Deutschland und Europa nach 1945
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Deutschland und Europa nach 1945
Zeitschrift für Gemeinschaftskunde ISSN 1864-2942 Geschichte und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA Heft 68 – 2014 Die ersten Nachkriegsjahre – Europa nach 1945 DuE68_ums.indd U1 24.11.14 08:55 Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA HEFT 68–2014 »Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. DIREKTOR DER LANDESZENTRALE Lothar Frick REDAKTION Jürgen Kalb, juergen.kalb@lpb.bwl.de REDAKTIONSASSISTENZ Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de BEIRAT Günter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart Renzo Costantino, Ministerialrat, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt Lothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen/Neckar Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studienhaus Wiesneck Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, DietrichBonhoeffer-Gymnasium Wertheim Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Jürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Titelseiten der französischen Tagespresse mit Schlagzeilen zur Kapitulation Deutschlands vom 8. Mai 1945: „Deutschland hat kapituliert, ohne Bedingungen, gestern um 2 Uhr 41“ „Der Krieg ist zu Ende“ – „Kapitulation. Es gibt keine deutsche Armee mehr“. – „Es ist zu Ende!“ © dpa, picture alliance ANSCHRIFT DER REDAKTION Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon: 0711.16 40 99-45 oder -43; Fax: 0711.16 40 99-77 SATZ Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Telefon: 0711.44 06-0, Fax: 0711.44 06-179 DRUCK Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH 89079 Ulm Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr. Preis der Einzelnummer: 3,– EUR Jahresbezugspreis: 6,– EUR Auflage 17.000 Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport sowie der Heidehof Stiftung. THEMA IM FOLGEHEFT 69 (APRIL 2015) Bricht Europa auseinander? Reichtum und Armut in Europa DuE68_ums.indd U2 24.11.14 08:55 Inhalt Inhalt »Die ersten Jahre der Nachkriegszeit. Europa nach 1945.« Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1. Anfänge europäischer Integration im Zeichen des Kalten Krieges. (Jürgen Kalb) . . . . . . 3 2. Europäische Föderationspläne, intergouvernementale Kooperationen und supranationale Aufbrüche nach 1945 in Westeuropa (Gabriele Clemens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3. Westdeutschland und die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 – Westintegration als Leitbild (Johannes Gienger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4. Die Sowjetisierung Osteuropas und Ostdeutschlands (Herbert Kohl) . . . . . . . . . . . . . . . 32 5. Deutschland und Polen: von Hass und Beziehungslosigkeit bis zu den ersten Ansätzen einer Verständigung (Manfred Mack) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 6. »Aus Feinden wurden Freunde«. Deutsch-französische Beziehungen von 1945 bis 1963 (Henri Ménudier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 7. Großbritannien und Europa: Churchills Europa-Rede und die Nachkriegspolitik des Vereinigten Königreichs (Franz-Josef Brüggemeier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1 DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 68 D&E DuE68_umbr.indd 1 Heft 68 · 2014 ..................................... 72 Inhalt 24.11.14 13:39 2 Vorwort des Herausgebers Geleitwort des Ministeriums Das Jahr 1945 markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und erinnert an die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft. 1985 hatte der damalige Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in einer Grundsatzrede den 8. Mai 1945 einen »Tag der Befreiung« genannt. Er erfuhr mit dieser Bezeichnung innenund außenpolitisch viel Zustimmung. Diesen Tag so zu begreifen, bedeutete 1985 dennoch, ein neues Kapitel im Verhältnis zu unserer Vergangenheit aufzuschlagen, eine in der Bundesrepublik damals durchaus mutige Aussage. Das Deutsche Reich hatte den Zweiten Weltkrieg nicht nur verursacht, sondern auch verloren und lag in Trümmern. Der Historiker Peter von Kielmansegg hat dies unnachsichtig formuliert: »Es war die Katastrophe, die Deutschland demokratiefähig gemacht hat. Es war die Katastrophe, die Deutschland gelehrt hat, sich in die europäische Staatengesellschaft einzufügen. Es war die Katastrophe, die Deutschland gezwungen hat, sich selbst neu zu definieren.« Doch dieses Scheitern war, »nur eine notwendige, sie war keine hinreichende Bedingung des Lernens«. Aber auch bei unseren heutigen europäischen Partner bedurfte es eines Umdenkungsprozesses. Soll und kann man die Deutschen wirklich als gleichberechtigten und friedliebenden Partner akzeptieren? Im Westen beschleunigte der Kalte Krieg, genauer der Systemgegensatz von West und Ost, die Integration der Bundesrepublik Deutschland. Der an der Sorbonne in Paris lehrende Professor Henri Ménudier bringt es in seinem Beitrag auf den Punkt: »Wie aus Feinden Freunde wurden« Und in Osteuropa und der DDR bedurfte es erst des Zusammenbruchs der Sowjetunion, des Endes der »Sowjetisierung« und der Maueröffnung, bis es zu einer profunden Partnerschaft in Rahmen der Europäischen Union kam. Wir feiern im Jahre 2014 die fünfundzwanzigste Wiederkehr der Maueröffnung. Historisch gesehen ist es sicher bemerkenswert, wie weit die Integration der neuen Bundesländer und der osteuropäischen Staaten jetzt bereits vorangeschritten ist. Ein Blick auf die ersten Nachkriegsjahre zeigt mit der Gründung der »Montanunion« Ähnliches. Es waren mutige Schritte von verantwortungsbewussten Politikern, die die junge Bundesrepublik bereits sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als souveränen Staat in die supranationale Organisation der EGKS aufgenommen haben. Viele Bürgerinnen und Bürger in Europa begleiteten allerdings schon damals den europäischen Integrationsprozess mit Skepsis, weshalb er sich zunächst auf eine wirtschaftliche Integration konzentrieren musste. Die damit verbundenen Probleme beschäftigen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bis heute. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser, das Jahr 2014 stand besonders im Zeichen von Gedenken und Erinnern. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs jährte sich in diesem Sommer zum 100. Mal, der Zweite Weltkrieg begann im September vor 75 Jahren. Zum Jahresende boten der 25. Jahrestag der ‹Friedlichen Revolution› in der DDR und die Feierlichkeiten zum Fall der Berliner Mauer noch einmal einen positiven Anlass, den Blick zurückzurichten. Im kommenden Jahr wird sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal jähren. Die vorliegende Ausgabe von Deutschland & Europa beschäftigt sich mit den Entwicklungen in Europa nach 1945 und den ersten Jahren der Nachkriegszeit. Auch vor dem Hintergrund der aktuellen Gedenkanlässe bietet das Heft spannende Informationen für Schülerinnen und Schüler und vielfältige Anknüpfungspunkte für den Unterricht. In verschiedenen Beiträgen wird multiperspektivisch dargestellt, wie sich West- und Ost-Europa auf der einen Seite durch den beginnenden Kalten Krieg immer stärker auseinander bewegen. Auf der anderen Seite wird gezeigt, wie die Staaten in West- und OstEuropa nach 1945 immer enger zusammenwachsen - in Westeuropa durch eine verstärkte zwischenstaatliche Zusammenarbeit und wirtschaftliche Kooperationen, in Osteuropa durch die «Sowjetisierung» aller Staaten im Machtbereich der Sowjetunion. Mitten im Zentrum des beginnenden Ost- West-Konflikts liegt Deutschland. Die Beiträge von Johannes Gienger und Herbert Kohl beschäftigen sich speziell mit den Entwicklungen in Westund Ostdeutschland und erläutern unter anderem, wie es zur Teilung Deutschlands sowie zur Gründung von BRD und DDR kam. Neben der gesamteuropäischen Perspektive richten die Autoren ihren Blick auch auf einzelne Länder und menschliche Aspekte der Nachkriegszeit: Der Text von Manfred Mack etwa schildert, wie aus «Hass und Beziehungslosigkeit» zwischen Polen und Deutschen erste Ansätze einer Verständigung erwachsen, Henri Ménudier beleuchtet die deutsch-französischen Beziehungen von 1945 bis 1963 und erklärt, wie «aus Feinden Freunde wurden». Durch die Mischung aus detaillierten Fakten und anschaulichen Beschreibungen liefert Deutschland & Europa eine sehr gute Informationsbasis, um Schülerinnen und Schüler die Hintergründe der Entwicklungen nach 1945 zu erläutern. Das Ende des Zweiten Weltkriegs wird auch Thema einer Fachtagung des Stadtmedienzentrums Stuttgart und der Landeszentrale für politische Bildung sein, die am 21. Mai 2015 in Stuttgart stattfindet und auf die ich Sie gerne hinweisen möchte. Weiter Informationen dazu finden Sie auf Seite 72. Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche und spannende Lektüre. Lothar Frick Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg Vorwort & Geleit wort DuE68_umbr.indd 2 Jürgen Kalb LpB Baden-Württemberg, Chefredakteur von »Deutschland & Europa« Andreas Stoch, Mitglied des Landtags, Minister für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 EUROPA NACH 1945 1. Anfänge europäischer Integration im Zeichen des Kalten Krieges JÜRGEN KALB T rotz anhaltend niedriger Wahlbeteiligung und Zunahme von europaskeptischen und rechtspopulistisch-nationalistischen Parteien bei den Europawahlen 2014 gilt die europäische Einigung und die Herausbildung der Europäischen Union nach wie vor den meisten der rund 500 Millionen EUBürgerinnen und EU-Bürgern als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung dieses von Krisen und Kriegen geschüttelten Kontinents. Das Nobelpreiskomitee in Stockholm hat nicht umsonst im Jahre 2012 der EU deshalb für ihre friedens- und freiheitssichernde Funktion den Friedensnobelpreis vergeben. Allerdings wachsen derzeit die Ansprüche an die EU rasant. In Konkurrenz mit den USA und den asiatischen Großräumen soll die EU die Zukunftsfähigkeit des »alten Kontinents« ermöglichen, soll neue Wachstumskraft und Innovationspotenzial generieren, um im globalen ökonomischen, ökologischen und sozialen Konkurrenzkampf langAbb. 1 Befreiung (»Liberation«) von Paris am 25. August 1944 von der deutschen Besatzung: Angehöfristig zu bestehen. Sogar bei den Europarige der Résistance tragen Transparente mit der Aufschrift »Liberation«, »Vives les Allies«, »Vive de Gaulle«. Enthusiasten droht aktuell Ernüchterung, ja © picture alliance, dpa Enttäuschung um sich zu greifen. Der Europäische Einigungsprozess befindet sich – die Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus in Erinmal wieder – in der Krise. Er drohe, so der gerade wiedergenerung an den 8. Mai 1945 dagegen von Anfang an als Tag der Bewählte Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, gar zu freiung gefeiert. Die DDR beanspruchte für sich, von Anfang an scheitern. In die Kritik geraten dabei häufig die Institutionen »antifaschistisch« aufgestellt gewesen zu sein, weswegen sie und komplexen Entscheidungsprozesse innerhalb der Europäiauch keine Verantwortung für die nationalsozialistischen Gräuelschen Union, denen nachgesagt wird, nur sehr schwerfällig und taten zu übernehmen bereit war. Dies stieß bei vielen Nachbarn überbürokratisch zu agieren. Nicht selten werden die Brüsseler Deutschlands auf Unverständnis. Strukturen gar als »Moloch« denunziert. Übersehen wird dabei Der Wandel im Westen wurde insbesondere durch eine Rede des häufig, dass insbesondere diese Institutionen historische Ursadamaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai chen haben. Die aktuelle Ausgabe von D&E untersucht deshalb 1985 anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes in Europa die Entstehungsbedingungen der heutigen EU nach Ende des eingeleitet. Nicht mehr »Kapitulation« und »Niederlage«, sonZweiten Weltkriegs. Aus unterschiedlichen nationalen aber auch dern die »Beendigung der Diktatur« wird seither in den Mitteleiner europäischen Perspektive werden die Nachkriegsjahre bis punkt des Gedenkens gestellt, obwohl von Weizsäcker in seiner zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Rede durchaus auf die Zwiespältigkeit des Jahrestages hinwies: (»EWG«) im Jahre 1957 rekonstruiert. Von Anfang an gab es dabei »Wir Deutschen begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. […] ein Ringen von nationalen Souveränitätsansprüchen, von AnsätWir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit, so gut wir es können, zen gouvernementaler Kooperation und sogar von Bestrebunins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit. […] Der gen, neue supranationale Strukturen in Europa zu schaffen. 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde »Stunde Null« oder »Befreiung vom heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft.« 3 Faschismus«? Perspektivische Narrationen Heute wird der militärische Sieg über die nationalsozialistische Herrschaft in großen Teilen von Europa durch die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg fast durchweg als »Befreiung vom Nationalsozialismus« bezeichnet. Allerdings überwogen in der Bundesrepublik Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit zunächst überwiegend Begriffe wie »Zusammenbruch« oder »Stunde Null«, die eher auf die materielle Not, die Zerstörungen, die Demontagen, Flucht und Vertreibung sowie den Aspekt des Neuanfangs verwiesen. In der DDR wurde D&E DuE68_umbr.indd 3 Heft 68 · 2014 Perspektivische nationale Narrationen und Multiperspektivität Dies zeigt, dass die Verknüpfung von in der Vergangenheit liegenden Ereignissen zu einer zusammenhängenden »Erzählung« oder »Narration« stets eine Konstruktion darstellt. Folglich fallen diese Narrationen je nach Standpunkt, Vorgeschichte und Herangehensweise sehr unterschiedlich aus. Und entsprechend vielfältig sind auch die Versuche, historische Narrative für politische Zwe- Anfänge europäischer Integr ation im Zeichen de s K alten Kriege s 24.11.14 13:39 JÜRGEN KALB 4 dadurch, dass im Geschichtsunterricht an den Schulen vorwiegend die jeweilige Nationalgeschichte gelehrt und gelernt wird. Nationale Narrationen werden durch öffentliche Repräsentanten zudem favorisiert und damit nicht selten zementiert. Allerdings haben es »Meistererzählungen« heute immer schwerer, in der Öffentlichkeit unhinterfragt zu bestehen. Plurale Gesellschaften lassen in der Regel einseitige Perspektiven der Indoktrination nicht mehr zu. Und die Begegnungen in Europa, die mobilen Gesellschaften und Migrationsprozesse fordern ohnehin Multiperspektivität. Die Bildungspläne in einigen EU-Mitgliedstaaten haben daraus bereits ihre Lehren gezogen. Aber noch überwiegt deutlich die jeweils nationale Traditionspflege. Projekte wie das deutsch-französische Geschichtsbuch (KlettVerlag) und die Aufarbeitung der polnischdeutschen Geschichte in Schulbüchern (CorAbb. 2 Deutsche Soldaten nach der Kapitulation auf dem Weg in die sowjetische Kriegsgefangenschaft. nelsen – Verlag) haben hier Pionierarbeit Foto, Mai 1945 © picture alliance, dpa geleistet. Die aktuelle Ausgabe von D&E knüpft hier an cke zu instrumentalisieren. Auslassungen, Fäschungen, Heroisieund versucht deshalb, die Nachkriegsgerungen oder Dämonisierungen kommen ebenso vor wie perspekschichte des Zweiten Weltkrieges aus verschiedenen Perspektitivische Traditionsbildung. Insbesondere im 19. Jahrhundert, dem ven zu beleuchten. Dies sollte die Leserinnen und Leser in die Zeitalter der Nationalstaatsbildung und der europäischen KoloniLage versetzen, sich von der eigenen nationalen Perspektive mitalmächte, legten auch viele »verspätete« Nationen wie etwa das tels einer Selbstdistanzierung frei zu machen und in der KonfronBismarck-Reich ab 1871 größten Wert darauf, über die Medien, tation mit anderen Perspektiven zu einer selbstständigen Urteilsdas Militär, den Beamtenapparat und dort vor allem die Schulen bildung zu finden. Dies schließt auch die jeweiligen nationalen und den Geschichtsunterricht, nationale Identitäten zu bilden, ja Diskurse mit ein. sie regelrecht zu verordnen. Peter Graf Kielmannsegg hat diese Professorin Dr. Gabriele Clemens bezieht in ihrem Beitrag »EuroProzesse treffend als »sehr langwierige Wachstumsprozesse« päische Föderationspläne, intergouvernementale Kooperationen und supcharakterisiert, woraus er z. B. folgert, dass es trotz eines halben ranationale Aufbrüche in Westeuropa« zunächst die europäische PerJahrhunderts europäischer Integrationsgeschichte noch nicht gespektive, indem sie sowohl zivilgesellschaftliche als auch lungen sei, eine »belastbare Identität der Europäer« herauszubilden, zu dominant werde noch lange Zeit die nationale Identität bleiben. Seine 1996 erschienene Analyse blieb freilich nicht ohne Widerspruch. In D&E Heft 66 (2013) hat z. B. Dieter Fuchs anhand der Auswertung von Eurobarometer-Umfragen zeigen können, dass sich immerhin bei rund der Hälfte der Unionsbürger und Unionsbürgerinnen neben der nationalen inzwischen durchaus auch eine europäische Identität nachweisen lässt. Diese »europäische Identät« lässt sich aber heutzutage nicht mehr verordnen. Die EU hatte dies auf ihrem Gipfeltreffen 1973 in Kopenhagen deshalb wohl eher auch als Ziel des Integrationsprozesses ausgegeben (»Dokument über die Europäische Identität«). Zudem wird sie sich über kurz oder lang wohl auch höchstens als Teil einer multiplen Identität, einer Identität also neben der regionalen und nationalen, herausbilden können. Voraussetzung dafür dürfte eine gemeinsame Erfahrung, vor allem aber auch die Kenntnis der jeweils nationalen Narrationen sein. Geschichtsschreibung ist somit nicht starr, sondern formbar. Die Zeit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust, aber auch die vielfältigen Formen der Aufarbeitung der Kollaboration mit den Nationalsozialisten bieten dafür besonders anschauliche Beispiele. Dies setzt sich ebenso deutlich in der perspektivischen Darstellung der Ereignisse der Nachkriegsgeschichte, zumal in der Zeit des sogenannten »Kalten Krieges« fort. Die fortan bipolare Aufteilung in Ost und West prägte in den Folgejahren die Geschichtsschreibung essentiell. Ähnlich prägend sind die Wandlungsprozesse im Prozess der Entkolonialisierung und nach Ende des Kalten Krieges die Aufarbeitung kommunistischer Herrschaft im Osten Europas verlaufen. Abb. 3 »Der Marshall-Plan«, 1949, Russische Karikatur, Bildbeschriftung: auf Die Gefahr, dass staatlicherseits geprägte Geschichtsbilder etabdem Gerippe: Krise; auf dem Pferd: Marschallplan; auf der Fahne: nach Westeuliert werden, besteht zwar vor allem in nicht-pluralistischen poliropa, gefunden im Archiv der Russischen Staatsbibliothek, 1980 tischen Systemen. Doch auch in Demokratien wird mit Geschichte © Kukryniksy, dpa, picture alliance und ihrer Narration häufig Politik gemacht, häufig allein schon Anfänge europäischer Integr ation im Zeichen de s K alten Kriege s DuE68_umbr.indd 4 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 Regierungsinitiativen zu einer westeuropäischen Integration beschreibt, die schließlich in die »EGKS«, die »Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl«, kurz »Montanunion«, münden. Diese nur wenige Jahre nach dem Krieg entstandene Institution vermochte es, bislang nationale Souveränitätsrechte im Bereich der kriegswichtigen Kohleund Stahlproduktion auf eine überstaatliche (»supranationale«) Ebene zu heben und damit – auch mit ihrem Institutionengefüge – als Vorbild der heutige Europäischen Union zu gelten. So mutig dieser Schritt aus heutiger Sicht auch anmutet, anzumerken ist dabei auch, dass er deutliche Züge eines Eliteprojekts trug. Die Skepsis gegenüber den Deutschen in den Nachbarländern dürfte so kurz nach dem Krieg ein nahezu unüberwindbares Hindernis gewesen sein. Weitergehende Integrationsschritte wie z. B. die geplante Europäische Verteidigungsgemeinschaft (»EVG«) scheiterten dann auch am Widerstand der französischen Nationalversammlung. Dies galt auch für Pläne für eine »Europäische Politische Gemeinschaft« (»EPG«) der sechs Gründungsstaaten der EGKS. Somit wurden bereits bei der Gründung der Montanunion im Jahre 1952 die fehlende Bürgerbeteiligung, die Schwierigkeiten beim politischen und militärischen Integrationsprozess sowie die Dominanz des intergouvernementalen Ministerrats bei weiAbb. 4 »Iron Curtain and Marshall Aid« © Leslie Gilbert Illingworth, GB, Juni 1948, teren Integrationsschritten offensichtlich. Trotzdem gelang es, mit der Hohen Behörde Der Auslöser für die Entscheidung, die europäischen Länder einund einer parlamentarischen Versammlung jene supranationalen schließlich Deutschland zu unterstützen, war der beginnende Institutionen zu schaffen, die auch heute noch in ihrem Kern präKalte Krieg. Als Reaktion u. a. auf den Bürgerkrieg in Griechengend für die »Europäische Kommission« und das »Europäisches land verkündete Truman am 12. März 1947 die Truman-Doktrin, Parlament« als Vorbilder dienen. Das heute viel zitierte »Demonach der die USA alle »freien Völker« im Kampf gegen totalitäre kratiedefizit« der EU war im Kern in der »Montanunion« angelegt, Regierungsformen unterstützen würden. Griechenland war den wenngleich es auch heute nach vielfältigen Prozessen der VertieBeschlüssen der Kriegskonferenzen zufolge britisches Einflussgefung und Erweiterung eine ganz andere Qualität bekommen hat. biet. Trotzdem unterstützte die Sowjetunion offen die dortigen Kommunisten im Bürgerkrieg. Kalter Krieg und Marshall-Plan-Hilfen: Schon vor der Bekanntgabe des Marshallplanes gab es Pläne zum Katalysatoren der westeuropäischen Einigung Wiederaufbau Europas. US-Außenminister James F. Byrnes präsentierte in einer Rede in Stuttgart am 6. September 1946 z. B. Eine zentrale Rolle für die westeuropäische Integration spielten bereits eine frühe Version des Planes. nach 1945 nicht nur die politischen Umstürze und GleichschaltunDie lange Zeit bevorzugte Alternative zum Aufbau Europas durch gen in den von der sowjetischen Armee besetzten Gebieten in amerikanische Mittel war jedoch, die dafür notwendigen Mittel Mittel- und Osteuropa, sondern auch die von den USA als Wiederals Reparationen von Deutschland zu fordern, ähnlich wie das aufbauprogramm formulierte »Marshall-Plan-Hilfe«. Das »Euronach dem Ersten Weltkrieg im Versailler Friedensvertrag niederpean Recovery Program« (»ERP«) war ein Wirtschaftswiederauflegt worden war. Noch 1944 wurde der vom US-Finanzminister bauprogramm der USA, das nach dem Zweiten Weltkrieg dem an und nach ihm benannte »Morgenthau-Plan« entwickelt. Der Plan den Folgen des Krieges leidenden Westeuropa zugute kam, prinsah eine mehrfache Teilung Deutschlands und den systematizipiell aber auch den osteuropäischen Staaten angeboten wurde. schen Abbau von Industrieanlagen vor, um es Deutschland unEs bestand, vereinfacht ausgedrückt, aus Krediten, Rohstoffen, möglich zu machen, jemals erneut für einen Krieg aufzurüsten. Lebensmitteln und Waren, vor allem aus den USA. Das 12,4-MilliMit den demontierten Anlagen sollten gleichzeitig die im Zweiten arden-Dollar-Programm wurde am 3. April 1948 vom Kongress der Weltkrieg angegriffenen Staaten wieder aufgebaut werden. Vereinigten Staaten verabschiedet und noch am selben Tag von Einen ähnlichen Weg verfolgte im Übrigen auch der erste Plan des US-Präsident Harry S. Truman in Kraft gesetzt. Im gesamten ZeitFranzosen Jean Monnet, nach dem Frankreich die Kontrolle über raum (1948–1952) leisteten die USA bedürftigen Staaten der »Ordie deutschen Steinkohlenvorkommen im Ruhrgebiet und Saarganisation for European Economic Cooperation« (OEEC) Hilfen im land bekommen sollte. Jean Monnet war später einer der aktivsWert von insgesamt 13,1 Milliarden Dollar. Die Sowjetunion und ten Befürworter der deutsch-französischen Zusammenarbeit in die osteuropäischen Staaten wurden ebenfalls zu den Beratungen der EGKS. über die Hilfe der USA eingeladen. Sie zogen sich jedoch bald daAuch in der Potsdamer Konferenz im August 1945 wurde neben raus zurück und verboten den osteuropäischen Staaten, die unter der Demokratisierung, der Denazifizierung, der Demilitarisieihrem Einfluss standen, sogar jede Teilnahme, auch der vor 1948 rung, der Dezentralisierung von Deutschland die Demontage der noch demokratisch regierten Tschechoslowakei. Industrieanlagen beschlossen. Und noch 1946 einigten sich die vier Besatzungsmächte auf einen strengen Zeitplan für die Dein- D&E DuE68_umbr.indd 5 Heft 68 · 2014 5 Anfänge europäischer Integr ation im Zeichen de s K alten Kriege s 24.11.14 13:39 JÜRGEN KALB 6 sozialistischer Parteien, die zuvor in den Widerstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg neues Ansehen erhalten hatten. Und auf deutschem Boden war mit der Sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, eine kommunistische Entwicklung nach sowjetischem Vorbild eingeleitet worden, die zunächst durchaus auch einige Anhänger im westlichen Deutschland fand. Sozialisierungsforderungen waren jedenfalls so populär, dass sie Eingang in einige Landesverfassungen und ins Grundgesetz fanden. Der Marshall-Plan sollte dagegen zur Stabilisierung der marktliberalen und demokratischen Kräfte beitragen, zumal in einer Zeit, in der sich zunehmend Tendenzen der Entkolonialisierung breit machten. Die ehemaligen Welt- und Kolonialmächte (insbesondere Frankreich und Großbritannien) waren gerade auf dem besten Weg, ihre globale Präsenz endgültig zu verlieren. Das Vereinigte Königreich von Großbritannien war nach dem Krieg zudem am Rande der Zahlungsunfähigkeit und von innenpolitischen Auseinandersetzungen geprägt, so dass z. B. der britische Premierminister Winston Churchill von den Konservativen mitten in der Potsdamer Konferenz durch den Labour-Premier Clement Attlee abgelöst wurde. Professor Dr. Franz-Josef Brüggemeier beschreibt in seinem Beitrag »Großbritannien und Europa. Churchills Europa-Rede und die Nachkriegspolitik des Vereinigten Königreichs« deutlich, wie sehr Großbritannien selbst an den internationalen Wandlungsprozessen und Abb. 5 »Erfinder der NATO: Truman and Churchill.«, zeitgenössische russische Karikatur, Bildbeschrifinnenpolitischen Verwerfungen litt. Die geratung: linker Hut: Nato, rechter Hut: Pentagon; auf dem Plakat: »Wir gründen die Nato zum Schutz vor der dezu legendäre Europa-Rede des damaligen sowjetischen Bedrohung« Oppositionsführers Winston Churchill in Zü© Kukryniksy, picture alliance, gefunden in der Russischen Staatsbibliothek, Moskau 1980 rich forderte im sich abzeichnenden Kalten Krieg deshalb eine rasche Einigung Europas dustrialisierung Deutschlands. Endgültig und offiziell endete der und vor allem die enge Zusammenarbeit von Frankreich und Abbau von Industrieanlagen aus Deutschland sogar erst 1950. Westdeutschland. Churchill war sich als genauer Beobachter der Angesichts der immer stärker zutage tretenden Armut und des Strategie Stalins dabei sicher bewusst, dass dies zunächst nur Hungers im besetzten Deutschland sowie des öffentlichen Widereine westeuropäische Einigung sein konnte. Schließlich war es standes gegen die Demontage wurden die ursprünglichen Pläne Churchill, der zuerst vom »Eisernen Vorhang« gesprochen hatte. jedoch wieder aufgegeben. Allerdings setzten sich in der »DirekWeniger beachtet wird dabei zumeist, dass Churchill beim Getive JCS 1067«, die die Grundlage für die US-Besatzungspolitik bis danken an eine europäische Einigung keineswegs auch an GroßJuli 1947 in Deutschland bildete, die ursprüngliche Position denbritannien gedacht hatte. Er hatte bei seinen visionären Ideen noch fort. Ohnehin waren das Saarland und Oberschlesien, an den »Kontinent« im Auge. Für Großbritannien standen das ComBodenschätzen reiche Gebiete, von Deutschland abgetrennt. monwealth und die Nähe zu den USA viel deutlicher im VorderUnd auch das Ruhrgebiet war bis 1947 von verschiedenen Abtrengrund. nungsszenarien bedroht. Und trotzdem: Solch supranationale Gedankenspiele hatte es zuDer Nahrungsmittelmangel und drohende Hungersnöte in Euvor fast nur in sozialistischen Kreisen oder in christlich orientierropa prägten die Situation allerdings zusehends. Davon blieb die ten Zirkeln wie denen des Grafen Coudenhove-Kalergi und seiner US-amerikanische Öffentlichkeit nicht unbeeindruckt. Besonders Paneuropa-Bewegung gegeben. Sie beflügelten zivilgesellschaftschlimm war die Situation in Deutschland, wo jeder Bürger liche, aber auch gouvernementale europäische Initiativen enorm. 1946/1947 im Durchschnitt gerade noch unzureichende 1800 KiloAuch Frankreich konnte und wollte sich dem bipolaren Druck auf kalorien pro Tag zu sich nehmen konnte. Der US-Staatssekretär Dauer nicht widersetzen. Professor Dr. Henri Ménudier beWilliam Clayton berichtete gar, dass »Millionen von Menschen schreibt den raschen Wandlungsprozess in Frankreich in seinem langsam verhungern«. (Fossedal, in: Die Zeit vom 6. November 1946). Beitrag »Aus Feinden wurden Freunde. Deutsch-französische BeziehunÄhnlich wichtig für die Verschärfung der Situation war der Mangel gen von 1945 bis 1963« eindringlich. an Kohle, der durch den schweren Winter 1946/1947 und die ZerEine wesentliche Rolle spielten dabei die Marshall-Plan-Gelder, störung der Transportrouten im Zweiten Weltkrieg noch einmal auch wenn deren ökonomische Effizienz und Effektivität für den verschärft worden war. Das humanitäre Ziel, diese Notlage zu beAufbau in Westeuropa in den letzten Jahren immer häufiger hinenden, war sicher ein wesentlicher Grund für den Marshall-Plan. terfragt wurden (z. B. Abelshauser). Die EGKS wurde zur ersten Zudem klagten vor allem die Briten über enorme Besatzungskossupranationalen europäischen Institution. Allerdings verhinderte ten für ihre Zone. die französische Nationalversammlung weitergehende IntegratiIn einigen Staaten Westeuropas wie Frankreich und Italien unteronsversuche der Regierung Pleven in Form der EVG, der »Europästützte die Armut zudem den Wahlerfolg kommunistischer und ischen Verteidigungsgemeinschaft«. Anfänge europäischer Integr ation im Zeichen de s K alten Kriege s DuE68_umbr.indd 6 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 Den in Washington, USA, regierenden Demokraten unter Harry Truman war rasch klar geworden, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika nicht mehr wie noch nach dem Ersten Weltkrieg in eine isolationistische Position zurückziehen sollten. Inbesondere liberale amerikanische Wirtschaftskreise und Großindustrielle sowie die Agrarlobby drängten die US-Regierung dazu, mit Europa langfristig einen Absatzmarkt für US-amerikanische Waren und Güter aufzubauen, auch um die im Krieg entstandene enorme Überproduktion des amerikanischen Industrie- und Agrarmarktes abzubauen. Amerikanische Vorstellungen vom liberalen Markt und vom »Segen des freien Unternehmertums« sowie des amerikanischen Führungsstils in Unternehmen sollten fortan die »freie Welt zu Wohlstand und Demokratie« führen. So hatte Trumans Eindämmungspolitik (»containment«) gegenüber der kommunistischen Herausforderung durch die UdSSR – und ab 1949 auch der späteren Volksrepublik Abb. 6 »Political Psychiatry at M. Schumans's« China – stets eine stark ökonomische Dimen© David Low, Associated Newspaper/ Solo Syndication, London, ursprünglich in: Daily Herald. 13.06.1950 sion. Der bipolare Gegensatz zwischen den beiden Großmächten USA und UdSSR war militärisch, weltanschaulich und ökonomisch In den Nachkriegsjahren baute die Sowjetunion ihre Vormachtfortan der dominante globale Konflikt über mehr als 40 Jahre stellung gegenüber ihren ost-, mittel- und südosteuropäischen lang. Ob sich Europa, genauer Westeuropa, hier als weitere Kraft Satellitenstaaten immer weiter aus und gewann mit der 1949 von erhalten könnte, blieb zunächst offen. Die europäischen NatioMao Zedong gegründeten Volksrepublik China zudem einen nalstaaten jeweils allein, so wurde vielen klar, konnte diese Lücke mächtigen Bundesgenossen. Darauf reagierten wiederum die nicht schließen. USA mit enormen Rüstungsanstrengungen sowie dem Aufbau Teil dieser Strategie war auch die Gründung eines souveränen multi- und bilateraler Militärbündnisse, von denen die 1949 geWestdeutschlands, der Bundesrepublik Deutschland. Johannes gründete NATO das wichtigste war. Ihre wirtschaftliche ErgänGienger beschreibt in seinem Beitrag: » Westdeutschland und die zung bildete der bereits 1947 verkündete Marshallplan. Dem 1948 Bundesrepublik Deutschland nach 1945 – Westintegration als Leitbild« unterzeichneten OEEC-Vertrag (auf deutsch: »Organisation für den Weg der drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands zur Bundeseuropäische wirtschaftliche Zusammenarbeit«), der den ersten republik Deutschland und die sich in ihr abzeichnenden Dispute Schritt einer amerikanisch-westeuropäischen Wirtschaftskoopeüber die Zukunft Gesamtdeutschlands. Strittig war z. B., ob die ration bildete, setzte die Sowjetunion ein Jahr später den »Rat für Westorientierung, die die Bundesregierung unter Konrad AdeGegenseitige Wirtschaftshilfe« (RGW) entgegen. Im militärischen nauer, CDU, einschlug, nicht die Chancen auf eine mögliche deutBereich war dies der »Warschauer Pakt«, in den die UdSSR ihre sche Einigung verbaute, wobei es zu den damaligen unverrückbaSatellitenstaaten zunehmend zwang. ren Positionen aller deutscher Parteien gehörte, dass zu einer In dieser Systemkonkurrenz drängten die USA schließlich auf die deutschen Einigung auch die ehemaligen Ostgebiete zu gehören rasche Gründung eines westdeutschen Staates, der gemeinsam hätten (vgl. Plakat: »Dreigeteilt- niemals!«). mit den anderen westeuropäischen Ländern einen ökonomischmilitärischen Beitrag zur »containment policy« gegenüber dem als weltweit expansiv wahrgenommenen Kommunismus leisten Die bipolare Welt: der Ost-West-Konflikt sollte. Frankreich, das im Gegensatz dazu nach 1945 zunächst das Wiedererstehen eines deutschen Gesamtstaates um jeden Preis Im Jahr 1945 wurden amerikanische Atombomben über Hiroshima hatte verhindern wollen, sah sich angesichts seiner finanziellen und Nagasaki abgeworfen und nur vier Jahre später wurde die und militärischen Abhängigkeit von den USA Ende der vierziger erste sowjetische Atombombe gezündet. Die AuseinandersetzunJahre nunmehr zu einem abrupten deutschlandpolitischen Kursgen der Alliierten um Deutschland («Die deutsche Frage«), die wechsel gezwungen. Statt der bisher angestrebten Politik direkspektakuläre Berlin-Blockade (1948/49), der kommunistische ter Kontrolle durch Beherrschung entschied es sich nun für eine Staatsstreich in der Tschechoslowakei, der (»erste oder französiPolitik indirekter Kontrolle durch Zusammenarbeit. Die vom fransche«) Indochina-Krieg (1946–1954) sowie der Korea – Krieg zösischen Außenminister Robert Schuman 1950 initiierte »Mon(1950–1953) machten deutlich, dass die Welt in einen bipolaren tanunion«, die gemeinsame Organisation des Marktes für Kohle Gegensatz geraten war. Die europäischen Staaten, die viele Jahrund Stahl, stellte den ersten Schritt im Prozess der französischen hunderte lang die Weltpolitik maßgeblich bestimmt und nicht Umorientierung dar. Der ein Jahr später unterzeichnete »EGKSwenige Weltregionen »europäisiert« hatten, mussten ihre PosiVertrag« (»Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl«) bot tion im System der internationalen Politik neu justieren. Seit 1945 einerseits der französischen Stahlindustrie Zugang zu den drinbildeten sie nicht mehr das Gravitationszentrum der Weltpolitik, gend erforderlichen Rohstoffimporten, andererseits erhielt vielmehr fanden sie sich an den Rändern zweier globaler MachtFrankreich die Möglichkeit der indirekten Kontrolle des Ruhrgesysteme wieder, die in einem ideologisch und ökonomisch bebiets. gründeten Systemkonflikt miteinander lagen. Wirkliche EntDie westdeutsche Bundesregierung trat unter Bundeskanzler Konscheidungsfreiheit hatten in zentralen Fragen der internationalen rad Adenauer der Montanunion trotz der französischen KontPolitik jetzt nur noch die beiden Nuklearmächte USA und Sowjetrollabsichten ohne Zögern bei, denn unpopuläre Konzessionen union (vgl. Grießinger, 2007). waren der Preis, den die Bundesrepublik für eine Rückkehr in die D&E DuE68_umbr.indd 7 Heft 68 · 2014 7 Anfänge europäischer Integr ation im Zeichen de s K alten Kriege s 24.11.14 13:39 JÜRGEN KALB Abb. 7 »Träumerei von Robert Schuman« © Felix Mussil, Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 22.6.1950, www.cvce.eu 8 europäische und die internationale Politik zu bezahlen hatte. Eine weitere demonstrative Konzession an das französische Sicherheitsbedürfnis machte Adenauer beim Beitritt zum Europarat im gleichen Jahr, an den Frankreich die Bedingung geknüpft hatte, dass gleichzeitig das unabhängige Saarland als assoziiertes Mitglied aufzunehmen sei. Erst im Jahre 1957 wurde das Saarland Teil der Bundesrepublik Deutschland. Damit hatte der westeuropäische Integrationsprozess eine Dynamik entfaltet, die die USA entschieden unterstützten, weil sie sich von ihr mit guten Gründen eine Formierung der ökonomischen Kräfte Westeuropas im Kampf gegen den Kommunismus versprachen (vgl. Grießinger 2007). Die bundesrepublikanische Opposition, vor allem die SPD, sahen darin allerdings eine endgültige Absage an alle Vereinigungsszenarien im Konsens mit der UdSSR. Noch 1952 hatte Stalin in mehreren Noten an die Westalliierten und die Bundesregierung eine mögliche Vereinigung der BRD und DDR mit freien Wahlen angeboten, wenn sich dieses vereinte Deutschland militärisch und politisch zur Neutralität verpflichtete, einen Weg, den z. B. die Republik Österreich nach 1945 erfolgreich gegangen war. Die deutsche Bundesregierung unter Adenauer traute jedoch Stalin nicht und verfolgte konsequent ihren Weg der Westintegration. Sowjetisierung von Mittel- und Osteuropa unter Stalin Herbert Kohl beschreibt in seinem Beitrag: »Die Sowjetisierung in Osteuropa und Ostdeutschland«, wie die UdSSR aus den einst souveränen osteuropäischen Staaten, aber auch der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland (»SBZ«) nach und nach Satellitenstaaten formte und sie militärisch, politisch und ökonomisch in Abhängigkeit trieb. Sogar der bis 1948 noch demokratisch regierten Tschechoslowakei verbot Stalin, Marshall-Plan-Gelder anzunehmen. Die Niederschlagung der Aufstände von 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn sowie 1968 in der CSSR durch Panzer der UdSSR belegen, mit welch brutaler Härte die Sowjetunion gewillt war, ihren Machtbereich auch militärisch abzusichern. Als Staat, der zahlenmäßig am meisten unter der deutschen Aggression im Zweiten Weltkrieg gelitten hatte, leitete die UdSSR ihren Anspruch ab, nunmehr als neue Weltmacht ihren Einflussbereich imperialistisch auszudehnen und abzusichern. Dabei setzte sie ihre Ansprüche rigoros durch, im Falle Polens anfänglich sogar mit Unterstützung der Siegermächte USA und Großbritannien. So wurde im Potsdamer Abkommen vom August 1945 u. a. die »Westverschiebung« Polens und die Übergabe Ostpreußens an die Sowjetunion, wenn auch formal als Übergangslösung, beschlossen. Die gleichfalls vereinbarten Vertreibungen deutschstämmiger Bewohner in Osteuropa bedeutete gleichzeitig auch die Ansiedlung von Polnischstämmigen aus Ostpolen in jene Gebiete, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschland gehört hatten. Vorher hatten bereits die Nationalsozialisten in Polen umfangreiche und grausame Umsiedlungen während ihrer Besatzungszeit umgesetzt. Polen war nun zwar wieder eine »selbstständige Republik«, politisch, militärisch und ökonomisch aber nunmehr deutlich dominiert von der UdSSR und dem dortigen Politbüro der KPdSU. Manfred Mack beschreibt in seinem Beitrag »Deutschland und Polen: von Hass und Beziehungslosigkeit bis zu den ersten Ansätzen einer Verständigung« insbesondere die schwierigen Beziehungen der Republik Polen zur Bundesrepublik Deutschland in den ersten Nachkriegsjahren. Nach den unbeschreiblichen Verwüstungen und Demütigungen Polens, den zahlreichen Umsiedlungen und nicht zuletzt dem Bau deutscher Konzentrations- und Massenvernichtungslagern auf polnischem Boden verwundert es wenig, wenn der Autor hier bei weiten Teilen der polnischen Bevölkerung von »Hass« redet. Und auch bei vielen deutschen Vertriebenen sah es nicht anders aus. Erst Ende der sechziger bzw. Anfang der siebziger Jahre gelang es dann Bundeskanzler Willy Brandt, SPD, im Rahmen der Ostpolitik erste Annäherungsversuche und einen zaghaften Dialog zu initiieren. Willy Brandts Kniefall in Warschau vor einem Denkmal des Warschauer Ghettos wurde deshalb weltweit als symbolische Geste bewundert, in der Bundesrepublik gab es allerdings darüber heftige Auseinandersetzungen, die im Zusammenhang mit den Ostverträgen lange Zeit vom »Ausverkauf deutscher Interessen« sprachen. Die in Manfred Macks Beitrag belegten Dispute um das im Bau befindliche Zentrum der »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung« in Berlin zeigen, dass hier noch längst nicht alle Wunden geheilt sind. Und die erst nach dem Ende des kalten Kriegs 1989 gewonnene Souveränität Polens führte das Land zwar bereits 2004 in die EU, die Aufgabe von Souveränitätsrechten an eine supranationale Organisation fällt heute aber immer noch vielen osteuropäischen Staaten schwer. Erste Schritte zur westeuropäischen Einigung Insgesamt standen die ersten westeuropäischen Integrationsschritte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich unter dem Druck des Kalten Krieges, seinen politischen, militärischen, ökonomischen und ideologischen Gegensätzen. Ohne diesen Druck von außen sind die trotz allem schnellen Integrationsschritte kaum zu erklären. Die neu entstandenen Institutionen spiegeln aber bis heute das Dilemma der europäischen Einigung wider: Es geschah weitgehend als Eliteprojekt ohne Bürgerbeteiligung. Erst mit den Direktwahlen zum Europäischen Parlament und der Stärkung der Rechte des EPs im Lissabonner Vertrag wurde hier einiges nachgeholt. Trotz der zunehmenden Spannung mit der Russischen Konföderation ist eine starke Bedrohung von außen derzeit nicht auszumachen. Integration und fortschreitende Vergemeinschaftung kann heutzutage deshalb nur über einen langwierigen Überzeugungsprozess und zivilgesellschaftlicher Partizipation erfogen. Anfänge europäischer Integr ation im Zeichen de s K alten Kriege s DuE68_umbr.indd 8 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 Literaturhinweise Abelshauser, Werner (2011): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart. Lizenzausgabe BpB, Bonn. Applebaum, Anne (2013): Der eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944–1956. Siedler-Verlag. München. Greiner, Bernd, u. a. (Hrsg.) (2010): Ökonomie im Kalten Krieg. Lizenzausgabe bpb. Bonn. Fuchs, Dieter (2013): Probleme bei der Herausbildung einer europäischen Identität. in: D&E Heft 66, S. 8–17. www.deutschlandundeuropa.de Herbert, Ulrich (2014): Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. C. H. Beck. München. Kalb, Jürgen (2015): Identität, Europäische, in: Bergmann (Hrsg.): Handbuch der Europäischen Union. 5. Auflage. Nomos-Verlag. Baden-Baden Kielmannsegg, Peter Graf (1996): Integration und Demokratie. in: Jachtenfuchs/ Kohler-Koch (Hrsg.): Europäische Integration. Opladen. 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Aus Politik und Zeitgeschichte Heft1/2, 2008: www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31482/europaeische-nationalgeschichten DuE68_umbr.indd 9 Heft 68 · 2014 »Europeana«: Portal der EU zur europäischen Geschichte und Kultur. Europeana vernetzt zahlreiche europäische Archivanbieter. www.europeana.eu/ portal/ »Geschichte als Instrument« (bpb) Apuz 42/43 2013, www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/170172/geschichte-als-instrument »Chroniknet«: Archiv zeitgeschichtlicher Dokumente und Bilder in Themen und Jahrgängen. www.chroniknet.de/ D&E © John Collins, 1952, McCord Museum Kanada Grießinger, Andreas (2013): Mehr Demokratie? Zivilgesellschaftliche Bewegungen in Deutschland und Europa von 1945–1990, in: D&E Heft, www. deutschlandundeuropa.de/65_13/buergerbeteiligung.htm Grießinger, Andreas (2007): Integration und Interesse – 50 Jahre Römische Verträge, D&E Heft 54, www.deutschlandundeuropa.de/54_07/wirtschaft_ sozial.htm »Hamburg Wissen Digital«: Umfangreiches Archiv historischer Quellen. www.hamburgwissen-digital.de/themen/geschichte.html »LeMO«: Lebendiges Museum Online ist das Online-Portal zur deutschen Geschichte des Deutschen Historisches Museums in Berlin. www.dhm.de/ lemo »Stiftung Haus der Geschichte« (mit Suchfunktion in den Archiven): www. hdg.de/stiftung/ »Universum«: Archiv der Justus-Liebig-Universität in Gießen zur Europäischen Einigung. www.uni-giessen.de/cms/kultur/universum/geschichte/phaenomen-europa Anfänge europäischer Integr ation im Zeichen de s K alten Kriege s 24.11.14 13:39 EUROPA NACH 1945 2. Europäische Föderationspläne, intergouvernementale Kooperationen und supranationale Aufbrüche nach 1945 in Westeuropa GABRIELE CLEMENS G 10 egen Ende des Zweiten Weltkrieges schlossen sich bereits einzelne Widerstandsgruppen zu größeren Organisationen zusammen, aus denen sich eine länderübergreifende, zivilgesellschaftliche Europabewegung entwickelte. Dazu entstanden neue private Einigungsinitiativen, die europäische Föderationspläne entwarfen, zumeist mit dem Anspruch eines Dritte-Kraft-Konzepts, d. h. dem Ziel einer Einigung Gesamteuropas jenseits des antagonistischen Gegensatzes der Weltmächte USA und Sowjetunion, also jenseits des schon bald ausbrechenden OstWest-Konflikts. Mit dem Brüsseler Pakt und dem Europarat enstanden Ende der 1940er Jahre in Westeuropa erste intergouvernementale Kooperationen, d. h. zwischenstaatliche Vereinbarungen zwischen Regierungen souveräner Staaten. Ganz neu kamen ab den 1950er-Jahren supranationale Zusammenschlüsse und Institutionen hinzu, bei Abb. 1 »Jugend ruft Europa«. Anhänger des Europa-Gedankens jubeln Anfang der 50er Jahre den Teildenen die beteiligten Staaten einen Teil ihrer nehmern einer Europa-Kundgebung zu, die die deutsch-französische Grenze überqueren. Souveränität an übergeordnete Institutio© dpa, picture alliance nen delegierten. EGKS (Montanunion), EWG und Euratom gelten heute als Vorläufer der Verhandlungen um den Marshallplan andeutete, dass eine ZusamEuropäischen Union mit derzeit 28 Mitgliedstaaten und einer menarbeit mit den Staaten Osteuropas in weite Ferne rückte, Bevölkerung von mehr als 500 Millionen Menschen. sprach sie sich dafür aus, mit der Einigung Europas zunächst im Westen zu beginnen. Die UEF war zahlenmäßig die stärkste Organisation innerhalb der Europabewegung: nach drei Jahren kontinuEuropäische Föderationspläne ierlichen Aufschwungs verzeichnete sie über 40 angeschlossene Einzelverbände mit über 100.000 zahlenden Mitgliedern. