Predigt als Show – Talk als Predigt?

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Predigt als Show – Talk als Predigt?
Eingereicht im Rahmen des Oberseminars
«Fortschritt im Mittelalter? Innovation und Tradition»
bei Prof. Dr. Rüdiger Schnell
Predigt als Show – Talk als Predigt?
Gemeinsamkeiten von Funktion, Form und Inhalt
mittelalterlicher Predigten und heutiger Talkshows
Noah Bubenhofer
1. Oktober 2001
Universität Basel
noah@bubenhofer.com
Herzlichen Dank an Ruth, Sibylle und Stefan für ihre Korrekturarbeiten.
Gesetzt aus Palatino und Helvetica mit LATEX unter Mac OS X.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1
2. Theoretischer Teil: Vergleichbarkeit von Predigt und Talkshow
3
2.1. Diskurs- statt Textvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
2.2. Die Textsorte mittelalterlicher Predigten . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
2.2.1. Organisation und Funktion der Predigt . . . . . . . . . . . . .
4
2.2.2. Charakterisierung der Textsorte Predigt . . . . . . . . . . . . .
6
2.3. Die Textsorte ‹Daily Talkshow› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
2.3.1. Von der Moderation zum Hosting: Confro- und ConfessioTalk als neue Talkformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.3.2. Charakterisierung der Textsorte ‹Daily Talkshow› . . . . . . . 13
2.4. Vergleichbarkeit: Möglichkeiten und Einschränkungen . . . . . . . . 16
3. Praktischer Teil: Vergleich von Predigt und Talkshow
20
3.1. Berthold von Regensburg: Predigten über Probleme des Alltags . . . 20
3.1.1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
3.1.2. Bertholds Predigt ‹von der ê› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
3.1.3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.2. Arabella, Bärbel und Vera: Talkshows über Probleme des Alltags . . 26
3.2.1. Beziehungszwist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.2.2. Besonderheiten weiterer Talkshows . . . . . . . . . . . . . . . 29
3.2.3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
4. Schlussfolgerung: Früher die Predigt, heute die Talkshow?
32
4.1. Talkshow auf der Kanzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
4.2. Predigt und Talkshow als Moralinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . 33
4.3. Innovative Bettelmönche, findige Privatsender oder: Der Kampf gegen den öffentlich-rechtlichen Bischof . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
5. Fazit
36
A. Zusammenfassungen der Talkshows
38
A.1. Mutter mit 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
A.2. Kindererziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
B. Literatur
44
III
Tabellenverzeichnis
1.
Kriterien der Textsorte Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.
Kriterien der Textsorte ‹Daily Talkshow› . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
3.
Textsorte Predigt und ‹Daily Talkshow› im Vergleich . . . . . . . . . . 17
4.
Die untersuchten Talkshows . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
5.
Elemente der Predigt und der Talkshow im Vergleich . . . . . . . . . 32
IV
8
1. Einleitung
Lauschte man im 13. Jahrhundert im deutschsprachigen Europa einer Predigt über
die Ehe, hörte man vielleicht auch den folgenden Fall eines Ehebruchs:
«Bruoder Berthold, nû fürhte ich mir.» Jâ wes? «Dâ brach ich mîne ê unde die
wîle mîn gemechede lebte. Nû ist mîn gemechede tôt unde hân den selben
menschen ze rehter ê genomen, mit dem ich mîne ê dô brach: weder sol man
uns scheiden oder nicht?» Und ist, daz dû driu dinc vermiten hâst, dô dîn
gemechede lebte: daz dû niht spraeche: «sê mîne triuwe! ist, das mîn gemechede stirbet, daz ich dich ze rehter ê nemen wil,» oder ims niht mit ander
gelübede gehieze, daz ist daz eine; sô ist daz ander, ob dû lîhte vor liebe alsô
spraeche: «ich wil dich iezuo nemen zu rehter ê: swenne mîn gemechede tôt
gelît, daz ich dehein anderz müge genemen danne dich»: habet ihr disiu zwei
vermiten, unde daz ir beide unschuldic wâret an sîme tôde (daz ist daz dritte), sô muezet ir dise sünden büezen, die ir mit einander begangen habet, dô
dîn gemechede lebte. Ist daz ir daz büezet und irret iuch ander sünde niht, sô
müget ihr himelrîche wol gewinnen ze iuwerr ê.
(Pfeiffer, 1965, 317)
Rund 800 Jahre später steht ein ähnliches Problem in einer Talkshow im Fernsehen zur Debatte:
Lars zu Talkmasterin Arabella: Meine Liebe zu Jenny ist wahnsinnig gross, ich
möchte alles geben, ich liebe sie.
Arabella: Warum hat sie sich von dir getrennt?
Lars: An einem Feiertag, viel getrunken, habe ich ein anderes Mädchen geküsst.
Arabella: Du hast sie betrogen, wie weit ging das denn?
Lars: Ich habe sie nur geküsst.
Arabella: Nur geküsst?
Lars: Ja [...].
Arabella: Hast du mit der anderen denn auch geschlafen, ich muss da explizit
nachfragen.
Lars: Nein, das habe ich nicht.
Arabella: Also es ging nur um diese Küsse, die ihr ausgetauscht habt?
Lars: Ja [...].
(Arabella, 2001b, 0.01.00/Ab-01)1
Zwar sind die beiden Beispiele inhaltlich nur ähnlich gelagert – einmal handelt
es sich um schon begangenen Ehebruch und der Frage nach der Rechtmässigkeit
der Ehe mit dem Geliebten nach dem Tod des Gemahls, das andere mal ‹nur› um
1
Bei Zitaten aus den Talkshows wird jeweils die Minute der Sendung angegeben, an der das Zitat
beginnt, sowie der Name der Datei auf der beiliegenden CD-ROM, die den Ausschnitt enthält.
1
die Folgen eines Vertrauensbruchs –, doch existieren Gemeinsamkeiten zwischen
einer mittelalterlichen Predigt und einer neuzeitlichen Talkshow. So wie die Talkmasterin Arabella durch ihr Fragen nach der Art des Seitensprungs einen Moralkodex ‹Verhalten in einer Beziehung› aufstellt, macht dies auch Bruoder Berthold mit
seiner Lösung des Ehebruch-Problems.
Überlegungen über die gesellschaftlichen Funktionen von Predigten und Talkshows führen mich zu folgender These: Bezüglich Funktion, Form und Inhalt kann
die mittelalterliche Predigt mit der neuzeitlichen Talkshow verglichen werden.
Der Vergleich ist gewagt: Immerhin liegen etwa 800 Jahre zwischen Predigt
und Talkshow. Zudem ist unklar, ob die beiden Texttypen überhaupt der gleichen
oder wenigstens einer ähnlichen Textsorte angehören, und somit einen Vergleich
sinnvoll machen. Auch besteht das Problem der schwierigen Rekonstruktion von
ehemals mündlich vorgetragenen mittelalterlichen Texten. Wie nahe der Mündlichkeit sind die überlieferten schriftlichen Zeugnisse den mittelalterlichen Predigten?
Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, Veränderungen der Moral oder eines Diskurses
anhand dieses Vergleichs festzustellen, denn dafür sind Predigt und Talkshow zu
ungleich und die dafür nötige empirische Untersuchung wäre zu aufwändig. Ich
möchte das Augenmerk eher auf Parallelen zwischen den beiden Texttypen legen und fragen, ob gewisse Talkshows heute gesellschaftliche Aufgaben übernehmen, die im Mittelalter auch schon von Predigten erfüllt wurden. Die Periode des
12./13. Jahrhunderts interessiert darüber hinaus bezüglich der Neuerungen, welche in der Predigtorganisation auftraten: Die entrückte, theologisch-theoretische
Predigt wird durch eine volksnahe, die unmittelbare Lebenswelt der Menschen
thematisierende Predigt abgelöst. Ob dieser Prozess der Erneuerung nicht auch
Parallelen zu Tendenzen der jüngsten Entwicklungen in der Medienwelt aufweist,
ist ebenfalls Thema der vorliegenden Arbeit.
Sie ist in die drei Teile Theorie, Praxis und Schlussfolgerung gegliedert. Der
theoretische Teil (Kapitel 2) charakterisiert die Textsorten ‹Predigt› und ‹Daily
Talkshow› und klärt deren Vergleichbarkeit ab. Im praktischen Teil (Kapitel 3) wird
exemplarisch eine Berthold von Regensburg zugeschriebene Predigt mit Talkshows von ‹Arabella›, ‹Bärbel› und ‹Vera› verglichen. Drei Thesen (Kapitel 4) zu
den Parallelen zwischen Predigt und Talkshow bilden den Schluss der Arbeit.
2
Auf der beiliegenden CD-ROM finden sich die zitierten Talkshow-Ausschnitte
in Bild und Ton. Es ist empfohlen, sich die Ausschnitte vor der weiteren Lektüre
anzusehen.
2.
Theoretischer Teil: Vergleichbarkeit von Predigt und Talkshow
Die Kommunikationssituation beeinflusst das Sprechen und die Textproduktion.
Werden verschiedene Redeaussagen miteinander verglichen, muss die Redesituation in den Vergleich mit einbezogen werden. Wollen wir nach Gemeinsamkeiten
und Unterschieden von mittelalterlichen Predigten und heutigen Talkshows suchen, müssen wir uns vergewissern, dass die Texte gleichen Kommunikationssituationen – gleichen Textsorten – entstammen.
Im theoretischen Teil dieser Arbeit möchte ich darlegen, welche Elemente die
Textsorte ‹mittelalterliche Predigt› enthält und prüfen, ob sie der Textsorte ‹Daily
Talkshow› ähnlich ist.
2.1.
Diskurs- statt Textvergleich
Im theoretischen Teil von Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs entwickelt
Schnell ein nützliches Verfahren, um Texte einer Textsorte zuzuweisen und diese zu charakterisieren. Er unterscheidet Textmerkmale, welche die Textoberfläche
prägen und Merkmale, welche den Inhalt betreffen (Schnell, 1998, 22ff.). Einige
textoberflächliche Kriterien wie Adressaten, Redeweisen, Zitierweisen, Umfang
und Aussageintention charakterisieren die Textsorte, welcher ein Text angehört.
Für das Mittelalter ergibt sich so z.B. eine (unvollständige) Liste folgender Textsorten (Schnell, 1998, 25): Kommentare, Traktate, Predigten, Summen, katechetische
Gebrauchsliteratur, Chroniken, Protokolle und Exempla-Sammlungen.
In einem zweiten Schritt können Texte einer bestimmten Perspektive zugeordnet werden. Schnell (1998, 26ff.) demonstriert anhand der wissenschaftlichen
Diskussion über die Ehe eine Anzahl verschiedener Perspektivierungen, welche
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einnehmen können. Zum besseren Verständnis seien die sechs Perspektiven genannt: Theologische, kanonistische (unter juristischen Gesichtspunkten), ökonomische, medizinische, ordnungspolitische und
literarisch-klerikale Sicht. Schnell bezeichnet solche Perspektiven als Konzeptionen.
Im letzten Schritt lassen sich dann Textsorten und Konzeptionen in Diskursen
3
zusammenfassen. Schnell verwendet einen weit gefassten Diskursbegriff und versteht darunter:
[...] nicht nur ein geregeltes Ensemble von Redeweisen, Redefunktionen und
Sprachmustern, sondern auch ein festes Bündel tradierter Denk- und Konnotationsschemata [...]. Diskurse [sind] gleichermassen durch Inhalte, Themen, Positionen, Quellenbereiche wie durch Redeweisen, Textfunktionen, Argumentationsweisen, Kommunikationssituationen, Adressaten bestimmt. Je
nach Bündelung solcher Komponenten prägen sich Diskurse in bestimmten
Textsorten aus: in Predigten, Ständesatiren, Dekalogen, Busssummen, Gerichtsprotokollen, Dekretsummen, Sentenzenkommentaren, Lasterkatalogen
usw. (Schnell, 1998, 29)
In dieser Arbeit möchte ich nach Parallelen bezüglich Funktion, Form und Inhalt mittelalterlicher Predigten und heutiger Talkshows suchen. Es wird jetzt zuerst nötig sein, die Textsorte der mittelalterlichen Predigt und der Talkshow genau
zu charakterisieren (Kapitel 2.2 und 2.3).
2.2.
Die Textsorte mittelalterlicher Predigten
Um die Textsorte ‹Predigt› möglichst umfänglich zu erfassen, muss ihre gesellschaftliche Funktion in die Diskussion miteinbezogen werden. In Kapitel 2.2.1 gehe ich deshalb auf die Predigtorganisation im 12./13. Jahrhundert ein. Die Charakterisierung der Textsorte Predigt nehme ich dann in Kapitel 2.2.2 vor.
2.2.1.
Organisation und Funktion der Predigt
Die Predigt ist vom 9. Jahrhundert bis zur Reformation einem grösseren Wandel
unterworfen2 . In der Karolingerzeit war es die Aufgabe des Bischofs, dem Volk
zu predigen. Wo er innerhalb seiner Diözese dieser Pflicht nicht selber nachgehen
konnte, setzte er Priester dafür ein. Diese standen aber unter seiner Kontrolle und
hatten sich an seine Instruktionen zu halten. So verfassten die Priester kaum eigene
Predigten und hielten sich stattdessen an bischöfliche Musterpredigten.
Als «theologisch unbedeutend» bezeichnet Menzel (1991, 349) diese Predigten,
da sie nur ein rechtlich und inhaltlich «schwächeres Derivat» der Bischofspredigt
waren, die sich an den Klerus richtete. Die parochialen Predigten richteten sich
2
Vgl. für die weiteren Ausführungen Menzel 1991, 337–384. Weiter interessant besonders das 3.
Kapitel Neue Formen der Predigt in Schmidt 1992, 306–309.
4
nach dem Grundsatz legere licet, et interpretari non licet3 . Es ist anzunehmen, dass
die Art und Qualität der parochialen Predigten sehr unterschiedlich war4 .
Mit der Konstitution X des IV. Laterankonzils erweiterte Innozenz III. († 1216)
die Regelungen des Predigtwesens: Neben den Bischöfen und ihren Priestern durften neu auch Mitglieder aus den Kathedral- und Kollegiatkirchen predigen. Denn
«die Delegierung an die auch mit der übrigen Seelsorge befassten Pfarrpriester
wurde nicht mehr als ausreichend angesehen» (Menzel, 1991, 351). Daraus entstanden zuerst die Predigerorden der Dominikaner und Franziskaner, welche ihre
Prediger selber bestimmen konnten. 1247 und 1256 kamen die Karmeliter und die
Augustiner-Eremiten als Seelsorgeorden hinzu:
Diese Mendikanten setzten sich vor allem in den Städten fest und predigten
als Alternative zu den Bischöfen und Priestern in eigenen Kirchen und auf
öffentlichen Plätzen; ihr Predigtrecht in den Kirchen des Weltklerus blieb bis
zum Anfang des 14. Jahrhunderts umstritten. Durch ihre rasch wachsende
Zahl führten sie eine Vermehrung der Predigttätigkeit in vorher ungeahntem
Ausmass herauf. (Menzel, 1991, 354f.)
Im 13. Jahrhundert stammte schon über 60% aller Predigtliteratur aus den Federn von Mendikanten. Die bischöflich kontrollierten Predigttexte wurden immer unbedeutender. Statt dessen entstanden für den Gebrauch bestimmte «‹De
tempore›- und ‹De sanctis›-Predigtzyklen für das ganze Jahr» (Menzel, 1991, 355)
sowie Exempelsammlungen und theoretische ‹Artes praedicandi›-Texte, um die
Bettelmönche in der Predigt zu unterweisen.
