Wirtschaft - Leben in Antalya
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Wirtschaft - Leben in Antalya
Das deutsche Nachrichten-Magazin Hausmitteilung Betr.: Titel, Computerspiele, SPIEGEL WISSEN Z um ersten Mal hat der SPIEGEL im vergangenen Sommer eine Titelgeschichte auch in türkischer Sprache gedruckt; als Geste, als Signal der Verständigung. Anlass waren die Demonstrationen auf dem Taksim-Platz in Istanbul, die einen Bruch unübersehbar machten, der sich durch die türkische Gesellschaft zieht. In dieser Ausgabe erscheint der Titelkomplex erneut auf Deutsch und auf Türkisch, wieder aus gutem Grund. Am Popp in Istanbul kommenden Sonntag wird aller Wahrscheinlichkeit nach der Mann zum Präsidenten der Türkei gewählt werden, der den Konflikt in der Türkei immer wieder schürt: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Große Bedeutung hat diese Wahl auch, weil erstmals türkische Staatsbürger im Ausland ihren Präsidenten wählen dürfen. Wie die Stimmung in der Türkei vor der Wahl ist, warum Erdoğan der große Favorit ist, beschreiben Maximilian Popp und Hasnain Kazim. Katrin Elger und Özlem Gezer gingen der Frage nach, ob die Türken in Deutschland anders auf die kommende Seiten 68, 78 Wahl blicken als ihre Landsleute in der ehemaligen Heimat. FOTOS: DENNIS YÜCEL / DER SPIEGEL (O.); ROBERT GALLAGHER 2014 / DER SPIEGEL (U.) E rfolgreiche Computerspiele werden in der Regel in einer festgelegten Arbeitsteilung produziert. Oben, an der Spitze der Wertschöpfungskette, stehen weltweit eine Handvoll Publisher, die, vergleichbar mit Filmproduzenten in Hollywood, Spiele finanzieren und vertreiben. Programmiert werden die Spiele aber von eigenständigen Entwicklungsfirmen, die abhängig sind von den KonNezik, Roberts zernen. Am etablierten Machtgefüge rüttelt nun ein Programmierer: Der Amerikaner Chris Roberts lässt sich die Entwicklung des Spiels „Star Citizen“ von seinen Fans bezahlen, mithilfe eines Crowdfunding-Projekts. 49 Millionen Dollar sind bislang eingesammelt worden und geben Roberts die Freiheit, nach der er strebt. Redakteurin Ann-Kathrin Nezik besuchte Roberts im kalifornischen Santa Monica und lernte einen Unternehmer kennen, der das Risiko liebt. Gegen einen Kollegen hat Roberts einmal auf den Erfolg eines anderen Spiels gewettet, für das er verantwortlich war; der Einsatz: Roberts’ Porsche. Seite 130 Roberts verlor. E ine Krebsdiagnose wirft meistens sowohl Betroffene als auch Angehörige aus der Bahn, denn trotz des medizinischen Fortschritts sind viele Fragen ungelöst. Wie es sich mit dieser Krankheit leben lässt, wie man sich vor ihr schützen kann, wie die verschiedenen Krebsarten behandelt werden, das beschreibt die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL WISSEN „Diagnose Krebs – und mein Leben geht weiter“. Die Autorinnen und Autoren sprachen mit Betroffenen wie der ehemaligen französischen Familienministerin Dominique Bertinotti, sie trafen Angehörige und Forscher. Überraschend war für die Kollegen, dass viele Kranke, die nun als geheilt gelten, nicht nur vom Schmerz berichteten, den ihr Leiden brachte, sondern auch von einem Gefühl der Freiheit, gewonnen durch die Nähe zum Tod. Die neue Ausgabe von SPIEGEL WISSEN ist ab Dienstag im Handel. DER SPIEGEL 32 / 2014 3 Erdoğan otokrata mı dönüşüyor? Türkei Unter Premier Erdoğan entwickelte sich das Land zur Regionalmacht. Nun wird er wohl zum Präsidenten gewählt – seine Gegner befürchten, er werde damit zum Despoten. Auch die drei Millionen Deutschtürken müssen sich positionieren: für oder gegen ihn? Seiten 68, 78 Türkiye Başbakan Erdoğan’ın iktidarı boyunca ülke bölgesel bir güce dönüştü. Erdoğan şimdi de büyük bir ihtimalle cumhurbaşkanı seçilecek. Almanyalı üç milyon Türk de tavır almak zorunda hissediyor kendisini: Erdoğan’dan yana mı, ona karşı mı olunacak? Sayfa 68, 78 Mord und Totschlag Justiz Es ist eines der heikelsten Reformprojekte des Bundesjustizministers: Heiko Maas will den Mord-Paragrafen reformieren. Die Vorschrift stammt aus der Nazizeit. Sie belastet die Richter, die für gerechte Urteile an die Grenze ihrer Kompetenz gehen müssen. Doch sind die Deutschen bereit für eine Debatte über die richtige Strafe für Mörder? Seiten 16, 20 Die Waisen der Medizin Genforschung Kein Arzt konnte ihnen bislang helfen: Kindern, die an seltenen Krankheiten leiden, deren Ursache niemand kennt. Nun gibt es Hoffnung für die Waisen der Medizin. Mithilfe moderner molekularbiologischer Methoden haben Forscher ein solches Erbleiden enträtselt – und testen erste Therapien. Seite 104 4 Titelbild: Fotos: Claudius Schulze; DTS Lichtrevolution mit Schattenseite Beleuchtungsmarkt Osram streicht in Deutschland fast jede fünfte Stelle, das gesamte Lichtgewerbe befindet sich im Umbruch: Die LED-Technologie verdrängt herkömmliche Leuchten viel schneller als erwartet. Neue Angreifer aus Fernost fordern europäische Traditionsfirmen wie Osram oder Philips heraus. Seite 56 FOTOS: CLAUDIUS SCHULZE / LAIF (O.); FRANK MAY / PICTURE-ALLIANCE / DPA (M.L.); JASON REED / REUTERS (M.R.); SWEET ENVY PHOTOGRAPHY (U.L.) Wird Erdoğan zum Autokraten? In diesem Heft Titel / Kapak Gesellschaft 68 Türkei Premier Erdoğan 102 Menschenversuche bei Partnerbörse / Deutsche Geounter Wasser / Tierwelt: Warum Vögel Flughäfen lieben logen suchen nach Bodenschätzen am Meeresgrund / 47 Eine Meldung und ihre Bildschirm ersetzt Brille Geschichte Die neue Familie des Wiener Bauunternehmers 104 Medizin Genforschern ist es gelungen, eine mysteriöse Richard Lugner Erbkrankheit bei 48 Verbrechen Eine ameKindern zu entschlüsseln rikanische Besserungsanstalt 108 Seuchen Der Tropenund ihre fürchterliche mediziner Florian Steiner Geschichte über den Kampf gegen Ebola 53 Homestory Unter 110 Tiere Der rätselhafte Kleinkriminellen in Rio Schwund der urzeitlichen Pfeilschwanzkrebse Wirtschaft 112 Antike Vor 2000 Jahren 54 Greenpeace-Chef wehrt starb Kaiser Augustus, der sich / Polen will Sanktionsdie römische Republik in eine ausgleich / Berlin fordert Monarchie verwandelte Google heraus hat sein Land modernisiert und islamisiert – wird er als Präsident zum Autokraten? 68 Türkiye Ülkesini aynı zamanda modernleştiren ve Müslümanlaştıran Başbakan Erdoğan, otokrat bir cumhurbaşkanına dönüşebilir mi? 78 Deutschtürken Wie Erdoğan die türkischen Gemeinschaften in Deutschland spaltet 78 Almanyalı Türkler Erdoğan Almanyalı Türkleri ayrıştırıyor FOTOS: AMIT SHABI / LAIF / DER SPIEGEL (O.); ANDREW GOMBERT / DPA (M.) ETTORE FERRARI / DPA (U.) Deutschland 10 Leitartikel Weil die Unternehmen zu sehr auf den Export setzen, müssen die deutschen Löhne steigen 12 SPD-Vize Stegner fordert Ausländerwahlrecht / CDUGrößen wollen kalte Progression abbauen / Kolumne: Der schwarze Kanal 16 Justiz Minister Heiko Maas will den MordParagrafen reformieren 20 Strafrecht SPIEGELGespräch mit dem BGHRichter Thomas Fischer über den Mord-Paragrafen und sexuellen Missbrauch 24 Rüstung Wirtschaftsminister Gabriel stößt mit seiner Waffenexportpolitik in den eigenen Reihen auf Widerstand 26 Bayern Wie Staatsministerin Christine Haderthauer in der Modellbau-Affäre die Wahrheit dehnt 29 Infrastruktur Wieso explodieren bei öffentlichen Projekten immer die Kosten? 31 Stuttgart 21 Das Gerangel um den Brandschutz 32 Cyberkriminalität Deutschlands oberster Sicherheitsbeamter für Datentechnik über Angriffe auf Bundesministerien 34 Karrieren Fraktionschef Anton Hofreiter führt die Grünen mit Nettigkeit ins Abseits 37 Affären Hat auch der Chef der Klassenlotterie die Gewinner zum Bankhaus Merck Finck geschleust? 38 Strafjustiz Zschäpes eigenwillige Aktionen 40 Medizin Wie Ärzte im Klinikum Bayreuth unter Druck des Managements gerieten 44 Geheimdienste Anwalt Klaus Schroth über seinen Mandanten Markus R., der als BND-Mitarbeiter für die CIA spioniert haben soll Wissenschaft 46 Sechserpack: Der Mensch 56 Beleuchtungsmarkt Der Angriff der Fernost-Konzerne 59 Deutsche Bank Jain will die ganze Macht 60 Interview Investmentbanker Leonhard Fischer sagt Fusionswelle voraus 62 Gesellschaftskritik USÖkonom Jeremy Rifkin im SPIEGEL-Gespräch über die digitale Verwandlung des Kapitalismus 64 Tourismus Das Comeback des Griechenlandurlaubs Kultur israelische Soziologin, erklärt im SPIEGEL-Gespräch die Angst ihrer Landsleute, die Gründe ihrer Radikalisierung und warum es vielen an Mitleid mit den Palästinensern fehlt. Seite 84 114 „The Knick“ – die TV-Serie von Kino-Altmeister Steven Soderbergh / Eine Berliner Ausstellung zeigt die ferne Vergangenheit in Farbe / Kolumne: Mein Leben als Frau 116 Internet-Debatte Der USAutor Dave Eggers liefert mit „Der Circle“ den Roman für den aktuellen netzkritischen Diskurs 120 Legenden Eine Biografie über den lüsternen Literaten Marquis de Sade Ausland 122 Kino Scarlett Johansson rebelliert in ihren neuen 66 Warum eine Klage der Republikaner gegen Präsident Filmen gegen Weiblichkeitskitsch Obama sinnlos ist / China will Argentinien aus der Krise 124 Religion Wie reagieren helfen Mafiosi auf ihre Exkom84 Israel Die Soziologin Eva munikation durch den Papst? Illouz über fehlendes 126 Essay Schriftsteller Mitleid, Angst und RadikaliLars Brandt fordert sierung in ihrer Heimat einen Künstlerprotest gegen 86 USA John Kerrys Scheitern Europas Faschisten als Vermittler in Nahost 128 Literaturkritik Verena zeigt den Bedeutungsverlust Stefan, Ikone des Feminismus, der Weltmacht erzählt die tragische Geschichte ihres Großvaters 92 Essay Der Islamismusforscher Shadi Hamid über Medien die Rückkehr der Generäle in der arabischen Welt 129 Twitter-Nutzer spotten 95 Global Village Warum eine über Facebook / Reisemanager verteidigt Castingshow Britin an den Stränden Cornwalls Lego-Figuren sucht 130 Unterhaltung Ein amerikanisches Start-up will den Sport Markt für Videospiele auf den Kopf stellen 97 Sprinter Julian Reus erläutert neue Trainingsmethoden / Verletzungsserie 6 Briefe bei Motorradrennfahrern 125 Bestseller 98 Idole Wie Pep Guardiola 134 Impressum, Leserservice für die Unabhängigkeit Kata- 135 Nachrufe loniens kämpft 136 Personalien 138 Hohlspiegel / Rückspiegel 100 Leichtathletik Der extravagante Weltrekordler im Stabhochsprung Renaud Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/briefkasten Lavillenie Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite. Eva Illouz, Pep Guardiola, Trainer des FC Bayern und stolzer Katalane, kämpft offen für die Abspaltung seiner Heimatregion von Spanien. Zuletzt auch auf dem Alexanderplatz in Berlin. Seite 98 Scarlett Johansson, Hollywood-Star, gilt als Sexsymbol. In ihrem neuen Film „Lucy“ verkörpert sie eine Actionheldin mit übermenschlicher Intelligenz und hat damit phänomenalen Erfolg. Seite 122 DER SPIEGEL 32 / 2014 5 Briefe „Den Leitartikel kann ich zu 100 Prozent unterschreiben. Aber die Sanktionen sind zu zögerlich und noch nicht effektiv genug.“ Gerd Kraus, Bad Berneck (Bayern) Wer ist hier verantwortlich? Nr. 31/2014 Stoppt Putin jetzt!; Leitartikel – Nach dem Abschuss von Flug MH 17 muss Europa Putin zum Einlenken zwingen Präsident Putin wird zu Recht als Hauptverantwortlicher benannt, zu Recht wird seine Bestrafung durch Sanktionen und entsprechendes Verhalten bei den Treffen der Führungspersönlichkeiten der Welt gefordert. Aber er tut nur, was seine Wähler wollen. Er kann sich doch nicht, wie Brecht es 1953 ironisch von den SED-Führern forderte, „ein neues Volk wählen“! Schuld am Abschuss des Verkehrsflugzeugs trägt. Warum gab es beispielsweise im Fall der NSA nicht eine ähnliche Schlagzeile: „Stoppt die NSA – jetzt“? Sicher haben Sie das auch kritisch begleitet, aber es wäre in diesem Fall in dieser Form angemessener gewesen. Michael Fricke, Weimar Zuerst dachte ich an die Unterstützerliste einer Onlinepetition oder Ähnliches, dann der zweite Blick – das Titelbild tat richtig weh. Carsten Kaftan, Gräfelfing (Bayern) Joachim Lange, Bad Doberan (Meckl.-Vorp.) Eine glanzvolle politische und wirtschaftliche Zukunft Europas liegt nur in der engen Kooperation mit Russland und der Ukraine. Schafft Gemeinschaftsprojekte mit Ukrainern und Russen, anstatt diese aufeinanderzuhetzen! Wir lassen die Griechen wirtschaftlich darben, was könnten wir den Ukrainern geben außer zementierter Armut? Sie hoffen nicht auf Freiheit, sondern auf wirtschaftlichen Aufschwung. Russland und die EU können da nur gemeinsam etwas bewirken. Heinz-Werner Bähr, Troisdorf (NRW) So ein Titel geht gar nicht. Allein weil dafür die Bilder der Opfer des von wem auch immer abgeschossenen Fliegers verwendet werden und gleichzeitig mit dem Titel „Stoppt Putin jetzt!“ suggeriert wird, dass Putin diese Menschen auf dem Gewissen hat. Man sollte auf dem Titel nicht alles vorwegnehmen. Dem Leser sollte es möglich sein, sich seine Meinung beim Lesen eines Artikels zu bilden und nicht durch eine solche suggestive Konstruktion. Fabian Pfeifer, Hamburg „Stoppt Netanjahu!“ wäre in diesen Wochen angesichts der systematischen Attacken auf ein wehrloses und dauerschikaniertes Volk angebrachter gewesen. Heinz Uray, Graz (Österreich) Dr. Dietrich von der Ölsnitz, Veltheim (Nieders.) Es wird nicht gelingen, einen Despoten wie Putin von außen in die Knie zu zwingen oder gar ihn zu bekehren und das Unrechtsregime in Russland zu beseitigen. Eine Änderung zum Besseren wird es nur geben, wenn dieses System implodiert wie weiland die Sowjetunion. Die westlichen Staaten können hierzu nur marginal beitragen und bestenfalls dafür sorgen, dass ein solcher Zusammenbruch keine allzu großen Kollateralschäden mit sich bringt. Es geht mittlerweile um mehr als Sanktionen, es geht um den Aufbau eines Feindbilds. Und hier haben die Medien eine herausragende Verantwortung, besonders der SPIEGEL, der sich aufgrund seiner ausgewogenen Berichterstattung einen guten Namen gemacht hat. Nehmen wir an, dass es stimmt, dass Russland die Separatisten mit Waffen versorgt und deshalb auch für diese fürchterliche Tragödie des Boeing-Abschusses eine gewaltige Mitverantwortung trägt. Es muss allerdings die Frage erlaubt sein, ob nicht auch die Soldaten der Ukraine zu dieser Tat in der Lage gewesen wären. Wer ist hier eigentlich für Waffennachschub verantwortlich? Der Titel der heutigen SPIEGEL-Ausgabe ist verantwortungslos. Er dient der Eskalierung des Konflikts zwischen der EU, den USA, der Ukraine und Russland. Es ist noch nicht bewiesen, dass Russland die 6 DER SPIEGEL 32 / 2014 Benedikt Vermeer, Bremen Glückwunsch zur gelungenen Titelgeschichte samt Cover. Sie haben mich ab sofort als Leser zurückgewonnen. Das Lager der Putin-Versteher mit seiner diffusen antiwestlichen Haltung ist mir völlig suspekt. Putins irres Gebaren darf man einfach nicht tolerieren oder gar gutheißen. Sven Meyer, Freiburg Wobei soll Putin gestoppt werden? Wie, von wem und warum? Mit diesem Titelbild stellen Sie den Schulterschluss zur Newsweek her, die in dieser Woche titelt, Putin sei ein „Paria“, der schlimmste Feind des Westens. Putin würde erst glaubwürdig werden, wenn er jede Unterstützung der Separatisten einstellen, das Einsickern russischer Kämpfer verhindern und unmissverständlich erklären würde, dass der Anschluss weiterer ukrainischer Gebiete an Russland unter keinen Umständen erfolgen wird. Die Kampfhandlungen wären schnell zu Ende, und Kiew könnte den Separatisten ein Amnestieangebot machen. Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin Leider ganz schlecht geraten sind in dieser Woche Titelbild, Leitartikel und Titelstory. Armselig, da rein polemisch und nur auf Vermutungen gründend – weshalb veröffentlichen die Amerikaner ihre Beweisbilder nicht endlich? Heuchlerisch, da wir Deutsche durch unsere Waffenexporte genauso viele Leben auf dem Gewissen haben wie Putins Regierung. Und da mit unserer Hilfe in der Ukraine eine legitime Regierung gestürzt und durch eine ersetzt wurde, die nun die eigene Bevölkerung bombardiert, welche wiederum gegen diese neue Regierung aufstand. Nebenbei auch dumm, da einzig die USA von schlechten Wirtschaftsbeziehungen der EU zu Russland profitieren. Für einen treuen Leser unter SPIEGEL-Niveau – zum Glück! Dr. Annett Jubara, Germersheim (Rhld.-Pf.) Helga Günther-Kiesel, Erlangen Der Tenor der öffentlichen Diskussion verschiebt sich relativ plötzlich. Während vor einigen Monaten noch die innerukrainische Situation und später die Krim-Krise im Mittelpunkt standen, fokussiert plötzlich alles auf Putin. Dies erscheint vielen Lesern als Personenkult, der zur Personifizierung des Konflikts führt und damit zu „Gut-und-Böse-Wahrheiten“. Die NSAAffäre wird verdeckt, stattdessen starren plötzlich alle auf Putin. Solche Zusammenhänge werden vom SPIEGEL derzeit nicht angemessen aufgegriffen. Was mir fehlt, ist der Versuch, halbwegs neutral zu reflektieren. Im Grunde hat der SPIEGEL Position bezogen, ohne dass wir verstehen, warum. Norbert Rost, Dresden Putin ist kein Problembär. Er muss ein gewaltiges, rückständiges und zerrissenes Land regieren. Der Westen ist nicht gut beraten, dieses Russland zu destabilisieren. In einer Welt, die sich neu ordnet, ist gelassene Klugheit, nicht das Schlagen der Trommeln das richtige Mittel. Insbesondere darf sich Europa nicht durch die USA, deren Interessen sehr eigene sind, in Positionen drängen lassen, die den Konflikt unnötig zuspitzen. Hartwig Schulte-Loh, Berlin Briefe Warmer Humor Nr. 30/2014 Gutachter hielt Wahnkranken für voll schuldfähig Ich habe Kröber schon mehrfach bei forensisch-psychiatrischen Fortbildungsveranstaltungen referieren hören und mich über sein enormes Fachwissen, sein Charisma und seinen warmen Humor gefreut, den er in seiner jahrzehntelangen Arbeit mit Schwerkriminellen nicht verloren hat. Der Vorwurf, Kröber habe einen Hang zu Spott und Zynismus, fällt auf die Verfasserin des Artikels zurück. Dr. Jürgen Eckardt, Ravensburg Facharzt für Psychiatrie Es ist unbestritten Aufgabe der Gerichtsberichterstattung, die Tätigkeit forensischer Gutachter kritisch zu würdigen. Wenn Gisela Friedrichsen Hans-Ludwig Kröber aber unterstellt, er halte „manches noch für normal, was Kollegen schon als Warnsignal auffällt“, weil er als Sohn eines Chefarztes in der Psychiatrie in BielefeldBethel aufwuchs, ist dies eine Schlussfolgerung, die der Seriosität Ihres Magazins nicht ansatzweise gerecht wird. Prof. Dr. Martin Driessen, Bielefeld Facharzt für Psychiatrie Ich war fast 40 Jahre lang Staatsanwalt und Richter und in dieser Zeit den verschiedensten Sachverständigen ausgeliefert. Zur journalistischen „Hinrichtung“ des Psychiaters Kröber durch Frau Friedrichsen kann ich nur gratulieren. Prof. Dr. jur. Gerhard H. Schlund, Dietersheim (Bayern) Praxen sind die Gewinner Nr. 30/2014 Das Mammografie-Screening schadet vielen Frauen Wer glaubt, dass die Profiteure des Mammografie-Screenings (hauptsächlich Radiologen und die Pharmaindustrie) eine sichere und gute Einnahmequelle so einfach aufgeben, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Die für das Screening angeschafften CT-Busse fangen gerade an, sich zu rentieren. mundung empfand und nicht als Sorge um meine Gesundheit. Für mich ist die radiologische Praxis der einzige Gewinner des Screenings. Hanne Kokoska, Dortmund Wenn 60 Prozent der Frauen glauben, dass durch die Teilnahme am Screening Brustkrebs verhindert wird, frage ich mich, durch welche Beeinflussung sie zu dieser absurden Überzeugung kommen. Helga Kollmar-Stützle, München Warum werden Leserinnen und Leser immer wieder verunsichert? Wir können froh sein, dass wir es in den Jahren geschafft haben, in Deutschland ein flächendeckendes Brustkrebs-Früherkennungsprogramm auf diesem Niveau einzuführen! Mariam Tehrani, Bonn Qualitätssicherung Mammographie-Screening Bonn Rhein-Sieg Euskirchen Irreführende Parallele Nr. 30/2014 Wie sich Ex-EU-Gesundheitskommissar John Dalli gegen seine Absetzung wehrt Der Artikel zieht eine irreführende Parallele zwischen einerseits den geheimen Treffen des ehemaligen Kommissars Dalli mit Vertretern der Tabakindustrie, die ohne Wissen und Zutun seines Kabinetts oder seiner Abteilung stattfanden, und andererseits Geschäftstreffen, die Teil des normalen Arbeitsablaufs der Europäischen Kommission sind und in Übereinstimmung mit den WHO-Regeln und -Richtlinien zu Kontakten mit der Tabakindustrie abgehalten werden. Dallis Position als der für die Überarbeitung der Tabakrichtlinie zuständige Kommissar wurde politisch unhaltbar, als ein unabhängiger Untersuchungsbericht feststellte, dass er über Bestechungsversuche im Bilde war, bei denen ein Restaurant- und Barbesitzer seinen Namen verwendete, um finanzielle Vorteile zu erlangen. Pia Ahrenkilde Hansen, Brüssel Sprecherin der Europäischen Kommission Hubertus Peter, Altrich (Rhld.-Pf.) Ich, 64 Jahre, war noch nie bei einer Mammografie – trotz der Einladung alle zwei Jahre. Meistens habe ich mich über dieses Schreiben geärgert, weil ich es als Bevor- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de Korrektur zu Heft 31/2014, Seite 72 „Spätes Erwachen“: „Nach einer Umfrage für den SPIEGEL sind 52 Prozent der Deutschen für härtere Sanktionen, selbst wenn das ‚viele Arbeitsplätze‘ in Deutschland kosten würde.“ Korrekt hätte der zweite Halbsatz lauten müssen: „selbst wenn dadurch viele Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet wären“. Es handelt sich um ein Versehen. 8 DER SPIEGEL 32 / 2014 Das deutsche Nachrichten-Magazin Leitartikel Das Lohnparadox Warum die Bundesbank mit ihrer Forderung nach höheren Gehältern recht hat 10 DER SPIEGEL 32 / 2014 FOTO: WERNER BACHMEIER / VISUM E In einer gesunden Wirtschaft blühen In- und Auslandsges kann ein böses Ende nehmen, wenn man die Wahrheit nicht erträgt, das lehrt die Geschichte vom Rumpelstilz- schäft gleichermaßen. In Deutschland dagegen existieren seit chen. Die schöne Müllerstochter brauchte nur seinen Jahren zwei Ökonomien nebeneinander: ein boomender, dyrichtigen Namen zu nennen, schon wurde der kleine Chole- namischer Exportsektor und ein schwungloser Binnenmarkt, der nicht zuletzt von den stagnierenden Einkommen der Mitriker so zornig, dass er sich selbst entzweiriss. Auch im richtigen Leben sind noch Rumpelstilze zu finden, telschicht gebremst wird. Steigende Löhne könnten zu einem neuen Gleichgewicht etwa in den Chefetagen der deutschen Arbeitgeberverbände. Kaum hatte die Bundesbank die sattsam bekannte Tatsache beitragen, doch davon wollen die Arbeitgeber nichts wissen. wiederholt, dass die Löhne in den vergangenen Jahren nicht „Tarifpolitik ist kein Instrument der Währungspolitik“, behaupausreichend gestiegen sind, da wüteten die Funktionäre des ten sie – und belegen damit, dass sie gedanklich noch in D-MarkKapitals auch schon los wie einst das Männchen aus Grimms Zeiten leben. Damals wurden Ungleichgewichte im euroMärchen. Vor den „gefährlichen Ratschlägen aus Frankfurt“ päischen Handel durch Änderungen der Wechselkurse ausgewarnte der Unternehmerverband Gesamtmetall, und Deutsch- glichen. Heute müssen sich Preise und Löhne anpassen, um lands Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer tat die Meinung der Überschüsse abzubauen. Auch wenn es Deutschlands ArbeitWährungshüter als „überflüssig geber nicht wahrhaben wollen, und wenig hilfreich“ ab. im Zeitalter des Euro ist TarifSo reden Ideologen, aber politik die neue Währungspolitik. nicht Kaufleute, die mit den Die Verdienste hierzulande müsZahlen vertraut sind. Ein sen gleich aus zwei Gründen durchschnittlicher Arbeitnehsteigen: zum einen, um die Armer stellt heute in der Stunde beitnehmer am wachsenden 16 Prozent mehr Güter und LeisWohlstand zu beteiligen, zum tungen her als vor 15 Jahren; anderen, um zum ökonomischen doch auf seinem Gehaltszettel Ausgleich in Europa beizutragen. spiegelt sich das Leistungsplus Das sehen nicht nur die deutkaum wider. Die Tariflöhne schen Währungshüter so, sonsind im selben Zeitraum nur um dern auch ihre Kollegen von der 10 Prozent gewachsen, und wer Europäischen Zentralbank. In das Pech hatte, in einer Branche der Währungsunion liegt die Inohne Gewerkschaftseinfluss beflationsrate derzeit weit unter schäftigt zu sein, verdient heute der angestrebten Marke von in vielen Fällen weniger als im zwei Prozent. Daraus darf keine Jahr 2000. Die Welt spricht gern Deflation werden, eine gefährvom „neuen deutschen Wirtliche Spirale aus sinkenden Preischaftswunder“, der Großteil sen und Löhnen. Auch deshalb der Arbeitnehmer aber erlebte mahnen sie die Tarifparteien zu die Lohnrunden der vergangeRecht, sich einer solchen Entnen Jahre als Übung in Verzicht. wicklung entgegenzustellen. Dafür gab es eine gewisse Berechtigung, solange fast fünf Natürlich gibt es auch für Löhne Grenzen des Wachstums. Millionen Deutsche vergebens einen Arbeitsplatz suchten Deutschland steht nicht nur im europäischen, sondern auch und die heimische Wirtschaft als der „kranke Mann Europas“ im weltweiten Wettbewerb. Steigen die Verdienste zu schnell, galt. Doch das ist lange her. Das Arbeitsmarktproblem dieser könnten Konzerne wie Siemens, Daimler oder Volkswagen Tage heißt „Fachkräftemangel“, und in aller Welt werden Marktanteile und Wachstumschancen einbüßen. derzeit so viele Autos und Maschinen aus Stuttgart oder Doch die Geldpolitiker aus Frankfurt am Main reden nicht München verkauft, dass schon von einem „deutschen Jahr- dem Exzess das Wort, sondern der Vernunft. Sie fordern hundert“ die Rede ist. Lohnsteigerungen von rund drei Prozent. Das ist hoch Die Deutschen fahren auf der Überholspur, doch dabei ist genug, um die Währungsunion zu stabilisieren, und zugleich ihnen das Ziel des Rennens aus dem Blick geraten. Der ausreichend niedrig, damit keine Arbeitsplätze verloren Zweck des Wirtschaftens ist Wohlstand, das lehrt die gehen. bürgerliche Ökonomie. Die Deutschen dagegen suchen Es ist der Bundesbank zu danken, dass sie darauf hingeihr Glück in der Ausfuhrstatistik. Es erfüllt sie mit Stolz, wiesen hat, worum es in der Marktwirtschaft geht: nicht um dass sie Jahr für Jahr mehr Waren ins Ausland liefern, als sie den größtmöglichen Profit für Unternehmer, sondern um von dort beziehen. Sie übersehen allerdings, dass damit „Wohlstand für alle“, die Losung Ludwig Erhards. zugleich auch ein beträchtlicher Teil ihres Wohlstands über Das sollten auch die Arbeitgeber begreifen – und nicht die Grenze reist. sinnlos mit dem Fuß auf den Boden stampfen. EU Konter aus Paris Integration SPD-Vize will Ausländer wählen lassen Der Vizevorsitzende der SPD, Ralf Stegner, fordert grundlegende Veränderungen des Wahlrechts für in Deutschland ansässige Nicht-EU-Ausländer. „Menschen, die hier leben, arbeiten, Steuern zahlen, sollten auch wählen dürfen. Warum sollte man ihnen dieses Bürgerrecht noch länger vorenthalten?“, so Stegner. Er forderte die Große Koalition auf, „das wenigstens auf kommunaler Ebene zu ermöglichen“. Er wünsche Steuerprogression Moscovici angesichts der engen Bande zwischen Paris und Berlin tabu sein.“ Besonders scharf ist in Berlin die Kritik daran, dass Moscovici ausgerechnet Währungskommissar in der nächsten Kommission von Jean-Claude Juncker werden könnte – nachdem die französische Regierung mehrfach Lockerungen für den EuroStabilitätspakt gefordert hatte. Moscovici sagte dazu: „Wir haben dieses Amt nie explizit verlangt, die Entscheidung über die Zuständigkeiten liegt allein bei Herrn Juncker.“ In Berlin heißt es, mit einer anderen Zuständigkeit – etwa für Wachstumspolitik und Investitionen – sei Moscovici als EU-Kommissar akzeptabel. gps 12 DER SPIEGEL 32 / 2014 CDU-Länder für Entlastung In der CDU formiert sich ein breites Bündnis zum Abbau der kalten Progression noch in dieser Legislaturperiode. Mehrere unionsgeführte Bundesländer begrüßen einen Vorstoß der Mittelstandsvereinigung von CDU und CSU, die dazu auf dem CDU-Parteitag im Dezember einen Antrag einbringen will. „Ich unterstütze die Forderung nach Abbau der kalten Progression unter zwei Bedingungen“, sagt Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff. Eine Reform dürfe nicht zu Mindereinnahmen für die Länder führen und nicht über neue Schulden finanziert werden. Ähnlich äußert sich Sachsens Regierungschef Stanislaw Tillich: „Ich kann mir gut vorstellen, die kalte Progression sich, „dass die Union in dieser Frage die Bedeutung für die Integrationspolitik erkennt“, sagte der schleswig-holsteinische SPD-Landeschef. „Ich persönlich kann mir vorstellen, das Wahlrecht auf Landes- und Bundesebene zu erweitern, wenn nach einigen Jahren positiv Bilanz gezogen werden kann.“ Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings ein solches Ausländerwahlrecht 1990 schon einmal für verfassungswidrig erklärt. gor bei der Einkommensteuer abzuschaffen – nur nicht zulasten neuer Schulden im Haushalt.“ Rückhalt für das Vorhaben gibt es auch in der CDU-Parteispitze: „Die kalte Progression ist eine Steuererhöhung durch die Hintertür, Klöckner und die sollten wir verhindern“, sagt CDU-Vize Julia Klöckner. Sie lehnt es sogar ab, dass der Bund die Länder für den Wegfall von Einnahmen entschädigen solle. „Für die Abschaffung einer Ungerechtigkeit bedarf es keiner Kompensation.“ So sehen es auch Finanzexperten der CDU-Landtagsfraktionen: „Wir müssen die kalte Progression in dieser Legislatur angehen“, sagt der Vorsitzende der Konferenz der finanzpolitischen Sprecher der Länder, Mike Mohring aus Thüringen. Die Länderfinanzminister müssten bereit sein, die möglichen Mindereinnahmen aus dem Abbau der kalten Progression in ihre Finanzplanung einzurechnen. Als kalte Progression wird der Effekt bezeichnet, dass bei Lohnerhöhungen, die lediglich die Inflation ausgleichen, dennoch die Steuerlast steigt. ama, cos Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel FOTOS: EIBNER-PRESSEFOTO / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.); GILLES ROLLE / REA / LAIF (U.L.); FREDRIK VON ERICHSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.R.) Pierre Moscovici, Kandidat für das Amt des französischen EU-Kommissars, hat sich gegen deutsche Kritik an seiner Nominierung gewehrt. „Der Vorwurf, ich sei als Finanzminister Frankreichs gescheitert, ist schlicht falsch“, sagte Moscovici. „Wir haben in meiner Amtszeit wichtige Reformen angestoßen, wir haben Defizite gesenkt, wir haben die Arbeitskosten reduziert. Und ich habe keine wichtige Entscheidung getroffen, ohne mich mit meinem guten Freund Wolfgang Schäuble abzustimmen.