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, als sich in Europa das SysEin sich vom Programm der UEF, wenn auch nur graduell, untertem der souveränen Nationalstaaten wieder etabliert hatte, wascheidendes Einigungskonzept verfolgte eine Gruppe einigungsren es vor allem die privaten Europaverbände, die, anknüpfend an williger Europäer, die sich um den ehemaligen britischen Premierdas Gedankengut der westeuropäischen Widerstandsbewegunminister Winston Churchill und seinen Schwiegersohn Duncan gen, die Forderung nach einem Zusammenschluss der europäiSandys sammelte. Ausgangspunkt dieser Einigungsinitiative, die schen Staaten und Völker zu einem übergeordneten Bund erho1947 in der Bildung des UEM mündete, war die Rede Churchills an ben. Dabei gab es zwischen den einzelnen, sich zum Teil aus der der Züricher Universität am 19. September 1946, in der dieser die Widerstandsbewegung rekrutierenden Europagruppen unterSchaffung einer Art Vereinigter Staaten von Europa gefordert schiedliche Auffassungen über den Weg zur europäischen Einihatte. Im Unterschied zur UEF lehnte das UEM die sofortige Abgung. Die beiden bedeutendsten Organisationen waren der 1946 gabe nationalstaatlicher Souveränitätsrechte an einen europäigegründete Dachverband der Föderalistengruppen, die »Union schen Bundesstaat ab und plädierte für einen allmählichen ZuEuropéenne des Fédéralistes« (UEF), und das britische »United sammenschluss der europäischen Staaten in Form einer zunächst Europe Movement« (UEM). nur zwischenstaatlichen Kooperation. Vertreter des UEM setzten, Die in der UEF zusammengeschlossenen Föderalistengruppen forim Gegensatz zum Dritte-Kraft-Konzept eines neutralen Gesamtderten die sofortige Souveränitätsabgabe der Nationalstaaten an europas, von Anfang an nur auf die Integration des westlichen eine europäische Föderation und setzten sich für einen ZusamEuropas als einzig realistische Möglichkeit. Als Endziel aber strebmenschluss Gesamteuropas als »Dritte Kraft« zwischen den antaten beide Europaverbände die Einigung Gesamteuropas als ersgonistischen Weltmächten ein. Ihre programmatische Grundlage ten Schritt zu einer Weltföderation an. bildete das auf einer Konferenz im schweizerischen Hertenstein im Das UEM verfolgte nicht den Aufbau einer Massenorganisation, September 1946 verabschiedete Grundsatzprogramm (Hertensteisondern organisierte die Zusammenfassung führender Persönner Programm), dessen Kern aus dem Dritte-Kraft-Konzept belichkeiten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lestand. Bis zum Sommer 1947 hielt die UEF am Dritte-Kraft-Konzept bens in kleineren Zirkeln, die ihrerseits den Europagedanken proals unmittelbar anzustrebendem Ziel fest. Erst als sich im Zuge der pagieren und auf diese Weise das allmähliche Zusammenwachsen A u f b r ü c h e n a c h 19 4 5 i n W e s t e u r o p a DuE68_umbr.indd 10 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 Europas herbeiführen sollten. Auch in Frankreich, Belgien und Luxemburg bildeten sich, zum Teil mit Unterstützung des britischen UEM, ähnliche Komitees führender Persönlichkeiten, die für eine Kooperation der europäischen Staaten eintraten, vorrangig das Ziel einer wirtschaftlichen Einigung Europas verfolgten und sich vor allem auf die Einigung der westeuropäischen Staaten konzentrierten. Neben UEF und UEM waren in den Jahren 1947/48 noch verschiedene weitere Verbände entstanden, die sich für eine Einigung Europas engagierten, darunter das von Vertretern sozialistischer Parteien gegründete »Mouvement Socialiste pour les Etats-Unis d’Europe« (MSEUE), die aus katholischen Führungskräften zusammengesetzte »Nouvelles Equipes Internationales« (NEI) und die aus einem Zusammenschluss von Parlamentariern hervorgegangene »Europäische ParlamentarierUnion« (EPU). Nach dem auf Initiative des UEM einberufenen Haager Kongress 1948 Abb. 2 Unterzeichnung des OEEC-Vertrages. Blick in den Raum im französischen Außenministerium in schlossen sich all diese in der Nachkriegszeit Paris während der Unterzeichnung. Am 16. April 1948 unterzeichneten 16 europäische Staaten sowie die entstandenen Europaverbände zu einer überOberbefehlshaber der drei westlichen Besatzungszonen den Vertrag über die europäische wirtschaftliche geordneten Organisation zusammen, die Zusammenarbeit (OEEC=Organization for European Economic Cooperation). Die Organisation wurde zur sich den Namen »Europäische Bewegung« Durchführung und Unterstützung des Marshall-Planes geschaffen. 1960 wird die OECD die Nachfolgeorgab. Von der auf privaten Initiativen beruhenganisation. © dpa, picture alliance den europäischen Einigungsbewegung gingen keine unmittelbaren Schritte zur Errichamerikanische Überproduktion und zugleich die Lösung des tung europäischer Institutionen nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Deutschlandproblems. Der von den USA gewünschte wirtschaftliIhre Bedeutung lag vor allem darin, dass sie das Denken und Hanche und politische Wiederaufbau Westdeutschlands ließ sich deln einer Reihe von Politikern der Nachkriegszeit beeinflusste, durch die Verzahnung mit einem gesamteuropäischen Wiederdie zum Teil, wie beispielsweise Robert Schuman, Konrad Adeaufbau leichter gegen den Widerstand Frankreichs, das ein Wienauer, Paul-Henri Spaak und Alcide De Gasperi, selbst der Eurodererstarken Deutschlands fürchtete, durchsetzen. pabewegung angehörten. Mit dem Marshallplan, der ursprünglich als ein gesamteuropäisches Unterstützungsprogramm konzipiert war, wurde der ProIntergouvernementale Kooperationen zess der Westintegration eingeleitet, der zugleich den Abschied vom Dritte-Kraft-Konzept bedeutete. Nachdem die Sowjetunion Am Beginn des europäischen Integrationsprozesses nach dem und die mittel- und osteuropäischen Staaten ihre Teilnahme am Zweiten Weltkrieg stehen drei Organisationen, deren Entstehung »European Recovery Propram« (ERP) abgesagt hatten, versamunterschiedlichen Motiven entsprang und die sich in ihrer Zielsetmelten sich am 12. Juli 1947 in Paris die Vertreter von 16 europäizung, ihrem Zuständigkeitsbereich und partiell in Bezug auf ihre schen Staaten sowie die Oberbefehlshaber der drei westlichen Mitglieder unterscheiden: OEEC, Brüsseler Pakt, Europarat. GeBesatzungszonen Deutschlands, um ein auf vier Jahre begrenztes meinsam ist diesen drei europäischen Zusammenschlüssen, dass gemeinsames Wiederaufbauprogramm zu erarbeiten, welches sie auf dem Prinzip der Intergouvernementalität beruhen und dadie Grundlage für die vorgesehenen amerikanischen Hilfeleistunmit die Souveränität der Mitgliedstaaten nicht beschränken. gen bilden sollte. Unterschiedlich reagierten die Staaten auf den amerikanischen Wunsch nach Bildung einer dauerhaften gemeinsamen europäischen Organisation und Errichtung einer ZollWirtschaftliche Kooperation: union. Während Frankreich die amerikanischen Vorstellungen zur Vom Marshallplan zur OEEC engen Zusammenarbeit der Europäer und Errichtung dauerhafter Institutionen begrüßte, da es nach dem Scheitern seiner bisheriDas Angebot der amerikanischen Regierung, den wirtschaftligen, auf Dominanz gegenüber Deutschland sowie territorialen chen und politischen Wiederaufbau der europäischen Staaten Abtretungen und Zerstückelung Deutschlands zielenden Politik mittels finanzieller Hilfen zu unterstützen (Marshallplan), war nun alternativ auf eine enge Einbindung Deutschlands in ein inteverbunden mit der Forderung nach einer engeren Zusammenargriertes Europa setzte, lehnte die britische Regierung solche weitbeit der europäischen Staaten. Die bislang im Rahmen der Hilfsreichenden Eingriffe in die nationalstaatliche Souveränität ab. programme UNRRA und GARIOA an einzelne europäische Staaten Großbritannien, das als Siegermacht aus dem Zweiten Weltkrieg geflossenen Gelder hatten nicht zu einer Verbesserung der Situahervorgegangen war und aufgrund seiner weltweiten Verantwortion in Europa geführt. Vielmehr schien Europa 1947 auf eine wirttung an der Spitze des Commonwealth eine globale Machtrolle schaftliche Krise ungeheuren Ausmaßes zuzusteuern, welche die innehatte, war nicht geneigt, sich über eine lockere Kooperation USA in Mitleidenschaft ziehen und dem befürchteten sowjetiund einzelne praktische Maßnahmen der Zusammenarbeit hinaus schen Expansionsstreben zugute kommen konnte. Von einer enenger an die westeuropäischen Staaten zu binden, empfand sogar gen wirtschaftlichen Zusammenarbeit der europäischen Staaten die Eingliederung in die Reihe der Marshall-Plan-Empfängerlänversprachen sich die USA eine wirtschaftliche und politische Stader als demütigend. Trotz des amerikanischen Drängens, entbilisierung des Kontinents und damit die Eindämmung des sowjescheidende Schritte zur Handelsliberalisierung durch die Bildung tischen Expansionismus (Containment-Politik), den Wiederaufeiner Zollunion einzuleiten und eine machtvolle, supranationale bau Europas als Handelspartner und Absatzmarkt für die Planungsbehörde zu errichten, gelang am Ende nur eine beschei- D&E DuE68_umbr.indd 11 Heft 68 · 2014 11 A u f b r ü c h e n a c h 19 4 5 i n W e s t e u r o p a 24.11.14 13:39 GABRIELE CLEMENS 12 dene Form der Zusammenarbeit. Gegen den Widerstand Großbritanniens und auch der skandinavischen Länder war eine von Frankreich und zunächst auch den BeneluxStaaten favorisierte Zollunion nicht durchsetzbar. Ebenso lehnten Großbritannien, Irland, die skandinavischen Staaten und die Schweiz die von den USA und Frankreich gewünschte starke, über erhebliche Machtbefugnisse verfügende gemeinsame Planungsbehörde ab. Stattdessen einigte man sich auf die Errichtung einer nur mit wenigen Kompetenzen ausgestatteten, überwiegend beratend tätigen und auf einstimmiger Beschlussfassung basierenden Gemeinschaftsorganisation: die »Organisation for European Economic Cooperation« (OEEC). Die OEEC mit Abb. 3 Paul Reynaud, französischer Politiker, bei einer Rede in der beratenden Versammlung des Europarats im Jahre 1953. Sitz in Paris besaß entspreDer Europarat (englisch Council of Europe, französisch Conseil de l’Europe) wurde am 5. Mai 1949 durch den Vertrag von Lonchend den Wünschen der Teildon gegründet und umfasst heute 47 Staaten, somit 820 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Er ist als eine europäische internehmerstaaten nur eine nationale Organisation ein Forum für Debatten über allgemeine europäische Fragen. Seine Satzung sieht eine allgemeine schwache Exekutive. ObersZusammenarbeit der Mitgliedstaaten zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts vor. © akg images tes Beschlussorgan der OEEC war der Rat, in dem jeder Mitunter Einbeziehung der Benelux-Staaten geschlossenen Brüsseler gliedstaat über eine Stimme verfügte. Beschlüsse konnten nur Vertrag. Obwohl im Zeichen der sich verschärfenden Ost-Westeinstimmig gefasst werden, wodurch Entscheidungen immer vom Auseinandersetzung gegründet, enthielt dieser Vertrag keine Konsens aller beteiligten Staaten abhängig waren. antisowjetische Spitze, sondern benannte, wie bereits der DünErfolgreich hatten die OEEC-Mitgliedstaaten somit ihre jeweilige kirchener Vertrag, Deutschland als einen möglichen Aggressor. nationale Verfügungsgewalt über die eigene Volkswirtschaft siDas am 17. März 1948 für die Dauer von 50 Jahren geschlossene chergestellt und Eingriffe in nationale Souveränitätsrechte weitBündnis sah eine automatische Beistandspflicht im Falle eines gehend abgewehrt. Angesichts dessen ist es fraglich, ob der Marbewaffneten Angriffs in Europa sowie Maßnahmen zur Verhindeshallplan als ‚Initialzündung‘ oder ‚Geburtshelfer‘ (Beate Neuss) rung einer erneuten deutschen Aggression vor. Zudem verpflichfür den europäischen Integrationsprozess bezeichnet werden teten sich die fünf Staaten im Vertrag auf eine Intensivierung ihrer kann. Nach Ansicht des britischen Historikers Alan S. Milward wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenarbeit. Ein hatten die Verhandlungen um das ERP gerade gezeigt, dass die aus den Außenministern der fünf Staaten bestehender Konsultaeuropäischen Regierungen die amerikanischen Vorstellungen tivrat wurde eingesetzt, welcher mindestens viermal im Jahr zuvon wirtschaftlicher Integration und supranationalen Institutiosammentreten sollte, um über die weitere Zusammenarbeit zu nen ablehnten und stattdessen die nationalstaatliche Souveräniberaten. Eine aus diplomatischen Vertretern der fünf Mächte zutät verteidigten sammengesetzte ständige Organisation in London sollte mindesDoch etablierte sich durch die vereinbarte Kooperation zugleich tens einmal im Monat zusammentreten. Zudem wurden für eineine Routine der Zusammenarbeit und Vertrauensbildung, deren zelne Aufgaben verschiedene Ausschüsse, darunter ein Bedeutung für die künftige europäische Zusammenarbeit nicht Militärausschuss, eingesetzt, die dem Konsultativrat Berichte zu unterschätzen war. Zudem erzielte die OEEC beachtliche Ervorzulegen hatten. folge bei dem schrittweisen Abbau von Handelsrestriktionen soDer Brüsseler Pakt entwickelte keine großen Aktivitäten auf den wie der Erleichterung des innereuropäischen Zahlungsverkehrs im Vertrag vorgesehenen Gebieten: Die Zusammenarbeit auf und stellte damit eine Weiche auf dem Weg zur wirtschaftlichen wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet war sehr vage Integration Europas. und unverbindlich formuliert, und die sicherheitspolitischen Aufgaben wurden weitgehend von der ein Jahr später, am 4. April Sicherheitspolitische Kooperation: 1949, gegründeten NATO übernommen. Vom Dünkirchener Vertrag zum Brüsseler Pakt Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Jahre 1954 erweiterte sich der Brüsseler Pakt unAuch auf sicherheitspolitischem Gebiet wurde mit dem 1947 zwiter Hinzuziehung der Staaten Italien und Bundesrepublik schen Frankreich und Großbritannien geschlossenen DünkircheDeutschland zur Westeuropäischen Union (WEU). ner Vertrag, der sich 1948 zum Brüsseler Pakt erweiterte, eine intergouvernementale Zusammenarbeit europäischer Staaten Kooperation zur politischen Einigung: eingeleitet. Der am 4. März 1947 in Dünkirchen unterzeichnete Der Europarat Vertrag sah eine automatische Beistandsverpflichtung im Falle einer deutschen Aggression sowie gemeinsames Handeln bei Die Initiative zur Bildung des Europarates ging von der europäiNichterfüllung der Deutschland auferlegten ökonomischen Verschen Einigungsbewegung aus. Auf einem von ihr veranstalteten pflichtungen vor. Er bildete die Grundlage für den ein Jahr später A u f b r ü c h e n a c h 19 4 5 i n W e s t e u r o p a DuE68_umbr.indd 12 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 europäischen Kongress in Den Haag im Mai 1948 wurde eine Resolution verabschiedet, welche die Einberufung einer von den nationalen Parlamenten zu beschickenden »Europäischen Versammlung« forderte. Diese sollte Pläne für ein allmähliches Zusammenwachsen Europas auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet erarbeiten und allgemein den europäischen Einigungsgedanken beleben. Aufgegriffen wurde dieser Vorschlag vom französischen Außenminister Georges Bidault, der ihn am 20. Juli 1948 auf die Tagesordnung des Konsultativrates des Brüsseler Paktes brachte. Nach Bidaults Vorstellungen sollte diese einzuberufende Versammlung zunächst nur einen beratenden Charakter haben, sich dann aber zum Kern einer föderativen Organisation weiterentwickeln und über eigene Entscheidungsvollmachten verfügen. Der französische Vorschlag stieß auf den entschiedenen Widerstand des britischen Außenministers Bevin, welcher lediglich eine Zusammenarbeit der europäischen Staaten auf lockerer, intergouvernementaler Ebene anstrebte und allen supranationalen Bestrebungen eine Absage erteilte. Stattdessen schlug Bevin die Bildung eines »Europarates« vor, welcher sich aus führenden Ministern der fünf Brüsseler-Pakt-Staaten zusammensetzen und einmal im Jahr zusammentreten sollte, um über weitere Kooperationsschritte zu beraten. Die britischen Einwände gegen die Schaffung einer Europäischen Versammlung führten schließlich zu einer Kompromisslösung, welche beide Vorschläge miteinander verband. Am 5. Mai 1949 wurde der aus einem Ministerkomitee und einer Beratenden Versammlung (ab 1974: Parlamentarische Versammlung) bestehende intergouvernementale Europarat mit Sitz in Straßburg von zehn europäischen Staaten gebildet. Außer den fünf Brüsseler Pakt-Staaten unterzeichneten Italien, Irland und die skandinavischen Staaten die Satzung des Europarates. Als Aufgabe des Europarates legte der Artikel 1 der Satzung fest, »eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern.« Zu diesem Zweck sollten in den Organen des Rates Fragen von gemeinsamem Interesse beraten, Abkommen geschlossen und es sollte gemeinschaftlich auf den Gebieten Wirtschaft, Sozialpolitik, Kultur, Wissenschaft, Gesetzgebung und Verwaltung gehandelt werden. Ausdrücklich ausgeschlossen wurde eine Zuständigkeit des Europarates in Fragen der nationalen Verteidigung. Wichtigstes Organ im Europarat war das Ministerkomitee, dem die jeweiligen Außenminister der Mitgliedstaaten angehörten und in dem jedes Mitglied über eine Stimme verfügte. Alle wichtigen Beschlüsse im Ministerkomitee mussten einstimmig gefasst werden, und diese einstimmig gefassten Beschlüsse gingen lediglich in Form von Empfehlungen an die Regierungen der Mitgliedstaaten. Der Europarat konnte somit keine die Mitgliedstaaten bindenden Beschlüsse fassen. Die Beratende Versammlung sollte aus Vertretern eines jeden Mitgliedstaates bestehen, die nach einem von jeder Regierung selbst gewählten Verfahren ernannt wurden. Die Aufgabe der jährlich einmal für die Dauer von höchstens einem Monat zusammentretenden Versammlung beschränkte sich darauf, die in ihr Aufgabengebiet fallenden Fragen zu erörtern und dem Ministerkomitee die mit einer Zweidrittelmehrheit gefassten Beschlüsse in Form von Empfehlungen vorzulegen. In den ersten Sitzungsperioden der Beratenden Versammlung unterbreiteten die dort versammelten Delegierten verschiedene Vorschläge zur Weiterentwicklung der Struktur des Europarates und Stärkung seiner Kompetenzen, doch scheiterten all diese Reformansätze am Veto der britischen Regierung. Der Europarat blieb somit, von kleineren Änderungen abgesehen, in seiner 1949 geschaffenen intergouvernementalen Struktur bestehen. Enttäuscht über die mangelnden Entwicklungsmöglichkeiten dieser Organisation erklärte der Präsident der Beratenden Versammlung, der Belgier Paul-Henri Spaak, am 11. Dezember 1951 seinen Rücktritt. D&E DuE68_umbr.indd 13 Heft 68 · 2014 Abb. 4 »Marianne und Michel mit Kohle und Stahl« »Ist der Mai nicht wunderbar? Selbst das erbverfeindete Paar träumt vom klingenden Genuss bei dem ersten Schmusekuss!“ © Klaus Pielert, 1952, Stiftung Haus der Geschichte, Bonn Der Aufbruch zum supranationalen Europa: EGKS, EWG und Euratom Die Verhandlungen um OEEC und Europarat hatten gezeigt, dass Großbritannien und Frankreich unterschiedliche Europakonzepte verfolgten, die aus ihrer jeweiligen Situation in der Nachkriegszeit und dem damit verbundenen Interesse an einer europäischen Einigung resultierten. Während Frankreich die Bildung einer starken supranationalen Organisation anstrebte, um dauerhaft Sicherheit vor Deutschland zu erlangen und den unkontrollierten wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstieg des östlichen Nachbarn zu verhindern, lag aus britischer Sicht eine allzu enge Verbindung mit den westeuropäischen Staaten des Kontinents, die 1940 beim Ansturm der deutschen Truppen zusammengebrochen, besiegt und besetzt worden waren und deren wirtschaftlich-politische Zukunft auch Ende der 1940er Jahre noch ungesichert war, nicht im Interesse des eigenen Landes. Da Großbritannien sich durch seine enge Verbindung mit den USA sowie seine Rolle im Commonwealth als globaler Akteur mit weltweiten Interessen und Verbindungen verstand, sollte sich eine Zusammenarbeit mit den Staaten des Kontinents nur in einem lockeren, den jeweiligen Erfordernissen entsprechenden Rahmen bewegen. Das intergouvernementale Integrationskonzept entsprach somit den britischen Interessen. Für Frankreich und die ebenfalls eine supranationale Organisation befürwortende USA zeichnete sich deshalb zusehends die Alternative ab, ohne Großbritannien den Einigungsprozess fortzuführen. Während sich die Truman-Administration 1949 für die weitere europäische Einigung ohne Großbritannien entschied und Frankreich mit Nachdruck aufforderte, Schritte zur Schaffung eines supranationalen Europas zu ergreifen, zögerte die französische Regierung zunächst noch. Erst die Absicht der Amerikaner und Briten, auf der bevorstehenden Außenministerkonferenz vom 11. bis 13. Mai 1950 die bisherigen Produktionsbeschränkungen für die deutsche Stahlindustrie aufzuheben und über eine Revision des Besatzungsstatuts zu diskutieren, ließ Frankreich handeln. Die Gefahr eines wirtschaftlichen Wiederaufstiegs Westdeutschlands zum Nachteil der französischen Industrie zeichnete sich bereits deutlich ab. Der für die Modernisierung der französischen Industrie verantwortliche Planungskommissar Jean Monnet skizzierte in einem dramatischen 13 A u f b r ü c h e n a c h 19 4 5 i n W e s t e u r o p a 24.11.14 13:39 GABRIELE CLEMENS 14 Appell an den französischen Ministerpräsidenten Bidault und Außenminister Schuman die Folgen eines ungehinderten deutschen wirtschaftlichen Wiederaufstiegs für die französische Wirtschaft. Um diese Gefahr zu bannen, schlug Monnet die Errichtung einer gemeinsamen Hohen Behörde vor, der die gesamte deutsche und französische Kohle- und Stahlproduktion unterstellt werden sollte. Kohle war der wichtigste Energieträger und notwendig für die Stahlproduktion; der befürchtete Kohlemangel drohte die Krise in der französischen Stahlindustrie zu verschärfen und damit den gesamten französischen Modernisierungsplan für die Wirtschaft zu gefährden. Der französische Außenminister Robert Schuman griff den Vorschlag Monnets auf und präsentierte ihn auf einer Pressekonferenz am 9. Mai 1950 der Öffentlichkeit (SchumanPlan). In seiner Rede bezeichnete Schuman die Errichtung einer gemeinsamen Obersten Aufsichtsbehörde (Haute Autorité) für die Kohle- und Stahlproduktion, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein sollten, als die erste Etappe der europäischen Föderation. Die Europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft sollte es den teilnehmenden Ländern ermöglichen, die notwendigen Grundstoffe für die industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu beziehen, um zur Hebung des Lebensstandards und Friedenssicherung beizutragen. Hinter dieser Formulierung stand der Wunsch, der französischen Stahlindustrie dauerhaft den Zugang zur hochwertigen deutschen Ruhrkohle zu den gleichen Bedingungen wie der deutschen Stahlindustrie zu sichern und so den deutschen Wettbewerbsvorteil auszugleiAbb. 5 Plakat aus dem Jahre 1952: Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), so die chen. Zugleich hob Schuman hervor, dass offizielle Bezeichnung der Montanunion, trat 1952 in Kraft und lief 2002 aus. Sie war die Vorläuferin der durch die Zusammenfassung der SchwerinEuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft, »EWG«. Die drei Europäischen Gemeinschaften EGKS, EWG und dustrien jeglicher Krieg zwischen DeutschEuratom bildeten die Grundlage der heutigen Europäischen Union (EU). © picture-alliance land und Frankreich in Zukunft unmöglich sei und der jahrhundertealte Gegensatz zwischen diesen beiden Staaten ausgelöscht werde. nen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl sowie Eisenerz und Die Rede Schumans bildete den Auftakt zu Verhandlungen über Schrott zwischen den beteiligten Staaten schuf, war die erste sueine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die pranationale Organisation in Europa entstanden. am 20. Juni 1950 zwischen den sechs Staaten Frankreich, DeutschKern dieser supranationalen Gemeinschaft war die aus neun unland, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg begannen. Die abhängigen, nicht weisungsgebundenen Mitgliedern zusammendeutsche Bundesregierung unter Konrad Adenauer erblickte in gesetzte und mit großen Machtbefugnissen im Kohle- und Stahlder Teilnahme an einer europäischen Kohle- und Stahlgemeinbereich ausgestattete Hohe Behörde, deren Entscheidungen für schaft die Chance, das Internationale Ruhrstatut abzuschaffen, die beteiligten Staaten bindend waren. Aus Furcht vor einer zu die Aufhebung des Besatzungsstatuts zu forcieren und die Bungroßen Machtstellung dieses Organs hatten vor allem die Benedesrepublik in die Souveränität und Gleichberechtigung zu fühlux-Staaten in den Verhandlungen darauf gedrängt, der Hohen ren; Italien versprach sich davon ebenfalls die Eingliederung in Behörde gegenüber verschiedene Kontroll- und Berufungsinstandie internationale Gemeinschaft und die Lösung seiner drängenzen einzubauen. So wurden als weitere Gemeinschaftsorgane hinden wirtschaftlichen Probleme. Aus politischen wie wirtschaftlizugefügt: ein Besonderer Ministerrat (Rat), der der Hohen Bechen Gründen signalisierten auch die Benelux-Staaten ihre Zuhörde in bestimmten Fällen Anweisungen erteilen konnte und stimmung zur Teilnahme. Der befürchtete Kohlemangel in Europa dessen Zustimmung bei Maßnahmen der Behörde, die Auswirwie auch die sich abzeichnende Globalisierung auf dem Energiekungen auf andere Wirtschaftsbereiche haben konnten, erfordersektor machten die gemeinsame Suche nach Lösungen des Enerlich war; eine mit nur sehr begrenzten Befugnissen ausgestattete gieproblems notwendig. und überwiegend beratend tätige Gemeinsame Versammlung Nach fast einjähriger Verhandlungsdauer über Struktur und Ziele (Versammlung) und ein aus sieben Richtern bestehender Geder EGKS, in die auch die USA mehrfach informell wie direkt einrichtshof, der die Funktionen eines Verfassungsgerichts, Verwalgriffen, wurde am 18. April 1951 in Paris der auf 50 Jahre vereintungsgerichts sowie einer Entscheidungs- und Schlichtungsinsbarte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für tanz für Rechtsstreitigkeiten vereinte. Zudem wurde bei der Kohle und Stahl unterzeichnet, der nach der Ratifizierung in den Hohen Behörde ein aus Vertretern der Erzeuger- und Arbeitnehsechs Staaten am 23. Juli 1952 in Kraft trat. Mit der EGKS, die eimerorganisationen sowie der Verbraucher und Händler beste- A u f b r ü c h e n a c h 19 4 5 i n W e s t e u r o p a DuE68_umbr.indd 14 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 hender Beratender Ausschuss gebildet, dessen Mitglieder vom Rat ernannt werden sollten. Nach Jean Monnets Vorstellungen sollten weitere Bereiche der Wirtschaft nach dem Modell der EGKS integriert werden, um allmählich zu einer gesamtwirtschaftlichen Integration und schließlich zu einer europäischen Föderation zu gelangen. Doch führte die sich nach Ausbruch des Korea-Kriegs (25. Juni 1950) abzeichnende Wiederbewaffnung Deutschlands dazu, dass der Integrationsprozess sich als nächstes auf den Verteidigungssektor verlagerte. Die Notwendigkeit, das vor allem für Frankreich schwerwiegende Problem einer deutschen WiederbeAbb. 6 Der belgische Außenminister Paul van Zeeland, der luxemburgische Außenminister Joseph Bech, der belgische Miniswaffnung zu lösen, brachte ter Joseph Meurice, der italienische Außenminister Graf Carlo Sforza, der französische Außenminister Robert Schuman, der den Plan zur Errichtung einer deutsche Außenminister und Bundeskanzler Konrad Adenauer und der niederländische Außenminister Dirk Stikker am supranationalen Europäi18.04.1951 in Paris kurz nach der Unterzeichnung des Schuman-Plans. Der von Schuman ausgearbeitete Plan sah vor, die schen VerteidigungsgemeinKohle- und Stahlproduktion in Europa einer Hohen Behörde zu unterstellen. Die zu errichtende »Gemeinschaft für Kohle und schaft (EVG) hervor, welcher Stahl« sollte allen europäischen Ländern offen stehen. Vor allem für die Bundesrepublik Deutschland, die als eigenständiges vom französischen MinisterLand eintrat, war dies ein großer Schritt in die Souveränität und Gleichberechtigung. © dpa, picture alliance, 1951 präsidenten René Pleven am 24. Oktober 1950 vorgestellt wurde (Pleven-Plan) und der die Schaffung einer europäischen Arso das Zustandekommen der Verträge. Nach schwierigen Vermee unter Einbeziehung westdeutscher Truppen vorsah. Die folhandlungen wurden am 25. März 1957 die Römischen Verträge genden Verhandlungen zwischen den sechs EGKS-Staaten sowie unterzeichnet, welche die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft der sich über zwei Jahre hinziehende Ratifizierungsprozess des (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG/Euratom) Vertrages in Frankreich zeigten, wie schwer sich die europäischen schufen. Nach der Ratifizierung in den sechs Staaten traten sie Staaten mit der Abgabe von Souveränitätsrechten auf sicherheitszum 1. Januar 1958 in Kraft. Da eine Einigung in der Frage des Sitpolitischem Gebiet taten. Frankreichs Weigerung, den EVG- Verzes der beiden Gemeinschaften nicht erzielt werden konnte, trag zu ratifizieren, führte im August 1954 zum Scheitern der EVG wurde zunächst Brüssel zum provisorischen Gemeinschaftssitz und des damit verbundenen Entwurfs zur Errichtung einer Eurobestimmt. päischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Der EWG-Vertrag sah die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes Nach dem Scheitern der EVG richteten sich die Einigungsbemüinnerhalb von 12 bis 15 Jahren vor, der in drei Stufen von je vier hungen wieder auf den Bereich der Wirtschaft. Unterschiedliche Jahren verwirklicht werden sollte. Kern des Gemeinsamen MarkAuffassungen bestanden zwischen den sechs EGKS-Staaten über tes, in den auch die Landwirtschaft einbezogen werden sollte, die Methoden der weiteren Integration: Während Frankreich auf bildete die Zollunion, die die Abschaffung der Ein- und Ausfuhrder einen Seite eine Ausdehnung des mit der EGKS begonnenen zölle zwischen den sechs beteiligten Staaten sowie der mengenVergemeinschaftungsprozesses auf weitere Wirtschaftssektoren, mäßigen Beschränkungen bei der Ein- und Ausfuhr von Waren vor allem auf den Atomenergiesektor, favorisierte (sektorale Intebeinhaltete. Auch alle sonstigen, den freien Warenverkehr beeingration), plädierten auf der anderen Seite die Niederlande für trächtigenden Maßnahmen sollten beseitigt und ein gemeinsaeine umfassende Integration der Wirtschaften der Mitgliedstaamer Außenzoll gegenüber Drittstaaten errichtet werden. Ferner ten in einem Gemeinsamen Markt (horizontale Integration oder sah der EWG-Vertrag neben dem freien Warenverkehr den ungeGesamtintegration). In der Bundesrepublik stießen weder der Gehinderten Austausch von Dienstleistungen, den freien Personenmeinsame Markt noch die Atomenergiebehörde auf große Resound Kapitalverkehr (vier Freiheiten) sowie eine schrittweise Annänanz; der deutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard bevorherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten vor. Weitere zugte die Bildung einer umfassenden Freihandelszone und lehnte Bestimmungen betrafen die Koordinierung der Verkehrs-, Koneine auf die sechs Staaten begrenzte Zollunion ab. Es war nicht junktur-, Wirtschafts-, Währungs- und Außenhandelspolitik, die zuletzt dem Geschick des zum Verhandlungsführer berufenen Angleichung der Sozialpolitik sowie die Außenbeziehungen der Belgiers Paul-Henri Spaak zu verdanken, dass die Beratungen Gemeinschaft. über die weiteren Integrationsschritte nicht in einer Sackgasse Die mit den Römischen Verträgen gegründete EWG war eine supmündeten, sondern für alle sechs Staaten tragbare Kompromissranationale Gemeinschaft, deren Aufbau sich analog zu den Orlösungen gefunden wurden. Auch weltpolitische Ereignisse wie ganen der Kohle- und Stahlgemeinschaft gestaltete: ein Rat der der Ungarn-Aufstand und vor allem das gescheiterte Suez-Abennationalen Minister (Rat) wurde geschaffen sowie eine aus neun teuer 1956 trugen zu größerer Kompromissbereitschaft der beteiunabhängigen Personen bestehende Kommission, deren Mitglieligten Staaten bei und halfen insbesondere, die deutsch-französider von den Regierungen der Mitgliedstaaten im Einvernehmen schen Divergenzen über das weitere Vorgehen zu überwinden. ernannt werden sollten; die Versammlung und der Gerichtshof Ebenso schalteten sich die USA, wie bereits bei der EGKS, in die der EGKS sollten zugleich auch für die EWG und Euratom zuVerhandlungen ein, übten Druck auf die Bundesrepublik in der ständig sein. Im Gegensatz zur EGKS waren aber bei der EWG Frage der gemeinsamen Atomenergiebehörde aus und sicherten die intergouvernementalen zu Lasten der supranationalen Ele- D&E DuE68_umbr.indd 15 Heft 68 · 2014 15 A u f b r ü c h e n a c h 19 4 5 i n W e s t e u r o p a 24.11.14 13:39 GABRIELE CLEMENS 16 mente gestärkt. Insbesondere Frankreich hatte in den Verhandlungen auf einen größeren Einfluss der Mitgliedstaaten im Gemeinschaftssystem gedrängt. Der aus Vertretern der Mitgliedstaaten bestehende Rat, der während der Übergangszeit einstimmig, danach aber in der Regel mit Mehrheit entscheiden sollte, traf alle wichtigen Entscheidungen. Die Aufgabe der für die Dauer von vier Jahren ernannten EWGKommission bestand vorrangig darin, die Entscheidungen des Ministerrates umzusetzen und auf die Einhaltung der Vertragsbestimmungen zu achten (Hüterin der Verträge). Ein alleiniges Entscheidungsrecht besaß die Kommission nur in wenigen, im Vertrag genau festgelegten Fällen; sie konnte aber gegenüber dem Rat EmpfehAbb. 7 Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25.3.1957. Am Tisch die in Rom versammelten Regierungschefs von Bellungen aussprechen und Stelgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland; (V. l., P. H. Spaak, J. S. Snoy, C. lungnahmen abgeben. DarüPineau, M. Faure, K. Adenauer, der EWG-Kommissionspräsident W. Hallstein sowie A. Segni, u. a.) © dpa, picture alliance ber hinaus besaß die Kommission das Initiativrecht, wodurch sie die MögLipgens, Walter (1977): Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik 1945– lichkeit erhielt, den weiteren Integrationsprozess voranzutreiben. 1950. Erster Teil: 1945–1947, Stuttgart Anders als die EWG, die sich durch den zügigen Zollabbau und die Steigerung des innereuropäischen Handels rasch zu einer ErfolgsLoth, Wilfried (1996): Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen geschichte entwickelte, erfüllten sich die anfänglich in die EuroIntegration 1939–1957, 3. Aufl., Göttingen päische Atomgemeinschaft gesetzten Hoffnungen nicht. Weder Loth, Wilfried (2014): Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, erlangte die Kernenergie den hohen Stellenwert unter den EnerFrankfurt am Main/New York gieträgern, den man ihr in der Euphorie der 1950er Jahre zugeschrieben hatte, noch gingen von der Atomgemeinschaft wesentMilward, Alan S.: (1984) The Reconstruction of Western Europe 1945–51, Lonliche Impulse für den weiteren Integrationsprozess aus. Die sechs don Mitgliedstaaten waren in den Folgejahren vielmehr daran interesNeuss, Beate (2000): Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staasiert, die gemeinsame Entwicklung und Erforschung der Kernten im europäischen Integrationsprozess 1945–1958, Baden-Baden energie zum Ausbau der jeweiligen nationalen Atomindustrie zu nutzen. Insbesondere Frankreich sah in der Europäischen AtomSchwabe, Klaus (Hrsg.) (1988): Die Anfänge des Schuman-Plans 1950/51. Beigemeinschaft nur ein Vehikel für den Aufbau einer eigenen, in naträge des Kolloquiums in Aachen, 28.–30. Mai 1986, Baden-Baden tionaler Verantwortung bleibenden Atomstreitmacht. Trausch, Gilbert (Hrsg.) (1983): Die Europäische Integration vom Schuman1967 fusionierten die Organe (Rat, Hohe Behörde, Kommission) Plan bis zu den Verträgen von Rom, Baden-Baden von EGKS, EWG und Euratom, nicht aber die in Paris und Rom unterzeichneten Verträge. Weiterhin existierten drei Europäische Weilemann, Peter (1983): Die Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. Gemeinschaften (EG), die mit dem Vertrag von Maastricht in der Zur Gründungsgeschichte von Euratom 1955–1957, Baden-Baden ersten Säule der EU aufgingen. Literaturhinweise Internethinweise Clemens, Gabriele/Reinfeldt, Alexander/Wille, Gerhard (2008): Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch, Paderborn Bundeszentrale für Politische Bildung: Europa nach 1945. www.bpb.de/ themen/6AFV6I,0,0,Deutschland_nach_1945.html Gehler, Michael (2014): Europa. Von der Utopie zur Realität, Innsbruck/Wien Deutsches Historisches Museum Berlin, u. a. (Hrsg.): Nachkriegsjahre. www.hdg.de/lemo/kapitel/nachkriegsjahre Gillingham, John R. (1991): Coal, Steel and the Rebirth of Europe, 1945–1955.: The Germans and French from Ruhr Conflict to Economic Community, Cambridge EU (Hrsg.): Ein friedliches Europa – die Anfänge der Zusammenarbeit: http://europa.eu/about-eu/eu-history/1945–1959/index_de.htm Heater, Derek (2005): Europäische Einheit – Biographie einer Idee. Übersetzt und annotiert von Wolfgang Schmale und Brigitte Leucht, Bochum 2005 (Original: Derek Heater: The Idea of European Unity, Leicester 1992) Küsters, Hanns Jürgen (1982): Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Baden-Baden A u f b r ü c h e n a c h 19 4 5 i n W e s t e u r o p a DuE68_umbr.indd 16 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 MATERIALIEN M1 Das Hertensteiner Programm der europäischen Föderalisten, 21. September 1946 1. Eine auf föderativer Grundlage errichtete europäische Gemeinschaft ist ein notwendiger und wesentlicher Bestandteil jeder wirklichen Weltunion. 2. Entsprechend den föderalistischen Grundsätzen, die den demokratischen Aufbau von unten nach oben verlangen, soll die europäische Völkergemeinschaft die Streitigkeiten, die zwischen ihren Mitgliedern entstehen könnten, selbst schlichten. 3. Die Europäische Union fügt sich in die Organisation der Vereinten Nationen ein und bildet eine regionale Körperschaft im Sinne des Art. 52 der Charta. 4. Die Mitglieder der Europäischen Union M 2 Jean Monnet, Leiter der französischen Schuman-Plan-Delegation (Mitte), bei einer Besprechung übertragen einen Teil ihrer wirtschaftlimit Bundeskanzler Konrad Adenauer im Palais Schaumburg, Bonn. Links: Staatssekretär Walter chen, politischen und militärischen SouHallstein. Monnet war französischer Unternehmer und der Wegbereiter der europäischen Einiveränitätsrechte an die von ihnen gebilgungsbestrebungen, ohne je Politiker im Sinne eines gewählten Mandatsträgers gewesen zu sein. dete Föderation. Bekannt wurde er als der politische Architekt, der die Pläne zum Zusammenschluss der westeuropä5. Die Europäische Union steht allen Völkern ischen Schwerindustrie verwirklichte. Seine Einigungskonzeption folgte dabei den Grundsätzen des politischen Funktionalismus und dem Spill-over-Effekt, wonach »sektorale Integration zu einer europäischer Wesensart, die ihre GrundVerflechtung immer weiterer Sektoren und schließlich zum Endstadium einer allgemeinpolitischen gesetze anerkennen, zum Beitritt offen. Föderation« führen sollte. © akg images, 5.4.1951 6. Die Europäische Union setzt die Rechte und Pflichten ihrer Bürger in der Erklärung der Europäischen Bürgerrechte fest. Es genügt, diese Tatsachen aufzuzählen. Man kann dann darauf 7. Diese Erklärung beruht auf der Achtung vor dem Menschen in verzichten, mit vielen Details ihre Folgen zu beschreiben: seiner Verantwortung gegenüber den verschiedenen GemeinDeutschland in der Expansion, deutsches Exportdumping; der Ruf schaften, denen er angehört. nach Schutz für die französischen Industriellen; Stopp oder Ver8. Die Europäische Union sorgt für den planmäßigen Wiederaufschleierung der Liberalisierung des Handels; erneute Schaffung bau und für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusamvon Kartellen wie in der Vorkriegszeit; eventuell Ausrichtung der menarbeit sowie dafür, dass der technische Fortschritt nur im deutschen Expansion nach Osten als Vorstufe für politische ÜberDienste der Menschheit verwendet wird. einkommen, Frankreich fällt in den Schlendrian einer begrenzten 9. Die Europäische Union richtet sich gegen niemand und verund geschützten Produktion zurück. Die Entscheidungen, die zichtet auf jede Machtpolitik, lehnt es aber auch ab, Werkzeug diese Lage herbeiführen werden, werden auf der Londoner Konfeirgendeiner fremden Macht zu sein. (…) renz unter amerikanischem Druck in Angriff genommen, viel11. Nur die Europäische Union wird in der Lage sein, die Unverleicht sogar schon beschlossen. Nun wünschen sich die USA übersehrtheit des Gebiets und die Bewahrung der Eigenheit aller haupt nicht, dass sich die Dinge so entwickeln. Sie werden eine ihrer Völker, großer wie kleiner, zu sichern. andere Lösung akzeptieren, wenn sie dynamisch und konstruktiv 12. Durch den Beweis, dass es seine Schicksalsfragen im Geiste des ist, besonders dann, wenn sie von Frankreich ausgeht. Mit der Föderalismus selbst lösen kann, soll Europa seinen Beitrag zum [von uns] vorgeschlagenen Lösung verschwindet die Frage der Wiederaufbau und zu einem Weltbund der Völker leisten. Herrschaft der deutschen Industrie, deren Existenz in Europa eine © in: Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Hrsg.) (1962): Furcht verursachen würde, die Grund ständiger Unruhe wäre, Europa. Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, hrsg. vom (Dokumente und Beschließlich die Vereinigung Europas verhindert und Deutschland richte; Bd. 17), Bd. 1, München, S. 116. erneut in den Abgrund stürzt. Diese Lösung schafft im Gegensatz dazu für die Industrie sowohl in Deutschland als auch in Frankreich Bedingungen gemeinsamer Expansion in der Konkurrenz, M 2 Das »Monnet-Memorandum«, 3. Mai 1950 – Teil III wobei jede Form von Beherrschung fortfällt. Vom französischen Standpunkt aus bringt eine solche Lösung die Die Wiederaufrichtung Frankreichs wird nicht mehr weitergehen, nationale Industrie in die gleiche Ausgangsstellung wie die deutwenn die Frage der industriellen Produktion Deutschlands und sche, beseitigt das Exportdumping, das die deutsche Stahlindusseiner Konkurrenzkapazität nicht schnell eine Regelung findet. trie sonst verfolgen würde, lässt die französische Stahlindustrie Die Grundlage für die Überlegenheit, die die französischen Indusan der europäischen Expansion teilnehmen, ohne Furcht vor triellen traditionsgemäß Deutschland zubilligen, liegt darin, dass Dumping, ohne Versuchung, Kartelle zu bilden. Die Furcht bei den es Stahl zu einem Preis produziert, mit dem Frankreich nicht konIndustriellen, die der Malthusianismus nach sich ziehen würde, kurrieren kann. Daraus schließen sie, dass die gesamte französider Stopp der ‚Liberalisierungen‘ und schließlich die Rückkehr sche Produktion darunter leiden muss. Schon verlangt Deutschzum Schlendrian der Vergangenheit – alles das wird beseitigt land, seine Produktion von 11 auf 14 Millionen Tonnen zu erhöhen. sein. Das größte Hindernis für den Fortgang des industriellen Wir werden diese Forderung ablehnen, aber die Amerikaner werFortschritts in Frankreich wäre aus dem Wege geräumt. den darauf bestehen. Dann werden wir Vorbehalte machen, und © in: Ziebura, Gilbert (1997): Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen schließlich werden wir nachgeben. Zur gleichen Zeit stagniert die und Realitäten, überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe, Stuttgart, S. 498–504. französische Produktion; sie geht sogar zurück. D&E DuE68_umbr.indd 17 Heft 68 · 2014 17 A u f b r ü c h e n a c h 19 4 5 i n W e s t e u r o p a 24.11.14 13:39 GABRIELE CLEMENS 18 M3 Erklärung der französischen Regierung über eine gemeinsame deutsch-französische Schwerindustrie, 9. Mai 1950 (»Schuman-Plan«) Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen. Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. Frankreich, das sich seit mehr als zwanzig Jahren zum Vorkämpfer eines vereinten Europa macht, hat immer als wesentliches Ziel gehabt, dem Frieden zu dienen. Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt. Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muss in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen. Zu diesem Zweck schlägt die französische Regierung vor, in einem begrenzten, doch entscheidenden Punkt sofort zur Tat zu schreiten. Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohlen- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Oberste Aufsichtsbehörde (»Haute Autorité«) zu stellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht. Die Zusammenlegung der Kohlen- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind. Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist. Die Schaffung dieser mächtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Ländern offensteht, die daran teilnehmen wollen, mit dem Zweck allen Ländern, die sie umfasst, die notwendigen Grundstoffe für ihre industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu liefern, wird die realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen. Diese Produktion wird der gesamten Welt ohne Unterschied und Ausnahme zur Verfügung gestellt werden, um zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Friedens beizutragen. Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils. M4 Der Schuman-Plan © Karikatur von Klaus Pielert, 1950, Stiftung Haus der Geschichte, Bonn A u f b r ü c h e n a c h 19 4 5 i n W e s t e u r o p a DuE68_umbr.indd 18 M 5 Zeitgenössische Grafik zum Schuman-Plan und der Montanunion. © dpa, picture alliance So wird einfach und rasch die Zusammenfassung der Interessen verwirklicht, die für die Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft unerlässlich ist, und das Ferment einer weiteren und tieferen Gemeinschaft den Ländern eingeflößt, die lange Zeit durch blutige Fehden getrennt waren. Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Obersten Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist. Um die Verwirklichung der so umrissenen Ziele zu betreiben, ist die französische Regierung bereit, Verhandlungen auf den folgenden Grundlagen aufzunehmen: Die der gemeinsamen Obersten Behörde übertragene Aufgabe wird sein, in kürzester Frist sicherzustellen: (1) die Modernisierung der Produktion und die Verbesserung der Qualität, (2) die Lieferung von Stahl und Kohle auf dem französischen und deutschen Markt, sowie auf dem aller beteiligten Länder zu den gleichen Bedingungen, (3) die Entwicklung der gemeinsamen Ausfuhr nach den anderen Ländern, den Ausgleich im Fortschritt der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft dieser Industrien. Um diese Ziele zu erreichen, müssen in Anbetracht der sehr verschiedenen Produktionsbedingungen, in denen sich die beteiligten Länder tatsächlich befinden, vorübergehend gewisse Vorkehrungen getroffen werden, und zwar: die Anwendung eines Produktions- und Investitionsplanes, die Einrichtung von Preisausgleichsmechanismen und die Bildung eines Konvertierbarkeits-Fonds, der die Rationalisierung der Produktion erleichtert. Die Ein- und Ausfuhr von Kohle und Stahl zwischen den Teilnehmerländern wird sofort von aller Zollpflicht befreit und darf nicht nach verschiedenen Frachttarifen behandelt werden. Nach und nach werden sich so die Bedingungen herausbilden, die dann von D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 M 6 Der Schuman-Plan: aus französischer und deutscher Sicht. M 8 »Marianne sieht die deutsche Gefahr schon wieder riesengroß« © Karikatur von Klaus Pielert, 1950, Stiftung Haus der Geschichte, Bonn selbst die rationellste Verteilung der Produktion auf dem höchsten Leistungsniveau gewährleisten. […] Die gemeinsame Oberste Behörde, die mit der Funktion der ganzen Verwaltung betraut ist, wird sich aus unabhängigen Persönlichkeiten zusammensetzen, die auf paritätischer Grundlage von den Regierungen ernannt werden. Durch ein gemeinsames Abkommen wird von den Regierungen ein Präsident gewählt, dessen Entscheidungen in Frankreich, in Deutschland und den anderen Teilnehmerländern bindend sind. […] © in:: Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Hrsg.) (1962): Europa. Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, Dokumente und Berichte; Bd. 17, Bd. 2, München S. 680–682. M7 Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, EVG, (an der Ablehnung durch die französische Nationalversammlung 1954 gescheitert) (…) Kapitel I. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft Artikel 1. Durch diesen Vertrag begründen die Hohen Vertragschließenden Teile unter sich eine EUROPÄISCHE VERTEIDIGUNGSGEMEINSCHAFT. Diese ist ihrem Wesen nach überstaatlich; sie hat gemeinsame Organe, gemeinsame Streitkräfte und einen gemeinsamen Haushalt. Artikel 2. § 1 Die Gemeinschaft dient ausschließlich der Verteidigung. § 2 Sie gewährleistet daher nach Maßgabe dieses Vertrages die Sicherheit der Mitgliedstaaten gegen jede Aggression. Hierzu beteiligt sie sich im Rahmen des Nordatlantikpaktes an der westlichen Verteidigung und verwirklicht die Verschmelzung der Verteidigungsstreitkräfte der Mitgliedstaaten sowie den zweckmäßigen und wirtschaftlichen Einsatz ihrer Hilfsquellen. § 3 Jede bewaffnete Aggression gegen irgendeinen der Mitgliedstaaten in Europa oder gegen die Europäischen Verteidigungsstreitkräfte wird als ein Angriff gegen alle Mitgliedstaaten angesehen. […] Die Gemeinschaft wird durch ihre Organe im Rahmen ihrer Befugnisse vertreten. Artikel 8. § 1 Die Organe der Gemeinschaft sind: – Der Ministerrat, nachstehend »Der Rat« genannt; – Die Gemeinsame Versammlung, nachstehend »Die Versammlung« genannt; – Das Kommissariat der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, nachstehend »Das Kommissariat« genannt – Der Gerichtshof. (…) © Bundesgesetzblatt Teil II 1954 S. 343ff. www.europarl.europa.eu/brussels/website/ media/Basis/Geschichte/EGKSbisEWG/Pdf/EVG-Vertrag.pdf D&E DuE68_umbr.indd 19 Heft 68 · 2014 © Karikatur von Helmut Beyer aus dem Jahre 1952 M9 Schlusskommuniqué der Konferenz von Messina zur Vorbereitung von EWG und Euratom, 3. Juni 1955 Sie [die sechs Regierungen] erachten es als notwendig, die Schaffung eines vereinigten Europa durch die Weiterentwicklung gemeinsamer Institutionen, durch die schrittweise Fusion der nationalen Wirtschaften, durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und durch die schrittweise Harmonisierung ihrer Sozialpolitik fortzusetzen. Eine derartige Politik erscheint ihnen unerlässlich, um Europa den Platz zu erhalten, den es in der Welt einnimmt, um ihm seinen Einfluß und seine Ausstrahlungskraft zurückzugeben und um den Lebensstandard seiner Bevölkerung stetig zu heben. Zu diesen Zwecken haben sich die sechs Minister über die folgenden Ziele geeinigt: 1. Die Steigerung des Warenaustausches und der Freizügigkeit der Personen verlangen den gemeinsamen Ausbau großer Verkehrswege. Zu diesem Zweck soll eine gemeinsame Prüfung von Entwicklungsplänen vorgenommen werden, die ein europäisches Verkehrsnetz von Kanälen, Autostraßen und elektrifizierten Eisenbahnlinien und die Standardisierung der Ausrüstung zum Ziele haben. Ebenso soll die bessere Koordinierung des Luftverkehrs geprüft werden. 2. Reichlichere und billigere Energie ist ein fundamentales Element des wirtschaftlichen Fortschritts. Deshalb muss alles getan werden, um den Austausch von Gas und elektrischem Strom zu fördern, der geeignet ist, die Rentabilität der Investierungen zu erhöhen und die Preise für die Versorgung zu senken. Es soll untersucht werden, mit welchen Methoden die Entwicklung der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs unter gemeinsamen Gesichtspunkten koordiniert und die allgemeinen Richtlinien einer gemeinsamen Politik festgelegt werden können. (Dabei wird die Entschließung berücksichtigt, die der Besondere Rat der Montanunion am 12./13. Oktober 1953 gefasst hat.) 3. Die Entwicklung der Atomenergie zu friedlichen Zwecken eröffnet binnen kurzem die Aussicht auf eine neue industrielle Revolution von ungleich größerem Ausmaß als jene der letzten hundert Jahre. Die sechs Signatarstaaten erachten es als notwendig, die Frage einer gemeinsamen Organisation zu untersuchen, die mit der Verantwortung und den Mitteln für die Gewährleistung der friedlichen Entwicklung der Atomenergie auszustatten wäre, […] Die sechs Regierungen stellen fest, dass das Ziel ihres Vorgehens auf wirtschaftspolitischem Gebiet in der Bildung eines von allen Zollschranken und mengenmäßigen Beschränkungen freien gemeinsamen europäischen Marktes besteht. Sie sind der Ansicht, dass dieser Markt schrittweise geschaffen werden muss. […] 19 © in Brunn, Gerhard (2004): Die Europäische Einigung von 1945 bis heute (bpb-Schriftenreihe; Bd. 472), Bonn, S. 347f. A u f b r ü c h e n a c h 19 4 5 i n W e s t e u r o p a 24.11.14 13:39 EUROPA NACH 1945 3. Westdeutschland und die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 – Westintegration als Leitbild JOHANNES GIENGER D ie Ereignisse der Jahre von 1945 bis 1957 – vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gründung der »Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft« (EWG) – waren prägend für die historische Entwicklung Europas und der entstehenden Bundesrepublik Deutschland bis heute. War dieser Weg so eindeutig, wie er heute vielen erscheinen mag? Gab es Alternativen? Die historische Forschung diskutiert darüber bis heute. Umfangreiche digitale und multimediale Archive ermöglichen dem heutigen Beobachter eine besondere Möglichkeit zur Urteilsbildung. Die Bilanz der Niederlage 1945 20 Am 9. Mai 1945 tritt die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft. Deutschland ist den Siegermächten ausgeliefert. Das ganze Grauen – die HinterlassenAbb. 1 Zerstörte Stuttgarter Innenstadt, Marktplatz mit altem Rathaus, 1.4.1946 schaft des NS-Regimes – wird den traumati© Landesmedienzentrum Baden-Württemberg sierten Deutschen erst allmählich bewusst oder von Siegern bewusst gemacht: • über 60 Millionen Tote, davon allein 20 MilAnfänge der Besatzungspolitik lionen russische Soldaten und Zivilisten, • rund 6 Millionen Juden und 500 000 Sinti und Roma ermordet Die anfänglichen Perspektiven waren in der Tat düster. Die vom von Erschießungskommandos oder vergast in den VernichUS-Präsidenten Harry S. Truman genehmigte Direktive JCS 1067 tungslagern des NS-Regimes, stellte fest, dass Deutschland nicht besetzt wurde »zum Zwecke • rund 100 000 ermordete geistig und körperlich Behinderte, seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat«. Es müsse den • zehntausende hingerichtete Widerstandskämpfer, OppositioDeutschen klargemacht werden – so der Wortlaut – »dass nelle sowie Kriegsdeserteure, Deutschlands rücksichtslose Kriegsführung und der fanatische • deutsche Groß- und Industriestädte in Ruinen, Widerstand der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört und Chaos • weitgehend zerstörte Infrastrukturen, und Leiden unvermeidlich gemacht haben …«. Und Leiden war • millionenfache Flüchtlings- und Vertreibungsströme, kennzeichnend für die Jahre bis 1947 und teilweise auch lange da• Obdachlosigkeit und Hunger in Deutschland. nach. Das Durchschnittsgewicht eines männlichen Erwachsenen beispielsweise lag 1946 in der amerikanisch besetzten Zone (ABZ) bei 51 Kilo und sank weiter ab. Die Hälfte aller Wohnungen in den Die »Stunde Null«? Großstädten war zerstört, und bis Ende 1946 strömten 5,6 Millionen Flüchtlinge in die westlichen Zonen und verschlimmerten die Das Dritte Reich hatte aufgehört zu bestehen und Deutschland Wohnungsnot. Am Ende sollten es zwischen 12–15 Millionen Menstand vor dem moralischen, politischen und wirtschaftlichen schen sein, die vor dem Kommunismus flohen oder nach den BeRuin. Das Bild von der »Stunde Null«, von einem vollständigen schlüssen der Konferenzen der Alliierten aus den osteuropäischen Neuanfang, wurde zur Beschreibung der Situation immer wieder bzw. ostdeutschen Gebieten vertrieben wurden (Görtemaker, beschworen, wird aber dem Geschehen nicht gerecht: weder der S. 30). Tatsache, dass sich die während des NS-Regimes unterdrückten demokratischen Kräfte aus der inneren Immigration oder dem Widerstand zur Übernahme von Verantwortung zurückmeldeten, Besatzungszonen der Alliierten noch dem Umstand, dass das industrielle Potential – wenn auch durch die zerstörte Infrastruktur gelähmt –– doch nicht vollstänAnfangs herrschte Einigkeit unter den Siegern über die vier grodig zerstört war. Die Frage war viel mehr, welche Perspektiven die ßen Ds (Potsdamer Beschlüsse) sowie die Vertreibungen der Siegermächte dem geschlagenen Deutschland und damit letztDeutschen, und die USA, Großbritannien und die Sowjetunion lich Europa erlauben würden. setzten diese Beschlüsse der Kriegskonferenzen in Teheran W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 DuE68_umbr.indd 20 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 Abb. 2 Landkarte des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 mit der Aufteilung in Besatzungszonen nach der Berliner Erklärung vom 7.6.1945. (28.11.–1.12.1943) und Jalta (9.–11.2.1945) in ihren Besatzungszonen in Deutschland und in Berlin auch rigoros durch. Frankreich, das mit einem vor der Wehrmacht 1940 nach England geflüchteten kleinen Expeditionsheer zum Sieg über den gemeinsamen Feind Hitler-Deutschland beigetragen hatte, beanspruchte schließlich zudem einen Anteil an dem besetzten Gebiet und bezog 1945 seine Zone, die aus der amerikanischen und britischen Zone herausgeschnitten wurde. Damit waren Deutschland und Berlin in vier Besatzungszonen aufgeteilt Ostpreußen und die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie russisch besetzt und vorläufig bis zu einem offiziellen Friedensvertrag unter polnische bzw. sowjetische Verwaltung gestellt. Ein Alliierter Kontrollrat, bestehend aus den Vertretern der vier Siegermächte, sollte Deutschland vorläufig verwalten und nur einstimmige Beschlüsse fassen. Konferenz von Potsdam: gemeinsame Beschlüsse und unterschiedliche Auslegung Laut Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz (17.7.–2.8.1945) war Deutschland noch als eine (zumindest wirtschaftliche) Einheit zu behandeln, und die vier Prinzipien der Konferenz – Denazifizierung, Dezentralisation, Demilitarisierung, Demokratisierung – wurden von den Siegern vertraglich besiegelt. Mit der Unterschrift unter den Vertrag begannen die Mächte allerdings auch den Vertrag unterschiedlich auszulegen. Obgleich sich die Siegermächte hinsichtlich der Entmilitarisierung Deutschlands einig waren, liefen die Maßnahmen und Vorstellungen im Rahmen der Entnazifizierung, Dezentralisierung und Demokratisierung doch sehr bald auseinander. Während die Sowjets in ihrer Zone durch Enteignung des Großgrundbesitzes und Teilen der Industrie offiziell vor allem bezweckten, Nazis aus ihren Machtpositionen zu verdrängen, damit aber gleichzeitig gezielt die Weichen für den Aufbau einer »Volks- D&E DuE68_umbr.indd 21 Heft 68 · 2014 © akg images demokratie« sowjetischer Prägung stellten, ging es den Briten, Franzosen und Amerikanern bei der Entnazifizierung insbesondere um die Demokratisierung und Umerziehung der Deutschen im westlich-demokratischen Sinne. Vor allem die Amerikaner bemühten sich in ihrer Zone um eine breite »geistige« Erneuerung des deutschen Volkes. Sie beriefen deshalb in ihrer Zone 545 Spruchkammern mit 22.000 politisch unbescholten geltenden Mitgliedern. Diese Spruchkammern sollten mit Hilfe von Fragebögen die Bevölkerung nach Hauptschuldigen, Belasteten, Minderbelasteten, Mitläufern und Entlasteten durchforsten und gegebenenfalls Betroffene mit Geld- und Haftstrafen sowie Berufsverboten belegen. Nach offiziellen Angaben verloren dadurch 373.762 Personen für kürzere oder längere Zeit ihren Arbeitsplatz. Im Auftrag des Alliierten Kontrollrats wurde zudem ein internationales Militärtribunal begründet, das im November 1945 in Nürnberg das Verfahren gegen 24 »Hauptkriegsverbrecher« eröffnete. Das Gericht verurteilte 12 Angeklagte zum Tode und verhängte sieben langjährige Freiheitsstrafen. Bis 1949 folgten weitere 12 Gerichtverfahren in Nürnberg sowie einige Zehntausend Verfahren im In- und Ausland. Im westlichen Teil Deutschlands wurden 5025 Personen verurteilt, 806 Todesurteile ausgesprochen und 486 vollstreckt (Görtemaker, S. 27). 21 Entnazifizierung: nicht bewältigte Vergangenheit Trotz aller Bemühungen der Umerziehung im Rahmen der Entnazifizierung blieb und bleibt der Rechtsextremismus bzw. Rechtspopulismus bis heute eine beunruhigende politische Strömung in Deutschland und Europa. Auch heute wird noch kontrovers diskutiert, ob nicht ehemalige »rehabilitierte« Nationalsozialisten wie z. B. der Jurist Hans Globke, der 1935 bei der Formulierung der Nürnberger Rassengesetze mitgewirkt hatte W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 24.11.14 13:39 JOHANNES GIENGER und unter Adenauer als Chef des Kanzleramtes tätig war, Neigungen zu Nationalismus und Rassismus begünstigt hatten und eine Kontinuitätsbrücke zu den späteren rechtsextremistischen Bewegungen darstellt. Deutschland im Zentrum des Ost-West-Konflikts 22 Während das Ziel der Entnazifizierung noch als verbindendes Element einer nach der endgültigen Niederlage Hitler-Deutschlands zunehmend brüchigen Waffenbrüderschaft verstanden werden kann, gilt dies für die Wiederbelebung des deutschen politischen Lebens nach 1945 schon nicht mehr. Der bald immer deutlicher hervortretende Ost-WestKonflikt dominierte das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Geschehen. George F. Kennan, Gesandter an der amerikanischen Botschaft in Moskau, erklärte bereits 1945 dass: »die Idee, Deutschland gemeinAbb. 3 Marshall-Plan, Werbe-Plakat der Economic Cooperation Act-Zentrale in Washington aus dem sam mit den Russen regieren zu wollen, ein Wahn Jahre 1948. Am 5.6.1947 schlug US-Außenminister George C. Marshall einen Plan zum Wiederaufbau ist. (…) Wir haben keine andere Wahl als den Teil Europas vor. Ab 1948 wurde der Marshall-Plan im Rahmen des Europäischen Wiederaufbauprogramms von Deutschland, den Teil, für den wir und die BriERP verwirklicht. Die Sowjetunion verhinderte, dass sich die Staaten in ihrem Einflussbereich daran beteiten die Verantwortung übernommen haben, zu eiligten. © akg images ner Form von Unabhängigkeit zu führen. Die so befriedigend, so gesichert, so überlegen ist, dass Mit der Truman-Doktrin und dem Marshall-Plan sollte nicht nur der Osten sie nicht gefährden kann …« (Görtemaker, S. 35). der Westen gegen kommunistische Einflussnahme abgedichtet, Ähnlich argumentiert Kennan 1946 in dem oft zitierten »Long Tesondern auch der Rahmen gesteckt werden, innerhalb dessen legram« an die Truman-Administration. Damit hatte Kennan die sich die westdeutsche und die westeuropäische Politik zu beweAnalyse geliefert, die sich westliche Politiker vor dem Hintergrund gen hatten. Die Sowjets reagierten auf die amerikanische Politik der sowjetischen Expansion in Mittelosteuropa, kommunistisch des »containment« (Eindämmungspolitik) – später aggressiver inspirierter Destabilisierungsversuche in Griechenland und in der als »roll-back« bezeichnet – mit der Gründung der Kominform Türkei, später im Januar 1947 manipulierter Wahlen in Polen, rela(Kommunistisches Informationsbüro) im September 1947, das die tiv zügig zu eigen machten. Der britische Außenminister Ernest kommunistischen Parteien Europas unter der ideologischen und Bevin bekundete dieselbe Überzeugung in einer Kabinettsvorpolitischen Vormundschaft Moskaus verband. Aus sowjetischer lage vom 3. Mai 1946, und Winston Churchill, Oppositionsführer Sicht verkündete Andreij Shdanow, Sekretär der Leningrader KPim britischen Unterhaus, brachte es bereits am 5. März 1946 in dSU und engster Mitarbeiter Stalins, die sog. »Zwei-Lager-TheoFulton, Missouri, überdeutlich auf den Punkt: »Wir müssen den Tatrie« mit dem »imperialistischen und antidemokratischen« Lager sachen ins Auge sehen, dass so, wie die Dinge gegenwärtig stehen, zwei unter Führung der USA einerseits und dem »anti-imperialistischen Deutschlands im Entstehen sind: das eine mehr oder weniger organisiert und demokratischen Lager« unter der Führung Moskaus anderernach dem russischen Modell bzw. im russischen Interesse, das andere nach seits. Die Annahme von Marshall-Plan-Geldern, die auch den ostdem der westlichen Demokratie (…). « europäischen Staaten angeboten wurden, wusste Stalin zu unterDer amerikanische Außenminister Byrnes verkündete in seiner binden. Stuttgarter Rede am 6. September 1946, dass die USA ihre Truppen so lange in Europa belassen würden wie andere Mächte auch. Und da sind die Truppen auch heute noch, d. h. die Rede Byrnes Formierung der Lager markiert einen Wendepunkt in der Weltgeschichte: die USA sind seitdem eine Weltmacht in der Rolle eines »Weltpolizisten«, wie Die Ost-West-Lager formierten sich und schufen zur Absicherung Kritiker sagen, – wenngleich auch diese Rolle nach dem Ende des ihrer Interessenssphären politische, militärische und wirtschaftlivergleichsweise übersichtlichen bipolaren Kalten Krieg immer che Organisationen: die OEEC (Organisation of European Econokomplexer wird. mic Cooperation) u. a. zur Verwaltung der Marshall-Plan-Mittel, den Brüsseler Pakt 1948 (Großbritannien, Frankreich, Benelux) Truman-Doktrin und Marshall-Plan und die NATO 1949 (9 westeuropäische Länder, Kanada und USA) einerseits und den Rat der gegenseitigen Wirtschaftshilfe (RGW/ Der US-Präsident Harry Truman verkündete am 12. März 1947 die COMECON mit Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Tschechonach ihm benannte sog. Truman-Doktrin und versprach darin alslowakei, Albanien und die SU) sowie 1955 das militärische Bündlen »freien Völkern«, die vom Kommunismus bedroht würden, Unnis »Warschauer Pakt« andererseits. terstützung und meinten damit ganz offensichtlich auch die Be1949 zündeten auch die Sowjets ihre erste Atombombe und das förderung der eigenen US-amerikanischen Interessen. später so genannte »Gleichgewicht des Schreckens« sorgt bis Unterfüttert wurden diese Ankündigungen durch den Marshallheute für eine latente Furcht in der Welt, zumal dieses vermeintliPlan im Juni 1947 (Europäisches Wirtschaftsaufbauprogramm/ che Gleichgewicht durch weitere Atommächte und die damit verERP- European Recovery Program), der bis 1952 13,5 Milliarden bundene Weiterverbreitung von Atomwaffen (Proliferation) in eiDollar Hilfsgelder nach Europa spülte und die mittel- und westeuner längst nicht mehr bipolaren Welt heutzutage leicht kippen ropäischen Staaten stabilisieren und gegenüber kommunistikönnte. scher Propaganda und Einflussnahme resistent machen sollte. W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 DuE68_umbr.indd 22 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 Wiederbelebung des politischen Lebens in den Zonen Ein Eigengewicht der westdeutschen Politik gab es zunächst kaum und konnte auch nur ganz allmählich in Einklang mit den Interessen der Siegermächte erarbeitet werden. Immerhin kam der deutschen Politik vor allem im Westen zugute, dass den Westmächten vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, und insbesondere des Koreakrieges daran gelegen sein musste, ein starkes Deutschland als Machtfaktor gegen den Ostblock zu entwickeln. Dasselbe galt umgekehrt für die Deutschen in der SBZ, die ihrerseits von den Sowjets gegen die Westzonen »in Stellung« gebracht werden sollten. Abb. 4 Wahlplakate der CDU und SPD anlässlich des Bundestagswahlkampf 1949 Nachdem Hitler-Deutschland © Konrad-Adenauer-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn keine Gefahr mehr darstellte und aus der Sicht der USA, – So gab es eine Währungsreform in den drei Westzonen mit WirGroßbritanniens und Frankreichs der neue viel gefährlichere kung zum 20. Juni 1948, d. h. die Ablösung der völlig zerrütteten Feind im Osten in Form der Sowjetunion ausgemacht wurde, galt Währung der Reichsmark durch die D-Mark in den Westzonen es, das politische und wirtschaftliche Leben in den Westzonen in und Westberlin ihrem Sinne in Gang zu setzen. Auch in der »Ostzone«, der SBZ – gefolgt von einer Währungsreform in der SBZ. (Sowjetische Besatzungszone) wurden wirtschaftliche und politi– Bereits ab Februar 1948 (23.2.–2.6.1948) tagte die Sechs-Mächtesche Weichen gestellt, wenn auch unter ganz anderen politischen Konferenz (USA, F, GB, und BeNeLux) der Botschafter in London Vorgaben: und empfahl nach längeren Debatten und trotz der Bedenken Einzelne Maßnahmen: Frankreichs die Gründung eines Weststaates in den drei Zonen • Zulassung der demokratischen Parteien CDU, SPD, DVP (FDP), der Westmächte. Die Regierungen der Westmächte schlossen KPD im Westen, sich den Empfehlungen an und übergaben den deutschen Län• Gründung der KPD, der Liberal-Demokratischen Partei (LDPD), derchefs die »Frankfurter Dokumente« am 1. Juli 1948 mit einder SPD, der CDU – noch 1945 – in der SBZ, – Gründung eines deutigen Erwartungen und klaren Aufträgen: Einberufung einer antifaschistischen Blocks der Parteien im Osten im Jahre 1945– verfassungsgebenden Versammlung bis spätesten 1. September 1946: Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED in der SBZ, 1948 mit dem Ziel der Gründung eines Weststaates auf der Basis • Landtagswahlen 1946 und 1947 in Ost und West. – Errichtung einer föderalistisch strukturierten parlamentarischen Demoeines politisch mitwirkenden »Länderrats« mit ernannten Miniskratie immer noch »unter Aufsicht« der Siegermächte, gebunterpräsidenten aus Bayern, Württemberg-Baden und Groß-Hesden an ein »Besatzungsstatut«. sen in der amerikanischen Zone, eines beratenden »Zonenbei– Der parlamentarische Rat – proportional zusammengesetzt aus rats« aus ernannten Vertreter der demokratischen Parteien, der den seit 1947 bestehenden Landtagen der drei Westzonen – disGewerkschaften und der Wirtschaft in der britischen Zone, kutierte das Bonner Grundgesetz, das am 23. Mai 1949 als Pro• Am 1. Januar 1947 Zusammenlegung der britischen und der amevisorium verabschiedet wurde und erst mit einer zukünftigen rikanischen Zone zur Bizone, der dann auf Drängen der USA die Wiedervereinigung seine endgültige Form annehmen sollte. französische Zone angeschlossen wurde. – Die sowjetische Militäradministration (SMAD) zog nach und veranlasste die Gründung der Deutschen Demokratischen RepubTeilung Deutschlands 1949 in BRD und DDR lik im Oktober 1949 und die zügige Umwandlung der SED zu einer marxistisch-leninistischen Kaderpartei. Vorausgegangen Nach dem wiederholtem Scheitern der Außenministerkonferenwaren der Austritt der SU aus dem Alliierten Kontrollrat, eine zen der Siegermächte zur Frage der deutschen Einheit 1946 und Währungsreform im Osten und der erfolglose Versuch mittels 1947 und der Verkündigung der Truman-Doktrin war der Weg der einer Blockade von Westberlin (24.6.1948 bis 12.5.1949), WestTeilung Deutschlands vorgezeichnet. Insbesondere die Westberlin aus dem Machtbereich der Westmächte herauszubremächte ergriffen im Rahmen der Eskalation des Kalten Krieges chen. Die Luftbrücke zur Versorgung Westberlins signalisierte schließlich Zug um Zug Maßnahmen zur Konsolidierung ihre den Westberlinern und den Deutschen, dass nur die WestMachtbereiche in Deutschland. Aus der Retroperspektive ergibt mächte unter Führung der USA gerade bei akuter Kriegsgefahr sich die deutsche Teilung als logische Konsequenz des Kalten die Sicherheit eines westdeutschen Staates gewährleisten Krieges. Die Zeitgenossen mögen das anders wahrgenommen könne. haben. Meist agierten die Westmächte – und die Sowjetunion reagierte: D&E DuE68_umbr.indd 23 Heft 68 · 2014 23 W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 24.11.14 13:39 JOHANNES GIENGER 24 Alternativen der Deutschlandpolitik Die in den Jahren nach 1945 konkurrierenden Optionen der Deutschlandpolitik lassen sich an drei dominierenden politischen Persönlichkeiten festmachen: Jakob Kaiser, Kurt Schumacher und Konrad Adenauer. Jakob Kaiser, Mitbegründer und führender Kopf der CDU in der Britischen Besatzungszone (BBZ), vertrat einen »christlichen Sozialismus« mit Teilverstaatlichung der Wirtschaft insbesondere der Grundstoffindustrien wie Kohle und Stahl und dem Konzept eines geeinten neutralen Deutschland, das als »Brücke« zwischen Ost und West wirken könnte. Seine Vorstellungen waren nicht weit entfernt von der Stalinnote von 1952. Wenn die Vorstellungen eines Jakob Kaisers nicht in das globale machtpolitische Gefüge der Zeit passten, so galt das für die Bestrebungen des SPD-Vorsitzenden der drei WestAbb. 5 Plakat aus der DDR, 19.3. 1952, zum Angebot Stalins über einen Friedensvertrag mit Deutschzonen Kurt Schumacher umso mehr. Zwar land © Bundesarchiv Koblenz fand Schumachers Überzeugung, dass die großen Konzerne wie Krupp oder IG-Farben Während die westeuropäische Gründung der »Gemeinschaft für mit Hitler paktiert und damit den Faschismus und den Zweiten Kohle und Stahl« (»Montan-Union« 18.04.1951) zur Verzahnung Weltkrieg mit verursacht hätten, durchaus breitere Akzeptanz, der europäischen Stahl- und Kohleindustrie noch breite Unterallerdings gingen seine Forderungen nach Sozialisierung von Teistützung in der Öffentlichkeit in Deutschland und Frankreich len der Wirtschaft deutlich weiter als die 1947 im Ahlener Profand, trafen schließlich die Pläne Adenauers zur Wiederbewaffgramm der CDU vorgeschlagenen Maßnahmen, die Jakob Kaiser nung der Bundesrepublik im Rahmen der NATO nach dem Scheigeprägt hatte, zur Kontrolle der Schlüsselindustrien. Zwar stietern der EVG so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweilig auf ßen seine frühe Zustimmung zur Westintegration, zur pluralistiheftigen Widerstand der Deutschen, zumal – so die Befürchtung schen Demokratie sowie seine harsche Ablehnung der SED und Kurt Schumachers – die Wiederbewaffnung den Gegensatz der des »Schmusekurses« der Ost-SPD unter Otto Grotewohl gegenBlöcke verstärke und die Wiedervereinigung blockiere. über den Sowjets gerade bei den Westmächten auf äußerst positive Resonanz, seine deutliche Kritik am amerikanischen Kapitalismus und sein Bestehen auf einem eigenen europäischen Weg »Stalin-Note« – verpasste Chance? des »demokratischen Sozialismus« in scharfer Abgrenzung von den USA sowie seine strikte Ablehnung der Wiederbewaffnung Der Widerstand gegen Adenauer wuchs weiter, als Stalin mit wiekonnten jedoch seitens der Westmächte letztlich keine Unterderholten Noten (z. B. 9.4.1952) mit der deutschen Widervereinistützung erwarten. Kaiser und Schumacher waren beide geprägt gung unter demokratischen Vorzeichen lockte unter der Bedindurch ihre Zeit im Widerstand gegen Hitler und neigten auch dagung des Verzichts Gesamtsdeutschlands auf die vorgesehene durch zur moralischen Bevormundung. Wiederbewaffnung. Konrad Adenauer, seit März 1946 Vorsitzender der CDU in der Der damalige Streitfall lässt sich heute nicht mehr klären. ImmerBBZ, und Vorsitzender der Gesamtpartei 1950 bis 1966, erhielt hin wäre das Opfer der Westmächte größer gewesen als das Stadeutlich größere Unterstützung von den Westmächten. Auch inlins. Nüchtern betrachtet gab es vor dem Hintergrund des Kalten nerparteilich und bei den Wahlen setzte er sich mit seiner »Politik Krieges aus der Sicht der Westmächte keinen vernünftigen Grund, der Stärke« bei unzweideutiger Westorientierung und Beibehaldas industrielle und militärische Potential der Bundesrepublik zu tung marktwirtschaftlicher Prinzipien als deutsche politische neutralisieren anstatt es im Ost-West-Konflikt für sich einzusetFührungsfigur bei den Alliierten und in den westdeutschen Wahzen. Ob die Sowjetunion tatsächlich bereit gewesen wäre, die len knapp durch. Nach seiner Wahl zum Kanzler 1949 und späteDDR und damit ein sicheres Pfand für ein unsicheres neutrales ren deutlichen Wahlerfolgen 1953 und 1957 blieb er unangefochDeutschland aufzugeben, bleibt ebenso fraglich. Publizisten wie ten die westdeutsche Leitfigur mit klaren Prinzipien: durch Paul Sethe, damals Mitherausgeber der FAZ, oder der Historiker Westintegration und Wiederbewaffnung mehr Sicherheit und Rolf Steininger kritisieren allerdings die Haltung Adenauers und staatliche Souveränität in einem integrierten Europa und aus eisprechen von einer »verpassten Chance«. Sie – ähnlich wie Kurt nem starken Bündnis heraus die deutsche Wiedervereinigung. Schumacher, SPD, 1952 und danach – machen Adenauer den VorUnd genügend Anknüpfungspunkte für seine »Politik der Stärke« wurf, die Ernsthaftigkeit der Stalin-Noten nicht überprüft zu hagab es allemal. ben. Die deutsche Einheit von 1989/90 entlastet Adenauer in dieVor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts ser Argumentationskette nicht, zumal sie durch einen historischen (1949 Machtübernahme der Kommunisten unter Mao Tse Tung in Zufall möglich wurde und kein planbares und geplantes Ergebnis China, Beginn des Koreakrieges 1950) forderten die USA dringend der Politik Adenauers sein konnte. die Wiederbewaffnung Deutschlands, und die Außenminister der Trotz der sowjetischen »Störmanöver« (Adenauer) wurde am drei Westmächte vereinbarten am 19.9.1950 – ganz im Sinne Ade26.5.1952 in Bonn und ein Tag später in Paris der »Deutschlandnauers – die Aufstellung einer europäische Armee (»Europäische vertrag« (»Generalvertrag«) unterzeichnet. Artikel 7 bestimmte Verteidigungsgemeinschaft«, EVG), die möglichst bald einer euals gemeinsames Ziel der Westmächte und der Bundesrepublik ropäischen Regierung unterstellt sein sollte. Diese scheiterte alein »wiedervereinigtes Deutschland«, eine demokratische Verfaslerdings am Widerstand der französischen Nationalversammsung und die Integration Deutschlands in die europäische Gelung. W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 DuE68_umbr.indd 24 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 meinschaft. Die Frage der Ostgrenzen sollte in einem späteren Friedensvertrag geregelt werden. Adenauer wähnte sich am Ziel, aus einer »Politik der Stärke« heraus mehr Souveränität erreicht zu haben. Adenauer pochte auf das Alleinvertretungsrecht der Bundesrepublik (»Hallstein-Doktrin«), die allein durch demokratische Wahlen legitimiert sei und der gleichsam selbstverständlich das »nicht-staatliche Gebilde DDR« eines Tages zufallen würde. Als allerdings am 30.8.1954 der EVG-Vertrag und damit das gesamte Vertragspaket von der französischen Nationalversammlung mit Rücksicht auf nationale französische Interessen abgelehnt wurden, war dies ein Schock nicht nur für Adenauer und die ganze Europa-Bewegung, sondern bremste die europäische Integration dauerhaft. Westintegration der BRD Immerhin wurde für den gescheiterten EVG-Vertrag mit dem Beitritt zur NATO ein Ersatz gefunden, und das Ziel der Souveränität wurde mit dem revidierten Deutschlandvertrag auch weitgehend erreicht. Der Deutschlandvertrag war Teil der Pariser Verträge, die 1955 nach der Ratifizierung in Kraft traten: – Beitritt zur NATO und Gründung der Bundeswehr, – Beitritt zur WEU (erweiterter Brüsseler Pakt) verbunden mit Verzicht auf Atomwaffen, – Saarstatut (Internationalisierung der Saar mit Referendum der Bevölkerung im Saargebiet;1957 Entscheid für Deutschland statt Frankreich), – Deutschlandvertrag (Souveränität minus), der das Besatzungsstatut ablöste, Botschafter statt Hoher Kommissare vorsah, Vorbehaltsrechte der westlichen Alliierten alle Fragen Gesamtdeutschland und den Viermächtestatus Berlins betreffend benannte, Anwesenheit alliierter Schutztruppen auf deutschem Boden sicherte. Adenauers Botschaft, »Wir sitzen nun im stärksten Bündnis der Geschichte. Es wird uns die Wiedervereinigung bringen.«, stimmte nur für den ersten Teil der Aussage. Tatsächlich führte die fortschreitenden Westintegration seit 1948 zur fortschreitenden Abgrenzung der SBZ, zur Gründung der DDR 1949, zum Beitritt der DDR zum RGW und 1955 zum Beitritt der DDR zum Warschauer Pakt. Mit dem Bau der Berliner Mauer ab 13.8.1961 war die Teilung einen weiteren großen Schritt vorangegangen. In der Frage der europäischen Integration gab es dank Adenauer deutliche Fortschritte, wenngleich die Hoffnungen auf ein »Vereintes Europa« nach der Ablehnung des EVG-Vertrages durch die französische Nationalversammlung von der Realität eingeholt wurden. Immerhin gründeten Frankreich, Deutschland, Italien und die drei Benelux-Länder die »Europäische Wirtschaftsgemeinschaft« (EWG), einem »Gemeinsamen Markt« mit dem etappenweisen geplanten Abbau der Handels- und Zollschranken. Am 23.5.1957 unterzeichneten die sechs Partnerländer in Rom die Verträge zum »Gemeinsamen Markt« sowie zu einer »Atomgemeinschaft« für die friedliche Nutzung der Atomenergie (EURATOM). Die »Römischen Verträge« bleiben ein Meilenstein der europäischen Integration. Abb. 6 Wahlplakat der CDU zur Bundestagswahl 1957, bei der sie die absolute Mehrheit der Stimmen erreichte. © akg images 25 Görtemaker, Manfred (1999): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Von der Gründung bis zur Gegenwart, München. Schwarz, Hans-Peter (2008): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln u. München. Steininger, Rolf (1985): Eine Chance zur Wiedervereinigung? Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Darstellung und Dokumentation auf der Grundlage unveröffentlichter britischer und amerikanischer Akten, Bonn. Herbert, Ulrich (2014): Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München. Gasteyger, Curt (2006): Europa zwischen Spaltung und Eignung, Darstellung und Dokumentation 1945–2005, Bonn. Internethinweise www.60maldeutschland.de (Filmclips und Kommentare, 1949– 2010) Histoclips, lingua-video (SESAM) – Kurze Filmclips zu vielen Ereignissen der deutschen Geschichte Literaturhinweise Hacke, Christian (1993): Weltmacht wider Willen, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M./Berlin Film-Material: Die Welt im Kalten Krieg, Teil I, 1945–1961, rbvmedien (SESAM) Winkler, Heinrich August (2000): Der lange Weg nach West, Deutsche Geschichte II, Vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, MünchenHillgruber, Andreas (1979): Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit 1945–1963, München Wien. D&E DuE68_umbr.indd 25 Heft 68 · 2014 W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 24.11.14 13:39 JOHANNES GIENGER 26 MATERIALIEN M1 Telegramm des britischen Premierministers Churchill an USA-Präsident Truman, 12. Mai 1945 Die Lage in Europa beunruhigt mich zutiefst. […] Die Zeitungen sind voll von Nachrichten über den massiven Abzug der amerikanischen Armeen aus Europa hinaus. Auch unsere Armeen dürften auf Grund früherer Beschlüsse wesentlich reduziert werden. Die kanadische Armee zieht bestimmt ab. Die Franzosen sind schwach und schwer zu behandeln. Es liegt offen zutage, dass unsere bewaffnete Macht auf dem europäischen Kontinent binnen kurzem dahinschwinden wird und dort nur noch bescheidene Kräfte zur Niederhaltung Deutschlands verbleiben. […] Ich habe mich stets um die Freundschaft M 3 Potsdamer Konferenz, Schloss Cecilienhof in Potsdam, 17. Juli – 2. August 1945. Die drei Alliierten der Russen bemüht; aber ihre falsche Auslefassten Beschlüsse über die Behandlung des besiegten und besetzten Deutschland. – von links: der gung der Jalta-Beschlüsse, ihre Haltung gebritische Premier Winston Churchill, US-Präsident Harry S. Truman und der sowjetische Staatsgen Polen, ihr überwältigender Einfluss auf und Parteichef Josef Stalin. © akg images dem Balkan bis hinunter nach Griechenland, die uns von ihnen in Wien bereiteten Schwierigkeiten, die Verkoppelung ihrer Macht mit der Besetzung und Kontrolle so ungeheurer und weiter Gebiete, ausgeübt, und zwar von jedem in seiner Besatzungszone, sowie gedie von ihnen inspirierte, kommunistische Taktik in so vielen anmeinsam in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Kontrollrates in deren Ländern und vor allem ihre Fähigkeit, lange Zeit große Arden Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen. Soweit dieses meen im Felde stehen zu lassen, beunruhigen mich ebenso sehr praktisch durchführbar ist, muss die Behandlung der deutschen wie Sie. (…) 3. Ein eiserner Vorhang ist vor ihrer Front niedergeBevölkerung in ganz Deutschland gleich sein. gangen. Was dahinter vorgeht, wissen wir nicht. Es ist kaum zu Die Ziele der Besetzung Deutschlands, durch welche der Kontrollrat sich leiten lassen soll, sind: bezweifeln, dass der gesamte Raum östlich der Linie LübeckTriest-Korfu schon binnen kurzem völlig in ihrer Hand sein wird. – Völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands und die Zu all dem kommen noch die weiten Gebiete, die die amerikaniAusschaltung der gesamten deutschen Industrie, welche für schen Armeen zwischen Eisenach und der Elbe erobert haben, die eine Kriegsproduktion benutzt werden kann oder deren Überaber, wie ich annehmen muss, nach der Räumung durch Ihre wachung. […] Truppen in ein paar Wochen gleichfalls der russischen Macht– Die Nationalsozialistische Partei mit ihren angeschlossenen sphäre einverleibt sein werden. Gliederungen und Unterorganisationen ist zu vernichten; […] – Die endgültige Umgestaltung des deutschen politischen Lebens © nach: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Weltkriege und Revolutionen auf demokratischer Grundlage und eine eventuelle friedliche 1914–1945, Geschichte in Quellen, S. 574f. Mitarbeit Deutschlands am internationalen Leben sind vorzubereiten. […] – Kriegsverbrecher und alle diejenigen, die an der Planung oder M 2 Amtliche Verlautbarung über die Konferenz der AlliierVerwirklichung nazistischer Maßnahmen, die Gräuel oder Kriegsten (USA, UdSSR, GB) in Potsdam vom 17. Juli bis verbrechen nach sich zogen als Ergebnis hatten, teilgenommen 2. August 1945. haben, sind zu verhaften und dem Gericht zu übergeben. […] – In ganz Deutschland sind alle demokratischen politischen ParAm 17. Juli 1945 trafen sich der Präsident der Vereinigten Staaten von teien zu erlauben und zu fördern […] Amerika, Harry S. Truman, der Vorsitzende des Rates der Volkskommis– Bis auf Weiteres wird keine zentrale deutsche Regierung errichsare der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Generalissimus J. W. tet werden. Jedoch werden einige wichtige zentrale deutsche Stalin, und der Premierminister Großbritanniens, Winston S. Churchill Verwaltungsabteilungen errichtet werden, an deren Spitze sowie Herr Clement R. Attlee Staatssekretäre stehen, und zwar auf den Gebieten des Finanz[…] Deutschland: Alliierte Armeen führen die Besetzung von ganz wesens, des Außenhandels und der Industrie. Diese Abteilungen Deutschland durch und das deutsche Volk fängt an, die furchtbawerden unter der Leitung des Kontrollrates tätig sein. […] ren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es – Während der Besatzungszeit ist Deutschland als eine wirtzur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt hat und denen es blind geschaftliche Einheit zu betrachten. […] horcht hat, begangen wurden. Auf der Konferenz wurde eine Reparationen aus Deutschland: In Übereinstimmung mit der Übereinkunft erzielt über die politischen und wirtschaftlichen Entscheidung der Krimkonferenz, wonach Deutschland gezwunGrundsätze der gleichgeschalteten Politik der Alliierten in Bezug gen werden soll, in größtmöglichem Ausmaß für die Verluste und auf das besiegte Deutschland in der Periode der alliierten Kontdie Leiden, die es den Vereinten Nationen verursacht hat, und worolle. […] für das deutsche Volk der Verantwortung nicht entgehen kann, Politische Grundsätze: Entsprechend der Übereinkunft über das Ausgleich zu schaffen, wurde folgende Übereinkunft über RepaKontrollsystem in Deutschland wird die höchste Regierungsgewalt rationen erreicht: in Deutschland durch die Oberbefehlshaber der Streitkräfte der 1. Die Reparationsansprüche der UdSSR sollen durch EntnahVereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs, der men aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Französischen und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befrieRepublik nach den Weisungen ihrer entsprechenden Regierungen digt werden. W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 DuE68_umbr.indd 26 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 2. Die UdSSR wird die Reparationsansprüche Polens aus ihrem eigenen Anteil an den Reparationen befriedigen. […] 4. In Ergänzung der Reparationen, die die UdSSR aus ihrer eigenen Besatzungszone erhält, wird die UdSSR zusätzlich aus den westlichen Zonen erhalten: […] Ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsanteile Die Konferenz erzielte folgendes Abkommen über die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn: Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, dass die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muss. Sie stimmen darin überein, dass jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll. […] Die Häupter der drei Regierungen stimmen darin überein, dass bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens die früher deutschen Gebiete östlich der Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entM 5 Flucht, Vertreibungen und Umsiedlungsprozesse infolge des Krieges (1945–1950) lang bis zur Einmündung der © AFDEC, Èditions Nathan, 2014, Paris, in: Klett (Hrsg.)(2006): Deutsch-französisches Geschichtsbuch. Geschichte. Europa und die westlichen Neiße und der Welt seit 1945. Stuttgart/ Leipzig 2006, S. 13E westlichen Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen ziehen und aus dem Vakuum werde ein gesundes und friedliches, Grenze verläuft, einschließlich des Teiles Ostpreußens, der nicht stabiles und freundliches Deutschland steigen. unter die Verwaltung der Union der Sozialistischen SowjetrepubWir haben keine andere Wahl, als unseren Teil von Deutschland – liken gestellt wird und einschließlich des Gebiets der früheren den Teil, für den wir und die Briten die Verantwortung haben – zu Freien Stadt Danzig, unter die Verwaltung des polnischen Staates einer Form von Unabhängigkeit zu führen, die so befriedigend, so kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Begesichert, so überlegen ist, dass der Osten sie nicht gefährden satzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen. kann. Das ist eine gewaltige Aufgabe für Amerikaner. Aber sie © nach: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 13–20, zitiert lässt sich nicht umgehen; und hierüber, nicht über undurchführnach Wanda Kampmann und Berthold Wiegand (Hrsg.)(1980):Politik und Gesellschaft, bare Pläne für eine gemeinsame Militärregierung, sollten wir uns Grundlage und Probleme der modernen Welt, Frankfurt/M. Gedanken machen. Zugegeben, dass das Zerstückelung bedeutet. Aber die Zerstückelung ist bereits Tatsache, wegen der OderNeiße-Linie. Ob das Stück Sowjetzone wieder mit Deutschland M 4 Memoiren des us-amerikanischen Diplomaten George F. verbunden wird oder nicht, ist jetzt nicht wichtig. Besser ein zerKennan zur Situation im Sommer 1945 stückeltes Deutschland, von dem wenigstens der westliche Teil als Prellblock für die Kräfte des Totalitarismus wirkt, als ein ge»Die Idee, Deutschland gemeinsam mit den Russen regieren zu eintes Deutschland, das diese Kräfte wieder bis an die Nordsee wollen, ist ein Wahn. Ein ebensolcher Wahn ist es, zu glauben, die vorlässt. Russen und wir könnten uns eines schönen Tages höflich zurück- 27 © Kennan, George F. (1982): Memoiren eines Diplomaten, München, S. 264 D&E DuE68_umbr.indd 27 Heft 68 · 2014 W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 24.11.14 13:39 JOHANNES GIENGER 28 M6 Rede des amerikanischen Präsidenten Truman vor beiden Häusern des Kongresses, 12. März 1947 Es ist eines der Hauptziele der Außenpolitik der Vereinigten Staaten, Bedingungen zu schaffen, die es uns und anderen Nationen ermöglichen, eine Lebensform zu gestalten, die frei ist von Zwang. Hauptsächlich um diesen Punkt ging es in dem Krieg gegen Deutschland und Japan. Unser Sieg wurde über Länder errungen, die versuchten, anderen Nationen ihren Willen und ihre Lebensform aufzuzwingen. […] In jüngster Zeit wurden den Völkern einer Anzahl von Staaten gegen ihren Willen totalitäre Regierungsformen aufgezwungen. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat immer wieder gegen den Zwang und die Einschüchterungen in Polen, Rumänien und Bulgarien protestiert, die eine Verletzung der Vereinbarungen von Jalta darstellen. (…) Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Weltgeschichte muss fast jede Nation zwischen alternativen Lebensformen wählen. Nur zu oft ist diese Wahl nicht frei. Die eine Lebensform gründet sich auf den Willen der Mehrheit und ist gekennzeichnet durch freie M 8 NATO-Gründung am 4 April 1949 in Washington: North Atlantic Treaty Organization (NATO). Institutionen, repräsentative RegierungsBereits mit dem Brüsseler Vertrag vom 17. März 1948 schlossen sich die westeuropäischen Länder form, freie Wahlen, Garantien für die persönFrankreich, das Vereinigte Königreich von Großbritannien, die Niederlande, Belgien und Luxemliche Freiheit, Rede- und Religionsfreiheit burg zu einem Bündnis für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit sowie zur kolund Freiheit von politischer Unterdrückung. lektiven Selbstverteidigung zusammen. Dieses Bündnis war ursprünglich noch als Versicherung Die andere Lebensform gründet sich auf den gegen eine eventuelle erneute deutsche Aggression vorgesehen. Mit der Berlin-Blockade und dem Februarumsturz in der Tschechoslowakei 1948 rückte eine mögliche kommunistische Bedrohung Willen einer Minderheit, den diese der Mehrdurch den von der Sowjetunion angeführten Ostblock ins Blickfeld. © dpa, picture alliance heit gewaltsam aufzwingt. Sie stützt sich auf Terror und Unterdrückung, auf die Zensur von Presse und Rundfunk, auf manipulierte lichen Atlantik haben sie deshalb beschlossen, ihre Bemühungen Wahlen und auf den Entzug der persönlichen mit dem Ziel der kollektiven Verteidigung zur Aufrechterhaltung Freiheiten. des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen und einigen sich daIch glaube, es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien her auf den folgenden nordatlantischen Vertrag. Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung Artikel 5: Die vertragschließenden Parteien sind sich darüber eidurch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widernig, dass ein bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere von ihnen setzen. Ich glaube, wir müssen allen freien Völkern helfen, damit in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle betrachsie ihre Geschicke auf ihre eigene Weise selbst bestimmen köntet werden soll, und demzufolge haben sie sich dahin geeinigt, nen. Unter einem solchen Beistand verstehe ich vor allem wirtdass jede von ihnen im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs schaftliche und finanzielle Hilfe, die die Grundlage für wirtschaftin Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung einzelner oder liche Stabilität und geordnete politische Verhältnisse bildet. […] mehrerer Staaten, wie es durch Artikel 51 der Satzung der VereinDie freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ten Nationen anerkannt wird, der Partei oder den Parteien, die ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle derart angegriffen werden, beistehen wird, indem sie unverzügzaudern, gefährden wir den Frieden der Welt – und wir schaden lich, einzeln oder in Übereinstimmung mit anderen Teilnehmern, mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation. diejenigen Maßnahmen ergreift, die sie für notwendig hält – ein© nach: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.): Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 576 schließlich der Anwendung von Waffengewalt –, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. (…) M 7 Die NATO: North Atlantic Treaty Organization (1949) © nach: W. Lautemann/M. Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 464f. k Der Nordatlantik-Pakt wurde am 4. April 1949 in Washington von 12 Mächten (Belgien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Vereinigte Staaten) unterzeichnet. Griechenland und die Türkei traten dem Pakt am 18. Februar 1952, die Bundesrepublik Deutschland am 9. Mai 1955 bei. Präambel: Die vertragschließenden Parteien erklären von neuem ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben. Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker zu sichern, die sich auf die Grundsätze der Demokratie, der individuellen Freiheit und der Herrschaft des Rechts begründet. Im Streben nach Förderung der Stabilität und Wohlfahrt im Gebiete des nörd- M9 Besatzungsstatut zur Abgrenzung der Befugnisse und Verantwortlichkeiten zwischen der zukünftigen deutschen Regierung und der Alliierten Kontrollbehörde vom 10. Mai 1949 In Ausübung der obersten Gewalt, welche die Regierungen Frankreichs, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs beibehalten, proklamieren wir, […] hiermit gemeinsam das folgende Besatzungsstatut: […] 2. Um sicherzustellen, dass die Grundziele der Besetzung erreicht werden, bleiben auf folgenden Gebieten Befugnisse ausdrücklich vorbehalten, einschließlich W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 DuE68_umbr.indd 28 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 des Rechts, Auskünfte und Statistiken, welche die Besatzungsbehörden benötigen, anzufordern und nachzuprüfen: a) Die Abrüstung und Entmilitarisierung, einschließlich der damit zusammenhängenden Gebiete der wissenschaftlichen Forschung, die Verbote und Beschränkung der Industrie und die zivile Luftfahrt; b) die Kontrollen hinsichtlich der Ruhr, die Restitutionen, die Reparationen, die Dekartellisierung, die Entflechtung, die Handelsdiskriminierungen, die ausländischen Interessen in Deutschland und die Ansprüche gegen Deutschland; c) auswärtige Angelegenheiten, einschließlich internationaler Abkommen, die von Deutschland oder für Deutschland abgeschlossenen werden; d) kriegsversprengte Personen (displaced persons) und Zulassung von Flüchtlingen; e) Schutz, Ansehen und Sicherheit der alliierten Streitkräfte, Angehörigen, Angestellten und Vertreter, deren Vorrechte, sowie die Deckung der Kosten der Besatzung und ihrer anderen Anforderungen; f) die Beachtung des Grundgesetzes und der Länderverfassungen; g) die Kontrolle über den Außenhandel und Devisenverkehr; […] Dem Parlamentarischen Rat in Bonn mit einer Note übermittelt am 10. April 1949. © Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission in Deutschland, Nr. 1, S. 13ff. M 12 Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher am Rednerpult während einer M 10 Regierungserklärung des Bundeskanzlers Konrad Adenauer, CDU, vom 20. September 1949 Ich habe eben gesagt, wir wünschen möglichst bald in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Wir werden gerne und freudig an dem großen Ziel dieser Union mitarbeiten. Ich weise darauf hin, dass wir in unserer Bonner Verfassung im Artikel 24 für den Bund die Möglichkeit vorgesehen haben, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen und sich zur Wahrung des Friedens im System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen. Es heißt dann in diesem Artikel weiter: »Der Bund wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.« Ich glaube, dass unser Grundgesetz damit die fortschrittlichste aller Verfassungen ist. Wir sind entschlossen, alles zu tun, was in unserer Kraft steht, um den in diesem Artikel vorgezeichneten Weg zur Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt zu gehen. Wenn ich vom Frieden in der Welt und in Europa spreche, dann, meine Damen und Herren, muss ich auf die Teilung Deutschlands zurückkommen. Die Teilung Deutschlands wird eines Tages – das ist unsere feste Überzeugung – wieder verschwinden. (…) Diese Teilung Deutschlands ist durch Spannungen herbeigeführt worden, die zwischen den Siegermächten entstanden sind. Auch diese Spannungen werden vorübergehen. Wir hoffen, dass dann der Wiedervereinigung mit unseren Brüdern und Schwestern in der Ostzone und in Berlin nichts mehr im Wege steht. […] © nach: Die großen Regierungserklärungen von Adenauer bis Schmidt. Eingeleitet und kommentiert von Klaus von Beyme, (1979): München/Wien, S. 53–73 M 11 Rede von Kurt Schumacher über die Sozialdemokratie im Kampf um Deutschland und Europa (Hamburg, 21.–25. Mai 1950): Verehrte Gäste, liebe Genossinnen und Genossen! (…) Die (deutsche) Einheit aber, Genossinnen und Genossen, ist etwas, das weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinausgeht; es umfasst die sowjetische Besatzungszone, Berlin, die Gebiete östlich der Oder und Neiße und das Saargebiet. (Beifall.) […] Hier möchte ich eine grundsätzliche Bemerkung machen. Die heutige Zerreißung Deutschlands ist nicht nur eine nationale Schwächung der Deutschen. Die Illusion, dass ein geteiltes Deutschland ein leicht beherrschbares und ungefährliches D&E DuE68_umbr.indd 29 Heft 68 · 2014 Großkundgebung. Zwischen den Weltkriegen war Schumacher als Redakteur tätig und vertrat die SPD im württembergischen Landtag sowie im Reichstag. Politisch verfolgt saß er zwischen 1933 und Kriegsende fast ununterbrochen in Konzentrationslagern. Im Mai 1946 wurde er von den SPD-Mitgliedern der drei Westzonen zum ersten Vorsitzenden gewählt. Unermüdlich griff er die Adenauer-Regierung an. Zu seinen Hauptkritikpunkten zählten die Demontagen, das Saarproblem, der Eintritt in den Europarat, die Bildung der Montanunion sowie – in besonders scharfen Debatten – die Wehrfrage. Er verstarb am 20. August 1952 in Bonn an den Folgen einer akuten Kreislaufstörung © dpa, picture alliance, Aufnahme um 1948 Deutschland sei, geht allmählich auch bei den Opportunitätspolitikern und bei den Alliierten zurück. Ein geteiltes Deutschland ist doch ein geteiltes Europa und eine geteilte Welt, mit all den wunden Stellen und Krankheitsherden, die eine solche Zerreißung mit sich bringt. Die Teilung Deutschlands ist ein Unglück für Europa und die Welt, und die Einheit Deutschlands ist die Aufgabe der Demokratie in Europa und der Welt. (Starker Beifall.) Ohne die berechtigten Ansprüche der Alliierten und der überfallenen und ausgeplünderten Völker Europas auch nur mit einem Wort bestreiten zu wollen, müssen wir sagen, jetzt kommt allmählich die Erkenntnis zustande: Eine bloße antideutsche Politik ist eine antieuropäische Politik. (Sehr gut.) […] Die Zugehörigkeit zu Europa steht für die große Mehrzahl der Deutschen, außer den Kommunisten und extremen Nationalisten, außerhalb jeder Diskussion. […] Ja, wir bejahen diesen Staat, in dem wir jetzt leben, als Ausgangspunkt einer höheren nationalen Einheit, und wir bejahen diese höhere nationale Einheit als Ausgangspunkt für eine noch höhere internationale Verbindung. (Beifall.) […] Nun sagen unsere Kritiker, die Sozialdemokratie sei negativ. Jawohl, die Sozialdemokratie hat »Nein« gesagt, aber immer war es zu gleicher Zeit ein realistisches, positives, durchdachtes »Ja«. Sie hat Nein gesagt zur Oder-Neiße-Linie. (Beifall.) […] Und die Sozialdemokratie hat Nein gesagt zu dem Ersatz-Europa von Straßburg, unter den Modalitäten der Heranziehung des Saargebietes. Sie sagte damit Nein zu allen konservativ-, klerikal-, kapitalistisch-kartellistischen Versuchen, ein Europa zu schaffen, das aus seiner kapitalistischen Struktur und seinem Mangel an Demokratismus und sozialer Potenz ein leichtes Opfer des östlichen Ansturms wäre. 29 © nach: www.endstation-rechts.de/news/kategorie/politik/artikel/die-spd-deutschland-und-europa-auszuege-aus-einer-rede-kurt-schumachers.html W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 24.11.14 13:39 JOHANNES GIENGER M 13 Bericht des US-Verteidigungsministers Johnson an den Nationalen Sicherheitsrat. Washington, 8.6.1950, Streng geheim! […] Am 2. Mai 1950 gaben die Vereinigten Stabschefs die folgende Stellungnahme zur Deutschlandpolitik ab: »Die vereinigten Stabschefs sind der festen Überzeugung, dass aus militärischer Sicht die angemessene und frühe Wiederbewaffnung Westdeutschlands von grundlegender Bedeutung für die Verteidigung Westeuropas gegen die UdSSR ist. Um sicherzustellen, dass die Arbeitskraft und die Rohstoffe des deutschen Volkes eine Quelle der konstruktiven Stärke für die freie Welt werden, anstatt wiederum zu einer Bedrohung – allein oder gar gemeinsam mit der UdSSR-, sollte die gegenwärtige Politik der Abrüstung und Entmilitarisierung im Hinblick auf Westdeutschland geändert werden. Den Westdeutschen sollte so schnell wie möglich die (…) Gelegenheit gegeben werden, sich an regionalen Vereinbarungen Westeuropas und der Nord-Atlantik-Staaten zu beteiligen. © nach: Erst-Otto Czempiel, Carl-Christoph Schweitzer (1989): Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente. Bonn. S. 115 M 14 Zweite Note der sowjetischen Regierung an die Westmächte über den Friedensvertrag mit Deutschland vom 9. April 1952 30 Im Zusammenhang mit der Note der Regierung der Vereinigten Staaten vom 25. März dieses Jahres erachtet es die Sowjetregierung für notwendig, folgendes zu erklären: In ihrer Note vom 10. März 1952 hat die Sowjetregierung der Regierung der Vereinigten Staaten sowie den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs vorgeschlagen, unverzüglich die Frage eines Friedensvertrages mit Deutschland zu erörtern, um in unmittelbarer Zukunft einen vereinbarten Entwurf für einen Friedensvertrag vorzubereiten. Zur Erleichterung der Vorbereitung des Friedensvertrages hat die Sowjetregierung einen Entwurf der Grundlagen des Friedensvertrages mit Deutschland unterbreitet und ihr Einverständnis erklärt, auch beliebige andere Vorschläge zu erörtern. Die Sowjetregierung hat dabei den Vorschlag gemacht, dass der Friedensvertrag unter unmittelbarer Beteiligung Deutschlands, vertreten durch eine gesamtdeutsche Regierung, ausgearbeitet werden soll. In der Note vom 10. März wurde weiterhin vorgesehen, dass die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich, die Besatzungsfunktionen in Deutschland ausüben, die Frage der Voraussetzungen für die möglichst baldige Bildung einer gesamtdeutschen, dem Willen des deutschen Volkes Ausdruck verleihenden Regierung prüfen sollen. […] In Übereinstimmung hiermit erachtet es die Sowjetregierung für notwendig, dass die Regierungen der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs ohne Verzug die Frage der Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen erörtern, wie sie dies bereits früher vorgeschlagen hat. Die Anerkennung der Notwendigkeit der Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen durch die Regierungen der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs schafft durchaus die Möglichkeit, diese Wahlen in unmittelbarer Zukunft durchzuführen. […] »Deutschland verpflichtet sich, keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am Kriege gegen Deutschland teilgenommen hat.« Die Sowjetregierung ist der Ansicht, dass ein solcher Vorschlag den Interessen der Mächte, die Besatzungsfunktionen in Deutschland ausüben, sowie auch der Nachbarstaaten und gleichermaßen den Interessen Deutschlands selber als eines friedliebenden und demokratischen Staates entspricht. Ein solcher Vorschlag enthält keine unzulässige Beschränkung der souveränen Rechte des deutschen Staates. Dieser Vorschlag schließt jedoch auch eine Einbeziehung Deutsch- M 15 DDR-Plakat zur Stalin-Note 1952: Der sowjetische Staats- und Parteichef Stalin hatte den West-Alliierten und der Bundesrepublik Deutschland 1952 angeboten, die deutsche Einigung zu ermöglichen, wenn Gesamtdeutschland auf eine Wiederbewaffnung verzichten und politische Neutralität im Ost-West-Konflikt akzeptieren würde. © Bundesarchiv Koblenz lands in eine gegen irgendeinen friedliebenden Staat gerichtete Mächtegruppierung aus. In dem sowjetischen Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland heißt es: »Es wird Deutschland gestattet sein, eigene nationale Streitkräfte (Land-, Luft- und Seestreitkräfte) zu besitzen, die für die Verteidigung des Landes notwendig sind.« […] Was die Grenzen Deutschlands betrifft, so hält die Sowjetregierung die entsprechenden Beschlüsse der Potsdamer Konferenz, die von der Regierung der Vereinigten Staaten ebenso wie von den Regierungen der Sowjetunion und Großbritannien angenommen wurden und denen Frankreich sich anschloss, für vollauf ausreichend und für endgültig. […] © nach: Europa-Archiv, 1952, 1, S. 4866f., www.hdg.de/lemo/html/dokumente/ JahreDesAufbausInOstUndWest_schreibenZweiteStalinNote/ M 16 Adenauers Rede vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU in Siegen, 16. März 1952 Es gibt drei Möglichkeiten für Deutschland: Den Anschluss an den Westen, Anschluss an den Osten und Neutralisierung. Die Neutralisierung aber bedeutet für uns die Erklärung zum Niemandsland. Damit würden wir zum Objekt und wären kein Subjekt mehr. Ein Zusammenschluss mit dem Osten aber kommt für uns wegen der völligen Verschiedenheit der Weltanschauungen nicht in Frage […] Die Sowjetnote schlägt vor, dass eine gesamtdeutsche Regierung geschaffen wird. Eine gesamtdeutsche Regierung kann aber nur geschaffen werden auf Grund gesamtdeutscher W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 DuE68_umbr.indd 30 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:39 und freier Wahlen! Morgen wird die UNO-Kommission, die die Voraussetzungen für die Abhaltung freier Wahlen bei uns und in der Sowjetzone prüfen soll, in Bonn eintreffen. Ich habe den dringenden Wunsch, dass die Sowjetregierung gefragt wird: »Wirst du bereit sein, die UNO-Kommission in der Sowjetzone und in Berlin zuzulassen?« Aus der Antwort hierauf wird man seine Schlüsse ziehen können […] Und nun lassen Sie mich noch ein Wort zu dieser Sowjetnote sagen: Im Grunde genommen bringt sie wenig Neues. Abgesehen von einem starken nationalistischen Einschlag will sie die Neutralisierung Deutschlands und sie will den Fortschritt in der Schaffung der europäischen Verteidigungsgemeinschaft und in der Integrität von Europa verhindern. Es soll sich aber kein Deutscher dadurch täuschen lassen, dass die Sowjetregierung einem Gesamtdeutschland eine eigene Wehrmacht zubilligen wird. Seit 1940 ist die Entwicklung in der Waffentechnik so ungeheuer fortgeschritten, dass Deutschland gar nicht in der Lage ist, die Einheiten einer Wehrmacht mit modernen Waffen auszustatten. Es ist dazu nicht in der Lage, weil ihm die nötigen Fabrikationsund Forschungsstätten fehlen und weil es auch nicht die erforderlichen Geldmittel aufbringen kann. Es gehören ungeheure Summen dazu, auch nur einige Divisionen auszurüsten, Mittel, an die wir gar nicht denken können, und deshalb ist dieser Teil der sowjetrussischen Note weiter nichts als Papier und sonst gar nichts! […] Wir wollen, dass der Westen so stark wird, dass er mit der Sowjetregierung in ein vernünftiges Gespräch kommen kann, und ich bin fest davon überzeugt, dass diese letzte sowjetrussische Note ein Beweis hierfür ist. Wenn wir so fortfahren, wenn der Westen unter Einbeziehung der Vereinigten Staaten so stark ist, wie er stark sein muss, wenn er stärker ist, als die Sowjetregierung, dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Sowjetregierung ihre Ohren öffnen wird. Das Ziel eines vernünftigen Gesprächs zwischen Westen und Osten aber wird sein: Sicherung des Friedens in Europa, Aufhören von unsinnigen Rüstungen, Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und eine Neuordnung im Osten. © nach: Siegener Zeitung, 17. März 1952. www.konrad-adenauer.de/dokumente/reden/ rede-eak M 17 Gustav Heinemann, SPD, über Wiederbewaffnung und Westintegration Vor allem ist es objektiv widersinnig, die deutsche Einheit durch Eingliederung Westdeutschlands in den Westblock zu suchen. Westdeutsche Aufrüstung wird den Eisernen Vorhang dichter schließen. Die Deutschen in der Sowjetzone haben Kriegs- und Rüstungsdienst für die Sowjetunion als Antwort auf unsere Eingliederung in den Westblock zu erwarten. Ein Keil wird den anderen treiben, mit dem Ergebnis, dass eine friedliche Widervereinigung Deutschlands immer aussichtsloser wird. Und auf der anderen Seite sollten uns die heute schon unausgesetzt vorgetragenen Besorgnisse der Westmächte, sonderlich Frankreichs, gegenüber einer zu stark werdenden westdeutschen Bundesrepublik endlich darüber belehren, dass diese Partner kein Interesse daran haben, mit uns den Weg zu einem Deutschland zu suchen und zu gehen, welches auch den deutschen Osten umfassen wird. Auch die Spaltung Deutschlands ist eine Lösung der Deutschlandfrage. Sie ist es für alle diejenigen, welche bei einer Wiedervereinigung Deutschlands ihre gegenwärtigen Positionen in Frage gestellt sehen oder gar von vornherein verloren geben müssen. Wenn wir uns die Befürworter der kleineuropäisch-westdeutschen Lösung daraufhin ansehen, so wird manches sehr nachdenklich machen. Darüber werden auch keine Deklarationen hinwegführen, die etwa jetzt im Zusammenhang mit einer Eingliederung der Bundesrepublik abgegeben werden. Wir stehen hier vor einer bündigen Alternative: Die Einheit Deutschlands wird nur dann wieder zustande kommen, wenn sich West- und Ostdeutschland nicht in den Blockbildungen der Weltmächte verlieren. D&E DuE68_umbr.indd 31 Heft 68 · 2014 M 18 Der Bundestagsabgeordnete Dr. Gustav Heinemann sprach am 19. April 1958 in Frankfurt am Main auf einer Kundgebung der SPD. Rund 4000 Menschen nahmen an der Veranstaltung teil, die unter dem Motto »Atomrüstung ist ein tödliches Experiment« stand. Gustav Heinemann war 1949–1950 Bundesinnenminister, CDU, 1952 Mitbegründer der GVP (Gesamtdeutsche Partei). 1957 erfolgte sein Übertritt zur SPD, 1969– 1974 war Heinemann erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, den die SPD nach 1949 stellte. © dpa, picture alliance 31 Das andere Argument lautet: Deutschland kann nicht neutral bleiben, sonst wird es ein Opfer des Bolschewismus. Mit diesem Argument soll abgefangen werden, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands uns in militärischer Hinsicht zwangsläufig in eine Mittelstellung zwischen Ost und West bringen wird. (…) Wenn Westdeutschland nicht aufrüstet, entsteht noch lange kein neutralisiertes Deutschland. Wohl aber werden alle die Gefahren vermieden, welche mit westdeutscher Aufrüstung verbunden sind. Auch eine gesamtdeutsche Regierung bedeutet noch keine Neutralisierung. Deutschland könnte auch unter einer gesamtdeutschen Regierung zunächst noch ein besetztes Land sein, so wie Österreich unter einer gesamtösterreichischen Regierung immer noch ein besetztes Land ist. (…) Erst wenn Deutschland von allen Besatzungsmächten geräumt wird, entsteht die Frage seines Schutzes gegen eine Antastung seiner Ordnung oder seines Gebietes. Es muss schon eine große Entspannung des Weltkonfliktes eingetreten sein, ehe die vier Besatzungsmächte sich über eine gemeinsame Räumung Deutschlands verständigen. Dann aber sieht ohnehin alles nicht mehr so beängstigend aus wie heute. (…) © nach: S Heinemann, G. W., Verfehlte Deutschlandpolitik. Irreführung und Selbsttäuschung. Artikel und Reden. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1969, S. 25ff.; zit. nach: Wilmes, H., Materialien zum Kursunterricht Geschichte, 2. Aufl. Köln 1999, S. 340f W e s t d e u t s c h l a n d u n d d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n a c h 19 4 5 24.11.14 13:40 EUROPA NACH 1945 4. Die Sowjetisierung Osteuropas und Ostdeutschlands HERBERT KOHL A 32 ls Lenin und die Bolschewiki 1917 die Macht übernahmen, waren sie davon überzeugt, dass der im russischen Zarenreich eingetretene revolutionäre Prozess auf die anderen europäischen Staaten übergreifen und anschließend die ganze Welt erfassen würde. Die 1920er Jahre zeigten jedoch, dass die Idee einer proletarischen Weltrevolution eine Illusion bleiben sollte. Mehr noch: Das Gegenteil der von den Bolschewiki verkündeten Vision trat ein. Zunehmend setzten sich in den west- und mitteleuropäischen Staaten antikommunistische, rechtsgerichtete Regierungen mit autoritären und faschistischen Ideologien durch. Stalin, der die Parole vom »Sozialismus in einem Land« ausgegeben hatte, ging daher in den dreißiger Jahren zu einer Außenpolitik der »kollektiven Sicherheit« über und schuf ein Netz von Verträgen, das die Sowjetunion aus der lange geübten Isolation holen sollte. Auch der von vielen Zeitgenossen als kaum begreiflich empfundene deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt des Jahres 1939, der zur Aufteilung Polens und anderer osteuropäischer Gebiete unter den beiden Diktatoren führte, ist in diese pragmatisch orientierte Strategie der Friedenssicherung einzuordnen. Der Zweite Weltkrieg, von Hitler als Vernichtungskrieg gegen den Bolschewismus geplant, gab der Sowjetunion als Siegermacht die Möglichkeit, ihr politisches System in ganz Ost- und Südosteuropa zu verbreiten und zur macht aufzusteigen. Abb. 2 Potsdamer Konferenz der drei Siegermächte des Zweiten Weltkrieges vom 17.7. bis 2.8.1945. Winston Churchill (GB), George Truman (USA, Präsident F. D. Roosevelt war kurz zuvor gestorben) und Stalin (UdSSR) vor dem Schloss Cecilienhof, dem Konferenzgebäude in Potsdam. Aufnahme Ende Juli 1945. Später wird Churchill wegen der Wahlen in GB durch Clement Attlee (Labour-Party) ersetzt. © dpa, picture alliance Super- Abb. 1 »Entwurf für ein Siegerdenkmal«. Karikatur in der Schweizer Illustrierten vom 11.4.1945. Auf dem »Pferd« links Stalin, rechts F. D. Roosevelt und Churchill. Die Schlange trägt die Gesichtszüge von Adolf Hitler. Die Konferenz der drei Alliierten von Jalta lag gerade erst zwei Monate zurück und die Potsdamer Konferenz fand von Juli bis August 1945 statt. © René Gilsi, Kantonsbibliothek Vadiana, St. Gallen, ProLitteris, ursprünglich: Schweizer Illustrierte, 1945 USA und UdSSR: Von der Kooperation zur Konfrontation Im März 1946 sprach Winston Churchill, der im Jahr zuvor als Premierminister die britischen Unterhauswahlen verloren hatte, in seiner berühmt gewordenen Fultoner Rede in den USA zum ersten Mal öffentlich vom »eisernen Vorhang«, der über dem europäischen Kontinent zwischen Ostsee und Adria niedergegangen sei. Aus den Staaten der ehemaligen Anti-Hitler-Koalition, den USA, Großbritannien und der UdSSR waren Gegner geworden, die nun – jeder auf seine Weise – versuchten, ihren Einfluss in den neu entstehenden Machtblöcken zu sichern. Russland, so Churchill in seiner Rede, wolle zwar nicht den Krieg, aber die Ausdehnung seiner Macht und die Verbreitung seiner Doktrin. Bereits kurz nach Kriegsende prägte man für diesen Zustand den Begriff des »Kalten Krieges«. Dabei waren nicht nur innereuropäische, sondern auch globale Kräfte wirksam. Als die Sowjetunion versuchte, ihren Einfluss auf Persien, die Türkei und Griechenland auszudehnen und Forderungen nach Stützpunkten im ehemals italienisch beherrschten Libyen erhob, antwortete Washington mit der »Containment«-Politik (Eindämmungspolitik), auch bekannt als Truman-Doktrin. Harry S. Truman hatte nach dem Tod Roosevelts 1945 die US-Präsidentschaft übernommen. Im Gegenzug formulierte Andrei Shdanow, ein ranghoher KPdSU-Funktionär, die »Zwei-Lager-Theorie«, nach der sich nun auf der Welt zwei feindliche Lager unversöhnlich gegenüberstünden, das »imperialistische und antidemokratische« unter Vorherrschaft der USA und das »antiimperialistische und demokratische« unter Führung der Sowjetunion. Die Sowje tisierung Os teuropa s und Os tdeutschl ands DuE68_umbr.indd 32 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 In aller Deutlichkeit zeigte sich die globale Dimension des Ost-West-Konflikts in der von Moskau unterstützten kommunistischen Machtübernahme in China im Jahr 1949 und im 1950 beginnenden Koreakrieg. Auch in der Wirtschaftspolitik taten sich Gräben auf. Die Sowjetunion trat dem nach der Konferenz von Bretton Woods im Juli 1944 gegründeten Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank nicht bei, ebenso verweigerte sie 1947 den im Welthandelsabkommen GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) getroffenen Absprachen ihre Zustimmung. Im selben Jahr untersagte sie ihren neuen Verbündeten in Osteuropa, vor allem Polen und der Tschechoslowakei, Gelder aus dem Marshall-Plan, einem groß angelegten US-Hilfsprogramm zum Wiederaufbau Abb. 3 Die Sowjetunion und die europäischen »Volksdemokratien« Europas, anzunehmen. Neben © 1992 by Hachette Livre, Paris Karte: Rudolf Hungreder, Leinfelden, In: Das europäische Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis ins 21. Jahrden machtpolitischen, gab es hundert. Eine europäische Initiative von Frédéric Delouche. Lizenzausgabe bei bpb , Bonn 2013 für diesen Schritt auch wirtschaftliche Erwägungen: Staren in Polen wie auch in den anderen osteuropäischen Staaten lin wollte die vollständige Bindung Europas an den Dollarraum und eine kleine Minderheit, die ihren Einfluss durch die sowjetische die USA als Wirtschaftsmacht verhindern. Damit war der Umbau Protektion entscheidend ausweiten konnte. Im Januar 1945 erdes sowjetischen Machtbereichs zu einem eigenen Wirtschaftsklärte sich das Lubliner Komitee in Warschau zur provisorischen raum vorprogrammiert. Regierung, die von Moskau auch sogleich anerkannt wurde. In Ländern wie Ungarn oder Rumänien ging die sowjetische FühSchauplatz Osteuropa: Die Anfänge der rung wesentlich härter vor, da diese als Bündnispartner Hitlers Sowjetisierung am Krieg gegen die UdSSR beteiligt gewesen waren und von Stalin im Gegensatz zu Polen als Feindstaaten betrachtet wurden. Als sich die »Großen Drei« Roosevelt, Churchill und Stalin zum Diese Maßnahmen riefen in vielen betroffenen Ländern beersten Mal im Rahmen der Anti-Hitler-Koalition im November trächtlichen Widerstand hervor, vor allem in Polen. Die polnische 1943 auf der Konferenz von Teheran trafen, gelang es dem sowjeUntergrundarmee, die den deutschen Besatzungstruppen im tischen Diktator, den weiteren Kriegsverlauf zu seinen Gunsten Warschauer Aufstand vom Sommer 1944 einen erbitterten Kampf zu beeinflussen. Er konnte den Plan der Westalliierten, in Südostgeliefert hatte, wandte sich nun gegen die neuen Machthaber. europa eine zweite Front zu errichten, abwenden. Stattdessen Die etwa 100.000 Mitglieder der sogenannten Heimatarmee entschied man sich auf angloamerikanischer Seite für eine Front kämpften bis Ende der 1940er Jahre gegen die Sowjetarmee, am in Westeuropa. So erfolgte im Jahr 1944 der Angriff auf Frankreich Ende jedoch erfolglos. Ähnlich erbitterte Kämpfe gab es im baltiüber die Normandie. Auf der letzten Kriegskonferenz in Potsdam schen Raum. Ziel der dort agierenden Milizen war es, die durch legte man in einer bereits von gegenseitigem Misstrauen geprägden Hitler-Stalin-Pakt von 1939 verloren gegangene Unabhängigten Atmosphäre einen gemeinsamen Plan für die weitere Behandkeit wiederzuerlangen, doch auch diese Versuche blieben verlung des Hauptgegners Deutschland fest. Zentral waren die »vier geblich. Ds«: Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentralisierung und Demokratisierung. Doch das in Potsdam beschlossene Programm Methoden der Sowjetisierung war ein brüchiger Kompromiss. Die Westalliierten hatten allen Grund, Stalin zu misstrauen. Die In ihrem 2013 auf deutsch erschienenen Buch »Der eiserne VorSowjetunion hatte beim Vormarsch der Roten Armee bereits Tathang« beschreibt die amerikanische Historikerin Anne Applesachen geschaffen, die den eigenen politischen Einfluss in den baum vier Schlüsselelemente, die von der UdSSR in die von der »befreiten« Gebieten dauerhaft sichern sollten. Sowjetische Roten Armee besetzten Gebiete »importiert« wurden: Truppen standen nicht nur in Ost- und Mitteldeutschland, son1. In Zusammenarbeit mit der jeweiligen kommunistischen Pardern auch in Polen, Ungarn, dem Osten Österreichs sowie weiten tei baute der sowjetische Geheimdienst NKWD eine GeheimTeilen des Balkans. Lediglich die Tschechoslowakei war größtenpolizei nach eigenem Vorbild auf, die – häufig nach vorher erteils unbesetzt geblieben. Bereits im Juli 1944 hatte Stalin bei der stellten Listen – die politischen Feinde durch Verhaftung, Befreiung Ostpolens das sogenannte Lubliner Komitee (»KomiDeportation oder Ermordung ausschaltete. Angehörige dieser tee der nationalen Befreiung«) unter dem Kommunisten BoleGeheimpolizeien übernahmen das Innenministerium und oft slaw Bierut als neue Regierung Polens anerkannt und damit der auch das Verteidigungsministerium, also die Schaltstellen der von den Westalliierten unterstützten polnischen Exilregierung in staatlich legitimierten Gewalt. London die Zusammenarbeit verweigert. Die Kommunisten wa- D&E DuE68_umbr.indd 33 Heft 68 · 2014 33 Die Sowje tisierung Os teuropa s und Os tdeutschl ands 24.11.14 13:40 HERBERT KOHL Da diese jedoch zur Wahl nicht zugelassen waren, errang die Volksfront rund neunzig rund Prozent der Stimmen. Was waren Stalins Motive? 34 Auch wenn die Kommunistischen Parteien in keinem europäischen Land über freie Wahlen an die Macht kamen, konnten sie ihre bei Kriegsende noch geringe Unterstützung (in Polen 30.000 Mitglieder bei 35 Millionen Einwohnern) doch deutlich vergrößern. Die in weiten Bevölkerungskreisen verbreitete Meinung, eine bis 1945 dagewesene Allianz aus Faschismus und Kapitalismus habe den europäischen Kontinent und das eigene Land in den Abgrund gestürzt, bildete einen idealen Nährboden für Forderungen nach Zwangsenteignungen von Wirtschaftsunternehmen und Großgrundbesitzern. Abb. 4 1. Mai-Parade 1949 nach dem kommunistischen Staatsstreich in der ČSR 1948 © akg images Nach Berichten westlicher Diplomaten, die ihm begegnet waren, besaß Stalin keinerlei 2. In allen besetzten Ländern übergaben die Sowjets einheimiVerständnis für die westliche Form der Demokratie. Für ihn lag die schen Kommunisten die Kontrolle über die Rundfunkanstal»wahre« Demokratie in der Herrschaft der Werktätigen, also der ten. Zwar konnten in den meisten osteuropäischen Staaten Arbeiter und Bauern, ganz im Sinne des orthodoxen Marxismusnoch einige Zeit nach der Besetzung durch die Rote Armee Leninismus. Auf diese Weise entstand ein neues, in den meisten nichtkommunistische Zeitungen erscheinen, doch mit dem Ländern als Volksdemokratie bezeichnetes Politik- und WirtRadio beherrschten die Kommunisten ein Instrument der schaftsmodell. Als Ende der vierziger Jahre deutlich wurde, dass Massenbeeinflussung, das in den dreißiger Jahren zu einem sich diese nun »sozialistisch« gewordenen Staaten mehr und mehr neuen Leitmedium aufgestiegen war. zu Abbildern des sowjetischen Stalinismus entwickelten, schlug 3. Gemeinsam behinderten sowjetische und einheimische Komdas Pendel in die andere Richtung aus und es kam zu teilweise munisten die Arbeit unabhängiger Organisationen. Ihr besonerdbebenartigen Aufständen gegen die als sowjetische deres Augenmerk galt dabei politischen und kirchlichen JuMarionetten betrachteten Machthaber, so 1953 in der DDR und gendorganisationen, die wie die politischen Parteien und unabhängigen Gewerkschaften streng kontrolliert und anschließend verboten wurden. Vielerorts wurden antifaschistische Gruppen, die schon gegen die deutschen Besatzer gekämpft hatten, auf diese Weise zum Objekt einer doppelten Verfolgung. 4. In vielen von der Roten Armee besetzten Ländern führten die sowjetischen Behörden ethnische Säuberungen durch, oft in Zusammenarbeit mit den lokalen kommunistischen Organisationen. Millionen von Deutschen, Polen, Ukrainern und Ungarn mussten ihre oft seit Jahrhunderten angestammten Wohnsitze verlassen und unter unwürdigen Bedingungen den Weg in ein ungewisses neues Leben in hunderten Kilometern Entfernung antreten. Am tiefgreifendsten war der Bevölkerungstransfer, der aus der in Jalta Anfang 1945 beschlossenen Westverschiebung Polens resultierte: Über sieben Millionen Deutsche wurden aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße nach Westen zwangsumgesiedelt. Gleichzeitig wurden etwa 1,5 Millionen Polen aus dem von Stalin annektierten Ostpolen gegen ihren Willen in den Westen Polens umgesiedelt, zwei Drittel davon in die ehemals deutschen Gebiete (Snyder, Bloodlands, S 329/ Applebaum, Der Eiserne Vorhang, S. 168). Teilweise ließen die sowjetischen Besatzer am Anfang noch freie Wahlen zu. Als klar wurde, dass auf diesem Weg die Macht nicht zu gewinnen war, ging man andere Wege. In der Tschechoslowakei, wo die KP 1946 nur ein Drittel der Stimmen gewonnen hatte, zeichnete sich für die 1948 anstehenden Wahlen sogar noch ein wesentlich schlechteres Ergebnis ab. Um ihre Macht nicht zu verlieren, inszenierte die dortige KP 1948 in Prag einen Staatsstreich. Im nicht sowjetisch besetzten Jugoslawien gewannen die Kommunisten im November 1945 die Wahlen unter ihrem charismatischen Führer Josip Broz, genannt Tito, die allgemeinen Wahlen auf insgesamt sehr zweifelhafte Weise: In den Wahllokalen waren jeweils zwei Urnen aufgestellt, eine für die von den Kommunisten Abb. 5 »Westalliierte im Stalin-Theater« © Nebelspalter, Schweiz 1948 beherrschte Volksfront und eine für die oppositionellen Parteien. Die Sowje tisierung Os teuropa s und Os tdeutschl ands DuE68_umbr.indd 34 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 1956 in Ungarn und Polen. In Rumänien, Bulgarien, der CSR und Albanien blieb es dagegen ruhig, auch in Jugoslawien, das sich unter Tito seit 1948 aus dem sowjetischen Machtbereich gelöst hatte und später zu einer wichtigen Kraft in der Bewegung der blockfreien Staaten wurde. Stalins Motive für die Umgestaltung Osteuropas waren in erster Linie nicht ideologischer, sondern macht- und geopolitischer Natur. In einem Gespräch mit einem amerikanischen Regierungsbeamten sagte er im Mai 1945, Polen sei für Russland »von lebenswichtigem Interesse«, um es vor künftigen Invasionen zu schützen. Stalin dachte dabei an eine »geostrategische Magistrale«, also eine Art Sicherheitslinie zwischen West- und Osteuropa. So entstand, was die Diktion des Kalten Krieges die »SatelAbb. 6 Karikatur aus Großbritannien zu Stalins Salami-Taktik litenstaaten« Moskaus und © Leslie Gilbert Illingworth, GB, Juni 1947, www.llgc.org.uk/illingworth/index_s.htm die spätere Geschichtsschreibung den cordon sanitaire der Sowjetunion nannte. Nicht vergessen sollte man in diesem der Sowjetunion mit dem Ziel, die geplante Wiederaufrüstung Zusammenhang, dass die Wehrmacht auf ihrem Rückzug an der Westdeutschlands und seine Integration in ein westliches MilitärOstfront verwüstete Landschaften zurückgelassen hatte – eine bündnis zu torpedieren, was zur Zurückweisung der Note führte. Tatsache, die in der westlichen Geschichtsschreibung bisher Bis auf den heutigen Tag diskutieren Historiker und Publizisten kaum Beachtung gefunden hat. Zerstört wurden nach den Akten kontrovers über die Stalinnote. Die Mehrheit geht davon aus, dass der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse beispielsweise 70.000 Stalins Offerte von taktischen Motiven geleitet und im Grunde Dörfer und Siedlungen, 32.000 Industrieunternehmen, 65.000 Kinicht ernst gemeint war. Andere Historiker sahen darin dagegen lometer Eisenbahnlinien und 10.000 Kilometer Hochspannungsein ernsthaftes Angebot und eine frühe Möglichkeit zur deutleitungen. Neben den ungeheuren Menschenverlusten, allein schen Wiedervereinigung, so etwa Wilfried Loth, der die DDR rund 20 Millionen Tote auf dem Boden der UdSSR, waren dies deshalb als Stalins »ungeliebtes Kind« bezeichnet hat. Kriegsfolgen, die Stalin dazu veranlassten, in den neuen Einflussgebieten Objekte für den eigenen wirtschaftlichen Nutzen zu sehen, zumal in etlichen osteuropäischen Ländern die Wirtschaftsleistung vor dem Krieg höher gewesen war als in der Sowjetunion. Jugoslawien, Finnland und Österreich spielten in den geostrategischen Überlegungen Stalins keine zentrale Rolle, letzteres auch weil der österreichische Sozialistenführer und Präsident Karl Renner das Vertrauen Stalins genoss (Stöver, Der Kalte Krieg, S. 50). Im Falle Österreichs führte dies 1955 zum Staatsvertrag mit den vormaligen Besatzungsmächten und zur anschließenden Erklärung der »immerwährenden Neutralität« Österreichs, was den Abzug der alliierten Besatzungstruppen zur Folge hatte. Großes Aufsehen erregte Stalin mit seiner an die drei Westalliierten gerichteten Note vom März 1952, in der er vorschlug, alle Besatzungstruppen zurückzuziehen und Deutschland als »einheitlichen Staat« wiederherzustellen (sog. »Stalinnote«). Es sollte eine eigene Armee bekommen, politisch neutral Abb. 7 Während einer Demonstration für politische Reformen in Ungarn. Am 23. Oktober 1956 wurde und damit blockfrei werden. Bundeskanzler das Stalin-Denkmal am Hosöktere in Budapest gestürzt und über drei Kilometer ins Stadtzentrum Adenauer und die Westalliierten sahen darin geschleift. © E. Smashing, 31.10.1956, akg images allerdings nur ein politisches Störmanöver D&E DuE68_umbr.indd 35 Heft 68 · 2014 35 Die Sowje tisierung Os teuropa s und Os tdeutschl ands 24.11.14 13:40 HERBERT KOHL 36 Abb. 5 »Tarantel«. Satirische Monatsschrift der DDR. DDR-kritisches Satiremagazin. Von 1950–1962 erschienen 124 kostenlose Ausgaben, die in West-Berlin gedruckt und in die DDR geschmuggelt wurden, wo deren Besitz und Vertrieb unter Strafe stand, Heft 13, Oktober 1951. © akg images1 – eine rigorose Entnazifizierung, die einer politischen Säuberung gleichkam: bis Ende 1946 waren 390.000 ehemalige NSDAP-Mitglieder entlassen bzw. nicht wieder eingestellt worden Diese und weitere Maßnahmen führten über die von der SED initiierte Volkskongressbewegung am 7. Oktober zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Nachdem die SED ihre Macht gesichert hatte, setzte allerdings rasch eine weitere Verschärfung des politischen Kurses ein, die zur Übernahme verschiedener Elemente des Sowjetsystems Stalinscher Prägung führte, etwa der Personenkult, eine doktrinäre Ideologie, der Aufbau der SED zu einer »Partei neuen Typs«, der konsequente Einsatz der Justiz als Mittel der politischen Repression, die Fünfjahrespläne, die Kollektivierung der Landwirtschaft und anderes. So gesehen beschreibt der in der historischen Forschung noch relativ junge Begriff der »Sowjetisierung« einen zweistufigen Prozess: In der unmittelbaren Nachkriegszeit sicherte sich die Sowjetunion zunächst die politische Hegemonie über die ihr zugefallenen Staaten. In der zweiten Phase ab etwa 1948 gingen die neuen Machthaber in den sozialistischen Staaten daran, die Verhältnisse im Innern nach sowjetischem Vorbild umzugestalten. Anne Applebaum beispielsweise verwendet für diese zweite Phase den Begriff des Hochstalinismus. Ob man bei diesen Veränderungen von einer durchgängigen »Stalinisierung« nach einheitlichem Muster sprechen kann, ist jedoch fraglich. In Polen beispielsweise blieb der Einfluss der katholischen Kirche ungebrochen, auch fand dort im Agrarwesen keine Kollektivierung statt. Die Frage, ob sich die Umgestaltung Ostdeutschlands (im Westen damals noch häufig als »Mitteldeutschland« bezeichnet) in wesentlichen Punkten von der Sowjetisierung in anderen osteuropäischen Staaten unterschied, lässt sich mit einem eingeschränkten Ja beantworten. Mit der bedingungslosen Kapitulation vom 8.Mai 1945 war auch in der SBZ jegliche Staatlichkeit zusammengebrochen. Die Sowjetische Militäradministration (SMAD) war das zentrale Machtorgan, das eine weitreichende Besatzungspolitik im Die DDR – ein Sonderfall? Auch für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) gelten im Wesentlichen die bereits beschriebenen »Schlüsselelemente« der Sowjetisierung: – die enge Zusammenarbeit der sowjetischen Militäradministration (SMAD) mit den Männern der »Gruppe Ulbricht«, die den Kern der früh wieder gegründeten KPD bildeten – der Zusammenschluss der Parteien im von der KPD dominierten Antifaschistischen Block im Juli 1945 – der von der KPD erzwungene Zusammenschluss von KPD und SPD zur SED im April 1946, wobei die SMAD eine zentrale Rolle spielte – großflächige Demontagen (ca. 30 Prozent der Industriekapazität) und Überführung von über 200 Unternehmen in sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) – Reformen wie die Bodenreform mit der Enteignung des Großgrundbesitzes der »Kriegsverbrecher und Faschisten« über 100 ha; – auch die großen Industriebetriebe wurden verstaatlicht und in VEB (Volkseigene Betriebe) umgewandelt; tatsächlich hatte ein großer Teil der Unternehmer und Großgrundbesitzer (»Junker«) mit den Nationalsozialisten kooperiert; Ende 1946 waren nur noch 40 Prozent der Produktion in privater Hand – gesellschaftspolitische und kulturelle Reformen, die der Massenmobilisierung dienen sollten, etwa der Gründung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) im Februar 1946; – SED-Kulturpolitik: prominente Künstler wie Anna Seghers und Bertolt Brecht ließen sich nach der Rückkehr aus dem Exil in der SBZ nieder und stellten (zunächst) sich in den Dienst der SEDKulturpolitik Abb. 6 Zeichnung von Leo Haas. »Wärmster Mantel gegen den kältesten Krieg«. Ein junger Soldat in Uniform und eine junge Frau unter einem großen Mantel. Über ihnen schweben zwei alte Männer mit Säcken (Aufschrift: Marshall-Plan, Atlantik-Pakt), aus denen sie Schnee über die beiden schütten. Entstehung vermutlich vor 1950 © akg images Die Sowje tisierung Os teuropa s und Os tdeutschl ands DuE68_umbr.indd 36 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 Sinne Moskaus betreiben konnte, obwohl sie keinesfalls allmächtig war. So konnte sie z. B. auf die Entscheidungen der 1946 gewählten Landtage nicht direkt Einfluss nehmen, hatte aber über die engen Kontakte zur SED Möglichkeiten zur politischen Lenkung. Inwieweit die SED-Führung in diesen Umgestaltungsprozessen eigene Handlungsspielräume besaß oder die sowjetischen Vorgaben mehr oder weniger willenlos befolgte, ist bis heute schwer zu beurteilen und wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Der Begriff Kommunismus wurde im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Staaten, in denen es kommunistische Parteien gab, von der SED gemieden, möglicherweise als Reaktion auf den rigorosen Antikommunismus der NSPropaganda. Auch ließ man andere Parteien wie die CDU oder LDPD bestehen, doch blieben diese »Blockparteien« in der 1949 gegründeten Nationalen Front politisch unbedeutend. Ihre Aufgabe war es laut späterer DDR-Verfassung, die Arbeit der SED zu unterstützen. Da viele Mitglieder dieser Blockparteien, teilweise auch ihr Führungspersonal, nach dem Mauerfall in westdeutsche ParAbb. 