Der enorme Erfolg der Mendikanten mit ihren Predigten lässt sich auf eine
Reihe von Neuerungen in der Art des Predigens und in den gewählten Inhalten
zurückführen:
Sie [die Mendikantenpredigt] perfektionierte die Form der thematischen Predigt, des argument- und bilderreichen Sermo anstelle der Text und Tradition
vermittelnden Homilie. Weit über den Rahmen von Bibel, Glaubensbekenntnis usw. hinaus wurden in den thematischen Predigten dem Volk Gründe und
Beweise des Glaubens geboten. Naturkundliche, literarische und geschichtliche Analogien aus der genannten Exempelliteratur lieferten Anknüpfungspunkte an die ernstgenommene diesseitige Wirklichkeit der Zuhörer. (Menzel, 1991, 356f.)
Schon bald verdrängten die Ordensprediger die ortsgeistlichen Pfarrer durch
3
4
Aluin († 804) in einem seiner Briefe, zit. nach Menzel 1991, 347.
Vgl. dazu Menzel 1991, 345.
5
ihre Attraktivität. Während die Predigt vorher nur Element der liturgischen Gestaltung eines Gottesdienstes war, verselbständigte sie sich durch die Mendikanten zu einem Mittel der Volksseelsorge. So wurde «auf den öffentlichen Plätzen
wie in den Ordenskirchen ganz unabhängig von den Messfeiern gepredigt» (Menzel, 1991, 357). Bezeichnend für diese neue Art der Seelsorge war auch, dass zuerst in den Bettelordenskirchen des 13./14. Jahrhunderts der Predigtstuhl aus dem
Chorraum ins Kirchenschiff verlegt wurde: Zeugnis einer horizontalen Solidarität
im Gegensatz zur «eher vertikal verstandenen, hierarchischen Seelsorge von oben
durch die traditionellen Prediger» (Michel Mollat zit. nach Menzel 1991, 357).
Auf die dritte Phase, in der die traditionellen Prediger versuchten, den Vorsprung der Mendikanten-Prediger aufzuholen, möchte ich an dieser Stelle noch
nicht eingehen. Sie wird Gegenstand von Überlegungen hinsichtlich des heutigen
Mediensystems in Kapitel 4.3 sein.
Trotz der grossen Veränderungen, denen die Prediger im Laufe der Jahrhunderte unterworfen waren, kann ihre Funktion so zusammengefasst werden: «Er
[der Prediger] muss aufrütteln und besänftigen, er muss religiöses Wissen vermitteln und auf das Leben der Menschen einwirken» (Schnell, 1998, 51). Die Bettelmönche realisierten, wie wichtig der Einbezug der Lebenswelt der Menschen ist,
um diese für die Predigt begeistern zu können. Der neue Predigtstil berücksichtigte Aspekte des Alltags, z.B. des ehelichen Zusammenlebens: «Streit, Zank, Hass,
Zorn, Egoismus, Machtkämpfe, Wortlosigkeit, Gleichgültigkeit, Geringschätzung,
Schikanieren, Undankbarkeit einerseits, Eintracht, Friede, Zufriedenheit, Geduld,
Nachsicht, Freundlichkeit, Wertschätzung, Liebe andererseits» zählt Schnell (1998,
49) an neuen Themen auf.
Nachdem wir nun eine allgemeine Vorstellung über die gesellschaftliche Einbettung der Predigt haben, untersuche ich im nächsten Kapitel den Charakter der
Textsorte Predigt.
2.2.2.
Charakterisierung der Textsorte Predigt
Der im vorigen Kapitel geschilderte Wandel vom dominanten Bischof zu den immer bedeutender werdenden Mendikanten-Predigern führte zu einem enormen
Bedarf nach Musterpredigten. Neuendorff (1992, 3) beschreibt die inhärente Gebrauchsfunktion der Texte:
Predigten können zwar an eine Verfasserpersönlichkeit gebunden sein, wie
6
dies bei den deutschen Berthold von Regensburg zugeschriebenen Predigten [...] der Fall ist. Zugleich handelt es sich jedoch um Texte, die in einem
festen Verwendungsrahmen stehen und die von ihrer Gebrauchsfunktion als
Kanzel- oder Lesepredigt her textual nicht fest sind. Im Gegensatz zu Autorentexten wie etwa Wolframs ‹Parzival› schützt die Kenntnis des Verfassernamens nicht vor verändernder Verwertung der Texte. Das festgefügte Grundgerüst der Predigten machte es möglich, Teile aus verschiedenen Predigten ineinander zu schieben und auf diese Weise ‹neue› (Sekundär-)Predigten zu erhalten, die dann womöglich unter dem Names des Autors der (Primär-)Predigt
tradiert wurden. Ein solches Verfahren bot sich von der Gebrauchsfunktion
der Predigt als Massentext für die Kanzel oder die erbauliche Lesung her an,
um eine genügende Anzahl von Texten für die wiederkehrenden Anlässe des
Kirchenjahres oder sich wiederholende Fragen ethischer und religiöser Belehrung zu Verfügung zu stellen. (Neuendorff, 1992, 2f.; Hervorh. NB)
Durch die Modulartigkeit der Predigten ist ohne grossen Aufwand eine immer
wieder variierende Nutzung möglich. Dabei werden die Predigtmodule thematisch geordnet und es entstehen Predigten, die nicht mehr an bestimmte Feiertage
des Kirchenjahrs gebunden sind. Umgekehrt ist es einfach, aus den bereit stehenden Modulen eine Predigt für einen bestimmten Feiertag zu zimmern.
Blättert man eine Sammlung Berthold von Regensburg (ca. 1210–1272)5 zugeschriebener Predigten durch, wird diese Modulartigkeit augenscheinlich: «Von
zwein wegen, der buoze unde der unschulde; von ruofenden sünden; von der
ûzsetzikeit; von sehs mordæren; von zwein wegen, der marter unde erbermede; von den fremeden sünden, von dem fride, von der ê, von der bîchte, von
zwein unde vierzic tugenden» (Pfeiffer, 1965) heissen z.B. Titel der enthaltenen
Predigten. Die Berthold-Forschung ist sich darüber hinaus heute einig, dass die
deutschen Predigt-Texte nicht von Berthold direkt stammen, sondern von andern
aufgeschrieben wurden6 . Ähnliches gilt wohl auch für andere Prediger der Zeit.
Schnell (1998, 53f.) fasst die Textsorte nach den in Kapitel 2.1 beschriebenen
Kriterien wie in Tabelle 1 auf der nächsten Seite zusammen.
Wichtig ist dabei die Abgrenzung zu den Sentenzkommentaren (Schnell, 1998,
92–95). Letztere sind auf Schriftlichkeit ausgelegt, enthalten also syntaktisch verschlungene Sätze, während die Predigten die Gedanken anschaulich auf den Punkt
bringen. Predigten sollen die Menschen «aufrütteln, auf deren Verhalten, auf deren Handeln einwirken; sie geben Handlungsanweisungen (z.B. bei Verbotszeiten für ehelichen Verkehr, Schwangerschaft, Menstruation, für Streitigkeiten zwi5
6
Auf den berühmten Franziskaner-Mönch gehe ich erst in Kapitel 3.1 näher ein.
Vgl. dazu z.B. Neuendorff (1992) und Schnell (1997, 93).
7
Adressaten
Einerseits Kleriker (als Musterpredigten),
anderseits letztlich aber Laien als Publikum,
d.h. grössere Massen.
Redehaltung und Kommunikationssituation
Adressatenbezogenes Sprechen
Intention
Volk zu einem besseren Lebenswandel
anhalten; Unterweisung im Glauben;
Hervorrufen von Gemütsbewegungen
(Hörerinnen und Hörer sollen zur Reue
veranlasst werden)
Sprachliches Instrumentarium
Exempla, Gleichnisse, Vergleiche;
narrativ-anschauliche Sprache; unsichtbare,
geistige Dinge werden mit Hilfe der
körperlichen, sichtbaren Dinge vermittelt
Tabelle 1: Kriterien der Textsorte Predigt
schen Eheleuten, für die Kindererziehung, für die Verwaltung des Hauses usw.)»
(Schnell, 1998, 92). Die Sentenzkommentare hingegen wollen argumentativ überzeugen und somit an einer gelehrten Diskussion teilnehmen. «Hier wird über etwas (die Institution Ehe), nicht zu jemandem (Eheleute) gesprochen» (Schnell,
1998, 92). Predigten verfolgen also eher einen konkret-pragmatischen Kurs, während die Sentenzkommentare spekulativ-dogmatisch ausgerichtet sind.
Für unseren Vergleich der mittelalterlichen Predigten mit heutigen Talkshows
ist vor allem folgendes Problem relevant: Auf die Predigten können wir heute nur
in schriftlicher Form zurück greifen. Die Talkshows aber sind deutlich an einer
mündlichen Kommunikationssituation ausgerichtet. Bei einem Vergleich stellt sich
also die Frage, inwiefern die erhaltenen niedergeschriebenen Predigten den damals mündlich gehaltenen Predigten ähneln.
Einige Textmerkmale deuten auf die intendierte Mündlichkeit der Predigten
hin. Denn trotz der Niederschrift ist klar, dass sich die Predigten an ein Zielpublikum, an «reale Hörer», richten, auch wenn «solche Predigtsammlungen zuallererst für die ‹Zwischenschicht› der Kleriker abgefasst sind» (Schnell, 1998, 52).
Zudem enthalten diese Musterpredigten eigentliche ‹Regieanweisungen›, welche
Ratschläge für den Vortrag der Predigt enthalten, oder (bei lateinischen Musterpredigten) Übersetzungshilfen ins Deutsche. Wichtig ist aber, dass die Textsorte
Predigt für den Zweck des Vergleiches eingegrenzt wird: Es dürfen ausschliesslich
Laienpredigten verglichen werden – also Predigten der Mendikanten-Mönche, wie
sie in Kapitel 2.2.1 beschrieben wurden.
8
Ein weiteres wichtiges Merkmal sind die rhetorischen Figuren vor allem der
Predigten der Mendikanten. Dank (1995) untersuchte die rhetorischen Elemente
in den Predigten Bertholds von Regensburg. Sie kommt zum Schluss, dass
der Prediger selbst, aber auch die ‹Bearbeiter› [Dank verweist auf die QuasiAuthentizität der Predigten, NB] eine rhetorische Bildung durchlaufen haben
müssen. Denn sowohl die rhetorischen Mittel, die Berthold verwendet, als
auch der gezielte und überlegte Einsatz derselben in seinen Predigten lassen vermuten, dass Berthold mit einigen der antiken Rhetoriker, aber auch
mit den artes praedicandi während und vor seiner Zeit vertraut gewesen sein
muss. (Dank, 1995, 326)
Dank macht eine Reihe klassischer Rhetorik-Figuren ausfindig: die Enumeration, die Anapher, die Amplificatio, die Exclamatio, die Metapher und einige mehr.
In Bezug auf die intendierte Mündlichkeit der Predigten sind die Exempla und die
Exemplum-Figuren besonders interessant. Denn die Verwendung von Beispielen
sollen die Predigt illustrieren und transparenter machen (Dank, 1995, 283), also
genau jene Nähe zu den Hörerinnen und Hörern erzeugen, die den bischöflichen
Predigten damals fehlte.
Wie angetönt, unterscheidet Dank zwischen Exempla und eigentlichen
Exempel-Figuren. Letztere sind meist Heilige, bei Berthold finden sich häufig Nikolaus, Ulrich, Katharina und Maria Magdalena. Heilige sollen dabei eine Vorbildfunktion übernehmen.
Exempla hingegen erzeugen neben Anschaulichkeit und Transparenz auch Abschreckung und rütteln die Zuhörerinnen und Zuhörer wach (Dank, 1995, 289).
Beispiele solcher Exempla und Exemplum-Figuren bei Berthold sollen in Kapitel
3.1 zur Debatte stehen.
2.3.
Die Textsorte ‹Daily Talkshow›
Ähnlich wie die Predigt im Mittelalter hat sich auch die Talkshow des 20. Jahrhunderts verändert und differenziert. Während in der ersten Hälfte der Fernsehgeschichte, deren Ende mit der Kommerzialisierung der Fernsehproduktion gesetzt
werden kann7 , Talkshows im Sinne von Diskussionsrunden dominierten, entwi7
In den meisten Ländern war das Fernsehen zunächst vom Staat (teil-)finanziert und unter
mehr oder weniger grosser staatlicher Kontrolle. Die Fernsehlandschaft war von den ‹öffentlichrechtlichen› Sendern geprägt. Der Zeitpunkt, an dem kommerzielle ‹private› Sendeanstalten akzeptiert wurden, ist je nach Land verschieden. In Deutschland wurde das ‹Duale System› 1984
wirksam. In der Schweiz erst 1994/95. Vgl. dazu Hickethier 1998, 414ff. und Rathgeb 1996, 175f.
9
ckelten sich durch die privaten Sender neue Formen: Die täglich ausgestrahlten
Confro- und Confessio-Talkshows.
Im folgenden Kapitel 2.3.1 werde ich auf die Entstehung dieses neuen Typs und
dessen Funktion in der Gesellschaft eingehen. Das Kapitel 2.3.2 wird die Aufgabe
haben, die Textsorte ‹Daily Talkshow› zu definieren.
2.3.1.
Von der Moderation zum Hosting: Confro- und Confessio-Talk als neue
Talkformen
Gesprächssendungen sind die am billigsten zu produzierenden Sendungen
(Hickethier, 1998, 475). Dies ist bei TV-Sendern im allgemeinen einer der wichtigsten Gründe, bei kommerziellen TV-Sendern im besonderen der wichtigste
Grund für die grosse Vielfalt an Talkshows. Schon bevor die kommerziellen Sender
mit diesem Sendeformat experimentierten, hatten die öffentlich-rechtlichen Sender grossen Erfolg mit ihren Talkshows: ‹III nach neun›, ‹NDR-Talkshow›, ‹Heut’
Abend›, ‹Leute›, ‹5 nach zehn› auf ARD, BR und ZDF, oder später ‹Live›, ‹Boulevard Bio›, ‹Das literarische Quartett› (SFB und ZDF) und viele mehr standen auf
den Programmen. Doch diese Art von Talkshows waren Diskussionsrunden, deren Ziele die Erörterung eines Problems, das Darstellen eines Disputes oder die
Vorstellung prominenter Persönlichkeiten in mehr oder weniger geselliger Atmosphäre waren8 .
Die verschärfte Konkurrenz durch den Wettbewerb zwischen privaten und
öffentlich-rechtlichen Sendern machte Differenzierungen und Profilierungen nötig. «Anfang der neunziger Jahre entdeckten RTL und SAT.1, dass sich mit der
Rede über Pornografie, Intimität und Perversionen Zuschauer gewinnen liessen»
stellt Hickethier (1998, 477) lapidar fest; eine Fülle von neuen Talkshows wie ‹Hans
Meiser›, ‹Schreinemakers live›, ‹Illona Christen› und ‹Bärbel Schäfer› war die Folge. Typisch für diese Art von Talkshow sind Themen aus dem persönlichen und
intimen Bereich, eine spezifische Auswahl der Gäste und die Art der Diskussion:
Auf der Bühne sitzen nicht mehr nur Prominente, Spezialistinnen oder Experten,
sondern meistens «Alltagsmenschen jeglicher Coleur» (Hickethier, 1998, 477). Verhandelbar werden alle Probleme des täglichen Lebens, mögen sie noch so intim
sein. Ziel ist nicht mehr die diskursive Erörterung des Problems in allen seinen
Facetten, sondern das Bekenntnis des Talkgastes: Ich habe ein Problem!