“ Deutsche Politiker hatten den Sozialisten Moscovici als ungeeignet für ein wichtiges Kommissionsamt bezeichnet. „Einen Defizitsünder werden wir nicht akzeptieren“, drohte etwa Herbert Reul, Vorsitzender der Unionsgruppe im Europarlament. Moscovici kritisierte den Ton der Einwände: „So ein Stil muss Deutschland Pkw-Maut „Unvereinbar mit dem Europarecht“ Die von Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) geplante Straßenmaut ist in der vorgelegten Fassung nicht kompatibel mit dem Europarecht. Zu diesem Ergebnis kommen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags. Die Fachleute hatten die Vereinbarkeit des Konzepts mit EU-Recht im Auftrag des südbadischen SPD-Abgeordneten Johannes Fechner überprüft. Demnach „wirkt die Infrastrukturabgabe mittelbar diskriminierend zulasten der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten“. Die Juristen stören sich an der einheitlichen Jahresabgabe für ausländische Autofahrer, die bei 103,04 Euro für Benziner liegen soll. Der Halter eines in Deutschland zugelassenen VW Polo 1.2 TSI müsse 24 Euro zahlen, die zusammen mit der Kfz-Steuer erhoben werden. Um die gleiche Summe würde dann seine Steuer sinken. Auch wenn die Steuererleichterung für Deutsche formal getrennt beschlossen werde, „müssen beide Maßnahmen zusammen betrachtet“ werden. Die Europäi- schen Verträge verböten „jede Verschlechterung im Verhältnis zwischen inländischen und ausländischen Verkehrsunternehmen“. red Nordrhein-Westfalen Steuer gegen Spielsucht Wettbüros beeinträchtigen das Sicherheitsgefühl, behindern die Neuansiedlung von Geschäften und unterstützen Spielsucht, davon ist die nordrhein-westfälische Landesregierung überzeugt. Jetzt hat sie den Weg für eine Extrabesteuerung der Zockerläden frei gemacht. Auf Antrag der Stadt Hagen erteilte das Land die Genehmigung, Büros, in denen Sport- und Pferdewetten abgegeben und mitverfolgt werden können, zusätzlich zu belasten. „Die Wettbürosteuer hilft der Stadt beim Kampf gegen die Spielsucht und bringt gleichzeitig Geld in ihre Kasse“, sagt NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD). Hagen hatte die Einführung einer solchen Steuer beschlossen, weil die Zahl der Wettbüros im Zentrum stark gewachsen war. bas, gui Blick auf Deutschland Adam Krzemiński im polnischen ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL Magazin Polityka über den außenpolitischen Kurs der Regierung Merkel „Deutschland und Amerika entfernen sich voneinander. Dieser Prozess fing 2003 an, als Gerhard Schröder George W. Bush die ‚bedingungslose Solidarität‘ verweigerte, die er nach dem 11. September 2001 selbst deklariert hatte, um später eine Männerfreundschaft mit Putin zu schließen, die mit der baltischen Pipeline unterstützt wurde. Merkel ist nicht Schröder, aber die Versuchung, dass Deutschland neutral zwischen den USA und Russland stehen könnte, ist sowohl in der deutschen Linken als auch in der Rechten lebendig.“ Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal Psychohaushalt Die Sanktionen wirken, ich habe mich selber davon überzeugt. An der Tür des Restaurants „Berlin Moscow“, an dem ich jeden Tag vorbeikomme, hängt jetzt ein „Closed“-Schild. Ein Bekannter, der gerade in Saint-Tropez mit seiner Familie Urlaub macht, berichtet, dass man an der Hafenpromenade auf dem Weg zu seinem Boot nicht mehr über betrunkene Russen steigen müsse. Er ist als überzeugter Linker eigentlich strikt gegen unseren Kurs in der Russlandfrage, aber über diese Entwicklung ist er sehr froh. Der Zweck der Sanktionen ist es, Putin zum Einlenken zu zwingen, indem man den Russen vor Augen führt, was sie aufs Spiel setzen, wenn sie ihm nicht in den Arm fallen. Ich bin ehrlich gesagt skeptisch, was das Erreichen dieses Ziels angeht. Meiner Erfahrung nach schließen sich Leute unter Druck von außen eher zusammen. Die Deutschen ließen sich nicht einmal von den Brandbomben der Alliierten dazu bringen, ihrer Führung die Gefolgschaft aufzukündigen. Wir kennen aus erster Hand das Problem mit Sanktionen, könnte man sagen. Andererseits haben Sanktionen nicht nur eine Wirkung nach außen, sondern auch eine nach innen. Wie immer, wenn man sich zusammenschließt, geht es um Selbstvergewisserung. Abgrenzung ist identitätsstiftend. Bis eben erschien die EU noch als kopfloser Hühnerhaufen, seit einer Woche bieten die Europäer ein Bild eiserner Geschlossenheit. Statt von Glühbirnen und Gurkengraden ist plötzlich von Frieden und Freiheit die Rede, jeder EUBürokrat lebt in dem heroischen Gefühl, die europäische Front zu verteidigen. Im Politikseminar lernt man, dass „wir“ und „sie“ in der globalen Welt als Kategorien ausgedient haben, aber das lässt sich leicht als Unsinn entlarven – es muss nur eine Krise ausbrechen. Bei den Muslimen sind wir uns inzwischen einig, dass sie zu uns gehören, das hat vergangene Woche sogar die Bild eingesehen. Jetzt ist der Russe an die Stelle des archetypischen Anderen getreten. Man muss zugeben, die Russen sind für die Rolle des fremden Volkes die ideale Besetzung. Ein Drittel der männlichen Bevölkerung ist dauernd betrunken. Die Frauen sehen immer so aus, als ob sie morgens nicht genug zum Anziehen gefunden hätten, und wenn die Russen Urlaub machen, ist die Hölle los. Es heißt, dass sie abends die Sonnenliegen ins Zimmer schleppen, damit sie morgens nicht so lange suchen müssen. In vielen Luxushotels musste man Russen-Quoten einführen, damit die Dinge nicht völlig außer Kontrolle geraten. Für den Psychohaushalt der Nation hat der Russe also durchaus eine stabilisierende Funktion, wir sollten hoffen, dass er uns noch einige Zeit begleitet. Wenn der Russe als Gegenkraft ausfällt, an wen sollen wir uns dann halten? Die Finnen? Die Schweden? Wobei: Ein Volk, bei dem Alkohol praktisch verboten ist und einen schon schlechter Sex vor Gericht bringen kann, bei dem stimmt auch etwas nicht. An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist Juli Zeh an der Reihe, danach Jakob Augstein. DER SPIEGEL 32 / 2014 13 Deutsche Bahn EU untersucht Stuttgarter Vertrag Kanzlerin-Handy Druck auf die USA – nur eine Idee Wegen der Ausspähung eines Mobiltelefons von Kanzlerin Angela Merkel erwog die Bundesregierung drastische Schritte: Razzien bei Merkels Mobilfunkprovider und das Aussetzen von Konsultationen mit der US-Regierung. Am 23. Oktober 2013 – dem Tag, als der SPIEGEL erstmals 14 DER SPIEGEL 32 / 2014 Flughafen Tempelhof Hauptstadt Tango auf dem Dach Berlin soll eine neue Flaniermeile bekommen – auf dem Dach des stillgelegten Flughafens Tempelhof. Im Gespräch für das 1,2 Kilometer lange halbrunde Gebäude sind eine Tangofläche, eine Theaterbühne, ein Beachvolleyballfeld sowie „urban gardening“ und gastronomische Angebote. „Tempelhof ist die nächste große Geschichte, die Berlin erzählen kann“, sagt der Tourismus-Chef der Stadt, Burkhard Kieker, der sich mit dem Vorhaben schon lange beschäftigt. Bausenator Michael Müller (SPD) unterstützt das Projekt; auch der SPD-Landesparteichef Jan Stöß setzt sich dafür ein: über den Angriff auf Merkels Handy berichtete – erstellten Fachleute des Bundesinnenministeriums ein internes Papier unter dem Titel „Handlungsvorschläge ,Handy‘“. Als mögliche „politische Reaktionen gegenüber USA (und ggf. Großbritannien)“ werden darin aufgelistet: „Botschafter einbestellen“, „,Nichtangriffserklärung‘ der USA einfordern“ und ein „baldiger“ Abschluss eines No-Spy-Abkommens. Zudem skizzierten die Beamten der Abteilungen Informationstechnik und Öffentliche Sicherheit ein „Druckszenario“, in dem unter anderem Regierungsgespräche mit Washington „für einige Wochen“ ausgesetzt werden könnten. Die Frage, ob das umstrittene „Jeder, der einmal dort oben war, staunt über den tollen Blick auf das Feld und über die Stadt. Deshalb ist es gut, wenn das Dach jetzt öffentlich zugänglich gemacht wird. Auf dem fast endlos wirkenden Halbrund kann der nächste ganz besondere Berliner Ort entstehen.“ Schon die Nationalsozialisten wollten das Dach als Tribüne nutzen; sie bauten 13 großzügig dimensionierte Treppenhäuser, um bis zu 100 000 Menschen nach oben bringen zu können. Aktuelles Vorbild ist aber die New Yorker High Line, eine ehemalige Hochbahntrasse, die zum Park umgebaut wurde. hor Freihandelsabkommen mit den USA einstweilen gestoppt werden sollte, beantworteten die Autoren wie folgt: „Eher nein, aber sichere elektronische Kommunikation zum Thema machen.“ Gleichzeitig regten die Beamten an, die „5000 wichtigsten Entscheidungsträger des Bundes“ mit Kryptofonen auszustatten. In Deutschland tätige Telekommunikationsanbieter sollten verstärkt kontrolliert werden. Schließlich erörterte die Regierung eine Strafanzeige und ein Ermittlungsverfahren bei der Bundesanwaltschaft – zu dem es erst viele Monate später kam. Selbst eine „Einvernahme des Zeugen Snowden“ schien zu diesem Zeitpunkt möglich, wenn auch nur „am derzeitigen Aufenthaltsort“. Das Innenministerium wollte zu dem Papier nicht Stellung nehmen: „Interne Papiere aus der täglichen Praxis des Hauses“ würden nicht kommentiert. jös, mba FOTOS: EUROLUFTBILD.DE / SÜDD. VERLAG (O.); JULIAN STRATENSCHULTE / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.) Die Europäische Union überprüft den sogenannten Großen Verkehrsvertrag zwischen dem Land Baden-Württemberg und der Bahntochter DB Regio. Die EU-Kommission will untersuchen, ob das Land der Bahn zu hohe Zuschüsse garantiert hat. Sie hat dazu ein 2010 eingeleitetes Beihilfeverfahren wiederaufgenommen. Das geht aus einem Schreiben der Brüsseler Behörde hervor. Hintergrund ist die Vermutung, dass das Land zu hohe Summen für Züge und Dienstleistungen zahlte – womöglich eine nicht zulässige Subvention für die Bahn. Nach Berechnungen des Verkehrsclubs Deutschland soll das Land bis 2016 gut eine Milliarde Euro zu viel zahlen. Die Bahn erklärte, sie habe gegenüber den Behörden wiederholt Stellung bezogen. Der Vertrag wurde 2003 von Stefan Mappus (CDU), dem damaligen Staatssekretär im Stuttgarter Verkehrsministerium, geschlossen. Kritiker vermuten dahinter eine Querfinanzierung des Milliardenprojekts Stuttgart 21. Auch der Landesrechnungshof überprüft nun die Dotierung des Vertrags. Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hatte jüngst die Vereinbarung mit der Bahn im Landtag als „den schlechtesten aller Bahnverträge“ bezeichnet und will Zahlungen in Höhe von rund 140 Millionen Euro einbehalten. one Deutschland Armutszuwanderung Mehr Geld für Kommunen Die Bundesregierung will den Kommunen mehr Geld als geplant für die Betreuung sogenannter Armutszuwanderer aus Ländern wie Bulgarien und Rumänien zahlen. Darauf einigte sich eine Runde der Staatssekretäre der zuständigen Bundesministerien am vergangenen Donnerstag. Bei ihren Beratungen über den Abschlussbericht zur Armutsmigration beschlossen sie, den Kommunen neben den bereits zugesagten 200 Millionen Euro zusätzlich 75 Millionen Euro für Sprachkurse (40 Millionen), Unterbringung (25 Millionen) und Impfungen (10 Millionen) zuzugestehen. An einem wichtigen Punkt gibt es weiterhin Dissens: Die CSU fordert, dass EU-Bürger, die nach Deutschland ziehen, in den ersten drei Monaten kein Kindergeld erhalten sollen. Dadurch solle der Missbrauch des deutschen Sozialsystems verhindert werden. CDU und SPD lehnen diesen Vorstoß strikt ab, da eine solche Regelung alle EU-Bürger treffen würde, etwa auch Franzosen oder Niederländer. Ende August will das Bundeskabinett über den Bericht beraten. cos, mad Prozesse FOTOS: PETER STEFFEN / DPA (O.); CHRISTOPH BANGERT / LAIF (U.) Ecclestone geht auf Nummer sicher Formel-1-Boss Bernie Ecclestone versucht, sich Straffreiheit zu erkaufen. Der 83-Jährige hat der Staatsanwaltschaft am vergangenen Freitag rund 75 Millionen Euro angeboten, wenn das Verfahren wegen Bestechung gegen ihn eingestellt wird. Bis zu einem Urteil hätte vermutlich noch monatelang weiterverhandelt werden müssen, von einer anschließend möglichen Revision ganz abgesehen. Viel Zeit für den hochbetagten Ecclestone, auch wenn seine Anwälte die Chance für einen Freispruch zuletzt steigen sahen. Die Staatsanwaltschaft hatte Ecclestone vorgeworfen, im Jahr 2005 den damaligen Bayern-LB-Banker Gerhard Gribkowsky mit 44 Millionen Dollar bestochen zu haben, um seinen Einfluss in der Formel 1 zu sichern. Die Bayern LB war damals Hauptaktionär der Rennserie. Insider gingen davon aus, dass die Chancen der Staatsanwaltschaft, Ecclestone der Bestechung zu überführen, in den vergangenen Wochen nicht besser geworden sind. Ihr Hauptzeuge Gribkowsky belastete den Formel-1-Macher nicht so deutlich, wie die Ermittler gehofft hatten. Zudem präsentierten Ecclestones Verteidiger immer wieder Dokumente, die Gribkowskys Aussagen, er sei von Ecclestone bestochen worden, unglaubwürdig erschienen ließen. js Bundeswehr Tattoo-Erlass wird überprüft Die neue Dienstvorschrift der Bundeswehr zum äußeren Erscheinungsbild der Soldaten soll bereits wenige Monate nach Einführung überprüft werden. Generalinspekteur Volker Wieker hat die Inspekteure der Teilstreitkräfte gebeten, bis Ende des Jahres einen ersten Erfahrungsbericht vorzulegen. Laut Dienstvorschrift müssen Soldaten ihre Tätowierungen bedecken. Soldatinnen dürfen nur bestimmte Ohrstecker tragen und die Fingernägel nur farblos lackieren. Die neue Dienstvorschrift war erst im Februar in Kraft getreten. Von vielen Soldaten wird sie als unmodern und als Eingriff in die persönliche Entfaltung wahrgenommen. Bis Juli gingen beim Wehrbeauftragten des Bundestags 38 Eingaben zu dem Thema ein. gor Der Augenzeuge „Dich gibt es gar nicht“ Der Mensch aus Köln ist 25 Jahre alt und nennt sich Vanja, weil der Vorname sowohl für Frauen als auch für Männer passt. Vanja N. ist intersexuell, das heißt, er/sie lässt sich genetisch, aufgrund der Geschlechtsorgane beziehungsweise der Hormone, nicht eindeutig als männlich oder weiblich einordnen – wie schätzungsweise weitere 80 000 Menschen in Deutschland. Vanja kämpft für eine Änderung der eigenen Geburtsurkunde: Statt „weiblich“ soll dort „inter/divers“ stehen. Mit dem Fall befasst sich jetzt ein Gericht. Ich bin kein Mann, ich bin keine Frau, ich bin Inter. Als ich auf die Welt kam, sah ich aus wie ein Mädchen. Heute trage ich Bart, auch das Männliche ist also biologisch in mir angelegt. Ich habe es satt, dass ich beim Ausfüllen von Formularen, im Sportverein oder auf öffentlichen Toiletten immer nur zwischen zwei Geschlechtern wählen kann. Für mich ist das jedes Mal so, als würde mir jemand sagen: „Dich gibt es gar nicht.“ Also habe ich mir am vergangenen Montag Urlaub genommen, bin frühmorgens aufgestanden, in meine niedersächsische Heimatstadt Gehrden gefahren und war dort um elf Uhr im Büro einer sehr netten Mitarbeiterin des Standesamts. Ich habe ihr einen Umschlag mit 40 Seiten in die Hand gedrückt, darin war auch ein Antrag auf Änderung meiner Geburtsurkunde. Die Standesbeamtin hat ihn überflogen und gesagt, dass sie keine Entscheidung treffen könne. Sie hat die Unterlagen an das Amtsgericht Hannover geschickt. 15 Minuten dauerte mein Termin, dann ging es zum Feiern nach Hannover in die Kneipe Schwule Sau. Wir waren etwa 25 Leute, es gab Apfel- und veganen Käsekuchen, wir haben mit Sekt angestoßen. Ich war einfach nur erleichtert. Ich habe monatelang an diesem Antrag geschrieben, meine Geschichte erzählt, aber auch Gerichtsurteile und Gutachten von Psychologen und Biologen beigelegt. Geholfen haben mir Juristen und die Kampagnengruppe „Dritte Option“. Wenn es nur um mich gegangen wäre, hätte ich mir die Mühe vermutlich nicht gemacht, und ich will auch nicht als Aushänge-Exot herhalten. Aber ich glaube wirklich, dass wir diesmal eine Chance haben, etwas für Intersexuelle zu bewegen. Einen ähnlichen Antrag gab es vor rund zehn Jahren schon mal in München, er war erfolglos. In der Zwischenzeit hat sich aber viel getan, es gibt mehr Informationen, und selbst der Deutsche Ethikrat hat 2012 eine dritte Geschlechtskategorie gefordert. Also wusste ich: Diesmal kann es wirklich klappen. Andere Länder sind in dieser Hinsicht weiter – Australien, Nepal und Pakistan beispielsweise. Auch ich will raus aus dem Entscheidungszwang der Geschlechter, meine Geburtsurkunde ist der Anfang. Und falls ich beim Amtsgericht Hannover scheitere, ziehe ich bis vor das Bundesverfassungsgericht. Aufgezeichnet von Anna-Lena Roth DER SPIEGEL 32 / 2014 15 16 DER SPIEGEL 32 / 2014 Deutschland Du sollst nicht morden Justiz Der Mord-Paragraf ist ein Relikt aus der Nazizeit. Justizminister Heiko Maas will das Gesetz jetzt von braunen Einflüssen reinigen und gerechter machen. Doch das Projekt ist heikel: Diese Reform könnte den Zorn der Bürger entfachen. FOTOS: T. HOENIG / PLAINPICTURE (L.); WERNER SCHUERING (R.) W enn es um Mord und Totschlag geht, dann regiert im deutschen Rechtsstaat manchmal der Zufall. Dann kann das Recht sehr ungerecht sein. Zwei Fälle, zwei Urteile: Der Rocker Ralf aus Nienburg schuldet den Kumpanen seines Motorradklubs 30 000 Euro. Ralf taucht unter, wochenlang suchen die einstigen Freunde nach ihm. Als sie ihn schließlich finden, fahren sie ihn an die A7. An einer Böschung sagt Anführer Bernd: „Auf die Knie, du Schwein!“ Ralf kniet. Dann erschießt ihn Bernd mit einer Pumpgun. Das Urteil gegen den Täter: Totschlag. Nach sechseinhalb Jahren ist Bernd wieder frei. Das Rockerleben kann weitergehen. Und dann gibt es den Fall von Otto, 75. Der Rentner aus Hamburg pflegt seit Jahren seine demente Frau Lydia, 88. Sie fleht ihren Mann an, sie nie ins Heim zu geben. Also rackert sich Otto ab: kochen, füttern, wenden, waschen, dazu die Gartenarbeit und das Einkaufen, jahrelang. Mit jedem Tag wird Lydia schwächer, täglich wächst die Last für Otto. Eines Morgens gehen Kaffeemaschine und Herd gleichzeitig kaputt, und im Schlafzimmer klagt Lydia über Schmerzen. Da geht Otto zu seiner Frau und drückt ihr ein Kissen aufs Gesicht, bis sie still ist. Dann verlässt er die Wohnung und wirft sich vor einen Bus. Aber er überlebt. Die Staatsanwaltschaft klagt ihn wegen heimtückischen Mordes an. Das Gesetz fordert für Otto lebenslange Haft, frühestens nach 15 Jahren kann ein Mörder entlassen werden. Eine eiskalte Exekution soll ein simpler Totschlag sein, das Töten aus Verzweiflung und Mitleid ein Mord – ist das gerecht? „Sehr unbefriedigend“ nennt Heiko Maas solche Ergebnisse. Deshalb nimmt sich der Bundesjustizminister den MordParagrafen vor, mehr als 70 Jahre nach dessen Entstehung. Er will die zentrale Norm des Strafrechts gerechter machen und ganz neue Maßstäbe dafür entwickeln, wie schwer welche Tat wiegt und wie hart welcher Täter zu bestrafen ist. Eine Expertengruppe ist beauftragt, ihm ein Konzept zu erstellen. Die 16 Juristen, Kriminologen und Psychiater haben bei ihrer Empfehlung freie Hand. Bis hin zur kompletten Abschaffung des Mord-Paragrafen ist alles denkbar. Das Vorhaben, das nicht im Koalitionsvertrag steht, ist nicht nur juristisch hoch anspruchsvoll. Es ist die politisch wohl heikelste Reform, die ein Justizminister je angepackt hat. Denn wenn das Strafrecht und das Gerechtigkeitsgefühl der Bürger aufeinandertreffen, geht es selten harmonisch zu. Die Deutschen haben sich schon furchtbar über die Frage erregt, ob Frauen ein ungeborenes Kind ungestraft abtreiben dürfen oder ob ein Gesetz Muslime und Juden daran hindern soll, ihre Söhne nach religiösen Regeln zu beschneiden. Jetzt stellt Maas eine Vorschrift infrage, die den elementaren Grundsatz des menschlichen Zusammenlebens verkörpert: Du sollst nicht morden. Die Debatte wird die meisten Deutschen unvorbereitet treffen. Juristenzirkel debattieren seit Jahrzehnten darüber, ob der Paragraf 211 in einem Rechtsstaat noch tragbar ist. Für Laien ist nur klar: Mord muss bestraft werden, und zwar feste. Sie diskutieren nicht über Tatbestandsmerkmale, sondern über die Frage, ob die Justiz zu nachsichtig ist mit Kinder- oder Ehrenmördern. Für viele ist jeder ein Mörder, der andere umbringt. Was geschähe, wenn dieses Wort abgeschafft würde? Der Entführer des kleinen Jakob von Metzler – nur ein Totschläger? Die Mutter, die ihr Baby verdursten lässt – keine Mörderin? Der muslimische Vater, der die Tochter erwürgt, weil sie Minirock trägt und Alkohol trinkt – nach acht Jahren wieder auf freiem Fuß? „Das wird eine Diskussion wie bei der Beschneidung, aber hoch drei“, seufzt einer von Maas’ Beamten. Das Ministerium hatte dem SPD-Mann von seinen „MordPlänen“ abgeraten. Eine Reform des schwersten Deliktes im Strafrecht, auf das die Höchststrafe von lebenslanger Haft steht, werden sich die Koalitionspartner CDU und CSU nur gegen zähen Widerstand abringen lassen. Denn eine entschiedene Verbrechensbekämpfung samt zünftiger Strafen für die Täter zählt zu den letzten Resten ihres konservativen Profils. Bayerns Justizminister Winfried Bausback warnte bereits, niemand dürfe Lebenslang „durch die Hintertür“ abschaffen. „Unsere Rechtsordnung muss den absoluten Geltungsanspruch des Tötungstabus klar ausdrücken.“ Aber Maas hat auch ein moralisches Argument für seine Reform, das schwerwiegt: Der Mord-Paragraf ist das Werk der Sozialdemokrat Maas: Was geschähe, wenn das Wort abgeschafft würde? DER SPIEGEL 32 / 2014 17 Nationalsozialisten. Der spätere Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, hatte die Vorschrift maßgeblich zu verantworten; er wollte das Mordrecht dem „gesunden Empfinden des Volkes“ anpassen. Sein Gesetz schilderte den Deutschen möglichst anschaulich die „Mördergestalten“, die sich unter ihnen tummelten. Mörder ist nach Freislers Umschreibung, wer einen Menschen heimtückisch oder grausam tötet, aus Habgier, zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs oder aus anderen „niedrigen Beweggründen“. Kaum war die Vorschrift am 8. September 1941 im Reichsgesetzblatt erschienen, jubelte die Fachwelt. „Der bislang farblose Paragraf ist einer lebensvollen, anschaulichen Tatbestandsumschreibung gewichen“, schwärmte ein Schüler Freislers. Für jeden Volksgenossen sei nun klar: „Mörder wird man nicht, Mörder ist man.“ Die Lehre vom Tätertypen, vom geborenen Volksschädling, steht bis heute im Strafgesetzbuch. Abgesehen von der Abschaffung der Todesstrafe blieb Paragraf 211 seit dem Krieg unverändert. Ginge es Heiko Maas nur darum, das Recht von braunen Resten zu säubern, hätte er auch weniger brisante Themen anpacken können. Es gibt Dutzende deutsche Gesetze mit Nazivergangenheit. Das Heilpraktikergesetz gehört dazu oder die Vorschriften über die zulässige Höhe von Kleingartenhecken. Aber die Fälle von Rocker Bernd und Rentner Otto zeigen, dass Freislers Erbe nicht nur ideologisch vergiftet ist. Der Blutrichter hat eine Vorschrift abgeliefert, die im Praxistest regelmäßig versagt. Zwei Tote, zwei Urteile: Der Rocker passte in keine Schablone des Mord-Paragrafen. Weder ging er heimtückisch vor noch grausam oder habgierig. Die Richter werteten die Tötung als Exzess. Ursprünglich sei nur geplant gewesen, den Mann zu verprügeln. Dagegen verübte der Rentner nahezu lehrbuchmäßig einen Überraschungsangriff gegen ein arg- und wehrloses Opfer – ein klarer Fall von Heimtücke. Hätte Lydia eine Lebensversicherung abgeschlossen, dann stünde auch noch Mord aus Habgier im Raum. Zwei Tötungen, zwei Leidensgeschichten: Der Rocker verbrachte seine letzten Minuten an der Autobahn in Todesangst. Die Tat hatte „Exekutionscharakter“, schreibt das Landgericht Kassel in seinem Urteil. „Das Opfer musste seinem Tod quasi ins Auge sehen.“ Der Rentner tötete aus Verzweiflung, und vielleicht war die Tat für seine geliebte Frau auch eine Erlösung. Doch das spielt nach dem Gesetz keine Rolle. Wer vorsätzlich tötet und dabei ein Merkmal des Paragrafen 211 erfüllt, ist ein Mörder. Punkt. Er muss lebenslang bestraft werden, seine Tat verjährt niemals. 18 DER SPIEGEL 32 / 2014 Die soziale Situation, die individuelle Schuld zählen nicht. „Die Justiz bestraft nicht die schlimmste Tötung oder den brutalsten Täter am härtesten“, sagt Raban Funk, Vorstand des Vereins Deutscher Strafverteidiger. Als Mörder gelten ausgerechnet die Schwachen, die sich anschleichen müssen. Die Vorschrift ist ungerecht. Aber die Richter wollen es nicht sein. In ihren Gerichtssälen biegen sie die Fälle und das Recht so lange, bis beides irgendwie passt. Die Schwurgerichte und der Bundesgerichtshof (BGH) haben Umwege gefunden, um nicht alle Täter pauschal mit Lebenslang zu bestrafen, sondern jeden nach seiner persönlichen Verantwortung. Sie lassen sich von Gutachtern attestieren, dass der Täter im Affekt gehandelt hat, vielleicht eine Aufmerksamkeitsstörung hatte und nicht wusste, was er tat. Nicht jede Tötung, die dem Opfer besondere Schmerzen zufügt, ist automatisch ein grausamer Mord. Die Richter fordern, dass der Täter aus einer „gefühllosen, unbarmherzigen Gesinnung“ heraus handelte. Und es gilt längst nicht jeder Überraschungsangriff auf Ahnungslose als heimtückischer Mord. Die Staatsanwälte müssen beweisen, dass der Täter dem Opfer zutiefst „feindselig“ gesinnt war. Die Kreativität der Gerichte schützt geprügelte Ehefrauen, die ihren Haustyrannen töten, indem sie ihm ein vergiftetes Abendessen servieren. Sie schützte auch Rentner Otto. Das Gericht gab ihm drei Jahre Haft für Totschlag in einem minder schweren Fall. Das Urteil hat wenig mit dem Gesetz zu tun, aber viel mit Gerech- Mord und Totschlag Tatbestandsmerkmale nach dem Strafgesetzbuch Mord § 211 Vorsätzliche Tötung mit Mordmerkmalen: Niedrige Beweggründe Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier oder sonstige niedrige Beweggründe Besonders gefährliche und verwerfliche Begehungsweise Heimtückisch, grausam, mit gemeingefährlichen Mitteln Verwerflichkeit des Ziels Verdeckung oder Ermöglichung einer Straftat Strafmaß: lebenslange Freiheitsstrafe Totschlag §§ 212, 213 Vorsätzliche Tötung ohne Mordmerkmale Strafmaß: mindestens fünf Jahre; im besonders schweren Fall lebenslange Freiheitsstrafe; im minder schweren Fall ein bis zehn Jahre tigkeit. Aber für gerechte Urteile müssen Richter eben hart an die Grenzen ihrer Befugnisse gehen. Das kann für den Angeklagten gut gehen, muss es aber nicht. „Der Gesetzgeber hat die Justiz mit der Verantwortung für den Mord-Paragrafen ein Stück weit allein gelassen“, sagt Stefan Caspari, Mitglied der Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes. Das gilt vor allem für das Merkmal der „niedrigen Beweggründe“, das der nationalsozialistischen Ideologie in besonderer Weise entspricht. Mit ihm konnte das Dritte Reich Täter nach ihren Motiven filtern: Wer „Feinde der Volksgemeinschaft“ eliminierte, sollte vom Vorwurf des Mordes verschont bleiben. Bis heute ist dieses Mordmerkmal einer der seltenen Fälle im Strafrecht, in denen die Gesinnung des Täters entscheidet, für welche Tat er verurteilt wird. Normalerweise zählen dafür objektive Kriterien: Der Dieb ist ein Räuber, wenn er Gewalt anwendet. Die Körperverletzung ist gefährlich, wenn der Täter eine Waffe schwingt. Motive interessieren die Richter erst, wenn sie die Höhe der Strafe festlegen. „Für vorsätzliche Tötungen gibt es auch selten gute Gründe“, spottet der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer. Die Gerichte müssen trotzdem täglich schlechte gegen besonders schlechte Gründe abwägen. Auf Ausländerhass oder Rassismus kann man sich leicht einigen. Aber was ist mit krankhaftem Neid unter konkurrierenden Kollegen? Oder der Rache für die Tötung eines geliebten Menschen? Zu diesen Grenzfällen, auf die der MordParagraf keine Antwort bietet, wuchert ein Dickicht von Urteilen, das auch Juristen kaum durchblicken. Eine Tötung aus Rache muss kein Mord sein, urteilte der BGH im Fall eines jungen Kurden. Der Mann hatte ein verfeindetes Clan-Oberhaupt vor dessen Haustür niedergeschossen, weil er sicher war, dass dieser Mann seinen Vater getötet hatte. Die Rachegefühle eines trauernden Sohnes seien menschlich verständlich, urteilten die Richter. Nicht aber die Wut eines Neffen: Der Mittäter wurde wegen Mordes verurteilt. Ist das gerecht? Die Justiz versucht, ein System zu schaffen. Doch in der Summe erscheinen ihre Urteile oft willkürlich. Wie die Entscheidungen zum Mord aus Eifersucht. Wer aus Liebe tötet, gilt als Mörder, sobald seine Gefühle „krass eigensüchtig“ erscheinen. Aber er kann mit Totschlag davonkommen, wenn die Exfreundin ihn bei der Trennung gedemütigt hat. Oder wenn er fürchtet, wegen der Scheidung sein Aufenthaltsrecht zu verlieren. Alle diese niedrigen oder hehren Motive spielen sich im Kopf der Täter ab. Die Jus- Deutschland FOTO: PICTURE-ALLIANCE / DPA Volksgerichtshofpräsident Freisler 1944: „Mörder wird man nicht, Mörder ist man“ tiz ist darauf angewiesen, dass Angeklagte aussagen. Oder darauf, dass psychiatrische Gutachter die Seele des Täters erklären. So kann ein unvorsichtiger Satz im Verhör oder ein kluges Schweigen zur rechten Zeit schicksalhaft wirken. Die Expertengruppe von Heiko Maas hat sich inzwischen zweimal getroffen. Um den Tisch des Konferenzsaals in der fünften Etage des Ministeriums sind die Besten ihrer Zunft versammelt, ausgewiesene Kenner der Strafjustiz und der menschlichen Psyche. Die pensionierte BGH-Senatsvorsitzende Ruth Rissing-van Saan, die den Kannibalen von Rotenburg als Mörder hinter Gitter brachte, ist dabei. Neben ihr sitzt der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber, der gerade an der FU Berlin in einem Langzeitprojekt verurteilte Mörder auf Gemeinsamkeiten untersucht. Die Experten haben Themen verteilt und halten Referate wie einst im Studium. Jedes Mordmerkmal wird durchgekaut. Dabei kommen sie immer wieder auf eine Frage zurück: Kann man Tötungen überhaupt in schlimm und noch schlimmer trennen? Ist nicht jede solche Gewalttat einfach furchtbar? So denkt der Strafrechtsexperte Rüdiger Deckers, ein erfahrener Verteidiger. Er hat für den Deutschen Anwaltverein eines der radikalsten Reformkonzepte für den MordParagrafen mitentwickelt. „Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich Tötungen qualitativ steigern lassen“, sagt Deckers. „Am Ende haben alle Fälle nur eines gemeinsam: Ein Mensch wurde umgebracht. Schlimmer geht es doch nicht.“ Deshalb gibt es in Deckers’ Reformkonzept nur „Tötungen“, keinen Mord oder Totschlag. Die Taten unterscheiden sich lediglich in der Höhe der Strafzumessungen. Diese sollen die Richter frei bestimmen, auf einer Skala von fünf Jahren bis Lebenslang. Die Lösung klingt klar und einfach. Die meisten Deutschen haben den Unterschied zwischen Mord und Totschlag ohnehin nie nachvollzogen. In ihrer Vorstellung hat ein Mörder seine Tat eiskalt geplant, während der Totschläger ein spontaner Angreifer ist. Genau so stand es auch früher im Den Mord-Paragraf abzuschaffen ist Verteidiger Pauka „unheimlich“, wie er sagt: „Wir sind auf dem bestem Wege, Richtern grenzenlose Macht zu geben.