7 Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin am Potsdamer Platz: Gegen Mittag teien eintraten und politisch aktiv blieben, rollten russische Panzer. Die Demonstranten antworteten mit Steinwürfen. © akg images wurde die Rolle der Blockparteien nach 1989 zum Gegenstand politischer Kontroversen. Da die SBZ an der Nahtstelle des sich entwiUSA gewesen. Neuere Forschungen, etwa von Donal O›Sullivan ckelnden Ost-West-Konflikts lag, musste ihr in militärischer Hinoder Gerhard Wettig, sprechen für die Zeit nach 1945 von einer sicht das besondere Augenmerk der sowjetischen Führung gel»Strategie der vorsichtigen Expansion« und von Vorstellungen eiten. Die Präsenz der Roten Armee war außerhalb der UdSSR nes »nationalen Wegs zum Sozialismus«, die Stalin angeblich zu nirgendwo so hoch wie in der SBZ und der späteren DDR (400– Beginn hegte. Dennoch wird man bei aller Differenzierung nicht 500.000 Soldaten gegenüber z. B. maximal 50.000 in Polen). Wie an der Feststellung vorbeikommen, dass die UdSSR spätestens ab wichtig dies war, zeigte die Niederschlagung des Volksaufstandes 1947 »mit großer Entschlossenheit auf das Ziel der totalen Einvervom 17. Juni 1953, der das SED-Regime an den Rand des Umsturleibung der ost-, mittelost- und südosteuropäischen Staatenwelt zes gebracht hatte. Innerhalb eines Tages traten Hunderttauhingearbeitet hat« (S. Creuzberger/ M. Görtemaker) sende von Arbeitern in den Streik, zahlreiche Betriebe wurden besetzt, Büros der SED und der Staatssicherheit (Stasi) gestürmt. Die Verhängung des Ausnahmezustands und der Aufmarsch sowLiteraturhinweise jetischer Panzer führten zur Niederschlagung des Aufstands. Hinzu kam als Besonderheit der ostdeutsch-sowjetischen BezieApplebaum, Anne (2013): Der eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteurohungen, dass die nach 1945 in der SBZ hergestellten wirtschaftlipas 1944–1956. Lizenzausgabe bpb 2014 chen Verflechtungen mit der sowjetischen Hegemonialmacht bei keinem anderen osteuropäischen Staat so intensiv waren wie bei Dülffer, Jost (2004): Europa im Ost-West-Konflikt 1945–1990. Oldenbourg der DDR. Die DDR blieb wirtschaftlich – und dies nicht nur aufVerlag. München grund der fehlenden Rohstoffvorkommen – wesentlich stärker Jarausch, Konrad/ Siegrist, Hannes (Hrsg.), (1997): Amerikanisierung und von der Sowjetunion abhängig als die anderen sogenannten »reSowjetisierung in Deutschland 1945–1990. Campus Verlag. Frankfurt a. M. alsozialistischen« Staaten innerhalb des Warschauer Pakts (Militärbündnis) und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW O›Sullivan, Donal (2004): Stalins »Cordon sanitaire«. Die sowjetische Osteubzw. Comecon, Wirtschaftsbündnis). ropapolitik und die Reaktionen des Westens 1939–1949. Schöningh Verlag. Paderborn Fazit Snyder, Timothy (2013): Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv). München Was hier als planvolles Vorgehen der Sowjetunion und mehr oder minder linearer Prozess dargestellt wurde, gibt keine Antwort auf die Frage nach der Schuld an der Entstehung der bipolaren Weltordnung nach 1945. In der Ära des Kalten Krieges herrschten im Westen klare Vorstellungen vom aggressiven und annexionistischen Charakter der Sowjetunion, bis hin zu überspitzten Formulierungen wie der vom »Reich des Bösen« (US-Präsident Reagan, 1983) Einzelne Historiker wie John Applebaum Williams vertraten in der Beurteilung der sowjetischen Machtpolitik eine revisionistische Linie: Die Politik der Sowjetisierung sei lediglich eine Reaktion auf die ökonomisch-kapitalistische Expansion der Vereinigten Staaten gewesen, Urheber der globalen Polarisierung seien also die D&E DuE68_umbr.indd 37 Heft 68 · 2014 37 Steininger, Rolf (2003): Der Kalte Krieg. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt a. M. Stöver, Bernd (2007): Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters. Verlag C. H. Beck. München Internethinweise www.bpb.de/izpb/10323/der-beginn-der-bipolaritaet?p=0 www.bpb.de/izpb/181036/kalter-krieg-von-1945-bis-1989 www.bpb.de/izpb/48499/geschichte-der-ddr Die Sowje tisierung Os teuropa s und Os tdeutschl ands 24.11.14 13:40 HERBERT KOHL 38 MATERIALIEN M1 Rede des amerikanischen Präsidenten Truman vor beiden Häusern des Kongresses, 12. März 1947 Es ist eines der Hauptziele der Außenpolitik der Vereinigten Staaten, Bedingungen zu schaffen, die es uns und anderen Nationen ermöglichen, eine Lebensform zu gestalten, die frei ist von Zwang. Hauptsächlich um diesen Punkt ging es in dem Krieg gegen Deutschland und Japan. Unser Sieg wurde über Länder errungen, die versuchten, anderen Nationen ihren Willen und ihre Lebensform aufzuzwingen. […] In jüngster Zeit wurden den Völkern einer Anzahl von Staaten gegen ihren Willen totalitäre Regierungsformen aufgezwungen. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat immer wieder gegen den Zwang und die Einschüchterungen in Polen, Rumänien und Bulgarien protestiert, die eine Verletzung der Vereinbarungen von Jalta darstellen. Ich muss auch erwähnen, dass in einer Anzahl von anderen Ländern ähnliche Entwicklungen vor sich gehen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Weltgeschichte muss fast jede Nation zwischen alternativen Lebenformen wählen. Nur zu oft ist diese Wahl nicht frei. Die eine Lebensform gründet sich auf den Willen der Mehrheit und ist gekennzeichnet durch freie Institutionen, repräsentative Regierungsform, freie Wahlen, Garantien für die persönliche Freiheit, Rede- und Religionsfreiheit und Freiheit von politischer Unterdrückung. Die andere Lebensform gründet sich auf den Willen einer Minderheit, den diese der Mehrheit gewaltsam aufzwingt. Sie stützt sich auf Terror und Unterdrückung, auf die Zensur von Presse und Rundfunk, auf manipulierte Wahlen und auf den Entzug der persönlichen Freiheiten. Ich glaube, es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen. Ich glaube, wir müssen allen freien Völkern helfen, damit sie ihre Geschicke auf ihre eigene Weise selbst bestimmen können. Unter einem solchen Beistand verstehe ich vor allem wirtschaftliche und finanzielle Hilfe, die die Grundlage für wirtschaftliche Stabilität und geordnete politische Verhältnisse bildet. […] Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden der Welt – und wir schaden mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation. © zit. nach: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945. München bsv, S. 576f. M 2 »Stalin genießt Trumans Thesen in seiner Pfeife« © US-amerikanische Karikatur, 1947, Autor unbekannt, zit. nach http://blog.teachingamericanhistory.org/ category/primary-source-documents/page/8/ M 3 »Bitte, hier einsteigen!« M4 Rede Shdanows auf der Konferenz der kommunistischen Parteien Europas, 22. September 1947 Das durch den Zweiten Weltkrieg veränderte Kräfteverhältnis zwischen der Welt des Kapitalismus und der Welt des Sozialismus hat die Bedeutung der Außenpolitik des Sowjetstaates noch erhöht und die Maßstäbe seiner außenpolitischen Aktivität erweitert. Die Aufgabe der Sicherung eines gerechten demokratischen Friedens fasste alle Kräfte des antiimperialistischen und antifaschistischen Lagers zusammen. Auf dieser Grundlage wuchs und erstarkte die freundschaftliche Zusammenarbeit der UdSSR und der demokratischen Länder in allen Fragen der Außenpolitik. Diese Länder und vor allem die Länder der neuen Demokratie, Jugoslawien, Polen, die Tschechoslowakei und Albanien, die eine große Rolle in dem Befreiungskrieg gegen den Faschismus gespielt haben sowie Bulgarien, Rumänien, Ungarn und zum Teil auch Finnland, die sich der antifaschistischen Front in der Nachkriegsperiode angeschlossen haben, erwiesen sich als standhafte Kämpfer für den Frieden, für die Demokratie und für ihre Freiheit und Unabhängigkeit gegen alle Versuche der USA und Englands, ihre Entwicklung zurückzudrehen und sie erneut unter das imperialistische Joch zu zwingen. […] Bereits während des Zweiten Weltkrieges wuchs in England und in den USA ständig die Aktivitäten der reaktionären Kräfte, die danach strebten, das gemeinsame Vorgehen der alliierten Mächte zu hintertreiben, den Krieg in die Länge zu ziehen, die UdSSR ausbluten zu lassen und die faschistischen Aggressoren vor einer vollständigen Zerschmetterung zu retten. Die Sabotierung der zweiten Front durch die angelsächsischen Imperialisten mit Churchill an der Spitze spiegelte klar diese Tendenz wider, die im Grunde genommen eine Fortsetzung der »München-Politik« unter neuen, veränderten Verhältnissen darstellte. Aber solange der Krieg andauerte, wagten die reaktionären Kreise Englands und Die Sowje tisierung Os teuropa s und Os tdeutschl ands DuE68_umbr.indd 38 © E. H. Shepard, 18.6.1947, Punch, GB D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 der USA nicht, der Sowjetunion und den demokratischen Ländern mit offenem Visier entgegenzutreten, weil sie sich wohl bewusst waren, dass die Sympathien der Volksmassen in der ganzen Welt ungeteilt auf der Seite der Sowjetunion und der demokratischen Länder waren. […] Bereits im Laufe der Besprechungen auf der Berliner Konferenz der drei Mächte im Juli 1945 zeigten die angloamerikanischen Imperialisten, daß sie nicht gewillt waren, die legitimen Interessen der Sowjetunion und der demokratischen Länder zu berücksichtigen. © zit. nach: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 156f. M5 Antikommunistisches Flugblatt zu einem Referendum in Polen Im Jahr 1946 fand in Polen ein Referendum, also eine Volksabstimmung statt, in dem der polnischen Bevölkerung drei Fragen vorgelegt wurden. Die Ergebnisse wurde anschließend zugunsten der kommunistischen Regierung gefälscht. Im Vorfeld kursierten Flugblätter wie dieses: Polen! Wollt ihr die weitere Okkupation Polens? Wollt ihr die sowjetische Armee in den Grenzen Polens? Wollt ihr, dass Sowjetrussland uns unsere Lebensmittel, unser Vermögen wegnimmt und damit bei uns M 6 »Werktag zweier Welten« DDR-Plakat aus dem Jahre 1947 © Bundesarchiv Koblenz Hunger und Teuerung verbreitet? Wollt ihr, dass die polnische Intelligenz durch Juden ersetzt wird? Wenn ihr jedoch eine rechtmäßige Regierung, hervorgegangen Wollt ihr, dass der polnische Arbeiter der Sklave der sowjetischaus dem Willen des polnischen Volkes, wollt, wenn ihr die Renekommunistisch-jüdischen Machthaber wird? gaten wissen lassen wollt, dass wir ihrer Politik nicht zustimmen, Wollt ihr, dass der polnische Bauer keine eigene Meinung über die dass wir sie nicht anerkennen, weil wir sie nicht gewählt haben Politik hat, sich keine eigenen Gedanken macht, dass seine Söhne und sie von Stalin bestimmt wurden, dann antworten wir auf die die Gefängnisse in Sibirien füllen? ersten beiden Fragen mit »nein«, auf die dritte mit »ja«, denn die Wollt ihr, dass in nächster Zukunft Kolchosen gebildet werden? Westgrenze ist gerecht, und mit einer Zustimmung geben wir die Wollt ihr Armut und Unterdrückung, die in Sowjetrussland herrOstgrenze nicht auf, verzichten nicht auf Wilno, Lwów, Borysław schen? und Pinsk. Wollt ihr, dass das polnische Volk den Verkauf von Wilno, Lwów, © Flugblatt, vervielfältigt und verbreitet in der Wojewodschaft Lublin vor dem Referendum Borysław und Pinsk an die Sowjets bestätigt? vom Juni 1946. Wojewodschaftsarchiv Lublin, Bestand: Nach der Befreiung herausgegeWollt ihr die Verkäufer, die Renegaten in Person von Bierut, bene Flugblätter, Signatur 122, Blatt 26, vgl.: /www.herder-institut.de/no_cache/bestaOsóbki, Oymi[e]rski, Minc, ermuntern zum weiteren Verkauf ganz ende-digitale-angebote/e-publikationen/dokumente-und-materialien/themenmodule/ Polens? quelle/400/details.html (Abruf: 22.7.2014) Wollt ihr, dass in der polnischen Armee Sowjets und der NKWD sind? Dann stimmt in allen Fragen mit »ja«. D&E DuE68_umbr.indd 39 Heft 68 · 2014 39 Die Sowje tisierung Os teuropa s und Os tdeutschl ands 24.11.14 13:40 HERBERT KOHL der sowjetischen Besatzungszone nahmen die Propagandisten ebenso wenig Bezug wie auf die fortdauernde Existenz der »Sowjetischen Aktiengesellschaften« (SAG) in der DDR. © Elke Kimmel (2005): Der Marshallplan aus ostdeutscher Perspektive, www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/marshallplan/40077/ostdeutsche-perspektive M9 M 7 »Ami, go home!« DDR-Kritik am Marshall-Plan, 1947 © Bundesarchiv Koblenz 40 M8 Elke Kimmel (2005): Der Marshall-Plan aus ostdeutscher Perspektive In der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR folgte die Bewertung des Marshallplans dem von Moskau diktierten Schema: Er treibe die Spaltung Deutschlands voran und mache den Westen zum Opfer des amerikanischen Imperialismus. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass sich die wirtschaftliche Situation im Osten Deutschlands durch diesen Schritt verschlechtern würde. Allerdings würde die sowjetische Besatzungszone (SBZ) durch eine engere Bindung an die Sowjetunion, die »innere Krisen« nicht kenne, diesen Rückschlag auffangen können. Man bedauerte, dass die Geduld in den westlichen Zonen nicht ausgereicht habe, um den Aufbau in der sowjetischen Besatzungszone abzuwarten. Wenn dieser abgeschlossen worden wäre, hätte man dem Westen gerne helfen können. Die erzwungene einstimmige Ablehnung des Marshallplans durch die osteuropäischen Staaten wurde in der ostdeutschen Propaganda als Bestätigung dafür aufgefasst, dass der Plan keine andere Haltung verdient habe. Zitiert wurde auch die Kritik Molotows an der fehlenden Genauigkeit des Angebots. Tatsächlich schreckte man bei der Verurteilung des Marshallplans auch vor antisemitischen Anspielungen nicht zurück: Dessen geistige Väter seien in der »Finanzplutokratie der Wallstreet« zu suchen. In der ostdeutschen Argumentation war auch die Teilung Deutschlands vor allem aus den wirtschaftlichen Eigeninteressen der USA zu verstehen: Man wolle die westdeutsche Grundstoffindustrie für den eigenen Markt ausnutzen. Das Potsdamer Abkommen habe Deutschland vor eben jener Ausbeutung schützen sollen; allerdings sei der sowjetische Einspruch übergangen worden. Zudem benötige die USA Westdeutschland als Aufmarschgebiet für die eigenen Truppen. Auf die fortgesetzten Demontagen in Die Historikerin Anne Applebaum über die Verbreitung kommunistischen Gedankenguts über den Rundfunk in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ): Der vielleicht bekannteste Versuch, den Zuhörern den Kommunismus schmackhaft zu machen, war Markus Wolfs1 Sendung »Sie fragen – Wir antworten«. Mehrere Monate lang beantwortete Wolf ab 1945 Briefe der Hörer im Radio². Obwohl die Fragen eine gewaltige Zahl von Themen betrafen und oft Sachantworten erforderten (»Was soll aus dem Berliner Zoo werden«?), gab er den Antworten meist eine ideologische Tendenz, wie er es in der Komintern-Schule in Ufa gelernt hatte. In der Sendung vom 7. Juni reagierte er zum Beispiel begeistert auf einen Hörer, der schrieb, wie beeindruckt er von Tatkraft und Geist der Roten Armee sei, besonders weil ihm immer beigebracht worden sei, Leistungen würden in der UdSSR nicht gewürdigt. Wolf erklärte, alle, die das Märchen von der Gleichmacherei in der UdSSR glaubten, seien Goebbels› Propaganda aufgesessen, und lobte das Sowjetsystem, das die Kreativität des Arbeiters fördere. […] Wolf lobte den Kommunismus selten direkt, und er bediente sich nicht aus dem marxistischen Vokabular. Fast immer aber lobte er die Rote Armee oder das Sowjetsystem, die er positiv mit ihren deutschen Entsprechungen verglich. Und seine Antworten auf die Hörerfragen enthielten das explizite Versprechen, das Leben, das unter den Nazis und in den letzten Kriegstagen unerträglich gewesen sei, werde sich nun rasch verbessern. Andere Sendungen verfolgten eine ähnliche Methode. Ende 1945 besuchte ein Reporter Sachsen, um die Lage der dortigen Jugend zu untersuchen und fand viele ermutigende Entwicklungen. Mehrere frühere Hitlerjungen sagten ihm, sie freuten sich, ihre Führer nicht mehr grüßen zu müssen. Alle äußerten sich dankbar dafür, dass der Krieg zu Ende war. Die Schulen waren noch nicht wieder offen, und es gab viele Härten, aber der Reporter sagte »eine freie und schöne Zukunft für unsere Jugend« voraus. Das Wort »Kommunismus« kam nicht vor. Ein anderer Reporter besuchte Sachsenhausen und gab eine erschütternde Schilderung der letzten Tage des Lagers. Obwohl der Roten Armee am Schluss ausführlich gedankt wurde, war auch an dieser Sendung nichts besonders Ideologisches. Mit der Zeit aber änderte sich der Ton. Nach den Berliner Kommunalwahlen 1946 – die den Kommunisten den ersten schweren Schlag versetzten – wurde die Propaganda offensiver, die kommunistischen Sympathien der Sprecher deutlicher. Dieser Wandel wurde von den Hörern sofort bemerkt und spiegelte sich in den Briefen wider. 1947 schrieb ein Hörer, das »liebe Radio« werde allmählich langweilig, und die Abendsendungen fingen an, sich zu wiederholen. Ein anderer beschwerte sich über die Schärfe der Sprache, man könnte meinen, Radio Moskau zu hören. 1 Markus Wolf (1923–2006) hatte als Kommunist während des Dritten Reiches im Exil in Moskau gelebt. Später wurde er als Chef der Auslandsspionage einer der höchsten Funktionäre im Ministerium für Staatssicherheit der DDR (Stasi) 2 Der »Berliner Rundfunk« sendete aus den weitgehend unzerstörten Einrichtungen des alten »Reichsrundfunks« im Ostsektor Berlins © Anne Applebaum (2014): Der eiserne Vorhang. Bonn, S. 221ff.; Siedler Verlag, Random House Verlagsgruppe Die Sowje tisierung Os teuropa s und Os tdeutschl ands DuE68_umbr.indd 40 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 M 10 Matthias Helle: Nachkriegsjahre in der Provinz In seiner 2008 erschienenen Dissertation »Nachkriegsjahre in der Provinz« untersucht Matthias Helle die Vorgänge im brandenburgischen Landkreis Zauch-Belzig zwischen 1945 und 1952. Er beschreibt dort das politische Wirken der SMAD, das repräsentativ für das Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht gewesen sein dürfte: Die Bilanz der Sowjetischen Militäradministration ist zwiespältig. Sie bildete […] faktisch die erste zentrale Regierungsinstitution im östlichen Nachkriegsdeutschland, ermöglichte schon früh Parteigründungen sowie die Wahlen von 1946, die trotz Einschränkungen der Bevölkerung die Chance zur politischen Willensäußerung gaben. Die Sowjets waren indes (Mit-)initiatoren der radikalen gesellschaftlich-politischen Transformation in der SBZ, wie sie auch die (Mit-)Verantwortung für die Aufrichtung einer stalinistisch-kommunistischen Diktatur im östlichen Deutschland trugen. Die Organe der Militärverwaltung unterstützten das Wiederingangsetzen des Wirtschaftslebens Ostdeutschlands und die Sicherung eines Mindestlebensstandards für die deutsche Bevölkerung. Sie sorgten ebenso im Bunde mit der KPD/SED für den rigorosen Umsturz der ökonomischen Besitzverhältnisse in der SBZ. Und SMAD-Offiziere überwachten die Reparationsleistungen, mit denen die unermesslichen Kriegsschäden in der Sowjetunion wiedergutgemacht werden sollten, die indes zu einer regelrechten wirtschaftlichen Ausplünderung Ostdeutschlands ausuferten. […] Die KPD/SED genoss bei der Besatzungsmacht eine Sonderstellung, waren doch die politischen Offiziere der Sowjetarmee allesamt KPdSU-Mitglieder, und die deutschen Kommunisten Brüder im (politisch-ideologischen) Geiste. Anfänglich bemühte sich die Kreiskommandantur zwar, allen Parteien gegenüber eine scheinbare Gleichbehandlung an den Tag zu legen. […] Doch die Maskerade fiel sehr schnell. […] In den letzten Monaten des Jahres 1945 verzögerten die Kommandanturoffiziere mit bürokratischen Mitteln den Aufbau des liberaldemokratischen Kreisverbandes Zauch-Belzig. Während der Vereinigungskampagne von KPD und SPD scheute die Kreiskommandantur nicht davor zurück, massiven Druck auf die Fusionsgegner in den Reihen der Sozialdemokraten, aber auch Kommunisten, auszuüben. Und nach den Kommunalwahlen 1946 versagte ihre politische Abteilung verschiedenen Bürgermeisterkandidaten von CDU und LDP in Zauch-Belzig die für den Amtsantritt notwendige Bestätigung. An deren Stelle kamen dann in der Regel SED-Leute auf die Bürgermeisterposten, obwohl die Einheitspartei in den betreffenden Orten die Kommunalwahl nicht gewonnen hatte. © Matthias Helle (2008): Nachkriegsjahre in der Provinz. Der brandenburgische Kreis Zauch-Belzig 1945–1952. Berlin, S. 242 und S. 250ff. M 12 »Die Sowjetunion wünscht in ihren Nachbarstaaten Regierungen, die ihr freundschaftlich gesinnt sind!« © Nebelspalter, Schweiz April 1946 41 schöne Wahrheit über die menschliche Natur: Wenn genügend Menschen ausreichend entschlossen sind und über ein entsprechendes Maß an Ressourcen und Gewalt verfügen, können sie uralte und scheinbar dauerhafte politische, religiöse, Rechts- und Bildungseinrichtungen zerstören, und das manchmal für immer. Und wenn die Zivilgesellschaft in so unterschiedlichen, so alten und kulturell so reichen Nationen wie denen Osteuropas so stark zerstört werden konnte, dann kann sie anderswo ähnlich zerstört werden. Die Geschichte der Nachkriegsstalinisierung beweist zumindest, wie zerbrechlich die Zivilisation tatsächlich sein kann. © Anne Applebaum, a. a. O., S. 531f. M 11 Anne Applebaum: Der eiserne Vorhang Bis 1989 erschien die sowjetische Vorherrschaft über Osteuropa als ein ausgezeichnetes Vorbild für Möchtegerndiktatoren. Aber der Totalitarismus funktionierte in Osteuropa nie so, wie er sollte, und auch sonst nirgends. Keinem der stalinistischen Regime gelang es je, alle Menschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen und damit für immer jede Opposition zu vernichten, und das gilt auch für Stalins Schüler oder Breschnews Freunde in Asien, Afrika oder Lateinamerika. Doch solche Regime können und konnten enormen Schaden anrichten. In ihrem Machtstreben attackierten die Sowjets, ihre osteuropäischen Gefolgsleute und ihre Nachahmer nicht nur politische Gegner, sondern auch Bauern, Priester, Lehrer, Händler, Journalisten, Schriftsteller, kleine Geschäftsleute, Studenten und Künstler und dazu die Institutionen, die Menschen über Jahrhunderte aufgebaut und gepflegt hatten. Sie beschädigten, untergruben und vernichteten manchmal Kirchen, Zeitungen, Literatur- und Bildungsvereine, Firmen und Läden, Börsen, Banken, Sportvereine und Universitäten. Ihr Erfolg offenbart eine un- D&E DuE68_umbr.indd 41 Heft 68 · 2014 Die Sowje tisierung Os teuropa s und Os tdeutschl ands 24.11.14 13:40 EUROPA NACH 1945 5. Deutschland und Polen: von Hass und Beziehungslosigkeit bis zu den ersten Ansätzen einer Verständigung MANFRED MACK D 42 er polnische Schriftsteller Leon Kruczkowski schrieb im Jahre 1949: »Eines der größten Verbrechen des Hitlerfaschismus, welches keineswegs geringer einzuschätzen ist als die physische Vernichtung von Millionen von Menschen, bestand darin, dass viele europäische Völker und darunter besonders die Polen für eine längere Zeit die Überzeugung gewinnen mussten, die Deutschen seien Verbrecher – alle Deutschen, die gesamte deutsche Nation.« Kruczkowski war alles andere als ein Deutschenhasser. Er gehörte zu den wenigen Stimmen in Polen, die trotz allem, was geschehen war, versuchten, die Deutschen zu verstehen. Im selben Jahr hatte er ein Theaterstück geschrieben mit dem Titel »Die Deutschen sind auch Menschen«. Auf Druck der kommunistischen Zensur musste er allerdings den Titel ändern. Der Politologe Dieter Bingen erinnert zurecht daran (Bingen 2005), dass es heute kaum noch vorstellbar ist, vor welch schier unüberwindlichen BarrieAbb. 1 Straßenszene in Warschau unter deutscher Besatzung am 17. Oktober 1939. Am 1. September ren Deutsche und Polen nach 1945 standen, 1939 hatte der deutsche Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. © dpa, picture alliance als es darum ging, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs einen Neuanfang zu wagen. Fast Polen »Sieger des Krieges, aber Verlierer des sechs Millionen Polen, darunter drei Millionen polnischer Friedens« Juden, starben in diesem Krieg, und die Mehrheit von ihnen starb nicht als Kombattanten bzw. Soldaten, sondern als ZiviUm die damalige Situation in Polen zu verstehen, muss man sich listen. 1,55 Millionen Polen verloren allein in dem von den das Paradox vor Augen halten, dass Polen, das das erste Opfer des Deutschen eingerichteten »Generalgouvernement« ihr Leben, nationalsozialistischen Krieges war, 1945 zwar zu den Siegern des 250.000 in den ins Deutsche Reich eingegliederten Gebieten. Krieges gehörte, aber zu den Verlierern des Friedens. In DeutschIngsesamt haben rund 171 von 1000 Polen diesen Krieg nicht land hat schon 1947 der Publizist Eugen Kogon auf diese »tragiüberlebt. Kein anderes Volk hatte prozentual gesehen höhere sche Zwangslage« hingewiesen und Polen »einen Siegerstaat Menschenverluste. »Deutschenfeindlichkeit« als Lernziel in Polen nach 1945 Deshalb nimmt es nicht Wunder, dass nach dem Krieg das Sprichwort des polnischen Barockdichters Waclaw Potocki »Solange die Welt besteht, wird der Deutsche dem Polen kein Bruder sein« überaus populär war. Das Wort »Deutsche« schrieb man entgegen der polnischen Orthographie mit einem kleinen »d«, im Schulunterricht war »Deutschenfeindlichkeit« (»antyniemieckosc«) ein eigenständiges Lernziel. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten Stimmen, wie die des Publizisten Jan Osmanczyk, der sich Gedanken darüber machte, ob es nicht im Interesse Polens sein könnte, trotz der schlimmen Erfahrungen einen neuen »modus vivendi« mit den Deutschen zu finden, keine Chance hatte, Gehör zu finden und erbittert bekämpft wurde. Deutschl and und Polen DuE68_umbr.indd 42 Anzahl der Opfer des Zweiten Weltkriegs Länder Pro 1000 Einwohner Gesamtzahl Polen 171 6 028 000 Sowjetunion 124 20 000 000 Jugoslawien 108 1 706 000 Deutsches Reich 84 7 260 000 Griechenland 35 558 000 Niederlande 22 200 000 Tschechoslowakei 21 360 000 Frankreich 13 653 000 Großbritannien 8 375 000 USA 1,4 405 000 Abb. 2 Anzahl der Opfer im Zweiten Weltkrieg. Zahlen nach: Borodziej (2000), S. 102–105 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 43 Abb. 3 Zu den Folgen des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen gehörten von Anfang an Zwangsumsiedlungen. Polen wurden ins »Generalgouvernement« abgeschoben, als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich oder – im Einflussbereich der Sowjetunion – nach Sibirien deportiert. Deutsche wurden als Folge des Hitler-StalinPaktes aus dem Baltikum und aus Südosteuropa in Gebiete umgesiedelt, aus denen zuvor Polen vertrieben worden waren. Die Brutalität, mit der Polen zerschlagen und geknechtet worden war, kehrte sich am Ende des Krieges gegen die Urheber. Die auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 beschlossene ›Westverschiebung‹ Polens bedeutete für Millionen Deutsche in Ostpreußen, Pommern und Schlesien, dass sie ihre Heimat verlassen mussten. Über 1,5 Millionen Polen mussten ihrerseits ihre Heimat in Ostpolen verlassen und wurden in ehemals von Deutschen bewohnten Gebieten angesiedelt. Bei Evakuierung, Flucht und Vertreibung verloren nach Schätzungen zwischen 400 000 bis zwei Millionen Menschen ihr Leben. Bis heute belastet dieses Thema die deutsch-polnischen Beziehungen. © Kneip/Mack: Polnische Geschichte und deutsch-polnische Beziehungen, 2007, Cornelsen, Berlin, S. 91 ohne Sieg« genannt und daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass Polen sichere Garantien bräuchte, dass ihm nicht »ein nationalistisches Deutschland voll von Dünkel gegenüber Polen, in den Rücken fällt«. (zitiert nach Kochanowski (2013), S. 151). Nur wenige wollten damals diese Botschaft hören, und es sollte bis zum Warschauer Vertrag von 1970 dauern, bis Polen von der Bundesrepublik Deutschland diese Garantien bekam. Das Dilemma Polens nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat der polnische Historiker Jerzy Holzer sehr eindrücklich beschrieben: »Das Land stellt sich doch eine Frage, vor die sich kein anderes Land der damaligen siegreichen Koalition gestellt sieht. Bedeutet der 8. Mai für uns, die Polen, einen Tag des verdienten Sieges oder der unverdienten Niederlage? Mit dieser Frage stellen wir uns praktisch außerhalb der Selbstzufriedenheit Europas, außerhalb seines Bildes über das 20. Jahrhundert.« Polen als Satelittenstaat der Sowjetunion Polen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem »Satellitenstaat« der Sowjetunion, das kommunistische System wurde Polen aufgezwungen. Die Mehrheit der Polen machte dafür nicht nur die D&E DuE68_umbr.indd 43 Heft 68 · 2014 Sowjetunion und Stalin, sondern auch den »Verrat der westlichen Alliierten in Jalta« verantwortlich, als die durch den Hitler-StalinPakt des Jahres 1939 in einem Geheimbündnis beschlossene »Westverschiebung Polens« nachträglich sanktioniert wurde. Dass die Nachkriegsordnung Europas gemäß dem Potsdamer Abkommen dennoch zähneknirschend akzeptiert wurde, hatte in erster Linie mit den Erfahrungen mit den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs zu tun. Der Historiker Hans-Jürgen Bömelburg schreibt dazu treffend: »Zugleich lieferte die stets mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs in Verbindung gebrachte »deutsche Bedrohung« das wohl stärkste Legitimations- und Integrationsargument der volkspolnischen Herrschaftsstrukturen: Mit Erfolg wurde suggeriert, dass sich dergleichen nicht wiederholen könne, solange die Sowjetunion die Sicherheit Polens garantiere. Schließlich eignete sich die Berufung auf die Verluste und Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs als Alibi für die sozialistische Mangelwirtschaft.« (Kochanowski (2013), S. 117). Noch pointierter formuliert dies der polnische Politologe Piotr Buras: »In den vierziger und fünfziger Jahren konnte es den Anschein haben, als sei die Feindschaft gegenüber den Deutschen gleichbedeutend mit der polnischen Staatsräson.« (Kochanowski (2013), S. 181). Deutschl and und Polen 24.11.14 13:40 MANFRED MACK wirtschaftliche Festigung der DDR, wie sie Moskau nun konsequenter verfolgte, sollte nicht zuletzt mit Hilfe der schlesischen Steinkohle gelingen. Die polnische Regierung verlangte als Gegenleistung die Anerkennung ihrer Westgrenze. Am 6. Juli 1950 unterzeichneten die Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und Józef Cyrankiewicz den Görlitzer Vertrag, der die Oder-Neiße-Linie als „Friedensund Freundschaftsgrenze“ bezeichnete. Dieses Einvernehmen wurde jedoch von der Bevölkerung beider Länder fünf Jahre nach Kriegsende noch längst nicht akzeptiert, die Abneigung und ein tiefes Misstrauen gegenüber den Deutschen blieben« (Kochanowski (20013), S. 167f.) Gegenmaßnahmen zur antipolnischen Stimmung in der Bevölkerung 44 Um den antipolnischen Stimmungen in der Bevölkerung zu begegnen, wurde schon im August 1948 die »Hellmuth-von-Gerlach-GeAbb. 4 Ein auch in den westlichen Besatzungszonen verbreitetes Plakat machte die Bevölkerung sellschaft für kulturelle, wirtschaftliche und auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen Vertreibung, Diktatur und Beschlüssen der Alliierten aufpolitische Beziehungen mit dem neuen Pomerksam. © Druckerei Hempel, Köln, Haus der Geschichte, Bonn len« begründet. Nach der Unterzeichnung des Görlitzer Vertrages wuchs die MitgliederReaktionen in West- und Ostdeutschland zahl auf 60.000 an. Zu den Mitgliedern gehörten auch zahlreiche »Vertriebene und Flüchtlinge«, die man in der DDR »Umsiedler« Wie ging man in Deutschland West und Deutschland Ost nach nannte. Als das Regime merkte, dass die von oben beschlossene 1945 mit den Erfahrungen des Krieges um? Der deutsche Histori»sozialistische Freundschaft« weder bei den Vertriebenen noch ker Burkhard Olschowsky schreibt hierzu: »Den polnischen bei der einheimischen Bevölkerung auf Begeisterung stieß, löste Leidenserfahrungen und ihren Kompensationsbedürfnissen standen die man die Gesellschaft im Zuge der zunehmenden Stalinisierung deutschen Kriegserfahrungen unvereinbar gegenüber. Während die Polen 1953 kurzerhand auf und dekretierte die Eingliederung der »Umden Kriegsbeginn und das rassistische Besatzungsregime erinnerten, siedler« als abgeschlossen. Wer die »Oder-Neiße-Friedensgrenze« standen für die Deutschen vor allem die Erlebnisse der letzten fortan kritisierte, wurde als »Feind des Friedens« und als Faschist Kriegsmonate und die Schrecken der Nachkriegsjahre im Vordergrund. An kriminalisiert. Wie im Westen, so dauerte es auch im Osten bis dieser Erfahrung trugen die über zwölf Millionen deutschen Flüchtlinge zum Beginn der 1960er Jahre, bis sich unabhängig von der staatliund Vertriebenen schwerer und länger als ihre Landsleute, hatten sie doch chen Politik kirchliche Kreise mit neuen authentischen Initiativen neben ihrem Besitz auch ihre Heimat und damit einen wichtigen Teil ihrer zur deutsch-polnischen Verständigung zu Wort meldeten. Identität verloren. Sie fanden sich nach dem Krieg in fremden Gegenden wieder, in denen die Einheimischen oft abweisend reagierten und die Versorgungslage schwierig war.« (Kochanowski (2013), S. 167). Ähnlich charakterisiert Dieter Bingen die damalige Situation: »Zweifellos prägten Massenvertreibungen bzw. Zwangsaussiedlung aus den polnisch verwalteten deutschen Ostprovinzen und der Territorialverlust, der nach dem Potsdamer Protokoll zugunsten Polens erfolgt war, die westdeutsche Haltung und Politik gegenüber Polen weitaus stärker als das Eingeständnis eigener Schuld. Nach dem Potsdamer Abkommen ließ sich keine repräsentative deutsche Gruppe ermitteln, welche die Gebiete jenseits von Oder und Neiße völlig verloren glaubte. Dazu kam in den ersten Jahren der jungen Bundesrepublik eine breite antikommunistische und antisowjetische Grundstimmung, die auf das kommunistisch gewordene Polen abfärbte.« (Bingen, 2005). Auch in der sowjetischen Besatzungszone waren selbst 2005 die Kommunisten in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht bereit, sich mit dem Verlust der östlichen Provinzen abzufinden: »Um das Negativimage der ‚Russenpartei’ bei den anfänglich freien Wahlen loszuwerden und mit Rücksicht auf die eigene Basis lehnte die SED in den ersten Nachkriegsjahren die Oder-Neiße-Grenze ab. Emotionale Beweggründe wie beim Parteivorsitzenden Wilhelm Pieck, der aus dem östlichen, jenseits der Oder gelegenen Teil Gubens stammte, spielten ebenfalls eine Rolle. Zur großen Irritation der polnischen Regierung ließ Moskau die ostdeutschen Kommunisten in den ersten beiden Nachkriegsjahren gewähren. Erst die Verschärfung des Kalten Krieges und die sich abzeichnende Spaltung Deutschlands führten seit der Abb. 5 Plakat aus der Bundesrepublik – 1950-er Jahre Jahreswende 1947/48 zu einer Kehrtwendung. Die Sowjetunion als Garant © Pommersche Landsmannschaft (Hrsg.), Landesgruppe Niedersachsen, Haus der der polnischen Westgrenze zwang nun die SED und die Polnische Vereinigte Geschichte, Bonn Arbeiterpartei (PVAP) zur Zusammenarbeit. Die politische und Deutschl and und Polen DuE68_umbr.indd 44 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 In der westlichen Bundesrepublik gab es keine politische Partei, die sich in den 1950er Jahren mit dem Verlust der ehemaligen deutschen Ostprovinzen abgefunden hätte. Die Parole »Dreigeteilt niemals« einigte alle gesellschaftlichen und politischen Strömungen. Als Reaktion auf den Görlitzer Vertrag von 1950 erklärte die Bundesregierung am 9. Juni 1950 alle Grenzvereinbarungen der »Sowjetzone« für »null und nichtig« Bis heute umstritten: »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« Ein wichtiges Dokument der damaligen Zeit war die am 5. August 1950 in Stuttgart verabschiedete »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«. In diesem Dokument verzichteten die UnterzeichAbb. 6 Rund 70 000 Heimatvertriebene protestierten am 5. August 1950 vor dem Stuttgarter Neuen Schloss gegen die ner feierlich »auf Rache und Abkommen von Jalta und Potsdam wie auch gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch die Regierung der Sowjetzone Vergeltung«. Allerdings ver(DDR). Gleichzeitig wurde die »Charta der Heimatvertriebenen« vor der Öffentlichkeit verkündet. © picture alliance, dpa zichteten sie auch darauf, die deutsche Schuld am Zweiten Auch Ralph Giordano befand, »die Charta blende die Vorgeschichte der Weltkrieg offen zu benennen und flüchteten sich in die FormulieVertreibung aus und erwähne nur die nach 1945 vertriebenen Deutschen.« rung »im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besondeBrumlik befand sogar, dass in der Charta »Verleugnung und Verdränren das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.« gung des Nationalsozialismus in geradezu idealtypischer Weise zum AusDas Leid der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen wird offen druck kommen«. angesprochen, dagegen wird das Leid, das Deutsche über andere Dass die Charta in ihrer Eröffnungssequenz scheinbar großzügig Völker gebracht haben, nur euphemistisch angedeutet. Bis heute auf »Rache und Vergeltung ‚verzichte’, sei eine Ungeheuerlichwird darüber gestritten, ob dies eine mutige Geste war, auf Verkeit. Verzichten könne man nämlich nur auf das, was einem rechständigung angelegt, oder ob es eine selbstgefällige, geschichtstens zustehe. Die Charta postuliere einen grundsätzlichen Anblinde Äußerung war, die nur das eigene Leiden anspricht und das spruch auf Rache und Vergeltung.« Des Weiteren betont Micha »Recht auf Heimat« proklamiert und die deutsche Verantwortung Brumlik, »dass etwa ein Drittel der Erstunterzeichner der Charta für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen vollkommen beiseite überzeugte Nationalsozialisten gewesen seien. Bei diesen handele es sich schiebt. vor allem um Funktionäre, die bereits vor der Machtübernahme der In Äußerungen von Politikern und Historikern kommen diese bis Nationalsozialisten im so genannten Volkstumskampf tätig gewesen heute unterschiedlichen Einschätzungen deutlich zum Ausdruck. seien. […] Die Charta stelle dagegen noch eine im Geist von […] Aus Anlass des 50. Jahrestages der Charta lobte der damalige Selbstmitleid und Geschichtsklitterung getragene, ständestaatliche, Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) die »weitreichende völkischpolitische Gründungsurkunde dar, in der nichts weniger als die Bedeutung« der Charta, »weil sie innenpolitisch radikalen Bestrebungen Absicht beglaubigt wird, die Politik der jungen Bundesrepublik in den Boden entzog und außenpolitisch einen Kurs der europäischen Geiselhaft zu nehmen.« (zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Charta_ Einigung unter Einbeziehung unserer mittel- und osteuropäischen der_deutschen_Heimatvertriebenen). Nachbarn vorbereitete.“ Zur Diskussion um die Verstrickung einiger Unterzeichner der Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble äußerte sich 27. August Charta in das nationalsozialistische System gibt es mittlerweile 2006 in Stuttgart folgendermaßen: »[Die] Charta war damals und ist eine sehr ausgewogene Studie: Schwartz, Michael (2013): Funktioheute noch ein beeindruckendes Zeugnis menschlicher Größe und näre mit Vergangenheit. Lernfähigkeit. Nicht Revanchismus, nicht Niedergeschlagenheit bestimmen diese Charta, sondern der Glaube an die Zukunft, Europäertum, christliche Humanität.« (zitiert nach: Wikipedia-Beitrag »Charta der HeiSchwierigkeiten bei der Aufarbeitung matvertriebenen«.). Kritisch äußern sich der Wissenschaftler Micha Brumlik und der Festzuhalten bleibt, dass sich die Deutschen nach 1945 in West Publizist Ralph Giordano. Micha Brumlik kritisierte, dass im Satz und in Ost sehr schwer taten, sich der Verantwortung für die Verder Charta, »die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am brechen des Zweiten Weltkriegs zu stellen und die Folgen zu akSchicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am zeptieren und historisch einzuordnen. Im Verhältnis zu Polen war schwersten Betroffenen empfinden,« behauptet werde, dass die Heidies besonders deutlich. Im Westen Deutschlands beschäftigte matvertriebenen am schwersten betroffen gewesen seien, noch man sich nur mit dem eigenen Leid, und eine fatale Verknüpfung vor den ermordeten Juden, noch vor den Verfolgten in Polen und von traditionellen antipolnischen Einstellungen, gepaart mit reRussland und noch vor den deutschen Kriegswaisen und -witwen. D&E DuE68_umbr.indd 45 Heft 68 · 2014 45 Deutschl and und Polen 24.11.14 13:40 MANFRED MACK »Zwangsverordnete Freundschaft« der DDR zu Polen In der DDR kann man die Situation am besten mit der Formulierung »Zwangsverordnete Freundschaft« charakterisieren. Eine Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen fand ebenso wenig statt wie eine Beschäftigung mit dem Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen. Man flüchtete sich – ideologisch verbrämt – in die angebliche Partnerschaft mit dem »neuen sozialistischen Polen“» Die historische Verantwortung für die deutschen Verbrechen schob man auf den »Nachfolgestaat des Dritten Reiches, die revanchistische Bundesrepublik« ab. Neue Ostpolitik bis zum Kniefall Willy Brandts 46 Geändert hat sich diese Situation erst zu Beginn der 1960er Jahre. Die ersten Anstöße kamen nicht von der Politik, sondern von gesellschaftlichen, vornehmlich kirchlichen Initiativen und in Westdeutschland auch aus der Wirtschaft. Das erste Dokument eines »ostpolitischen Umdenkens« markiert das Tübinger Memorandum protestantischer Intellektueller vom 24. Februar 1962, in dem die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze postuliert wurde. Auf Initiative von Berthold von Beitz wurde am 7. März 1963 ein deutsch-polnischer Handelsvertrag unterzeichnet. Im Oktober 1965 wurde in Berlin die Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) veröffentlicht mit dem Titel »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«. Das nächste, eminent wichtige Dokument war der Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder vom 18. November 1965 mit dem zentralen Satz »Wir vergeben und bitten um Vergebung«. Abb. 7 »Deutschland, Deutschland über alles«, Karikatur von Jan Lenica aus Polen im Die Antwort der deutschen Bischöfe war eher zurückJahre 1951 © VG Bild-Kunst, Bonn 2014 haltend. Für die polnische Seite, die wegen ihres Briefes von den polnischen Kommunisten hart kritisiert wurde und die auch in der polnischen Gesellschaft vanchistischen Forderungen und im Zuge des beginnenden Kaldamals kaum auf Verständnis traf, war die Antwort schlicht entten Krieges zwischen Ost und West antikommunistischen Positiotäuschend. Erst das Memorandum des »Bensberger Kreises« von nen, führten dazu, dass man Polen häufig als »Vertreiberstaat« prominenten Katholiken aus dem Jahre 1968 ging deutlich über brandmarkte, die von den Alliierten beschlossenen Grenzverdie Antwort der deutschen Bischöfe hinaus. Als Initiative von Proschiebungen nicht anerkannte und wahrhaben wollte und sich testanten aus der DDR wurde 1958 die zunächst gesamtdeutsch einer Diskussion über die deutschen Verbrechen gegenüber Polen konzipierte »Aktion Sühnezeichen« begründet. schlichtweg verweigerte. Wichtige Impulse kamen auch aus dem Bereich der Kultur. StellDie Historikerin Beata Kosmala bilanziert treffend: »Unter dem vertretend für viele andere Initiativen seien nur die Bemühungen massiven Einfluss des Bundes der Vertriebenen (BdV) blieb das des Übersetzer Karl Dedecius genannt, der durch seine Antholowestdeutsche Polenbild in den ersten Jahren von der Ablehnung der Odergien mit Übersetzungen polnischer Autoren (»Leuchtende GräNeiße-Grenze, die stets als Unrecht bezeichnet wurde, geprägt. Polen ber. Verse gefallener polnischer Dichter« und »Lektion der Stille«) wurde, wenn überhaupt, als »Vertreiberstaat« und kommunistisches Land Grundlagen für eine deutsch-polnische Verständigung schuf. wahrgenommen. In dieser Atmosphäre überdauerten antipolnische All diese Initiativen waren die Basis für ein Umdenken auch in der Klischees und Vorurteile in Politik und Gesellschaft. Sie waren nicht nur Politik, das zur neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition Produkte des Kalten Krieges, sondern enthielten Elemente eines negativen führte und im Dezember 1970 in die Unterzeichnung des WarPolenbildes, das sich im Kaiserreich ( 1871–1918) entwickelt hatte, in der schauer Vertrages mündete. Legendär war dabei der symbolische Weimarer Republik (1919–1933) fortdauerte und durch die Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Denkmal der nationalsozialistische Propaganda seit März 1939 und besonders seit Helden des Warschauer Ghettoaufstands. Willy Brandt erhielt dem Überfall auf Polen im September 1939 hasserfüllt aufgeladen wurde. nicht zuletzt wegen seiner Verdienst um die West-Ost-AussöhDen Deutschen war jahrelang eingebläut, dass es eine ‚rassische’ und nung 1972 den Friedneensnobelpreis. zivilisatorische Kluft zwischen Polen und Deutschen gebe. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg diente die Redewendung ‚polnische Wirtschaft’ in gehässiger Weise als Erklärung für eine wirtschaftliche und angeblich zivilisatorische Rückständigkeit Polens.« (Kochanowski (2013), S. 153) Deutschl and und Polen DuE68_umbr.indd 46 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 Literaturhinweise Bingen Dieter (2005): Die deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945. In: www.bpb. de/apuz/29248/die-deutschpolnischen-beziehungennach-1945?p=all Beer, Mathias (2011): Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen. München: Beck 204 S. Borodziej, Wlodzimierz/ Ziemer Klaus (Hrsg.) (2000): Deutschpolnische Beziehungen 1939– 1945–1949. Eine Einführung. Osnabrück: fibre,348 S. Bulitta, Erich und Hildegard (o. J.): Nachkriegsjahre. 1945– 1948. Pädagogische Handreichung. Faulenbach, Bernd (2002):Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße. In. Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 51–52. www. bpb.de/apuz/26557/die-vertreibung-der-deutschen-ausden-gebieten-jenseits-vonoder-und-neisse Abb. 8 Historische Szene: Bundeskanzler Willy Brandt kniete am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto in Warschau, das den Protestierenden des Ghetto-Aufstandes vom April 1943 gewidmet ist. Brandt eroberte mit seinem »Kniefall« die Herzen der intellektuellen Polen und legte damit den Grundstein für die deutsch-polnische Aussöhnung. Durch seine Geste war es ihm gelungen, Vertrauen in einem Land zu erwecken, in dem die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges sechs Millionen Einwohner, über die Hälfte davon Juden, ausgelöscht hatten. Am selben Tag, der als Wendepunkt im deutsch-polnischen Verhältnis gilt, unterzeichnete Willy Brandt den Warschauer Vertrag, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland und Polen zum Gewaltverzicht bekannten. © dpa, picture alliance Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.) (1996): Deutsche und Polen 1945–1995. Annäherungen – Zblizenia. Düsseldorf: Droste. 