Plake (1999, 33) nennt diese Shows Bekenntnisshows und meint damit:
8
Vgl. Hickethier 1998, 477 und Plake 1999, 38ff.
10
Der Inhalt dieser Sendungen besteht aus Themen, die zuweilen als intim
empfunden werden, weil sie entweder bei den Betroffenen mit besonders
intensiven Affekten einhergehen, wie zum Beispiel Krankheit, Behinderung
oder Tod eines nahen Angehörigen, schwere Zerwürfnisse und Versöhnungen, oder weil es sich um Eigenschaften handelt, die wegen ihrer Nähe zu gesellschaftlichen Tabuzonen zu Diskreditierungen führen können. (Plake, 1999,
33)
Die Themenpalette solcher Talkshows behandelt Probleme des alltäglichen Lebens. Im Bereich Liebe und Sexualität beispielsweise: ‹Ich habe dich betrogen! Wirst
du bei mir bleiben?›, ‹Warum willst du dich von mir trennen? Ist es wirklich endgültig?›, ‹Du bist so eifersüchtig! Hörst du endlich auf, mir nachzuspionieren?›,
‹Deine Affäre oder ich? Für wen entscheidest du dich?›, ‹Du bist doch hormongesteuert! Schaltest du endlich dein Gehirn ein?›, ‹Ich verzeihe dir einen Seitensprung, wenn du mir auch einen erlaubst!›, ‹Dein Hund hat’s besser als ich. Soll
ich das mitmachen?›
Aber auch das Verhalten gegenüber Randgruppen und Ausgestossenen wird thematisiert: ‹Dick und erfolgreich›, ‹Ich bin nun mal hässlich. Willst du mich trotzdem?›, ‹Ich war im Knast. Andreas, gib mir eine Chance!› etc.
Oder Probleme zu Benehmen und Anstand: ‹Du hast keine Manieren, änderst
du dich heute für mich?›, ‹Du bist jetzt Vater! Übernimmst du endlich Verantwortung?›, ‹Du hast mich ständig belogen! Kann ich dir noch vertrauen?› etc.
Schon an den Themen dieser Talkshows ist ersichtlich, dass Plakes Begriff der
Bekenntnisshow nicht ausreicht, um den Charakter zu fassen. Ich schlage deshalb
das Begriffspaar Confessio- und Confro-Talk vor: Neben dem Bekenntnischarakter
(Confessio) spielt auch die Konfrontation eine wichtige Rolle. Einige Themen laufen auf eine Konfrontation aus, z.B. bei Problemen, die eine Entscheidung erfordern oder bei Gästen, die Vorwürfe gegen andere erheben.
Über die Beweggründe der Talkshow-Gäste, ihr Innerstes vor einem Millionenpublikum preis zu geben, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter spekulieren. Viel wichtiger für unseren Zusammenhang sind Wirkung auf und Funktion
der Talkshows für die Zuschauerinnen und Zuschauer. Als eine wichtige Funktion betrachtete ich in einer früheren Arbeit jene der Talkshow als Moralinstanz
(Bertschi/Bubenhofer, 2000, 36–41): Begreift man Medienkommunikation (z.B. in
Talkshows) als Wirklichkeitskonstruktion, ist es naheliegend zu vermuten, dass
Talkshows als Moralinstanzen und Entscheidungshilfen für die Zuschauerinnen
und Zuschauer funktionieren. Einerseits ermöglicht die Darstellung von Schick-
11
salen, Problemen und deren ‹Lösung› Fremderfahrung, die ohne Medienkonsum
nicht möglich wäre9 . Andererseits werden die Erzählungen der Talkshow-Gäste
vor laufender Kamera unentwegt bewertet:
• Der Talkshow-Host ist weniger neutraler Moderator, sondern provoziert und
bewertet die Aussagen.
• Das Studiopublikum wird vom Host stark in die Diskussion miteinbezogen
und zu zustimmendem Beifall oder ablehnendem Ausbuhen ermuntert.
• Durch eine stark polarisierte und emotional aufgeheizte Diskussionsatmosphäre bewerten sich die Talkshow-Gäste gegenseitig.
• Nicht zuletzt evozieren Produktion und Regie einer Talkshow eine bestimmte Bewertung des Problems. Ob intendiert oder nicht: Themen- und Gästewahl sowie Dramaturgie machen Bewertungen nach einem gut/böseSchema einfach.
Wenn die Gäste (meistens) unbekannte Alltagsmenschen sind, so sind die ‹Moderatoren› dafür umso bekannter. Im Gegensatz zu den klassischen Talkshows, wo
prominente Gäste teilnehmen, stehen in den Daily-Talkshows die Gastgeber – die
Hosts – im Vordergrund. Nicht zuletzt deshalb sind die meisten Talkshows dieser
Art nach ihren Hosts benannt.
Die Einschaltquoten, d.h. der Erfolg einer Talkshow hängt direkt von der Persönlichkeit dieses Hosts ab. Er muss ein guter Schauspieler und Menschenkenner sein, erfahren, gebildet, belesen und beschlagen in Büchern, Filmen,
Theater, Musik und natürlich in der Yellow-Scene. Er muss Ausstrahlung besitzen, Vertrauen erwecken bei den Gästen und beim Publikum, darf frech
und schlagfertig, aber nicht verletzend oder beleidigend sein. (Löffler, 1999,
4f.)
Dabei generieren die Produzentinnen und Produzenten gezielt ‹Images› ihrer
Talkshows und Hosts, um als moralische Autorität anerkannt zu werden. Eine
komplette PR-Maschinerie sorgt dafür, dass Talkshow und Host mit entsprechenden Attributen versorgt werden. Gut sichtbar ist das an der Selbstdarstellung der
Shows, beispielsweise auf den sendereigenen Websites.
9
Betrachtet man die Themen der gängigen Daily-Talkshows, sind darunter, neben jenen, die Probleme des alltäglichen Lebens behandeln, immer wieder solche ‹exotischer› Art: ‹Ich hatte Sex
mit meinem Chef›, ‹Ich bin nur 1.30m›, ‹Ich habe mein Kind ausgesetzt› – Situationen, welche
die Zusehenden selber kaum erleben, aber durch die Rezeption der Talkshow diese Erfahrungen
doch mit- oder nachleben können.
12
Um glaubwürdig als ModeratorInnen zu wirken, die den Gästen helfen können, müssen sie Eigenschaften aufweisen, denen die Gesellschaft einen grossen Wert zumisst: Ehrlichkeit, zuhören können, verständnisvoll sein, Spontaneität, Offenheit sind Eigenschaften, die sicher dazu zählen. Zudem müssen
sie ein möglichst grosses, also heterogenes Publikum ansprechen. So dürfen
die ModeratorInnen keine einseitigen Vorlieben haben, sondern sich – wie
z.B. Andreas Türck – als Stadtmenschen sehen und gleichzeitig das Land lieben. Oder wie Arabella10 einerseits Sport treiben, andererseits aber Leseratten
sein. So findet jeder Fan Eigenschaften an den ModeratorInnen, die ihm und
ihr zusagen. (Bertschi/Bubenhofer, 2000, 47)
Der enorme Bedarf an Talkshows (pro Sender vier bis fünf mal wöchentlich
mehrere Shows) macht ein professionelles und standardisiertes Produktionsverfahren nötig. Deshalb werden die Talkshows auch meistens von externen Unternehmen produziert11 . Doch auch diese können das Rad nicht immer neu erfinden:
Die Themen der Shows sind einander sehr ähnlich. Die Textsorte Talkshow scheint
sehr genau jene Palette von Themen gefunden zu haben, die erfolgsversprechend
ist: «Sie [die Themen] decken Tabus auf, wirken aufklärerisch als Lebenshilfe und
haben den Effekt wie ehemals der Tanz- oder Anstandsunterricht: brauchbar fürs
Leben» (Löffler, 1999, 6f.).
2.3.2.
Charakterisierung der Textsorte ‹Daily Talkshow›
Wie kann nun aber die Textsorte ‹Daily Talkshow› exakter gefasst werden? In diesem Kapitel versuche ich, analog dem Kapitel 2.2.2 für die Predigten, die Textsorte
der Talkshow zu bestimmen. Für den angestrebten Vergleich ist es wichtig, methodisch gleich wie bei den Predigten vorzugehen. Als Grundlage (siehe Tabelle 2 auf
der nächsten Seite) dienen deshalb jene Kriterien, die Schnell (1998, 53f.) für die
mittelalterlichen Predigten verwendet hat. Den Katalog habe ich jedoch um das
Kriterium ‹Wirkung, Funktion› ergänzt.
Das Fernsehen ist ein Massenmedium. Dieses Faktum verhindert nicht, dass
auch TV-Sendungen spezifische Publika haben. Die Talkshows zeichnen sich aber
gerade durch ihre universelle Gratifikationsversorgung aus: «Daily-Talkshows haben also für nahezu jedes Alter, jede Bildungsschicht und jede Bedürfnisstruktur
10
11
Türck und Arabella sind Hosts der jeweils gleichnamigen Talkshows auf Pro7.
Auf eine weitere Auswirkung des kommerziellen Hintergrundes macht Klemm (1996, 155) aufmerksam: Um das unternehmerische Risiko zu minimieren sind die Privatsender bestrebt, ihre
Moderatorinnen und Moderatoren nicht mehr selber anzustellen, sondern sie ihre eigene Produktionsfirma führen zu lassen. «Der Moderator wird somit im wörtlichen Sinne zum Verkäufer
der Sendung [...], dessen Popularität über Erfolg oder Scheitern entscheidet».
13
Adressaten
Das breite Fernsehpublikum, d.h. grosse
Massen.
Redehaltung und Kommunikationssituation
Indirektes adressatenbezogenes Sprechen
Intention
Kommerzielle Interessen der
Fernsehproduktion; bei öffentlich-rechtlichen
Sendern evtl.: Bildung, Information
Wirkung, Funktion
Hervorrufen von Gemütsbewegungen,
Orientierung, Möglichkeit der
Fremderfahrung, Trost und Geselligkeit,
Unterhaltung; universelle
Gratifikationsversorgung (vgl. Weiß 1999,
170).
Sprachliches Instrumentarium
Bildhaft, zwanglos durch Mündlichkeit;
Talkshow-Gäste dienen als Beispiele.
Tabelle 2: Kriterien der Textsorte ‹Daily Talkshow›
etwas zu bieten». So fasst Weiß (1999, 170) sein Untersuchungsergebnis zusammen. Weiss analysierte die Rezipientenstruktur der deutschen Talkshows ‹Hans
Meiser›, ‹Ilona Christen›, ‹Bärbel Schäfer› (alle RTL), ‹Arabella› (Pro7), ‹Kerner›,
‹Vera am Mittag›, ‹Sonja› (alle SAT.1) sowie ‹Fliege› (ARD). In der Rezipientenstruktur macht Weiss vier Gruppen aus (Weiß, 1999, 169f.):
• Soziale Deprivations-Rezipienten: Für sie sind Talkshows Ersatz für reale soziale Beziehungen. Die Gruppe besteht hauptsächlich aus älteren, allein lebenden Frauen im Ruhestand mit geringer formaler Bildung.
Anteil an der untersuchten Gruppe: klein.
• Soziale Vergleichs-Rezipienten: Auch sie schätzen den Geselligkeitseffekt von
Talkshows, verfügen aber über reale soziale Kontakte und somit über funktionale Alternativen zur Fernsehnutzung. Am meisten geschätzt werden von
dieser Gruppe die Möglichkeiten des sozialen Vergleichs und der Problembewältigung, die Daily-Talkshows bieten. Die Identifikation bzw. der Vergleich
mit den Gästen steht hier im Vordergrund. Auch diese Menschen sind relativ
alt und formal gering gebildet.
Anteil an der untersuchten Gruppe: gross.
• Zeitvertreibs- und Gewohnheits-Seher: Alleiniges Motiv für die Angehörigen
dieser Gruppe ist der Zeitvertreib. Sendungsinhalt und Moderation sind
ihnen unwichtig. Sie sind formal relativ gut gebildet und jung, häufig Frauen
und erwerbstätig.
14
Anteil an der untersuchten Gruppe: gross.
• Infotainment-Rezipienten: Diese schätzen an den Talkshows die reisserische
Darbietung unterhaltsamer Information. Anstelle der Themen ist eher die
Art der Präsentation wichtig. Die Angehörigen dieser Gruppe sind zu 40%
männlich (der höchste Männeranteil der vier Gruppen), relativ alt und formal relativ niedrig gebildet.
Anteil an der untersuchten Gruppe: am grössten.
Der Schwachpunkt dieser Untersuchung liegt in der fehlenden Befragung von
Jugendlichen. Doch genau jene gehören – neben den älteren Menschen – zu denjenigen, die zu den Sendezeiten der Talkshows überhaupt Zeit finden, fern zu sehen.
Die Untersuchung von Paus-Haase u. a. (1999) behebt genau diesen Mangel:
Eine quantitative Befragung erfasste gut 600 Jugendliche (12-17 Jahre) aus ganz
Deutschland. Uns interessieren hauptsächlich die Strukturierung der Rezipientinnen und Rezipienten im Vergleich zur obigen Untersuchung. Im einzelnen kristallisierten sich (neben den Nicht-Nutzern, die 28% der untersuchten Fälle ausmachen) folgende Gruppen heraus, deren Anteil an den untersuchten Fällen bei je
13–18% liegt (Paus-Haase u. a., 1999, 375f.):
• Talkshow-Fans: Für sie bieten Talkshows attraktive Information und Unterhaltung.
• Orientierungssuchende: Sie schreiben den Talkshows generell Informationsund Orientierungsfunktion zu. Sie amüsieren sich aber auch an den Sendungen. Hauptsächlich gehören Mädchen zu dieser Gruppe.
• Unterhaltungsskeptiker: Sie stehen Aussagen, Talkshows seien unterhaltend,
negativ entgegen. Für sie sind Talkshows höchstens Kommunikationsanlass.
• Zaungäste: Diese sehen eher selten Talkshows und glauben, dass Talkshows
für andere, nicht aber für sie selbst, Unterhaltungs- und Orientierungsfunktionen übernehmen.
• Kritiker: Hauptsächlich Knaben, welche eher selten Talkshows sehen. Sie betrachten Talkshows hinsichtlich Unterhaltungs- und Orientierungsfunktionen als ungeeignet.
15
Fasst man die Resultate der beiden Studien zusammen, können sowohl bei
den Erwachsenen als auch bei den Jugendlichen Orientierung, Information und
Lebenshilfe im weitesten Sinn als wichtige Funktionen der Talkshows angesehen
werden. Natürlich spielt auch die Unterhaltung in Form von Freude am Spektakel
und Amüsement eine Rolle.
Neben einem sprachlichen Instrumentarium, das sich zwangsweise an der
Mündlichkeit orientiert, ist bei der Talkshow die Wichtigkeit des bildlichen Instrumentariums augenfällig. Verschiedene Arbeiten12 verweisen auf die wichtige
Funktion von Bild und Ton, die zur Imagebildung beitragen. Vorspann, Dekor,
Bühnengestaltung, Abspann etc. werden gezielt eingesetzt, um Vertrauen, Spannung und emotionale Anteilnahme zu schaffen.
2.4.