“ Er ist überzeugt: Viele seiner Klienten wären unter einem Paragrafen, der nur noch danach schaut, ob jemand gewaltsam ums Leben gekommen ist, nicht gerechter, sondern härter bestraft worden. Paukas letzter Fall war der „Beton-Killer“: Gerd Paulus, 52, arbeitslos, der seine Frau im Streit erwürgte. Den Kindern sagte Paulus, die Mama sei weggelaufen. Tatsächlich lag ihre Leiche im Keller, einbetoniert hinter einem Weinregal. Sohn und Tochter glaubten dem Vater; jahrelang suchten sie ihre Mutter über die Polizei und im Fernsehen. Der Täter suchte gezwungenermaßen mit. Auf RTL weinte er um seine „verschwundene“ Frau. Nach fünf Jahren stand dann die Polizei vor seiner Tür, Paulus gestand sofort. Im März verurteilte ihn das Landgericht Bonn zu acht Jahren Haft – als Totschläger. Ein mildes Urteil. Die Richter hatten sich viel Arbeit gemacht: Sie befragten die Kinder des Angeklagten, ließen sich von Medizinern die Verletzungen der Toten erklären und von Psychiatern den Charakter des Witwers. Am Ende glaubten sie Paulus, dass er kein schlimmer Kerl sei. Dass seine Frau Sigrid ihn oft beschimpft und gedemütigt habe, auch vor den Kindern. Dass ihm eines Tages einfach die Sicherung durchbrannte. Und dass er seine Tat nur vertuschte, weil die Kinder nicht auf einen Schlag beide Eltern verlieren sollten. Von da war es nur ein kleiner Schritt zu einem milden Urteil. Nach dem Konzept des Deutschen Anwaltvereins hätten die Richter komplett anders denken müssen. Sie hätten Paulus erst für schuldig erklären und dann, nach eigenem Ermessen, die Strafe wählen müssen. „Dann könnte niemand verhindern, dass der Zeitgeist ein Urteil prägt oder die Stimmung der Medien und der Öffentlichkeit“, warnt Benedikt Pauka. Für Kriminologen hat die härteste Strafe im deutschen Recht noch immer einen hohen symbolischen Wert. Reichsstrafgesetzbuch – bis 1941. So kann es gut sein, dass die Experten Maas am Ende empfehlen, den gordischen Knoten zu durchtrennen: Nie mehr Mord. „Eine hochgefährliche Idee.“ Benedikt Pauka sitzt in seiner Kanzlei, einer Gründerzeitvilla unweit des Kölner Doms. Im Konferenzraum mit Erker und Blick auf den Rhein empfängt er sonst Unternehmer, die Ärger mit der Steuerfahndung oder den Kartellbehörden haben. Aber jedes Jahr übernimmt der 43-Jährige auch mindestens einen Mordfall, obwohl die Mandate wenig einbringen, aber die Fälle seien „juristisch und menschlich faszinierend“. Dem „Beton-Killer“ Paulus wünschten die Leute in Internetforen, er möge selbst eingemauert werden, am besten lebendig. Die Deutschen können gnadenlos sein, wenn es um Verbrechen und Strafe geht. Noch 1998 sagte in einer Umfrage jeder Zweite, dass Kindermörder die Todesstrafe verdienen. Umgekehrt können die Leute eine irrationale Sympathie für Mörder entfalten. Dem 15-jährigen Tobias aus Niedersachsen, der seine Großeltern auf brutalste Art und Weise umgebracht hatte, schlug eine Welle der Sympathie entgegen, als sich herausstellte, dass er seine kleine Schwester DER SPIEGEL 32 / 2014 19 rächen wollte. Der Großvater hatte sie missbraucht. Die Solidarität der Bürger mit dem Mörder ging so weit, dass die Richter bei der Urteilsverkündung warnten, man möge Tobias nicht noch loben. „Das hätte ich auch getan“, hatte die Lokalzeitung Nachbarn zitiert. „Auf das Bauchgefühl der Bürger zu hören ist im Rechtsstaat selten eine gute Idee“, sagt Tobias’ Verteidiger Raban Funk. Der neue Mord-Paragraf müsse klare Wertungen enthalten. „Schließlich soll er in 50 Jahren auch noch gerechte Urteile ermöglichen.“ Vermutlich werden die Experten am Ende empfehlen, die Mordmerkmale nicht abzuschaffen, aber sie präziser zu fassen. Die niedrigen Beweggründe würden ganz gestrichen, so wie es auch der BGHRichter Fischer fordert (siehe SPIEGEL-Gespräch). Das Gesetz muss ausdrücken, was eine Gesellschaft als besonders verwerflich empfindet. Verzichtet es auf diese Festlegung, entfernt es sich vom allgemeinen Rechtsempfinden. Eine andere Frage ist, ob mit der Reform das automatische Verdikt Lebenslang fallen soll. Für Kriminologen hat die härteste Strafe im deutschen Recht noch immer einen hohen symbolischen Wert. „Sie ist Ausdruck unserer Werte und stärkt das Sicherheitsgefühl der Bürger“, sagt Kai Bussmann, Kriminologe an der Uni HalleWittenberg. Für notwendig hält die Wissenschaft es aber längst nicht mehr, dass ein Mörder im Durchschnitt 18 Jahre hinter Gittern verbringt. Bereits nach zehn Jahren im Gefängnis, so wusste es das Bundesverfassungsgericht bereits 1977, empfinden die Täter keine Reue, die Haft hat sie abgestumpft. Ihre Missetat ist so lange her, ihre Opfer sind so lange tot, dass beides für sie bedeutungslos geworden ist. Die Deutschen morden immer weniger. 2013 zählte die Polizei 647 Fälle, davon 406 Versuche. Wenn die Bürger töten, dann oft fahrlässig oder im Affekt. Die Täter, die vorsätzlich handeln, sind selten psychopathische Killer, wie man sie aus dem Kino kennt. Viele sind zuvor unbescholtene Bürger, die eine persönliche Rechnung zu begleichen haben. Gemordet wird unter Freunden, Verwandten, Kollegen. „Dass ein Fremder Sie einfach umbringt“, sagt Kriminologe Bussmann, „gehört in Deutschland nicht zum Lebensrisiko.“ Heiko Maas findet den Zeitpunkt seiner Reform ideal. Wenn wenig gemordet wird, haben die Deutschen vielleicht weniger Angst vor einer Reform des Mord-Gesetzes. Eine Vorgabe hat er seinen Experten allerdings gemacht, die einzige: Wenn sie an das Lebenslang gehen, sollen sie die Gemütslage der Bürger berücksichtigen. Ganz abschaffen geht nicht, das weiß Maas, und so hat er es den Juristen für ihre Beratungen auch mit auf den Weg gegeben. Melanie Amann 20 DER SPIEGEL 32 / 2014 „Es gibt kein Strafrecht der Moral“ SPIEGEL-Gespräch Thomas Fischer, 61, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, über seinen Widerwillen gegen den Mord-Paragrafen, das Strafbedürfnis der Bürger und den Übereifer der Justiz im Fall Edathy FOTOS: CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (L.); THOMAS GRABKA (R.) Deutschland SPIEGEL: Herr Fischer, das Bundesjustizministerium plant die Reform des Mord-Paragrafen. Sie fordern im Prinzip sogar dessen Abschaffung. Was stört Sie so daran? Fischer: Man müsste eher fragen, was einen daran nicht stört. Der Mord-Paragaf sieht eine absolute Strafe vor, nämlich die lebenslange Freiheitsstrafe. Wenn heute eines der sogenannten Mordmerkmale festgestellt ist, ist keine Abstufung der Strafe mehr möglich. Das ist kriminologisch unsinnig, denn im Leben gibt es eine Vielzahl von Abstufungen und Sonderfällen, denen man mit einer starren Strafe nicht gerecht werden kann. SPIEGEL: Was den Juristen vielleicht stört, erscheint dem Laien eher sinnvoll: dass die Gesinnung des Täters bei der Bewertung der Tat eine Rolle spielt und dass es für Mord Lebenslang gibt. Fischer: Die Weisheit des Laien ist eine schwankende Sache. Fraglich ist zum Beispiel, ob der Begriff der sogenannten niedrigen Beweggründe, der aus einem Totschlag einen Mord macht, überhaupt bestimmt genug ist. Tatsächlich steht dieses Mordmerkmal von jeher fast beliebigen Wertungen offen. SPIEGEL: Kommt darin nicht zu Recht der Abscheu der Gesellschaft zum Ausdruck und damit eine besondere Straferwartung? Fischer: Selbstverständlich kann eine heimtückische oder grausame oder für Dritte besonders gefährliche Tötung eines anderen Menschen härter bestraft werden als eine Tat, die gerade eben den Tatbestand des Totschlags erfüllt. Aber von jeder Regel gibt es Ausnahmen. Das Problem des heutigen Mord-Paragrafen ist, dass er Differenzierungen nicht zulässt und keine Möglichkeit bietet, Strafmilderungs- und Strafverschärfungsgründe abzuwägen. SPIEGEL: Was haben Sie dagegen, dass besonders niederträchtige Motive automatisch zu einer höheren Strafe führen? Fischer: Bei der Strafzumessung rechnen wir persönliche Schuld in Zeitquanten um und sagen dem Straftäter: Für deine ganz konkrete Schuld sperren wir dich 2, 7 oder 15 Jahre lang in eine kleine Zelle. Der Mord-Paragraf fügt dieser in sich schlüssigen Korrespondenz von Schuld und Strafe einen Punkt hinzu, an dem jede Relation verlassen wird: Wer die Grenze zu einem Mordmerkmal nur einen Millimeter überschreitet, wird in den Bereich absoluter Schuld katapultiert, auch wenn viele Milderungsgründe vorliegen. Das führt in der Praxis zu vielen ungerechten Ergebnissen. SPIEGEL: Geben Sie uns ein Beispiel. Fischer: Nehmen Sie die Tötung aus Eifersucht. Bei der Vernehmung sagen viele Verdächtige: „Ich war so wütend.“ Damit haben sie in dem Versuch, sich Verständnis zu verschaffen, womöglich schon ein Mordmerkmal, nämlich einen sogenannten niedrigen Beweggrund, eingeräumt, und nichts kann sie dann aus dieser Nummer wieder herausholen. Es macht aber die Qualität ligem Unverständnis. Zu sagen, Eifersucht eines Rechtsstaats aus, die Menschen nicht sei stets ganz besonders verwerflich, halte hereinzulegen und anzuerkennen, dass kei- ich schon empirisch für eher fernliegend. ne Tat wie die andere ist. Im Übrigen ist auch der einfache Totschlag keine Tat aus ehrenwerten Motiven. Die SPIEGEL: Was wäre Ihr Vorschlag? Fischer: Wichtig wäre, die lebenslange Bewertung, ob das Gericht als Motiv Freiheitsstrafe durch einen Strafrahmen zu „Zorn“ sieht oder „Hass“, kann den Unersetzen. Dann könnten wir die Strafzu- terschied zwischen fünf Jahren und Lemessungsgründe gegeneinander abwägen, benslang ausmachen. etwa so: Diese Tat war zwar heimtü- SPIEGEL: Aber den Mord als Begriff gäbe es ckisch – aber menschlich verständlich; jene dann nicht mehr, nur noch einen mehr Tat war grausam – aber das Opfer hatte oder weniger schlimmen Totschlag? den Täter zuvor genauso grausam behan- Fischer: Die schwerste Form der Tötung delt. Wir könnten weitere Umstände für mag weiter Mord genannt werden oder beund gegen den Beschuldigten berücksich- sonders schwere Tötung oder wie auch imtigen. All dies ist heute im Strafrecht selbst- mer – solange die Formulierung an die Tat verständlich, nur nicht bei der Tötung. anknüpft und nicht, wie jetzt, an einen soSPIEGEL: Das bisherige Lebenslang würde genannten Tätertyp, wie es dem NS-Strafrecht vorschwebte. damit entfallen? Fischer: Einschließen bis zum Tod gibt es SPIEGEL: Die großen Strafrechtsreformen ja schon jetzt in der Praxis nur in Ausnah- von 1969 haben zunächst zu einer Halbiemefällen. Zurzeit wird die lebenslange rung von Gefängnisstrafen geführt. Das ist Freiheitsstrafe im Durchschnitt etwa 18 nicht überall auf Zustimmung gestoßen. Jahre vollstreckt; wenn die besondere Fischer: Zuvor wurden teilweise existenzSchwere der Schuld bejaht wird, im Durch- vernichtende Freiheitsstrafen wegen bloschnitt 24 Jahre. Länger eingesperrt bleibt ßer Bagatelldelikte verhängt. Dahin würde ein Verurteilter nur aus Gefährlichkeits- heute niemand zurückwollen. Andererseits haben wir Bereiche, in denen die Strafhöhen in den vergangenen Jahren eklatant gestiegen sind: bei den Sexualdelikten, auch bei der Körperverletzung. Rückfalltäter des sexuellen Missbrauchs erhielten vor 25 Jahren Bewährungsstrafen; heute würden dieselben Taten mit fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Im Übrigen ist die Annahme, das Strafrecht müsse nur möglichst hart sein, um Wirkung zu entfalten, ausgesprochen falsch. SPIEGEL: Die Menschen erwarten nun mal Vergeltung und Satisfaktion. Gefängnis in Deutschland Fischer: Beides sind Funktionen des Straf„Manches ist empörend“ rechts, die aber nicht im Vordergrund seigründen. Das hat aber nichts mehr mit ner Zwecke stehen. Stattdessen geht es daSchuldausgleich zu tun, sondern ist eine rum, die Gesellschaft vor Wiederholungen Art von Sicherungsverwahrung, und die zu schützen; und darum, klarzustellen, wäre auch weiterhin möglich. dass gesetzliche Verbote nicht unverbindSPIEGEL: Gäbe es nach einer solchen Reform liche Vorschläge sind, sondern Essentialia des Zusammenlebens, und dass sie durchnicht dennoch eher mildere Strafen? Fischer: Manchmal würde weniger heraus- gesetzt werden. kommen, manchmal mehr. Man könnte SPIEGEL: Würden Sie einräumen, dass sich sich beispielsweise eine Regelung vorstel- das Rechtsempfinden der Bevölkerung in len, nach der die Tötung eines Menschen Strafurteilen nicht immer wiederfindet? mit Freiheitsstrafen von 5 bis 15 Jahren be- Fischer: Das kommt gelegentlich vor. Allerstraft wird; mit 10 bis 25 Jahren, wenn der dings ist das sogenannte RechtsbewusstTäter habgierig, grausam oder aus men- sein der Bevölkerung ein schillerndes Weschenverachtenden Motiven gehandelt hat; sen. Für sich selbst und seine Lieben möchmit 5 bis 10 Jahren, wenn er provoziert te jeder Bürger eine möglichst umfassende wurde oder Ähnliches. So könnte die Stra- Beurteilung gerade seines Einzelfalls. Geht fe je nach den Tatumständen viel gerechter es um Dritte, will er Härte und Gnadenbestimmt werden als jetzt. losigkeit, in der Hoffnung, dass dies seine SPIEGEL: Wäre für Sie dann die Eifersucht eigene Sicherheit steigert. Das Strafrecht muss die Mitte finden. ein menschenverachtendes Motiv? Fischer: Etwa 50 Prozent der Tötungsdelik- SPIEGEL: Bei Immanuel Kant heißt es, es sei te, die ich als Richter bearbeitet habe, hat- Aufgabe des Strafrechts, den Verbrecher ten mit Eifersucht zu tun. Die Palette mei- mit einem Schmerz zu belegen. ner eigenen Emotionen ging dabei von Fischer: Herr Professor Kant zählt bei den hohem Mitgefühl für den Täter bis zu völ- wenigsten zur Bettlektüre, auch nicht bei DER SPIEGEL 32 / 2014 21 unseren Rechtspolitikern. Kaum taucht irgendwo eine Bande von Räubern auf, fordert ein Politiker, nun müsse die Strafe für Raub erhöht werden. Natürlich weiß er, dass die Höchststrafe schon jetzt bei 15 Jahren liegt. Ist es vorstellbar, dass Straftäter in spe sich zusammensetzen und sagen: „Wenn’s maximal 15 Jahre gibt, machen wir’s, bei 16 Jahren lassen wir’s“? Das ist absurd, und solche Forderungen sind deshalb populistisches Geschwätz. Immanuel Kant ist dafür nicht verantwortlich. SPIEGEL: Inwieweit muss Rechtsprechung oder auch Gesetzgebung auf veränderte Moralvorstellungen reagieren? Der berühmte Stern-Titel „Ich habe abgetrieben“ war 1971 das Bekenntnis zu einer Straftat. Als darauf keine Anklagen folgten, war der alte Paragraf 218 politisch tot. Fischer: Es gibt kein Strafrecht ohne Moral. Aber es gibt natürlich auch kein Strafrecht der Moral. Wenn man Moral eins zu eins in Recht übersetzt, kommt eine totalitäre Ordnung heraus. Es ist die Aufgabe des Rechtsstaats, aus der Moral einen rationalen Kernbestand von Regeln zu filtern, der eine handlungsleitende und gesellschaftsstabilisierende Funktion erfüllen kann. SPIEGEL: Die gesellschaftlichen Einstellungen zur Sexualmoral haben sich deutlich liberalisiert, außer wenn es um Kinder geht. Da haben die Vorbehalte erkennbar zugenommen. Fischer: Ich glaube, dass bei dem Thema Kinder und Sexualität ein großer Anteil von Irrationalität im Spiel ist. Wir erleben heute eine hysterisierte Überzeichnung, der eine empörende Gleichgültigkeit gegenüber zahllosen anderen Missständen entspricht. Wo es um sexuell motivierten Missbrauch erwachsener Macht gegenüber Kindern geht, ist die Gesellschaft in den vergangenen 15 Jahren regelrecht in einen Strafrausch ausgeflippt. Gleichzeitig bleibt sie fast unbeteiligt gegenüber Traumatisierungen durch nichtsexuelle Gewalt. SPIEGEL: Sie haben sich in einem Artikel in der Zeit in die Diskussion um die Ermittlungen gegen den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy eingeschaltet, dem Erwerb und Besitz von Kinderpornografie vorgeworfen wird. Sie hielten der Staatsanwaltschaft vor, vorschnell an die Öffentlichkeit gegangen zu sein. Fischer: Der Fall Edathy war zum Zeitpunkt meines Beitrags kein Fall im strafrechtlichen Sinn. Es wurde nur behauptet, es sei ein Fall. Das war mein Grund, dazu zu schreiben. SPIEGEL: „Bitte entschuldigen Sie, Herr Edathy“ hieß die Überschrift Ihres Artikels. War das nicht etwas verfrüht? Immerhin ist jetzt Anklage erhoben worden. * Dietmar Hipp und Jan Fleischhauer im SPIEGEL-Hauptstadtbüro. 22 DER SPIEGEL 32 / 2014 Abgeordneter Edathy 2013 „Großer Anteil von Irrationalität“ Fischer: Eine Anklage ändert nichts daran, dass zuvor Regeln verletzt wurden. Edathy war ein halbwegs prominenter Politiker, und schon die Äußerung eines solchen Verdachts ist heute fast zwangsläufig mit einer sozialen Vernichtung verbunden. Wenn private Medien das inszenieren, ist das verachtenswert, aber schwer zu verhindern. Behörden dürfen dem aber keinesfalls eine Bühne bereiten. Für Edathy ist es fast gleichgültig, ob sich der Verdacht bestätigen wird oder nicht. Das hat in einem Rechtsstaat kein Beschuldigter verdient. SPIEGEL: Videos von halb nackten Kindern fallen bisher nicht ohne Weiteres unter Kinderpornografie. Aber dass jemand, der solche Dinge bestellt, auch richtig böses Zeug zu Hause hat, ist doch nicht so fernliegend? Fischer: Eine solche Betrachtung mag für den Stammtisch ausreichend sein, als handlungsleitende Maxime einer Staatsanwaltschaft ist sie es gewiss nicht. Der Staat darf nicht legales Verhalten zum Anlass nehmen, um in grundrechtlich geschützte Bereiche seiner Bürger einzudringen und dort nachzuforschen, ob es vielleicht irgendeine Straftat gegeben hat, die man verfolgen könnte. Wer sich legal verhält, darf nicht zum Gegenstand von Verdächtigungen und sozialer Vernichtung gemacht werden. Kein Bürger unseres Rechtsstaats hat das hinzunehmen; niemand würde das für sich selbst akzeptieren. SPIEGEL: Anlässlich des Falls Edathy wird nun darüber diskutiert, den Besitz und Erwerb von Aufnahmen auch dann unter Strafe zu stellen, wenn diese keine expliziten sexuellen Handlungen zeigen, son- Fischer, SPIEGEL-Redakteure* „Die Weisheit des Laien ist schwankend“ dern etwa nur ein nacktes Kind in der Badewanne. Halten Sie das für legitim? Fischer: Abgesehen von der Albernheit, die in der Exekution eines solchen Vorhabens steckt: Das Sexualleben seiner Bürger geht den Staat nichts an, solange nicht ernsthafte Verletzungen von Rechtsgütern vorliegen oder drohen. Daher ist die Pornografie straffrei. Mit allerlei Bedenken strafbar sind noch Kinderpornografie, Tierpornografie und Gewaltpornografie. Die Forderung nach Ausdehnung des Pornografieverbots auf nichtpornografisches Material halte ich für völlig überzogen. SPIEGEL: Das Argument für die Bestrafung von Kinderpornografie ist, dass sie einen Markt erzeugt, für den am Ende tatsächlich Kinder missbraucht werden. Fischer: Solange eine Kette von Gefährdung nachvollziehbar ist, mögen Verbote legitim sein. Dass aber auch ein rein virtuelles, am Computer generiertes kinderpornografisches Bild zur Strafbarkeit des Nutzers führen soll, ist fragwürdig, weil hier in der Realität gerade kein Kind missbraucht wurde. Wir müssen den von Pädophilie betroffenen Menschen doch Handlungsalternativen anbieten, die potenzielle Opfer schützen und zugleich den Betroffenen ein Leben ohne Kriminalisierung ermöglichen. Pädophilie ist ein Schicksal; es ist kein Plan, Straftäter zu werden. SPIEGEL: Ähnlich heikel sehen manche Juristen die Bestrafung des Inzests, sofern dieser freiwillig und unter Erwachsenen erfolgt. Wie sehen Sie das? Fischer: Den Inzest zwischen erwachsenen, frei verantwortlichen Personen halte ich für nicht strafwürdig. Es handelt sich um freiwillige, einverständliche sexuelle Betätigung zwischen verständigen Menschen. Hier hat sich der Staat herauszuhalten. Alles, was da an Legitimation von Strafverfolgung ins Feld geführt wird, hält rationaler Betrachtung nicht stand. Manches ist sogar empörend, etwa das Argument, dass die Gesundheit potenziell entstehender Kinder zu schützen sei. Dann müsste man ja auch alle Frauen einsperren, die vor, während oder nach der Schwangerschaft rauchen oder trinken, und die Männer gleich dazu. All das ist Moral und Sittlichkeit und was auch immer, mit den Aufgaben des Strafrechts hat es nichts zu tun. SPIEGEL: Das Verfassungsgericht spricht sogar von Eugenik – und akzeptiert das. Fischer: Das Urteil zum Inzest ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Ausrutscher unseres Bundesverfassungsgerichts. In der Sache ist der Inzest ein sehr gutes Beispiel dafür, dass ein Straftatbestand, der im Laufe der Zeit durch Veränderung aller gesellschaftlichen Verständnisse sinnlos und daher illegitim geworden ist, nicht länger aufrechterhalten werden sollte. SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. FOTOS: HC PLAMBECK / LAIF (O.); CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (U.) Deutschland Deutschland Politik hinter Panzerglas Rüstung Wirtschaftsminister Gabriel beharrt auf einer restriktiven Waffenexportpolitik. Einige in der SPD sorgen sich um die Branche. D as Café du Croissant in Paris klingt nicht unbedingt nach einem Ziel für die Auslandsreise eines deutschen Vizekanzlers. Doch vergangenen Donnerstag brauste Sigmar Gabriel, eskortiert von der Polizei, zu dem unscheinbaren Lokal in der Rue Montmartre. Zwei Gardesoldaten mit blitzenden Schwertern erwarteten den Wirtschaftsminister, dazu der französische Staatspräsident François Hollande. Gemeinsam mit Gabriel legte er einen Kranz nieder vor jener Stelle, an der hundert Jahre zuvor der Sozialist und Friedenskämpfer Jean Jaurès ermordet worden war. Der Termin passte perfekt in das Bild, das Gabriel derzeit am liebsten von sich verbreitet: das eines Pazifisten und Kämpfers gegen Waffenexporte. Noch auf dem Rückflug aus Paris war er ganz beseelt: „Der Friede“, sinnierte er, „war noch nie eine Selbstverständlichkeit.“ Das Signal, das Gabriel damit zu Hause aussenden will, richtet sich an das linke Wählerspektrum. Während er sich in anderen Bereichen als Wirtschaftsminister der Mitte profiliert, wirbt er mit seinem Nein zu kritischen Waffenexporten um die linke Wählerschaft. Er hofft so, bis 2017 von einer Mehrheit der Deutschen als kanzlerfähig angesehen zu werden. 24 DER SPIEGEL 32 / 2014 Deshalb macht der SPD-Chef Ernst mit seiner Ankündigung, deutsches Kriegsgerät nicht wahllos in alle Welt zu liefern. Schon gar nicht an Scheichs in Golfstaaten und andere Autokraten. Vor allem Kleinwaffen dürfen nicht mehr in die falschen Hände geraten, so Gabriels Devise. Auch bei gepanzerten Fahrzeugen ist er streng. Damit nichts schiefgeht, erklärte der Minister die Exportanträge zur Chefsache. Seine Beamten bekamen die unmissverständliche Anweisung: Jeder einzelne Antrag aus sogenannten Drittstaaten außerhalb von Nato und EU muss über seinen Schreibtisch. Das bleibt nicht ohne Folgen. Mittlerweile stapeln sich dort rund 700 Vorgänge. In der Rüstungsindustrie herrscht helle Aufregung. Doch Gabriel lässt den Konflikt eskalieren. Notfalls müsse man in Kauf nehmen, dass nicht jeder Betrieb eigenständig bleibt, heißt es im Ministerium. In der schwarz-gelben Koalition sei einfach alles genehmigt worden, zürnt der SPDChef. Es sei der reinste Exzess gewesen, so Gabriel intern. Damit sei nun Schluss. In der Großen Koalition ließ man Gabriel wochenlang gewähren. Doch inzwischen bläst die CSU zur Gegenoffensive. Horst Seehofer ließ Gabriel per Sommerinterview wissen, dieser verfahre „ohne Konzeption und ohne klaren Kompass“. Im Herbst will der CSU-Chef das Thema auf dem Parteitag debattieren lassen. Etwas moderater äußert sich die CDU. Gleich nach der Sommerpause wollen sich die Experten aus Verteidigungs-, Außenund Wirtschaftsausschuss zusammensetzen. „Bis Ende des Jahres sollten wir Grundsätze erarbeiten, welche Ziele wir mit unserer Armee erreichen wollen und welche Rüstungsindustrie wir dafür in unserem Land brauchen“, sagt Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter (CDU). Das klingt noch verhältnismäßig vorsichtig. Doch tatsächlich arbeiten die konser- vativen Koalitionspartner längst daran, die Macht des Wirtschaftsministeriums bei Waffenexporten auszuhebeln. „Wenn für Sigmar Gabriel Rüstungsexporte Sicherheitspolitik sind, dann sollten wir ihn von der Aufgabe entlasten“, sagt CSU-Verteidigungspolitiker Florian Hahn, „dann sollten sich in Zukunft das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium um das Thema kümmern.“ Selbst einige in Gabriels eigener Partei sorgen sich nun um die Folgen rigider Exportpolitik und wollen Hilfsinitiativen starten. In der Rüstungsindustrie könnte die Stimmung kaum schlechter sein. Nur selten kommt aus dem Wirtschaftsministerium noch eine Genehmigung zum Export. Dabei hatte schon die letzte Regierung in den Monaten vor der Wahl viele Anträge einfach liegen lassen. Der Bundessicherheitsrat, verantwortlich für die Genehmigung der besonders heiklen Exportansinnen, hatte nicht mehr getagt. Mit Amtsantritt der Großen Koalition hofften die Unternehmen, der Stau würde abgearbeitet. Doch das Gegenteil trat ein. „Selbst harmlose Anfragen bleiben liegen“, stöhnt der Manager eines süddeutschen Rüstungskonzerns. „Die Beamten sind so verunsichert, dass sie selbst Anfragen nicht durchwinken, die sie früher nicht an die Ministeriumsspitze weitergereicht hätten.“ Da wartet eine Firma aus Bayern darauf, Luxusgeländewagen für ein Golf-Emirat mit Panzerglas auszustatten. Ab einem Gesamtgewicht des Fahrzeugs von 4,5 Tonnen muss selbst bei normalen Straßenfahrzeugen diese Armierung genehmigt werden. Früher ein simpler Verwaltungsakt, jetzt eine Sache für den Minister. Auch Jenoptik ist in das Genehmigungschaos geraten. Das thüringische Unternehmen wollte Laser-Abstandsmesser ausführen. Aber die Geräte sind sogenannte Dual-Use-Produkte, die für harmlose Sensoren eingesetzt werden können. Aber eben auch für Zieloptiken von Panzern. Der Antrag geriet in die Warteschleife. Ein anderer Hersteller wiederum klagt, dass er Raketenkomponenten für ein Rüstungsprojekt in ein anderes westliches Land liefern will. Die Verträge dafür habe man unterschrieben, weil die schwarz-gelbe Regierung eine Voranfrage genehmigt habe. Jetzt fehle nur noch die Ausfuhrgenehmigung, doch die kommt nicht. „Unsere Geschäftspartner verlangen Strafzahlungen, weil sie ihre Kunden nicht beliefern können“, klagt die Geschäftsführung des Unternehmens. „Wir wissen nicht, wie lange wir sie noch hinhalten können.“ Mehr noch als die Strafe schmerzt es die Firma, dass deutsche Rüstungskonzerne als Zulieferer von Bauteilen ausländischer FOTO: BERND SETTNIK / PICTURE ALLIANCE / DPA (L.) Minister Gabriel, Rüstungsmanager im Mai Jeder Antrag muss über seinen Schreibtisch RüstungsIndustrie SPIEGEL TV WISSEN Wert der heiten in der Wehrindustrie Waffensysteme zunehmend produzierten erhalten bleiben“, sagt er. gemieden würden. „GermanWaffen* 2011 „Für Sigmar Gabriel liegt eine free“ sei mittlerweile etwa bei industriepolitische Initiative französischen oder britischen nahe.“ Rüstungsunternehmen ein beGerade nach den negativen liebtes Verkaufsargument für Mrd. € Erfahrungen mit der Aufkläihre Produkte. „Es spricht rungsdrohne „Euro Hawk“, sich eben rum, dass wir deutKriegswaffendie in den USA hergestellt schen Konzerne wegen unseausfuhr in wurde, müsse alles dafür gerer Genehmigungsbehörden Drittländer 2013 tan werden, das wichtigste zu äußerst unzuverlässigen Know-how im Lande zu halGeschäftspartnern geworden ten. „Wir dürfen nicht abhänsind“, so der Manager der begig werden von transatlantitroffenen Firma. Mio. € schen Programmen“, sagt BarNun schauen sich die Untels. Die Politik müsse mit ternehmen nach Lösungen Beschäftigte neuen Aufträgen dafür sorum. Krauss-Maffei Wegmann gesamt 2011 gen, dass die Montagebänder verhandelt seit Wochen mit nicht stillstehen. „Wir braudem französischen Panzerchen neue Entwicklungsprohersteller Nexter (SPIEGEL davon gramme“, fordert Bartels. 27/2014). Eine der Hoffnunim Waffenbereich* gen: Würden gemeinsam proSigmar Gabriel dagegen 18% duzierte Panzer über Nexter sieht momentan keinen Handverkauft, gälte das liberalere lungsbedarf. Zwar ist auch ihm Exportrecht der Franzosen. klar, dass es irgendwann für Das Wirtschaftsministerium die Rüstungsbranche schwierig widerspricht: Wenn Einzelwird. Aber als wirklich existeile aus Deutschland stammtenzbedrohend will man die ten, dann müssten deutsche Probleme in seinem Ministe82% Behörden den Export genehrium nicht sehen. Nun gibt es Dienstleistungen, migen. immerhin ein GesprächsanFahrzeuge, ÜberDoch genau das versuchen gebot. wachung u. a. die Rüstungskonzerne zu verAm 21. Juli wandte sich Ga* inklusive Kriegsschiffe, hindern, mithilfe der CSU. briel in einem Brief an die BeFlugabwehr, Munition u. a. Quellen: WifOR, BMWi Ziel des Vorstoßes ist es, die triebsräte der betroffenen UnAusfuhrbestimmungen so zu ternehmen und lud die Arbeitverändern, dass bei einem Joint Venture nehmervertreter zu einem Austausch für mehrerer europäischer Unternehmen jenes Mitte August ins eigene Haus. Sie hatten Land für die Exportkontrolle zuständig ist, Wochen zuvor bei ihm über die schlechte aus dem die meisten Komponenten stam- Lage geklagt. Über die drängenden Fragen men. Und die beteiligten Unternehmen der Zeit solle gesprochen werden, schrieb könnten die Vertriebsgebiete untereinan- Gabriel nun. Man müsse „offener diskuder aufteilen: Der britische Teil des Kon- tieren, als dies bisher der Fall war“. sortiums würde etwa die Golfstaaten beZugleich machte er klar, dass er nicht liefern. In London ist man mindestens ge- bereit ist, seine Agenda in Sachen Exporte nauso liberal wie in Paris. Das Kanzleramt grundlegend zu ändern. „Ich will euch dessoll sich für den Vorstoß aufgeschlossen halb nicht verhehlen“, schrieb Gabriel, gezeigt haben. „dass diese Orientierung im Einzelfall zu „Wir können Gabriel nicht länger über- einer restriktiveren Genehmigungspraxis lassen, die heimische Rüstungsindustrie zu führt.“ Nun müsse über die „Förderung ruinieren, nur weil der sich bei den Linken von Diversifizierungsstrategien in den ziprofilieren will“, schimpft der CSU-Abge- vilen Bereich“ nachgedacht werden. Im ordnete Hans-Peter Uhl und fordert eine Klartext: Wenn ihr überleben wollt, kon„verantwortungsvolle Sicherheitspolitik“. zentriert euch lieber auf neue Produkte. Auch in der SPD wollen einige zuminIm Übrigen, so sieht es Gabriel, ist die dest die Folgen der streng ausgelegten ganze Sache nicht nur sein Problem. UnRichtlinien für die Industrie abfedern. mittelbar betroffen von einer schrumpfenZwar stützen die meisten Sozialdemokra- den Rüstungsindustrie wäre Verteidigungsten den Kurs des Wirtschaftsministers. Um- ministerin Ursula von der Leyen. Aber die stritten ist aber, ob den schwächelnden hält sich auffallend bedeckt. Zwar schwant Unternehmen unter die Arme gegriffen von der Leyen, dass sie sich irgendwann werden sollte oder nicht. zum Thema äußern muss. Den Zeitpunkt Der Vorsitzende des Verteidigungsaus- sieht sie allerdings noch nicht gekommen. schusses, Hans-Peter Bartels, schlägt eine Und so verabschiedete sich die Ministerin politische Offensive vor, um den Firmen in der vergangenen Woche in den Urlaub, zu helfen. „Die Regierung muss dafür sor- ohne Stellung zu beziehen. Gordon Repinski, Gerald Traufetter gen, dass dauerhaft überlebensfähige Ein- 3,9 568 97980 DER SPIEGEL 32 / 2014 25 DIENSTAG, 5. 