198 S. 47 Internethinweise Holzer, Jerzy (2005): Der polnische achte Mai 1945. Sieg und Niederlage. In: Polen und wir, Nr. 3. www.polen-news.de/puw/puw74–01.html Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten. www.deutscheundpolen. de/themen/thema_jsp/key=bhe.html Klett (Hrsg.) (2014): Flucht und Vertreibung. Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive von drei Nachbarn. Stuttgart /Leipzig. Charta der Vertriebenen. www.deutscheundpolen.de/themen/thema_jsp/ key=charta_der_heimatvertriebenen.html Kneip, Matthias/ Mack, Manfred (2007): Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung als Folgen des Zweiten Weltkriegs. In: Dies.: Polnische Geschichte und deutsch-polnische Beziehungen. Darstellungen und Materialien für den Geschichtsunterricht. Berlin: Cornelsen. S. 84–97. 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Lizenzausgabe bpb Bonn. www.iz.poznan.pl/news/98_Biuletyn%2020%20internet%20bez%20 vacat%C3%B3w.pdf Tycner, Janusz (2000): Im Wechselbad der Meinungen und Gefühle. Polen und Deutsche seit 1945. In: Deutschland und seine Nachbarn. Briten, Franzosen, Niederländer und Polen blicken auf Deutschland. Hannover: NLPB 2000. S. 86–131. www.vertreibungszentrum.de/ D&E DuE68_umbr.indd 47 Heft 68 · 2014 www.zentrum-gegen-vertreibungen.de/index1.html www.zeitgeschichte-online.de/thema/online-ressourcen-zur-debatteum-das-zentrum-gegen-vetreibungen-und-zum-diskurs-zum-thema-der Deutschl and und Polen 24.11.14 13:40 MANFRED MACK 48 MATERIALIEN M1 Jerzy Holzer: »Sieg und Niederlage. Der polnische achte Mai.« Für die einen ist es ein Tag des Sieges, des Triumphes der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Demokratie. Für die anderen, die Deutschen, ein Tag der Erinnerung an Irrwege, auf die sie falsche Propheten führten, Propagandisten von Hass und Verbrechen. Es war also ein Tag der Niederlage und gleichzeitig ein Tag der Befreiung von bösen Mächten. Aus diesem mehr oder weniger einheitlichen europäischen Chor fällt Polen heraus. Das Land stellt sich doch eine Frage, vor die sich kein anderes Land der damaligen siegreichen Koalition gestellt sieht: Bedeutet der 8. Mai für M 2 Deutsches Konzentrations- und NS- Massenvernichtungslager in Auschwitz (Oswiecim) auf polniuns, die Polen, ein Tag des verdienten Sieges schem Boden. Überlebende Häftlinge am Lagerzaun nach der Befreiung vom nationalsozialistioder der unverdienten Niederlage? Mit dieser schen Terrorregime durch sowjetische Truppen am 26.1.1945. – Januar 1945. Frage stellen wir uns praktisch außerhalb der © dpa, picture -alliance Selbstzufriedenheit Europas, außerhalb seines Bildes über das 20. Jahrhundert. […] In der Geschichte des II. Weltkrieges kann man bezüglich Polens tatsächlich eine sehr weitgehende Besonderheit Gruppe bestand aus Polen, die das Ende des Krieges in Deutschentdecken. Kein anderes gegen Deutschland oder seine Verbünland erlebten: ehemalige Häftlinge aus Konzentrationslagern, deten kämpfendes Land befand sich zu Beginn des Krieges unter Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Nur ein Teil von ihnen beeiner doppelten Besetzung: durch Deutschland und UdSSR (dem fand sich auf bereits von der Koalitionsarmee eingenommenen späteren Teilnehmer an der siegreichen Koalition). Kein anderes Gebieten, im Westen oder Osten Deutschlands; einige von ihnen gegen Deutschland kämpfendes Land war zum Ende des Krieges wurden erst mit der Kapitulation des Reiches frei. Für alle bedeuvon einer so starken sowjetischen Unterdrückung betroffen: tete jedoch der 8. Mai der symbolische Augenblick der Freiheit. Seine Regierung, die die Bevölkerung Polens durch die KriegsViele kehrten zurück, weil sie durch das Ende des Krieges eine jahre führte, verlor die Macht und ihr wurde von einer ausländiChance zur Rückkehr zu ihren Familien sahen, in ihr Land, zur Arschen Macht ein neues Regierungssystem mitsamt den dazugebeit oder Forschung. Viele andere blieben im Westen und wählten hörigen Personen aufgezwungen. So betrachtet, kommt man das Los eines Emigranten, oft als Heimatlose. […] Das besiegte eher zu der Antwort, dass das Ende des Krieges für uns eine NieDeutschland war der ewige Feind Polens. Die Russen oder auch derlage und kein Sieg war. […]. Zwei Umstände waren dafür entdie Rote Armee waren Verbündete, slawische Brüder, im letztlich scheidend, dass die Beendigung des Krieges mit Hoffnung versiegreichen Kampfe. In den Reihen der polnischen Armee im Wesbunden war. Der erste war die Erschöpfung nach sechs Jahren ten bekamen die negativen Elemente mit dem Ende des Krieges Krieg. Besonders stark betraf das die aus Warschau vertriebenen ein bedeutenderes Gewicht. Die amerikanischen und britischen und in ihrer großen Mehrheit jeglicher Wohnmöglichkeit beraubVerbündeten hatten sie enttäuscht. Die polnischen Soldaten ten Menschen. Der zweite Umstand war die Verzweiflung über die mussten eine Entscheidung fällen: Sollten sie zu ihren Familien westlichen Verbündeten nach den Beschlüssen von Jalta, die die und Freunden zurückkehren, aber in ein Land, in dem die WirkÄnderung der östlichen Grenzen akzeptierten sowie schwiegen, lichkeit weit davon entfernt war, wie man sie sich während des als durch Schaffung von Fakten das kommunistische System geKrieges erhoffte? Oder sollte man in der Emigration bleiben? Befestigt wurde. In ihrer großen Mehrheit wollten die Polen ihre sonders schwierig war die Entscheidung für die Soldaten, die in Hoffnung nicht an einen neuen großen Konflikt knüpfen, wie den den Jahren 1939–41 deportiert wurden und diese Zeit in Lagern eines III. Weltkrieges. Man verknüpfte so das persönliche wie verlebten, bis sie die UdSSR mit der Anders-Armee verlassen auch das nationale Schicksal mit den entstandenen Realitäten. konnten. Es war für sie auch deshalb so schwierig, weil es für deMan glaubte, dass die Chance zum Wiederaufbau des Landes wie ren Mehrheit kein Zurück mehr in die Heimat gab, da sie von Poauch wenigstens einer teilweisen Selbstständigkeit bestehe. Man len abgetrennt worden war. […] Es gibt also nicht die eine, gewartete – wie es in Jalta verabredet worden war – auf die Bildung meinsame polnische Antwort auf den 8. Mai 1945 und die darauf der Regierung der Nationalen Einheit, die Garant dieser Selbstfolgenden Tage und Monate, ob das Ende des Krieges eine polniständigkeit sein sollte. […] sche Niederlage oder einen polnischen Sieg bedeutet. Heute fällt Für die Polen aus den östlichen Teilen der II. Republik bedeuten uns die gemeinsame Antwort leichter. Aber einfach ist sie nicht. weder die Ereignisse von 1944–45 noch die Beendigung des KrieIm Mai 1945 endete ein Krieg, in dem das polnische Volk vor einer ges die Rückkehr zu einem normalen persönlichen Leben. Im Gedrohenden physischen Ausrottung oder einem Leben als Sklaven genteil: Diese einige Millionen starke Menschengruppe war in stand. Die bekannt gewordenen Pläne der Nationalsozialisten den vorhergehenden Monaten erneuten Repressionen ausgeversichern, dass diese Befürchtungen keine Übertreibung waren. setzt, die deutlich stärker als in Polen westlich des Bug und der Unter diesem Aspekt war das Ende des Krieges ein Sieg. Trotz der San waren. In ihrer übergroßen Mehrheit sahen sie ihre unsichere ungeheuren Verluste ging Polen aus dem Krieg verkleinert hervor, Zukunft in einer faktischen Zwangsumsiedlung, die die Aufgabe mit neuen, ihm aufgezwungenen Grenzen, die perspektivisch den ihrer Häuser und der Heimat bedeutete. Schon Ende 1944 begann Verlust der Heimat und eines bedeutenden Teils des Hab und Gudie Organisierung dieser Umsiedlungen. […] Das Ende des Krietes von Millionen Menschen bedeuteten. Vor allem aber bedeuges eröffnete eine schmerzhafte Perspektive, aber doch eine, die tete dies, vom Kreml abhängig zu sein. Hoffnung für die Zukunft geben konnte: Man bekam die Chance © aus: Tygodnik Powszechny Nr. 19 (2013) v. 8. Mai 2005, S. 11–12. www.polen-news.de/ auf eine Wohnung und für ein friedliches Leben in den Westgebiepuw/puw74-01.html. Übers. von Wulf Schade ten, die Polen angeschlossen worden waren. […] Eine andere Deutschl and und Polen DuE68_umbr.indd 48 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 M3 Jan Osmanczyk: Anliegen der Polen (1946) »Fünfzehn Monate nach Beendigung des verbrecherischen deutschen Krieges ist klar, dass sich der Hass und die Verachtung für das deutsche Volk in der Welt nicht werden halten können. Unausweichlich nähern wir uns dem Tag, an dem man das deutsche Volk, inmitten rauschender, edler, rührender Bekundungen, wie ein verirrtes Schäflein in die Weltvölkerfamilie wiederaufnehmen wird. […] Machen wir uns nichts vor, Brüder Polens: das viele Dutzend Millionen Menschen zählende deutsche Volk mitten in Europa wird nicht für alle Ewigkeit oder auch nur für zwanzig Jahre wie eine Leprakolonie behanM 5 »Versöhnung vor Rechtsanspruch!« Aufruf zur Versöhnung. Evangelische und katholische Theologiestudenten demonsdelt werden, von der sich die trierten 1966 am Rande einer Kundgebung von Vertriebenen. © KNA-Bild Frankfurt/Main Welt mit Abscheu abwendet. Zu viele Interessen treffen in diesem Teil Europas aufeinnisse ist immer noch groß und wird vermehrt durch das so geander, um einen solchen Zustand auch nur ein paar Jahre lang nannte »heiße Eisen« dieser Nachbarschaft; die polnische Westaufrecht zu erhalten. Dort wo es Interessen gibt, entsteht auch grenze an Oder und Neiße ist, wie wir wohl verstehen, für sehr schnell der Wille zur Zusammenarbeit. […] Der künftige StreDeutschland eine äußerst bittere Frucht des letzten Massenversemann wird keine deutsche Minderheit, keine deutsche Industnichtungskrieges – zusammen mit dem Leid der Millionen von rie mehr in Polen haben, die er der Welt jeden Tag von neuem als Flüchtlingen und vertriebenen Deutschen (auf interalliierten eine historische Tatsache würde präsentieren können. Wir sind Befehl der Siegermächte – Potsdam 1945! – geschehen). keine siamesischen Zwillinge mehr. Eine Amputation hat stattgeEin großer Teil der Bevölkerung hatte diese Gebiete aus Furcht vor funden, deren Anblick schmerzhaft gewesen ist für die Welt im der russischen Front verlassen und war nach dem Westen geAugenblick der Operation, der Aussiedlung der Deutschen aus flüchtet. Für unser Vaterland, das aus dem Massenmorden nicht Polen, aber später nicht mehr […]. Wenn Deutschland stark sein als Siegerstaat, sondern bis zum Äußersten geschwächt hervorwill, dann muss es normal sein. Jede deutsche Regierung muss ging, ist es eine Existenzfrage (keine Frage »größeren Lebensrausich also darum bemühen, dass alle Deutschen genug zu essen mes«); es sei denn, dass man ein über 30 Millionen-Volk in den und Wohnraum haben. Notwendigerweise wird sie sich also forengen Korridor eines »Generalgouvernements« von 1939 bis 1945 ciert darum bemühen, dass die deutschen Aussiedler auf dem Gehineinpressen wollte – ohne Westgebiete; aber auch ohne Ostgebiet des Vierten Reiches Wurzeln schlagen. Wenn wir dreißig biete, aus denen seit 1945 Millionen von polnischen Menschen in Jahre lang mit den Deutschen im Frieden durchhalten, dann wird die „Potsdamer Westgebiete“ hinüberströmen mussten. […] den Deutschen nichts anderes übrig bleiben, als sich mit der Seid uns wegen dieser Aufzählung dessen, was […] geschehen ist, Grenze an Oder und Neiße ein für allemal zu versöhnen.« liebe deutsche Brüder, nicht gram. Es soll weniger eine Anklage © Jan Osmanczyk: Anliegen der Polen,aus: www.nibis.de/nli1/rechtsx/nlpb/pdf/Europa/Nachals vielmehr eine eigene Rechtfertigung sein! […] barn/polen.pdf Und trotz alledem, trotz dieser fast hoffnungslos mit Vergangenheit belasteten Lage, gerade aus dieser Lage heraus, Hochwürdige Brüder, rufen wir Ihnen zu: versuchen wir zu vergessen! Keine M 4 Brief polnischer Bischöfe, 1965: »Wir gewähren Vergebung Polemik, kein weiterer kalter Krieg, aber den Anfang eines Diaund bitten um Vergebung« logs. […] Wenn echter guter Wille beiderseits besteht – und das ist wohl nicht zu bezweifeln –, dann muss ja ein ernster Dialog Den Hirtenbrief richteten die polnischen Bischöfe am 18. November 1965, gelingen und mit der Zeit gute Früchte bringen – trotz allem, trotz also mitten im Kalten Krieg und im Vorfeld der 1000-Jahrfeier Polens heißer Eisen. […] In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr 1966 (aufgrund des christlichen Hintergrundes der Taufe von Mieszko I. menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin in 966 für die kommunistischen Machthaber ein höchst problematisches Juden Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung biläum), »an ihre deutschen Brüder in Christi Hirtenamt«. Der Brief ist im und bitten um Vergebung. Und wenn Sie, deutsche Bischöfe und Original auf Deutsch verfasst. Konzilsväter, unsere ausgestreckten Hände brüderlich erfassen, Nach alledem, was in der Vergangenheit geschehen ist – leider dann erst können wir wohl mit ruhigem Gewissen in Polen auf erst in der allerneuesten Vergangenheit –, ist es nicht zu verwunganz christliche Art das Millennium feiern. dern, dass das ganze polnische Volk unter dem schweren Druck © nach: Bonn – Warschau. 1945–1991. Die deutsch-polnischen Beziehungen. Analyse und eines elementaren Sicherheitsbedürfnisses steht und seinen Dokumentation. Hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, Mieczysław Tomala. Köln: Verlag Wissennächsten Nachbarn im Westen immer noch mit Misstrauen beschaft und Politik 1992, S. 135–142. www.poleninderschule.de/assets/polen-in-dertrachtet. Diese geistige Haltung ist sozusagen unser Generationsschule/downloads/arbeitsblaetter/g-kniefallbrandt-03-AB1.pdf problem, das, Gott gebe es, bei gutem Willen schwinden wird und schwinden muss. […] Die Belastung der beiderseitigen Verhält- D&E DuE68_umbr.indd 49 Heft 68 · 2014 49 Deutschl and und Polen 24.11.14 13:40 MANFRED MACK M8 M 6 Vertreibungsbefehl der polnischen Regierung für Bad Salzbrunn (Niederschlesien) vom 14.7.1945. © dpa, picture -alliance 50 M7 Philipp Ther: »Evakuierung, Flucht und Vertreibung« »Auch die Geschichtswissenschaft steht vor neuen Aufgaben. Die erste ist eine stärkere Differenzierung zwischen Flucht und Vertreibung. Letzterer Terminus ist in den vergangenen Jahren zu einem Sammelbegriff für alle Arten von Opferschicksalen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mutiert. Die Evakuierung durch die Nationalsozialisten wird darunter ebenso subsumiert wie die Flucht vor der Roten Armee, die Vertreibung zwischen Kriegsende und dem Potsdamer Abkommen und die vertraglich sanktionierte Zwangsaussiedlung nach dem August 1945. Diese Gleichsetzerei ist schon deshalb fragwürdig, weil sich hinter Flucht und Vertreibung verschiedene Schicksale verbergen. Die Nationalsozialisten befahlen die Evakuierung in vielen Gebieten zu spät, um die deutsche Zivilbevölkerung zum Durchhalten gegen die heranrückende Rote Armee zu zwingen. Doch wer rechtzeitig den Weg in den Westen fand, wie zahlreiche Parteibonzen und Angehörige der gesellschaftlichen Eliten, kam oft glimpflich davon. Hingegen flohen die Menschen vor der Roten Armee im Hochwinter, was die meisten Opfer kostete. Schlimm erging es auch den Opfern der sogenannten »wilden Vertreibung« im Frühjahr 1945, denn an ihnen entlud sich der aufgestaute Hass gegen die ehemaligen Besatzer. Im Vergleich dazu war die vertraglich geregelte Vertreibung nach dem Potsdamer Abkommen stärker durchorganisiert, vor allem nach zusätzlichen Verträgen zwischen den Siegermächten und den beteiligten Staaten Ostmitteleuropas Anfang 1946. © aus: Philipp Ther: Der Diskurs um die Vertreibung und die Falle der Erinnerung. In: Thomas Strobel, Robert Maier Deutschl and und Polen DuE68_umbr.indd 50 Arnulf Baring: »Evakuierung, Flucht und Vertreibung«, 9.2.2006 »Je weniger man Genaues über das geplante »Zentrum gegen Vertreibungen« weiß, desto heftiger kann man streiten. Seit Jahren melden sich aufgeregte Stimmen zu Wort, die Schlimmes befürchten, falls ein solches Zentrum errichtet werden sollte. Soll es um ein Mahnmal, eine Gedenkstätte, ein Museum oder um ein Forschungszentrum gehen? Darf es, ja muss es in Berlin errichtet werden? Oder wäre ein Ort im Ausland, etwa in Polen, besser? Breslau wurde genannt. Aber es geht ja nicht nur um das deutschpolnische Geschehen, um die Untaten beider Seiten. Es geht um das ganze, grausame 20. Jahrhundert. Soll man vielleicht dezentral an verschiedenen Orten, in verschiedenen Ländern der Vertreibungen gedenken? Darf ein solches Vorhaben überhaupt allein vom deutschen »Bund der Vertriebenen« verwirklicht werden, unter dem Einfluss seiner Vorsitzenden Erika Steinbach? Oder sollte man seine Hoffnungen auf das »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität« mit seinem Sitz in Warschau setzen? Fragen über Fragen. Hinter [den kritischen Fragen zum Projekt Zentrum gegen Vertreibungen] stand häufig die Befürchtung linker Kreise, die Veranstalter wollten einseitig nur das Leid darstellen, das Deutsche am Kriegsende erlitten hätten, ohne im Zusammenhang daran zu erinnern, dass dieses Leid seine Ursache im von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg gehabt habe. Mit Hohn und Spott wurde immer wieder das doch verständliche, berechtigte Anliegen lächerlich gemacht, der zwei Millionen deutscher Frauen, Kinder und Greise zu gedenken, die in der Schlussphase des Weltkriegs elend zu Tode gekommen sind. Achselzuckend vergisst oder verdrängt man gern das Leiden jener 14 Millionen Landsleute, die aus ihrer Heimat vertrieben, millionenfach vergewaltigt und verschleppt worden sind. Ich habe diese Gefühllosigkeit, diese Hartherzigkeit immer unbegreiflich gefunden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer in der weiten Welt uns die Trauer über ermordete Juden, Polen, Russen, Roma, Sinti und andere glaubt, wenn wir uns gleichzeitig emotionslos den Schmerz um die eigenen Toten verbieten. Ich habe den Verdacht immer geradezu als infam empfunden, es gehe den Befürwortern des Zentrums um eine Relativierung, ja gar Leugnung der historischen Zusammenhänge, in deren Folge es zur Massenaustreibung der Deutschen kam. Denn von Anfang an stand ja fest, dass es nicht um ein Zentrum gegen Vertreibung, also einen ausschließlich auf Deutsche bezogenen Erinnerungsort gehen solle, sondern um ein »Zentrum gegen Vertreibungen«, um den breit angelegten Versuch also, das vergangene Jahrhundert als das Jahrhundert der Vertreibungen vor Augen zu führen. Die Ausstellung der Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen« steht denn auch unter der Überschrift: »Das Jahrhundert der Vertreibungen. Flucht und Vertreibung in Europa im 20. Jahrhundert«. © www.deutschlandradiokultur.de/vertreibungen-im-20-jahrhundert-wie-sollen-wirgedenken.1005.de.html?dram:article_id=157879 M9 Stefan Dietrich: »Besinnungsprozesse kann man nicht beschleunigen. Sie müssen reifen.« 9.2.2008 Vom Auschwitz-Prozess, in dem der Holocaust erstmals in seiner ganzen Unfassbarkeit zur Sprache kam, bis zur Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas in der Mitte der Hauptstadt vergingen vierzig Jahre. Hat das zu lang gedauert? Am Ergebnis gemessen, nicht. Unabhängig davon, wie gelungen man es findet, war es eine unerhörte Tat, dem vereinigten Deutschland eine ewige Erinnerung an seinen tiefen Fall ins demokratische Herz einzupflanzen. Einen so revolutionären Besinnungsprozess kann man nur reifen lassen, nicht beschleunigen. Unangebracht ist aus dem gleichen Grund die Ungeduld, mit der bisweilen von Polen gefordert wird, sich ebenso schonungslos D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 den dunklen Seiten seiner Geschichte zu stellen. Es geschieht, aber bis das, worüber sich Wissenschaftler schon längst nicht mehr streiten, zum geistigen Gemeingut wird, vergeht einige Zeit. Unterdessen stellte der Holocaust in seiner Monstrosität manches in den Schatten, was zwar auch erforscht, aber weit weniger im Bewusstsein der Deutschen präsent ist: den Vernichtungskrieg im Osten, den Bombenterror der Alliierten, die Zerstückelung Deutschlands und das Schicksal der Vertriebenen. Der oft unverständlichen Feindseligkeit, die Deutschland in den vergangenen Jahren aus Polen entgegenschlug, liegt der unausgesprochene Vorwurf zugrunde, die Deutschen hätten über der Aufarbeitung ihrer Verbrechen an den Juden vergessen, was sie dem nichtjüdischen Teil der Polen angetan haben. Der scheinbar nahtlose Übergang von der Errichtung des Stelenwalds zum Projekt »Zentrum gegen Vertreibungen« ließ eiM 10 Deutschlandhaus, Berlin. Für die Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Büroflächen sowie die nen Verdacht keimen, der selbst einen Mediathek der »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung« sind derzeit etwa 3.300 Quadratmeter Deutschlandfreund und -kenner wie Wladyvorgesehen (2014). www.sfvv.de © Paul Zinken, dpa, picture alliance slaw Bartoszewski überwältigte. Das war der Kern des absurden Vorwurfs, die Deutschen wollten ihre Geschichte umschreiben und aus Tätern Opfer machen. Wie wenig genügt, um ihn zu Gerade jene, die sie im Nachhinein sogar als »gerecht« empfinzerstreuen, zeigte in dieser Woche die Entkrampfung des Streits den, spüren nicht einmal so etwas wie einen Phantomschmerz über das »sichtbare Zeichen«. Die Bereitschaft der Bundesregienach der Abtrennung des deutschen Ostens. Normal ist diese Unrung, polnische Erinnerungsorte in Berlin aufzuwerten und sich in empfindlichkeit nicht. Wenn ein Mensch ein Bein verliert, stirbt Danzig an einem Museum des Zweiten Weltkriegs zu beteiligen, das Bein, doch der Leidtragende ist der Mensch. hat die Atmosphäre schlagartig verändert. Mit dem deutschen Osten ist ein Stück deutscher Identität und Zuvor hatte auch Deutschland schwer verständliche Signale nach europäischer Kultur untergegangen, auch ein Vorbild dafür, wie Polen ausgesandt. Es war unsensibel, die Frage der Rückführung die Völker in vornationalistischer Zeit miteinander auskamen. Bedeutscher Kulturgüter aus Polen aufzuwerfen, ohne auch nur in trauern kann das aber nur, wer wenigstens eine Ahnung davon Nebensätzen zu erwähnen, dass man sich der gezielten Vernichbekommt. Das ist es, was das »sichtbare Zeichen« in Berlin vertung polnischer Kulturgüter durch die deutsche Besatzung bemitteln könnte – und was kein Nachbar fürchten muss. wusst sei. Und es war unklug, in einer Frage, die nur politisch ge© Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.02.2008, S. 1 löst werden kann, juristisch und moralisch zu argumentieren. Die Moral hat Deutschland hier nicht auf seiner Seite. Tatsächlich ist in Deutschland aber lange Zeit auch beiseite geM 11 Der polnische Außenminister Władysław Bartoszewski im schoben worden, welches Leid Hitlers Eroberungswahn und die Jahre 1995 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag Rache der Unterworfenen über die eigene Bevölkerung gebracht hat. Während des Kalten Kriegs war es nicht opportun, über den »Da man nun über das Schicksal der Aussiedler aus Lemberg und Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung zu sprechen, in Zeiten Wilna sprechen darf, ist es auch leichter, die menschliche der Entspannungspolitik wurden die Vertriebenen unbequem. Dimension des Dramas der Aussiedlungen aus Breslau […] zu Selbst eine gewiss entspannungsfreundliche Sozialdemokratin erblicken. […] Ich möchte es offen aussprechen, wir beklagen das wie Helga Grebing, die Historikerin der deutschen Arbeiterbeweindividuelle Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen, gung, empörte sich 1987 darüber, dass die Art, wie über das die von den Kriegsfolgen betroffen wurden und ihre Heimat Schicksal der Heimatvertriebenen hinweggegangen werde, der verloren haben. […] Als Volk, das vom Krieg besonders heimgesucht »Unfähigkeit zu trauern« ein weiteres Kapitel hinzufüge. wurde, haben wir die Tragödie der Zwangsumsiedlungen kennen Dennoch wurde dieses Thema weitere anderthalb Jahrzehnte lang gelernt sowie die damit verbundenen Gewalttaten und Verbrechen. mit dem Argument unter der Decke gehalten, es könne zur AufWir erinnern uns daran, dass davon auch unzählige Menschen der rechnung und Relativierung deutscher Schuld missbraucht werdeutschen Bevölkerung betroffen waren und dass zu den Tätern den. In Wirklichkeit waren es die Vertreter dieser These, die durch auch Polen gehörten. Ich möchte es offen aussprechen, wir einfaches Aufrechnen alle an Deutschen begangenen Verbrechen beklagen das individuelle Schicksal und die Leiden von relativierten. Durchbrochen wurde diese skandalöse Abwehrhalunschuldigen Deutschen, die von den Kriegsfolgen betroffen tung erst durch die Vertriebenenvorsitzende Steinbach und ihre wurden und ihre Heimat verloren haben. Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen«. Provoziert durch die Reizfigur Steinbach, kam endlich eine Diskussion in Gang. © Wladyslaw Bartoszewski: »Kein Frieden ohne Freiheit«. Betrachtungen eines Zeitzeugen Indessen hat auch Frau Steinbachs Stiftungsinitiative zu sehr den am Ende des Jahrhunderts. Baden-Baden 2000. S. 163–169 Fokus auf die Vertreibungsverbrechen in Europa und auf die Schicksale ihrer Opfer verengt. Als ob bei solchen Vorgängen nur die Vertriebenen etwas verlören, die anderen aber nicht. Es ist auch mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende nur wenigen bewusst, dass Hitlers Angriffskrieg nicht nur an Sudetendeutschen oder Ostpreußen vergolten wurde, sondern am deutschen Volk als ganzem. Die Strafe war nur nicht für alle gleich schmerzhaft. D&E DuE68_umbr.indd 51 Heft 68 · 2014 51 Deutschl and und Polen 24.11.14 13:40 EUROPA NACH 1945 6. »Aus Feinden wurden Freunde«. Deutsch-französische Beziehungen von 1945 bis 1963 HENRI MÉNUDIER A 52 m 7. Mai 1945 wurde die bedingungslose Kapitulation Deutschlands in Reims und am nächsten Tag in BerlinKarlshorst unterzeichnet. Der arrogante und steife Feldmarschall Wilhelm Keitel ärgerte sich darüber, dass Frankreich, der »Erzfeind«, der in wenigen Wochen im Juni 1940 besiegt wurde, nun mit drei anderen Mächten auf der Siegerseite stand. – Am 22. Januar 1963 unterzeichneten in Paris Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, kurz Elysée-Vertrag oder Freundschaftsvertrag genannt. Nach diesem feierlichen Akt stand De Gaulle auf, ging zu Adenauer und umarmte ihn freundlich. Der Kanzler und alle anwesenden Persönlichkeiten waren überrascht. Wegen der enormen Belastungen der Jahre 1939 bis 1945 war der Übergang von Krieg zu Frieden, von der Erzfeindschaft zur Freundschaft, nicht selbstverständlich. Spitzenpolitiker, Regierungen, viele Verantwortlichen in den verschiedensten Bereichen, einfache Bürger und zahlreiche Organisationen haben das neue deutsch-französische Verhältnis mitgestaltet. Nach dem furchtbaren Gegeneinander wurde das Miteinander von komplexen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen begleitet. Der internationale Kontext und ganz besonders der Kalte Krieg und seine häufigen Krisen haben die Annäherung zwischen den westlichen Völkern gefördert. Der Feind Nummer eins war nicht mehr Deutschland sondern die Sowjetunion. Die achtzehn Jahre zwischen 1945 und 1963 lassen sich in drei sehr unterschiedlichen Phasen einteilen. – Zwischen 1945 und 1949 bestimmt die Besatzungsmacht Frankreich das deutsch-französische Verhältnis. – Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 werden die Grundlagen der Partnerschaft in dem westeuropäischen Kontext gelegt. – Die Jahre 1958–1963 (Bündnis De Gaulle – Adenauer) zeigen die Grenzen und Widersprüche dieser Annäherung, auch wenn sie vom deutsch-französischen Freundschaftsvertrag gekrönt werden. Nachkriegszeit, 1945–1949: Eine schreckliche Bilanz Die Bilanz des Zweiten Weltkriegs war katastrophal, wobei Deutschland noch schwerer als Frankreich getroffen wurde. Die Zahl der militärischen und zivilen Toten, der Vermissten, der Verletzten, der Witwen und Waisen ging in die Millionen. Im Mai 1945 lebten zwangsweise ca. 1,2 Million Franzosen (Kriegsgefangenen, Fremd- und Zwangsarbeiter, Überlebende der Konzentrationslager, Kollaborateure des Vichy-Regimes von Pétain mit dem III. Reich) in Deutschland, über 1 Million deutscher Soldaten gerieten in französischer Gefangenschaft. Darüber hinaus musste das zerbombte und zerstückelte Deutschland Millionen von Flüchtlingen, Vertriebenen und »Displaced Persons« aufnehmen. Die moralische Abb. 1 Befreiung von Paris im Zweiten Weltkrieg 1939–1945. Charles de Gaulle im August 1944 auf den Champs Elysées. © dpa, picture alliance Bilanz wurde noch unerträglicher, als der Umfang der industriellen Vernichtung der Juden wahrgenommen wurde. Die materiellen Kriegszerstörungen (Häuser, gewerbliche Bauten, Verkehrsanlagen) waren auf beiden Seiten des Rheins erschreckend. Es herrschte überall Hunger, Not und soziale Härte. Nach drei Kriegen zwischen 1870 und 1945 beherrschten Furcht, Misstrauen und Hass die Beziehungen zwischen beiden Völkern, auch wenn die deutschen und französischen Gegner Hitlers sich früh für eine Verständigung engagierten. So viel Elend schuf eine erste menschliche Basis für gegenseitige Verständigung und Annäherung. »Nie wieder ein deutsches Reich« General Charles de Gaulle und die Résistance hatten sich mit Hilfe der Allierten durchgesetzt. Die geschwächte Siegermacht Frankreich wollte eine harte Deutschlandpolitik verfolgen und wieder eine führende Rolle in der Europa- und Weltpolitik spielen. Sie besaß noch ein großes Kolonialreich und als Gründungsmitglied der Vereinten Nationen in New York verfügte sie seit 1945 D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 DuE68_umbr.indd 52 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 (bis heute) über einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat. Frankreich wurde zwar als Besatzungsmacht in Jalta (4.– 11.2.1945) anerkannt, aber in Potsdam (17.7–2.8.1945) nicht eingeladen. Deswegen erklärte es sich nicht bereit, alle Entscheidungen mitzutragen. Es erhielt die kleinste Besatzungszone im Südwesten, das Saargebiet und den kleinsten Sektor im nordwestlichen Teil Berlins. Das Hauptziel der französischen Politik war zunächst die Zerstückelung und die politische sowie die wirtschaftliche Schwächung des besiegten Deutschlands, damit es nie wieder zu einer Gefahr würde. Die Anweisung De Gaulles war eindeutig: »Es soll nie wieder ein deutsches Reich geben«. Die Industriegebiete im Westen, und besonders das Ruhrgebiet, sollten abgetrennt werden. Frankreich hätte zudem Abb. 2 Jubel auf den Straßen in Paris am 24. August 1944. Kurz zuvor waren die alliierten Truppen siegreich in der Noram liebsten einen separaten mandie gelandet und die deutschen Truppen befanden sich auf dem Rückzug. © dpa, picture alliance deutschen Staat westlich des Rheins gegründet. Es lehnte mokraten und Europäer gemacht werden. Mit der Verbreitung der deshalb die in Potsdam geplanten Zentralverwaltungen ab, damit französischen Kultur und der Durchführung von deutsch-franzökeine starke Zentralregierung in Berlin wieder entstehen könne. sischen Jugendtreffen ab 1946 glaubte man, dieses Ziel erreichen Insofern war Frankreich mitverantwortlich für die deutsche Teizu können. Es ging dabei nicht nur um Schüler und Studenten. lung. Paradoxerweise plädierte das zentralistische Frankreich für Gleichzeitig wurden junge Arbeiter, Handwerker und Angestellte eine extreme Föderalisierung Deutschlands. Die französische Beangesprochen. satzungszone wurde von den anderen Zonen streng abgeschnitFranzösische Kulturinstitute und wissenschaftliche Anstalten ten. Die Besatzer machten sich zudem unbeliebt, als sie das laïziswurden gegründet, großzügig finanziert über die Besatzungskostische Erziehungssystem mit Zentralabitur und Französisch als ten, die von deutscher Seite bezahlt werden mussten. Diese Polierster obligatorische Fremdsprache einführen wollten. tik zeichnete sich durch gegenseitige Toleranz, Vielfalt und Qualität aus, so dass man diese als rundum erfolgreich und populär betrachten muss. Die Saarfrage als Zankapfel Viele Westdeutsche nahmen dieses großzügige Kulturangebot gern an, da der Kulturtransfer und die Begegnungen zwischen Bis 1956 vergiftete die sogenannte »Saarfrage« buchstäblich das beiden Ländern praktisch seit Anfang der dreißger Jahre unterdeutsch-französische Verhältnis. Dieses Grenzgebiet wechselte brochen war. Es gab viel nachzuholen. So waren z. B. der Philomehrfach seit Ludwig, dem XIV. von Deutschland nach Frankreich soph Jean-Paul Sartre und der Schriftsteller Albert Camus sehr und umgekehrt. Die Amerikaner eroberten es 1945 und übergagefragte Autoren und Vortragsreisende in beiden Ländern. ben es den Franzosen Anfang 1946. Das klare Ziel Frankreichs war Organisationen der Zivilgesellschaft aus Frankreich und Deutschdabei die wirtschaftliche Einverleibung des Saarlands als Vorleisland warben für offenen Gedankenaustausch, nicht nur über die tung für die Wiedergutmachung. traditionelle elitäre Kultur, sondern über alle aktuellen Probleme Eine Zollgrenze trennte Ende 1946 das Gebiet von den anderen der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Teilen der französischen Zone und eine eigene Währung wurde Der Jesuitenpater Jean du Rivau gründete schon im Sommer 1945 eingeführt. Am 15. Dezember 1947 verabschiedete zudem eine das »Bureau de Liaison et de Documentation« (BILD), auf deutsch verfassungsgebende Versammlung eine eigene Verfassung für »Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit« (GÜZ), und das Saarland. Damit sollte das Saarland unabhängig von Deutschveröffentlichte die Zeitschrift »Documents und Dokumente«, die land sein. Die wirtschaftliche Eingliederung wurde Anfang 1948 jeweils über das andere Land und das deutsch-französische Verdurch die Einführung des Francs und eine Zollunion mit Frankhältnis berichtete. BILD bzw. GÜZ und die Zeitschriften existieren reich vollzogen. Viele Saarländer freuten sich zunächst, weil ihre heute noch. Es folgte 1948 das »Comité français d’Echanges avec Lebensbedingungen besser als jene in anderen Teilen Deutschl’Allemagne Nouvelle«, das von dem bekannten Philosophen Emlands waren. Eine scharfe Kritik kam jedoch aus Westdeutschmanuel Mounier gegründet wurde und das den auch in Deutschland, weil diese Politik das Potsdamer Abkommen verletzte. land geachteten Professor Alfred Grosser zum Generalsekretär ernannte. Das deutsch-französische Institut in Ludwigsburg, eine bis heute sehr geschätzte wissenschaftliche Institution, wurde Deutsch-französischer Kulturaustausch von Fritz Schenk, Carlo Schmid, SPD, und Theodor Heuss, FDP, 1949 gegründet. Für viele Franzosen waren die älteren Generationen in Deutschland vom Nationalsozialismus verdorben. Deswegen sollten insbesondere aus den jungen Deutschen bis etwa 25 Jahre echte De- D&E DuE68_umbr.indd 53 Heft 68 · 2014 53 D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 24.11.14 13:40 HENRI MÉNUDIER Abb. 3 General Marie-Pierre König (Mitte), der Militärgouverneur der französischen Zone in Deutschland, im französischen Außenministerium Quai D›Orsay in Paris während seiner Ansprache. Am 16. April 1948 hatten 16 (west-)europäische Staaten den Vertrag über die europäische, wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC=Organization for European Economic Cooperation) unterzeichnet. Die Organisation wurde zur Durchführung und Unterstützung des Marshall-Plans geschaffen. 1960 wurde die OECD Nachfolgeorganisation. © dpa, picture alliance Die Teilung Deutschlands 54 Der »Kalte Krieg« zwang Frankreich ab 1947 vollends, sich als Teil des westlichen Lagers zu verstehen. Frankreich brauchte dringend die Hilfe der Vereinigten Staaten von Amerika für den Wiederaufbau seiner Wirtschaft und für den Kolonialkrieg in Indochina (1946–1954), wo die vietnamesischen Kommunisten für ihre Unabhängigkeit kämpften. Als Gegenleistung forderten die Amerikaner eine konstruktivere französische Deutschlandpolitik. Trotz der Vereinbarungen von Potsdam und gemeinsamer Strukturen (wie z. B. Alliierter Kontrollrat, Kommandantur für Berlin und Außenministerkonferenz) konnten die vier Besatzungsmächte Deutschland nicht einheitlich behandeln. Die Sowjetische Besatzungszone ging schon früh ihren eigenen kommunistischen Weg. Schon am 1. Januar 1947 legten die USA und Großbritannien ihre Zonen zur Bizone zusammen, erst Anfang April 1949 entstand dann mit französischer Beteiligung die Trizone. Im Prozess zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 blieb Frankreich eher eine bremsende als eine treibende Kraft. Nach Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurden beiden Staaten in ihren jeweiligen Einflusssphären integriert. Frankreich verurteilte zwar stets offiziell die deutsche Teilung, andererseits beruhigte diese Entwicklung doch viele in Frankreich, die nach wie vor Befürchtungen gegenüber einem erstarkenden Deutschland hegten. OEEC, Europarat, NATO Der eiserne Vorhang und die verschiedenen Episoden des Kalten Krieges zwangen die westlichen Akteure zu einer engeren Zusammenarbeit. Ab 1948 koordinierte die OEEC bzw. OECE (»Organisation européenne de Coopération Economique«, auf deutsch: »Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit«, mit Sitz in Paris) die Verteilung der amerikanischen Marshallplanhilfe; am Anfang sprach sich Frankreich sogar gegen die Beteiligung der westdeutschen Zonen aus. Deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa: Erfolge und Rückschläge: 1949–1958 Bis 1949 war das deutsch-französische Verhältnis von Frankreich einseitig orientiert. Die Lage änderte sich mit der Gründung der Bundesrepublik und der Wahl des Frankreich wohlgesonnenen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, CDU, ein Kölner, damals 73 Jahre alt. Das Misstrauen der Franzosen blieb und der neue Staat stand unter strenger Aufsicht. Kontrolle Westdeutschlands, Integration der Bundesrepublik Deutschland nach Europa Gegründet im Januar 1949 durch die drei Westalliierten sollte das Militärische Sicherheitsamt (Sitz in Bad Ems) sicherstellen, dass keine Kriegsgüter in den westdeutschen Betrieben hergestellt wurden. Auch auf Wunsch Frankreichs entstand am 22. April 1949 eine Internationale Ruhrbehörde, um die Produktion und die Verteilung von Kohle und Stahl zu überwachen; gleichzeitig sollte der Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft gezügelt werden. Erst am 21. September 1949, d. h. nach Gründung der Bundesrepublik, trat das Besatzungsstatut in Kraft, das die innere und äußere Souveränität des neuen Staates einschränkte. Eine erste Lockerung geschah am 22. November 1949 mit dem Petersberger Abkommen; die drei Hohen Kommissare erlaubten der Bundesrepublik konsularische Beziehungen zu westlichen Staaten aufzunehmen und Mitglied in internationalen Organisationen zu werden. Die Demontage industrieller Anlagen, an der Frankreich aktiv beteiligt war, wurde beendet. Überraschenderweise eröffnete das Jahr 1950 neue wirtschaftliche und militärische Perspektiven für Adenauers Streben nach Gleichberechtigung. Dabei spielten das Verhältnis zu Frankreich und der Aufbau Europas eine entscheidende Rolle. D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 DuE68_umbr.indd 54 Seit 1961 übernahm die OEEC, ein Zusammenschluss von entwickelten Ländern aus Europa, Nordamerika und Japan, andere Aufgaben. Als Gegenmaßnahme zur OEEC gründete 1949 die Sowjetunion mit osteuropäischen Staaten den »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe« (RGW bzw. Comecon), der 1950 auch die DDR aufnahm. Am 5. Mai 1949 gründeten zehn westeuropäische Staaten (noch ohne die Bundesrepublik, die erst am 23. Mai 1949 gegründet wurde) den »Europarat« mit Sitz in Straßburg. Nach französischen Vorstellungen sollte diese Institution den Kern eines föderalen Europas bilden. Der Plan scheiterte jedoch, weil vor allem Großbritannien nationale Souveränitätsrechte nicht aufgeben wollte. Der Schutz von Demokratie und Menschenrechte sowie die Zusammenarbeit im kulturellen Bereich sind die Hauptanliegen des Europarats. Am 4. April 1949 wurde in Washington der Vertrag zur Gründung der »North Atlantic Treaty Organization« (NATO) unterzeichnet. Nach Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO entstand 1955 dann der Warschauer Pakt (UdSSR und osteuropäische Staaten). OECD, Europarat und NATO bleiben bis heute wichtige internationale Organisationen, während sich der RGW, der Warschauer Pakt und die Sowjetunion nach 1991 auflösten. D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 Montanunion ab 1950 Wegen erheblicher Divergenzen in der Saarfrage kam das deutsch-französische Verhältnis Anfang 1950 nicht weiter. Washington machte Druck, damit Paris konstruktive Vorschläge unterbreitete. Die Franzosen mussten einsehen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland bald als wichtiger Wirtschaftspartner des Westens behaupten würde. Deshalb, so die USA, wäre es ratsam, einen europäischen Rahmen zu schaffen, um die Bundesrepublik zu kontrollieren. Der Befreiungsschlag und die Wende kamen schließlich vom französischen Außenminister Robert Schuman, 1986 in Clausen, einem Vorort von Luxemburg, geboren, der Vater war aber Lothringer. Er lebte in den drei Ländern, Luxemburg, Deutschland und Frankreich. Er übernahm 1950 die Ideen von Jean Monnet, einem Cognacfabrikanten und internationalen Geschäftsmann, der seit dem Ersten Weltkrieg eng mit Frankreich, England und den Vereinten Staaten zusammen arbeitete. In seiner berühmten Rede vom 9. Mai 1950 machte Schuman drei bahnbrechende Vorschläge: 1. Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland müssen sich zuerst versöhnen und zusammenarbeiten. Die Kohle- und Stahlproduktion beider Länder soll deshalb zusammengelegt werden, damit der Krieg zwischen ihnen unmöglich, ja sogar undenkbar werde. Kohle und Stahl waren zentrale Industrien für die Rüstungswirtschaft. 2. Andere europäischen Länder wurden aufgefordert mitzuwirken. Italien und die BeNeLux-Staaten machten mit. Großbritannien lehnte dagegen ab. 3. Zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Beziehungen sollte eine supranationale Organisation gegründet werden, an die die Teilnehmerstaaten weitgehende Kompetenzen in den Bereichen Kohle und Stahl abtreten. Dieser Ansatz ging insgesamt viel weiter als alle bisherigen traditionellen Kooperationen oder gar die bisherige diplomatische Zusammenarbeit. Konrad Adenauer, der schon oft seine Ideen über die Aussöhnung mit Frankreich publik gemacht hatte, war begeistert und gab sofort seine Zusage. Der Vertrag zur Gründung der »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (EGKS, mit Sitz in Luxemburg) wurde schließlich am 18. April 1951 in Paris unterschrieben. Er trat am 23. Juli 1952 in Kraft: Erster Präsident der Hohen Behörde wurde der »Inspirator« des Schuman-Planes, Jean Monnet. Robert Schuman betrachtete die EGKS dennoch als erste Etappe. Drei weitere Ziele wurden am 9. Mai angekündigt: (1) die Wirtschaftsgemeinschaft, (2) die politische europäische Föderation und (3) die Entwicklung des afrikanischen Erdteils. Die EGKS schuf Vertrauen zwischen Frankreich und Deutschland, und machte die alliierten Kontrollrechte an der Ruhr obsolet. Die deutsch-französische Partnerschaft für Europa konnte sich mit einer nahezu gleichberechtigten Bundesrepublik Deutschland dadurch weiter entfalten. Der Streit um die europäische Armee Der nächste Schritt der europäischen Einigung, der Aufbau einer geplanten west-europäischen Armee, zeigte die Hartnäckigkeit des deutsch-französischen Gegensatzes. Nach der japanischen Kapitulation 1945 wurde Korea geteilt, der Norden befand sich in der Einflusssphäre der Sowjetunion, der Süden stand unter dem Schutz der Vereinten Staaten. Der militärische Angriff Nordkoreas auf Südkorea am 25. Juni 1950 wurde im Westen allgemein als Versuch der Sowjetunion interpretiert, den Verteidigungswillen des Westens zu überprüfen. Die Spannungen um das geteilte Berlin (»Berliner Blockade«) und die Entwicklungen im geteilten Deutschland insgesamt nährten damals zudem die Spannungen des Ost-Westverhältnisses, des sogenannten »Kalten Krieges«. Mit dem Koreakrieg (1950–1953) D&E DuE68_umbr.indd 55 Heft 68 · 2014 Abb. 4 Jules Moch, der Sprecher der Kommission für auswärtige Angelegenheiten der Nationalversammlung, am Rednerpult. Am 29. August 1954 erreichte die Debatte um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung einen ersten Höhepunkt. In mehrstündigen Reden verfochten Gegner wie Befürworter bei der bis in die Nacht dauernden Debatte ihre Standpunkte. Am Abend des 30. August lehnten die Abgeordneten mit 319 gegen 264 Stimmen die Ratifizierung des EVG-Vertrages ab. © dpa, picture alliance 55 stellte sich in dramatischer Weise die Frage der Verteidigung der Bundesrepublik. Die Hauptlast der Verteidigung des Westens trugen spätestens seit 1945 die Amerikaner. Viele stellten sich die Frage: In welcher Form sollte sich daran die bisher nicht militarisierte Bundesrepublik beteiligen, der es wirtschaftlich immer besser ging? Frankreich war im Krieg gegen den Viêt-minh (1946–1954) von Hô Chi Minh involviert. Fünf Jahre nach der deutschen Kapitulation wollte es andererseits auf keinen Fall die Renaissance einer neuen deutsche Armee unterstützen. Deshalb suchte die französische Regierung wie vor fünf Monate mit dem Schuman-Plan einen Ausweg über die westeuropäische Einigung. Am 24. Oktober 1950 schlug deshalb der französische Regierungschef René Pleven vor, eine gemeinsame europäische Armee aufzubauen. Die sechs EGKS-Staaten unterschrieben folglich am 27. Mai 1952 den Vertrag über die »Europäische Verteidigungsgemeinschaft«, EVG. Ergänzend wurde eine »Europäische Politische Gemeinschaft«, EPG, in Aussicht gestellt. Nach langwierigen Verhandlungen scheiterten jedoch beide weitreichenden Integrationsprojekte vor der französischen Nationalversammlung am 30. August 1954. Für viele überzeugte Europäer stellte dies einen schwarzer Tag dar, von dem Europa sich nie wieder erholt hat. Die militärische Niederlage Frankreichs in Diên Biên Phu (Nordvietnam) Anfang Mai 1954 hatte viele Militärs und Politiker frustriert, die jetzt die Auflösung der französischen Armee in einem europäischen Verband ablehnten. In der EVG hätte Frankreich über nationale Atomwaffen nicht mehr allein verfügen können. D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 24.11.14 13:40 HENRI MÉNUDIER Die Pariser Verträge traten schließlich am 5. Mai 1955 in Kraft und damit war die Bundesrepublik Deutschland sechs Jahre nach ihrer Gründung mit gewissen Einschränkungen (ABC-Waffen und Viermächterechte bezüglich Berlin und Deutschland als Ganzes) völkerrechtlich – im Westen – wieder gleichberechtigt. Die Hohe Kommission der Alliierten mit ihrem symbolischen Sitz auf dem Petersberg bei Bonn verschwand nun zugunsten der Vertretung der West-Alliierten durch ihre diplomatischen Vertreter, ihre Botschafter. Die Pariser Verträge schufen plötzlich auch günstige Bedingungen für die Lösung der Saarfrage und für einen neuen Anlauf der Einigung Europas. Die Europäisierung der Saarfrage, 1954–1957 Abb. 5 Die Sonderbriefmarke »50 Jahre Pariser Verträge« wurde 2005 in Berlin vorgestellt. Von links der französische Ministerpräsident Pierre MendesFrance, der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer, der Außenminister Großbritanniens, Anthony Eden, und der Außenminister der USA, John Foster Dulles, nach der Unterzeichnung der Verträge. Mit dem Inkrafttreten der Verträge am 5.5.1955 erlangte die Bundesrepublik die weitgehende Souveränität. © Justin Peach, dpa, picture alliance Seit 1950 waren das Saarland und die Bundesrepublik assoziierte Mitglieder (ohne Stimmrecht) des Europarats in Straßburg. Die Bundesrepublik lehnte bis 1951 eine Vollmitgliedschaft aus Protest gegen die Aufnahme des Saarlandes und wegen möglicher Probleme einer deutschen Einheit ab. Verschiedene Abmachungen und Konventionen zwischen Frankreich und dem Saarland verschlechterten weiterhin das deutsch-französische Verhältnis. Frankreich strebte nach wie vor die politische und wirtschaftliche Trennung von der Bundesrepublik an und Bonn wiederholte immer wieder, dass dieses Gebiet staatsrechtlich zu Deutschland gehörte. Viele Deutsche betrachteten deshalb die französische Saarpolitik als eine verschleierte Annexion. In enger Zusammenarbeit zwischen Adenauer und dem französischen Regierungschef Pierre Mendés France gab es endlich in Paris am 23. Oktober 1954 eine Einigung, die ähnlich wie die Entwicklung zur Montanunion und zur – gescheiterten – europäischen Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954 56 Erstaunlicherweise wurde unter Druck der Amerikaner und Briten und bei gespannter Ost-West-Lage eine Ersatzlösung innerhalb von nur sieben Wochen gefunden. Nach kurzen Verhandlungen in London fand die Unterzeichnung der Pariser Verträge am 23. Oktober 1954 statt. Die Bundesrepublik sah sich dabei als Hauptgewinnerin dieser unerwarteten und raschen Entwicklung. 