Vergleichbarkeit: Möglichkeiten und Einschränkungen
Der Charakter der beiden Textsorten ‹Predigt› und ‹Daily-Talkshow› konnte in den
Kapiteln 2.2 und 2.3 geklärt werden. Die beiden Zusammenstellungen der Kriterien, welche die Textsorte bestimmen, machen auf erste Gemeinsamkeiten aufmerksam. Tabelle 3 auf der nächsten Seite vereinigt die Merkmale der beiden Texttypen.
Die Parallelen sind erstaunlich. Nur betreffend der Intention scheint ein Problem aufzutreten. Dieses war auch der Grund, weshalb ich die neue Kategorie ‹Wirkung, Funktion› einfügte: Zwar wird die Intention eines MendikantenPredigers des Mittelalters (zu predigen) nicht mit jener eines TV-Produzenten (eine
Talkshow zu produzieren) vergleichbar sein; die Wirkung von Predigt und Talkshow ist aber teilweise vergleichbar.
Auch bezüglich des sprachlichen Instrumentariums sind zumindest auf den
zweiten Blick Parallelen sichtbar: Zwar arbeitet die Talkshow kaum mit eigentlichen rhetorischen Figuren, wie das eine Predigt macht13 . Doch weshalb könnte
man die Gäste auf der Bühne einer Talkshow nicht als lebendige Exempla bezeichnen? Mir scheinen die Funktionen, welche rhetorische Figuren wie etwa Exempla
und Exemplum-Figuren übernehmen (Dank, 1995, 238), jenen, welche die Gäste in
den Talkshows übernehmen, zu entsprechen. Beide Male dienen sie zur Illustration des Erzählten oder Diskutierten.
Auch die Unterscheidung zwischen Exempla (aus dem Leben gegriffene BeiVgl. z.B. Löffler (1999, 4), Paus-Haase u. a. (1999, 78–121) und Bertschi/Bubenhofer (2000, 24,
42–49).
13 Vgl. die Ausführungen dazu auf S. 8.
12
16
Predigt
Talkshow
Adressaten
Einerseits Kleriker (als
Musterpredigten), anderseits
letztlich aber Laien als
Publikum, d.h. grössere
Massen.
Das breite Fernsehpublikum,
d.h. grosse Massen.
Redehaltung und
Kommunikationssituation
Adressatenbezogenes
Sprechen
Indirektes
adressatenbezogenes
Sprechen
Intention
Volk zu einem besseren
Lebenswandel anhalten;
Unterweisung im Glauben;
Hervorrufen von
Gemütsbewegungen
(Hörerinnen und Hörer sollen
zur Reue veranlasst werden)
Kommerzielle Interessen der
Fernsehproduktion; bei
öffentlich-rechtlichen
Sendern evtl.: Bildung,
Information
Wirkung, Funktion
Sprachliches Instrumentarium
Hervorrufen von
Gemütsbewegungen,
Orientierung, Möglichkeit
der Fremderfahrung, Trost
und Geselligkeit,
Unterhaltung; universelle
Gratifikationsversorgung
Exempla, Gleichnisse,
Vergleiche;
narrativ-anschauliche
Sprache; unsichtbare, geistige
Dinge werden mit Hilfe der
körperlichen, sichtbaren
Dinge vermittelt
Bildhaft, zwanglos durch
Mündlichkeit;
Talkshow-Gäste dienen als
Beispiele.
Tabelle 3: Textsorte Predigt und ‹Daily Talkshow› im Vergleich
spiele) und Exemplum-Figuren (Heilige, Berühmtheiten) lässt sich auf die Talkshows übertragen: Erstere sind die ‹Alltagsmenschen›, letztere die Prominenten
auf der Bühne. Erstere sind greifbar und entstammen der Lebenswelt, die man
kennt – eignen sich also zur Illustration und zur Fremderfahrung –, letztere sind
(makellose) Vorbilder, mit denen man sich identifizieren kann.
Natürlich sieht sich wohl kaum ein Talkgast als lebendiges Exemplum, sondern z.B. als Individuum mit einem persönlichen Problem, dessen Lösung er sich
durch den Auftritt erhofft. Um die Exemplum-Funktion erfüllen zu können, müssen die Talkgäste aber dekontextualisiert werden. Die Exempla müssen zwar einerseits einen Realitätsbezug haben14 , andererseits aber auch plausibel sein15 : Das
Der Realitätsbezug ist z.B. bei einer Nachrichtensendung absolut nötig, ansonsten verliert sie ihre
Glaubwürdigkeit (Klaus/Weiss, 1998, 104).
15 Geschichten können z.B. plausibel sein; sie sind zwar erfunden, könnten aber überall passiert
sein. Bei den Soap Operas ist die Plausibilität z.B. elementar (Klaus/Weiss, 1998, 104).
14
17
Exemplum könnte überall passiert sein – es könnte meiner Lebenswelt entstammen. Die Talkshows bewegen sich irgendwo zwischen nötigem Realitätsbezug
(der Talkgast hat jenes Erlebnis tatsächlich erlebt) und nötiger Plausibilität (das Erlebnis könnte auch ich haben). Für das Publikum und die Produzenten einer Show
ist also nicht primär die Lösung des Problems des Talkgastes wichtig, sondern die
Tauglichkeit des Problems als Exemplum (Bertschi/Bubenhofer, 2000, 31). Das aus
der Bibel oder dem Gedächtnis entsprungene Exemplum des Predigers ist unter
diesem Aspekt etwas humaner16 .
Die Mündlichkeit des Fernsehens ist spezieller Natur. Insbesondere in Sendegefässen wie den hier zur Debatte stehenden Talkshows, aber auch in Sendungen
anderer Art, finden sich eigene sprachliche Instrumentarien. Klemm (1996) untersucht beispielsweise die Streitkultur der damals aktuellen Diskussionssendungen
‹Der heisse Stuhl› und ‹Einspruch!›. Die Konzepte der beiden Sendungen erforderten die Personalisierung, Polarisierung und Emotionalisierung eines Streites, der
«wie im wahren Leben» wirken sollte. Orientierten sich aber auch die Talkshows,
die mit den mittelalterlichen Predigten verglichen werden sollen, an Gesprächsformen des wirklichen Lebens, dürften ‹Daily Talkshow› und Predigt wohl nicht
der gleichen Textsorte zugerechnet werden. Klemm macht aber auf den entscheidenden Unterschied aufmerksam:
Zusammenfassend kann man konstatieren, dass auch in diesem Konzept
[dem Konzept des ‹Heissen Stuhls›, NB] Streitgespräche alleine aufgrund des
prinzipiellen Inszenierungscharakters des Mediums Fernsehen nie etwas anderes sind und sein können als für das Publikum inszenierte Schaukonflikte.
Was dabei herauskommt ist weder eine Diskussion, noch ein Streitgespräch
‹wie im wahren Leben›, sondern ‹Confrotainment›, verbale Konfrontation zur
Unterhaltung der Zuschauer. (Klemm, 1996, 152)
Genauso, wie die schriftlich fixierte Predigt als höchstens der Mündlichkeit nahe bezeichnet werden kann (vgl. Kapitel 2.2), entspricht eine Talkshow nicht der
Mündlichkeit der ‹realen Welt›17 . Das jeweilige Medium, einmal der predigende
Eine interessante Arbeit zum Thema Laien im Fernsehen verfasste Burger (1996): Er zeigt darin,
wie der Laie in der TV-Sendung, beispielsweise einer Talkshow, zum Laien gemacht wird: «Laien
lassen sich medial definieren zunächst über die Funktionen, die ihnen zugeschrieben werden. Sodann – mindestens partiell – auch über die Art und Weise, wie sie sprechen, und – möglicherweise noch wichtiger – wie man mit ihnen spricht» (Burger, 1996, 46). Da die Laien unberechenbar
sind, müssen sie unter Kontrolle gehalten werden, damit sie jene Funktionen übernehmen, welche das Showkonzept für sie vorgesehen hat.
17 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Sprachwirklichkeit (worin die Oralität Platz findet) und virtueller Sprachwirklichkeit, die durch das Medium Fernsehen generiert wird (worin sich eine
‹virtuelle Oralität› befindet) auch das entsprechende Schaubild von Löffler (1996, 205).
16
18
Geistliche, einmal das Fernsehen, schafft eine neue Mündlichkeit, die aber – so die
These dieser Arbeit – jeweils mit der anderen vergleichbar ist.
Schliesslich können neben der Textsorte auch die Themen von Predigten und
Talkshows miteinander verglichen werden. Wie die Mendikanten-Mönche das
Predigtwesen mit ihrem neuen Verständnis von Predigt revolutionierten, versuchten auch die Privatsender mit Themen, die näher an der Lebenswelt der Menschen
sind, attraktivere Formen der Unterhaltung zu finden18 . Diese neue Themenvielfalt ermöglichte im Falle der Predigt ihre Loslösung vom liturgischen Umfeld des
Gottesdienstes. Und für die Talkshow ermöglicht die gleiche Themenvielfalt mehr
oder weniger die Loslösung der Sendung vom politischen und wirtschaftlichen
Kontext, der für traditionelle Diskussionssendungen relevant war. Diese Modulartigkeit der Talkshow-Themen19 erinnert an jene der in Kapitel 2.2.2 diskutierten
Predigt-Themen.
Zusammenfassend sehe ich drei Aspekte, unter denen Ähnlichkeiten von
mittelalterlichen Mendikanten-Predigten und heutigen Confro- und ConfessioTalkshows beobachtet werden können:
1. Die Wirkung von Predigt und Talkshow auf die Gesellschaft sind teilweise
vergleichbar: Beide können als Moralinstanzen und Orientierungshilfen betrachtet werden.
2. Themen aus der Lebenswelt der Menschen finden Eingang in die
Mendikanten-Predigt und die Talkshow. So erschliessen sich die beiden
‹Medien-Formate› neue Zuschauer- und Zuhörerinnenschichten und erfreuen sich einer grossen Beliebtheit.
3. Die Beliebtheit und grosse Zugänglichkeit erklärt sich auch durch die Benutzung einer anschaulichen Sprache und von eindrücklichen Beispielen aus
der Lebenswelt der Menschen.
In Kapitel 3 versuche ich nun an einigen Beispielen aus der Praxis Hinweise zu
finden, die für oder gegen die oben genannten Aspekte sprechen.
Wobei klar betont werden muss, dass die jeweilige Intention solche Neuerungen einzuführen, bei
Predigern und TV-Produzentinnen und -Produzenten verschieden sind. Vgl. auch die Ausführungen dazu auf Seite 16.
19 Die Themen können in immer neuen Variationen praktisch frei zu neuen Sendungen kombiniert
werden.
18
19
3. Praktischer Teil: Vergleich von Predigt und Talkshow
3.1.
Berthold von Regensburg: Predigten über Probleme des Alltags
3.1.1.
Vorüberlegungen
Berthold von Regensburg gehörte dem Franziskanerorden an und lebte von 1210
bis 1272. Seine berühmten Predigten hielt er u.a. in Böhmen, Süddeutschland, der
Schweiz und in der Steiermark. Schnell (1997, 93) bezeichnet Berthold als wortgewaltigen und wirkungsmächtigen Verkünder von Gottes Wort. Und Cruel gerät
ins Schwärmen über die Predigten des Mönchs:
Wenn aber selbst die blosse Lectüre seiner Predigten trotz aller Wiederholung
nicht ermüdend wirkt und auch heute noch den empfänglichen Leser fesselt,
wie gewaltig musste dann ihre damalige augenblickliche Wirkung sein, wo
ihr Vortrag durch den Eindruck der ganzen Persönlichkeit des Redners unterstützt wurde! Durch welches Mittel der Kunst, abgesehn von seinen grossen
Naturgaben, erreichte er dieselbe? Zunächst und hauptsächlich durch die Gewohnheit, alles zu individualisiren und personificiren und auch die Zuhörer
selbst als Mithandelnde in die Rede hineinzuziehn. So oft er von einer Tugend
oder noch mehr von einem Laster handelt, und all sein Predigen ist ja nur ein
unausgesetzter Kampf wider die Sünde, schildert er diese niemals abstract,
sondern immer in der Person bestimmter, als anwesend gedachter Menschen.
(Cruel, 1966, 311)
Berthold liegt also ganz in der Tradition der in Kapitel 2.2.1 geschilderten Mendikantenprediger. Seine Popularität war die Folge der Ausrichtung seiner Predigten auf die Lebenswelt der Menschen. Er scheute sich nicht, Alltagsprobleme zu
behandeln und damit Orientierungshilfen anzubieten.
Diese Eigenschaften scheinen mir ideal, um den Vergleich einer mittelalterlichen Predigt mit den ‹Daily Talkshows› zu wagen. Ich werde mich im Speziellen
auf die Predigt von der ê auf der Basis von Pfeiffer (1965) stützen.
Ich bin mir bewusst, dass die Benutzung der deutschen Version von Bertholds
Predigt nicht unproblematisch ist. Zum einen, weil inzwischen nachgewiesen wurde, dass die deutschen Berthold-Predigten nicht von Berthold selber verfasst wurden und auch keine wortgetreuen Nachschriften gehaltener Predigten darstellen
(Schnell, 1997, 93). Zum anderen wären, wie Schnell (1997) nachweist, die lateinischen Fassungen der tatsächlich gehaltenen Predigt näher als die deutschen Fassungen, die eher als Erbauungslektüre für zuhause gedacht waren. Diese konn-
20
ten dann nach Themen (und nicht nach dem Kirchenjahr) geordnet sein und auch
Tabu-Themen wie Sexualität ausführlicher behandeln:
Wenn diese Ehepredigt [Bertholds von der ê] [...] als Lesetext zur Erbauung
fungiert, wird sie diese Funktion weniger für Kleriker denn für Laien erfüllen. [...] Für Lesetexte des 13. Jahrhunderts ein Laienpublikum anzunehmen,
fällt schwer. Und doch neige ich zur Annahme, dass die im Augsburger Franziskanerkonvent angefertigte deutsche Predigtsammlung sowohl für niedere
Kleriker wie für Laien gedacht ist. [...] Nimmt man hinzu, dass die ausführliche Erörterung ehelicher Sexualität für Kleriker insoweit interessant war, als
sie das hier mitgeteilte Wissen im Beichtgespräch mit Laien einsetzen konnten, dann ist es nicht mehr so abwegig, an niedere Kleriker – neben Laien –
als mögliche Adressaten der deutschen Ehepredigt zu denken. (Schnell, 1997,
107)
Trotzdem glaube ich, auch mit den deutschen Texten operieren zu können:
Die Annahme, dass die deutschen Texte als Lesetexte benutzt wurden, bedeutet
ja auch, dass die Texte nicht unbedingt für die Öffentlichkeit bestimmt waren.20 Es
wäre aber falsch, Talkshows als rein öffentlich – und somit wären sie nicht mit den
im privaten oder halbprivaten Rahmen benutzten Lesetexten vergleichbar – anzusehen. Im Gegenteil suggeriert die Talkshow jene Privatheit, die der Mensch des
20. Jahrhunderts in seiner Familie nicht mehr findet (Bertschi/Bubenhofer, 2000,
18f.). Eine Folge des Zerfalls der öffentlichen Sphäre, wie sie der Soziologe Richard Sennett (1983) beschreibt. So nutzt das Fernsehpublikum die Talkshow auf
ähnliche Weise wie die mittelalterliche Leserschaft die Erbauungslektüre. Ob sogar die Predigt in der Kirche als halb-öffentlich bezeichnet werden kann, soll an
dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.
3.1.2.