8., 21.00 – 21.45 UHR | PAY TV BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN Wohnen in Deutschland – Das Experiment auf der grünen Wiese Im schwäbischen Dorf Tempelhof leben 120 Exstädter in einer Art Hightech-Kibbuz zusammen. Umgeben von 26 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche versorgen sich die Bewohner fast autark. Es gibt eine Käserei, eine Bäckerei, eine Imkerei, eine Schneiderei, eine Fahrradwerkstatt – und neben dem Waldkindergarten bald auch eine eigene Schule. Jeden Tag aufs Neue versuchen die Kibbuz-Mitglieder, ihre Arbeit in der Stadt mit dem Leben in der Natur zu vereinbaren. SPIEGEL GESCHICHTE SONNTAG, 10. 8., 23.00 – 23.55 UHR | SKY Gunter Sachs – Der Lebenskünstler Er war reich, er galt als der letzte große Playboy, und alle dachten, er müsse glücklich sein, weil er alles besaß. Doch am 7. Mai 2011 schied Gunter Sachs in seinem Chalet in Gstaad freiwillig aus dem Leben. Zwei Jahre danach hat sich der Journalist Hanns-Bruno Kammertöns auf eine Spurensuche begeben und Gespräche mit der Familie und engen Freunden geführt. So entstand das Porträt eines Mannes, das vielschichtiger ist, als dessen Bild in der Öffentlichkeit war. SPIEGEL TV MAGAZIN SONNTAG, 10. 8., 22.25 – 23.10 UHR | RTL Entmieten und Sanieren – Immobilien- skandal im Frankfurter Westend; Liebe gegen Geld – Die Kuta-Cowboys von Bali; Antanzen und Abziehen – Die neue Masche der Taschendiebe. Festnahme eines Taschendiebs Deutschland Supersaporsauber Bayern Staatsministerin Christine Haderthauer hat angekündigt, in der Modellbau-Affäre alle Vorwürfe restlos zu entkräften. Nach 25 Jahren Trickserei wäre das mal etwas Neues. D er Brief, den der Anwalt von Christine Haderthauer im November 2011 verschickte, war ein Bluff, und was für ein schlechter: Erst mal behauptete der Verfasser, dass die Gegenseite gar nichts zu erwarten habe – alles längst verjährt. Dann aber bot er doch 20 000 Euro an, um des lieben Friedens willen. Wenn Anwälte so entspannt tun, muss die Lage ziemlich ernst sein. Und wenn sie dann noch großzügig daherkommen, mit 20 000 Euro wedeln, müssen sie ziemlich verzweifelt sein. Der Bluff sollte offenbar eine politische Karriere retten, die Karriere der bayerischen Sozialministerin und heutigen Leiterin der Staatskanzlei. Und zunächst funktionierte er sogar. Man wolle „die Angelegenheit abgeschlossen wissen“, schrieb der Anwalt, und tatsächlich: Mit 20 000 Euro ließ sich ihr früherer Geschäftspartner Roger Ponton abspeisen. Er glaubte, was ihm die Ministerin und ihr Mann erzählten: dass die gemeinsame Firma Sapor Modelltechnik kaum mal Gewinn gemacht habe, meistens nur Verluste – und er im Grunde froh sein konnte, dass er schon vor Jahren aus der Firma ausgeschlossen wurde. Ohne sein Wissen. Am Ende aber hat der Bluff doch nicht geklappt. Die 20 000 Euro, die Ponton ruhig stellen sollten, waren zu knapp kalkuliert, zu dreist, zu selbstsicher, zu arrogant, eben so, wie man das auch über den Politikstil der Ministerin seit Jahren sagen kann. tisches Amt sind, dann hat Haderthauer bert Haderthauer, verheiratet mit der Jusie längst verfehlt. Seit gut einem Jahr kö- ristin Christine, die damals noch weit weg chelt die Affäre um Modellautos, die ihr war von einer Karriere in der Politik. „Mein Engagement beruhte auf der Mann billig im bayerischen Maßregelvollzug bauen und über die Firma Sapor teuer Begeisterung für Oldtimer-Modelle und verhökern ließ; seit gut einem Jahr stolpert sicherlich nicht auf Gewinnstreben“, bedie Staatsministerin von einer Halbwahr- hauptete Hubert Haderthauer später. heit zur nächsten. Sie weicht aus, wiegelt „Für den Modellbau interessierte sich ab, und das alles mit der Autorität ihres Haderthauer nicht sonderlich, der war in erster Linie am Geld interessiert“, vermuAmtes. Der Name Haderthauer steht damit für tete dagegen Ponton, als die Affäre vor den nächsten Fall eines Politikers, der zu einem Jahr hochkam. Haderthauer habe fallen droht, weil ihm der Blick für die mo- schnell klargemacht, dass er mit dabei sein ralischen Ansprüche an das Amt fehlt. Nur wolle; kein Geschäft ohne ihn, sonst köndass andere diesen Blick oft erst im Amt ne sich Sapor den Meistertüftler Roland verloren haben, nach Jahren der Macht, S. und den Modellbau in der Klinik aus die den Blick für das Nötige und Mögliche dem Kopf schlagen. Weil es aber nicht gut abgestumpft haben. Bei Christine Hadert- ausgesehen hätte, wenn ein Anstaltsarzt hauer stand das moralische Versagen da- mit der Arbeit seiner Patienten sein Gegegen am Anfang, vor 25 Jahren, sie brach- halt aufstockt, sei Christine Haderthauer te die moralische Unbekümmertheit schon in die Firma eingestiegen. So erzählt das mit ins Amt. Dieses Versagen muss sich zumindest Roger Ponton. Hubert Haderthauer will dazu nichts nun am Ende auch ihr Chef anlasten lassen, der sie 2008 zur Ministerin gemacht hat sagen, auch zu anderen Fragen nicht; und bis heute stützt: Ministerpräsident Begründung: das laufende Verfahren. Für Christine Haderthauer teilte der Anwalt Horst Seehofer. Am Anfang dieser Geschichte steht ein des Ehepaars mit, dass „alle BehauptunMann, der mit Politik nichts zu tun hat. gen unwahr sind“, die nicht von den zahlRoland S., eine Figur wie aus einem Psy- reichen Antworten der Regierung an den chothriller. Abstoßend, weil er drei Men- Landtag gedeckt seien. Was bedeutet, dass schen bestialisch umgebracht hat, allen sie nicht die Strohfrau ihres Mannes geweOpfern den Penis abschnitt, einem auch sen sein will. Fest steht: Ende 1989 und 1990 zahlte noch den Kopf und die Beine. Aber auch faszinierend, mit einem Intelligenzquo- Christine Haderthauer ihren Anteil, wurde tienten von 145. Ein technisches Genie, eine von drei Gesellschaftern. Ab 1993 gab das sich in der Enge der Anstalt in der es nur noch zwei, sie und Ponton. Und wie auch immer man es wendet: Es bleibt ein Anfang ohne Anstand, ein anrüchiges Geschäft, und Christine Haderthauer machte mit. Im Dezember 1989 begann der MoKunst der Miniatur auslebte. Schon nach dellbau als Werktherapie – die Insassen dem ersten Mord, als er in Freiburg einsaß, bekamen dafür im Monat 250 Mark. In der baute er einen alten Rolls-Royce nach, Vereinbarung mit der Maßregeleinrichtung geradezu perfekt. Ein kleines großes Meis- trat Hubert Haderthauer als „verantwortlicher Arzt“ auf. Auf der anderen Seite terwerk. Der Franzose Roger Ponton, der im El- stand die Modellbaufirma, im Hintergrund sass eine Firma für Jagdgewehre hatte, sah seine Frau, und rechnete mit riesigen Gedie Modelle und erkannte ein Geschäfts- winnmargen. 20 000 Mark sollte ein Auto modell. Mit einem Partner besuchte er bringen, der Bau gerade mal 2500 Mark Roland S., der inzwischen in Ansbach im kosten, wie eine frühe Kalkulation von RoMaßregelvollzug für psychisch kranke land S. zeigt. In der Sapor-Korrespondenz Straftäter einsaß. Ponton fragte ihn, ob er der Haderthauers geht es in den folgenden nicht noch mehr Autos bauen könne, für Jahren so gut wie immer nur um: Einnahmen, Ausgaben, Kredite, Außenstände, eine Firma, die Sapor Modelltechnik. Allerdings war Ponton nicht der Einzige, Vertrieb und Werbung. Nicht um Begeisder die Gelegenheit begriff, ergriff. Auch terung für Autos, nicht um Therapieerfolge der neue Anstaltsarzt kam schnell auf die bei Straftätern. Das, vielleicht wenigstens das, könnte Idee, dass man aus den Mini-Autos etwas machen könne: ein junger Mediziner, Hu- Christine Haderthauer heute einräumen, Am Anfang steht eine Figur wie aus einem Psychothriller: ein Mörder mit einem Intelligenzquotienten von 145. Das könnte sie nun umso teurer bezahlen, mit ihrem Amt. Nach einer Strafanzeige von Ponton, der sich beim Deal 2011 getäuscht fühlt, ermittelt die Staatsanwaltschaft München seit voriger Woche nicht mehr allein gegen den Landgerichtsarzt Hubert Haderthauer. Jetzt geht es auch gegen seine Frau, die Staatsministerin. Und während sich in diesem Verfahren alles darum dreht, ob das Ehepaar seinen Partner Ponton bei dem Vergleich mit falschen Geschäftszahlen betrogen hat, läuft es im Kampf ums Amt auch auf die Frage hinaus, ob die Staatsministerin die Öffentlichkeit getäuscht, vielleicht sogar belogen hat. Auf dem Prüfstand stehen also ihre Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit, und wenn das alles Maßstäbe für ein poli26 DER SPIEGEL 32 / 2014 FOTO: FRANK HOERMANN / SVEN SIMON (O.) Ehepaar Haderthauer Versteigerungsanzeige für ein Sapor-Modell bei Christie’s 2007: Kleine große Meisterwerke aber zum Wesen dieser Affäre und wohl auch zu ihrem eigenen Wesen gehört, dass sie gar nichts einräumt. Das beginnt schon damit, dass sie noch Mitte Juni in der Welt am Sonntag behauptete, es gebe überhaupt keine Affäre. Und ihre Geschäftstüchtigkeit? Sie sei lediglich an einer Firma beteiligt gewesen, „die ein Therapieangebot für psychisch kranke Straftäter finanziert hat“. Das klingt gerade so, als wäre sie ein Engel der Barmherzigkeit und die Sapor eine karitative Organisation zur Rettung psychisch kranker Straftäter gewesen. Aber so geht das in einem fort: keine Fehler, niemals, nirgendwo. Roger Ponton hingegen erinnert sich noch gut, was ihr Mann alles möglich gemacht haben soll, um die Geschäfte anzukurbeln. Regelmäßig, so der Franzose, habe er mit Haderthauer in einem Hotel in Ansbach gegessen, um über Modelle, Termine, die Arbeit oder neue Kunden zu sprechen; auch Roland S. sei dabei gewesen. Roland S., der Dreifachmörder? Draußen in einem Hotel in Ansbach? Ja, mehrmals, den habe Haderthauer aus der Klinik mitgebracht. Kann das sein? Offenbar, denn auch Gary Kohs erzählt so eine Geschichte. Kohs, Chef der Firma Fine Art Models in Michigan, USA, ein großer Händler für High-End-Modelle in Nordamerika – Schiffe, Autos, Flugzeuge. In den Neunzigern verkaufte Sapor Modelltechnik mehr als zehn Miniaturen an ihn, darunter den Mercedes-Simplex-Tourenwagen und den Mercer 35 J Raceabout, für rund 15 000 Mark das Stück. In jener Zeit, so Kohs, habe er auch mal einen Stand auf der Spielwarenmesse in Nürnberg gehabt und dort Haderthauer getroffen. Der habe ihm dann „den Mann vorgestellt, der die Modelle gebaut hat“. Der habe nicht viel gesagt, aber einen netten Eindruck gemacht. Erst am nächsten Tag, so Kohs, habe er gehört, dass die Sapor-Modelle von Straftätern gebaut wurden und der Mann von gestern „ein Psychopath war, der drei Menschen getötet hat und einen Tag draußen war, um sich die Messe anzusehen“. Dass Hubert Haderthauer für Sapor über Grenzen ging, scheint ihm auch selbst klar gewesen zu sein. Im September 1994 bekam Kohs einen Brief von Haderthauer. Der arbeitete nun nicht mehr in der Psychiatrie, sondern als Gerichtsarzt in Ingolstadt. „Im Moment habe ich zwei große Probleme“, schrieb Haderthauer, einmal die Außenstände von Sapor, da bat er um schnelle Bezahlung seiner Rechnungen. Und „zweitens Probleme mit meinem Status als Beamter“. Das größere von beiden sei die „Unvereinbarkeit meines Berufs und Sapor. Deshalb habe ich vor, meinen Anteil an Sapor zu verkaufen“ – gemeint war offenbar der Anteil seiner Frau. Doch so unwohl sich Hubert Haderthauer ganz DER SPIEGEL 32 / 2014 27 offensichtlich bei seinem Sapor-Abenteuer fühlte, er selbst machte noch 14 Jahre weiter, bis 2008, seine Frau mindestens bis 2003. Es sind Fundstücke wie der Brief an Kohs, die zeigen, dass die Haderthauers mit ihrer Firma immer hart am Rand operierten und das auch wussten. Sie versuchten, in Grauzonen gute Geschäfte zu machen, so wie es auch andere tun. Nur dass die anderen nicht irgendwann Minister werden. Dieses Risiko hatten die Haderthauers nicht einkalkuliert. Umso hartnäckiger behauptet das Ehepaar heute, dass bei ihrer Firma alles sauber lief. Supersaporsauber. Und dass Christine Haderthauer zwar Gesellschafterin war, aber trotzdem so gut wie nichts mit den Geschäften zu tun hatte. Sapor, das sei ihr Mann gewesen, sie selbst nur ganz früh, ganz formal beteiligt. So hat sie das auch dem Landtag erklärt. Die Opposition hatte im Juni gefragt, welche Rolle die Staatsministerin in der Firma gespielt hatte, und ihre Staatskanzlei antwortete mit einer Formulierung, die schon wieder hart am Rand war, in der Grauzone der Wahrheit. „Frau Staatsministerin Haderthauer weist darauf hin, dass die Geschäftsführung der Sapor-Modelltechnik GdbR … von Anfang an (1993) und durchgehend bis 2008 Herr Dr. Haderthauer ausgeübt hat.“ Von Anfang an? Die erste Sapor Modelltechnik, an der sie beteiligt war, wurde 1990 gegründet, nicht 1993. Das Einzige, was sich 1993 änderte, war die Zahl der Gesellschafter. In jenem Jahr schied der dritte Gesellschafter aus, deshalb setzten die beiden übrig gebliebenen, Christine Haderthauer und Roger Ponton, die Firma lediglich unter gleichem Namen neu auf. Und dass Christine Haderthauer mit der Geschäftsführung angeblich nichts zu tun hatte? Stimmt so auch nicht. Mit der Neugründung 1993 blieb sie Gesellschafterin – und automatisch auch Geschäftsführerin, gemeinsam mit Ponton, dem zweiten Anteilseigner. Sie führte die Geschäfte, und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern aktiv: Ende 1993 schrieb sie Ponton auf Sapor-Geschäftsbogen: „Ich übersende eine Vollmachtserklärung für mich, damit ich die notwendigen Maßnahmen zur Geschäftsführung vornehmen kann.“ Umgehend kam Post von Ponton: „Hiermit bevollmächtige ich Frau Christine Haderthauer, alle zur Geschäftsführung notwendigen Handlungen auch in meinem Namen vorzunehmen.“ Da hatte Haderthauer aber auch so schon ein Auslandscarnet, also ein Wareneinfuhrdokument, für eine Messe in Bern besorgt. Die Opposition sieht sich deshalb getäuscht, hat Haderthauers Rücktritt gefordert, will einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Solange Regierungschef Seeho28 DER SPIEGEL 32 / 2014 fer hinter ihr steht, wie vorige Woche nach einer Krisensitzung, kann die Ministerin solche Tricksereien politisch durchstehen. Bei den Münchner Staatsanwälten hilft ihr aber auch die Gnade des bayerischen Alleinherrschers nicht mehr. Nun geht es um kalte, klare Zahlen. Um Einnahmen, Ausgaben, Gewinne und Verluste von Sapor. Um die Frage, ob Ponton beim Abfindungsdeal falsche Daten vorgelegt wurden und vorher möglicherweise auch den bayerischen Steuerbehörden. Gegen Hubert Haderthauer läuft ein Steuerermittlungsverfahren, die Vorwürfe weist er zurück. Sicher ist: Nach Jahren, in denen die Haderthauers nichts mehr von ihrem Mitgesellschafter Ponton gehört hatten, übertrug Christine Haderthauer 2003 ihre Anteile kurzerhand auf ihren Mann. Ponton, heute 84 Jahre alt, erfuhr davon nichts. Politiker Haderthauer, Seehofer Ausweichen, abwiegeln Er hatte sich zwar tatsächlich nicht mehr um die Firma gekümmert, war zwischenzeitlich krank geworden. Aber er wohnte seit Jahrzehnten im selben Haus mit derselben Telefonnummer, und dass er angeblich nicht erreichbar gewesen wäre, gehört wohl wieder zu den Tricksereien in der Causa Haderthauer. 2008 verkaufte Hubert Haderthauer schließlich die Firma an einen Bekannten, wieder hinter dem Rücken von Ponton. Kurz danach war der Franzose aus dem Gewerberegister abgemeldet. Nur zufällig bekam er 2011 mit, dass Autos von Sapor Modelltechnik auf internationalen Auktionen hohe Preise erzielt hatten, manche mehr als 30 000 Dollar. Ponton forderte die Haderthauers auf, ihm die Bücher zu zeigen, die Gewinne, ihm seinen Anteil am Verkaufspreis zu zahlen. Die Haderthauers feilschten, boten Ratenzahlung an, Ponton gab sich mit 20 000 Euro für seinen Anteil zufrieden. Doch bald danach kamen ihm Zweifel, dass man ihm die korrekten Zahlen gezeigt hatte. Zweifel genug für eine 194-Seiten-Strafanzeige. Plus Nachschlag von sechs Seiten, in denen er den Haderthauers heute vorwirft, ihn jahrelang nicht an den laufenden Einnahmen beteiligt zu haben. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung vermuten die Ermittler, dass Pontons Sapor-Anteil tatsächlich mehr als die gezahlten 20 000 Euro wert war, wohl eher 53 000 Euro. Eine Frage von Kosten und Einnahmen. Der Verdacht: Die wahren Kosten der Firma könnten niedriger, ihre wahren Einnahmen höher gewesen sein, als aus den Papieren für die Abfindungsgespräche hervorging. So tauchen etwa Kosten für Reisen nach Frankreich und in die Türkei auf, bei denen nicht klar ist, ob sie wirklich dem Unternehmen dienten. Christine Haderthauer sagt, dass ihre Tochter mit ihrem Mann geflogen sei, um Modelle sicher zu transportieren. Verdächtig sind auch zwei Überweisungen von Sapor Modelltechnik, die noch 2008 auf Christine Haderthauers Konto flossen, angeblich für Arbeiten einer PRBeraterin. Die soll Pressearbeit für Sapor Modelltechnik gemacht haben. Angeblich hatte Haderthauer das Geld nur versehentlich vom eigenen Konto bezahlt und holte es sich deshalb von Sapor zurück. Die PR-Frau ist eine Haderthauer-Mitarbeiterin, ihre Stimmkreisreferentin. Wurden mit den 5500 Euro also wirklich Leistungen für Sapor bezahlt – oder hat die Beraterin für Arbeiten kassiert, die mit der Selbstdarstellung der Ministerin zu tun hatten? Die bestreitet das. Mit der PR-Beratung sei alles völlig korrekt gelaufen. So wie überhaupt „aus dem gesamten Sachverhalt in keinerlei Hinsicht etwas Kritikwürdiges abzuleiten“ sei, wie sie schon vor einem Jahr beteuerte. Kein Fehler, niemals, nirgendwo. In der Krisensitzung legte sie jetzt ein Schreiben ihres Anwalts vor und behauptete, sie könne alle Vorwürfe entkräften. Restlos. Das kann so sein, es gilt die Unschuldsvermutung. Aber wenn die Vergangenheit eines zeigt, dann, dass ihre Erklärungen zur Affäre selten alles entkräften konnten. Sondern meist neue Fragen aufwarfen. Für Christine Haderthauer könnte dabei noch heikel werden, dass die Übertragung ihrer Anteile auf ihren Mann im Jahr 2003 vermutlich ungültig war. 2011 hat ihr Anwalt geschrieben: „Da die Übertragung unter Eheleuten erfolgt ist, wurden hierüber offenbar keine Urkunden gefertigt.“ Keine Urkunden. Stattdessen mündliche Übertragung von Firmenanteilen. So etwas sieht das Handelsregister nicht vor. In diesem Fall wäre sie also noch weit länger Gesellschafterin von Sapor geblieben – und mitverantwortlich für die Firmengeschäfte. Aber wäre es so verwunderlich, wenn die Staatsministerin in diesem Fall, ihrem Fall, hart am Rand, tief in der Grauzone, auch die mündliche Übertragung noch zu einem völlig korrekten Verfahren erklären würde? Jürgen Dahlkamp, Conny Neumann FOTO: SVEN HOPPE / DPA Deutschland ursprünglich geplant Wurm drin 720 Mio. € 1044 Mio. € zuletzt Infrastruktur Ein interner Regierungsbericht offenbart die Kostenexplosionen auf Baustellen des Bundes. Schuld ist auch der Personalabbau der letzten Jahre. E ines der größten Bauvorhaben der Bundesregierung liegt im Greifswalder Bodden, einem Brutgebiet für Seevögel im Flachwasser vor Rügen. Auf der Ostseeinsel Riems entsteht der neue Hauptsitz des bundeseigenen FriedrichLöffler-Instituts, ein Hochsicherheitstrakt zur Erforschung von Tierseuchen und Viren wie Ebola oder der Vogelgrippe. Für die Allgemeinheit ist die kleine Insel gesperrt, eine Ausnahme gab es aber im vorigen August für Angela Merkel. Es war Bundestagswahlkampf, und Riems gehört zu ihrem Wahlkreis. Die Kanzlerin weihte öffentlichkeitswirksam das erste von 89 Laboren ein, lobte „eine der modernsten Forschungsstätten“ und die wissenschaftliche Arbeit auf „allerhöchstem Niveau“. Die Kostensteigerungen verschwieg Merkel indes lieber. 340 Millionen Euro muss der Bund am Ende für den Gebäude-komplex zahlen, ursprünglich waren 150 Millionen Euro angesetzt. Siebenmal musste der Bundestag bereits Geld nachschießen. Wieder einmal kommt es anders als gedacht. Dass die öffentliche Hand bei Großprojekten scheitert, haben Bauvorhaben wie der Berliner Flughafen BER oder Stuttgart 21 (siehe Seite 31) bereits eindrucksvoll belegt – obwohl der Bund lieber von Einzelfällen spricht. „Wir haben sehr positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen Architekten und dem Bund als Bauherrn“, sagte Bau-Staatssekretär Florian Pronold (SPD) noch am vorigen Montag in der ZDF-Sendung „Wiso“: „Ich würde auch sagen, dass 90 bis 95 Prozent der Projekte im Großen und Ganzen ohne irgendein Problem ablaufen.“ Nur einen Tag später unterzeichnete seine Ministerin Barbara Hendricks (SPD) ein internes Schreiben an den Bauausschuss des Bundestags, aus dem etwas ganz anderes hervorgeht: 40 Baustellen des Bundes zählt die SPD-Frau darin auf, nur 14 davon bleiben nach aktuellem Stand im Rahmen der ursprünglichen Planung. Alle anderen werden oft mit jahrelanger Verspätung fertig und produzieren insgesamt Mehrkosten von bis zu einer Milliarde Euro, wie aus dem Bericht hervorgeht. Selten gibt es einen so unverstellten Einblick in das systematische Versagen des Bundes: Hendricks’ Liste offenbart erst- Neubau des Bundesnachrichtendienstes Berlin mals das Ausmaß des Schadens. So gibt es Preissteigerungen auch bei Baustellen, von denen selten die Rede ist, beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe etwa, dessen Sanierung um 18,8 Prozent teurer wird als geplant. Oder beim Bildungsministerium in Bonn (plus 29 Prozent), beim Bundesarchiv in Berlin (plus 46 Prozent) oder bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz in Dortmund (plus 80,7 Prozent). Die Baubehörden des Bundes laufen immer wieder in die gleiche Falle: Um die Projekte durch den Bundestag zu bekommen, wird der Preis erst nach unten geschraubt. Nach Baubeginn stellt sich bald heraus, dass die Vorgaben nicht mehr zu halten sind. Zudem kommen oftmals Baufirmen mit dem günstigsten Angebot zum Zug, die ihre Leistung hinterher nicht verlässlich erbringen können. Die Folge: Streitereien, Insolvenzen, Klagen. Ministerin Hendricks räumt Probleme offen ein. „Bei einzelnen Bauverwaltungen tragen strukturelle Defizite und ein zu weit gehender Personalabbau inzwischen zu einer teilweise unzureichenden Aufgabenwahrnehmung bei“, heißt es in ihrem Schreiben an die Parlamentarier. Die Hauptstadt ist weiterhin das Zentrum der Bundesbaustellen. Im Regierungsviertel werkeln Arbeiter an jeder Ecke an neuen Bürogebäuden. Nur selten kann Hendricks, die als Umweltministerin die Zuständigkeit fürs Bauen erst im vorigen Dezember vom Verkehrsressort übernommen hat, Erfolge vermelden. Das Innenministerium in der Nähe des Hauptbahnhofs zum Beispiel wird demnächst fertig und soll die veranschlagten Kosten in Höhe von 208 Millionen Euro sogar leicht unterbieten. Ganz anders sieht es hingegen beim Bundesnachrichtendienst (BND) aus, dessen neue Zentrale nach jüngstem Stand 1,04 Milliarden Euro verschlingt – rund 45 Prozent mehr als vorgesehen. Der Komplex an der Chausseestraße sieht von außen zwar schon so gut wie fertig aus, doch Hendricks warnt vor zusätzlichen Problemen. „Weitere besondere Kostenrisiken“ bestünden jetzt schon, heißt es in ihrem Papier. „Kündigungen und Insolvenzen, ungenügende Planungsleistungen Dritter“ und „verbleibende Prozessrisiken“ machen demnach dem Bund zu schaffen. Statt 2012 zieht der BND frühestens 2016 ein. Auch die Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden macht Stress. Das Gebäude aus der Kaiserzeit ist schon so lange eingerüstet, dass sich viele Passanten kaum noch an die schöne Fassade erinnern können. Die Sanierung soll über 440 Millionen Euro verschlingen – ursprünglich waren 116 Millionen Euro weniger angesetzt. Seit DER SPIEGEL 32 / 2014 29 ursprünglich geplant ursprünglich geplant ursprünglich geplant 150 Mio. € 340 Mio. € 40 Mio. € 66 Mio. € 326 Mio. € 442 Mio. € Ausbau für das Friedrich-Löffler-Institut Deutsche Botschaft Washington Sanierung der Kanzlei 2004 wird renoviert, eigentlich sollte Ende 2012 alles fertig sein. Nun warnt das Ministerium vor „weiteren Kostenrisiken“ sowie „erkennbaren weiteren Terminrisiken“ und stellt eine Eröffnung im Sommer 2016 in Aussicht. So folgt bei den Baustellen des Bundes eine Kostensteigerung der nächsten. Überzeugende Erklärungen dafür liefert der Bauherr allerdings nicht immer. Das Robert-Koch-Institut zum Beispiel, das Krankheiten in der Bevölkerung erforscht, be- übernehmen, immer wieder ducken sich Beamte weg.“ Früher, als das Amt noch Bundesbaudirektion hieß, trafen die Regierungsleute alle wichtigen Entscheidungen selbst. Heute werden zahlreiche Aufgaben an externe Dienstleister ausgelagert: Projektsteuerer, Bauplaner, Kontrolleure. Manche von ihnen verteilen die Aufträge an Subunternehmer weiter. Schnell verliert der Bund, der sich nur noch selten auf den Baustellen blicken lässt, die Übersicht. „Es wäre klüger, wenn die Bauverwaltung von Anfang an die Risiken klar benennen und kalkulieren würde.“ kommt in der Nähe des Berliner VirchowKlinikums ein neues Zuhause. Ursprünglich hatte der Bundestag etwa 100 Millionen Euro für den ersten Bauabschnitt freigegeben. Drei Nachträge später sind es 170 Millionen Euro. Als Ursachen nennt das Ministerium unter anderem lapidar die „Komplexität des Projekts“ sowie „Auflagen der Genehmigungsbehörden“. Die Errichtung der Labore, Schleusensysteme und Chemikalienduschen ist sicherlich schwierig. Doch war das alles nicht schon vorher bekannt? Und muss der Bau gleich um rund 60 Prozent teurer werden? „Es ist der Wurm drin“, sagt Florian Mausbach. Er war bis zu seiner Pensionierung 2009 jahrelang Präsident des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung (BBR), das für die großen Bauvorhaben des Bundes zuständig ist: „Es wäre klüger, wenn das BBR von Anfang an die Risiken klar benennen und kalkulieren würde. Das Geld muss ja gar nicht komplett ausgegeben werden. Es reicht, wenn der Finanzminister die Mittel sperrt und nur für den Notfall freigibt, falls die Probleme auftreten.“ Architekten, die für den Bund bauen, verzweifeln an ihrem Auftraggeber. Das BBR, sagt einer von ihnen, sei eine kafkaeske Behörde: „Keiner will Verantwortung 30 DER SPIEGEL 32 / 2014 Kommt es dann zum Streit über Nachtragsforderungen, drohen langwierige Prozesse, in denen weitere Gutachter und Sachverständige ihre Expertise vorlegen. All das kostet Geld, Zeit und Nerven. Die Opposition kritisiert die Zustände auf den Baustellen des Bundes: „Es nützt am Ende nichts, wenn die öffentliche Hand Personalstellen einspart, aber wegen schlechter Planung und Kontrolle bei Bauprojekten regelmäßig Millionen und Milliarden an Steuergeldern verschwendet“, sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Lisa Paus. Die Folgen lassen sich nicht nur in Deutschland beobachten. Auch bei der Sanierung deutscher Einrichtungen im Ausland werden die Kosten- und Zeitpläne häufig gesprengt. Im Juni 1994 bewilligte der Haushaltsausschuss des Bundestags 3 Millionen Mark (1,4 Millionen Euro) für eine „Pinselsanierung“ des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom. Das „Germanico“ ist eine der ältesten deutschen Forschungseinrichtungen im Ausland, 1829 hatte es ein Freundeskreis aus preußischen Diplomaten und Gelehrten als „Institut für die archäologische Korrespondenz“ gegründet. Zuletzt war das Institut in einem Stahlbetonbau aus den 1960er-Jahren in der zuletzt DPA P I CTUR E-A LLI A N CE / EURO LUF TBI LD. DE/RO BERT G RA H N Insel Riems (bei Greifswald) zuletzt ST E FA N SAU E R / D PA , RO N SAC H S / C N P / P O L A R I S zuletzt Staatsbibliothek Unter den Linden Berlin Nähe der Villa Borghese untergebracht. Doch nicht nur die Fassade war sanierungsbedürftig, wie sich bald herausstellte. Das ganze Gebäude erwies sich nach Untersuchungen als baufällig. 2006 wurde das Institut, das die weltweit umfassendste Bibliothek für Archäologie beherbergt, für Besucher geschlossen. Seit dem Frühjahr 2008 dürfen nicht einmal mehr die Institutsmitarbeiter das Gebäude betreten. Auf der Baustelle passierte trotzdem jahrelang gar nichts. Im Februar 2015 soll nun mit der Generalsanierung begonnen werden. Wenn alles gut geht, sind die Bauarbeiten im Mai 2017 abgeschlossen – 23 Jahre nach Bewilligung der ersten Mittel. Überhaupt ist das Ausland für die Ingenieure der Bundesbauverwaltung ein schwieriges Terrain. In Washington sind die Kosten für die Renovierung der deutschen Botschaft, die einst von dem renommierten Architekten Egon Eiermann entworfen wurde, auf über 65 Millionen Euro gestiegen. In Peking hatte der Bund Probleme, einen Generalunternehmer zu finden, der die Botschaft umbaut. Der Grund: In der chinesischen Hauptstadt ist es üblich, dass alte Gebäude einfach abgerissen werden und dass neu gebaut wird. Sanierungen sind dort wohl noch kein Geschäftsmodell. Besonders ärgerlich für Hendricks und ihre Kabinettskollegen ist unterdessen die Lage am künftigen Berliner Großflughafen. Während das neue Terminalgebäude BER immerhin von außen einigermaßen betriebsbereit wirkt, ist für ein repräsentatives Regierungsterminal gleich nebenan bislang nicht mal ein Grundstein gelegt. Trotzdem wurden für „Planung und erste Bauarbeiten des ,Regierungsflughafens‘“, so das Papier, bereits Aufträge in Höhe von 50 Millionen Euro vergeben. Sven Becker, Andreas Wassermann Deutschland „Gefährliche Defizite“ Der Brandschutz erweist sich bei Stuttgart 21 als Achillesferse des Milliardenprojekts. FOTOS: KS (2) G enau 20 Jahre ist es her, dass die Bahn das wohl ambitionierteste Neubauprojekt ihrer Geschichte vorstellte: den Tiefbahnhof Stuttgart 21. Im Januar 2012 wurde der Südflügel des alten Kopfbahnhofs abgerissen. Und an diesem Dienstag werden die Bagger auf der umstrittenen Großbaustelle tief ins Erdreich streben, dorthin, wo in Zukunft der gesamte Zugverkehr fließen soll. Dann starten die Arbeiten für den ersten Teil des 7,2 Hektar großen Bahnhofstrogs, in dem sich Gleise und Bahnsteige ausbreiten sollen. Doch während die Tiefbauer mit schwerem Gerät Fakten schaffen, fehlt eine wichtige Voraussetzung für die spätere Inbetriebnahme: das Brandschutzkonzept. Noch im Juni hatte die Bahn erklärt, man sei „zuversichtlich, die erforderlichen brandschutzrechtlichen Genehmigungen zum Beginn der Baumaßnahmen am Bahnhofstrog im Sommer“ zu erhalten. Davon ist nicht mehr die Rede. Laut Bahn wäre es ausreichend, wenn das gesamte Sicherheitskonzept zu Brandschutz, Tunnelsicherung und Entrauchung „bis Mitte 2015“ vorliegt. Der Brandschutz erweist sich damit als Achillesferse des milliardenteuren Bahnhofs. Kritiker sehen schon Parallelen zum Berliner Flughafen BER. Architektonisch anspruchsvolle Verkehrsbauten wie der Tiefbahnhof S 21 mit seinen markanten Glasaugen und acht unterirdischen Gleisen stellen die Brandschutzplaner vor besondere Herausforderungen. Entrauchungskanäle sollen möglichst unsichtbar sein, um die Bau-Ästhetik nicht zu stören. Ausreichende Fluchtmöglichkeiten müssen bereits im Rohbau angelegt sein. Hinzu kommt, dass sich seit dem Planungsbeginn die Brandschutzbestimmungen geändert haben. Erst 2010 hatte das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) seine Richtlinien für den Brandschutz an Bahnhöfen erneut überarbeitet und verschärft. Die alten Planungen für S 21 waren damit hinfällig. Das ganzheitliche Brandschutzkonzept für die unterirdische Bahnhofshalle erstellt das Frankfurter Planungsbüro Klingsch. Im Auftrag der Bahn überprüfte die Schweizer Gruner AG allerdings die Evakuierungspläne – und klassifi- zierte das Konzept als „derzeit nicht genehmigungsfähig“. Wolfram Klingsch, Chef des Ingenieurbüros, bezeichnet das Gruner-Gutachten als „totalen Unsinn“. Die für ihn maßgebliche Behörde sei das EBA: „Und mit dem stehen wir seit Frühjahr 2013 in gutem Austausch.