmal:
„A humor mosolygás könnyek között“ – Humor ist Lächeln unter
Tränen – oder an anderer Stelle: „...felhôkrôl visszaverôdô napsugár“ – ein von den Wolken zurückgeworfener Sonnenstrahl.
Nun, Wolken gab es an Ungarns tausendjährigem Himmel zur
Genüge.
Wie kann ein Volk, kaum daß es sich zu einem Staatsgefüge formiert hat, den Mongoleneinfall überstehen, 150 Jahre währende
Türkenherrschaft ertragen, jahrhundertelanges Habsburgerjoch
dulden, und schließlich – in jüngster Vergangenheit in zwei Weltkriegen verwickelt – alles verlieren, was es in ein paar Friedensjahren gewonnen und aufgebaut hat, wie kann ein solches Volk im
Ernst ohne „das Lächeln unter Tränen“, ohne einen „von den
Wolken zurückgeworfener Sonnenstrahl“ existieren, weiterleben,
überleben?
All das durchzustehen kann nur – und das ist meine feste Überzeugung – wer Humor hat, wer ihn spürt oder ihn wenigstens
erahnt. Ich sage absichtlich Humor, der vom Herzen kommt.
Denn Witz – das ist eine Art Knallbonbon, der erst ungefähr seit
der Jahrhundertwende existiert, nachdem sich Budapest zur Großund Weltstadt gemausert hatte. Jener typisch Budapester Witz,
von dem man nicht genau weiß, wo er zuerst entstanden ist, in
Wien oder in Budapest, hat sich seinen Weg durch die Welt
gebahnt, um nach langer Zeit dann in abgewandelter Form plötzlich wieder hier aufzutauchen – als neuester Witz vom Sender
Jerewan oder als „echt Berliner“ Witz.
Doch damit soll noch nicht das letzte Wort gesprochen sein. Viel
wichtiger scheint mir, abschließend sagen zu können, daß wir in
den letzten drei Jahrzehnten nach dem totalen Chaos ab und zu
wieder lachen konnten, und zwar aus vollem Herzen. So lachen
aber kann nur, wer aus tiefstem Herzen zu weinen gelernt hat.
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Bücher aus dem PESTER LLOYD VERLAG
Melancholie des Markknochens
Robin Foods gastrosophische Reisen
durch das Land der Magyaren
Der erste deutschsprachige Restaurantführer Ungarns
Der PESTER LLOYD VERLAG, der auch die deutschsprachige Zeitung
Ungarns herausgibt, hat den ersten Gastronomieführer des Landes in
deutscher Sprache editiert. Es handelt sich dabei um subjektive Eindrücke
der Autoren, die seit 1994 im Ungarnlande unterwegs sind, um für die
Leserschaft landesweit 99 Restaurants zu entdecken und zu empfehlen.
Die Texte sind teils liebevoll und wohlwollend, aber auch kritisch und
ironisch geschrieben. Es werden keine Sterne, Hauben oder Kochlöffel
vergeben, daür gibt es aber interessante Einblicke in die hiesige
Gastronomie und deren überwiegend positive Entwicklung.
Natürlich sparen die Autoren auch nicht mit ein paar sarkastischen Tipps,
wie man sich z.B. in ungarischen Restaurants als Gast verhalten sollte.
Andererseits werden dem Restaurantpersonal in humorvoller Weise
Empfehlungen verabreicht, wie sie durch einen mitunter recht eigentümlichen Service ihre Lokale mitunter noch gastfreier gestalten können.
In vielen der Restaurant-Kritiken wird der Leser seine Erfahrungen mit
der hiesigen Gastronomie sicherlich wiederentdecken. Geschrieben wurde
das Buch aber vor allen Dingen, um das zarte Pflänzchen
Restaurantkultur in Ungarn weiter zu pflegen und zu hegen sowie von
allerlei Wildwuchs und eigenartigen Trieben zu befreien. Darüber hinaus
ist das Buch auch eine kurzweilige und unterhaltsame, genießerische
Landeskunde mit vielen praktischen Tipps, Hinweisen und Empfehlungen
von hier ansässigen deutschsprachigen Zungen,
geschrieben für Entdeckungsreisende durch die Höhen und Tiefen
der ungarischen Gastronomie.
Melancholie des Markknochens
Robin Food's gastrosophische Reisen durch das Land der Magyaren
Der erste deutschsprachige Restaurantführer Ungarns
Pester Lloyd Verlag Budapest, 2002
250 Seiten, Hartdeckeleinband
ISBN 963-8116-4
Preis: 4.500 Forint
Bücher aus dem PESTER LLOYD VERLAG
Träume deutsch –
mit ungarischen
Untertiteln
Georg Kövary
Kaffeehaus-Geschichten
Georg Kövary alias Eric Corda wurde
am 21. Februar 1922 in Budapest wahrscheinlich schon zweisprachig geboren, hat in Ungarn und in Berlin
gelebt, geliebt, geschrieben und ist
1956 unwiederbringlich nach Wien
abgehauen. Davor und danach hat er,
hier wie dort, hauptsächlich in
Kaffeehäusern herumgesessen, die nach
eigenem Eingeständnis schon immer ein
essentieller Teil seines Lebens waren,
sein zweites Zuhause - obwohl er schon als
Dreikäsehoch zum ersten Mal von einem renommierten Kaffeehaus mit
Lokalverbot belegt wurde. In diesen letzten Refugien der k.u.k.-Zeit hat Kövary
viele seiner Werke geschrieben, viele bekannte oder durch ihn bekannt
gewordene Persönlichkeiten getroffen sowie über Gott, die Welt und über sich
schreibend nachgedacht. Seine biographischen Notizen, die nun als
Kaffeehaus-Geschichten in diesem Büchlein vorliegen, sind somit eine Art
Melange eines auf wunderbare Weise aufregenden Lebens, um das ihn
so mancher beneiden dürfte. Da er seine Lebensgeschichte auf den folgenden
Seiten in kleinen Geschichten selbst erzählen wird, wollen wir uns
biographische Daten über den Dichter, Journalisten, Kinderbuch-, Hörspiel-,
Drehbuchautor, Musicallibrettisten und Feuilletonisten, den Romancier,
Filmdramaturgen und Theaterstückeschreiber, Übersetzer, Kabarett-TexteVerfasser, Conferencier, Kinonarren, Jazzfan, Hobbyschauspieler, Theaterund Konzertmanager, Musikliebhaber... – und PESTER LLOYD Autor
Prof. Kövary ersparen.
"Träume deutsch - mit ungarischen Untertiteln"
Georg Kövary, Kaffeehaus-Geschichten
Pester Lloyd Verlag, Budapest, 2002.
250 Seiten, Hartdeckeleinband
ISBN 963 009529-7
Preis: 2.500,- Forint
auch in ungarischer Sprache erhältlich
Für die Unterstützung bei der Herausgabe
dieses Buches bedanken wir uns bei:
HUNGARY PROMOTERS & ADVISORS
Hergestellt in der Gyomaer Kner Druckerei Rt
im 120. Jahr nach der Gründung der Druckerei
Verantwortlicher Direktor: Lajos Papp
Telefon/Fax: (66) 386-211
E-Mail: knergyoma@bekes.hungary.net