Bertholds Predigt ‹von der ê›
Die Berthold zugeschriebene deutsche Ehepredigt, wie sie in Pfeiffer (1965) enthalten ist, umfasst mehrere Aspekte, die aus verschiedenen lateinischen BertholdPredigten stammen (vgl. Schnell 1997, 98f.). Sie setzt sich aus folgenden Elementen
zusammen:
1. Einleitung
Dreierlei Leben führen ins Himmelreich: Ehe, Witwentum, Jungfräulichkeit
2. Ehe (Hauptteil)
20
Was vor allem für die Tabu-Themen, die in der öffentlichen Predigt nicht oder nur beschränkt
möglich gewesen wären, wichtig ist.
21
a) Einleitung
b) Erster Fittich: rechtlich-formale Voraussetzungen einer Ehe (Ehehindernisse)
c) Zweiter Fittich: rechtes Verhalten in der Ehe (fünf Federn)
i. moralisch untadeliges Gesinde beschäftigen
ii. kein unrechtmässiges Gut behalten
iii. einander Treue bewahren hinsichtlich des Besitzes, des Leibes und der Seele
iv. sexuelle Mässigung (5 Verbotszeiten)
v. sexuelle Beherrschung im Ehebett
d) Zusammenfassung, auf drei Arten von Eheleuten zugeschnitten
3. Witwen
4. Jungfrauen
Bei der Lektüre fällt die Strukturierung durch zwei Fittiche und fünf Federn
auf, die als rhetorisches Element wohl das Verständnis fördern soll. Nach der Einleitung, welche über die drei Wege ins Himmelreich aufklärt, stehen die zwei Fittiche der Ehe im Vordergrund: Die Klärung der Ehehindernisse und die Hinweise für rechtes Verhalten in der Ehe. Letzterem wird in dieser Predigt besonders
viel Platz gelassen. In den lateinischen Teilen hingegen nehmen die Ausführungen über rechtes sexuelles Verhalten in der Ehe bedeutend weniger Platz ein (vgl.
Schnell 1997, 100).
Schon in der Einleitung warnt Berthold21 all jene, welche nicht den richtigen
Weg ins Himmelreich wählen. Denn Ehebrecherinnen und Ehebrecher, sowie «nescher unde nescherinne, ez sî man oder frouwe, junc oder alt» (Pfeiffer, 1965, 309)
fallen vom Weg ab in die Hölle. Auch ermahnt Berthold die Zuhörenden, seiner
Predigt zu folgen:
Ir witwen und ir meide, ir möhtet wol slâfen die wîle ich disen êliuten predige,
oder hœret mit den andern: die iezunt witwen unde meide sint, die werdent
lîhte über zehen wochen oder ein jâr êliute. [...] Unde saehet ihr güldîne vogele
obe iu fliegen, ir soltet doch niwan für iuch sehen. (Pfeiffer, 1965, 310)
Im ersten Fittich werden jene Menschen genannt, die nicht geheiratet werden
dürfen: «fleischlîchiu sippe», «geswægerlîche sippe», «dîn geistliche sippeteil»,
«der mensche, der dem almehtigen gote verbunden ist» und «der mensche, der
ein andern menschen verbunden ist». Schon da werden Frage-Antwort-Spiele eingebaut. Jemand fragt «Bruoder Berthold, nû fürhte ich mir» und ist unsicher, wie
ein bestimmtes Vergehen gewertet werden soll:
21
Wenn in der Folge von Berthold die Rede ist, so im Wissen darum, dass der Text zwar nicht von
Berthold selber stammt, seinen Predigten jedoch nachempfunden ist.
22
«Bruoder Berthold, nû fürhte ich mir.» Jâ wes? «Dâ brach ich mîne ê unde die
wîle mîn gemechede lebte. Nû ist mîn gemechede tôt unde hân den selben
menschen ze rehter ê genomen, mit dem ich mîne ê dô brach: weder sol man
uns scheiden oder nicht?» Und ist, daz dû driu dinc vermiten hâst, dô dîn gemechede lebte: daz dû niht spraeche: «sê mîne triuwe! ist, das mîn gemechede
stirbet, daz ich dich ze rehter ê nemen wil,» oder ims niht mit ander gelübede
gehieze, daz ist daz eine; sô ist daz ander, ob dû lîhte vor liebe alsô spraeche:
«ich wil dich iezuo nemen zu rehter ê: swenne mîn gemechede tôt gelît, daz
ich dehein anderz müge genemen danne dich»: habet ihr disiu zwei vermiten,
unde daz ir beide unschldic wâret an sîme tôde (daz ist daz dritte), sô muezet
ir dise sünden büezen, die ir mit einander begangen habet, dô dîn gemechede lebte. Ist daz ir daz büezet und irret iuch ander sünde niht, sô müget ihr
himelrîche wol gewinnen ze iuwerr ê. (Pfeiffer, 1965, 317)
Berthold äussert sich hier zum Problem der Ehebrecherin, die, nachdem ihr
Mann gestorben ist, den Liebhaber heiraten will. Es erstaunt die pragmatische
Lösung: Wenn die Ehebrecherin den Tod ihres Mannes nicht herbeigesehnt oder
sogar verschuldet hat, sei die neue Ehe – nach der Busse – rechtens.
In der Predigt werden noch weitere Probleme thematisiert, u.a. das Heimkehrerproblem: Der längst verschollen geglaubte Ehemann kehrt wider Erwarten
doch zurück – seine Frau hat sich aber schon wieder neu verheiratet.
Nach den kurzen Ausführungen zur ersten und zweiten Feder rechten Verhaltens in der Ehe (untadeliges Gesinde halten, kein «nescher noch nescherin», kein
«spiler noch nahtganger noch hiutezucker», sowie kein unrechtmässiges Gut behalten), fordert Berthold mit der dritten Feder Treue zwischen den Partnern hinsichtlich Besitz, Leib und Seele.
dû solt ihr guot niht andern wîben geben noch verspiln noch vertrinken noch
verschallen mit turneien, noch gumpelvolke niht geben, die dâ int des tiuvels
blâsbelge, noch mit deheiner umrehten wîse solt dû dîner hûsfrouwen ir guot
niht unnütlîchen âne werden. (Pfeiffer, 1965, 319)
Berthold vergisst aber nicht zu erwähnen, dass die gleichen Regeln auch für
die Frauen gelten sollen.
Ebenfalls bemerkenswert ist die Stelle, welche die körperliche Treue thematisiert:
Dû solt dînen lîp niemanne geben danne dînem gemechede. Waerest dû halt
ein künic unde waere sie ein armez fröuwelîn: dû warest doch ir unde sie
dîn. Bist dû edeler oder schoener oder rîcher an friunden oder an guote oder
jünger, an dewederm daz ist unde swie arm daz ander ist an friunden oder
an dem lîbe oder an dem guote daz ez dir zuo brâhte: sô ist doch diu frouwe
23
des mannes unde der man der frouwen, und ist diu heilige ê als veste und als
starc, als dâ ein künic eine küniginne het genomen zer ê. Doch wil ich iu einez
râten; ez hât aber iu got niht geboten, niwan daz ich ez iu râte mit guoten
triuwen. Wan wir grôzen gebresten dâ von haben unde schen unde hoeren,
daz ir gar jungiu kint alten mannen gebet, dâ von râte ich iu, daz ir ein jungez
dem andern gebet, und ein altez dem andern. Unde dar umbe, daz dir gelîch
sî an der jungent und an dem alter, an der edelkeit der friunde und an der
ahtbaerkeit des lîbes, daz nim. (Pfeiffer, 1965, 320)
Ständeunterschiede, Reichtum, Armut, Alter etc. dürften nach Berthold also
keine Rolle für das Treueverhältnis spielen. Zudem rät Berthold, obwohl Gott dies
nicht geboten habe, junge mit jungen und alte mit alten zu verheiraten.
Nur zögerlich wird die vierte und fünfte Feder («zuht an dem bette» und «mâze») angesprochen: «Des êrsten wil ich sagen von der mâze» (Pfeiffer, 1965, 322).
Während fünf Zeitpunkten soll die Ehefrau ihren Gemahl «mîden [...] mit unkiuschen dingen». Das sei nicht zu viel verlangt, bedenke man, dass die Menschen
«ein langez jâr» Zeit hätten, um «iuwer geslehte zu mêren, daz ir kinde gar genuoc
gewinnet». Dies vor allem im Gegensatz zu den Tieren, die oft nur einmal jährlich geschlechtsreif seien. Das Verbot gilt an folgenden Tagen: In der Fastenzeit, an
Feiertagen, wenn die Ehefrau schwanger ist (hält sich der Ehemann nicht daran,
würde er «hundert marke» dafür geben, «daz dû es vermiten hætest») und wenn
die Ehefrau krank ist. Der Verstoss gegen das Paarungsverbot wiegt schwer:
Alliu diu kint, diu in den zîten werdent enpfangen, dâ gesihst dû selten iemer
lieben blic an; wan ez wirt entweder beheftet mit dem tiuvel oder ez wirt
ûzsetzic oder ez gewinnet die vallende suht oder ez wirt hogereht oder blint
oder krump oder ein stumme oder ein tôre oder ez gewinnet einen kopf als
ein slegel. (Pfeiffer, 1965, 323)
Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich die pragmatische Haltung Bertholds. Denn er wisse wohl, dass ihm die Frauen «vil mêre volget danne die man»
(Pfeiffer, 1965, 324), wenn es um das Paarungsverbot an Feiertagen geht:
Wir vinden ofte, daz die frouwen kiuscher sint danne die man, wan die wellent eht frî sîn mit allen dingen unde wellent ir willen hân mit ezzen unde mit
trinken unde koment dâ mit in die frîheit, daz sie keiner zît wellent schônen.
Frouwe, sô soltû imz benemen mit guoter rede, sô dû aller beste kanst oder
maht. Wirt aber er sô gar tiuvelheftic, daz er sprichet übel unde von dir wil
hin zuo einer andern unde im daz gar ernst werde unde dû ez im niht erwern
mügest: ê danne daz dû in zuo einer andern lâzest, sich, frouwe, sî es danne
an der heiligen kristnaht oder an der heiligen karfrîtagesnaht, sô tuo ez mit
trûrigem herzen; wan sô bist dû unschuldic, ist eht dîn wille dâ bî niht. Aber
24
alle die heiligen, der zît ir alsô niht geschônet habet, die werdent alle an dem
jungesten tage über iuch ruofende. (Pfeiffer, 1965, 324)
Die Aufrechterhaltung der Ehe ist für Berthold von grösserer Wichtigkeit als
die Einhaltung der Feiertagsregel. Er versucht darzulegen, dass die Forderung, im
Geschlechtsverkehr Mass zu halten, nur eine logische Fortsetzung der Forderung
ist, bezüglich Essen und Trinken Mass zu halten.
Zuletzt geht Berthold mit aller Vorsicht auf die Zucht im Bett ein: «Leider nû
getar ich niht wol dâ von gereden vor den valschen zungen. Iedoch sage ich iu ein
wênic. Der daz verstê, der verstê ez.» (Pfeiffer, 1965, 325) So sind seine Bemerkungen verschlüsselt oder andeutend.
Berthold fordert, «man suln strîten unde frouwen suln spinnen», denn es dürfe
nicht geschehen, dass «frouwen mannes gewant an legent» (Pfeiffer, 1965, 325)
und männliche Tätigkeiten vollführen.
Ein weiteres Frage-Antwort-Spiel thematisiert die Hierarchie zwischen Frau
und Mann: «Bruoder Berhtolt, nû sprichest dû, diu frouwe sülle dem man untertaenic sîn: sol ich danne niht tuon mit mîner hûsfrouwen daz mich guot dünket
und als ich wil?» (Pfeiffer, 1965, 326) Doch Berthold entgegnet entschieden, die
Partner müssten Rücksicht aufeinander nehmen und im ehelichen Verkehr Zucht
und Mass halten. Das Bett der Eheleute «sol sîn âne flecken und âne meil» (Pfeiffer,
1965, 327), denn am Jüngsten Tag wird die ganze Schande vor aller Welt ausgebreitet und bleibt nicht mehr verborgen. Berthold erklärt noch einmal, wann ehelicher
Verkehr angebracht ist, und dass der eigentliche Grund dafür in der Fortpflanzung
liegt: «Unde hoeret ouch zem andern, daz dû es tuost durch eines kindes willen
[...]» (Pfeiffer, 1965, 328).
Im letzten Teil der Predigt steht das Leben der Jungfrauen und Witwen zur Debatte. Berthold bildet Kategorien von Jungfrauen und Witwen, die, bewertet nach
den Gründen ihres Jungfrauen- oder Witwendaseins, am Jüngsten Tag mehr oder
weniger «lôn» empfangen werden. Die hochmütigen Frauen, die nur deshalb jungfräulich sind, weil sie sich für keinen Mann entscheiden können, erhalten ihren
Lohn im «sinkenden hellensumpfe» (Pfeiffer, 1965, 337). Auch die «trüllerinne unde die antragerinne [Kupplerinnen]» kommen nicht besser weg. Sie verderben so
viele Seelen, weil sie immer drei Seelen gleichzeitig verderben: «die zwô die dû ze
samene füegest unde die dîne» (Pfeiffer, 1965, 335). Kaum genug loben kann man
die Jungfrauen, welche seit ihrer Geburt keusch geblieben sind und es bis an ihr
Lebensende bleiben wollen: «da lît sô vil freuden an und êren, daz ez gar unsa-
25
gebaere ist ze sagen, unde dâ von ist bezzer geswigen danne krenklîche gelobet»
(Pfeiffer, 1965, 336). Berthold verweist auf die Heiligen Jungfrauen Maria Magdalena, Margareta, Katharina, Juliana und Agnes.
3.1.3.
Zwischenfazit
Die Lektüre von Bertholds Ehepredigt macht auf folgende Aspekte aufmerksam:
• Die Predigt ist gut komponiert, relativ klar im Aufbau und in einer gut verständlichen, anschaulichen Sprache verfasst. Berthold bringt entweder Beispiele aus der Lebenswelt des Publikums22 oder aber von Heiligen23 , die als
Identifikationsfiguren und Vorbilder dienen.
• Dialoge mit den (fingierten) Gläubigen machen diese zu einer Art ‹Gäste›,
die in der Predigt auftreten und Diskussionsbeiträge oder Beispielmaterial
liefern. Es handelt sich um gezielt eingesetzte Exempla, wie sie Dank (1995,
289)24 beschrieben hat.
• Ganz in der Tradition der im 13. Jahrhundert aufkommenden MendikantenPrediger pflegt Berthold einen pragmatischen Bezug zu den Problemen des
Alltags der Gläubigen25 . Er scheint sich der Tatsache bewusst zu sein, dass
der Einfluss der Bibel nicht überall umfassend wirken kann.
3.2.
Arabella, Bärbel und Vera: Talkshows über Probleme des Alltags
Fünf Sendungen dreier Talkshow-Hosts dienen als Material für den Vergleich mit
Bertholds Ehepredigt. Die Auswahl erfolgte anhand einer Übersicht über die Titel
deutscher Nachmittags-Talkshows. Drei der Themen behandeln im weitesten Sinn
Probleme des Zusammenlebens: Beziehungszwist, junge Mütter und Erziehung.
Das vierte (Partygirl) und fünfte (Schönheit) decken die Bereiche Freizeit, Unterhaltung und Vorbilder – im weitesten Sinn auch Beziehungsprobleme – ab. Die
Auswahl ist damit natürlich nicht repräsentativ.
Von den Video-Mitschnitten erstellte ich inhaltliche Zusammenfassungen der
Sendungen sowie Gesprächsprotokolle ausgewählter Stellen. Da das Augenmerk
Vgl. z.B. das wahrscheinlich häufig auftretende Problem des Mannes, der seine Frau zu ehelichem Verkehr nötigt auf Seite 24.