“ Allerdings liegen auch beim Eisenbahn-Bundesamt noch nicht alle Dokumente vor. „Die Bahn“, so eine EBASprecherin, sei „derzeit dabei, die Planunterlagen noch in Detailfragen zu ergänzen“. Die Stuttgarter Feuerwehr, die Entwürfe zu Stuttgart 21 „Technisch-wissenschaftlicher Betrugsfall“ das Brandschutzkonzept absegnen und im Notfall Brände vor Ort löschen muss, ist bislang skeptisch. Die 2013 erstmals vorgelegten Papiere riefen bei den zuständigen Behörden Entsetzen hervor. „Wir können im Ernstfall nicht 45 Minuten lang auf Wasser warten, das ist mit Sicherheit nicht vertretbar“, erklärte Branddirektor Frank Knödler damals mit Blick auf die Wasserversorgung im Fildertunnel. Die Experten der Feuerwehr bemängelten zudem zu enge Treppenaufgänge und sahen Nachbesserungsbedarf bei Brandmeldeanlagen, der Entrauchung sowie der Evakuierung der Bahnhofshalle. Insgesamt, erklärte Feuerwehrchef Knödler, seien beim Brandschutz für Stuttgart 21 „noch einige kardinale Fragen offen“. Inzwischen liegt ein überarbeitetes Konzept vor, mit dem die Branddirektion aber immer noch nicht zufrieden ist. So stuft sie die Länge der Fluchtwege nach wie vor als kritisch ein – und auch bei der Anzahl der zu evakuierenden Personen sieht man Probleme. S 21 musste leistungsfähiger sein als der alte Kopfbahnhof – mithin mehr Züge und mehr Menschen durch den Verkehrsknotenpunkt schicken. Das erschwert nun ein praktikables Brandschutzkonzept. Es ist eben ein Unterschied, ob 4000 oder 6000 Menschen pro Bahnsteig zu retten sind. Die Bahnhofsgegner wittern neue Chancen. „Besonders bei der Evakuierung der Bahnhofshalle sehen wir gefährliche Defizite“, erklärt Christoph Engelhardt. Der promovierte Physiker wurde durch die Schlichtung zu einem Gegner des Tiefbahnhofs. Engelhardt und seine Mitstreiter haben in aufwendigen Simulationen die Brandsituation im neuen Tiefbahnhof nachgestellt. Nach ihren Berechnungen müssten die Fluchtwege für bis zu 6000 Personen pro Bahnsteig ausgelegt sein. Bei den Szenarien rechneten sie mit jenem Zugaufkommen, das die Bahn selbst angab, um im Stresstest die Leistungsfähigkeit von S 21 zu untermauern. Laut einem Protokoll des Stuttgarter Gemeinderats gehen die Bahn-Planer hingegen von maximal 6500 Fahrgästen auf allen vier Bahnsteigen aus. „Der Tiefbahnhof könnte für viele Menschen zur Todesfalle werden“, befürchtet Engelhardt. Im Planfeststellungsverfahren von 2005 ist noch von insgesamt 16 000 zu evakuierenden Personen die Rede, bei deutlich geringerem Zugverkehr. Die Bahn hält ihre Berechnungen für realistisch und erklärt, sie habe „noch nie einen Bahnhof in Betrieb genommen, der nicht den strengen deutschen Anforderungen an den Brandschutz genügt – und wird dies auch nicht tun“. Bahn-Kritiker Engelhardt bezweifelt das. Für ihn ist Stuttgart 21 „der größte technisch-wissenschaftliche Betrugsfall der deutschen Industriegeschichte“. Simone Salden, Andreas Wassermann DER SPIEGEL 32 / 2014 31 „Was gedacht werden kann, wird auch gemacht“ nikation ist weitgehend nicht verschlüsselt. Wir halten das für eine elementare Lücke. Regierungsmitglieder oder Abgeordnete ebenso wie hochrangige Wirtschaftsvertreter sollten ein Smartphone nicht sowohl dienstlich als auch privat nutzen. Aber wir hatten schon einen Fall in der Bundesverwaltung, wo jemand interne SPIEGEL: Herr Hange, vergeben Sie schon Mails auf sein privates E-Mail-Konto weiWartenummern an Bundestagsabgeord- tergeleitet hat, was prompt zu einem Annete, die ihre Handys auf Spähprogramme griff führte. Sorglosigkeit ist ein weit veruntersuchen lassen wollen? breitetes Phänomen in der digitalen Welt. Hange: Die Abgeordneten wenden sich SPIEGEL: Geht im Regierungsgeschäft Bederzeit verstärkt an uns, das stimmt. Ob quemlichkeit vor Sicherheit? sie ihr Smartphone auch wirklich abgeben, Hange: Bei Kryptogeräten brauchen Sie wenn wir ihnen mitteilen, dass es dann je zwei Tastendrucke mehr, um zu telefonach Prüftiefe bis zu vier Wochen unter- nieren, das ist manchen zu umständlich. Deswegen arbeiten wir intensiv an der sucht wird, ist eine andere Frage. SPIEGEL: Ist die Beunruhigung der Parlamen- Bedienungsfreundlichkeit dieser Geräte. tarier berechtigt? SPIEGEL: Die Düsseldorfer Firma SecuHange: Die Aufmerksamkeit für das The- smart, die das angeblich abhörsichere ma IT-Sicherheit ist größer geworden, „Merkelphone“ entwickelt hat, soll vereben auch bei Parlamentariern. Und die kauft werden. Käufer soll ausgerechnet gleichzeitige Nutzung eines Smartphones das kanadische Unternehmen BlackBerry für dienstliche und private Zwecke, wie sein, dessen Produkte offenbar vom USsie häufig praktiziert wird, ist in der Tat Geheimdienst NSA geknackt wurden. Ist mit Risiken behaftet. das nicht fahrlässig? SPIEGEL: Welche Erkenntnisse über Spio- Hange: Aufgrund der vertraglichen Situation nage haben Sie denn in den vergangenen zwischen dem Bund und dem Unternehzwölf Monaten gewonnen? men sind konkrete Auswirkungen auf die Hange: Einige. So geben zum Beispiel die aktuelle Ausstattung der Bundesverwaltung Snowden-Unterlagen Einblicke, was mög- mit Secusmart-Produkten nicht zu erwarlich ist. Wir haben das Regierungsnetz ten. Darüber hinaus werden wir die langnochmals überprüft und nichts gefunden. fristigen Auswirkungen des Verkaufs auf Aber wir müssen am Ball bleiben, um einen die Sicherheitseigenschaften der betroffemöglichst hohen Schutz zu gewährleisten. nen Produkte sehr genau untersuchen. Die SPIEGEL: Den Snowden-Unterlagen zufolge Bundesregierung prüft im Moment ja auch sollen die Amerikaner mit großem Auf- noch rechtliche Möglichkeiten. wand das Regierungsviertel überwacht SPIEGEL: Hat Sie, technisch gesehen, etwas an den Snowden-Enthüllungen überrascht? haben. Hange: Sogenannte passive Angriffe ha- Hange: Wir wussten immer, dass die NSA ben für den Angreifer den Charme, dass enorme Fähigkeiten bei der strategischen sie keine Spuren hinterlassen. Erfassung von Daten hat. Trojaner auf Computern Digitale Kriminalität Aber wir waren schon verkönnen Sie vielleicht noch Erfasste Straftaten, blüfft, als wir in einem der feststellen, aber wenn ein bei denen Computer veröffentlichten Dokumente Geheimdienst das Funksignal Mittel oder Ziel waren gelesen haben, das Ziel für die eines Handys abfängt und kommenden Jahre sei, „any2013 mithört, bekommen Sie das one, anywhere, anytime“ zu 64 426 nicht mit. erfassen. Die NSA gibt hohe SPIEGEL: Was haben Sie unter- 2008 Summen aus und betreibt einommen, um passive Angriffe 37900 nen erheblichen Aufwand, zu erschweren? um auf vertrauliche Daten zuHange: Wir schlagen Kryptozugreifen. Das hat auch Exgrafie vor, also konsequente perten überrascht. +70 % SPIEGEL: Das BSI ist 1991 aus Verschlüsselung. Das ist nicht der Zentralstelle für das Chifimmer einfach umzusetzen. frierwesen des Bundesnach95 Prozent der E-Mails sind ofQuelle: BKA richtendienstes hervorgeganfen, auch die mobile KommuHange, 64, ist Mathematiker, seit 2009 Präsident des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) – und seit Beginn der NSA-Affäre gefragt wie nie. 32 DER SPIEGEL 32 / 2014 gen. Die NSA bezeichnet Ihre Behörde zudem als „Schlüsselpartner“. Kann sich der Bürger überhaupt sicher sein, dass Sie seine Daten nicht an die NSA weitergeben? Hange: Ja, da kann der Bürger ganz beruhigt sein. Wir spionieren und sabotieren nicht. Seit seiner Gründung hat das BSI einen eindeutig präventiven Auftrag, das bedeutet, dass wir der Bundesregierung, der Wirtschaft und den Bürgern helfen, sich gegen Cyberangriffe zu schützen. Entsprechend ist die Zusammenarbeit mit den für Prävention zuständigen Teilen der NSA und des britischen Nachrichtendienstes GCHQ. Die Kooperation erfolgt im Rahmen der Nato und beschränkt sich auf unseren gesetzlichen Auftrag. Wir tauschen keine Kenntnisse über Schwachstellen mit den Amerikanern oder Briten aus. SPIEGEL: Tauschen Sie Daten mit der NSA aus? Hange: Keine Überwachungsdaten. Aber wir tauschen uns mit der NSA zu den verschiedensten Themen der Prävention aus. Da muss man sich auf Standards verständigen. SPIEGEL: Sie registrieren fünf bis zehn maßgeschneiderte Angriffe pro Tag auf das Regierungsnetz. Stecken dahinter Geheimdienste? Hange: Manche Angriffe sind technisch gesehen so hochwertig, dass vieles dafürspricht. SPIEGEL: Welche Ministerien sind die Hauptziele von Cyberattacken? Hange: Das Auswärtige Amt steht, weil es weltweit aufgestellt ist, stark im Fokus von Cyberangreifern. Außerdem das Finanzministerium, was einen vielleicht nicht wundert. SPIEGEL: Und was für lupenreine Wirtschaftsspionage spricht. Hange: Das zu interpretieren ist Aufgabe des Bundesamts für Verfassungsschutz. SPIEGEL: Verzeichnen Sie auch Sabotageversuche? Hange: Das größere Problem ist zurzeit die Cyberspionage. Der Vorteil ist, dass wir das Regierungsnetz mit dem Umzug von Bonn nach Berlin ganz neu konzipieren konnten. Das heißt, wir haben nicht wie andere Staaten Hunderte oder Tausende Zugänge ins Regierungsnetz, sondern nur zwei. Um einen bildlichen Vergleich zu gebrauchen: Bei uns ist es eher wie bei den Thermopylen, wir wissen, wo die Perser durchmüssen, und können uns entsprechend aufstellen. FOTO: GETTY IMAGES Cyberkriminalität Michael Hange, Deutschlands oberster Sicherheitschef für Informationstechnik, über Angriffe auf Ministerien, den Sinn von Kryptohandys und den Hase-und-Igel-Wettlauf im Netz Deutschland FOTO: HENNING SCHACHT Handynutzer Steinmeier, Gabriel, Merkel: „Sorglosigkeit ist ein weit verbreitetes Phänomen“ SPIEGEL: Und Sie sind auch sicher, dass die Zahl Ihrer Spartaner ausreicht? Hange: Zugegeben, mit historischen Vergleichen ist es so eine Sache. Wir stochern jedenfalls nicht im Nebel, was Angriffe auf das Regierungsnetz betrifft. Nur: Rund 20 Prozent der kritischen Infrastruktur in Deutschland befinden sich in staatlicher Hand; das meiste ist privat, etwa Telekommunikation und Energie. Und was da passiert, erfahren wir nur punktuell. Wir kriegen über die Allianz für Cybersicherheit zwar mit, dass die Wirtschaft immer häufiger Opfer von schlagkräftigen kriminellen Organisationen ist – manche dieser Angriffe könnten aufgrund der technischen Qualität auch auf die Handschrift staatlicher Organisationen fremder Länder Rückschlüsse zulassen. Aber die Dunkelziffer ist enorm hoch. SPIEGEL: Weil die Unternehmen lieber Millionen zahlen, als Angriffe zu melden? Hange: Der Verlust von Vertrauenswürdigkeit ist für jedes Unternehmen fatal. Und man muss bedenken, dass die Unternehmen zweimal Opfer sind: einmal durch den Angriff selbst und zum anderen durch den Imageschaden. Aber allen, auch dem einzelnen Bürger, muss klar sein: Heute stehen alle im Fokus der Cyberangriffe. Daher ist es wesentlich, dass an einer vertrauenswürdigen Stelle wie dem BSI Informationen darüber zusammenfließen, welche Angriffsmethoden und -werkzeuge wo zum Einsatz kommen. Und da ist eine anonyme Meldung allemal besser als gar keine Meldung. SPIEGEL: Wie man an den beiden jüngsten Fällen von millionenfachem Identitätsdiebstahl im Netz sehen kann, werden auch normale Bürger massenhaft Opfer von Cyberattacken. Reicht es aus, an die Menschen nur zu appellieren, dass sie sich besser schützen sollen? Hange: Ich bin der Auffassung, dass auch die Onlineanbieter wesentlich mehr machen müssten als bisher. Sie sollten wenigstens standardisiert Verschlüsselung sowie bessere Authentisierungsmöglichkeiten anbieten und zudem transparent machen, wo sie ihre Daten speichern. SPIEGEL: Ihr Schwerpunkt sind Cyberangriffe gegen das deutsche Netz und gegen deutsche Firmen. Beobachten Sie auch Angriffe von Deutschland aus? Hange: Deutschland ist als Land mit vielen Hosting-Providern natürlich auch eine Relaisstation. Nehmen Sie den Fall des Angriffs auf die Wall-Street-Banken. Da haben wir festgestellt, dass viele kommerziell betriebene Server in Deutschland fremdgesteuert an diesem Angriff beteiligt waren. Wir haben die ServerBetreiber gewarnt, und es war interessant zu beobachten, dass ein Drittel sofort reagierte, ein Drittel gar nicht, und das restliche Drittel sagte, wir haben unsere Server vermietet und auf sie keinen Einfluss. Das ist auf Dauer nicht zu akzeptieren. Ob vermietet oder nicht: Wir müssen in solchen Fällen von den Betreibern erwarten können, dass sie reagieren. SPIEGEL: Worin sehen Sie momentan die größte Gefahr beim Thema Cyberkriminalität? Hange: Es hat sich ein internationaler Kriminalitätszweig entwickelt, der sehr viel Geld damit verdient. Und das Problem ist, dass die Qualität der Angriffe immer weiter steigt und dass die Angreifer zurzeit in einer überlegenen Position sind, auf die weitgehend nur reagiert werden kann. Die zunehmende Vernetzung der Systeme untereinander bietet künftig noch mehr Angriffspunkte. SPIEGEL: Chinesische Studenten sind kürzlich in die Software eines Tesla-Autos eingedrungen. Müssen wir in naher Zukunft mit dem perfekten Mord per Fernsteuerung rechnen? Hange: Wir müssen uns darauf einstellen, dass alles, was gedacht werden kann, irgendwann auch gemacht wird. Wir können dagegen keinen umfassenden Schutz bieten. Aber wir sollten uns schon überlegen, wie wir die Sache für den Angreifer so aufwendig und kostspielig machen, dass es sich einfach nicht mehr rentiert. Bei der Entwicklung neuer Technologien müssen Fragen der IT-Sicherheit von Anfang an mitgedacht werden. SPIEGEL: Sie sind seit fast 40 Jahren im Geschäft, seit vergangenem Sommer hört man Ihnen endlich aufmerksamer zu. Sind Sie Edward Snowden dankbar dafür? Hange: Früher galten wir mit unseren Warnungen zuweilen als leicht paranoid. Das hat sich in der Tat geändert. Aber wir sitzen hier nicht und sagen: Die NSA-Affäre war ein Glücksfall für uns. Ich verfolge auch nicht das Ziel, dass wir eine 5000-Mann-Behörde werden und sagen: Wir retten die Republik. Interview: Sven Becker, Jörg Schindler DER SPIEGEL 32 / 2014 33 Karrieren Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Hofreiter ist bisher in erster Linie durch seine Frisur aufgefallen. Er gilt als führungsschwach. Doch Hofreiter will vor allem eines: sich nicht verbiegen lassen. Von Nicola Abé 34 DER SPIEGEL 32 / 2014 A FOTO: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL Der edle Wilde nton Hofreiter fräst sich durchs Gestrüpp. Zweige peitschen ihm ins Gesicht, es riecht nach Moos. „Wildnisähnliche Zustände“, ruft Hofreiter. Er führt eine Gruppe bayerischer Grüner an der renaturierten Isar entlang, immer tiefer in den Wald. „Jeder kommt ans Ziel“, sagt er und schiebt einen Ast beiseite, „man muss nur langsam genug gehen.“ Auf einer Lichtung bleibt er stehen. „Schauts alle mal her: Schachtelhalm.“ Ein paar Barfüßige scharen sich um ihn. Hofreiter rupft ein filigranes Gewächs aus dem Boden und hält es in die Höhe. „Ein lebendes Fossil.“ Aus der Zeit der Dinosaurier habe der Schachtelhalm sich bis in die Gegenwart hinübergerettet, trotz der Eroberung der Welt durch die Blütenpflanzen vor 120 Millionen Jahren. „Der Schachtelhalm ist extrem robust“, sagt Hofreiter. Er sieht glücklich aus. An der Isar muss Hofreiter, Chef der Grünen im Bundestag, nicht in erster Linie Politiker sein. Hier ist der promovierte Biologe auch Wissenschaftler. Das hat den Vorteil, dass er nicht in Monaten, sondern in Jahrmillionen rechnen kann. Aus der Perspektive des Schachtelhalms ist die Zeitspanne, die seit seinem Antritt als Fraktionsvorsitzender vergangen ist, ein Witz. So gesehen ist es auch eine Kleinigkeit, dass kaum einer noch weiß, wofür die Grünen jenseits von Helmpflicht für Fahrradfahrer und Freilandhaltung für Hühner noch stehen. So gesehen wäre die Schwäche seiner Partei ähnlich zu werten wie die Tatsache, dass trotz der Erderwärmung in manchen Jahren die Temperatur sinkt. „Ein kleines Zittern in der Grundkurve“ nennt Hofreiter das. Er selbst wäre dann so ein unverwüstlicher Schachtelhalm. Die Grundkurve, seine und die der Partei, zeigt nach oben. So jedenfalls denkt er an guten Tagen. Hofreiter ist seit Oktober vergangenen Jahres Chef der Grünen im Bundestag. Knapp ein Jahr später kennen viele Deutsche bestenfalls seine Frisur. Mit politischen Inhalten ist er weniger aufgefallen. Die Grünen haben einen Jungen an ihre Spitze gewählt, der zugleich an ihre Vorzeit anknüpft. An jene Zeit, als man so Anti-Establishment war, dass man sich weigerte, Krawatten zu tragen. Hofreiter ist die Reinkarnation urgrüner Tugenden: ein echter Linker, naturverbunden, das Herz am rechten Fleck – eine Art edler Wilder des Berliner Politikbetriebs. Am Ende eines seiner weniger guten Tage sitzt der neue Vorsitzende im Bordrestaurant eines ICE von Hamburg nach Berlin. Sein Anzug ist verknittert. Am Hamburger Bahnhof hat man ihn gefragt, ob er der Typ von der FDP sei. Die Grünen, heißt es in der Presse, seien als Opposition zu harmlos. Ihr Fraktionsvorsitzender sei führungsschwach. Außerdem FOTOS: STEFAN BONESS / VISUM Deutschland hat Hofreiter seinen ersten Skandal: Ge- tik so an den Tag legen. Er findet, es müsse rade ist öffentlich geworden, dass er jahre- auch anders gehen. Konstruktive Opposilang keine Steuern für seine Zweitwoh- tion. Differenzierung. Die Regierung nur nung bezahlt hat. Er hat sich für sein Ver- angreifen, wenn es um Inhalte geht, nicht säumnis entschuldigt. Aber er weiß nicht, um den bloßen Effekt. Die FDP, glaubt was passieren wird. Draußen gleitet blau- Hofreiter, habe ihre Selbstvernichtung durch ihre extremen Auftritte in der Opschwarz eine Sommernacht vorbei. „Morgen keine Scheißpolitik“, sagt Hof- position angelegt. Bei den Grünen ist Hofreiter mit seiner reiter. Es ist einer dieser Momente, in denen er sich von Deutschland nicht verstan- Art vorangekommen. Zunächst in Bayern, den fühlt und dieses Land nicht versteht. ab 2005 im Bundestag. Als verkehrspolitiWieso jubelt es über das Wirtschaftswachs- scher Sprecher und als Flügelkoordinator tum, wenn gleichzeitig Umwelt und der Fraktion schmiedete er Allianzen. SeiHumankapital ausgebeutet werden? Wieso ne Wahl zum Fraktionsvorsitzenden war regt sich kaum jemand über eine Regie- lange geplant. Heute gefällt sein weicher rung auf, die ihre Bürger ausspähen lässt? Stil denen, die unter den autoritären Chefs Wieso sind die Grünen in der öffentlichen der Vergangenheit gelitten haben. Aber kommt man mit Nettigkeit auch Wahrnehmung so abgerutscht? Hofreiter würde Deutschland gern wachrütteln. Viel- gegen die alten Hasen des Polit-Betriebs leicht brüllt er deswegen manchmal bei an, die ihre Intrigen spinnen und jede Polemik nutzen, um beim Volk zu punkten? seinen Auftritten. Hofreiter holt ein Büchlein aus der Kann man in einem Spiel erfolgreich sein, Tasche und legt es auf den Tisch im Bord- das man nicht mitspielen will? Der Schachrestaurant. Es ist bunt gemustert und telhalm, das lässt sich jedenfalls in verhat abgewetzte Ecken. „Du brauchst auch schiedenen Werken der Botanik nachlesen, mal was anderes zum Ausgleich“, sagt er, ist eine höchst anpassungsfähige Pflanze. Während sich Hofreiter durch die Wild„sonst wirst ja irre.“ Er schlägt sein Buch auf, darin Handgeschriebenes. Er wählt nis an der Isar kämpft, will eine Frau wissen, ob ihn Berlin denn verändert habe. eine Parabel von Kafka. Die Parabel handelt von einer Maus. „Man muss immer aufpassen, dass man Hofreiter liest vor: „,Ach‘, sagte die Maus, sich nicht nur selbst verändert, sondern ,die Welt wird enger mit jedem Tag.‘“ Zu- auch das Drumrum“, sagt Hofreiter. In erst sei die Welt sehr breit gewesen, die Bayern gibt es Journalisten, die den „Toni“ Maus habe Angst gehabt. Als sie in der mit einem Doppelklaps auf die Wampe beFerne Mauern sah, sei sie froh gewesen. grüßen. In Berlin legen sie ihm wegen seiDoch nun eilten die Mauern aufeinander ner notorisch ausgebeulten Hosentaschen zu, und ganz hinten stehe eine Falle. Die ein Herrenhandtäschchen nahe. Darüber Maus laufe auf die Falle zu. Der letzte Satz lacht Hofreiter hier in der Natur gern. Er dieser sehr kurzen Fabel lautet: „,Du selbst findet den Transport von Dingen in musst nur die Laufrichtung ändern‘, sagte seiner Hose „total praktisch“. Er bringt darin neben seiner Brieftasche mühelos die Katze und fraß sie.“ Hofreiter klappt sein Büchlein zu und Handys, Schlüssel, Ausweise oder eine ganblickt auf. Er will nicht die Maus sein. Also ze Packung Gummibärchen unter. Als Kind einer Arbeiterfamilie wuchs darf er auf keinen Fall die Laufrichtung ändern. Auch wenn er sich womöglich auf er in der Gemeinde Sauerlach südlich der eine Falle zubewegt. Man wirft ihm Net- Landeshauptstadt auf. Mit den Söhnen tigkeit vor. Also verteidigt er Nettigkeit. und Töchtern der Münchner Schickeria hatEr glaubt, Nettigkeit sei auch ein Weg zur te er wenig gemein. Schon mit 14 war er politisch aktiv. In der Heimat hält HofreiMacht. Nettigkeit ist nur eine von vielen For- ter die meisten Reden frei. Nur wenn wirkmen der Nichtanpassung, die sich Hofrei- lich viele Leute gekommen sind, kritzelt ter in der Hauptstadtpolitik leistet. Da ist er sich kurz vor Beginn ein paar Stichpunkauch seine bayerische Aussprache, die er te auf eine Papierserviette. Im Bundestag liest er ab. Wenn er in nicht ablegt. Worte wie krass, abartig oder geil gehören nach wie vor zu seinem Wort- Berlin vor eine Fernsehkamera tritt, passchatz. Und natürlich ist da seine viel be- siert etwas Seltsames mit ihm. Er vereist. schriebene Frisur: „Einen Spitzenpolitiker Sein Körper wird steif, zwischen die mit langen Haaren, das gab es noch nie“, auswendig gelernten Sätze mischen sich meint Hofreiter. Ein Parteikollege aus Bay- langgezogene Ähs. Auch seine Gedanken ern sagt über ihn: „Der Toni ist immer frieren ein. Als Hofreiter am Tag des Rücknoch im alten Denken verhaftet: Die da zugs von Jürgen Trittin plötzlich im Ramoben, wir da unten.“ Hofreiter will sich penlicht stand, fragte ein Fernsehreporter: nicht verbiegen lassen. Er pflegt seine Ei- „Was sind Sie denn so für ein Typ?“ Ein genarten. Sonst könnte er eines Tages aus paar quälende Sekunden lang fiel ihm rein gar nichts zu sich selbst ein. Schließlich Versehen so werden wie die da oben. „Schimpansoides Verhalten“ nennt er zog sein Pressesprecher ihn von der Kadas, was gewisse Alphamännchen der Poli- mera weg. Parteifreunde Trittin, Hofreiter „Ein Rohdiamant“ Es ist nicht einfach, ohne Maske zu bestehen in einem System, das ständig Inszenierung verlangt. An einem Donnerstag im Juni gibt Hofreiter ein Live-Interview in einer Berliner Galerie. An den Wänden hängt moderne Kunst, das Publikum ist sehr Berlin-Mittig, Kostümchen, Bärte, Birkenstock-Sandalen. Der Zeit-Journalist Moritz von Uslar trägt Jeans und ein perfekt sitzendes cremefarbenes Jackett; Hofreiter einen seiner grauen Anzüge, seine Stirn glänzt. Uslar („Hofreiter ist mein persönlicher Kanzlerkandidat“) hat sich 99 Fragen ausgedacht. Aber Hofreiter lässt die Fragen an sich abperlen. Er gibt Plattitüden von sich. Er nennt eine Frage machohaft. Er will seinen Lieblings-HeavyMetal-Song nicht verraten. Manchmal bricht er in lautes Gelächter aus. Uslar wirkt etwas ratlos. Nach einer halben Stunde ist alles vorbei. Hofreiter hat Uslar offenbar als Feind identifiziert und beschlossen, ihn keinen Millimeter an sich heranzulassen. Dabei will Uslar ihm eigentlich gar nichts Böses, im Gegenteil. Er sieht so etwas wie FreakPower, Kult-Potenzial! Aber Hofreiter will sich nicht inszenieren lassen. Auch nicht als Freak. Er will radikal echt sein. Es ist die Zeit, als Jürgen Trittin, noch so ein Mann mit perfekt sitzenden Anzügen und ausgefeilter Rhetorik, wieder ständig im Fernsehen auftritt. Gerüchte über einen Comebackversuch geistern durchs Regierungsviertel. Die beiden haben ein enges Verhältnis, Trittin gilt als Förderer Hofreiters. Und dennoch stiehlt er ihm mit seinen Auftritten die Show. Über seinen Nachfolger redet Trittin wie ein gönnerhafter Onkel: „Ein Rohdiamant, der noch geschliffen werden muss.“ Erst vor Kurzem ist Hofreiter im Bundestag ausgerastet. In der Debatte ging es um die Ukraine, eine Abgeordnete der Linken hatte Hofreiters Kovorsitzende Katrin Göring-Eckardt als Verbrecherin bezeichnet, weil sie den Faschismus in der ukraiDER SPIEGEL 32 / 2014 35 nischen Regierung nicht genug gegeißelt habe. Ein weiterer Abgeordneter legte nach. Hofreiter wollte der Frau an seiner Seite beispringen und brüllte durchs Plenum: „Jetzt langt’s aber wirklich mal. Sie haben doch überhaupt keinen Anstand!“ Es war ein sehr männlicher Auftritt, vielleicht sogar ein klein wenig schimpansoid. Jedenfalls kam er gut an. Nicht nur bei der eigenen Fraktion, auch Volker Kauder neben ihm war beeindruckt. Hofreiters Ausraster schaffte es ins „heute-Journal“. Ein paar Wochen später fährt Hofreiter mit dem Regionalzug von der Isar an die Donau, noch so ein renaturierter Fluss, diesmal ist eine Kanufahrt geplant. Es ist das Wochenende, an dem Details über das wirre Mautkonzept von CSU-Verkehrsminister Alexander Dobrindt bekannt geworden sind, eine ideale Vorlage für den Verkehrspolitiker Hofreiter. „Berlin direkt“ hat ihn für ein Interview angefragt. Hofreiter telefoniert mit seinem Büro. „Das Konzept ist doch völliger Schmarrn! Eine Mischung aus Ökofundamentalismus und rechtspopulistischen Tendenzen!“ Etwas platt, was er da von sich gibt – aber eindrucksvoll. „Nein, natürlich sage ich das so nicht im Fernsehen“, beruhigt Hofreiter seinen Mitarbeiter. „Sind Sie nicht dieser Sportler?“, fragt ihn ein Mann am Bahnhof. Von irgendwoher glaubt er Hofreiter zu kennen. Das Problem mit der Nichtanpassung ist manchmal, dass dahinter die Inhalte verblassen. Hofreiter hat extra einen Anzug mitgenommen, er verstaut ihn in einem wasserdichten Segelsack. Die Sonne brennt vom Himmel, Hofreiter paddelt, in der Ferne identifiziert er ein paar Nilgänse. An einer Kiesbank legt er an. Seine nackten Füße stehen im Wasser, wikingerhafte Statur, die Haare wehen. Er sieht selbst ganz renaturiert aus. An den Knöcheln sind lange Narben zu sehen. Die stammen aus seiner Zeit in Lateinamerika, von der erzählt er gern. Wie er sich mit gebrochenem Fuß durch den Dschungel schleppte oder wie er einem Typen mit Gewehr seinen eisernen Pflanzenschneider entgegenstreckte, um sein Leben zu verteidigen. Das sind existenzielle Erfahrungen, dagegen ist Berlin wieder ganz winzig. Gegen 17 Uhr erreicht die Gruppe Plattling in Niederbayern. Hofreiter eilt mit seinem roten Segelsack ins Hotel Liebl, wo er sich für eine Stunde ein Zimmer mietet. Als er herauskommt, hat er sich wieder in den Berliner Toni verwandelt. Er hat geduscht und seinen Anzug „glatt gestrichen“. Das Team vom Bayerischen Rundfunk hat vor dem Hotel eine Kamera aufgebaut. Hofreiter wippt mit dem Fuß. Er gibt ein paar ziemlich komplizierte Antworten. Womöglich wird man sich wieder nur an seine Frisur erinnern. 