1. Der »Deutschlandvertrag» beendete das Besatzungsregime Westdeutschlands und gewährte der Bundesrepublik eine weitgehende Souveränität (eine erste Fassung lag schon seit Mai 1952 in Verbindung mit dem EVG-Vertrag vor), wenn auch die Bundesrepublik auf die Produktion von Atomwaffen verzichten und Rüstungsbeschränkungen und weitere Kontrollen in Kauf nehmen musste. Die Westalliierten behalten zudem ihre Rechte »in Bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes«. 2. Die Bundesrepublik wurde Mitglied der neuen »Westeuropäischen Union«, WEU, mit Sitz in London (dies bedeutete den Beistand im Verteidigungsfall für die EGKS-Staaten und Großbritannien). Gleichzeitig geschah der Beitritt zur NATO. Die NATO-Mitglieder verpflichten sich dabei nicht nur zum Beistandspakt, sondern auch dem Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands. Wegen der europäischen und atlantischen Integration der Bundeswehr waren viele in Frankreich beruhigt. Der Verzicht auf ABCWaffen schloss allerdings die Produktion von taktischen Atomwaffen mit anderen Staaten nicht aus. So gab es 1958 dann auch tatsächlich einen solchen Versuch mit Frankreich und Italien, den aber De Gaulle strikt ablehnte. Taktische Waffen dürfen aber seither auf dem Boden der Bundesrepublik gelagert werden. Die Wiederaufrüstung und die Atomdebatte im zivilen wie im militärischen Bereich führten in der Folgezeit auch in der Bundesrepublik zu langen und scharfen Kontroversen. Auch in Frankreich gab es Auseinandersetzungen über den deutschen Militarismus, wenn sie auch nicht mit den innenpolitischen Debatten in Deutschland zu vergleichen sind. Abb. 6 »Die Spaltung Deutschlands«. – Interpretation des Pariser Abkommens durch die DDR als Besiegelung der Spaltung Deutschlands. Der SED Vorsitzende Walter Ulbricht hat sich auf der 9. Tagung des ZK 1965 dahingehend geäußert. © dpa, picture alliance D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 DuE68_umbr.indd 56 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 Armee (EVG) lief, ein Weg über die westeuropäische Einigung. Das Saarland sollte innerhalb der WEU europäisiert werden, ohne die Währungs- und Zollunion mit Frankreich aufzugeben. War diese Lösung realistisch und lebensfähig? Darüber sollten die Saarländer per Volksabstimmung entscheiden. Dies geschah am 23. Oktober 1955. Bei einer Wahlbeteiligung von 96,7 % lehnten 67,7 % der Wähler das vorgelegte Statut ab, 32,3 % waren dafür. Der amtierende Minister-Präsident des Saarlandes, Johannes Hoffmann, CVP (für die Europäisierung), trat daraufhin zurück. Nach Neuwahlen eroberte die CDU für viele Jahre dieses Land. Am 27. Oktober 1956 unterzeichneten Adenauer und der französische Regierungschef Guy Mollet ein Abkommen. Die politische Eingliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik erfolgte schon am 1. Januar 1957, die wirtschaftliche Eingliederung sollte bis Juli 1959 abgeschlossen werden. So war das Saarland das elfte Bundesland (einschließlich West-Berlin). Das Saarland bildete, obwohl lange Zeit Zankapfel gewesen, eine neue Brücke zwischen beiden Ländern. Gemeinsamer Markt und Euratom, 1957 Abb. 7 Bundeskanzler Konrad Adenauer (links) und der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walter Hallstein, setzten am 25. März 1957 im Konservatoren-Palast auf dem Kapitol in Rom ihre Unterschriften unter die Römischen Verträge. Die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) waren besiegelt. Zunächst nahmen sechs westeuropäische Staaten daran teil. © dpa, picture alliance Das Scheitern der EVG und der EPG sperrten zunächst den Weg zu einer weitergehenden politischen und militärischen Integration Westeuropas. Der Erfolg der Montanunion (EGKS) zeigte dagegen, dass die Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich ausgebaut werden konnte. Dies war vornehmlich die Entscheidung der Außenminister der sechs EGKS-Staaten in Messina, Sizilien, am 1. und 2. Juni 1955. Frankreich war wegen der EVG isoliert und die europäischen Anstöße kamen deshalb von den Benelux-Staaten und ganz besonders vom Sozialisten Paul-Henri Spaak, mehrfacher Außen- und Premier Minister in Belgien. Am 25. März 1957 wurden danach zwei wichtige Verträge in Rom unterzeichnet. 1. Der Vertrag über die »Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), mit Sitz in Brüssel. Der erste Präsident der Kommission wurde Professor Dr. Walter Hallstein, Staatssekretär im Bundeskanzleramt und dann im Auswärtigen Amt. 2. Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft, (EURATOM); der Präsident der Euratom-Kommision war der Franzose Louis Armand. EURATOM sollte, besonders auf Wunsch Frankreichs, die Zusammenarbeit im zivilen Bereich entwickeln. Dass gerade ein Deutscher und ein Franzose die neuen Institutionen leiteten, zeigte, dass ihre Länder einen großen Einfluss auf der europäischen Ebene ausübten. Die Ernennung Walter Hallsteins war zudem eine Anerkennung der Gleichberechtigung der Bundesrepublik und ihrer verstärkten Rolle in Europa. Die Grundlagen für eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit im europäischen Rahmen wurden also im Grunde zwischen 1950 und 1957 gelegt. De Gaulle – Adenauer: 1958–1963 General Charles de Gaulle war ohne Zweifel der französische Staatsmann, der sich am intensivsten militärisch und politisch mit Deutschland beschäftigte. Nach dem Ersten Weltkrieg war er Besatzungsoffizier in Westdeutschland. Da er Deutsch als erste D&E DuE68_umbr.indd 57 Heft 68 · 2014 Fremdsprache gelernt hatte, konnte er Publikationen in deutscher Sprache und auch solche über Militärfragen lesen. Seine politische Zukunft war lange unsicher. Als Chef der Provisorischen Regierung in Paris (August 1944 – Januar 1946) trat er bald zurück und nach anfänglichen Erfolgen (1947–1953) scheiterte seine Partei, »Rassemblement du Peuple Français«, (RPF, »Versammlung des französischen Volkes«). Er zog sich daraufhin in sein Landhaus »La Boisserie« in Colombey-les-deux-Eglises (Département Marne, Ostfrankreich) zurück, um seine Kriegsmemoiren zu schreiben. Seit November 1954 kämpfte die französische Armee gegen die »Bewegung für die Unabhängigkeit Algeriens«. Die schwachen und unstabilen Regierungen der IV. Republik (1946–1958) wurden damit nicht fertig. Wegen Putschdrohungen in Algier, der Hauptstadt der damaligen französischen Kolonie Algerien, kam De Gaulle am 1. Juni 1958 an die Macht zurück, zunächst als Regierungschef und Anfang 1959 als Präsident der Republik (bis zu seinem Rücktritt am 28. April 1969). Die von ihm konzipierte neue Verfassung der V. Republik hatte seine Macht erheblich verstärkt. Seit 1945 hatte sich De Gaulle widersprüchlich über Deutschland und Europa geäußert. Er war strikt gegen die Entstehung einer neuen deutschen Macht, aber manchmal erwähnte er die positiven Möglichkeiten einer deutsch-französischen Zusammenarbeit in Europa. Seine Abneigung gegen die Supranationalität der EGKS und der EVG waren bekannt. Allerdings verfolgte er mit Wohlwollen die Politik Adenauers. Bundeskanzler Adenauer stand De Gaulle zunächst sehr reserviert gegenüber, ja war sogar misstrauisch. Adenauer begrüßte dann aber ausdrücklich die Ernennung des französischen Botschafters in Bonn, Maurice Couve de Murville, zum französischen Außenminister. Maurice Couve de Murville blieb in dieser Funktion bis 1968, eine einmalige Dauer für französische Verhältnisse. Entgegen vieler Befürchtungen blockierte De Gaulle dann die Anfänge der EWG und des Euratoms nicht. Die Überraschung war groß, als das erste Treffen mit Adenauer am 14.–15. September 1958 in dem privaten Landhaus De Gaulles in Colombey-les-deux- 57 D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 24.11.14 13:40 HENRI MÉNUDIER 58 Die Staatsbesuche 1962 Durch die Staatsbesuche im Sommer 1962 wurde das deutsch-französische Verhältnis gefestigt. Der Besuch Adenauers in Frankreich endete symbolisch mit einer deutschfranzösischen Truppenparade in Mourmelon und einem Hochamt in der Kathedrale von Reims. Der Gegenbesuch De Gaulles, der mit viel Skepsis in der deutschen öffentlichen Meinung anfing, entpuppte sich gar zu einer von vielen Zeitgenossen beschriebenen »Triumphreise«. De Gaulle imponierte dem Publikum, weil er seine Reden diAbb. 8 Unterzeichnung des Vertrages über die deutsch-französische Zusammenarbeit in Paris, Elysée-Palast, 22. Januar rekt auf Deutsch und ohne 1963. – Am Tisch von links: der deutsche Außenminister Gerhard Schröder, Bundeskanzler Konrad Adenauer, Staatspräsident Notizen sprach. Mit geradezu Charles de Gaulle und Premierminister Georges Pompidou. © da, picture alliance theatralischen Bewegungen erwähnte er oft »das große Eglises stattfand. Kein anderer ausländischer Staatsmann hatte je deutsche Volk …, jawohl das große deutsche Volk«. Die Zuhörer eine solche Einladung erhalten. Diese vertrauliche Unterredung waren begeistert. Beide Regierungen wünschten nun eine Vertieverlief durchwegs positiv. De Gaulle und Adenauer, die schließlich fung und Verankerung der Zusammenarbeit. Adenauer, der Mitte viel Respekt für einander pflegten, entdeckten zunehmend, dass Oktober 1963 zurücktreten musste, wollte seinen designierten sie persönlich und politisch viele gemeinsamen Vorstellungen Nachfolger, den eher franzosenskeptischen Ludwig Erhard, CDU, hatten. Bereits bei den ersten Treffen, die im Durchschnitt zweidamals noch Bundeswirtschaftsminister, in die Pflicht nehmen, mal im Jahr stattfanden, unterbreitete De Gaulle Adenauer weitdamit die Zusammenarbeit mit Paris auch in der Zukunft hohe Prireichende Vorschläge für eine engere Zusammenarbeit. Adenauer orität genießen sollte. hätte gerne von Anfang an mitgemacht, musste aber aus innenpolitischen Gründen vorsichtig handeln. MeinungsverschiedenheiElysée-Vertrag und Präambel ten über die Führung der NATO (De Gaulle wollte 1958 eine Führungsgruppe Frankreich, Großbritannien und USA, ohne die So entstand am 22. Januar 1963 der Vertrag über die deutsch-franBundesrepublik) oder über das Verhältnis der EWG zu Großbritanzösische Zusammenarbeit. Drei Dokumente spielen dabei eine nien belasteten zudem die Beziehungen zwischen Paris und Bonn. zentrale Rolle. Zudem lehnte De Gaulle den britischen Vorschlag einer großen 1. Die gemeinsame Erklärung von Adenauer und De Gaulle erläueuropäischen Freihandelszone zunächst ab. Auf der anderen Seite tert den Geist des Vertrags. Der Aufbau Europas wird zum gebrauchte Adenauer die feste Unterstützung De Gaulles, weil der meinsamen Ziel beider Völker erhoben. Vier Schlüsselworte sowjetische KP-Chef Nikita Chruschtschow nach dem Tode Stalins definieren die Aufgaben der Zukunft: Versöhnung, Zusamseit Herbst 1958 das Viermächtestatus Berlins in Frage stellte. De menarbeit, Solidarität und Freundschaft. Gaulle wollte auf keinen Fall nachgeben. Die britische Regierung 2. Der Vertrag selber besteht aus zwei Hauptteilen. Die Organiund der neue amerikanische Präsident John F. Kennedy erwogen sation bestimmt, dass die Staats- und Regierungschefs, die dagegen Entspannungsvorleistungen trotz des Baus der Berliner zuständigen Minister und die Hohen Beamten dieser MinisteMauer im August 1961 und der Kubakrise im Jahre 1962. rien sich regelmäßig treffen. Das Programm sieht eine enge Zusammenarbeit in drei Bereichen vor: Außenpolitik, VerteidiDer »Fouchet-Plan« gung, Erziehung und Jugend (ein Deutsch-Französisches Jugendwerk wurde im Juli 1963 gegründet). Die ZusammenarBei einem Gipfeltreffen am 11. Februar 1962 konnte De Gaulle beit im wirtschaftlichen Bereich wurde dagegen kaum Adenauer und die anderen Regierungschefs der EWG davon übererwähnt, vor allem um Auseinandersetzungen mit Ludwig Erzeugen, dass ein neuer Anlauf in Richtung politische Union Eurohard, einem entschiedenen Befürworters der Marktwirtschaft pas möglich sei. Eine dazu eingerichtete Arbeitsgruppe tagte unund Atlantikers, zu vermeiden. Kultureller Austausch wurde ter dem Vorsitz des französischen Botschafters Christian Fouchet. auch nicht Teil des Vertrags, vor allem aus Rücksicht auf die De Gaulle wollte vor allem eine regelmäßige Zusammenarbeit Kompetenzen der Bundesländer in Deutschland. In beiden zwischen den Regierungen. Insbesondere die Benelux-Staaten Bereichen werden trotzdem viele Initiativen entwickelt. lehnten allerdings ab, um die Supranationalität der Gemeinschaft 3. Die Präambel des Deutschen Bundestags (15. Juni 1963). Zur nicht zu gefährden. Die Verhandlungen scheiterten schließlich Verärgerung vieler deutscher Politiker legte De Gaulle am am 17. April 1962. 14. Januar 1963 sein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens Da der Krieg in Algerien Anfang Juli 1962 endete, konnte und in die EWG ein. Um den Eindruck zu vermeiden, de Gaulle wollte sich De Gaulle nun stärker der europäischen Außenpolitik könnte damit auch Einfluss auf die Prioritäten der deutschen widmen. Mit der Bundesrepublik wollte er einen Kern bilden, der Außenpolitik gewinnen, wurde deshalb eine Präambel zum die Zukunft der EWG bestimmen sollte. Vertrag verabschiedet, die nur die Bundesrepublik bindet. Ohne auf die Vertiefung und Weiterentwicklung der deutschfranzösischen Versöhnung zu verzichten, unterstrichen die D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 DuE68_umbr.indd 58 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 deutschen Parlamentarier, dass die Erweiterung der EWG, das atlantische Bündnis und die deutsche Einheit durch diesen Freundschaftsvertrag nicht in Frage gestellt würden. Kritik und Verdienste Diese Präambel war wie eine Ohrfeige für De Gaulle. Die drei nächsten Jahre mit Bundeskanzler Ludwig Erhard (1963–1966) waren deshalb sehr schwierig. Interessenkonflikte sowie starke Divergenzen zwischen Deutschland und Frankreich wurden deutlich. De Gaulle wurde Opfer der Widersprüche und Inkonsequenzen einer Politik, die ein »Europa der Staaten« (Oft übersetzt: ein »Europa der Vaterländer«) gegen den Willen der anderen Partner durchsetzen wollte. Seine Ablehnung der Supranationalität und der Erweiterung der EWG sowie sein Antiamerikanismus Abb. 9 50-Jahre Elysée-Vertrag: Abgeordnete aus Frankreich und Deutschland nahmen am 22.01.2013 irritierten. Insbesondere viele Deutschen im Bundestag in Berlin an einer gemeinsamen Sitzung des Bundestages und der französischen Nationalfanden De Gaulles Nationalismus unzeitgeversammlung teil. Am 22.01.1963 wurde der deutsch-französische Freundschaftsvertrag in Paris untermäß und übertrieben. Aber auch für Adezeichnet. © Maurizio Gambarini, dpa, picture alliance nauer bedeutete die Präambel eine bittere Niederlage, weil er die Grabenkämpfe in der Ménudier, Henri (1991):, Das Deutsch-Französische Jugendwerk. Ein exempCDU-CSU zwischen den »Gaullisten« und den US-freundlichen larischer Beitrag zur Einheit Europas, Bonn. »Atlantiker« nicht überbrücken konnte. Trotz berechtigter Kritik dürfen die Verdienste beider StaatsmänMiard-Delacroix, Hélène und Hudemann, Rainer (Hrsg.) (2005): Wandel und ner nicht geschmälert werden. Unter schweren inneren und äußeIntegration. Deutsch-französische Annäherungen der fünfziger Jahre. Mutaren Bedingungen ist es Adenauer gelungen, die Bundesrepublik tions et intégration. Les rapprochements franco-allemands dans les années fest im Westen zu verankern und aus dem manchmal unsicheren cinquante, München. Frankreich den wichtigsten Partner zu machen. Weil er in beiden Rovan, Joseph(1986): Zwei Völker, eine Zukunft. Deutsche und Franzosen an Weltkriegen gegen Deutschland kämpfte, hat De Gaulle der der Schwelle des 21. Jahrhunderts, München und Zürich. deutsch-französischen Aussöhnung eine nationale Legitimation in Frankreich gegeben, die seither nicht mehr zur Disposition Schwarz, Hans-Peter, (Hrsg.) (1985): Adenauer und Frankreich. Die deutschstand. Der deutsch-französische Vertrag war deshalb keinesfalls, französischen Beziehungen 1958 bis 1969, Bonn, 1985. wie manchmal behauptet, ein »tot geborenes Kind« oder eine Schwarz, Hans-Peter (1991): Adenauer, 2 Bände, Stuttgart. »leere Schale«. Durch die regelmäßigen Treffen und die Institutionalisierung der Zusammenarbeit konnten viele Krisen besser beWeidenfeld, Ernst (1986): Welches Deutschland soll es sein? Frankreich und wältigt und gemeinsame Projekte unternommen werden. die deutsche Einheit seit 1945, München. Die deutsch-französische Zusammenarbeit hat jedoch nicht erst Wilkens, Andreas, (Hrsg.) (1997): Die deutsch-französischen Wirtschaftsbemit De Gaulle und Adenauer 1958 angefangen, sie geht auch auf ziehungen 1945–1960, Sigmaringen. das Jahr 1945 und auf die bahnbrechende Rolle von Jean Monnet und Robert Schuman 1950 zurück. Es darf auch nicht vergessen Ziebura, Gilbert (1997): Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. werden, dass zahlreiche Menschen, Organisationen, Verbände Mythen und Realitäten, Pfullingen, 1970 und 1997 und Netzwerke die Verständigung in allen Bereichen beider Länder mitentwickelt haben. Die erste Städtepartnerschaft (LudInternethinweise wigsburg – Montbéliard) wurde bereits 1950 geschlossen. Die Städte- und Gemeindepartnerschaften haben sich in den Jahren Deutschland und Frankreich., APuZ 1–3/2013: www.bpb.de/apuz/152058/ Adenauer – De Gaulle schnell entwickelt (1958: 25 Partnerschafdeutschland-und-frankreich ten; 1963: 130; 1969: 400). 59 DeuFraMat: Deutsch-französische Materialien für den Geschichts- und Geographieunterricht: www.deuframat.de Literaturhinweise Geschichte der EU. http://europa.eu/about-eu/eu-history/index_de.htm Adenauer, Konrad (1966): Erinnerungen, 1953–1955, Stuttgart. De Gaulle, Charles (1971): Memoiren der Hoffnung, Die Wiedergeburt 1958– 1962, München, Zürich. Hudemann, Rainer, Jellonek, Burkhard, u. a., (Hrsg.) (1997): Grenz Fall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland, 1945–1960, Sankt-Ingbert. Rede de Gaulles an die deutsche Jugend: www.degaulle.lpb-bw.de (mit Video) Kimmel, Elke (2005): Besatzungspolitische Ausgangssituationen: www.bpb. de/geschichte/deutsche-geschichte/marshallplan/39984/besatzung?p=all 50 Jahre Elysée-Vertrag: www.deutschland-frankreich.diplo.de Kaelble, Hartmut (1991): Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München. Lappenküper, Ulrich (2001): Die deutsch-französischen Beziehungen 1949– 1963. Von der »Erbfeindschaft« zur »Entente élémentaire«, 2 Bände, München. D&E DuE68_umbr.indd 59 Heft 68 · 2014 D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 24.11.14 13:40 HENRI MÉNUDIER 60 MATERIALIEN M1 Joseph Rovan: »Besatzung und Umerziehung in Deutschland« »Nun ist also der Moment des Schweigens gekommen. Die dunkle Stimme schweigt, die seit Jahrhunderten Europa in Atem hält. Furchtbarer als die große Leere des Interregnums im Mittelalter hinterlässt der Sturz des Dritten Reichs das deutsche Volk: stumm, zerrissen, jeder Macht über sich selbst beraubt, fremden Händen ausgeliefert. Europa muss nun weiterleben, während anstelle seines Herzens ein leerer Raum gähnt, ohne Leben und ohne politischen Willen. Deutschland, aus eigener Schuld, wird uns allen fehlen. Welch ein Absturz! Niemals war es (so) siegreich gewesen wie im Jahre 1940, aber niemals noch ist eine europäische Großmacht so besiegt gewesen wie Deutschland heute«. (S. 84). »Vom subjektiven Standpunkt aus gesehen haben die Franzosen durch Deutschland so viel gelitten, das sie ihm gegenüber kaum eine andere Reaktion haben können, als seinen Untergang zu wünschen, um es definitiv vergessen zu können, nicht ohne vorher Rache und die notwendigen Reparationen von ihm erhalten zu haben« (S. 85–86). »Die Besetzung Deutschlands ist keine Angelegenheit, die man Verwaltungsleuten und Militärs überlassen sollte, das wäre eine seltsame und gefährliche Abdankung des Bürgergeistes« (S. 86). »Die französische Besatzung muss beispielhaft sein und eine moralische und geistige Spur hinterlassen«. (…) »Es ist infolgedessen für die Lage nötig, für das Leben Frankreichs in Europa, dass die französische Besetzung besser sein soll als die der anderen, gewiss nicht im Sinne des materiellen Überflusses – woher sollten wir ihn nehmen – und auch nicht in dem der Demagogik oder einer falschen Verbrüderung, sondern die kenntnisreichste und die menschlichste. Sie kann dann gleichzeitig die härteste sein. Die Deutschen selbst, die diese Stärke respektieren, werden dies leicht akzeptieren« (…) »Die Besetzung ist für die neue Französische Republik eine Gewissensfrage. Sie ist vor den Augen der zusehenden Völker das Maß, mit dem unsere Fähigkeit der Erneuerung gemessen werden wird« (S. 88). »Sollen wir jetzt vielleicht die Vorstellung übernehmen, dass es zwei Rassen in der Welt gibt, diejenige, die für die Rettung der Menschenwürde gekämpft hat, und diejenige, die weil sie sich gegen diese Würde erhoben hat, nun von ihr ausgeschlossen und aus ihr ausgestoßen sein soll, so dass die Sieger sie ungestraft erniedrigen dürften?« (S. 89). »Jeder Franzose, der heute für eine Parzelle Deutschlands verantwortlich ist, handelt, richtet, verurteilt und regiert im Namen Frankreichs. Wie ist sein Geist auf dieses Amt, auf diese Verantwortung vorbereitet worden?« (S. 90). »Viele Franzosen haben so viel gelitten, dass sie heute zu müde sind, um auf die Schreie der Opfer zu hören. Welch erschreckendes Zeichen, wenn unser eigenes Leiden uns dem Leiden der anderen verschließt« (S. 91). »Die Franzosen schulden Deutschland weder Vergessen noch Zärtlichkeit. Sie schulden sich selbst, dass in Deutschland Gerechtigkeit herrscht, eine strenge, unbeugsame Gerechtigkeit. Sie schulden sich selbst, dass ihre Vertreter im besetzten Deutschland jene Prinzipien vertreten und anwenden, die wir gegen den Faschismusverteidigt haben. Je mehr unsere Feinde die Züge des menschlichen Gesichts ausgelöscht haben, um so mehr müssen wir diese in ihnen respektieren, ja sogar verschönern. Unsere Prinzipien sind universal« (S. 92). »Das Ziel des Unternehmens, wie wir gesehen haben, umschreibt bereits die Methode: Der Respekt vor der lebendigen Person ist gleichzeitig Doktrin und Handlung« (S. 100). »In diesem Geist wird die Umerziehung Deutschlands eine der vornehmsten Aufgaben des wiederaufgebauten Frankreichs. Wenn der Wahlspruch der Republik nicht mehr die universale Berufung Frankreichs ausdrückt, in wessen Namen hat die ‹Résistance› Widerstand geleistet? Die fürchterliche Wunde, die Deutschland, im Herzen Europas, nunmehr aufweist, wird über das Werk der (anderen) M 2 Übersichtskarte über die Zonenabgrenzung nebst Übergangsbahnhöfen, Duisburg (Westring Verlags– und Vertriebsgesellschaft), 20. 11.1945. © akg images Nationen richten. Das Deutschland von morgen wird das Maß unserer Verdienste sein« (S. 101–102). Joseph Rovan, 1918 in München geboren, musste 1933 nach Frankreich emigrieren. Nach Studium, Kriegsdienst auf französischer Seite und Mitarbeit in der Résistance wurde er 1944 verhaftet. Anfang Juli 1944 wurde er mit dem »train de la mort« (ca. 900 Tote von 2400 Transporthäftlingen) in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Ende April 1945 wurde er von den Amerikanern befreit. In den folgenden Jahren war er unter anderem Mitarbeiter in der Französischen Hohen Kommission in Deutschland. Im Herbst 1946 begann er seine Tätigkeit im Dienste des Wiederaufbaus der Volkshochschulen und der gesamten Erwachsenenbildung in der französischen Zone sowie der deutsch-französischen Jugendtreffen. Von Januar 1948 bis Anfang 1951 leitete er das Amt Volksbildung (»culture populaire«) in der französischen Verwaltung in Deutschland. Er arbeitete als Journalist für französische und deutsche Medien. 1968 wurde er Professor für deutsche Geschichte und Politik an der Sorbonne, Paris, daneben Präsident des »Bureau International de Liaison et de Documentation/ Gesellschaft für deutsch-französische Zusammenarbeit«. Gleich nach der Rückkehr von Dachau veröffentlichte er am 1. Oktober 1945 in der links-katholischen Monatszeitschrift »Esprit« von Emmanuel Mounier einen Beitrag »L’Allemagne de nos mérites« (»Deutschland, wie wir es verdienen«). Diese Schrift wurde sehr beachtet, weil sie den Franzosen empfahl, nicht die Fehler des Versailler Vertrags von 1919 zu wiederholen. Die Prinzipien der Résistance und der Revolution von 1789 sollten den Geist der französischen Besatzungspolitik in Deutschland begleiten. © Joseph Rovan (1986): Zwei Völker – eine Zukunft. Deutsche und Franzosen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, München, Zürich, Piper, 206 S., darin: S. 83–101: »Deutschland, wie wir es verdienen« D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 DuE68_umbr.indd 60 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 M3 Alain Lattard: »Zielkonflikte französischer Besatzungspolitik in Deutschland« Die Jahre 1945–1949 werden bei deutsch-französischen Gedenkfeiern meistens nicht erwähnt. Diese unmittelbare Nachkriegszeit weckt wohl bei niemandem angenehme Erinnerungen1. Auf deutscher Seite hat die Präsenz Frankreichs in Berlin und im Südwesten des Landes ebenso wie seine Beteiligung an der Viermächteverwaltung vor allem den Eindruck einer harten und eigensinnigen Politik hinterlassen. Weil Paris für immer die deutsche Gefahr bannen wollte, widersetzte es sich jeder politischen Zentralisierung: Die anfänglichen Forderungen waren für das M 4 Französische Besatzungszone 1945: Plakatanschlag mit Fotos von KZ-Opfern und der Anordnung, linksrheinische Gebiet die Schaffung eines dass die Zerstörung des Plakats bei Todesstrafe verboten sei. © akg images Pufferstaates, der politisch, wirtschaftlich und militärisch ganz im Machtbereich Frankreichs stehen sollte, und für den Rest des LanM 5 Elke Kimmel (2005): »Besatzungspolitische Ausgangssides die Aufgliederung in mehrere Staaten, die in einem möglichst tuationen«, hier: Französische Zone lockeren konföderalen Rahmen zusammengefasst sein sollten. In wirtschaftlicher Hinsicht ging es sowohl um die unmittelbare BeWie die Sowjetunion war Frankreich zuvor selbst lange Zeit von friedigung der Bedürfnisse des französischen Wiederaufbaus deutschen Truppen besetzt gewesen. Frankreich wurde erst mit durch Reparationen und die Ausnutzung der Besatzungszone wie der Konferenz von Jalta im Februar 1945 in den Kreis der Besatum die langfristige Sicherung einer industriellen Vorrangstellung zungsmächte aufgenommen. An der Potsdamer Konferenz nahm in Europa durch die Angliederung des Saargebiets an die nationale es nicht teil, erklärte sich aber mit den Verhandlungsergebnissen Wirtschaft und die Internationalisierung der Ruhr – womit der einverstanden. Trotzdem blockierten die Franzosen im Herbst französischen Eisen- und Stahlindustrie eine solide Energiebasis 1945 mit ihrem Veto den Versuch, eine deutsche Zentralverwalauf Kosten ihrer deutschen Konkurrenz gesichert werden sollte. tung aufzubauen. Für die Franzosen war es angesichts der Kriege Vom französischen Standpunkt aus betrachtet ist die Bilanz dieser von 1870/71, des Ersten und Zweiten Weltkriegs von zentraler Bevier Jahre in den Beziehungen mit den Nachbarn jenseits des deutung, ein Wiedererstarken Deutschlands und damit einen Rheins genauso wenig erfreulich. Kaum war die französische Beneuerlichen Angriff zu verhindern. Um dies zu gewährleisten, forteiligung an der Besetzung auf der Konferenz von Jalta akzeptiert derten sie die Errichtung eines strikt föderal ausgerichteten Staaworden, da gaben die Sowjetunion und dann auch die Angelsachtes sowie die Kontrolle der deutschen Kohle- und Stahlindustrie. sen die Idee, Deutschland zu zerstückeln, auf. Obwohl sich Paris Langfristig dachte man in Frankreich an die Abtrennung der linksdadurch von Anfang an isoliert sah, verfolgte es weiter seine urrheinischen Gebiete von Deutschland und an eine Internationalisprünglichen Ziele, in der Überzeugung, die Meinungsverschiesierung des Ruhrgebietes. Das Saargebiet erhielt tatsächlich 1946 denheiten zwischen den Alliierten ausnutzen und sich als Schiedseinen Sonderstatus und gehörte zunächst zum französischen richter ins Spiel bringen zu können. Doch musste man von diesen Zollgebiet. Ab dem 1. April 1948 wurde es – erweitert um Teile des ehrgeizigen Plänen bald Abstriche machen und sich schließlich Rheinlands – dem französischen Staatsgebiet zugeschlagen. Fakmit einem einzigen und ganz vorläufigen Erfolg hinsichtlich der tisch die gesamte Schwerindustrie der französischen Zone befand Saar begnügen. Die Enttäuschungen in Deutschland brachten sich in diesem Bereich. Die Entnazifizierungspolitik wurde verFrankreich unter anderem zum Bewusstsein, dass es in einer künfgleichsweise pragmatisch angegangen. Die Besatzungsmacht tigen bipolaren Welt angesichts seiner ökonomischen Schwäche beschränkte sich auf die Säuberung der Spitzenpositionen von den Rang einer Großmacht nicht mehr beanspruchen könne. NS-Funktionären. (…) Die im Rahmen des Potsdamer AbkomDoch die Geschichtsschreibung, die diese Phase der deutschmens vereinbarten Demontagen wurden zügig durchgeführt. französischen Beziehungen der Vergessenheit zu entziehen beFrankreich konnte damit einen Teil der im Krieg erlittenen Verginnt, bestätigt nicht allein die schlechten Erinnerungen. Sicher, luste ausgleichen. Außerdem vermied die französische Besatviele Arbeiten machen die Härte des Besatzers deutlich, seine zungsmacht besondere Belastungen, wie sie Briten und AmerikaVerständnislosigkeiten, seine Irrtümer und seine Ungerechtigkeinern entstanden waren, indem sie kaum Flüchtlinge und ten, was manchmal zu recht unfreundlichen Beurteilungen führt. Vertriebene in ihrer Zone aufnahm. Im Gegensatz zu GroßbritanAber die Forschungen zeigen uns auch, dass man das gleichförnien und den USA konnte Frankreich so die Ausgaben für seine mig negative Bild des französischen Wirkens in Deutschland nuBesatzungszone gering halten und verhindern, dass zusätzliche ancieren muss – denn es ist weitaus stärker als das der anderen Kosten die durch den Krieg gestörten französischen StaatsfinanAlliierten durch Inkohärenzen und Widersprüche gekennzeichzen belasteten. Insbesondere im Alliierten Kontrollrat erwiesen net. Diese sind vor allem aus dem Umstand zu erklären, dass sich sich die französischen Positionen als hinderlich, da Frankreich Frankreich natürlich vor Kriegsende nicht auf die Besetzung vorlange Zeit der Bildung zentraler deutscher Verwaltungen vehebereiten konnte und danach seine Regierung so sehr von nationament widersprach. (…) Erst kurz vor Gründung der Bundesrepublen Problemen beansprucht wurde, dass sie unfähig war, die Polilik Deutschland, am 8. April 1949 bildete die französische Zone tik der Zone in folgerichtiger Weise zu planen. Abgesehen von den gemeinsam mit der »Bizone« die »Trizone«. Entscheidungen, die sich direkt aus den feststehenden Prämissen – der Zerstückelung Deutschlands und seiner wirtschaftlichen © Kimmel, Elke (2005): Besatzungspolitische Ausgangssituationen: www.bpb.de/geAusbeutung – ergaben, hatte die Verwaltung in Baden-Baden schichte/deutsche-geschichte/marshallplan/39984/besatzung?p=all demzufolge große Bewegungsfreiheit. 61 © Lattard, Allain: Zielfonflikte französischer Besatzungspolitik in Deutschland, Viertelsjahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 1, 1991, S. 1–3 D&E DuE68_umbr.indd 61 Heft 68 · 2014 D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 24.11.14 13:40 HENRI MÉNUDIER 62 M6 Robert Schuman: »Der Schuman-Plan«. Erklärung vom 9.5.1950 Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen. Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. Frankreich, das sich seit mehr als zwanzig Jahren zum Vorkämpfer eines Vereinten Europas macht, hat immer als wesentliches Ziel gehabt, dem Frieden zu dienen. Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt. Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muss in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen. Zu diesem Zweck schlägt die französische Regierung vor, in einem begrenzten, doch entscheidenden Punkt sofort zur Tat zu schreiten. Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht. Die Zusammenlegung der Kohle- une Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind. Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist. Die Schaffung dieser mächtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Ländern offensteht, die daran teilnehmen wollen, mit dem Zweck, allen Ländern, die sie umfasst, die notwendigen Grundstoffe für ihre industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu liefern, wird die realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen. Diese Produktion wird der gesamten Welt ohne Unterschied und Ausnahme zur Verfügung gestellt werden, um zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Friedens beizutragen. Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils. So wird einfach und rasch die Zusammenfassung der Interessen verwirklicht, die für die Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft unerlässlich ist und das Ferment einer weiteren und tieferen Gemeinschaft der Länder einschließt, die lange Zeit durch blutige Fehden getrennt waren. Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Hohen Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist. Um die Verwirklichung der so umrissenen Ziele zu betreiben, ist die französische Regierung bereit, Verhandlungen auf den folgenden Grundlagen aufzunehmen. Die der gemeinsamen Hohen Behörde übertragene Aufgabe wird sein, in kürzester Frist sicherzustellen: die Modernisierung der Produktion und die Verbesserung der Qualität, die Lieferung von Stahl und Kohle auf dem französischen und deutschen Markt sowie auf dem aller beteiligten Länder zu den gleichen Bedingungen, die Entwicklung der gemeinsamen Ausfuhr nach den anderen Ländern, den Ausgleich im Fortschritt der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft dieser Industrien. Um diese Ziele zu erreichen, müssen in Anbetracht der sehr verschiedenen Produktionsbedingungen, in denen sich die beteiligten Länder tatsächlich befinden, vorübergehend gewisse Vorkehrungen getroffen werden, und zwar: die Anwendung eines Produktions- und Investitionsplanes, die Einrichtung von Preisausgleichsmechanismen und die Bildung eines Konvertierbarkeits-Fonds, M 7 Titelseite einer Broschüre aus Frankfurt/ Main aus dem Jahre 1951. Auf der Grundlage des Schuman-Plans unterzeichneten am 18. April 1951 sechs Mitgliedstaaten den Vertrag zur EGKS, der sogenannten Montanunion. Links: Robert Schuman, rechts: der westdeutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer. © akg images der die Rationalisierung der Produktion erleichtert. Die Ein- und Ausfuhr von Kohle und Stahl zwischen den Teilnehmerländern wird sofort von aller Zollpflicht befreit und darf nicht nach verschiedenen Frachttarifen behandelt werden. Nach und nach werden sich so die Bedingungen herausbilden, die dann von selbst die rationellste Verteilung der Produktion auf dem höchsten Leistungsniveau gewährleisten. (…) Die Einrichtung einer Hohen Behörde präjudiziert in keiner Weise die Frage des Eigentums an den Betrieben. In Erfüllung ihrer Aufgabe wird die gemeinsame Hohe Behörde die Vollmachten berücksichtigen, die der Internationalen Ruhrbehörde übertragen sind, ebenso wie die Verpflichtungen jeder Art, die Deutschland auferlegt sind, so lange diese bestehen. © Robert Schuman: Für Europa. 2. Aufl., Paris, CH-Chêne-Bourg,1963–2010, S. 145–148, http://europa.eu/about-eu/basic-information/symbols/europe-day/schuman-declaration/index_de.htm M8 Charles de Gaulle: »Rede an die deutsche Jugend«, Ludwigsburg 9.9.1962 Sie alle beglückwünsche ich! Ich beglückwünsche Sie zunächst, jung zu sein. Man braucht ja nur die Flamme in ihren Augen zu beobachten, die Kraft ihrer Kundgebungen zu hören, bei einem jeden von Ihnen die persönliche Leidenschaftlichkeit und in ihrer Gruppe den gemeinsamen Aufschwung mitzuerleben, um überzeugt zu sein, dass diese Begeisterung Sie zu den Meistern des Lebens und der Zukunft auserkoren hat. D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 DuE68_umbr.indd 62 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, dass heißt Kinder eines großen Volkes. Jawohl eines großen Volkes, das manchmal im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat. Ein Volk, das aber auch der Welt fruchtbare geistige wissenschaftliche, künstlerische und philosophische Wellen beschert hat, das die Welt um zahlreiche Erzeugnisse seiner Erfindungskraft, seiner Technik und seiner Arbeit bereichert hat.; ein Volk, das in seinem friedlichen Werk, wie auch in den Leiden des Krieges, wahre Schätze an Mut, Disziplin und Organisation entfaltet hat. Das französische Volk weiß das voll zu würdigen, da es auch weiß, was es heißt, unternehmens- und schaffensfreudig zu sein, zu geben und zu leiden. Schließlich beglückwünsche ich Sie, die Jugend von heute zu sein. Im Augenblick, wo Sie in das Berufsleben treten, beginnt für die Menschheit ein neues Leben. Angetrieben von einer dunklen Kraft, auf Grund eines unbekannten Gesetzes, unterliegen die materiellen Dinge dieses Lebens einer immer raM 9 » Händedruck zwischen dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle (l) und Bundespräscheren Umwandlung. Ihre Generation erlebt sident Heinrich Lübke, CDU, nach der Rede des französischen Staatsgastes im Schlosshof von Ludes und wird es noch weiter erleben, wie die wigsburg am 9.9.1962. De Gaulle und Bundespräsident Heinrich Lübke sprachen dort zu deutschen Gesamtergebnisse der wissenschaftlichen und französischen Jugendlichen. © dpa, picture alliance Entdeckungen und der maschinellen Entwicklung die physischen Lebensbedingungen der Menschen tief umwälzen. Dieses wunderM 10 Konrad Adenauer, CDU: »Rede zum deutsch-französibare Gebiet, das ihnen offen steht, soll durch diejenigen, die schen Freundschaftsvertrag in Köln am 23.6.1964« heute in ihrem Alter stehen, nicht einigen Auserwählten vorbehalten bleiben, sondern für alle unsere Mitmenschen erschlossen »Dieser deutsch-französische Vertrag ist von der übrigen Welt mit werden. Sie sollen danach streben, dass der Fortschritt ein geeiner gewissen Zurückhaltung begrüßt worden, zuerst in den Vermeinsames Gut wird, sodass er zur Förderung des Schönen, des einigten Staaten. Die Vereinigten Staaten haben aber den StandGerechten und des Guten beiträgt, überall und insbesondere in punkt, den sie zuerst eingenommen haben schon lange aufgegeLändern wie den unseren, welche die Zivilisation ausmachen; soben und begrüßen den deutsch-französischen Vertrag als ein mit soll den Milliarden der in den Entwicklungsländern Lebenden Zeichen der Stabilität und des Friedens in Europa. Auch die übridazu verholfen werden, Hunger, Not und Unwissenheit zu besiegen europäischen Länder haben nicht die geringste Veranlasgen und ihre volle Menschenwürde zu erlangen. sung, wegen dieses deutsch-französischen Vertrags irgendein Das Leben in dieser Welt birgt jedoch Gefahren. Sie sind umso Misstrauen zu hegen. Der deutsch-französische Vertrag enthält größer, als der Einsatz stets ethisch und sozial ist. Es geht darum Bestimmungen, die geradezu da sind, ein neues Vorwärtsgehen zu wissen, ob im Laufe der Umwälzungen der Mensch zu einem zu ermöglichen. In der Präambel (genauer in der zweiten SchlussbeSklaven in der Kollektivität wird oder nicht; ob es sein Los ist, in stimmung: HM) des deutsch-französischen Vertrags wird ausdem riesigen Ameisenhaufen angetrieben zu werden oder nicht; drücklich gesagt, dass jedes europäisches Land, das zu dem Kreis oder ob er die materiellen Fortschritte völlig beherrschen kann des Sechs gehört, von den deutsch-französischen Verhandlungen und will, um damit freier, würdiger und besser zu werden. unterrichtet werden soll. Weiter wird dann gesagt, dass dieser Darum geht es bei der großen Auseinandersetzung in der Welt, deutsch-französische Freundschaftsvertrag den Weg für eine Eidie sie in zwei getrennte Lager aufspaltet und die von den Völkern nigung Europas ebnen soll, weil ohne eine Freundschaft zwischen Deutschlands und Frankreichs erheischt, dass sie ihrem Ideal die Frankreich und Deutschland keine Einigung in Europa geschaffen Treue halten, es mit ihrer Politik unterstützen und es, gegebenenwerden könne. Jeder, der unvoreingenommen die ganze Sachlage falls, verteidigen und ihm kämpfend zum Sieg verhelfen. übersieht, wird darin zustimmen: Dieses deutsch-französisches Diese jetzt ganz natürliche Solidarität müssen wir selbstverständAbkommen ist geradezu die Grundlage einer Einigung Europas.« lich organisieren. Es ist die Aufgabe der Regierungen. Vor allem müssen wir ihr aber einem lebensfähigen Inhalt geben, und das © nach: Dokumente, Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Winter 2012, N°4, soll insbesondere das Werk der Jugend sein. Während es die AufS. 28 (Verlag Dokumente, Bonn). gabe unserer beiden Staaten bleibt, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit zu fördern, sollte es ihnen und der französischen Jugend obliegen, alle Kreise bei ihnen und bei uns dazu zu bewegen, einander immer näher zu kommen, sich besser kennen zu lernen und engere Bande zu schließen. Die Zukunft unserer beiden Ländern, der Grundstein auf dem die Einheit Europas gebaut werden kann und muss, und der höchste Trumpf für die Freiheit der Welt bleiben die gegenseitige Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen dem französischen und dem deutschen Volk. 63 © www.ludwigsburg.de/site/Ludwigsburg-Internet/get/1105080/REDE-de_gaulle.pdf D&E DuE68_umbr.indd 63 Heft 68 · 2014 D e u t s c h - f r a n z ö s i s c h e B e z i e h u n g e n v o n 19 4 5 b i s 19 6 3 24.11.14 13:40 EUROPA NACH 1945 7. Großbritannien und Europa: Churchills Europa-Rede und die Nachkriegspolitik des Vereinigten Königreichs FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER A 64 m 19. September 1946 hielt der langjährige britische Premierminister Winston Churchill in der Universität Zürich eine Rede und formulierte dort Vorschläge, die heute prophetisch erscheinen, damals jedoch großes Erstaunen hervorriefen. Die Völker Europas, so Churchill, müssten die Schrecken des Krieges vergessen, sich stattdessen auf ihr gemeinsames Erbe besinnen und ein vereintes Europa schaffen. Daraus könnten eines Tages sogar die Vereinigten Staaten von Europa hervorgehen. Schon dieser Vorschlag kam überraschend, denn die Folgen des Krieges waren noch überall zu spüren. In weiten Gebieten des Kontinents, so Churchill, starrten »ungeheure Massen zitternder menschlicher Wesen gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen«. Hass und Rachegefühle seien verbreitet. Angesichts dieser Zustände von einer europäischen Völkerfamilie zu sprechen, mutete verwegen an, doch Churchill ging noch einen Schritt weiter. Um diese Familie zu erreichen, müsse in einem ersten Schritt eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland entstehen – eine Partnerschaft zwischen zwei Nationen, die allein in den acht Jahrzehnten vor Churchills Rede drei Kriege gegeneinander geführt hatten und zwischen denen nach Meinung von Zeitgenossen geradezu eine »Erbfeindschaft« bestand. Abb. 1 Am 19. 9.1946 hielt der ehemalige Premierminister von Großbritannien Winston Churchill in der Aula der Universität Zürich eine Rede, in der er zur Einigung Europas aufruft: »Let Europe arise!