23 Vgl. auf dieser Seite die Heiligen Jungfrauen als Beispiele.
24 Vgl. auch die Ausführungen auf Seite 8.
25 Vgl. die Bemerkungen dazu auf den Seiten 23 und 24.
22
26
nicht auf linguistischen Merkmalen liegt, verzichtete ich auf die Auszeichnung der
Protokolle mit Angaben zu Phonologie und Kontext. Die Gespräche sind Wort für
Wort erfasst. Daneben sind diese Ausschnitte auch auf der beiliegenden CD-ROM
enthalten.
Tabelle 4 gibt einen Überblick über die untersuchten Talkshows. Im Folgenden fasse ich die Sendung Du willst mich loswerden? Dann sag’s mir ins Gesicht zusammen, um einen Eindruck über die Abfolge einer exemplarischen Sendung zu
erhalten. Im Anhang (ab Seite 38) finden sich die vollständigen Zusammenfassungen der Sendungen Du kannst keine gute Mutter sein, du bist doch erst 16 und Wieviel
Strenge braucht ein Kind.
Code
Titel
Talkshow
Sender
Datum, Zeit
Mutter mit 16
Du kannst keine gute
Mutter sein, du bist
doch erst 16
Arabella
Pro7
Di, 28. 8. 2001, 14 Uhr
Kindererziehung
Wieviel Strenge
braucht ein Kind?
Vera am Mittag
Sat1
Mi, 29. 8. 2001, 12 Uhr
Schönheit
Angst vor Falten!
Bärbel, wie bleibe ich
glatt und schön?
Bärbel Schäfer
RTL
Mi, 29. 8. 2001, 14 Uhr
Beziehungszwist
Du willst mich
loswerden? Dann
sag’s mir ins Gesicht!
Arabella
Pro7
Do, 30. 8. 2001, 14 Uhr
Partygirl
Partygirl! Wirst du
wirklich reich und
berühmt werden?
Bärbel Schäfer
RTL
Fr, 31. 8. 2001, 14 Uhr
Tabelle 4: Die untersuchten Talkshows
3.2.1.
Beziehungszwist
Diese Folge der Talkshow ‹Arabella› steht unter dem Titel Du willst mich loswerden,
dann sag’s mir ins Gesicht. Arabella empfängt verschiedene Gäste, die ein Beziehungsproblem haben.
Lars: Sorry, aber komm’ doch wieder zurück!
Lars ist von seiner grossen Liebe
Jenny verlassen worden, weil er an einem Fest ein anderes Mädchen geküsst hatte.
Arabella hakt zweimal nach, ob es wirklich beim Küssen geblieben sei, was er beteuert. Jenny ist hinter der Bühne und soll nun auf Bitten von Lars hervorkommen
und seine Entschuldigung annehmen. Sie will aber nicht, er habe keine Chancen
mehr bei ihr; das Publikum zeigt aber Sympathien für Lars’ Reue. Endlich über-
27
windet sich Jenny dazu, ins Studio zu kommen, bleibt aber bei ihrer Position. Ronnie kommt als dritter ins Spiel, weil er damals den Treuebruch seines Freundes Lars
gegenüber Jenny verriet. Er fühle sich aber nicht schuldig, da er fand, die Beziehung habe sowieso keine Zukunft. Arabella schlägt vor, dass sich die drei hinter
der Bühne nochmals verständigen sollen und bemerkt ironisch, auch Ronnie sei
von seiner Freundin verlassen worden.
Silvia und Ria: Eifersucht zwischen Frauen Silvia behauptet, Ria sei eifersüchtig
auf sie, weil sie mit Rias bester Freundin Katja oft in den Ausgang gehe oder Katja
auf ihr Kind aufpasste. Daniela, Freundin von Silvia bestätigt deren Vorwürfe.
Nach der Werbepause treffen alle vier im Studio aufeinander und ein heftiger
Streit entsteht. Einzig Katja, um deren Freundschaft sowohl von Silvia als auch
von Ria geworben wird, bleibt eher ruhig. Arabella zieht Bilanz und fordert, sie
sollen sich gegenseitig nicht immer schlecht machen und meint, es liege an Katja
zu entscheiden, wer sie zur Freundin haben wolle. Sie schlägt vor, dass sie im
Studio den Streit beilegen und einander die Hand reichen. Es zeuge von wahrer
Grösse, jetzt den ersten Schritt zu tun. Silvia blickt demonstrativ weg, Ria erklärt
sich zum Handschlag bereit. Trotzdem lässt sich Silvia nicht erweichen, was bei
Arabella und Publikum auf Unverständnis stösst. Katja macht den Vorschlag, sie
könnten sich ausserhalb der Show einmal treffen, was das Publikum mit Applaus
quittiert. Doch Silvia ist noch immer skeptisch (Arabella, 2001b, 0.22.0/Ab-03).
Erst später, während der nächsten Werbepause, ringt sich Silvia zum Frieden
durch – doch nun will Ria nicht mehr. Da setzt die Sendung ein und die Situation
eskaliert wieder im Streit. Arabella schlägt vor, dass die beiden ausserhalb der
Sendung miteinander reden sollten und ermahnt sie zu verantwortungsvollem,
erwachsenem Benehmen. Die beiden geben sich endlich die Hand, fallen sich dann
aber in die Arme und beginnen zu weinen. Das Publikum applaudiert.
Oliver: Schulden und Gerüchte
Oliver, der von Arabella als schwul bezeichnet
wird, beklagt sich, dass seine ehemaligen Freunde Nadin und Dani Gerüchte über
ihn verbreiteten. Doch er scheint den Freunden noch Geld zu schulden. Arabella
ermahnt Oliver, dass man Schulden zurückzahlen müsse.
Sokol und Chelson: Zu breite Hosen Die beiden befreundeten Jungen Sokol und
Chelson beklagen sich, dass ihre Freundinnen Dragana und Kaniha nicht mehr mit
28
ihnen ausgehen wollen, weil ihnen ihr Kleidungsstil nicht gefällt. Die beiden Jungen tragen modisch breite und weite Hosen.
Nach der Werbepause stellt sich heraus, dass die beiden Mädchen sich wohl
etwas schneller aus der Pubertät heraus entwickelt haben und die Verhaltensweise
der Jungen nicht mehr so schätzen.
Arabella fasst die Situation zusammen und gibt Ratschläge:
Ich find’ das klasse, so wie ihr aussieht und ich würde mich ehrlich gesagt für
nichts und niemanden so verbiegen, sondern wenn die Kleidung nun Ausdruck meiner Persönlichkeit ist und das KANN nie jedem gefallen, dann würde ich dabei bleiben [Applaus], das ist meine Meinung.
OK, auf der anderen Seite kann ich verstehen, dass euch, vor allem dir, Sokol,
an der Freundschaft zu den Mädels sehr viel liegt, aber dann müsst ihr vielleicht, wenn ihr unterschiedliche Interessen habt, ihr habt euch in den letzten
Jahren auch unterschiedlich entwickelt, ja – dass ihr dann auch eben Nachmittagsgestaltung mit den Damen irgendwie erledigt und euch da etwas ausquasselt, vielleicht mal etwas Nachhilfestunden nehmt im richtigen Umgang
mit der holden Weiblichkeit – ja – mit diesem brr hü-hot ist ja nicht so der Hit,
und – ähm – sag ich mal, ansonsten habt ihr euch vielleicht auch etwas anders
entwickelt und deswegen geht ihr ja teilweise auch andere getrennte Wege.
Das heisst aber nicht, dass die Freundschaft ganz auf der Strecke geblieben
ist. Habe ich das richtig verstanden, Mädels? (Arabella, 2001b, 0.52.37/Ab-02)
Stefan und Emanuel: Der Versöhnungsapfel
Zum Schluss erscheinen Stefan und
Emanuel auf der Bühne, die einen kleinen Streit vor der Kamera mit einem Versöhnungsapfel beilegen können.
Arabella freut sich, dass doch noch friedliche Lösungen gefunden werden konnten und
verabschiedet sich.
3.2.2.
Besonderheiten weiterer Talkshows
Erwähnenswert ist auch die Show Wieviel Strenge braucht ein Kind? (Zusammenfassung im Anhang ab Seite 40). Die Talkmasterin Vera präsentiert eine ganze Palette
von Erziehungsmethoden und -problemen. Trotz der sehr unterschiedlichen Auffassungen, herrscht eine relativ harmonische Stimmung der Einigkeit. Nicht zuletzt deswegen, weil der Fall Waltraut – eine ältere, von Schicksalsschlägen heimgesuchte Mutter, deren Sohn sehr schwer zu erziehen ist – allgemeines Mitgefühl
und Ratlosigkeit auslöst.
In der Sendung Angst vor Falten! Bärbel, wie bleibe ich glatt und schön? übernimmt
29
vor allem ein Schönheitschirurg die Rolle des Schiedsrichters. Die Gäste auf der
Bühne sorgen sich um ihr Aussehen oder nerven sich über die Eitelkeit der anderen. Der Schönheitschirurg gibt jeweils seine fachliche Meinung ab und klärt
über mögliche, nötige oder unnötige Operationen auf, mahnt aber auch die Gäste
zu mehr Bescheidenheit oder befreit sie vom Glauben, sie seien zu wenig attraktiv.
Der Provokateur Afrim, der behauptet, Frauen mit Falten hätten bei ihm nichts verloren, wird ausgebuht und lächerlich gemacht. Und der Schönheitschirurg meint:
«Aber das ist irgendwo so ein bisschen so die Haltung des ganz jugendlichen Unerfahrenen, das wird sich mit der Zeit hoffentlich bei ihm ändern, wenn er Erfahrung
sammelt.» (Schäfer, 2001a, 0.40.34/Ba-01) Beispiel für das Ideal der auch im hohen
Alter noch attraktiven Dame, welche keine Angst vor Falten hat, sich jung fühlt
und mit ihrem Aussehen zufrieden ist, spielt Anneliese, welche die ganze Sendung
über auf einem Sofa zwischen Publikum und Bühne liegt.
Neben den Gästen aus dem Alltag sitzen auch immer wieder Prominente auf
den Bühnen der Talkshows. Sie nehmen – ähnlich wie die Heiligen als ExemplumFiguren in Abgrenzung zu den einfachen Exempla (vgl. Kapitel 2.2.2) – Vorbildund Identifikationsfunktionen ein. In der Sendung Partygirl! Wirst du wirklich reich
und berühmt werden? sind diese Funktionen gut sichtbar. Die Sendung handelt von
Menschen, welche berühmt werden wollen und den Glitzer der Partys nahe der
Prominenten schätzen. Auf der Bühne sitzen natürlich auch die Kritiker, welche
die ‹Partygirls› der Hurerei bezichtigen. In der Sendung sind mehrere Prominente
anwesend: Janina, in der Yellow-Szene Deutschland bekanntes Partygirl, apostrophiert als jene, die eine Beziehung mit Dieter Bohlen hatte, die it-Girls Angela und
Julia, Sängerinnen, sowie Tobi Schlegel, Sänger. Vor allem letzterer hat eine integrative Funktion, indem er am Schluss der Sendung alle Möchtegern-Sternchen zum
Tanz zu seiner Musik einlädt, denn so will er «jeden berühmt machen» (Schäfer,
2001b, 0.51.31/Bb-01). Oder die Prominenten versuchen darzulegen, dass berühmt
sein nicht nur toll ist, um die Attraktivität des Prominententums zu minimieren –
erreichen aber mit solchen Aussagen wahrscheinlich gerade das Gegenteil.
3.2.3.
Zwischenfazit
Die untersuchten Sendungen zeigen einige typische Talkshow-Merkmale sehr
deutlich. Zusammenfassend kann Folgendes festgehalten werden:
• Die Shows bestehen aus der Aneinanderreihung verschiedener Beispiele, die
30
mehr oder weniger gut zum Titelthema der Sendung passen. Im Zentrum
steht keine Diskussion, welche verschiedene Auffassungen zu einem Thema
darstellt und auf ihre Stichhaltigkeit prüft. Vielmehr kristallisiert sich sehr
schnell und deutlich eine klare Bewertung eines Problems oder Verhaltens
heraus. Der Talkshow-Host portiert diese Einschätzung mit Unterstützung
des Studiopublikums und dank geschickter Dramaturgie der Sendung.
Die transportierte ‹Moral der Geschichte› könnte bei den untersuchten Shows
lauten:
Beziehungszwist: Treue ist für eine Beziehung elementar. Es gibt aber unterschiedlich bewertete Treuebrüche: ‹Nur küssen› geht eventuell als Kavaliersdelikt
durch, alles Weitere aber nicht. Freunde sollen nicht verraten werden (Lars: Sorry, aber komm’ doch wieder zurück! auf Seite 27). Bei einem Streit zeigt jener wahre
Grösse, der als erster die weisse Fahne schwingt (Silvia und Ria: Eifersucht zwischen
Frauen auf Seite 28)26 . Auch zwischen Freunden müssen Schulden zurück bezahlt
werden (Oliver: Schulden und Gerüchte auf Seite 28). Bleibe dich selbst (Sokol und
Chelson: Zu breite Hosen auf Seite 28). Versöhnung ist schön (Stefan und Emanuel:
Der Versöhnungsapfel auf Seite 29).
Mutter mit 16: Eine junge Mutter braucht besonders viel Unterstützung von
ihrem Umfeld: «Ich appelliere da nochmal an eure Freundschaft...» (Arabella,
2001a, 0.25.00/Aa-02) (Sandra 1: Horrormutter verfüttert Dosenfisch auf Seite 38). Lob
auf die Familie, auch (oder gerade) nach deren jahrelanger Trennung durch Freigabe der Kinder zur Adoption (Sandra 2: Zerrüttete Familie neu komponiert auf Seite 39). Eine Mutter muss zwar selbst entscheiden, ob sie ein Kind abtreiben will
oder nicht, braucht aber dafür die volle Unterstützung ihrer Eltern (Natalie: Rechtfertigung einer Abtreibung auf Seite 40).
Kindererziehung: Kindererziehung ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe; Mütter
und Väter können nicht immer perfekt sein. Gewalt gegen Kinder ist keine Lösung. Auch harte Schicksalsschläge können verkraftet werden27 . Selbst ExpertinIndirekt zementiert dieser Teil der Show das Vorurteil der keifenden, streit- und eifersüchtigen
Frauen.
27 Nachdem die ganze Tragik von Waltrauts Erziehungsproblem mit ihrem Sohn auf dem Tisch ist,
glaubt das Publikum noch immer, es müsse doch eine Lösung geben, auch wenn es nur diese ist,
dass die verzweifelte Mutter ihre Hoffnung nicht aufgeben solle (Waltraut: Worst Case Szenario
auf Seite 42 und Arnold: Erziehung – was ist das? auf Seite 43).
26
31
nen können nicht alle Erziehungsprobleme lösen (Andrea: Expertin und Mutter auf
Seite 42 und Arnold: Erziehung – was ist das? auf Seite 43). Man sollte einen ‹positiven Lebensentwurf› vorleben (Carola: Die neunfache Mutter und Karin Schwab: Die
Expertin auf Seite 43).
• Durch die leibliche Anwesenheit der Figuren der Beispielgeschichten als
Gäste sind die zuweilen komplexen Geschichten einfach nachzuvollziehen.
Weitere formale Merkmale wie das Einblenden von Statements und die Platzierung der jeweiligen Gäste sorgen für eine einfache Erzählstruktur. Häufig
ziehen der Talkshow-Host oder die eingeladene Expertin ein (Zwischen-) Fazit, das jeweils stark subjektiven Charakter hat. Ein solches Fazit kann eine
komplizierte Geschichte oder verfahrene Situation vermeintlich lösen oder
vereinfachen.