36 DER SPIEGEL 32 / 2014 Deutschland Lotsen des Glücks Affären Die Länder prüfen, ob ihre Klassenlotterie Gewinner zur Bank Merck Finck geschleust hat. Eine Mail des Lotto-Chefs deutet zumindest darauf hin. FOTO: ROMAN BABIRAD / BABIRADPICTURE E igentlich hat Gerhard Rombach den schönsten Beruf der Welt: Er macht Menschen sehr, sehr glücklich. Rombach ist einer der beiden Vorstandssprecher der GKL, der Klassenlotterie der Länder, SKL-Gewinnerin Nonne* und wo die ihr Glück austeilt, da kommt Blumige Worte es für die Gewinner millionendicke. Eine andere Frage ist, ob auch die Län- Elfriede Nonne** den Hauptgewinn in der der noch sehr, sehr glücklich sind – mit „Fünf-Millionen-SKL-Show“ mit Günther Rombach. Denn als Eigentümer der GKL Jauch ab. Die Ostrentnerin, wie ihre ganze wollen sie nun genau wissen, was dran ist Familie in Gelddingen unbeleckt, vertraute an Hinweisen, bei der staatlichen Lotterie ihren neuen Reichtum Merck Finck an. Ihr könnten Lottokönige gezielt zur Privat- Sohn, so weit ist es heute unstreitig, stand bank Merck Finck geschleust worden sein dazu vorher im Kontakt mit Rombach. Die und dort viel Geld verloren haben. Alar- Familie habe das Geld nicht zu Hause bei miert durch einen SPIEGEL-Bericht (25/2014), der Sparkasse anlegen wollen, aus Angst, haben die Länderfinanzminister die GKL es könnte sich herumsprechen, was genau angewiesen, den Fall von externen Prüfern sie damit mache. Nonnes Sohn verstand Rombach damals durchleuchten zu lassen. Das kann nicht schaden, denn für eine so, dass man sich doch am besten die Priauffällige Nähe zwischen Lotto und Bank- vatbank Merck Finck anschauen solle. haus gibt es durchaus Indizien, die bis in Rombach dagegen will Nonne nur auf eine den Lotto-Vorstand hochreichen. Als der Untersuchung aus der Tageszeitung Die SPIEGEL vor einigen Wochen Rombach Welt hingewiesen haben. Dort waren Banfragte, ob er sich persönlich für Merck ken aufgelistet, die zu den besten VermöFinck starkgemacht habe, wies der Vor- gensverwaltern gehörten. Erst auf direkte standschef das entschieden zurück. Nun Nachfragen von Nonne habe er, Rombach, aber belegt eine Mail, dass Merck Finck, Namen von der Liste genannt, neben anders als andere Banken, einer Haupt- Merck Finck auch noch andere Häuser. Als im Juni der Fall und die erheblichen gewinnerin besonders angepriesen wurde. Ihre Familie ist heute, nach hochriskanten Verluste der Familie – vor allem mit SchiffsAnlagen bei der Bank, um einige Hundert- fonds – öffentlich wurden, beschlossen die tausend Euro ärmer. Absender der Mail: Länder eine Untersuchung. Sie schalteten die Großkanzlei Baker & McKenzie ein, Vorstand Rombach. Wie weit Lotto-Chefs gehen dürfen, um die mittlerweile nicht nur in der Lottoihre oft unbedarften Kunden vor den Risi- Zentrale Mitarbeiter befragt. Die Anwälte ken des Millionärslebens zu bewahren, hat- wollen auch mit den Millionengewinnern te Rombach vor einigen Jahren mal gut der vergangenen Jahre sprechen. Dazu hat umrissen. Rombach, damals noch Direktor die GKL Mitte Juli die Lottokönige angeder Süddeutschen Klassenlotterie SKL, die schrieben. Es gehe um eine Überprüfung, später in der GKL aufging, sprach von der „ob Gewinner der SKL-Show regelmäßig „Verantwortung, unseren Gewinnern Hilfe- gezielt einer bestimmten Privatbank in stellungen anzubieten“, etwa beim Um- Sachen Geldanlage zugeführt wurden“. gang mit Freunden, Journalisten, auch mit Unterschrieben war der Brief von VorBanken. Allerdings immer so, dass „wir stand Günther Schneider. Dagegen soll neutral bleiben, wie man es von uns Vorstand Rombach bei der Aufklärung erwartet“. Dass man Gewinner zu einer offenbar keine Rolle spielen. Und das dürfBank lotst, damit die gute Geschäfte mit te so auch besser sein. den Lottomillionären machen kann – unvereinbar mit den Lotterie-Ansprüchen. * Mit Showmaster Günther Jauch (l.) und Lotto-Vorstand Aber hielt sich Rombach auch daran? Gerhard Rombach (r.) 2007. Im Juni 2007 räumte die damals 73-jährige ** Name geändert. Denn so neutral wie Rombach bisher glauben machte, war seine Bankenberatung wohl doch nicht. Vielmehr lässt sich eine Mail, die er am 20. Juni 2007 an die „Liebe Frau Nonne“ und deren Sohn schrieb, durchaus als Werbebotschaft lesen – für Merck Finck. „Zunächst hoffe ich, dass die … Aufregung des letzten Wochenendes sich einigermaßen gelegt hat“, beginnt Rombach sein Schreiben, sechs Tage nach der SKL-Show. Von einer Mitarbeiterin habe er gehört, dass sich die Familie auch mit den „finanziellen Folgen“ beschäftige und gern einige Informationen hätte. Die wolle man „sehr gerne“ liefern, aber klarstellen, dass „wir nur grobe erste Hinweise geben. Entscheiden müssen Sie selbst“. Was folgt, sind allerdings sehr detaillierte Hinweise, nämlich die Kontaktdaten von Georg Sedlmair, Direktor Vermögensberatung von Merck Finck in München. Sedlmair war mehrfach zu After-Show-Partys der SKLSendung eingeladen worden. „Herr Sedlmair berät auch unsere vorangegangene Millionärin“, heißt es in der Mail, und dass er „in einem anderen Fall schon Anlagemöglichkeiten gesucht hat mit bestimmten Wertpapieren, die für eine steuergünstige Anlage infrage kommen … Das Haus Merck Finck hat aber auch alle anderen Angebote und verkauft grundsätzlich keine eigenen Papiere“. Dass man als Bank nicht an einen Anbieter von Wertpapieren gebunden sei, sondern aus den besten Anlagen wählen könne, ist ein Hinweis, mit dem auch Merck-Finck-Berater gern Kunden ködern. Damit nicht genug: „Das Interessante an Merck Finck ist, dass dort auch eine Steuer- und Rechtsberatung angeboten wird (zu Stundensatzkosten und nicht auf Basis des Vermögenswertes; dies führt bei größeren Summen doch zu erheblichen Einsparungen) und dann die gesamte Anlagestrategie auf die individuellen Vorgaben und Ziele nach umfänglicher Beratung ausgerichtet“ seien. Sätze, die Merck Finck gefreut haben dürften. Die GKL sieht das bis heute anders. „Einen bevorzugten Hinweis auf Merck Finck hat es nicht gegeben.“ Richtig ist: In der Mail erwähnte Rombach, dass auch noch andere Banken aus der Tageszeitungsliste solche Leistungen anböten. Beispielsweise „Fürst Fugger, Deutsche Bank u.v.a.“ Und er empfahl auch, die Zinsen zu vergleichen und das Geld „vielleicht sogar auf 2 bis 3 Häuser aufzuteilen“. So blumige Worte wie bei Merck Finck fand Rombach für die Konkurrenz jedoch nicht. Auch zwei Tage später nicht, als er noch zwei weitere Bankadressen schickte: Bei der Deutschen Bank München und der HypoVereinsbank nannte er nur Ansprechpartner und Telefonnummern – „So weit auf die Schnelle.“ Die Entscheidung der Familie Nonne fiel anschließend, wenig verwunderlich, für Merck Finck aus. Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Jörg Schmitt DER SPIEGEL 32 / 2014 37 Angeklagte Zschäpe (M.), Verteidiger Stahl, Sturm, Heer (v. l.) am 10. Juli vor dem OLG München „Ganz innige Freunde“ D ie junge Zeugin weint schon beim fassade zu gestatten. Jeder wusste vom Betreten des Gerichtssaals. Sie anderen offenbar alles. „Die wussten alles schluchzt so sehr, dass sie kaum voneinander!“, wiederholt die Zeugin, das „Nein“ herausbringt, mit dem sie die „das waren ganz innige Freunde!“ Max, Gerry und Liese hätten stimmige fürsorgliche Frage des Vorsitzenden abwehrt, ob sie eine Pause brauche. Schließ- Geschichten über ihre Herkunft zum Beslich beginnt sie mit zittriger, dann fester ten gegeben und vom Leben in der frühewerdender Stimme auszusagen. Was hat ren DDR erzählt. Streit oder Spannungen habe es nie gegeben unter den dreien, sagt sie so aufgewühlt? Später, als sie vortreten soll, um Perso- die Zeugin auf Fragen des Gerichts. Es sei nen auf Fotos zu identifizieren, und dabei weder über Sorgen gesprochen worden an Beate Zschäpe vorbeimuss, deutet sie noch über den Beruf oder sonstige Problescheu einen heimlichen Gruß an. Zschäpe me. „Nur lockeres Geflapse.“ Max, also Mundlos, sei ein echter „Spaßbeachtet sie nicht einmal. In den Jahren 2007 bis 2011 hat Juliane vogel“ gewesen, der „dauernd Witze geS. mit ihren Eltern und einer Freundin rissen“ habe. Gerry habe ihnen mal zeigen Camping-Urlaub auf Fehmarn gemacht. wollen, wie man mit Schwarzpulver Bom„Eines Tages kamen Böhnhardt, Mundlos ben bastelt. Doch das habe sie als Teenager und Zschäpe in unseren Wohnwagen und nicht interessiert. „Haben Sie mit den dreien über Ausfragten, ob wir nicht zusammen Doppelkopf spielen wollten. Von da an haben wir länder gesprochen?“, fragt ein türkischer das immer gemacht. Jeden Tag von mor- Nebenklageanwalt. „Es gab mal eine Zeit, gens bis abends haben wir alles gemeinsam da stand ich auf türkische Jungs“, antwortet die Zeugin verlegen. Liese und Gerry, gemacht.“ Drei Wochen lang, jedes Jahr. Was sie am 129. Verhandlungstag im also Zschäpe und Böhnhardt, hätten bei NSU-Prozess über „Max, Gerry und Liese“ diesem Thema „Blicke getauscht“, sodass alias Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und die Mädchen mit Liese lieber nur PuberZschäpe erzählt, wird von den Richtern tätsprobleme diskutierten. „Ich habe ihr aufmerksam registriert. „Unsere Ossis, hundertprozentig vertraut und frage mich wie wir sie nannten“ – das war eine ver- heute“, die Zeugin stockt, wieder steigen schworene, eingespielte Gemeinschaft, Tränen hoch, „ob die mich wirklich mochnach außen lustig und offen auftretend, te. Oder haben die uns von vorn bis hinten ohne jedoch einen Blick hinter die Urlaubs- verarscht?“ 38 DER SPIEGEL 32 / 2014 Zeugenaussagen wie diese vergisst keiner so schnell, der sie gehört und der diese junge Frau weinen gesehen hat. Solche genauen Erinnerungen fügen sich zu einem immer deutlicheren Persönlichkeitsbild der Angeklagten. Kein Zeuge bisher, der eine Situation beschrieben hätte, in der Zschäpe sich glaubhaft von ihren Gesinnungsgenossen distanzierte. Kein Anhaltspunkt für den Zweifel, dass sie vielleicht die mutmaßlichen Taten der Uwes selbst nicht wollte. Dagegen die Tatwaffen in der gemeinsamen Wohnung, die Spurenlage, das Versenden der NSU-Videos nach Böhnhardts und Mundlos’ Tod, das Leben mit zwei Männern in der Illegalität über so lange Zeit. Lag es an der menschenverachtenden Ideologie, dass diese Ménage-à-trois so lange hielt? Zschäpes Rolle wird für den Senat eine Frage der Einschätzung sein. 2007, als sie zusammen mit Zschäpe auf Fehmarn als „innige Freunde“ auftraten, hatten Böhnhardt und Mundlos mutmaßlich zehn Menschenleben auf dem Gewissen und lebten ungeniert von Raubüberfällen. Zschäpe zückte vor den Augen der staunenden Mädchen, die bis dahin noch keinen echten 500-Euro-Schein gesehen hatten, wie selbstverständlich ihr gut gefülltes Portemonnaie und zahlte für die Uwes mit. Sie verhandelte mit einem Bootsverleiher über den Kostenvoranschlag für eine Reparatur von Böhnhardts FOTOS: MARCUS SCHEIDEL / ACTION PRESS (L.); DAPD (R.) Strafjustiz Die jüngsten eigenwilligen Aktionen Beate Zschäpes vor Gericht bestätigen ihre Rolle innerhalb des NSU, wie die Anklage sie beschreibt. Von Gisela Friedrichsen Deutschland Außenbordmotor in einer Weise, dass der einem raschen Ende im Weg. Viele Zeugen Bootsverleiher danach zu einem Mitarbei- müssen mehrfach geladen werden, weil ter sagte: „Mit der möchte ich nicht ver- ein Sitzungstag nicht ausreicht, allen Beteiligten Gelegenheit zu Fragen und heiratet sein.“ Viel ist es nicht, was man über das Le- Anträgen zu geben. Dazu kommt, dass Zschäpes Unmut ben von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in den Jahren von 1998 bis 2011 weiß, in über ihre passive Rolle als schweigende denen sie sich auf der Flucht vor der Poli- Hauptangeklagte zu wachsen scheint. Am zei durchschlugen. Doch was in dem Pro- 128. Verhandlungstag, es war der 16. Juli, zess jetzt peu à peu herauskommt, fügt entzog sie überraschend ihren drei Anwälsich. Die Anklage habe sich bisher bis ten, einst Wahl-, jetzt Pflichtverteidiger, ins Detail und darüber hinaus bestätigt, coram publico das Vertrauen – ein Affront heißt es bei der Bundesanwaltschaft. Jede sondergleichen. Sie fühle sich ohne anwaltMordtat habe die drei enger zusammen- liche Vertretung und wolle so nicht mehr weiterverhandeln, ließ sie den Senat wisgeschweißt. Wenn am 6. August im NSU-Verfahren sen. Es bestehe seit Längerem ein Zerwürfdie Sommerpause beginnt, hat sich der nis zwischen ihr und Wolfgang Heer, Anja 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Mün- Sturm und Wolfgang Stahl. Diese Situation chen mit dem Vorsitzenden Manfred Götzl ertrage sie nicht mehr. Der Eklat führte dazu, dass ein ganzer schon 135 Sitzungstage lang mit den Verbrechen des „Nationalsozialistischen Un- und zwei halbe Verhandlungstage ausfietergrunds“ beschäftigt. Mittlerweile dürfte len und der Senat umgehend über die neue ungefähr Halbzeit sein. Genauer lässt sich Situation revisionsfest zu entscheiden hatdas Ende des Monsterverfahrens, in dem te. Die Anwälte standen blamiert da. Der neben Zschäpe vier der Beihilfe oder Un- Eindruck, dass Zschäpe eine Frau ist, die terstützung verdächtige Männer – Ralf keineswegs mit sich geschehen lässt, was Wohlleben, Holger G., André E. und Cars- ihre Verteidiger für richtig halten, verfesten S. – angeklagt sind, nicht bestimmen. tigt sich. Sie macht, was sie will, und sei Seit Prozessbeginn im Mai vergangenen es auch gegen jede Vernunft. Da Zschäpe weder einen Anwalt ihres Jahres ist es dem Senat gelungen, die dem NSU vorgeworfenen vollendeten Tötungs- Vertrauens benannt noch derart gravierendelikte abzuarbeiten. Darüber hinaus wur- de Gründe vorgetragen hat, die zu einer de der Bombenanschlag auf ein iranisches Entpflichtung auch nur eines ihrer drei Lebensmittelgeschäft in der Kölner Alt- Anwälte Anlass hätte geben können, blieb stadt verhandelt. Auf dem Terminplan des alles beim Alten. Sturm, Stahl und Heer Gerichts stehen nach der Sommerpause versuchen seither angestrengt, so zu tun, der hinterhältige Nagelbombenanschlag in als hätte sich das Verhältnis zur Mandantin der Kölner Keupstraße mit vielen Verletz- schon wieder entspannt. Buckeln sie jetzt ten sowie 14 Raubüberfälle auf Geldinsti- vor ihr? Oder fühlen sie sich als Verteidiger „auf Bewährung“? tute. Auch dabei gab es Verletzte. Als Stahl am 131. Sitzungstag auf Da Zschäpe, Wohlleben und André E. schweigen, gestaltet sich die Aufklärung Wunsch Zschäpes einen Befangenheitsander Anklagevorwürfe weiter zeitaufwen- trag gegen den Senat vortrug, hatte es diedig. Überdies steht die große Zahl von Op- sen Anschein. Zschäpe rügte, Götzl habe feranwälten, die von ihren prozessualen bestimmte Fragen an einen Zeugen, die Rechten regelmäßig Gebrauch machen, aus ihrer Sicht zu einem bestimmten Zeit- Camper Mundlos, Zschäpe, Böhnhardt um 2004: „Die wussten alles voneinander“ punkt hätten gestellt werden müssen, zu ebenjenem Zeitpunkt nicht gestellt, sondern das Fragerecht an die Bundesanwaltschaft weitergereicht. Dabei endet für Richter die Möglichkeit, einen Zeugen zu befragen, erst bei dessen Entlassung. Der Vorsitzende, das wissen Verteidiger, hätte das Fragerecht für sich und seine Kollegen bis dahin jederzeit wieder an sich ziehen können. Dass Zschäpe mit einem so wenig durchdachten Antrag scheitern würde, war von vornherein klar. Aktionismus der Verteidiger? Oder insistierte die Mandantin? Abgesehen von solchen vorübergehenden atmosphärischen Störungen kommt der Prozess dank des konzentriert arbeitenden Senats voran. Kaum einer unter den Nebenklägern oder Opferanwälten, der sich vom Gericht nicht respektiert fühlt. Die Front zwischen der einst nur auf Beschleunigung bedachten Bundesanwaltschaft und der vielstimmigen Nebenklage ist durchlässiger geworden, die Diskussion sachlicher. Der Übereifer vom Beginn hat nachgelassen. Der Senat verschließt sich Hinweisen auf mögliche weitere Unterstützer des NSU nicht, er lässt den Prozessbeteiligten viel Raum. Der Blick auf die rechtsextreme Szene, aus der der NSU hervorging, und auf das krude Bedrohungsszenario von Verlierern am Rand der Gesellschaft, die, wie der norwegische Massenmörder Anders Breivik, die „weiße Rasse“ mit Gewalt zu schützen vorgeben und die Bildung terroristischer Zellen propagieren, hat sich geweitet. Götzl bemüht sich um eine umfassende Aufklärung. Er gestattete der Nebenklage sogar, dass ein SPIEGEL-TV-Film über Wehrsportübungen grölender Neonazis aus Zschäpes Umfeld vorgeführt wurde. Solche Anträge der Nebenklage gerade aus der letzten Zeit werfen ein grelles Licht auf ein international agierendes rechtes Netzwerk, mit dessen Unterstützung Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatten rechnen können. Die Frage aber, ob das Trio ins Ausland flüchten sollte, entschied Zschäpe: Sie wollte in der Heimat bleiben. Mittlerweile wurden auch schon Zeugen aus den Reihen des Verfassungsschutzes geladen, was die Bundesanwaltschaft stets mit dem Argument abgelehnt hatte, mit der Tat- und Schuldfrage der Angeklagten habe das staatliche Versagen nichts zu tun. „Der Prozess ist jetzt zu einem Kompromiss gekommen“, sagt ein hoher Jurist über den gegenwärtigen Stand. Die Hoffnung, Zschäpe werde ihr Schweigen brechen, dürfte sich inzwischen zerschlagen haben. Was der Senat denkt, war der Ablehnung, den Haftbefehl gegen Wohlleben aufzuheben, zu entnehmen: Der Tatverdacht hat sich demnach eher verstärkt. Auf den Verdacht gegen Zschäpe strahlt dieser Beschluss ab. I DER SPIEGEL 32 / 2014 39 Deutschland Geldspritzen Medizin Warum produzieren Krankenhäuser immer höhere Kosten? Das Klinikum in Bayreuth zeigt, wie Ärzte unter Druck der Kaufleute geraten – zahlten Patienten mit ihrer Gesundheit? I 40 DER SPIEGEL 32 / 2014 Geschäftsführer Ranftl mit einem Modell des Klinikums FOTO: BERND LAMMEL m Klinikum Bayreuth kommt es schon mal vor, dass Patienten vom Operationstisch fallen. Die Anästhesisten, die solches Ungemach mit verhindern sollen, sitzen in dem oberfränkischen Krankenhaus hinter einer Trennwand, unter der nur der Kopf des Patienten hervorlugt. Es ist wohl eines der letzten Hospitäler in Deutschland, in denen an einigen OPTischen noch Trennwände in Gebrauch sind. In den Siebzigerjahren wurden sie angeschafft, um höhere Hygienestandards zu erreichen. Sie erwiesen sich jedoch als wirkungslos und wurden in den meisten OP-Sälen wieder abgebaut. Mitte Juni besichtigten Kontrolleure des Gewerbeaufsichtsamts auch die Operationssäle 1 und 2 in Bayreuth – und waren schockiert über die Nostalgie am OP-Tisch. Wie denn die Narkoseärzte im Notfall zum Patienten kämen, wollten sie wissen. Und sie hörten Berichte über Mediziner, die bei Gefahr im Verzug unter der Wand hindurchkriechen. Der Arzt, der die Prüfer zu den OP-Sälen geführt und ihre Fragen beantwortet hatte, bekam inzwischen erheblichen Ärger mit der Klinikleitung. Wenn es um den Ruf seines Hauses geht, ist Geschäftsführer Roland Ranftl, 58, empfindlich. Erst im vergangenen Jahr hat er einen ziemlichen Tiefschlag einstecken müssen. Da veröffentlichte die Techniker Krankenkasse eine nicht repräsentative Patientenbefragung, der zufolge das Klinikum Bayreuth als schlechtestes Krankenhaus der Region abschnitt. Bei seiner Einweihung vor rund 30 Jahren war der lang gestreckte Bau auf einem Hügel am Rande der Wagnerstadt der Stolz der Kommune. Unter Ranftl, der 2007 seinen Dienst antrat, sollte es auch wieder so werden. Das Klinikum, das als einziges in Oberfranken eine sogenannte Maximalversorgung anbietet, wird seither streng nach kaufmännischen Gesichtspunkten geführt. Und so dient die Geschichte des mit 2300 Beschäftigten zu den größten Arbeitgebern der Stadt gehörenden Klinikums als Lehrstück für die Verwerfungen im deutschen Gesundheitswesen. Unter Ranftls Management liegt das Krankenhaus seit einigen Jahren stabil in der Gewinnzone, aber der Preis dafür ist hoch: Zwischen Geschäftsführer Ranftl und der eigenen Belegschaft, so nennen es viele Betroffene, herrsche Krieg. Die Pflegedienste werfen der Klinikleitung Ausbeutung vor, was die Fluktuation hochtreibe. Altgediente Chefärzte beklagen FOTO: ANDREAS HARBACH eine Spar- und Personalpolitik, die es ihnen schwer mache, die Patienten angemessen zu behandeln. Stattdessen sehen sich Ärzte genötigt, Behandlungen vorzunehmen, die medizinisch nicht notwendig oder sogar gesundheitsgefährdend sind – aber mehr Geld einbringen. Einige Patienten kamen zu Tode, Neugeborene erlitten schwerste Behinderungen, die in einem Fall „bei adäquat durchgeführter“ Behandlung, so heißt es in einem medizinischen Gutachten, „deutlich geringer ausgefallen“ wären. Die StaatsÜbungspatient am Beatmungsgerät anwaltschaft Bayreuth ermittelt wegen des 60 000 Euro für vier Wochen Verdachts der Körperverletzung. In Oberfranken ist in einigen Klinikab- und vernünftig gelöst“. Die Überstundenteilungen Wirklichkeit geworden, wovor zahl sei angesichts der vielen Mitarbeiter Gesundheitsfachleute seit Jahren warnen: „nicht ungewöhnlich“. Mediziner und Pflegekräfte befinden eine Medizin nach Kassenlage, in der alle das gleiche Geld bekommen – ob sie nun sich in einem Dilemma: Sie würden gern gute Arbeit oder katastrophale Leistungen die Missstände auch öffentlich machen. abliefern. Eine Medizin ohne wirksame Aber sie trauen sich nicht, aus Angst vor Qualitätskontrolle, bei der wirtschaftliche Repressalien. Und sie wollen den Ruf des Krankenhauses nicht noch weiter beschäAspekte Vorrang genießen. In Bayreuth beschweren sich seit vielen digen. Vom Aufsichtsrat fühlen sie sich im Monaten diverse Stationen über untrag- Stich gelassen. Dessen Vorsitzender, der bare Arbeitsbelastungen – mal kommen Landrat des Kreises Bayreuth, sowie Gedie Klagen aus der Frauenklinik, mal aus schäftsführer Ranftl sind Duzfreunde im der Mikrobiologie, dann aus der Notauf- Lions Club. „Verbindungen auf privater nahme. Im April 2013 schrieben Anäs- Ebene“ bestünden nicht, sagt der Landrat. In einigen Abteilungen des Klinikums thesisten, sie seien nicht länger bereit, die „unerträgliche und gefährliche Belas- ist die Stimmung so schlecht, dass sich dort tungssituation zu tolerieren“. Vor vier kaum noch deutsche Ärzte auf frei werMonaten schickte zudem die Station für dende Stellen bewerben. Besonders angeIntensivmedizin eine „Gefährdungsanzei- spannt war die Situation in der Neurologie ge“ an die Klinikleitung: Die sichere Pflege und in der Kardiologie, wo ausländische der zwölf schwerstbedürftigen Patienten Mediziner inzwischen einen Großteil des sei nicht mehr gewährleistet, ein Zusam- Personals stellen. Die Doktoren kommen menbruch der Versorgung nicht ausge- aus Russland, aus Ex-Jugoslawien, aus Syrien und Ägypten. Bei Vorstellungsgespräschlossen. Nach einem chaotischen Nachtdienst chen soll es nicht mehr ungewöhnlich sein, hatte die Leitung der Notaufnahme ver- dass Dolmetscher hinzugebeten werden. sucht, ihre Vorgesetzten mit einer E-Mail Die Klinikleitung bestreitet dies, gibt aber wachzurütteln. „Gestern hatten wir Re- zu, dass Bewerber ihre Deutschkenntnisse kord“, eine Frau sei neun Stunden in „häufig deutlich verbessern“ müssten. Wohin solche personellen Bedingungen der Notbehandlung gewesen. Das Personal sei dem Ansturm der Patienten nicht führen können, zeigt ein Fall, der sich im mehr gewachsen gewesen. Es bestehe des- November vergangenen Jahres ereignete. halb immer mehr die Gefahr, „bedingt Sandra Michels* kam abends mit großen durch Überlastung“ Fehler zu machen – Schmerzen im Rücken in die sogenannte etwa Patienten zu verwechseln: „Von der Präklinik, in der nachts Notfälle aufgenomEinhaltung hygienischer Vorgaben sind men werden. Ein Assistenzarzt notierte, wir weit entfernt“, schrieb die Stations- dass die 19-Jährige unter einer Verkrümleitung, „wir bewegen uns auf Messers mung der Wirbelsäule leide. Offenbar nahm er ein orthopädisches Problem an Schneide.“ Um die Arbeit zu schaffen, schieben die und verlegte die junge Frau in die entsprePfleger einige Tausend Überstunden vor chende Abteilung. Allerdings: Das Klinikum Bayreuth besich her. Viele fühlen sich ausgebrannt. Ein Teufelskreis. In Kenntnis der deutschen steht aus zwei Häusern. Und die OrthopäKliniklandschaft wäre „es geradezu gro- die befindet sich in der Hohen Warte, etwa tesk“, dass nie Situationen aufträten, in 15 Fahrminuten von der Präklinik entfernt. „denen sich das Klinikpersonal überlastet Gegen Mitternacht wurde eine Röntgenfühlt“, sagt die Sprecherin des Klinikums aufnahme gemacht. Aber zu dieser Zeit dazu, auch die Klinikleitung prangere „die gab es offenbar niemanden mehr, der die immer stärker auftretenden Arbeitsbelas- Bilder auswerten konnte. tungen“ an. Anstehende Probleme würden „gesehen, mit den Beteiligten diskutiert * Name von der Redaktion geändert. Erst am Morgen kam ein Arzt dazu, sich die Röntgenaufnahmen anzusehen. Er stellte die richtige Frage: „Aneurysma?“ – also eine krankhafte Arterienerweiterung. Eine Diagnose, bei der es um Minuten gehen kann. Die Diagnose kam jedoch zu spät. Sandra Michels war in der Zwischenzeit verstorben, innerlich verblutet. Bei einer gründlichen Untersuchung hätte die große Narbe auf der Brust auffallen müssen. Die Patientin war schon einmal am Herzen operiert worden. Die Klinik will aus Datenschutzgründen nichts zu dem Fall sagen, legt aber Wert auf die Feststellung, dass alle Patienten „nach den medizinischen Leitlinien“ behandelt würden. Inzwischen wissen nicht nur Insider über die Zustände in Bayreuth Bescheid. Die örtliche Staatsanwaltschaft ermittelt aufgrund einer anonymen Anzeige gegen Mitarbeiter des Klinikums. Der Tippgeber machte darin auf schwere Mängel in der Geburtshilfe aufmerksam, nannte vier Fälle konkret mit Daten und Namen, in denen Babys gestorben oder nach der Geburt schwerbehindert waren – nach einem, so der Anzeigenerstatter, „schweren Organisationsverschulden“. Dass die Geburtshilfe in der Kritik steht, ist der Klinikleitung seit Langem bekannt. Nachdem wieder ein schwerstbehindertes Kind zu beklagen war, baten vor drei Jahren mehrere Ärzte die Klinikleitung, die Missstände zu beheben. Vergebens. Die Mediziner streiten sich über die Frage, wann Kinderärzte bei einer Geburt dabei sein sollen. Bayreuth hat ein Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe: Hier werden auch Risikoschwangere behandelt. Dazu ist es notwendig, dass Geburtshelfer und Kinderärzte Hand in Hand arbeiten. Das aber klappe wohl nicht immer. Offenbar sahen die Geburtsärzte den Kreißsaal als ihren Zuständigkeitsbereich an, wo sie bestimmen, wer dort hereinkommt und wer eben nicht. Die Klinik weist jede Kritik zurück, sie wehre „sich aufs Schärfste gegen eine derartige Vorverurteilung“. Die Heilung von Kranken hat viel mit Vertrauen zu tun, Vertrauen in die leitenden und die behandelnden Ärzte. Wie der Ruf einer Klinik beschädigt werden kann, zeigte sich in den vergangenen Jahren in Bayreuth bei der Neubesetzung eines Chefarztes. Schon lange war klar, dass ein anerkannter Chirurg aus Altersgründen gehen würde. Und es gab auch gute Bewerber für seine Nachfolge, zusätzlich wurde ein Headhunter eingeschaltet. Einige Kandidaten sollen jedoch nach Gesprächen mit Ranftl abgewinkt haben, anderen mochte der Geschäftsführer nicht annähernd das geforderte Geld zahlen. Am Ende blieb ein Mediziner übrig, der keinen guten Leumund in der Branche DER SPIEGEL 32 / 2014 41 Deutschland hat. Einige Mitarbeiter erkundigten sich nach dem Bewerber. Er sei ein schlechter Operateur, erfuhren sie. Ärzte warnten Geschäftsführer Ranftl – ohne Erfolg. Ein paar Tage bevor er Anfang 2013 seinen Dienst antrat, meldete sich telefonisch ein Arzt bei der Bundesärztekammer und wurde ins Dezernat Rechtsabteilung durchgestellt. Der Mann nannte sich Dr. Müller und schilderte die „stümperhafte Arbeit“ des Arztes, der ständig die Kliniken wechsle. In einer Telefonnotiz hielt die Bundesärztekammer die Anschuldigung fest: „Durch dessen Arbeitsweise seien in den letzten vier Jahren ca. 20 Menschen ums Leben gekommen.“ Die Notiz ging an die Bayerische Landesärztekammer. Auch Ranftl erfuhr davon. Hinweise seien geprüft worden, erklärt die Klinik heute, aber man habe den nicht bestätigten Verdachtsmomenten keine große Bedeutung zugemessen. Der Mediziner nahm seine Arbeit auf – mit der Folge, dass sich in den ersten sechs Wochen seines Wirkens laut einer klinikinternen Dokumentation mehr als jede dritte Patientin einem zweiten Eingriff unterziehen musste. Der Arzt bestreitet die Zahl der Nachoperationen und dass Patienten seinetwegen ums Leben kamen. Im Krankenhaus machten die Operationsmethoden des Neuen die Runde: Er schneide Tumoren mittendurch, statt sie vorsichtig herauszuschälen. Auch an den vorgeschriebenen Mindestabstand zum gesunden Gewebe halte er sich nicht. Es be- Behandlung eines Frühgeborenen Streit um den Kreißsaal ein Dutzend Klinikangestellte trafen sich an diesem Tag in einem Besprechungsraum, darunter Chefärzte, Stationsleiter, Techniker und eine Hygienebeauftragte. Es gibt in Bayreuth zwei vergleichbare Intensivstationen, sie haben jeweils 16 Betten und ähnliche Patientenzahlen. 2011 waren die Beatmungszahlen in beiden Stationen ähnlich hoch. Inzwischen sind die Beatmungsstunden auf der einen Station mehr als doppelt so hoch wie auf der anderen. Der Leiter der Abteilung mit den niedrigen Beatmungszahlen soll Geschäftsführer Ranftl vorgeworfen haben, den Kollegen der zweiten Intensivstation zu längeren Beatmungszeiten animiert zu haben. Er selbst soll bei dem Treffen beklagt haben, er sei doch auch aufgefordert worden, aus finanziellen Gründen die Zeiten zu verlängern. Es werde mit dem Leben von „Der Missbrauch gut dotierter Fallpauschalen ist keine Ausnahme, er ist weit verbreitet.“ stehe dadurch die Gefahr, dass sich Krebs- Menschen gespielt. Es soll zu einer lauten zellen weiter ausbreiten. Der Arzt beteu- Auseinandersetzung gekommen sein. Die Klinik erklärt, die erhöhte Zahl der ert, niemand habe bisher gegen seine ärztBeatmungspatienten sei dadurch entstanliche Tätigkeit geklagt. Zwei Wochen vor Ablauf der regulären den, dass länger liegende Patienten in eine Probezeit verließ er Bayreuth wieder. andere Klinik verlegt werden mussten. Auch bei seinem nächsten Arbeitgeber, ei- Man dürfe zudem „keinesfalls außer Acht nem Hospital im Harz, blieb der Operateur lassen, dass gegen die Erlöse für die Beatmung der Patienten auch hohe Kosten nur wenige Monate. Exemplarisch ist in Bayreuth auch zu stehen“. Der Landrat und die Oberbürgererkennen, wohin die in Deutschland vor meisterin weisen als Aufsichtsräte des zehn Jahren eingeführte Bezahlung von Klinikums eine Gefährdung der Patienten Leistungen nach sogenannten Fallpauscha- „aus reinem Gewinnstreben“ mit aller len geführt hat. Seitdem sind Therapien Schärfe zurück. Für Karl Lauterbach, den Gesundheitsmit hohen Pauschalen sprunghaft angeexperten der SPD, ist der Missbrauch gut wachsen – überall in der Republik. Eine vierwöchige künstliche Beatmung dotierter Fallpauschalen „keine Ausnaheines Patienten kann auf der Intensivsta- me“, er sei „weit verbreitet“. Immer tion 60 000 Euro und mehr einbringen. Die wieder würden Eingriffe an gesunden Gefahr: Je länger ein Patient künstlich Menschen vorgenommen, die nicht notbeatmet wird, desto größer ist das Risiko wendig seien. Der Nachweis ist indes der Sterblichkeit. Gut geführte Intensiv- schwer zu führen, weil Ärzte in aller Regel stationen rühmen sich deshalb damit, die eine Begründung für ihre Behandlung Zahl der Beatmungsstunden möglichst ge- finden. Dass sich Mediziner in Bayreuth aber ring zu halten. Im Februar vergangenen Jahres kam es veranlasst sehen, besonders auf lukrative in Bayreuth zu einem offenen Eklat. Gut Behandlungen zu achten, belegt ein Streit 42 DER SPIEGEL 32 / 2014 unter Kardiologen und Herzchirurgen des Hauses. Seit einigen Jahren gibt es bei Erkrankungen an der Herzklappe eine Alternative zur herkömmlichen Operation: die Transkatheter-Aortenklappenimplantation, kurz TAVI. Dabei wird die neue Klappe in einem zusammengefalteten Zustand mit einem Katheter, der zumeist an der Schlagader der Leiste eingeführt wird, an ihren Einsatzort gebracht und dort entfaltet. So innovativ die neue Methode auch ist: Ihr Erfolg ist umstritten, ihre Ergebnisse werden in der Fachwelt kontrovers diskutiert. TAVI soll deshalb erst nach eingehender Beratung der Herzspezialisten bei Risikopatienten und Älteren über 75 Jahren angewandt werden. Für das Krankenhaus ist der wirtschaftliche Unterschied beträchtlich: Die herkömmliche Operation bringt rund 13 000 Euro ein, TAVI 34 000 Euro. In Bayreuth häuften sich die teuren Katheterbehandlungen, auch 22 Patienten unter 75 Jahren wurden auf diese Weise behandelt. Alle in enger Absprache mit der Herzchirurgie, betont das Klinikum, „typischerweise werden in Bayreuth TAVIs erst ab 78 Jahren durchgeführt“. In einem Fall sei es dabei zum Riss einer Beckenarterie gekommen, in einem anderen habe eine Teilamputation durchgeführt werden müssen. Aber die Komplikationsrate sei unter dem Bundesdurchschnitt. Dass solche Zustände in profitorientierten Hospitälern wie Bayreuth unhaltbar sind, hat inzwischen auch die Politik verstanden. „Bislang gibt es eine verhängnisvolle Korrelation zwischen Krankenhäusern, die schwarze Zahlen schreiben und schlechte Qualität abliefern, und Häusern, die rote Zahlen schreiben, aber gute Medizin leisten“, mahnt SPD-Mann Lauterbach. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) verweist darauf, dass bis Jahresende Kriterien für das neue Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen festgelegt werden sollen. Danach soll endlich ausgewertet werden, welche Eingriffe zu oft gemacht werden, wo es zu Komplikationen kommt – und in welchen Krankenhäusern erfolgreich operiert wird. In der schönen, heilen Welt der Zukunft sollen Patienten schon vor der stationären Aufnahme über die Ergebnisse der Klinik bei vergleichbaren Eingriffen in der Vergangenheit informiert werden: wie hoch die Komplikationsrate ist und wie das Krankenhaus im Vergleich mit mindestens zwei Hospitälern in der Region abschneidet. Qualität könnte dann wieder vor Quantität stehen. Aber bis Gröhes Transparenzoffensive in die Praxis umgesetzt wird, werden noch Jahre vergehen. Udo Ludwig, Barbara Schmid „Er ist der Typ Einzelgänger“ Neun Jahre lang arbeitete Markus R., 31, für den Bundesnachrichtendienst (BND) in Pullach. Anfang Juli wurde er unter dem Verdacht der Spionage verhaftet. Laut seinem Geständnis war er zwei Jahre lang für die CIA tätig und leitete mindestens 218 Dokumente aus der Abteilung „Einsatzgebiete/Auslandsbeziehungen“ an den US-Geheimdienst weiter. Der Karlsruher Anwalt Klaus Schroth vertritt den BND-Mann. SPIEGEL: Herr Schroth, hat sich die CIA bereits bei Ihnen gemeldet, um sich nach dem Befinden ihres aufgeflogenen Agenten Markus R. zu erkundigen? Bundesnachrichtendienst in Pullach: „Kleiner Angestellter mit weniger als 1500 Euro netto“ Schroth: Bislang nicht. Es könnte sein, dass die US-Behörden an mich herantreten werden. Immerhin geht es um einen heiklen Spionagefall, der mit anderen Ereignissen die Beziehungen zwischen Washington und Berlin schwer belastet. SPIEGEL: Ihr Mandant soll 25 000 Euro Agentenlohn erhalten haben. War es das wert? Schroth: Sicher nicht. In seinem Geständnis hat er auch sehr bereut, was er angerichtet hat. Die Tragweite seines Handelns hat er wohl nicht überblickt. Wie er sagte, habe er großen Mist gebaut. Auf mich macht er den Eindruck, dass er froh ist, dass das Ganze vorbei ist. Er wirkt erleichtert. SPIEGEL: Welche Motive sehen Sie bei Markus R. für sein Handeln? Schroth: Dies wird noch zu eruieren sein. Mehrere Motive könnten da zusammengekommen sein. Für einen kleinen Angestellten, der weniger als 1500 Euro netto im Monat verdient, mag Geld eine gewisse Rolle gespielt haben. Der Frust über seine Arbeit war vielleicht ein weiterer Faktor. Denn er wäre gern nach Berlin gezogen, hatte schon entsprechende Anträge beim BND gestellt. Dessen Umzug nach Berlin verzögerte sich aber dauernd. Schließlich wollte er ganz aus dem Dienst ausscheiden. Er hatte bereits Bewerbungen an andere Behörden geschickt. SPIEGEL: Im Alter von einem Jahr trug Markus R. infolge einer Impfung körperliche Schäden davon; er gilt als schwerbehindert. Ist er überhaupt voll schuldfähig? FOTO: ALESSANDRA SCHELLNEGGER Geheimdienste Markus R. spionierte als BND-Mitarbeiter für die CIA. Sein Anwalt Klaus Schroth fordert die Kronzeugenregelung für seinen Mandanten. FOTO: ULI DECK / DPA Deutschland Schroth: Dies soll ein Sachverständiger feststellen. Seine Beeinträchtigungen lässt die Bundesanwaltschaft derzeit durch einen psychiatrischen Gutachter klären. Dem Sachverständigen gegenüber hat sich R. ausführlich geäußert. Er hat nur leichte Behinderungen beim Gehen und beim Sprechen. Ich denke nicht, dass von einer Schuldunfähigkeit ausgegangen werden kann. SPIEGEL: Nach der Biografie eines klassischen Agenten hört sich R.s Vita nicht an. Schroth: Die Person und Persönlichkeit, wie ich sie erlebe, entspricht in der Tat nicht der jener Spione, die ich bislang kennengelernt und verteidigt habe. Ein echter Profi hätte seine Dienste nicht über eine E-Mail an die Info-Adresse einer Botschaft angeboten. Hätten die US-Diplomaten dem deutschen Verfassungsschutz einen Hinweis gegeben, wäre mein Mandant bereits nach seiner ersten Kontaktaufnahme enttarnt worden. Dass er als BND-Beamter unbemerkt agieren konnte, deutet zudem darauf hin, dass die Verfassungsschützer ihr Augenmerk bislang nicht auf befreundete Länder richteten. SPIEGEL: Musste Ihr Mandant nicht jederzeit damit rechnen aufzufliegen? Schroth: Das zeigt ja seine Naivität. Dass er sich danach an das russische General- Rechtsanwalt Schroth „Er hat bereut, was er angerichtet hat“ konsulat wandte und auch Unterlagen lieferte, bezeichne ich als große Dummheit. Das musste fast zwangsläufig zu seiner Enttarnung führen … SPIEGEL: … weshalb der Verfassungsschutz ihn zunächst für einen russischen Maulwurf hielt. Schroth: Die Möglichkeit, dass die CIA in Deutschland Agenten führen könnte, hat offenbar niemand in Erwägung gezogen. In einer fast neunstündigen Vernehmung hat mein Mandant von sich aus den Kontakt zu den Amerikanern erwähnt und auf eine bis dahin noch nicht bekannte Straftat hingewiesen. Damit wird er in dem gegen die US-Agenten zu führenden Verfahren eine Kronzeugenrolle einnehmen, was in seinem Verfahren sicher spätestens bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sein wird. SPIEGEL: Was hat Markus R. überhaupt zu seinem Job beim BND befähigt? Schroth: Er hatte eine Ausbildung zum Bürokaufmann, bevor er zum Bundesnachrichtendienst kam und dort in der Registratur arbeitete. Wenn jemand wie er tatsächlich umfangreiches Material, das noch dazu geheim eingestuft war, mit nach Hause nehmen konnte, wirft dies Fragen der Qualität der Eigensicherung des Geheimdienstes auf. Dies wird noch zu klären sein. SPIEGEL: Wie ist Markus R. im Gefängnis untergebracht? Schroth: In einer Einzelzelle, ohne Kontakt zu anderen Gefangenen. Er hat Einzelhofgang, wie dies in solchen Fällen üblich ist. Ich glaube, er ist der Typ Einzelgänger, der kein großes Bedürfnis hat, mit anderen zu reden. Er darf Zeitschriften und Tageszeitungen beziehen, hat auch einen Fernseher, sodass er die Spiele der Fußballweltmeisterschaft verfolgen konnte. Außerdem hatte er bereits Besuch von seinen Eltern und von seiner Schwester – allerdings waren sie durch eine Glasscheibe getrennt. Auch seine Freundin steht weiterhin zu ihm. SPIEGEL: Am vergangenen Montag schickte der BND Markus R. die fristlose Kündigung. Will er dagegen vorgehen? Schroth: Er hat die fristlose Kündigung akzeptiert. Interview: Hubert Gude 1 2 3 4 5 6 Sechserpack Unten ist Schweigen. Nichts hört man, nicht Sommerschlager, nicht Sommerinterview, nicht Helene Fischer, nicht Sigmar Gabriel. Zu 70 Prozent besteht die Erdoberfläche aus Wasser, und wenn Mensch und Wasser zusammenfinden, wie hier in Hongkong (1), Bukarest (2), Kanazawa (3), Berlin (4), Acapulco (5) oder im spanischen Finestrat (6) – dann ist das manchmal: Glück. Tierwelt Warum lieben Vögel Flughäfen, Herr Altenkamp? Der Diplom-Biologe Rainer Altenkamp, 49, ist Vogelexperte und Vorsitzender des Naturschutzbundes Berlin. SPIEGEL: Herr Altenkamp, was halten Vögel vom Flughafen Berlin Brandenburg, wo außer ihnen noch keiner fliegt? Altenkamp: Sie profitieren schon jetzt von der Flughafenerweiterung. Wo mehr Platz ist, da ist auch mehr Wiese. Wenn diese, wie es auf deutschen Flughäfen üblich ist, nur ein einziges Mal im Jahr gemäht wird, 46 DER SPIEGEL 32 / 2014 brüten die Vögel dort sogar unmittelbar neben der Landebahn. SPIEGEL: Stört der Fluglärm die Vögel denn überhaupt nicht? Altenkamp: Bevor so ein Vogel wegen des Lärms einen Platz räumt, muss viel geschehen. Wir wären an seiner Stelle wahrscheinlich tot, mindestens aber taub. Der Vogel hat die Fähigkeit, selektiv zu entscheiden, was er hören will und was nicht – ein Wunder der Natur. Das Rotkehlchen etwa singt bei Revierkämpfen gegen seinen Rivalen an, um ihn zu vertreiben. Beide steigern sich kontinuierlich und erreichen Lautstärken von bis zu 100 Dezibel, das entspricht einer laufenden Motorsäge. SPIEGEL: Welche Vögel sind derzeit am Flughafen BER zu Hause? Altenkamp: So eine Flughafenbaustelle ist ein hoch dynamischer Lebensraum. Vor gut einem Jahr lebte dort noch der Flussregenpfeifer. Dieser bevorzugt feuchte Bereiche an vegetationsfreien Flächen. Sobald sich die Flächen zu Wiesen weiterentwickelt haben, brütet dort vor allem die Feldlerche, eine inzwischen bedrohte Vogelart. SPIEGEL: Aber draußen auf den Feldern hätten die Vögel es doch angenehmer. Altenkamp: Tatsache ist, dass sie hier Areale finden, wie sie ihnen die Landwirtschaft nur noch sehr selten bietet. Grünland wird heute von Bauern intensiv beweidet oder alle sechs Wochen gemäht. Immer häufiger wird es auch in Raps- und Maisäcker umgewandelt. Diese sind für die Brut jedoch ungeeignet. Anders als in Parkanlagen müssen Vögel auf Flughäfen auch keine frei laufenden Hunde fürchten. SPIEGEL: Ihr Fazit ist also: der Flughafen – ein Paradies für Vögel? Altenkamp: Ja, wäre da nicht die Glasfassade des BER-Terminals, der während der Nacht voll beleuchtet ist. Für Zugvögel, die ab Ende Juli wieder meist nachts unterwegs sind, ist das ein Massengrab. Sie werden durch das Licht angelockt und verunglücken in Scharen, jede Nacht. Betroffen sind vor allem Singvögel wie etwa Drosseln, Wachteln und Kuckucke. red FOTOS: @ONEHEARTONELOVEONEEARTH/EYEEM (1); @ANDRABOTEZ/EYEEM (2); @HARAYU/EYEEM (3); @LOTTI/EYEEM (4); @RACHVE/EYEEM (5); @SUXSIEQ/EYEEM (6) Gesellschaft Auf dem Tisch vor ihnen liegt eine alte Ausgabe der Bunten mit Bildern vom Opernball. Cathy sitzt in einem Paillettenkleid neben Kim Kardashian, US-Model und Serienschauspielerin, in Lugners Loge. Vor ihr saßen dort schon Frauen wie Sophia Loren, Claudia Cardinale oder, dann 2003, Pamela Anderson. Cathy lernte trotzdem erst einmal Krankenschwester. Sie Eine Meldung und ihre Geschichte Wie Familie bewarb sich aber auch für den Playboy und als Playboy-Bunny Schmitz aus Wittlich es findet, dass ihre für den Playboy-Club in Köln. Im Herbst 2012 fing sie dort an. Tochter jetzt mit Richard Lugner zusammen ist In einer Schulung lernte sie, wie man da ging, wie man da saß. Sie arbeitete. Sie ließ sich die Brüste machen. Ein Jahr später zeigte sie der Playboy auf dem Titel, in roten Strapsen, als as Haus der Familie Schmitz liegt friedlich am Ortsaus- eine der fünf „schönsten Krankenschwestern“ Deutschlands. Lugner traf sie das erste Mal kurz zuvor. Ihr Playboy-Club gang von Wittlich-Wengerohr, zwischen den Wiesen und Wäldern von Eifel und Mosel, es ist hellblau ange- hatte sie als Bunny nach Wien geschickt, um ihn einzuladen. Lugner rief jetzt manchmal an. Auch Papa Schmitz nahm strichen, und in den Blumenkübeln stecken Herzen aus Stroh. Am Küchentisch, auf violetten Stühlen, wartet Familie mal ab, er reichte das Telefon weiter. Sein Kind war glücklich. Seine Frau googelte Lugners Namen und sorgte sich erst weSchmitz mit Kaffee: Vater Michael, 52, Mutter Maria, 54, die gen seiner vielen Frauen. Er nannte sie Hasi, Bambi, Katzi Kinder Beate, 36, und Sohn Rafael, 30. Nur die Jüngste fehlt, Catherine, genannt Cathy, 24. Sie lebt und eine, die halb farbig war, Kolibri. Cathy nennt er Spatzi. seit Kurzem in Wien, mit ihrem neuen Freund: Richard „Mör- Den Kuchen für den Tag, an dem Lugner vorfuhr, hatte der Vater selbst gebacken, er legte das tel“ Lugner, Bauunternehmer, vierSchwein auf den Grill. Seine Tochter mal verheiratet, Freund des Wiener kletterte mit ihrem neuen Freund Opernballs, 81. Das Paar hat schon auf den Hausberg. Die Nachbarn zur Verlobung eingeladen, und zu machten heimlich Fotos von Cathy Besuch in Wittlich-Wengerohr war und dem alten Mann. es auch schon. Sie aßen Kuchen und Das Paar schlief in Cathys altem Spießbraten. Richard Lugner wollte Zimmer, hellblau, mit Blick auf den wissen, wie Cathy aufgewachsen ist. Gebrauchtwagenhändler gegenüber. Und? Wie war sie als Kind? Über dem Bett klebt ihr Motto, das „Sie wollte im Mittelpunkt steihrer Eltern: „Lebe Deinen Traum!“ hen“, sagt die Schwester. Lugner schlief darunter ein. „Sie hatte viele Ideen und ihren Der Vater sagt, dieser Mann sei eigenen Kopf“, sagt die Mutter. intelligent und bodenständig. Er „Als Prinzessin ist sie aufgewachbaut Häuser, der Vater baut Straßen. sen“, sagt der Vater. Sie verstanden sich. Papa Schmitz Papa Schmitz redet nicht viel, er ist nicht der Typ. Er sitzt rund und war gleich einverstanden damit, seine in weißem Hemd am Tisch, er atmet Tochter zur Verlobung am 1. August schwer. Er hat seit 25 Jahren ein kleiin einem Boot über den Wörthersee nes Unternehmen, er pflastert Strazu fahren. Er kümmert sich. Familie Schmitz ßen. Als er anfing, rauchte er zwei Als der Sohn studieren wollte, bis drei Schachteln Zigaretten am statt mit Papa Steine zu klopfen, Tag und hatte wenig Zeit für die halfen die Eltern. Als Beate auch Familie. nicht mehr Krankenschwester sein Seine Frau fuhr also immer allein wollte, sondern Ärztin, taten sie das mit den Kindern in den Urlaub, auch. nach Griechenland, Spanien. Cathy Cathy wohnt jetzt in einem growar das Kind, das im Ferienklub auf ßen Haus mit Pool. Ihre Facebookder Bühne in Lackschuhen sang und Seite hat schon 18 457 Likes. Zwar Aus der Süddeutschen Zeitung Geschenke bekam von Kellnern. hat Daniela Katzenberger fast zwei Zu Hause bekam sie auch, was sie wollte: den Barbie-Bade- Millionen, aber Verona Pooth gerade 1263. Cathy ist auf einem anzug, die Barbie-Ballettschuhe, eine Barbie, die so groß war guten Weg, finden ihre Eltern. wie sie selbst. Sie trug das gleiche Kleid wie Barbie und tanzte Und das Alter ihres Freundes? darin vor dem Spiegel. Und wenn Papa sonntags Zeit hatte, „Wir akzeptieren das“, sagt der Vater. fuhr er mit ihr ins Phantasialand. Und die Frauen? „Ihr habt sie verwöhnt!“, sagt die Schwester. „Wir hatten das Gefühl, er meint es ernst“, sagt die Mutter. „Wir wollten, dass sie glücklich ist“, sagt der Vater. Seine ElEs gibt also kein Problem? tern arbeiteten jeden Tag in einer Gaststätte. Cathy ist sein Die Familie schweigt zum ersten Mal für einen Augenblick. einziges Kind, die anderen beiden sind Stiefkinder. Er wollte, Cathy hat noch einen größeren Traum als den, den sie lebt: Sie dass sein Kind, anders als er selbst, seine Träume leben durfte. will auch in den amerikanischen Playboy, und nun habe Hugh Als Teenager klebte Cathy ihr Zimmer voll damit. Die neue Hefner sie eingeladen. Die Familie möchte, dass sie fährt. Aber? blonde Frau in ihrem Leben hieß nun Pamela Anderson. Und Papa Schmitz spricht für seine Verhältnisse viele Sätze. Es als Pamela Anderson damals auf dem Playboy erschien, wollte geht um Freiheit und um grenzenlose Liebe. Aber? „Na ja“, sagt Cathy Schmitz das auch. Sie wollte berühmt werden. die Mutter vorsichtig. „Wir sind modern, der Richard, der ist „Ja, ja“, sagten ihre Eltern damals zum ersten Mal. Heute eher altmodisch und eifersüchtig.“ Sie macht eine Pause und sagt wissen sie, dass Cathy es mit diesem Traum ernst meinte. dann: „Der Richard, der will das nicht.“ Barbara Hardinghaus Barbie, Pamela, Cathy FOTOS: OLIVER TJADEN / DER SPIEGEL D DER SPIEGEL 32 / 2014 47 Heim in die Hölle Verbrechen Kinder zu quälen war jahrzehntelang üblich. Nun fand man Leichen, und Überlebende berichten, was ihnen hier geschah. Bis 2011 war die einst größte Besserungsanstalt der USA in Betrieb – ein Ort der Folter, mitten in Florida. Von Claas Relotius Einstiger Anstaltsschlafsaal in Marianna Gesellschaft Ehemaliger Heimzögling Cooper: Ausgepeitschte Rücken, Brandmale auf der Haut FOTOS: MEGGAN HALLER / NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF (L.); JOCK FISTICK / DER SPIEGEL (R.) J eder Schritt ist für Jerry Cooper eine brachte, im Dezember 1960. Zehn Monate Mutprobe, mit jedem Meter vorwärts später, als er das Heim wieder verließ, war kehrt ein Stück Angst zurück. Er zit- seine Jugend für immer vorbei. Er deutet tert, es ist alles noch da, nichts hat Cooper auf ein kleines Haus, das noch immer auf vergessen. Nicht das Football-Feld, auf einem grasbewachsenen Hügel der Anstalt dem die Erzieher ihn zwangen zu spielen. steht. Ein weißer Betonschuppen mit HolzNicht das Haus des Direktors mit dem gro- planken vor den Fenstern. Die Aufseher ßen Speisesaal, von dessen Betonboden nannten es das „White House“. Kein Junge, die Jungen das Essen auflecken mussten, der es von innen gesehen hat, kann es verwenn sie nicht aufgegessen hatten. Nicht gessen. Cooper erzählt, dass er und die anderen die aneinandergereihten Ziegelsteinbaracken, aus denen die Aufseher ihn und die nicht viel anstellen mussten, um bestraft zu werden. Es genügte ein nicht gemachtes anderen zerrten, mitten in der Nacht. Kniehoch steht das Gras auf dem Ge- Bett, eine unerledigte Schulaufgabe oder lände, die hölzernen Flutlichtmasten, die ein falsches Wort im falschen Augenblick. Gebäude, es ist alles wie damals. Über „Viele Jungen waren einfach irgendwann dem alten Eingangstor hängt noch das gro- dran“, sagt Cooper. „Die Männer, die uns ße, rostige Schild mit den Mahnungen, die holten, wollten ihren Spaß haben.“ An jeden Jungen erwarteten, der in die An- Blut und Schweiß. An Folter und Vergewaltigungen. An Schreien, die niemand stalt von Marianna kam. „Du sollst nicht länger eine Gefahr für hörte. Marianna liegt eine gute Autostunde die Gesellschaft sein.“ „Du sollst lernen, dich an Regeln zu hal- westlich von Tallahassee. Es ist eine Kleinstadt im Norden Floridas. Ausgetrocknete ten.“ „Du sollst daran arbeiten, ein aufrechter Sümpfe und jahrhundertealte Bäume umschließen sie wie eine Insel, von den Ästen und guter Mensch zu werden.“ Cooper, 69, ein grauhaariger Mann mit hängt das Spanische Moos der Südstaaten Schnurrbart und verblassten Tattoos auf herab wie Lametta. Was hier, im Herzen von Jackson Counden Armen, geht schleppend durch das Tor, er wandert schweigend über den Hof. ty, geschah, spielte sich häufig im VerborEr sieht Gitterstäbe, zerbrochene Fenster- genen ab. Einst beherrschte der Ku-Kluxscheiben. Hier die Unterrichtsräume, in Klan den Ort, Männer mit weißen Kapudenen die Lehrer wegsahen und nichts wis- zen und brennenden Kreuzen, sie ritten sen wollten. Dort die Krankenstation, wo nachts durch die Felder, auf der Jagd nach die Schwestern stumm die Wunden der Schwarzen, die sie an den Bäumen aufJungen pflegten: ausgepeitschte Rücken, knüpften, aber kaum jemand sprach darüzerschlagene Gesichter, Brandmale auf der ber. Heute leben knapp 9000 Menschen in Haut. Die Jungen weinten, schrien, man- Marianna. Die Stadt zählt drei Kirchen, che riefen nach ihren Müttern. Nach drau- zwei Jagdklubs und eine Hauptstraße, die sich kilometerlang zwischen heruntergeßen drang nichts. Jerry Cooper war 15 Jahre alt, ein Junge kommenen Flachbauten hinzieht. Weit mit Segelohren und Pomade im Haar, als draußen, versteckt hinter einem Wald, man ihn in die Florida School for Boys liegt die Florida School for Boys. Mit ihren DER SPIEGEL 32 / 2014 49 Gesellschaft Suchscheinwerfern und meterhohen Stacheldrahtzäunen erinnert sie an eine aus der Zeit gefallene Kaserne. Furchtbar sind ihre Geheimnisse. Auf dem Gelände der einstigen Besserungsanstalt wurden im vergangenen Herbst zwei Dutzend Kinderleichen gefunden, die in offiziellen Sterberegistern fehlen. Die Gräber lagen auf dem alten Friedhof der Anstalt, einer unscheinbaren Wiese auf der Rückseite des Geländes. Jerry Cooper führt an ihren Rand, er schaut auf Dutzende breite Löcher im Boden, er umklammert den Absperrzaun, als müsste er sich festhalten. Es ist Mittag, die Sonne scheint senkrecht herab, der Geruch trockener Erde liegt in der Luft. Bis Anfang des Jahres gruben Wissenschaftler, Anthropologen, hier nach Skeletten und Leichenresten. Jetzt kreisen Vogelscharen über der größten und ältesten Erziehungsheime der USA; bis 1968 war die Anstalt in Sektionen für weiße und für schwarze Jungen geteilt. Elf Jahrzehnte lang unterhielt der Staat das Internat, vor drei Jahren wurde die Anstalt geschlossen. Sie war gedacht für Kinder und Jugendliche, die im Laden Zigaretten gestohlen hatten oder am Steuer eines Autos erwischt worden waren. Jerry Cooper war zum dritten Mal von zu Hause weggelaufen. Einmal zu viel für den Richter, der ihn an einem verregneten Dezembermorgen nach Marianna schickte. Die Aufseher der Anstalt sollten ihn Gehorsam und Respekt vor Autoritäten lehren. Von dem Albtraum, der im White House auf ihn wartete, wusste er nichts. Cooper ist heute ein Mann mit rauer Stimme und gefurchtem Gesicht. Er lächelt nur selten und wenn doch, dann erinnert Er war dreimal von zu Hause weggelaufen. Also kam er in die Anstalt, um Gehorsam zu lernen. Stelle, um sich in der aufgerissenen Erde die Würmer zu schnappen. Die Florida School for Boys war eine Festung, von der Welt isoliert, aber Gerüchte gab es von Anfang an. Es war das Jahr 1903, das Heim war gerade gegründet, da erzählten Aufsichtsbeamte schon von Jungen, die man in den Schlafbaracken an Ketten hielt. Keine elf Jahre später kamen sechs Kinder bei einem Brand im Schlafsaal ums Leben. Sie waren in ihrer Schlafbaracke eingeschlossen, als die Alarmsirenen heulten. 1958 berichtete ein ehemaliger Mitarbeiter vor einem Ausschuss des US-Senats von schweren Misshandlungen und Folter. 1968 schrieben die Reporter einer Lokalzeitung über Vergewaltigung im „Heim der Hölle“. Mit knapp 200 Aufsehern für 800 Jungen war die Florida School for Boys eines der sein Lächeln an die Grimassen, hinter denen sich Gebrochene oft verstecken. Er wirkt nicht wie jemand, der sich aufspielt. Er sagt, ihn hätten sie nur einmal geholt. Die Geschichte, die er erzählt, handelt von einer Nacht im Juni 1961. Er zieht nach jedem Satz an seiner Zigarette, als schnappte er nach Luft. Zwei Männer in Uniform kamen abends in den Schlafraum, packten ihn an den Schultern und zerrten ihn nach draußen auf den Hof. Dort schubsten sie ihn in einen blauen Wagen und fuhren mit ihm bis ans Ende des Anstaltsgeländes, dorthin, wo der Wald begann und das White House stand. Es gab keinen Anlass. Er war einfach dran. Als sie ihn mit einem Tritt durch die Tür stießen, schlug ihm der Gestank von Schnaps und Körperflüssigkeiten entgegen. Auf der Bank vor ihm saßen drei Anthropologin Kimmerle (M.), Kollegen: Zwei Dutzend anonyme Kinderleichen 50 DER SPIEGEL 32 / 2014 Männer, die ihre Hemdsärmel aufgekrempelt und ihre Anzüge akkurat über einen Stuhl gehängt hatten. In der Dunkelheit konnte er ihre Gesichter nicht genau erkennen, einer von ihnen hatte nur einen Arm und einen Gürtel in der Hand. Es war Troy Tidwell, ein leitender Aufseher, der sich den linken Arm Jahre zuvor mit einer Schrotflinte zerschossen hatte und in der Anstalt als besonders brutal galt. Cooper versuchte zu fliehen, zur Tür zu gelangen, zu entkommen. Aber seine Peiniger traten ihn nieder, fesselten ihn auf dem Boden, ihr Schweiß tropfte auf seine Haut. Bald rissen sie ihm das Nachthemd vom Leib, bald begannen die Hiebe mit den Peitschen und Gürteln. Sie schlugen so hart zu, dass seine Haut aufplatzte. Jerry Cooper wurde ohnmächtig, erst am nächsten Morgen kam der Junge wieder zu Bewusstsein, da lag er drüben im Schlafraum in seinem Bett. Sein rechter Fuß war gebrochen, ihm fehlten sechs Schneidezähne, seine Lippen waren aufgeplatzt wie überreife Pflaumen. Er war vergewaltigt worden. Die Matratze war rot von seinem Blut. In jener Nacht, sagt Cooper, hätten ihn die Männer gebrochen, die vermeintlichen Erzieher und Aufseher, die Lastwagenfahrer und Straßenbauer waren, Arbeiter aus Marianna, die dem Staat gut genug erschienen, um schwierigen Jungen Disziplin beizubringen. Ein Teil von ihm, sagt Cooper, sei immer in jener Nacht geblieben. Andere, Freunde von ihm, keine 13 Jahre alt, kamen nie mehr aus dem White House zurück. Sie blieben verschwunden von einem Tag zum nächsten. „Als hätte ein Loch in der Anstalt sie verschluckt.“ 53 Jahre sind Coopers Erlebnisse alt, John F. Kennedy war damals Präsident, und die Amerikaner hatten den Mond noch nicht betreten. Fünf Jahrzehnte später steht Erin Kimmerle in einem fensterlosen Forschungslabor in Tampa vor einem Metalltisch mit Knochenteilen und zwei Dutzend Rätseln. Die Anthropologin der University of South Florida ist eine 41jährige Frau mit Doktortitel und ruhiger Stimme, feingliedrigen Händen und langen, blonden Haaren. Sie sucht nach Antworten auf die Frage, zu wem die Skelette gehören, die sie und ihr Team im Erdboden der Anstalt fanden. Das Heim hatte über die Jahre 31 Gräber mit namenlosen, weißen Kreuzen markiert und einen eigenen Friedhof angelegt. Aber die Forscher fanden 24 Skelette, die von Menschen stammten, die ohne Kennzeichnung verscharrt worden waren. Kinder, die in keinen Dokumenten auftauchen. Jungen, die ohne Särge bestattet wurden, vergraben wie dunkle Geheimnisse. Erin Kimmerle träumte schon als junges Mädchen davon, Forscherin zu werden und wie eine Detektivin den Verbrechen FOTOS: ALAMY / MAURITIUS IMAGES Menschliche Überreste auf dem Schulgelände: Münzen und Murmeln aus den Hosentaschen der Toten vergangener Tage nachzuspüren. Auf dem College belegte sie Kurse in Anthropologie und Archäologie. Später spezialisierte sie sich auf Forensik und arbeitete für die Uno an Gräbern und Tatorten auf der ganzen Welt: Nigeria, Ruanda, Bosnien, Kosovo, überall dort trugen ihre Ausgrabungen zur Aufklärung von Morden und Kriegsverbrechen bei. Kimmerle gehört zu den renommiertesten forensischen Anthropologen der USA, aber nie zuvor lagen ihre Fälle derart vor der eigenen Haustür, und noch nie hatte sie es mit Spuren zu tun, die so weit in die Vergangenheit führen wie die Jungenleichen in Marianna. Was ihr Team im Erdboden des Friedhofs entdeckte, waren neben Skelettteilen und Milchzähnen auch jahrzehntealte Münzen und Murmeln, die sich in den Hosentaschen einiger Kinder befunden haben mussten, als man ihre toten Körper vergrub. In Kimmerles Labor, ausgerüstet mit mannshohen Röntgengeräten, liegen die Funde nebeneinander wie Puzzleteile. Bodenproben lassen vermuten, dass die Jungen zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen 1918 und 1973 starben. Anhand ihrer Überreste die Identitäten und Schicksale zu rekonstruieren ist kompliziert, doch Kimmerle glaubt an eine Chance. DNAAnalysen sollen helfen herauszufinden, wer die Jungen waren. Viele Angehörige haben nie erfahren, wie, warum und wann genau ihre Söhne oder Brüder in der Florida School for Boys ums Leben kamen. Wenn ein Junge starb, verschickten die Anstaltsleiter ein paar kurze Sätze, einen Brief oder ein Telegramm. Sie schrieben, dass eine Grippe oder eine Lungenentzündung schuld am Tod der Kinder gewesen sei, und sie beerdigten sie, noch bevor ihre Familien die Leichname sehen und Abschied nehmen konnten. Die meisten Eltern fanden sich damit ab, vielen fehlte auch das Geld für eine Bestattung. An Misshandlungen oder gar Morde im Heim dachte niemand, auch weil es kein Heimjunge je gewagt hätte, vom Grauen in Marianna zu erzählen. Jerry Cooper verlor nach seiner Entlassung über 40 Jahre lang kein Wort über das White House. Erst hielt er sich verängstigt an das Verbot der Aufseher, jemals über die Geschehnisse zu reden. Später, sagt er, habe er sich geschämt, davon zu erzählen. Selbst vor seiner Mutter, erst recht vor seinen Frauen, er ist nun zum zweiten Mal verheiratet. Seine Vergangenheit holte ihn an einem Nachmittag im Dezember 2008 wieder ein. Jerry Cooper saß zu Hause in Südflorida vor dem Fernseher, und der Nachrichtensender CNN berichtete vom Tod eines 14-jährigen schwarzen Jungen in einem Erziehungscamp in Panama City, einem Ort an der Küste Floridas, nur eine Autostunde von Marianna entfernt. Der Junge war kollabiert, als ihn Aufseher mit Schlägen und Tritten zum Laufen zwingen wollten. Und plötzlich fiel auch der Name von Marianna, der Florida School for Boys. Die Rede war von einem Dutzend Männern, die aussagten, in jener Anstalt ähnliche und schlimmere Misshandlungen er- fahren zu haben als nun der Junge in Panama City. Die Fernsehbilder zeigten das weiße Gebäude, an das Jerry Cooper all die Jahre vor dem Einschlafen hatte denken müssen. Das Haus seiner Albträume. Das White House. Sein Herz raste. Er begann, die Männer aus dem Fernsehbericht zu suchen, die anderen Opfer. Er fand Charles Dowell, 67, einen bärtigen Mechaniker aus Clearwater, Florida, der auf dem Parkplatz eines Supermarktes zusammengebrochen war, weil ihn die Nachrichten aus Panama City so sehr an seine eigene Geschichte im White House erinnerten. Er fand Roger Kiser, 68, einen Schriftsteller aus Brunswick, Georgia, der inzwischen zum sechsten Mal verheiratet war und noch immer keinen Menschen umarmen konnte. Cooper fand Mike Anderson, 67, einen Architekten aus Berkeley, Kalifornien, der ihm erzählte, dass er nicht im Dunkeln habe schlafen können, bis er vierzig gewesen sei. James Griffin, ein Rentner aus Apoka, Florida, war 68 und konnte das noch immer nicht. Sie tauschten sich aus über das Unsagbare, sie schwiegen, weinten gemeinsam und beschlossen, nach weiteren Opfern zu suchen. Mit der Hilfe eines Freundes stellte Cooper eine Seite ins Netz, auf der er seine Geschichte erzählte und andere Männer ermutigte, das Gleiche zu tun. Er gab der Seite den Titel „The White House Boys Organization“ und hinterließ die Telefonnummer zweier Anwälte, denen er vertraute. Mehr als 200 Anrufe gingen in den darauffolgenden Monaten ein, sie kamen DER SPIEGEL 32 / 2014 51 aus ganz Amerika, und sie fügten sich zu einem Bild: Aufgewühlte, ältere Herren erzählten von ihren Wunden, davongetragen in der Anstalt von Marianna. Die Opfer und Zeugen berichteten übereinstimmend, wie sie zu Oralsex gezwungen wurden; wie Jungen totgeprügelt wurden, wenn sie nicht gehorchten; wie behinderte Kinder an Ketten gehalten wurden und in ihren eigenen Exkrementen starben. Fast alle Zeugen erwähnten unter den vielen Angestellten der Florida School for Boys genau zwölf Erzieher und Aufseher, darunter stets den einarmigen Troy Tidwell, der mit der Eisenschnalle seines Gürtels so auf sie eingedroschen habe, dass breite Narben auf ihren Rücken noch immer davon zeugten. Die Florida School for Boys hatte inzwischen einen anderen Namen und wurde offiziell seit 1968 ohne körperliche Strafen milienvater, der auf Gemeindefeiern gern bis als Letzter tanzte und Kindern gegenüber voller Wärme war. Im Jahr 2011 stellte die Behörde ihre Ermittlungen gegen Tidwell und die Anstalt schließlich ein. Misshandlungen, so hieß es, seien strafrechtlich verjährt, und Morde ließen sich nicht mehr beweisen. Es war zu dieser Zeit, der Fall war so gut wie geschlossen, als Erin Kimmerle von der Universität in Tampa auf die Vorwürfe gegen das Erziehungsheim aufmerksam wurde. Sie hörte die Geschichten von Jungen, die unter rätselhaften Umständen ums Leben gekommen waren. Als Forscherin, die sich seit Jahren mit Leichen auf der ganzen Welt befasste, erschien ihr das alles verdächtig. Sie wusste, dass staatliche Erziehungsanstalten spätestens seit den Zwanzigerjahren zur Dokumentierung von Sterbefällen verpflichtet gewesen waren. Einer der Erzieher lebt noch: der Einarmige mit dem Gürtel, der als der Brutalste von allen galt. geführt, aber die Wirklichkeit sah anders aus. 2009 klagten die Männer, die sich jetzt die „White House Boys“ nannten, gegen die Anstalt, woraufhin Floridas Strafverfolgungsbehörde Ermittlungen einleitete. Zwei Jahre später wurde das Erziehungsheim geschlossen; aus Budgetgründen, wie es offiziell hieß. Von den in der Klage genannten Angestellten lebte nur noch einer. Es war Troy Tidwell, jener Einarmige, der Mann mit dem Gürtel, den die ehemaligen Insassen als brutalsten und sadistischsten von allen beschrieben. Tidwell, inzwischen über neunzig und in einem Pflegeheim lebend, hatte bis zu seiner Pensionierung fast vier Jahrzehnte lang für die Anstalt und den Staat gearbeitet. Als er mit den Vorwürfen konfrontiert wurde, sprach er von „Klapsen“, die er einigen Jungen „hin und wieder“ gegeben habe. Seine Bekannten beschrieben ihn als ehrlichen und treu sorgenden Fa52 DER SPIEGEL 32 / 2014 Aber es dauerte zwei Jahre, bis sie die Genehmigung erhielt, den Friedhof mit Spürhunden und Radargeräten zu erforschen. Im vergangenen Herbst stieß sie schließlich auf die versteckten Gräber. „Was wir gefunden haben“, sagt Kimmerle in ihrem Labor in Tampa, „sind noch keine Beweise, aber es sind Spuren.