« © Keystone/ Photopress-Archiv, dpa, picture alliance »Churchills Rede« und ihre Bedeutung bis heute Es überrascht deshalb nicht, dass nach Meinung der Times viele Personen diese Vorschläge als »ungeheuerlich« ansahen. Doch es gab auch andere Reaktionen. George C. Marshall, ab 1947 Außenminister der USA und Vater des nach ihm benannten Marshall-Plans, gab an, dass Churchills Züricher Plädoyer für ein vereintes Europa ihn zu seinem Plan inspiriert hätten. Die damals noch schwache europäische Bewegung sah darin eine wichtige Bestätigung ihrer Bemühungen, und bis heute gilt Churchills Rede als ein zentraler Beitrag zur europäischen Einigung. Diese Einschätzung ist zutreffend, doch ein genauer Blick zeigt, dass die Rede nicht einfach als prophetische Aussage zu interpretieren ist, sondern zahlreiche Botschaften und auch Widersprüche enthielt. So forderte Churchill zwar ein vereintes Europa, meinte damit aber die Länder Kontinentaleuropas, nicht hingegen das Vereinigte Königreich. Dieses sollte den Einigungsprozess mit Nachdruck unterstützen, sich jedoch nicht selbst daran beteiligen. Wichtiger sei Großbritanniens Zugehörigkeit zum Com- Gro ßbritannien und Europa DuE68_umbr.indd 64 monwealth, wo es weiterhin seine führende Rolle ausüben sollte. Außerdem müsse das Streben nach europäischer Einigung von dem Bemühen begleitet werden, ein gutes Verhältnis zu den USA zu pflegen. Denn nur deren Eingreifen in beiden Weltkriegen habe die Versklavung und den Untergang Europas verhindert. Ohne die Vereinigten Staaten wäre dieser Kontinent in das »finstere Mittelalter mit seiner Grausamkeit und seinem Elend« zurückgekehrt. Damit sind Merkmale des europäischen Einigungsprozesses benannt, die bis heute bestehen: das Verhältnis von Großbritannien zu Europa, das immer wieder durch Spannungen und einer oftmals unklaren Rolle des Vereinten Königsreichs geprägt war; die Beziehung der europäischen Institutionen und Staaten zu den USA, die nicht weniger konfliktreich verlief; und schließlich deren Verhältnis zu den damaligen Kolonien in Afrika, Asien und Lateinamerika. Auf den ersten Blick drängt sich der Eindruck auf, seit der Rede Churchills im Jahre 1946 habe sich nicht viel geändert. Das gilt vor allem, wenn wir die sowohl zustimmende wie zurückhaltende Position Großbritanniens zur europäischen Einigung D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 betrachten, die in der Rede so deutlich wurde. Doch tatsächlich fanden seitdem wichtige Veränderungen statt, die besser zu erkennen sind, wenn wir die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg genauer betrachten. Belastungen nach dem Zweiten Weltkrieg Zum Zeitpunkt der Rede war Europa durch die Zerstörungen und Belastungen des Krieges geprägt, die noch viele Jahre fortbestanden. Diese betrafen auch Großbritannien, wo Bombenangriffe ebenfalls enorme Schäden angerichtet hatten, zahlreiche Tote und Verwundete zu beklagen waren und das Land gegenüber den USA tief verschuldet war. Entsprechend blieben dort auch nach Kriegsende Lebensmittelkarten sowie andere Formen der Rationierung bestehen und mussten teils noch erweitert werden. Doch verglichen mit Kontinentaleuropa befanden sich Wirtschaft und Versorgung Großbritanniens in einer deutlich besseren Lage. Hier blickten keine hungrigen Menschenmassen »verzweiAbb. 3 Siegesfeier in London anlässlich der deutschen Kapitulation im Mai 1945 und des Ende des Zweifelt auf die Ruinen ihrer Städte«. Zudem ten Weltkriegs. © dpa, picture alliance mussten sich die Bewohner des Vereinigten Königreichs vor allem politisch keine Sorgen Opposition verbannt und musste sogar die Verhandlungen in machen. Großbritannien war das einzige größere Land Europas, Potsdam verlassen, wo er zusammen mit Roosevelt und Stalin die das während des Krieges nicht besetzt war, wo es keine KollaboWelt der Nachkriegszeit neu ordnen wollte. Entsprechend bekleiration mit den Nationalsozialisten gegeben hatte und wo nach dete er bei seiner Rede in Zürich kein Regierungsamt, was vieldem Krieg dieselben Parteien, Personen und Institutionen beleicht dazu beitrug, dass er sich frei genug fühlte, derart weitreistanden wie zuvor. Mehr noch: Politik und Gesellschaft gingen chende und kühne Vorschläge zu unterbreiten. gestärkt aus dem Krieg hervor, nach dessen Ende bestand eine In London hatte die neue Labour-Regierung inzwischen mit weitverbreitete Aufbruchstimmung. reichenden Reformen begonnen, die den Wohlfahrtsstaat begründeten, wichtige Industrien verstaatlichten und ein starkes Regierungswechsel im Vereinigten Königreich Eingreifen des Staates in Gesellschaft und Wirtschaft ermöglichten. Von solchen Maßnahmen waren die anderen europäischen Leidtragender dieser Stimmung waren die Konservativen unter Länder weit entfernt. Sie mussten erst einmal neue Parteien und Churchill. Dieser hatte wesentlich dazu beigetragen, den Krieg zu Institutionen begründen oder bestehende gründlich verändern, gewinnen und einen nahezu mythischen Status erlangt. Doch um stabile politische Verhältnisse zu schaffen und Demokratie eine Mehrheit der Wähler traute ihm nicht zu, den erhofften Neusowie Parlamentsherrschaft (erneut) zu etablieren. Ihre Belastunanfang umzusetzen. Die Wahlen, die kurz nach der deutschen Kagen und Herausforderungen unterschieden sich fundamental von pitulation am 5. Juli 1945 stattfanden, gewann deshalb die Labour der Situation im Vereinten Königreich. Es ist deshalb verständlich, Partei. Churchill sah sich zu seiner großen Enttäuschung in die dass Churchill die europäischen Länder bei ihren Bemühungen unterstützen und Schritte zu einem vereinten Europa fördern, sich aber selbst daran nicht beteiligen wollte. Dazu waren die jeweils herrschenden Bedingungen und Aufgaben zu unterschiedlich und wurden noch größer, wenn zusätzlich das Commonwealth betrachtet wurde. 65 Großbritannien und das Commonwealth Abb. 2 Wahlplakat der Labour Party 1945 in Großbritannien. Mitten in der Potsdamer Konferenz 1945 wurde der konservative britische Premierminister Winston Churchill durch den neuen Premier Clement Richard Attlee, Labour, abgelöst. © labour.org.uk D&E DuE68_umbr.indd 65 Heft 68 · 2014 Das Commonwealth bestand nach dem Zweiten Weltkrieg aus unabhängigen Staaten wie Neuseeland, Australien oder Kanada und zahlreichen Kolonien. Wie schon im Ersten hatte diese auch im Zweiten Weltkrieg entscheidende Unterstützung geboten und gezeigt, wie wichtig das Commonwealth für Großbritannien war. Dessen Fortbestand musste allerdings gesichert werden. In den Kolonien breiteten sich Unabhängigkeitsbewegungen aus, besonders in Indien. Hier gewannen diese während des Krieges und vor allem nach dessen Ende in kurzer Zeit ein derartiges Gewicht, dass die britische Herrschaft sich nicht halten konnte. Im Mai 1947, weniger als ein Jahr nach Churchills Rede, erlangte Indien seine Unabhängigkeit. Die Bewegungen in anderen Kolonien erfuhren dadurch Auftrieb und konnten sich zudem auf die Nachkriegsp olitik des Vereinigten Königreichs 24.11.14 13:40 FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER Abb. 4 Das britische Empire/ Das britische Commonwealth und die Unabhängigkeitsbewegungen seit 1945 66 USA berufen. Roosevelt hatte im August 1941, vor dem Kriegseintritt seines Landes, in der Atlantik-Charta zusammen mit Churchill das Selbstbestimmmungsrecht der Nationen vereinbart. Dieses war mit dem britischen Kolonialbesitz eigentlich nicht vereinbar, so dass Churchill das Dokument eher widerwillig unterzeichnete. Seine Befürchtungen, die USA würden Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien unterstützen, traten nach Ende des Krieges allerdings nicht ein. Dazu trug wesentlich der aufkommende Kalte Krieg bei, denn diese Bewegungen wurden beschuldigt, für Ziele der Sowjetunion bzw. des Kommunismus einzutreten. Als Großbritannien gegen diese kämpfte, vertrat es deshalb nicht veraltete koloniale Ansprüche, sondern verteidigte die Freiheit des Westens und erhielt dafür die Unterstützung der USA. Neben politischen und militärischen Gründen besaß das Commonwealth auch wirtschaftlich für das Vereinigte Königreich eine wichtige Bedeutung. Hier wurde seit langem ein großer Teil des britischen Handels abgewickelt, und angesichts der Zerstörungen in Europa sah es nicht danach aus, dass hier auf absehbare Zeit wichtige Märkte entstehen könnten. Entsprechend beteiligten die britischen Regierungen sich nicht an den Bemühungen, eine größere wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa zu erreichen. Das galt für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die 1952 entstand, und insbesondere für die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957. Auch Churchill, der von 1951 bis 1955 wieder Premierminister war, zeigte daran kein Interesse. Wie bereits in Zürich sah er diese Schritte zur europäischen Einigung als Aufgabe der kontinentaleuropäischen Staaten, nicht hingegen seines Landes. Die NATO und die Sonderstellung von GB Dieses mangelnde Interesse betraf jedoch nur die politischen und wirtschaftlichen Einigungsbemühungen, nicht hingegen die militärischen, die allerdings über Europa hinausreichten. Als 1949 die NATO entstand, war Großbritannien eines der Gründungsmitglieder und besaß nach den USA die größte Bedeutung. Gerade die Regierung in London legte großen Wert darauf, dass die USA Teil dieses Bündnisses wurde. Wie Churchill in seiner Züricher Rede ausführte, hatte dieses Land in beiden Weltkriegen entscheidend zum Sieg der Alliierten beigetragen. Nach dem Ersten Weltkrieg zog es sich aus Europa und teils auch aus der Weltpolitik zurück, was nach Meinung vieler Zeitgenossen dazu beitrug, dass in Europa erneut ein Weltkrieg ausbrach. Um einen derartigen Rückzug nicht noch einmal aufkommen zu lassen, sollten dieses Mal die USA in Europa eingebunden bleiben, vor allem militärisch durch die NATO. Churchill schwebte sogar eine enge transatlantische Gemeinschaft der englischsprachigen Länder vor, die jedoch kaum mehr war als ein romantischer Traum. Erfolgsversprechender war das Bemühen, gegenüber den USA eine ‚besondere Partnerschaft’ zu etablieren, zumal diese es erleichterte, weiterhin zum Kreis der drei großen Weltmächte zu gehören. Angesichts der Schwäche der anderen europäischen Länder und des Fortbestandes von Commonwealth und Kolonien, sprach einiges für diese Sonderstellung, wenngleich unklar war, worin genau diese bestehen und wie stark dabei die Position Großbritanniens sein sollte. Bei der Konferenz in Potsdam im Jahr 1945 gehörte dieses Land noch zu den drei großen Mächten, die über die Nachkriegsordnung berieten. Churchill und Attlee, sein Nachfolger als Premierminister, konnten die Entscheidungen beeinflussen, handelten aber bereits als Juniorpartner der USA. In den folgenden Jahren zeigte sich mehr und mehr, wie ungleich die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Weltmächten USA und UdSSR auf der einen und Großbritannien auf der anderen Seite tatsächlich waren. Und spätestens bei der Suez-Krise (1956) musste die Regierung in London erfahren, dass die USA nicht dieselben Ziele und Interessen verfolgten wie ihr britischer Partner und sich ggf. gegen ihn stellten. Großbritannien hatte zusammen mit Frankreich Ägypten angegriffen, das den Suez-Kanal verstaatlicht hatte, musste jedoch auf amerikanischen Druck die Truppen zurückziehen und sah sich bloßgestellt. Das Verhältnis dieser beiden Länder war deshalb nicht gleichberechtigt, aber enger als zu den anderen europäischen Staaten. Das galt nicht nur militärisch, wo beide Länder in der NATO eng zusammen arbeiteten, sondern zumindest genauso politisch, wirtschaftlich und Nachkriegsp olitik des Vereinigten Königreichs DuE68_umbr.indd 66 © www.atlasofbritempire.com D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 kulturell, wo sie auf seit langem bestehende Traditionen und Gemeinsamkeiten zurückgreifen konnten. Frankreichs Distanz zu GB Für de Gaulle waren diese Gemeinsamkeiten zu ausgeprägt. Als 1961 die britische Regierung den Beitritt zur EWG beantragte, scheiterte sie vor allem an dessen Veto. Er sah in Großbritannien einen »amerikanischen Pudel«, der sich nicht wirklich auf Europa einlassen wollte. Diese Beurteilung hatte einen zutreffenden Kern. Die britische Regierung wollte der EWG zwar beitreten, zugleich aber an den engen Beziehungen zu den USA festhalten. Sie vertrat weiterhin die Positionen, die Churchills in Zürich vertreten hatte: Eine enge Zusammenarbeit mit den USA sei – gerade im Kalten Krieg – sowohl grundsätzlich für Europa wie speziell für Großbritannien unverzichtbar. So konnte die Regierung in London nur deshalb als Atommacht agieren, Abb. 5 Bundeskanzler Konrad Adenauer (l), der luxemburgische Außenminister Joseph Bech (2.v. r.) und weil sie auf amerikanische Trägerraketen zuder 1951 knapp wiedergewählte britische Premierminister Winston Churchill (r) in Churchills Amtssitz rückgreifen konnte. De Gaulle hingegen verDowning Street No 10. Auf der Londoner Neunmächtekonferenz vom 28.09. bis zum 3.10.1954 wurde über suchte, eine größere Unabhängigkeit von eine Alternative für die an Frankreich gescheiterte EVG (Europäische Verteidigungsgemeinschaft) verhanden USA zu erreichen, baute dazu mit hohen delt. In der »Londoner Akte« wurde empfohlen, die Bundesrepublik Deutschland und Italien in den FünfKosten eine eigene Atommacht auf und vermächtepakt von 1948 und in die NATO aufzunehmen. © dpa, picture alliance suchte, die anderen Länder auf seine Seite zu ziehen. Ein Beitritt Großbritanniens zur EWG hätte diese Bemühungen erschwert, so dass nien ihre Unabhängigkeit, allerdings nicht nur wegen der abnehsein Veto verständlich wird, das allerdings nicht dazu führte, dass menden wirtschaftlichen Bedeutung. Zumindest genauso wichtig die anderen europäischen Regierungen seine kritische Haltung waren die Unabhängigkeitsbewegungen, der Kalte Krieg und die gegenüber den USA teilten. damit verbundene Sorge, ohne Entgegenkommen würden diese Bewegungen ins Lager der Sowjetunion wechseln Und nicht zuletzt entwickelte sich ein immer geringeres Interesse in der BevölDas Zeitalter der Entkolonialisierung und die kerung der verschiedenen europäischen Länder, an den Kolonien Neuorientierung hin zu Europa festzuhalten und dafür gar Opfer zu bringen. In Großbritannien war diese Entwicklung mit einer wachsenden Während sich dadurch in den grundsätzlichen Beziehungen zu Orientierung an Europa verbunden. Das bedeutete nicht, dass die den Vereinigten Staaten nach der Rede Churchills wenig änderte, alten Verbindungen abbrachen. Das Commonwealth besteht vielfanden in den Kolonien dramatische Entwicklungen statt. Die Unmehr bis heute, jetzt allerdings als freiwilliger Zusammenschluss. abhängigkeit Indiens war dafür ein erster Hinweis. In anderen KoUnd ebenso bestehen weiterhin vielfältige kulturelle, wirtschaftlonien gewannen vergleichbare Bemühungen rasch an Unterstütliche, politische und nicht zuletzt sportliche sowie familiäre Bezung und führten vielfach zu bewaffneten Kämpfen. Noch zu ziehungen zwischen den verschiedenen Ländern. Entsprechend Beginn der 1950er Jahre sah es allerdings danach aus, dass die entwickelte sich die Zuwendung zu Europa parallel zu diesen Beeuropäischen Mächte sich behaupten könnten. Dabei versuchte ziehungen, und vielfach kam die Sorge auf, der Zusammenhalt im nicht nur Großbritannien, seine Kolonien zu halten, auch mit WafCommonwealth und die dort bestehenden Verbindungen würden fengewalt. Die anderen europäischen Kolonialmächte verfolgten darunter leiden. Als Großbritannien in einem erneuten Anlauf dieselbe Politik. Sie hielten ebenfalls an ihren Territorien fest oder 1973 der EWG beitrat, handelte die Regierung deshalb günstige versuchten, dort die Kontrolle wiederzuerlangen, wo sie diese Zölle und andere Regelungen für die Länder des Commonwealth während des Zweiten Weltkriegs verloren hatten – wie Frankreich aus, damit diese weiterhin Produkte in das Vereinte Königreich in Indochina (was später zum Vietnamkrieg führte). Bald allerliefern konnten. Zusätzlich fand 1975 ein Referendum statt, um dings zeigte sich, dass der Widerstand immer heftiger und zuauf die verbreitete Skepsis zu reagieren und für den Beitritt die gleich die ökonomische Bedeutung der Kolonien immer geringer erforderliche öffentliche Unterstützung zu erhalten. Derartige wurde. Schon zuvor war diese Bedeutung oftmals zu hoch eingeAbstimmungen sind im politischen System Großbritanniens nicht schätzt worden, und Kritiker hatten darauf verwiesen, dass allenvorgesehen und fanden bis dahin nicht statt, da hier das Parlafalls einzelne Firmen und Personen davon profitierten, während ment die entscheidende Institution ist. Weil der Beitritt zur EWG die Kolonien insgesamt eher Kosten verursachten, die auf die jedoch derart grundlegende Fragen betraf, kam es jetzt zum ersSteuerzahler abgewälzt wurden. Vor allem jedoch litten die Koloten Mal in der britischen Geschichte zu einem Referendum, bei nien selbst darunter, vielfach bis heute. dem eine deutliche Mehrheit von 67 Prozent für den Beitritt Parallel dazu fand in Europa eine Entwicklung statt, die 1945 keistimmte. ner erwartete. Die europäischen Staaten, die durch den Krieg so Zu diesem Zeitpunkt befand sich die EWG bereits auf dem Weg sehr zerstört waren, erholten sich und boten einen immer wichtizur Europäischen Gemeinschaft. Diesen Namen trägt sie seit geren Wirtschaftsraum, auch für Großbritannien. Eine Folge da1992, um auszudrücken, dass die Mitgliedsländer nicht nur einen von war der Beitrittsantrag an die EWG im Jahr 1961. Eine andere gemeinsamen Wirtschaftsraum schaffen wollten. Ihre Zielsetzundas rasche Ende der Kolonialreiche. Nach 1960 erlangten innergen hatten sich seit Gründung der EWG erweitert und strebten halb weniger Jahre die meisten, insbesondere die größeren Kolomittlerweile auch eine engere politische, soziale und kulturelle D&E DuE68_umbr.indd 67 Heft 68 · 2014 67 Nachkriegsp olitik des Vereinigten Königreichs 24.11.14 13:40 FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER 68 Dieser ist seit Jahrhunderten durch das Christentum geprägt, das bis heute eine wichtige Gemeinsamkeit bietet, aber auch mit Ausgrenzungen verbunden war und ist. Churchill verwies in Zürich noch ganz selbstverständlich auf christlichen Glauben und Ethik als zentrale Elemente des europäischen Erbe. Diese Selbstverständlichkeit besteht heute nicht mehr, nicht nur weil eine wachsende Zahl von Europäern nicht mehr einer Religionsgemeinschaft angehört. Hinzu kommt ein größeres Bewusstsein dafür, dass die christlichen Religionen auch problematische, teils sogar katastrophale Folgen hatten. Und schließlich ist gerade in den letzten beiden Jahrzehnten die Zahl derjenigen Europäer deutlich gestiegen, die zwar gläubig, aber keine Christen sind, sondern zu anderen Religionen gehören, darunter insbesondere Muslime. Diese entstammen zudem vielfach einem anderen Kulturkreis, sind inzwischen aber in wachsender Zahl in Europa geboren, besitzen die Staatsangehörigkeit ihrer jeweiligen Länder und gehören schon deshalb zu Europa. Entsprechend betonte der frühere Bundespräsident Wulff, dass nicht nur Christen- und Judentum, sondern inzwischen auch der Islam zu Deutschland gehören. Diese Aussage blieb nicht ohne Widerspruch und ist Teil einer in Deutschland noch recht jungen Debatte. Hier ist die Zahl der Muslime noch klein, sie sind überwiegend erst vor weAbb. 6 Großbritanniens Premierminister Edward Heath am 22. Januar 1972. Die Vertreter von Großbrinigen Jahren zugewandert und haben Politik, tannien, Irland, Norwegen und Dänemark unterzeichneten in Belgiens Hauptstadt Brüssel die BeitrittsurGesellschaft und Kultur bisher erst in Ansätkunden zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG. Der Beitritt der Länder, bis auf Norwegen, zen geprägt. Das gilt nicht für Frankreich und erfolgte zum 1. Januar 1973. Die Norweger hatten in einer Volksabstimmung am 25. und 26. September vor allem nicht für Großbritannien. Das briti1972 gegen einen Beitritt zur EU gestimmt. © dpa, picture alliance sche Empire und später das Commonwealth umfassten zahlreiche Gebiete, deren BewohZusammenarbeit an. Ähnlich anspruchsvoll hatte sich bereits ner ganz unterschiedlichen Religionen und Kulturen angehörten. Churchill in Zürich geäußert, als er die Gründung der Vereinigten Lange Zeit stellten Muslime die mit Abstand größte Gruppe, allerStaaten von Europa beschwor. So weit sind wir auch heute noch dings außerhalb des Vereinigten Königreichs, wo sie und Angehönicht. Zudem hat diese Zielsetzung zahlreiche Befürworter, aber rigen anderer Kulturen nur eine geringe Bedeutung besaßen. Das auch Kritiker, und es bestehen sehr unterschiedliche Vorstellunänderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als nach und nach gen darüber, wie eng die Mitgliedstaaten der EU zusammenarbeiBewohner der früheren Kolonien nach Großbritannien einwanten sollen. Durch die Beitritte der vergangenen Jahre ist deren derten. Als Angehörige des Commonwealth besaßen sie die britiZahl auf 28 Länder gestiegen, die wirtschaftlich, politisch und sche Staatsangehörigkeit. Sie waren dennoch Diskriminierungen kulturell erhebliche Unterschiede aufweisen. Umso wichtiger ist ausgesetzt, konnten sich aber leichter in Politik und Gesellschaft die Frage, was diese Länder verbindet. Darauf ging auch Churchill einbringen als etwa Gastarbeiter in Deutschland. Allein schon die in seiner Rede ein, als er ausführlich über das gemeinsame histoTatsache, dass sie das Wahlrecht besaßen, trug wesentlich dazu rische und kulturelle Erbe Europas sprach. bei, dass sie ihre Positionen mit einigem Erfolg vertreten konnten und das Interesse von Parteien fanden. Inzwischen besitzen sie erhebliche politische, kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung Churchills Argumentation 1946 und das heutige und sind wichtiger Bestandteil der britischen Gesellschaft. Mehr Europa als in anderen europäischen Ländern ist es hier (und in Frankreich, wo eine vergleichbare Situation besteht) besonders probleDer »edle Kontinent Europa«, so Churchill, umfasse die »schönsmatisch und ausgrenzend, vor allem das christliche Erbe der euroten und kultiviertesten Gegenden der Erde«. Hier liege der »Urpäischen Kultur zu betonen. sprung fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Diese Entwicklung haben Churchill und seine Zeitgenossen nicht Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit«. Nicht zuletzt vorhergesehen, als er 1946 in Zürich seine Rede hielt. Seitdem ist »die Quellen des christlichen Glaubens« befänden sich in diesem auch der Prozess der europäischen Einigung weit vorangeschritKontinent. Vergleichbare Aussagen über das gemeinsame Erbe ten, vermutlich weiter, als er es damals für möglich hielt. Zugleich haben die europäischen Einigungsbewegungen von Beginn an bestehen viele der Probleme, die seine damalige Wahrnehmung begleitet und jüngst durch die zahlreichen neuen Mitgliedsstaaprägten, nicht mehr. Europa hat sich von den Folgen des Krieges ten verstärktes Interesse gefunden. Dabei ist der Verweis auf die erholt. Die vermeintliche Erbfeindschaft zwischen Deutschland griechisch-römische Antike unstrittig, während der Bezug auf das und Frankreich ist seit langem ebenso überwunden wie die SpalAbendland Probleme aufwirft, da dieser Begriff ursprünglich nur tung durch den Kalten Krieg. Und Großbritannien ist stärker in das westliche Europa meinte. Zu Recht verweisen die östlich und Europa integriert als ihm vorschwebte. südöstlich gelegenen Länder darauf, dass sie ebenfalls seit JahrAndere Merkmale scheinen sich kaum verändert zu haben, darunhunderten zum europäischen Kulturraum zählen. ter vor allem das Verhältnis zu den USA. Dieses hat nach 1945 eine Nachkriegsp olitik des Vereinigten Königreichs DuE68_umbr.indd 68 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 wechselvolle Geschichte und erlebt derzeit als Folge der NSA-Affäre und der Kontroverse über ein Freihandelsabkommen eine Krise. Doch zugleich besteht kein Zweifel, dass die USA und Europa füreinander die wichtigsten Verbündeten sind, zumal die Vereinigten Staaten ebenfalls durch Elemente der europäischen Kultur geprägt wurden. Alle Bestrebungen, die europäische Einigung weiter zu entwickeln, werden sich auch darum bemühen müssen, die Beziehungen zu den USA ebenfalls zu stärken oder zumindest nicht zu gefährden. Dabei kann es helfen, sich auf europäische Werte und Traditionen zu besinnen, wenngleich es schwer fällt, diese eindeutig zu bestimmen. Die Sicherheit und Selbstgewissheit, die Churchill noch besaß, wenn er in Europa den Ursprung »fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit« sah und den Beitrag des Christentums betonte, ist uns abhanden gekommen. Mehr als er und seine Zeitgenossen sind wir uns bewusst, dass zum europäischen Erbe auch Katastrophen und Ausgrenzungen gehören. Diese Abb. 7 Der britische Premierminister David Cameron auf dem EU-Gipfel am 23.10.2014 in Brüssel. Bis drohen weiterhin und betreffen aktuell vor 2017, aber nach den für 2015 anstehenden Unterhauswahlen kündigte der konservative britische Premierallem diejenigen, die als Zuwanderer oder minister in Großbritannien eine Volksabstimmung in Großbritannien über den weiteren Verbleib in der EU deren Nachkommen andere kulturelle oder an. © Dursun Aydemir – Anadolu Agency, dpa, picture alliance religiöse Hintergründe besitzen, zugleich aber zweifellos fester Bestandteil des heutiLiteraturhinweise gen Europa und der von Churchill beschworenen europäischen Familie sind. Brüggemeier, Franz-Josef (2010): Geschichte Großbritanniens im 20. JahrDie Zuwanderung aus früheren Kolonien und anderen Regionen hundert, München. des Globus nach Europa mag ein neuartiges Phänomen sein. Der Austausch mit ihnen und deren Bewohnern hingegen besitzt eine Clarke, Peter (2004): Hope and Glory. Britain 1900–2000, 2. Auflage London. lange Tradition. Erinnert sei nur daran, dass das antike Erbe vielGeorge, Stephen (1998): An awkward Partner: Britain in the European Comfach über die arabische Welt (zurück) nach Europa gelangte oder munity, 3rd edn., Oxford. dass dieser Kontinent ohnehin vielfältige Formen des Austausches und der gegenseitigen Befruchtung mit anderen Kulturen May, Alex (2006): Britain and Europe since 1945, London. kannte und davon erheblich profitierte. Spencer, Ian R. G. (1997): British Immigration Policy since 1939. The Making Wenn die Diskussion über gemeinsame Werte und Traditionen of Multiracial Britain, London. diese unterschiedlichen Einflüsse berücksichtigt und ein entsprechend offenes Verständnis des gemeinsamen Erbes entwickelt, Winder, Robert (2004): Bloody Foreigners. The story of immigration to Bridann könnte ein gemeinsames Europa entstehen, das – wie Churtain, London. chill es erhoffte – seinen »drei- oder vierhundert Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaße« Internethinweise bietet. Die Erreichung dieser Ziele bezeichnete er als ganz einfach. Das einzige, was Churchill als nötig erachtete, war der »EntBBC-Darstellung: www.bbc.co.uk/history/british/ schluss Hunderter von Millionen Männer und Frauen, Recht statt Unrecht zu tun und dafür Segen statt Fluch als Belohnung zu ernGroßbritannien. Aus Politik und Zeitgeschichte, 2010, www.bpb.de/ ten«. Ganz so einfach war es nicht, wie er selbst als Politiker nur zu apuz/32319/grossbritannien genau wusste und wir inzwischen erfahren haben. Der Prozess der Sturm, Roland: Die Entwicklung Großbritanniens seit 1945. www.bpb.de/ europäischen Einigung war und ist vielmehr mühsam, ein baldiger izpb/10533/entwicklung-grossbritanniens-seit-1945 Abschluss ist nicht zu erwarten. Doch weiterhin gilt, dass dafür die Entschlossenheit und Unterstützung der Bevölkerung unverzichtbar sind. Und auch die unterschiedlichen Erfahrungen, die einzelne Personen, Regionen oder Länder einbringen. Im Falle von Großbritannien scheinen diese eher von den Rändern Europas zu kommen, und hierin wird oftmals ein Defizit gesehen. Doch tatsächlich eignet sich das Vereinigte Königreich wegen dieser Randstellung geradezu ideal als Vermittler: gegenüber den USA, früheren Kolonien, anderen Kulturen oder anderen Religionen. Der Blick vom Rande oder gar von außen muss nicht schaden. Im Gegenteil, er kann überaus hilfreich sein. Deshalb gilt weiterhin, was Churchill 1963 schrieb, nachdem de Gaulle sein Veto gegen einen britischen Beitritt eingelegt hatte: »Die Zukunft Europas sieht trübe aus, sollte Britannien tatsächlich ausgeschlossen werden«. D&E DuE68_umbr.indd 69 Heft 68 · 2014 69 Nachkriegsp olitik des Vereinigten Königreichs 24.11.14 13:40 FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER 70 MATERIALIEN M1 Rede Winston Churchills an der Universität in Zürich am 19.9.1946 »Herr Rektor, meine Damen und Herren, ich bin heute geehrt worden durch den Empfang in Ihrer ehrwürdigen Universität und durch die Dankadresse, welche mir in Ihrem Namen überreicht worden ist und die ich sehr zu schätzen weiß. Ich möchte heute über Europas Tragödie zu Ihnen sprechen. Dieser edle Kontinent, der alles in allem die schönsten und kultiviertesten Gegenden der Erde umfasst und ein gemäßigtes, ausgeglichenes Klima genießt, ist die Heimat aller großen Muttervölker der westlichen Welt. Hier sind die Quellen des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik. Hier liegt der Ursprung fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit. Wäre jemals ein vereintes Europa imstande, sich in das gemeinsame Erbe zu teilen, dann genössen seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaße. Jedoch brachen gerade in Europa, entfacht durch die teutonischen Nationen in ihrem Machtstreben, jene M 2 Der ehemalige Premierminister von Großbritannien Winston Churchill traf am 19. September 1946 Reihe entsetzlicher nationalistischer Streitigin der Universität Zürich ein, wo er am gleichen Tag seine Rede hielt, in der er zur Einigung Europas keiten aus, welche wir in diesem zwanzigsten aufrief: »Let Europe arise!« © Keystone/ Photopress-Archiv, dpa, picture alliance Jahrhundert und somit zu unserer Lebenszeit den Frieden zerstören und die Hoffnungen der gesamten Menschheit verderben sahen. Und welches ist der Zustand, in den Europa gebracht worden ist? statt Unrecht zu tun und dafür Segen statt Fluch als Belohnung Zwar haben sich einige der kleineren Staaten gut erholt, aber in zu ernten. weiten Gebieten starren ungeheure Massen zitternder menschliViel Arbeit, meine Damen und Herren, wurde für diese Aufgabe cher Wesen gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die durch die Anstrengungen der paneuropäischen Union getan, welRuinen ihrer Städte und Behausungen und suchen den düsteren che Graf Coudenhove-Kalergi so viel zu verdanken hat und welche Horizont angestrengt nach dem Auftauchen einer neuen Gefahr, dem Wirken des berühmten französischen Patrioten und Staatseiner neuen Tyrannei oder eines neuen Schreckens ab. Unter den mannes Aristide Briand seine Richtung gab. Es gibt auch jene rieSiegern herrscht ein babylonisches Stimmengewirr; unter den sige Fülle von Grundsätzen und Verfahren, welche nach dem ErsBesiegten das trotzige Schweigen der Verzweiflung. Das ist alles, ten Weltkrieg mit großen Hoffnungen ins Leben gerufen worden was die in so viele alten Staaten und Nationen gegliederten Eurowar, ich meine den Völkerbund. Der Völkerbund hat nicht wegen päer, das ist alles, was die germanischen Völker erreicht haben, seiner Grundsätze oder seiner Vorstellungen versagt. Er hat vernachdem sie sich gegenseitig in Stücke rissen und weit und breit sagt, weil die Staaten, die ihn gegründet hatten, diesen GrundVerheerung anrichteten. Hätte nicht die große Republik jenseits sätzen untreu geworden waren. Er hat versagt, weil sich die Redes Atlantischen Ozeans schließlich begriffen, dass der Untergierungen jener Tage davor fürchteten, den Tatsachen ins Gesicht gang oder die Versklavung Europas auch ebenso ihr eigenes zu sehen und zu handeln, solange dazu Zeit blieb. Dieses Unglück Schicksal bestimmen würde, und hätte sie nicht ihre Hand zu darf sich nicht wiederholen. (…) Beistand und Führung ausgestreckt, so wäre das finstere MittelIch war sehr froh, vor zwei Tagen in den Zeitungen zu lesen, dass alter mit seiner Grausamkeit und seinem Elend zurückgekehrt. mein Freund Präsident Truman diesem großen Plan sein Interesse Meine Herren, es kann noch immer zurückkehren. Und doch gibt und seine Sympathie bezeugt. Es gibt keinen Grund, weshalb eine es all die Zeit hindurch ein Mittel, das, würde es allgemein und regionale europäische Organisation auf irgendeine Weise mit der spontan von der großen Mehrheit der Menschen in vielen LänWeltorganisation der Vereinten Nationen in Konflikt geraten dern angewendet, wie durch ein Wunder die ganze Szene veränsollte. Ich glaube im Gegenteil, dass der größere Zusammenderte und in wenigen Jahren ganz Europa, oder doch dessen schluss nur lebensfähig bleibt, wenn er sich auf eng verbundene größten Teil, so frei und glücklich machte, wie es die Schweiz natürliche Gruppen stützen kann. In der westlichen Hemisphäre heute ist. Welches ist dieses vorzügliche Heilmittel? Es ist die gibt es bereits eine natürliche Gruppierung. Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie, oder doch soviel Wir Briten haben unser eigenes Commonwealth. Dieses schwächt davon, wie möglich ist, indem wir ihr eine Struktur geben, in weldie Weltorganisation nicht, im Gegenteil, es stärkt sie. Es ist in cher sie in Frieden, in Sicherheit und in Freiheit bestehen kann. der Tat ihre stärkste Stütze. Und warum sollte nicht eine europäiWir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. Nur sche Gruppierung möglich sein, welche den verwirrten Völkern auf diese Weise werden Hunderte von Millionen sich abmühendieses unruhigen und mächtigen Kontinents ein erweitertes Heider Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und matgefühl und ein gemeinsames Bürgerrecht zu geben verHoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert mamöchte? Und warum sollte dieser nicht zusammen mit anderen chen. Das Vorgehen ist einfach. Das einzige, was nötig ist, ist der großen Gruppen bei der Bestimmung des künftigen Schicksals Entschluss Hunderter von Millionen Männer und Frauen, Recht der Menschheit seine berechtigte Stellung einnehmen? (…) Nachkriegsp olitik des Vereinigten Königreichs DuE68_umbr.indd 70 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 Wir alle wissen, dass die beiden Weltkriege, die wir miterlebt haben, der eitlen Leidenschaft eines neuvereinigten Deutschlands entsprungen sind, welches die dominierende Rolle in der Welt spielen wollte. In diesem letzten Ringen wurden Verbrechen und Massenmorde begangen, für welche es seit der mongolischen Invasion des vierzehnten Jahrhunderts keine Parallele gibt und wie es sie in gleicher Weise zu keiner Zeit der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Der Schuldige muss bestraft werden. Deutschland muss der Macht beraubt werden, sich wieder zu bewaffnen und einen neuen Angriffskrieg zu entfesseln. Aber wenn all das getan worden ist, so wie es getan werden wird, so wie man es bereits jetzt tut, dann muss die Vergeltung ein Ende haben. Dann muss das stattfinden, was Gladstone vor vielen Jahren »einen segensreichen Akt des Vergessens« genannt hat. Wir alle müssen den Schrecknissen der Vergangenheit den Rücken kehren. Wir müssen in die Zukunft schauen. Wir können es uns nicht leisten, den Hass und die Rachegefühle, welche den Kränkungen der Vergangenheit entsprangen, durch die kommenden Jahre mitzuschleppen. Wenn Europa vor endlosem Elend und schließlich vor seinem Untergang bewahrt werden soll, dann muss es in der europäischen Völkerfamilie diesen Akt des Vertrauens und diesen Akt des Vergessens geM 3 Der britische Oppositionsführer Winston Churchill hielt am gleichen Tag neben seiner Rede an der genüber den Verbrechen und Wahnsinnstaten Universität auch noch eine Rede auf dem voll versammelten Münsterhof in Zürich. der Vergangenheit geben. (…) © Keystone/ Photopress-Archiv, dpa, picture alliance Ich sage Ihnen jetzt etwas, das Sie erstaunen wird. Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie muss wird, ausgenommen für die Sache von Freiheit und Recht. Aber es eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. ist wohl möglich, dass dieses ungeheuerliche Zerstörungsmittel Nur so kann Frankreich seine moralische und kulturelle Führerin ein paar Jahren weitverbreitet sein wird, und die Katastrophe, rolle in Europa wiedererlangen. Es gibt kein Wiederaufleben Eudie seinem Gebrauch durch verschiedene kriegsführende Natioropas ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes nen folgen würde, bedeutete nicht nur das Ende all dessen, was Deutschland. Wenn das Gefüge der Vereinigten Staaten von Euwir Zivilisation nennen, sondern könnte wahrscheinlich sogar den ropa gut und richtig gebaut wird, so wird die materielle Stärke Erdball selbst zerstören. eines einzelnen Staates weniger wichtig sein. Kleine Nationen Ich will nun die Aufgaben, die vor Ihnen stehen, zusammenfassen. werden genau soviel zählen wie große, und sie werden sich ihren Unser beständiges Ziel muss sein, die Vereinten Nationen aufzuRang durch ihren Beitrag für die gemeinsame Sache sichern. bauen und zu festigen. Unter- und innerhalb dieser weltumfasDie alten Staaten und Fürstentümer Deutschlands, in einem födesenden Konzeption müssen wir die europäische Völkerfamilie in ralistischen System zum gemeinsamen Vorteil freiwillig zusameiner regionalen Organisation neu zusammenfassen, die man mengeschlossen, könnten innerhalb der Vereinigten Staaten von vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa nennen könnte. Der Europa ihre individuellen Stellungen einnehmen. Ich werde nicht erste praktische Schritt wird die Bildung eines Europarates sein. versuchen, ein detailliertes Programm für Hunderte von MillioWenn zu Beginn nicht alle Staaten Europas der Union beitreten nen Menschen zu entwerfen, welche glücklich und frei, zufrieden können oder wollen, so müssen wir trotzdem damit anfangen und und sicher sein wollen, die jene vier Freiheiten, von denen der diejenigen, die wollen, und diejenigen, die können, sammeln und große Präsident Roosevelt sprach, genießen wollen und die nach zusammenführen. Die Errettung der Menschen aller Rassen und Grundsätzen zu leben wünschen, die in der Atlantik-Charta veranaller Länder aus Krieg und Knechtschaft muss auf soliden Grundkert wurden. Wenn das ihr Wunsch ist, wenn das der Wunsch der lagen beruhen und garantiert werden durch die Bereitschaft aller Europäer in so vielen Ländern ist, müssen sie es nur sagen, und es Männer und Frauen, lieber zu sterben, als sich der Tyrannei zu unkönnen sicher Mittel gefunden und Einrichtungen geschaffen terwerfen. Bei all diesen dringenden Aufgaben müssen Frankwerden, damit dieser Wunsch voll in Erfüllung geht. reich und Deutschland zusammen die Führung übernehmen. Aber ich muss Sie warnen. Vielleicht bleibt wenig Zeit. GegenwärGroßbritannien, das britische Commonwealth, das mächtige tig gibt es eine Atempause. Die Kanonen sind verstummt. Die Amerika, und, so hoffe ich wenigstens, Sowjetrussland – denn Kampfhandlungen haben aufgehört; aber die Gefahren haben dann wäre tatsächlich alles gut – sollen die Freunde und Förderer nicht aufgehört. Wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa, des neuen Europa sein und dessen Recht, zu leben und zu leuchoder welchen Namen sie haben werden, bilden wollen, müssen ten, beschützen. wir jetzt anfangen. Darum sage ich Ihnen: Lassen Sie Europa entstehen!« Augenblicklich leben wir in seltsamer und bedenklicher Weise un© www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/Geschichte/bis1950/Pdf/ ter dem Schild, und ich will sogar sagen Schutz, der Atombombe. Churchill_Rede_Zuerich.pdf sowie www.zeit.de/reden/die_historische_rede/200115_ Bisher ist die Atombombe nur in den Händen eines Staates und hr_churchill1_englisch einer Nation, von der wir wissen, dass sie sie niemals brauchen D&E DuE68_umbr.indd 71 Heft 68 · 2014 71 Nachkriegsp olitik des Vereinigten Königreichs 24.11.14 13:40 DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 68 »Die ersten Nachkriegsjahre. Europa nach 1945« Abb. 1 Professorin Dr. Gabriele Clemens, Universität Hamburg, Arbeitsbereich Europäische Geschichte, Jean Monnet-Lehrstuhl für Europäische Integrationsgeschichte und Europastudien Abb. 2 Oberstudienrat Johannes Gienger, Leiter des Stadtmedienzentrums Stuttgart, Autor multimedialer Publikationen zu historischen Themen Abb. 3 Studiendirektor Herbert Kohl, Staatliches Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Heilbronn, Schulbuchautor, vormals Fachberater für Geschichte am Regierungspräsidium Stuttgart Abb. 5 Professor Dr. Henri Ménudier, Politologe an der Universität Paris III – Sorbonne Nouvelle (Institut d`Allemand), gilt als Deutschlandexperte. Ménudier ist Schüler von Alfred Grosser und Joseph Rovan. Abb. 6 Professor Dr. phil., Dr. med. Franz-Josef Brüggemeier, Universität Freiburg, unterrichtete als Visiting Professor in York (England) und Harvard (USA) und hat zahlreiche Beiträge zur Sozial- und Umweltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Abb. 7 Jürgen Kalb, Studiendirektor, Fachreferent LpB, Fachberater RP Stuttgart, Elly-Heuss-KnappGymnasium Stuttgart Abb. 4 Manfred Mack, Deutsches Polen-Institut Darmstadt, Schulbuchautor zur deutsch-polnischen Geschichte 72 Hinweis: Fachtagung Geschichte am 21. Mai 2015, 9:30–16:30 Uhr 70 Jahre »Stunde Null«? Von der Kapitulation zu neuen Perspektiven Der Fachtag kombiniert Ergebnisse der historischen Forschung mit Anregungen, Unterrichtskonzepten und Materialien für die Unterrichtspraxis. Ausgehend von der Stadtgeschichte – Stuttgart erwacht aus den Trümmern und sucht den wirtschaftlichen, politischen und moralischen Neuanfang – soll das größere Umfeld – Teilung Deutschlands, Entwicklung Europas – ins Blickfeld genommen werden. Referenten u. a.: Professor Dr. Henri Ménudier, Universität Paris III, Nouvelle Sorbonne, Paris Professor Dr. Ulrich Herbert, Universität Freiburg Das Stadtmedienzentrum Stuttgart führt diesen Fachtag in Kooperation mit dem Planungsstab des Stadtmuseums sowie der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Redaktion von »Deutschland & Europa«, durch. Anmeldung unter: fobi-s@lmz-bw.de D &E- Au torinnen und Au toren DuE68_umbr.indd 72 D&E Heft 68 · 2014 24.11.14 13:40 Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77 lpb@lpb-bw.de, www.lpb-bw.de Direktor: Lothar Frick Büro des Direktors: Sabina Wilhelm Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ Stabsstelle Kommunikation und Marketing Leiter: Werner Fichter Felix Steinbrenner -60 -62 -40 -63 -64 Abteilung Zentraler Service Abteilungsleiter: Kai-Uwe Hecht -10 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Personal: Sabrina Gogel -13 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Klaudia Saupe -49 Siegfried Kloske, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-137 Abteilung Demokratisches Engagement Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit: Sibylle Thelen* -30 Politische Landeskunde*: Dr. Iris Häuser -20 Schülerwettbewerb des Landtags*: Monika Greiner Daniel Henrich -25 Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32 Jugend und Politik*: Angelika Barth -22 Freiwilliges Ökologisches Jahr*: Steffen Vogel -35 Alexander Werwein-Bagemühl/ Sarah Mann -36/-34 Stefan Paller -37 Abteilung Medien und Methoden Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40 Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs: Prof. Dr. Reinhold Weber -42 Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43 Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech -44 Unterrichtsmedien: Michael Lebisch -47 E-Learning: Dr. Andrea Fausel, Sabine Keitel -46 Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-136 Internet-Redaktion: Klaudia Saupe -49 Bianca Hausenblas -48 Abteilung Haus auf der Alb Tagungszentrum Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon 07125/152-0, Fax -100 www.hausaufderalb.de Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Dr. Markus Hug Schule und Bildung/Integration und Migration: Robert Feil Internationale Politik und Friedenssicherung/ Integration und Migration: Wolfgang Hesse Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann Hausmanagement: Julia Telegin DuE68_ums.indd U3 Außenstellen Regionale Arbeit Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Veranstaltungen für den Schulbereich Außenstelle Freiburg Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg Telefon: 0761/20773-0, Fax -99 Leiter: Dr. Michael Wehner Thomas Waldvogel -77 -33 Außenstelle Heidelberg Plöck 22, 69117 Heidelberg Telefon: 06221/6078-0, Fax -22 Leiterin: Wolfgang Berger Robby Geyer -14 -13 Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Veranstaltungen für den Schulbereich Thomas Franke Stuttgart: Stafflenbergstraße 38 Projekt Extremismusprävention Stuttgart: Stafflenbergstraße 38 Leiter: Felix Steinbrenner Assistentin: Stefanie Beck -83 -81 -82 * Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart Telefon: 0711/164099-0, Fax -55 LpB-Shops/Publikationsausgaben Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0 Montag bis Freitag 8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10 Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr -146 Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11 Dienstag, 9.00–15.00 Uhr Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr -139 Stuttgart -140 -147 -121 -109 Newsletter »einblick« anfordern unter www.lpb-bw.de/newsletter.html Stafflenbergstraße 38, Telefon 0711/164099-66 Mittwoch 14.00–17.00 Uhr 24.11.14 08:55 DEUTSCHLAND & EUROPA IM INTERNET Aktuelle, ältere und vergriffene Hefte zum kostenlosen Herunterladen: www.deutschlandundeuropa.de BESTELLUNGEN Alle Veröffentlichungen der Landeszentrale (Zeitschriften auch in Klassensätzen) können schriftlich bestellt werden bei: Landeszentrale für politische Bildung, Stabsstelle Kommunikation und Marketing Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax 07 11/164 099-77 marketing@lpb.bwl.de oder im Webshop: www.lpb-bw.de/shop Wenn Sie nur kostenlose Titel mit einem Gewicht unter 0,5 kg bestellen, fallen für Sie keine Versandkosten an. 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