4. Schlussfolgerung: Früher die Predigt, heute die Talkshow?
Die Beschäftigung mit Bertholds Ehepredigt sowie mit den ausgewählten Talkshows lassen mich in Verlängerung der in Kapitel 2.4 formulierten Vermutungen,
drei pointierte Thesen formulieren. Diese werden in den folgenden Kapiteln erklärt.
4.1.
Talkshow auf der Kanzel
Es ist natürlich etwas überspitzt, die Predigt als eine Talkshow auf der Kanzel zu
bezeichnen. Trotzdem sind die Parallelen der Strukturen verblüffend. Ich glaube,
Elemente der Confro- und Confessio-Talkshow in der Predigt (und umgekehrt)
wiederzufinden. Es ist also eine Gegenüberstellung wie in Tabelle 5 denkbar.
mittelalterliche Predigt
neuzeitliche Talkshow
Kleriker, die Musterpredigten verfassen
Redaktion und Regie der Talkshowproduktion
Pfarrer auf der Kanzel
Talkshow-Host mit Publikum im Studio
Gleichnisse aus der Bibel und Exempla
Erlebnisse der Talkshowgäste
Exemplum-Figuren als Vorbilder
Prominente Gäste, Expertinnen und Experten
Dorfgemeinde
TV-Gemeinde
Tabelle 5: Elemente der Predigt und der Talkshow im Vergleich
Redaktion und Regie einer Talkshow legen Themen – und mit ihrer Auswahl
der Gäste – auch deren Art der Abhandlung fest. Genauso agieren Kleriker, wel-
32
che Musterpredigten zu Themen erstellen, deren Art der Abhandlung sie dadurch
festlegen. Natürlich möchte die Redaktion nicht unbedingt aus innerer Überzeugung bestimmte moralische Grundsätze verbreiten, vielmehr orientiert sie sich an
den Wünschen und Sorgen der Gesellschaft und handelt Probleme ab, welche die
Menschen beschäftigen und die kommerziell lukrativ scheinen.
Der Pfarrer auf der Kanzel kann mit dem Talkshow-Host verglichen werden.
Doch in der Talkshow ist der Host nicht alleine, sondern wird gestützt durch ein
Studiopublikum, welches den Aussagen des Hosts Nachdruck verleiht.
Während der Pfarrer sich der Gleichnisse aus der Bibel oder andern Exempla
bedient, um seine Ausführungen nachvollziehbar und eindrücklich zu gestalten,
greift der Talkshow-Host auf seine Gäste zurück. Die Gäste erzählen im geeigneten Augenblick ihre Geschichte, wehren sich, greifen andere Gäste an und konstituieren sich als glaubwürdige oder unglaubwürdige Figuren (vgl. auch Seite 16).
Werden anstelle der ‹Alltagsmenschen› Prominente eingeladen, haben diese eine
ähnliche Funktion wie Exemplum-Figuren, meist Heilige, in den Predigten (vgl.
dazu Seite 30).
Die Dorfgemeinde, welche den Predigten lauscht, entspricht der Zuschauerinnen- und Zuschauergemeinde vor den TV-Apparaten. Beide sind zu eher passivem Verhalten gezwungen, können kaum auf Pfarrer oder Talkshow-Host, bzw.
dessen Gäste, reagieren. Doch ist für sie untereinander Predigt oder Talkshow Gesprächsthema. Die letzte Predigt oder Sendung im Kopf, diskutieren die Menschen
miteinander über das Gesehene und Gehörte.
4.2.
Predigt und Talkshow als Moralinstanzen
«Persuasio» (Überredung), und nicht «veritatis inquisitio» (Erforschung der Wahrheit) sei das Ziel der Predigt, schreibt Robert von Basevorn in seiner Forma praedicandi (Basevorn zit. nach Schnell 1998, 24). Die Predigt leistet also Seelsorge und
gibt pragmatische Anweisungen für das Leben. Sie bestimmt, welche Handlungen gut, welche schlecht sind. Somit übernimmt die Predigt für die Gläubigen eine Orientierungsfunktion. Je näher der Prediger am Leben der Gläubigen bleibt,
desto wertvoller ist für sie die Predigt als Leitfaden für das tägliche Leben.
In Kapitel 2.3.2 bezeichnete ich Orientierung als eine der wichtigsten Funktionen der Talkshows. Neben der Unterhaltung bieten Talkshows etwas, was traditionelle Diskussionssendungen nicht in diesem Masse bieten können: Orientierung
im alltäglichen Leben. Auch bei den Talkshows gilt: Je näher die Themen am Le-
33
ben der ‹Gläubigen› vor den TV-Apparaten sind, desto wertvoller ist die Show für
sie.
Als Hörerin oder Leser der Predigt von der ê wird man kaum im Ungewissen gelassen über die moralischen Massstäbe und erlaubten Verhaltensweisen.
Die Aussagen sind klar und verständlich. Auf einzelne Probleme des Ehelebens
geht Berthold mit dem Stilmittel des Frage-Antwort-Spiels ein und kann so seine
grundlegenden Aussagen um detailliertere Stellungnahmen ergänzen.
Etwas weniger offensichtlich nehmen die Talkshows ebenfalls Orientierungsfunktion wahr und treten als Moralinstanzen auf. In den untersuchten Talkshows werden primär durch den Host oder aber durch Expertinnen und Experten,
manchmal aber auch durch die Gäste auf der Bühne oder im Studio Bewertungen
vorgenommen, welche sich in ihrer Kombination als Moralkodizes erweisen. Diese
‹Moral der Geschichten› habe ich in Kapitel 3.2.3 zu bestimmen versucht.28
Zudem muss nochmals auf die umfangreichen Möglichkeiten der Komposition
und Steuerung der Shows verwiesen werden (vgl. Seite 16). Die Gäste sind nicht
als Individuen mit Problemen interessant, sondern als Exempla, welche dekontextualisiert gleichzeitig einen Realitätsbezug haben und plausibel sein müssen.
Je nach Komposition29 erhalten die Gäste eine positive oder negative Konnotation und die Show eine klare, wertende Aussage. Die Gäste der Talkshow sind also
ebenso in der Dramaturgie gefangen, wie die dem Kopf des Predigers entstammenden Exempla.
4.3.
Innovative Bettelmönche, findige Privatsender oder: Der Kampf gegen den
öffentlich-rechtlichen Bischof
In Kapitel 2.2.1 wurde schon auf den Wandel der Predigtorganisation im 12. und
13. Jahrhundert hingewiesen. Gerade die neue Art des Predigens der Mendikanten
vereinfacht den Vergleich mit den Talkshows. Doch nach der geschilderten zweiten
Phase, in der die Mendikanten-Prediger immer beliebter wurden, begann sich der
Säkularklerus zu wehren:
Weitere Beispiele finden sich in den Zusammenfassungen der Talkshows im Anhang ab Seite 38.
Hervorheben möchte ich die zitierte Äusserung der Talkmasterin Arabella (Natalie: Rechtfertigung
einer Abtreibung auf Seite 40), welche damit auf die Aussage einer jungen werdenden Mutter,
welche ihr Kind u.a. abtreiben möchte, da es ein Mischling werden würde, reagiert. Arabella,
selber ein Mischling, muss damit dieser äusserst heiklen Aussage begegnen und klar machen,
dass die Hautfarbe (nicht nur in einem solchen Fall) überhaupt keine Rolle spielen dürfe.
29 Es darf nicht vergessen werden, dass die meisten Talkshows nicht live ausgestrahlt werden, sondern bei Bedarf nachbearbeitet und neu geschnitten werden können.
28
34
Nach der wiederholten Bestätigung des uneingeschränkten Predigtrechtes in
ihren Kirchen, Niederlassungen und auf öffentlichen Plätzen hiess es dort,
dass die Mendikanten dafür Sorge tragen sollten, nie zur gleichen Stunde
wie der ortsansässige Klerus zu predigen, um nicht mit ihm zu konkurrieren.
In den Pfarrkirchen selbst durften sie nur auf Einladung des Priesters oder
aufgrund eines Mandates eines höheren Prälaten oder des Bischofs predigen.
(Menzel, 1991, 360)
Doch diese Empfehlungen halfen wenig:
Die weitreichende Furcht der Ortsgeistlichen vor der überlegenen Konkurrenz der populären Mendikanten hatte nach kurzer Zeit das gemeinsame
Ziel der Ketzerbekämpfung und Volksunterweisung vergessen lassen und im
kirchlichen Alltag der stationären Seelsorge zu einer massiven Auseinandersetzung um die Gunst der Zuhörer geführt. (Menzel, 1991, 363)
Teilweise wurde versucht, Kompromisse zu schliessen, indem das Predigtrecht der Mendikanten nur zu gewissen Zeiten galt; doch die Attraktivität der
Mendikanten-Prediger war zu gross. In der dritten Phase der Predigtorganisation versuchte nun die Kirche den Vorsprung ihrer Konkurrenten einzuholen:
Neben den mit den üblichen sakramentalen und liturgischen Aufgaben befassten Geistlichen, die als Prediger mit den Mendikanten nicht mithalten
konnten, wurden Pfründe für Männer eingerichtet, die sich der auch vom
Volk so favorisierten Tätigkeit des Theologen als Prediger ganz widmen sollten. Die moderne Vorstellung von predigenden Theologen hatte speziell den
Säkularklerus eingeholt. Die neuen Predigtämter sollten das Erscheinungsbild der Weltgeistlichkeit insgesamt bessern und zeitgemäss werden lassen.
(Menzel, 1991, 369)
Diese Predigtämter bemühten sich um eine Professionalisierung der Predigtorganisation. Wie bei den Bettelorden wurden Zettelkarteien mit Predigtpartien
erstellt, die nach Bedarf neu kombiniert zu Predigten zusammengestellt werden
konnten. Die Bemühungen blieben nicht ohne Erfolg: Die Bevölkerung anerkannte den Wandel der weltgeistlichen Prediger und erwiderte mit Stiftungen für die
Predigtämter. Besonders in den Städten hatte das Volk nun ein grosses Angebot
an Predigten zur Verfügung. Allerdings muss auch betont werden, dass besonders
auf dem Land Prediger fehlten.
Rufen wir uns Kapitel 2.3.1 in Erinnerung, in dem die Veränderung der TVLandschaft durch den Eintritt der privaten Fernsehsender geschildert wurde, dann
sind auch hier Parallelen zwischen Fernsehen und Predigtorganisation erkennbar.
Die Öffnung des Fernseh- und Radiomarktes für private Betreiber hat die etablier-
35
ten öffentlich-rechtlichen Medienanstalten vor ähnliche Probleme gestellt wie die
weltgeistliche Kirche durch die Zulassung der Bettelorden zur Seelsorge. Ähnlich
nervös reagierten vorerst die öffentlich-rechtlichen Anstalten, indem Sende- oder
Werbebeschränkungen für die Privaten gefordert und teilweise umgesetzt wurden. Später dann, als sich die Konzepte der Privaten als erfolgreich erwiesen, begannen sich die etablierten Sender an die Privaten anzupassen.
5. Fazit
Bezüglich Funktion, Form und Inhalt können zwischen Predigten mittelalterlicher
Bettelorden und heutigen Talkshows der Typen Confro und Confessio Parallelen
gefunden werden. Beide bieten eine Orientierungsfunktion, sind Moralinstanz, informieren und rufen Gemütsbewegungen bei den Zuhörerinnen und Zuschauern
hervor. Beide arbeiten mit ähnlichen Techniken, um diese Funktionen wahr zu
nehmen: Exempla und Exemplum-Figuren (Predigt); Alltagsmenschen und Prominente oder Expertinnen als Gäste (Talkshow). Sie orientieren sich an einer mündlichen Kommunikationssituation, ohne sie exakt zu kopieren, und schaffen somit
eine ‹virtuelle› mündliche Kommunikationssituation.
Findet man Gemeinsamkeiten, sind auch Unterschiede offensichtlich. Die Intention zu predigen unterscheidet sich massgeblich von der Intention, eine Talkshow zu produzieren. Und an der Produktion einer Talkshow sind ungleich mehr
(reale) Menschen beteiligt als an der Produktion einer Predigt: Produktion, Regie,
Talkshow-Host, Gäste und Studiopublikum ergeben heute das, was Musterpredigt
und Mönch (sowie dessen Imagination) im Mittelalter ergaben. Mit einem Unterschied: Die imaginierten ‹Gäste› des Predigers brauchten keine Intention, an der
‹Show› teilzunehmen und konnten auch nicht enttäuscht werden. Die ‹Exempla›
der Talkshow hingegen erhoffen sich vielleicht Hilfe, Mitleid oder Bewunderung
– und werden wahrscheinlich enttäuscht. Da kann man sich nur wünschen, der
grösste Teil der Talkshowgäste sei fingiert.
Interessant ist auch dies: Eine Innovation in der Predigtorganisation vermochte
neu Bedürfnisse zu stillen, die vorher entweder nicht da waren, oder anders gestillt wurden. Die findigen Bettelmönche wurden zur ernsten Konkurrenz für die
etablierten Dorfpfarrer. Ein Prozess der Abwehr, Regulierung und schliesslich Imitation der Mendikantenprediger setzte ein. Ein Neuerungsprozess, der fast universale Gültigkeit haben könnte: Zumindest im Mediensystem des 20. Jahrhunderts
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fand eine Entwicklung statt, die mit dem oben geschilderten Prozess der Abwehr,
Regulierung und Imitation deckungsgleich ist.
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A.
Zusammenfassungen der Talkshows
A.1.
Mutter mit 16
Die Sendung mit dem Titel Du kannst keine gute Mutter sein, du bist doch erst 16
gleidert sich in mehrere Teile:
Sandra 1: Horrormutter verfüttert Dosenfisch Der erste Teil beginnt hinter dem
Studio: Arabella, die Talkmasterin befragt Sandra, eine junge Mutter nach dem Problem. Sandra erzählt, ihre beiden Freunde Yasmin und Markus würden ihr vorwerfen, sie sei eine schlechte Mutter, da sie ihr zweijähriges Kind des öfteren mit Dosenfisch ernähre und es Horrorfilme anschauen lasse. Sandra scheint sehr wütend
zu sein und Arabella meint «Ich merke schon, der Tag der Abrechnung kommt
gleich» (Arabella, 2001a, 0.01.29/Aa-01)30 . Arabella betritt das Studio, lässt Sandra
aber hinter der Bühne zurück. Yasmin und Markus sind bereits im Studio und erläutern nun Arabella ihre Vorwürfe. Sandra sei zu jung, um eine verantwortungsvolle Mutter zu sein. Sandra kann hinter der Bühne die Show mitverfolgen und
wird als Bild im Bild immer wieder auf den Schirm eingeblendet, so dass ihre Reaktionen auf die Vorwürfe ihrer Freunde mitverfolgt werden können. Bald platzt
Sandra endgültig der Kragen und Arabella lässt sie auf die Bühne kommen. Sofort
beginnt ein heftiges Wortgefecht zwischen Sandra und ihren Freunden. Arabella hat die Situation kaum mehr unter Kontrolle. Der Streit wird nur durch den
Auftritt Balys, Sandras neuem Freund, der nicht der leibliche Vater des Kindes ist,
unterbrochen, der sich sofort am Streit beteiligt und auf Markus einschreit.
Nachdem das Publikum doch noch ein paar Informationen zum Hintergrund
Sandras erfahren hat (sie war schon mit 14 Jahren das erste Mal schwanger und
hatte damals das Kind abgetrieben), wird das Bild von Jutta, der Mutter Sandras,
eingeblendet, die – nach ihrer Meinung zur Diskussion gefragt – einen wütenden
Kommentar abgibt. 10 Minuten seit Sendebeginn sind vergangen, Arabella unterbricht die Sendung für die Werbepause.
Nach der Werbepause wird das Publikum in die Diskussion miteinbezogen
und Sandra muss sich für Drogenkonsum während der Schwangerschaft rechtfertigen. Arabella bittet Jutta, Sandras Mutter ins Studio. Diese kommt mit einem
Bund Karotten herein und schlägt den Bund wütend auf den Stehtisch von Mar30
Bei Zitaten aus den Talkshows wird jeweils die Minute der Sendung angegeben, an der das Zitat
beginnt, sowie der Name der Datei auf der CD-ROM, die den Ausschnitt enthält.
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kus und Yasmin. Nach einem weiteren Disput zwischen Sandra und Yasmin gemahnt Arabella zur Ruhe und holt die Meinung der Psychologin Carmen Osten
ein, welche im Publikum sitzt. Diese äussert ihr Missfallen über den aggressiven
Diskussionsstil und bietet ihre Hilfe an. Später mahnt Eva Zattler, Beraterin bei
der Pro Familia, eine Frau müsse sich niemals rechtfertigen, ein Kind geboren zu
haben. Die Frau brauche Unterstützung, keine Karotten.
Arabella schliesst den Teil der Sendung ab:
Ich appelliere da nochmal an eure Freundschaft [zu Markus und Yasmin], es
war alles nicht böse gemeint, was da hervorgetragen wurde [Bestätigung von
Yasmin], eben das hab ich von Anfang an immer wieder betont, Yasmin, deshalb lasst uns gucken, ob wir vielleicht unterstützend gemeinsam alle dafür
sorgen, dass die Freundschaft auf der einen Seite nicht zerbricht und auch
Sandra in den allerbesten Händen ist. (Arabella, 2001a, 0.25.0/Aa-02)
Sandra 2: Zerrüttete Familie neu komponiert Die zweite Geschichte der Sendung
beinhaltet drei Aspekte: Da ist die Mutter Sandra, die ebenfalls mit 16 das erste Mal
schwanger wurde (1. Aspekt) und heute getrennt vom Vater des Kindes lebt, wobei
das Kind seinen Vater nicht kennt, ihn aber gerne sehen möchte (2. Aspekt). Zudem wurde Sandra als Baby von ihrer Mutter zur Adoption frei gegeben und hat
bis heute ihre leibliche Mutter nicht wiedergefunden (3. Aspekt). Arabellas Redaktion hat aber die leibliche Mutter, sowie die ebenfalls verschollenen Geschwister
von Sandra ausfindig gemacht und in der Sendung sollen nun als Überraschung
alle wieder aufeinander treffen. Die Beteiligten wissen – nach Angabe von Arabella – nicht, dass das Zusammenführen der Familie (3. Aspekt) im Vordergrund stehen soll. So dreht sich das Gespräch zuerst um die frühe Schwangerschaft Sandras
(Sandras Vater reagierte mit Unverständnis und hätte Abtreibung oder Auszug
aus dem Elternhaus gefordert) und später um ihren ehemaligen Freund Markus,
der sich seit fünf Jahren nicht mehr beim Sohn gemeldet habe. Markus ist hinter
der Bühne anwesend und Sandra fordert, dass er auf die Bühne kommt, um mit ihr
ihre Vorwürfe zu klären. Dieser will aber nicht und Arabella verspricht ein Treffen
mit Sandra, Sohn und Markus ausserhalb der Sendung zu arrangieren.
Arabella leitet aber jetzt zum 3. Aspekt der Familienzusammenführung über.
Nachdem Mutter und Tochter vor der Werbepause auf das Treffen vorbereitet wurden, dürfen sie sich nach der Pause unter dem Applaus und dem Gejohle des
Publikums in die Arme fallen. Kurz darauf dürfen auch die beiden Geschwister
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von Sandra die Bühne betreten. Arabella verspricht, auch die noch fehlenden Geschwister aufzuspüren und entlässt die Familie.
Natalie: Rechtfertigung einer Abtreibung
Natalie ist in der 10. Woche schwanger,
will aber, da sie sich mit 16 Jahren zu jung fühlt, abtreiben. Sie wird von ihrer
Mutter Inge unterstützt. Die Argumentation Natalies, sie würde sich zu wenig auf
die Schule konzentrieren können, wird vom Publikum nicht akzeptiert. Tanja, eine
Dame aus dem Publikum erzählt, sie selber sei mit 15 schwanger gewesen und
habe die Schule trotzdem abgeschlossen, was das Publikum mit Applaus honoriert. Natalies Mutter macht einen relativ gereizten Eindruck und kämpft für ihre
Tochter. Die Situation eskaliert, als Natalie bekennt, der zweite Grund wäre, dass
sie einen Mischling gebären würde, da ihr Freund farbig war (sie lebt anscheinend
schon wieder getrennt von ihm). Auf die empörten Reaktionen von Arabella und
Publikum relativierten Mutter und Tochter ihre Aussage etwas. Arabella gibt ihren
Kommentar zur Situation ab:
Also das mit der Hautfarbe sollte wirklich überhaupt keine Rolle spielen,
denn ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie also nicht genau so gehandelt
haben in meinem Fall, denn sonst gäbs mich heute nicht und dann könnte
ich die Sendung auch gar nicht moderieren. Das sollte kein Gund sein, ich
akzeptiere aber sehr wohl Natalies Wunsch, also ich fühl mich einfach noch
nicht reif, ich bin noch nicht soweit, und ich selber, ich sags an dieser Stelle
auch gezielt, ich selber BIN für die Abtreibung. Aber das muss jeder selber
entscheiden. (Arabella, 2001a, 0.60.0/Aa-03)
Kurz darf noch Eva Zattler, Mitarbeiterin von Pro Familia, ihren Kommentar
los werden und Arabella meint, das Kind brauche für eine frohe Kindheit sehr viel
Liebe von der Mutter und eine Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung sei
sehr schwer zu fällen. Sie wünscht Natalie viel Unterstützung von ihren Eltern
und alles erdenklich Schöne.
A.2.
Kindererziehung
Die Talkshow zum Thema Kindererziehung fällt durch ihre eher ruhige Art auf. Es
befinden sich fast nur Frauen auf der Bühne und im Publikum, die meisten davon
Mütter. Es ensteht kaum Streit, sondern die Frauen zeigen sehr viel Verständnis
füreinander.
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Christiane und Hannelore: Einen Klapps auf den Po?
Die Talkmasterin Vera be-
grüsst gleich zu Beginn der Sendung Christiane, die drei Kinder und ein paar Erziehungsprobleme hat: Die Grosse hat was mit den Ohren, die Mittlere ist stur
und möchte nicht aufräumen und der Kleine baut nur Mist. So fasst die Mutter die
Konstellation zusammen. Später stellt sich zudem heraus, dass der leibliche Vater
der Kinder Alkoholiker ist und nicht mehr in der Familie lebt. Hannelore, Christianes Mutter wird auf die Bühne gebeten. Sie wirft ihrer Tochter vor, manchmal
in der Erziehung zu weich zu sein. Ein Klapps auf den Po sei eben manchmal nötig und hätte noch niemandem geschadet. Es ensteht jedoch kein Streit zwischen
den beiden. Nur Vera meldet gegenüber der Gewaltanwendung in der Erziehung
Bedenken an:
Das ist immer so ein Spruch, den ich ganz oft höre, ich hab auch viele Leute
schon kennen gelernt, denen hat das wirklich nicht "geschadet", aber irgendwie finde ich das immer so, das ist so so so, so ne Feigheit, ja, so die letzte
Konsequenz der Erwachsenen, wenn denen einfach die Nerven durchgehen,
dass man dann einfach ähm die Gewalt anwendet. (Vera, 2001, 0.05.00/V-01)
Nach der Werbepause fragt Vera die beiden nach ihrer Meinung bezüglich einer strengen Erziehung. Die folgende Passage aus der Sendung zeigt sehr schön,
wie die Frauen Verständnis füreinander zeigen, ohne auf gegenseitige Kritik verzichten zu müssen:
Vera: Glaubt ihr denn, Kinder müssen streng erzogen werden?
Hannelore: Ja streng nicht, will ich nicht direkt sagen, etwas Freiheit müssen
die Kinder ja auch haben, aber ich finde dass Kinder auch Regeln einhalten
müssen.
Vera: Aber was sind denn so die wichtigsten Regeln, was ist für euch immer
wichtig gewesen in der Kindheit.
Hannelore: Ja also sie durften nicht lügen, stehlen, Widerworte geben und zu
älteren Leuten nicht frech sein.
Vera: [Auch nicht] zu Hunden?
Hannelore: Auch, auch lieb sein. Tieren, ja. Also das waren meine Regeln. Ältere Menschen akzeptieren, auch wenn es denen nicht passte oder so – aber
das mocht, das wollt ich nicht.
Vera: Und bei dir [zu Christiane]?
Christiane: Ja bei mir, also ich hasse das auch, meine Grosse die gibt unheimlich viel Widerworte und das mag ich auch nicht, weil ich das von mir auch
nicht kenn’, aber sie macht das trotzdem.
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Vera fragt eine Dame im Publikum, ob es so schlimm sei, wenn Kinder Widerworte
geben würden.
Dame: Ja – das heisst, meine Kinder geben natürlich auch oft mal Widerworte, aber ich versuchs dann auch mit denen zu reden und Strenge braucht ein
Kind auch, ich denke mal man sollte Grenzen setzen und ich hatte mal ein
Spruch in meinem Album, den fand ich sehr gut: ein Scherz, ein lachend Wort
entscheidet oft die grössten Sachen treffend und besser als Ernst und Schärfe,
und ich finde an diesem Spruch ist so ein bisschen was dran – und ich versuche das so weiterzuleiten, ich bin auch nur ein Mensch – ich rede und rede
und rede wie jede Mutter das kennt, sagt etwas sechs Mal, nur ein Beispiel:
geh’ duschen, ich will auch mal langsam meine Ruhe haben, und das Kind
pariert nicht und irgendwann platzt man, kennt jede Mama und ähm, ich versuche es dann nicht mit einem Klapps, ich hab’ jetzt eine neue Methode: ja
wenn du nicht parierst, dann gibts morgen kein Fernsehen, oder wir lassen
eine Verabredung platzen... (Vera, 2001, 0.13.55/V-02)
Das Publikum applaudiert.
Moni: Keine Gewalt gegen Kinder
Als Gegensatz zu der eher konservativen Sicht
der Erziehung wird nun Moni präsentiert, die zu ihrer zwölfjährigen Tochter ein
freundschaftliches, partnerschaftliches Verhältnis habe. Moni wehrt sich gegen Begriffe wie parieren und verabscheut jegliche Gewalt gegenüber Kindern. Mit ihrem
Vergleich von Gewalt gegen Kinder und Gewalt gegen Frauen, wobei erstere toleriert und letztere verfolgt würde, erntet sie ebenfalls Applaus.
Wieder meldet sich eine (vierfache) Mutter aus dem Publikum, die bekundet,
trotz sehr schweren Zeiten ihre Kinder noch nie geschlagen zu haben.
Andrea: Expertin und Mutter Als nächstes betritt Andrea, Erzieherin, die Bühne.
Sie spinnt die Idee des partnerschaftlichen Verhältnisses mit den Kindern weiter,
liefert aber kaum weitere Substanz. Es entsteht eine kleine Diskussion darüber,
wie man Kindern die Benutzung von Schimpfwörtern abgewöhnen kann: Seifenmethode (Moni) oder ignorieren (Andrea) stehen zur (scheinbaren) Debatte.
Waltraut: Worst Case Szenario
Jetzt betritt Waltraut, vierfache Mutter, mit 47
nochmals schwanger, die Bühne. Ihr 11jähriger Sohn terrorisiert sie schon seit fünf
Jahren. Er sei sehr aggressiv, jegliche Hilfe von aussen (Schulpsychologe, Jugendamt, Psychiatrie etc.) habe versagt. Gäste und Publikum erkennen, dass es sich
bei Waltraut um einen enorm problematischen Fall handelt. Die Frau scheint sehr
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desillusioniert und mit ihren Kräften am Ende zu sein. Ein Junge aus dem Publikum ermuntert sie, ihren Sohn eben zu schlagen, damit sie als Respektsperson
anerkannt würde. Der Vorschlag wird von Gästen und Publikum einhellig als untauglich bewertet.
Nach der Werbepause offenbart sich die ganze Tragik des Falles: Waltrauts
Mann ging fremd und sie wurde mit 47 nochmals schwanger. Als das Kind auf
die Welt kam, wurde sie von ihrem Mann verlassen.
Arnold: Erziehung – was ist das? Als einziger Mann erscheint Arnold auf der
Bühne. Er sagt von sich, er habe keine Ahnung von Erziehung gehabt und erzählt
unterhaltsam von seinen Tipps und Tricks, die für Erheiterung und Applaus sorgen.
Nochmals fällt die Diskussion auf Waltraut zurück und die Dame aus dem
Publikum, die sich schon mehrere Male geäussert hat, gibt ihr den Rat, ihren Sohn
fest zu halten, etwas für ihn zu tun, denn er würde es ihr «zehn mal danken» (Vera,
2001, 1.47.32). Der nicht sehr aussagekräftige Ratschlag löst trotzdem Zustimmung
und Applaus aus.
Carola: Die neunfache Mutter und Karin Schwab: Die Expertin
Fehlt noch Caro-
la, die neunfache Mutter, welche ihre Kinder auf die Waldorfschule schickt und
meint, ihr Erziehungsstil hätte sich vom ersten zum letzten Kind immer wieder
geändert.
Nach der Werbepause erteilt das Publikum nochmals Ratschläge an Waltraut,
dann kommt Karin Schwab, die als Diplom-Psychologin vorgestellt wird, zu Wort:
[...] grundsätzlich Folgendes: Es sind ganz viele wichtige Aspekte gefallen,
das Wichtigste ist, dass man aber mit sich selber im Reinen ist, und einen vitalen und stimmigen Lebensentwurf vorlebt. Bei beiden Damen, bei Waltraut
und der Dame links aussen [Christiane] sind schicksalhaft Ereignisse dazwischen gekommen, dass sie sich in einer Phase nicht so optimal entfalten konnten, die Kinder haben das mitbekommen. Von konservativen Erziehungsidealen, dass man strenger sein müsste und so weiter, halte ich persönlich nicht
so sehr viel, denn die Zeit ist vorbei, der Fluss fliesst niemals zu seiner Quelle
zurück, es geht weiter. Ähm, immer nur selber einen positiven Lebensentwurf
äh sich wohlfühlen in der eigenen Haut und die Kinder gucken sich das dann
ab und sind beeindruckt. (Vera, 2001, 0.57.19/V-03)
Vera zeigt ihre Begeisterung für das Bild mit dem Fluss und verabschiedet sich.
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B. Literatur
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ausgestrahlt am 28. 8. 2001, 14 Uhr, Pro7. Dateien auf der beiliegenden CD-ROM
beginnen mit der Bezeichnung Aa.
Arabella (2001b), Du willst mich loswerden? Dann sag’s mir ins Gesicht! Talkshow
ausgestrahlt am 20. 8. 2001, 14 Uhr, Pro7. Dateien auf der beiliegenden CD-ROM
beginnen mit der Bezeichnung Ab.
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