“ Gleich mehrere Skelette wiesen eine eingedrückte und zertrümmerte Schädeldecke auf, zurückzuführen, sagt Kimmerle, auf Fremdeinwirkung. Echte Beweise zu finden wird schwierig werden. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Troy Tidwell, der einarmige Schläger, noch einen Prozess erlebt. Kimmerles Untersuchungen gehen weiter, Floridas Justizbehörde finanziert ihre Arbeit mit. Sie sagt: „Die versteckten Gräber, die mysteriösen Tode, die Frakturen an einigen Skeletten – alles spricht dafür, dass hier Dinge geschehen sind, von denen niemand etwas wissen sollte.“ Sie vermu- FOTO: JOCK FISTICK / DER SPIEGEL Überlebende Heiminsassen: Nicht im Dunkeln schlafen, keinen Menschen umarmen tet, dass noch mehr Leichen auf dem Heimgelände liegen könnten, vom August an geht die Suche weiter. Die namenlosen Toten waren bisher alles Schwarze. Kimmerle geht davon aus, dass es irgendwo ein Feld mit toten Weißen geben muss. Ehe die Skelette von Marianna gefunden wurden, ließ sich Jerry Cooper wieder und wieder an Lügendetektoren anschließen. Er war besessen davon zu beweisen, dass nichts an seinen Geschichten erfunden sei. Die Narben auf seiner Haut genügten nicht. Kaum jemand hatte ihm und den anderen Opfern glauben wollen. Nicht der Staat, nicht die Polizei, am wenigsten die Menschen in Marianna. Allein zu bleiben mit seiner Geschichte gehört zu seinen bittersten Erfahrungen. Cooper fährt im Auto langsam die alte Hauptstraße der Stadt entlang, er erzählt. Durch die offenen Fensterscheiben weht warme Luft, draußen ziehen einzeln blinkend die Buchstaben kaputter Leuchtreklamen vorbei, der Abend legt sich über Florida. Cooper nimmt seit Jahren Beruhigungsmittel. Vor ein paar Tagen erst, sagt er, sei seine Frau über das Wochenende zu ihrer Schwester nach Tallahassee gefahren. Er blieb allein zu Hause, er fühlte sich stabil. Er mähte den Rasen, schaute Football, ging früh schlafen. Aber mitten in der Nacht wurde er wach. Er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben, und als er die Augen öffnete, saß ein einarmiger Mann mit einem Gürtel in der Hand auf seinem Bett und starrte ihn an. Jerry Cooper zog die Decke über sein Gesicht und verkroch sich darunter wie der Heimjunge, der er einst war und der die Schreie aus dem White House hörte. In den Autofenstern zieht Marianna vorbei, am Ortsausgang steht eine Handvoll Händler am Straßenrand und bietet White-House-Antiquitäten an, Stühle, Eisenketten, angebliche Folterbänke, die aus dem Erziehungsheim stammen und Auswärtigen als schaurige Souvenirs dienen sollen. In Marianna selbst sucht man noch heute vergebens nach Bewohnern, die an die Verbrechen in der Anstalt glauben. Obwohl hier fast jeder jemanden kennt, der einmal für die Florida School for Boys gearbeitet hat, wird eisern geschwiegen. Wer weiß noch von den Geschehnissen? Wer will nichts wissen? Wie viele schweigen? Jerry Cooper schweigt nicht mehr. Einmal, an einen Lügendetektor angeschlossen, stellte man ihm Fragen zum Alltag im Heim, zu den Aufsehern, auch zur Nacht seiner Misshandlungen im White House. Das Ergebnis ließ den Experten keine Zweifel, dass er die Wahrheit sagte. Nur einmal schlug das Gerät erkennbar aus und zeigte eine Lüge an. Cooper wurde gefragt, ob er die Geschehnisse im Erziehungsheim mittlerweile verarbeitet habe. Er antwortete mit Ja. Gesellschaft iGangster Homestory In Rio beraubt, in Rio beschenkt – warum meine WM erst jetzt zu Ende geht ILLUSTRATION: THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL A ls ich mich nach Brasilien aufmachte, um ein Fußballfest zu feiern und Weltmeister zu werden, hörte ich von allen Seiten: „Lass dich bloß nicht überfallen!“ Als es dann passierte, natürlich in Rio, natürlich an der Copacabana, als meine rechte Gesichtshälfte etwas abbekam und mein Handy verschwand, dachte ich: „Du Kind im Trikot! Wie kannst du glauben, dass das Leben vier Wochen lang einen Bogen um dich macht?“ Und nun, da mein Handy den Weg zurück zu mir gefunden hat, wie ein treuer Hund, über Kontinente hinweg, was ist nun? So fing es an: beim Fanfest an der Copacabana ein Video mit dem Handy gemacht, Schwenk von der Leinwand (Neymar singt die Nationalhymne) auf die Gischt der Wellen in der Abendsonne. Schlag in die Magengrube, jemand will mein Handy wegreißen, halte es umklammert. Natürlich weiß ich, dass man sich nicht wehren soll, aber der Körper verteidigt sich reflexartig. Kriege rechts und links in die Fresse, laufe den fünf Typen hinterher, ein Mädchen, das wohl zur Gang gehört, schreit mir zu (so denke ich mir), ich solle abhauen, sonst würde es heftig werden. Von den Umstehenden keine Reaktion, von Polizei weit und breit nichts zu sehen. Auf der Straße die Polizisten angesprochen, die damit beschäftigt waren, das Fifa-Hotel Copacabana Palace zu schützen. Hatten keine Lust, waren nicht zuständig, verwiesen auf die nächste Polizeiwache. Drei Wochen lang hatten wir alle Warnungen für übertrieben gehalten, drei Wochen dennoch alles getan, um nicht aufzufallen als blöde Beute. Und immer gedacht, es nervt, in jedem armen Brasilianer den Dieb zu sehen, der dein Handy will. Nach drei Wochen hatte ich mich in dieser Fanwolke sicher gefühlt. Aber es ist nun mal so, zwischen mir und den Dieben gibt es nichts Verbindendes, nicht Fußball, nicht Euphorie, nur mein Handy verbindet uns. Eine WM ist kein Fest der Fußballfreunde, hier zelebriert die globale Mittelklasse den Stolz darauf, dass sie es sich leisten kann, dabei zu sein. Und all das in der Arena von Leuten, für die ein Handy so wertvoll ist, dass man es klauen sollte. Der Besuch auf der Polizeiwache hatte etwas Tröstendes: voll bis auf die Straße, die Internationale der Ausgeraubten, das Fanfest der Handylosen. Viele Deutsche, richtig arme Jungs, Pass weg, Kreditkarte auch. An jedem Tag über 150 Diebstähle allein rund ums Fanfest. Traurig: die Scharen brasilianischer Mädchen, die um ihr Handy weinten. Ich hätte ihnen meines geschenkt, wenn ich es noch gehabt hätte. Was ich erst seit vorigem Montag weiß: Mein Handy war zu diesem Zeitpunkt exakt in dieser Polizeiwache, in der Hosentasche von Ricardo, einem jungen Arzt aus Ipanema. Und auch einer der Diebe war hier – dieser junge, abgerissene Bursche in Handschellen, der mir für einen Moment gegenüberstand, dem ich durchdringend in die Augen starrte, um dort mein Handy, ein schlechtes Gewissen oder sonst was zu entdecken. Als ich beklaut wurde, waren Ricardo und seine Freundin Carolina etwa 200 Meter von mir entfernt am Strand, auch zwischen Fanfest und Meer. Als Carolina das Handy aus der Tasche zog, riss ihr ein Junge das Gerät aus der Hand und lief weg. Es war dieselbe Bande, fünf Jungen und ein Mädchen. Ricardo lief hinterher, zusammen mit einem stämmigen Freund und einem Amerikaner, seine Freundin alarmierte gleichzeitig die Polizei. Es gelang ihnen, zwei Jungs und das Mädchen zu überwältigen, die anderen drei flüchteten. „Es war gefährlich, eigentlich sollte man so was nicht machen“, sagt Ricardo. „Aber ich war so wütend, es war nicht das erste Mal, dass sie mir das Handy klauen.“ Bei einem der Jungen fand Ricardo mein Handy in der Tasche und steckte es ein. Seines fand er nicht, es ist immer noch verschwunden. Auf der Polizeiwache erzählte Ricardo den Polizisten nichts von meinem Handy. „Die Polizisten kassieren oft selbst die Handys ein und verkaufen sie später“, sagte er. Noch am Abend hatte ich über mein iPad mein Handy deaktiviert und darauf die Botschaft hinterlassen: „300 Dollar. No police.“ Und die Handynummer meiner Frau. Orten konnte ich das Handy – was über das iPad möglich ist – nicht, weil es offline war. Ein paar Tage später nahm Ricardo mein Handy mit ins Stadtzentrum. In der Rua Uruguaiana, wo viel geklautes Zeugs verkauft wird, wollte er mein Handy entsperren lassen. Sie kriegten es aber nicht in Gang. Also entschlossen sie sich, in Deutschland anzurufen und die Telefonnummer von Carolina zu hinterlassen. Mein Kollege Jens Glüsing, in Rio zu Hause, überbrachte die 300 Dollar, bekam das Handy und Ricardos Geschichte. Er nimmt sie ihm ab, ich auch. Warum ein Arzt 300 Dollar braucht, um sich sein neues Handy von mir bezahlen zu lassen, gibt mir zu denken, aber ich verbuche das unter Kopfgeld, Finderlohn, WM-Prämie. Dieb beklaut Tourist, Arzt beklaut Dieb – ich bin nach Brasilien gefahren, um das Land kennenzulernen, Fußball zu schauen und mit Hunderttausenden Fans aus vielen Ländern ein großes Völkerfest zu feiern. Meine Bilanz: sechs Peruaner, einen Holländer, zwei Iren, drei Italiener, drei Engländer, vier Amerikaner, vier Argentinier, ein Dutzend Deutsche, zwei Dutzend Brasilianer kennen und lieben gelernt. Elf Spiele gesehen, den Pokal mitgenommen. Schon mal gut. Bonus: Einblick in die Smartphonesoftware, in Big Data und moderne kriminelle Sitten, nicht nur von Strandräubern. An der Rezeption meines Flughafenhotels in São Paulo wurden die Daten meiner Kreditkarten kopiert und kursieren seither auf zwei gefälschten Kreditkarten durch die Stadt, wie ich seit letzter Woche durch Anrufe meiner beiden Banken weiß. Meine Mastercard fiel auf, weil der Gangster Geld abheben wollte: In meinem Bankprofil ist, wie ich nun weiß, hinterlegt, dass ich diese Karte bisher nicht zum Geldabheben benutzt habe – der Algorithmus gab Alarm. Und dann waren da noch die drei russischen Kleinkriminellen, die neben mir im Stadion von São Paulo saßen, Halbfinale Niederlande gegen Argentinien, geschickt vom russischen Fußballverband. Sie hatten – laut Fifa streng verboten – eine Karte an eine Schwarzmarktagentur verscherbelt, bei der ich sie dann gekauft habe, Aufdruck: „Football Union of Russia“. Sie seien hier, sagten sie mir in der Halbzeitpause, um sich mal anzuschauen, was die Russen lernen können von den Brasilianern. Até logo in Moskau, bei der lupenreinen WM 2018. Cordt Schnibben DER SPIEGEL 32 / 2014 53 Greenpeace-Protestaktion in der Barentssee 2012 Streit bei Greenpeace Der Chef von Greenpeace International (GI), Kumi Naidoo, steht nach zwei Skandalen intern unter heftigem Beschuss. Erst verlor die Organisation 3,8 Millionen Euro Spendengelder bei misslungenen Währungsgeschäften (SPIEGEL 25/2014). Dann wurde bekannt, dass GI-Programmdirektor Pascal Husting mit Segen des Chefs regelmäßig von Luxemburg zur Amsterdamer Zentrale pendelt – per Flugzeug. Der Imageschaden für die Umweltschützer ist enorm, allein die deutsche Sektion hat in den vergangenen Wochen mehr als 5000 Fördermitglieder verloren. Nicht wenige bei Greenpeace bereuen bereits, dass man mit dem Menschenrechtsaktivisten Naidoo einen Fachfremden an die Spitze geholt hat, dem die Sensibilität für die Themen und den Verhal- Lufthansa Kabinenchefs auf Abruf Lufthansa-Crew Die Lufthansa will ihre geplanten neuen Billigableger auf Europa- und Interkontinentalrouten nutzen, um das angestammte Karrieresystem für Kabinenkräfte zu stutzen. Bislang sind auf Langstrecken neben normalen Flugbeglei54 DER SPIEGEL 32 / 2014 tern jeweils zwei Führungskräfte im Einsatz, Purser 1 und Purser 2 genannt. Die langjährigen Lufthansa-Mitarbeiter verdienen inklusive Zuschlägen bis zu 6000 Euro im Monat und gelten als besonders teuer. Wer als Purser 2 in der obersten Gehaltsstufe eingesetzt wird, muss laut Tarifvertrag keine Fluggäste bewirten und sich nur um Organisations- und Kontrollaufgaben sowie die Betreuung von Statuskunden kümmern. Nach Vorstellung der Konzernführung soll bei der hauseigenen neuen Billigplattform einer der beiden Jobs wegfallen. Der verbliebene Kabinenchef soll auch Serviceaufgaben übernehmen. Auf ausgewählten Kurzund Mittelstrecken, die künf- tenskodex der Organisation fehle. In einem Brandbrief fordern Mitarbeiter aus dem niederländischen Büro den Rauswurf Hustings – und drücken unverblümt auch ihr Misstrauen gegenüber Naidoo aus. Der sei zwar ein guter Botschafter für Greenpeace, man brauche aber einen Geschäftsführer, so GI-Mitarbeiter in einem weiteren Schreiben. Der Südafrikaner räumt Schwächen im Management und in der Kommunikation ein. Mit zusätzlichen Führungskräften will er sich jetzt mehr Kompetenz einkaufen. Husting dürfe bleiben, bekomme aber einen Coach, um „seine Führungsfähigkeit zu verbessern und zu stärken“, heißt es in einer Stellungnahme von Naidoo an die Mitarbeiter. Deren Forderung, sich einmal im Jahr einer Vertrauensabstimmung zu stellen, lehnt Naidoo als „nicht konstruktiv und nicht fair“ ab. Auch eine Ombudsperson, die Kritik aus der Organisation an die Spitze weitergeben soll, hält er für überflüssig. msc tig von der ohnehin günstiger operierenden Tochter Eurowings bedient werden, könnte die Position des Pursers sogar komplett wegfallen. In deren Jets arbeiten bereits jetzt nur Flugbegleiter ohne Zusatzstatus. did Gesundheit Tödliche Fehler Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass bei jeder tausendsten Behandlung in Kliniken „mit einem tödlichen Ausgang gerechnet werden“ müsse. Diese Schätzung sei „gesundheitswissenschaftlich begründet“, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei. Konkret verweist das Ministerium auf eine Zusammenstellung internationaler Untersuchungen durch das „Aktionsbündnis Patientensicherheit“, in dem sich Krankenkassen, Ärzte, Kliniken und Patientenvertreter zusammengeschlossen haben. Konkrete Studien zu vermeidbaren Todesfällen in deutschen Krankenhäusern seien der Regierung nicht bekannt. Derartige Schätzungen sind zwischen Kliniken und Kassen umstritten. Die Regierung will „die Sicherheitskultur“ nun ausbauen, wie es in ihrem Schreiben heißt. So verhandelt etwa eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe derzeit darüber, gute Kliniken künftig besser zu bezahlen als schlechtere. cos FOTOS: DENIS SINYAKOV / AFP (O.); WAECHTER / CARO (U.) Umweltschutz Wirtschaft Google Warnung an die EU-Kommission Das Justizministerium warnt die EU-Kommission, ihr Missbrauchsverfahren gegen Google vorschnell abzuschließen. Es drohten „nachteilige Auswirkungen auf die Belan- Banken Verlustgefahr für die EZB Der Europäischen Zentralbank (EZB) drohen womöglich Verluste aus Sicherheiten für die portugiesische Krisenbank Banco Espírito Santo, weil sie sich auf die Bewertung der kanadischen Ratingagentur DBRS verließ. Da die Bank von der Agentur eine relativ gute Bonitätsnote („Investment Grade“) bekam, akzeptierte die EZB deren Anleihen als Sicherheit. Die Ratingagenturen Standard & Poor’s und Moody’s hatten das portugiesische Institut FOTOS: THOMAS MEYER (L.); WOJCIECH PACEWICZ / DPA (R.) Bankfiliale in Lissabon hingegen schon länger mit schlechten Ratings versehen. Nur wenn eine der vier zugelassenen Ratingagenturen zu einem positiven Urteil kommt, akzeptiert die EZB die Anleihen. Kritiker monieren, dass die EZB die auffallend guten Ratings der Kanadier für die Krisenbank, aber auch für andere südeuropäische Institute als Feigenblatt nutzt, um den Geldfluss nach Süden aufrechtzuerhalten. Elisabeth Rudman, die zuständige Bankanalystin von DBRS, rechtfertigt ihre Noten für Banco Espírito Santo damit, dass die Bank „sehr wichtig für das Funktionieren des portugiesischen Bankenmarktes ist“. So eine Bank ge von Verbraucherinnen und Verbrauchern“, kritisiert Justizstaatssekretär Gerd Billen in einem Brief an Verbraucherkommissar Neven Mimica. Die Kommission wirft Google vor, Suchergebnisse zu manipulieren und damit Wettbewerber zu benachteiligen. Die Nutzer hätten durch- werde notfalls vom Staat gerettet, normale Bankanleihen seien deshalb relativ sicher. Dagegen habe sie nachrangige Anleihen, die ein höheres Verlustrisiko haben, vorher abgewertet. Die EZB sagt, die DBRS werde „fortlaufend überwacht“, um ihre „Eignung sicherzustellen“. pau schaut, „dass die Marktmacht von Google auch auf den über sie gesammelten und für die zielgerichtete Werbung jederzeit verfügbaren Daten ... beruht“, so Billen. „Sie erwarten zu Recht, dass dies bei der Entscheidungsfindung der Europäischen Kommission die gebotene Berücksich- tigung findet.“ Google hat Kompromisse vorgeschlagen, aber diese findet Billen „verbesserungswürdig“: Für die Verbraucher könnten „nachteilige Wettbewerbsverzerrungen entstehen“. Zuletzt hatte auch die Kommission signalisiert, dass sie neu mit Google verhandeln will. ama Sanktionen Hilfen gegen Moskau Textilhandel Hungern für Lohn Der Besitzer der TazreenTextilfabrik in Bangladesch, Delwar Hossain, der für den Tod von 112 Näherinnen bei einem Feuer vor eineinhalb Jahren verantwortlich gemacht wird, soll schon bald nach seiner Inhaftierung wieder freikommen – dank einer besonderen Form von Erpressung. Seine Tuba Group, zu der auch vier Textilfabriken gehören, hat seit drei Monaten keine Löhne mehr an die 1500 Näherinnen ausgezahlt. Hossains Verwandtschaft habe durchblicken lassen, dass erst wieder gezahlt werde, wenn ihr Angehöriger freikomme. Die Lage der Näherinnen, die nach Angaben des Frauenrechtevereins Femnet auch für den deutschen Discounter Lidl produzieren, ist nach drei Monaten verzweifelt. Vergangene Woche traten viele in einen Hungerstreik, über hundert sind bereits erkrankt. Nun hat Bangladeschs Arbeitsminister laut Presseberichten angekündigt, Hossain freizulassen. Eine Lidl-Sprecherin sagt, man verfolge die Situation aufmerksam. Bei der Tuba-Tochter, die Lidl beliefere, sei es zu keinen Unregelmäßigkeiten gekommen. msc Arbeiter bei der Apfelernte in Polen Zum Ausgleich für die wirtschaftlichen Vergeltungsaktionen Russlands in der Ukrainekrise können EU-Mitgliedstaaten auf Hilfe aus Gemeinschaftstöpfen hoffen. Das gilt etwa für Polen, das seit vergangener Woche von einem Moskauer Importverbot für Obst und Gemüse betroffen ist. Die russische Reaktion auf die europäischen Wirtschaftssanktionen trifft das Land hart: Allein die Ausfuhr von Äpfeln, Birnen und Quitten nach Russland lag im vergangenen Jahr bei 776 000 Tonnen im Wert von rund 320 Millionen Euro. Dafür winkt nun Ausgleich: Nach den Statuten der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU könnten sich politische Verwerfungen, an denen Anbieter offensichtlich keine Schuld trifft, als „externer Schock“ klassifizieren lassen. Die polnische Regierung sondiert bereits bei der Kommission, wie und wann Hilfsmittel fließen könnten. Für andere Branchen, etwa den Rüstungssektor, gelten ähnliche Vorschriften nicht. Sollte Frankreich den umstrittenen Verkauf von zwei Flugzeugträgern des Typs „Mistral“ an Russland doch noch abblasen, könnte Paris den betroffenen Firmen durch Beihilfezahlungen zur Seite springen. Ob diese rechtmäßig sind, müsste dann die EU-Kommission prüfen. gps DER SPIEGEL 32 / 2014 55 Wirtschaft 1 Absaufen im Lichtermeer W enn Fußball gespielt wird, präsentiert sich die Münchner Allianz-Arena in drei Farbtönen: Rot leuchtet die Stadionhülle, wenn die Bayern auf dem Platz sind; in Blau erstrahlt sie bei einer Partie der Löwen; und weiß, wenn das Nationalteam zu Gast ist. Mit dieser dekorativen Dreifaltigkeit hat es bald ein Ende. Demnächst ziehen Bautrupps ins Stadion ein, reißen die alten Leuchtstoffröhren heraus und ersetzen sie durch Licht emittierende Dioden (LED); 380 000 an der Zahl, jede individuell ansteuerbar. Vom Frühjahr an sollen nicht mehr nur drei, sondern 16 Millionen Lichtvarianten möglich sein – ein Spektakel sondergleichen. Mal rieselt dann der Schnee, mal funkeln die Sterne, oder es könnte auch jener Block erleuchtet werden, in dem die Fans am lautesten skandieren. Roger Karner, Geschäftsführer des Lichtgeschäfts von Philips Deutschland, möchte noch nicht alles verraten, nur so viel: „Wir werden im Stadion mit Licht Emotionen erzeugen.“ 56 DER SPIEGEL 32/ 2014 Philips ist mit dem Zuschlag, die AllianzArena zu illuminieren, ein Coup gelungen. Die Niederländer haben den bisherigen Ausstatter Osram ausgestochen, der im Münchner Norden seine Zentrale hat, in Sichtweite der Arena, keine sechs Kilometer entfernt. Der Kampf um die Lichthoheit illustriert die alte Rivalität zwischen Europas Marktführern. Er demonstriert vor allem aber den tiefgreifenden Umbruch, der das Geschäft mit Lampen, Leuchten und anderen Lichtquellen verändert. Zu besichtigen ist eine Energiewende der ganz eigenen Art. In den kommenden Jahren, das ist absehbar, wird die LED konventionelle Leuchtmittel weitgehend verdrängen: den Halogenspot, die Leuchtstoffröhre, auch die Energiesparlampe; die Glühbirne ist ohnehin schon Geschichte, zumindest in der EU. Neues breitet sich aus, Altes verschwindet, und beides geschieht in ungeheurer Geschwindigkeit. Die Transformation macht den Traditionsfirmen zu schaffen, wie vorige Woche deut- lich wurde, als Osram den Abbau von 7800 Stellen ankündigte – 1700 davon in Deutschland, das ist fast jeder fünfte Job. Treffen wird es Standorte, an denen herkömmliche Leuchtmittel hergestellt werden: Augsburg und Berlin. Dieses Geschäft verzeichne einen „deutlich schnelleren Rückgang“, begründet der Osram-Chef Wolfgang Dehen den Schritt. Dafür aber wachse die Akzeptanz der LED-Technologie. Tatsächlich verläuft der Siegeszug der Halbleiter, nichts anderes sind Leuchtdioden, annähernd so schnell wie der Technologiewechsel vom Mobiltelefon zum Smartphone. Die Möbelkette Ikea hat im vergangenen Jahr bereits 22,4 Millionen Beleuchtungsprodukte verkauft, die mit LED ausgestattet sind, das ist gut die Hälfte des entsprechenden Sortiments. Bis 2016 wollen die Schweden ihre Produktpalette komplett umgestellt haben. Der Leuchtendesigner Dietrich Brennenstuhl hat diesen Schritt schon so gut wie vollzogen, nur drei Prozent des Umsatzes erzielt sein Unternehmen Nimbus Group FOTO: BORIS ROESSLER / DPA Beleuchtungsmarkt Osram streicht fast jeden fünften Arbeitsplatz in Deutschland. Der technologische Umbruch hin zu LED-Produkten erschüttert die ganze Branche. Können Europas Konzerne dem Angriff aus Fernost standhalten? 2 3 1 Skyline von Frankfurt am Main 2 Fernsehgeräte mit OLED-Bildschirm 3 Läufer mit LED-Lichtanzügen in Herten 4 Lichtobjekt mit OLED-Elementen 5 Spiegel mit interaktiver Lichtsteuerung FOTOS: MICHAEL NELSON / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.L.); BERND THISSEN / DPA (O.R.) 4 5 noch mit herkömmlicher Beleuchtung, an- Hund seine Schnauze“, warnt der Desonsten basiert alles, was in seinem Atelier signer. Das rechte Exemplar benötigt mit in Stuttgart-Feuerbach zu sehen ist, auf 4,3 Watt gerade mal ein Zehntel davon. Die Unternehmensberatung McKinsey Diodentechnik. Brennenstuhl, ein schlanker Mittfünfzi- hat in einer Studie ausgerechnet, wie viel ger mit schulterlangem Haar, ist Pionier Strom mit dem Einsatz von Leuchtdioden in Sachen LED. Vor zehn Jahren begann im Jahr 2020 zu sparen wäre. Deutschland er mit der Serienfertigung von Produkten, könnte demnach auf 3 Atomkraftwerke er kreierte die weltweit erste LED-Steh- verzichten, die USA sogar auf 19 Meiler. Die Berechnung beruht auf der Prognolampe. Manchmal müsse er noch die typischen Vorbehalte ausräumen, erzählt er, se, dass die LED-Durchdringung 2016 bei das Licht sei zu kalt und zu schwach. Dann 45 Prozent liegen wird und 2020 auf fast 70 Prozent steigen kann. „Der Innovaführt er Zweifler in den Vergleichsraum. Dort sind in der linken Hälfte Lampen tionsmarkt verwandelt sich in einen Masmit konventionellen Leuchtmitteln mon- senmarkt“, sagt Florian Wunderlich, einer tiert, auf der rechten Seite finden sich iden- der Autoren der Untersuchung. Die schneltische Modelle in der LED-Version. Bren- le Verbreitung der Technologie hat nach nenstuhl lässt die Kunden raten, wo Einschätzung des Beraters gravierende Leuchtdioden im Einsatz sind. Selbst er- Konsequenzen für das gesamte Gewerbe: fahrene Architekten tippten mitunter „Eine mehr als hundert Jahre alte Industrie falsch, sagt er schmunzelnd. „Es gibt keine wird auf den Kopf gestellt.“ Vor wenigen Jahren noch war das Leben Argumente mehr, die gegen die LED sprefür die Manager bei Osram und Philips einchen“, sagt Brennenstuhl. Mittlerweile ist die Leuchtdiode in der fach. Die beiden Hersteller beherrschten Lage, eine warme, angenehme Helligkeit den europäischen Markt, ihr Geschäftszu erzeugen. Sie schenkt Designern große modell war so berechenbar wie das ErscheiGestaltungsfreiheit, weil Lampen keine So- nen des Vollmonds. Eine Glühbirne hielt zwei bis drei Jahre ckelfassung mehr benötigen. Sie hält um ein Vielfaches länger als eine herkömmli- lang, dann musste der Verbraucher sie che Glühbirne. Sie wird nicht glühend heiß, wechseln. Auf diesen Ersatzbedarf war die sondern bleibt handwarm. Und sie benö- Produktion in den Fabriken getaktet. tigt vergleichsweise wenig Energie, weil Ernsthafte Konkurrenz mussten die Brannur ein Bruchteil als Wärme verloren geht. chenführer nicht fürchten, ihre Maschinen Zum Beweis schaltet Brennenstuhl im waren das Ergebnis jahrelanger Tüftelei, Vergleichsraum zwei bodentiefe Wand- niemand konnte sie so schnell kopieren. Das hat sich mit der LED schlagartig geleuchten ein: Links zeigt das Messgerät 43,5 Watt an. „Da verbrennt sich jeder ändert. Das technische Prinzip ist simpel: Strom fließt durch einen Halbleiterkristall und bringt ihn zum Leuchten. Bis zu 10 000 Dioden werden aus einer handtellergroßen Siliziumscheibe geschnitten. Die Produktionskosten sind minimal, die Entwicklungsfortschritte enorm, alle neun Monate erobert eine neue Generation den Markt. Dieser technologische Umbruch stellt nun alles infrage, worauf sich die alten Akteure jahrzehntelang verlassen konnten. Ihr angestammtes Geschäft mit herkömmlichen Leuchtmitteln bricht weg. Es macht zwar noch fast zwei Drittel des Umsatzes aus, aber der Markt schrumpft Quartal für Quartal, viel schneller als erwartet. Gleichzeitig müssen sie an anderer Stelle in großem Stil investieren, Millionensummen fließen in die Entwicklung von LED-Produkten. „Wir werden von einer Glasfabrik zu einem Chip-Hersteller“, sagt Philips-Manager Karner über den Wandel und das neue Selbstverständnis. Auch bei Osram gibt nun die Halbleiterfabrik in Regensburg den Takt im Konzern vor. Früher seien sie als Spinner abgetan worden, sagt Aldo Kamper, Leiter der LED-Entwicklung, jetzt gelten sie als die Vorreiter. Erschwert wird diese Transformation durch den Preisverfall, der ebenfalls schneller voranschreitet als gedacht. Ein Retrofit-Modell, also eine Lampe mit Gewinde in Glühbirnenform, kostet heute keine zehn Euro mehr. Damit ist laut Philips-Mann Karner „ein magischer Punkt“ erreicht, die Preissensibilität der Kunden sei „massiv angestiegen“. Die Margen schrumpfen, der Ersatzbedarf – früher der DER SPIEGEL 32/ 2014 57 Wirtschaft Marktanteil in Prozent 57 2011 96 100 Prognose 2016 Prognose 2020 Marktvolumen in Mrd. € 2 1 1 Kfz-Beleuchtung 13 21 36 2011 Prognose 2016 Prognose 2020 2 4 6 Allgemeine Beleuchtung 9 45 69 2011 Prognose 2016 Prognose 2020 32 57 5 dustrie ur In tekt i h Arc 2 57 Mrd. € 6 Geschäfte 5 Gast ron om ie 5 nen Woh DER SPIEGEL 32/ 2014 Bildschirm-/Displaybeleuchtung 23 58 Blendende Aussichten Weltweiter Stellenwert von LED, nach Bereichen Quelle: McKinsey 8 uß a Umsatzgarant – wird auf absehbare Zeit ausbleiben: der Fluch des Fortschritts. Zugleich mischen neue Wettbewerber aus Fernost den Weltmarkt auf, zum Beispiel Samsung. Die Koreaner haben sich einiges an Know-how bei der Fertigung der Hintergrundbeleuchtung von Monitoren erworben, die in TV-Geräten oder Tablets im Einsatz sind. Jetzt nehmen sie den Lichtmarkt für Wohnzimmer und Büro ins Visier. Und in China erwachsen Konkurrenten, von denen Philips und Osram vor Kurzem noch gar nichts wussten. Sie stammen fast durchweg aus Guangdong, der Südprovinz am Perlflussdelta. Die dortige Regierung hat beschlossen, bis Ende des Jahres die Beleuchtung im öffentlichen Raum – auf Straßen, in Tunneln, auf Bahnhöfen oder in Kliniken – durch LED zu ersetzen. „Damit sind wir so gut wie fertig“, sagt der Branchenkenner Sui Shirong. Dann sollen die Privathaushalte folgen: „Wir werden schneller sein als Kalifornien“, lautet seine Prognose. Sui leitet das Innovationszentrum für die Beleuchtungsindustrie in Foshan, in solchen staatlich geförderten Industrieparks bündelt die Regierung die Kräfte. 26 Firmen haben am Eingang ihre bunten Firmenschilder angeschraubt, darunter NationStar, ein Hersteller von LED-Chips. Um 50 Prozent sei das Unternehmen im vorigen Jahr gewachsen, sagt Managerin Lydia Du. In diesem Jahr peilt sie eine noch höhere Rate an. „Bei dem Rennen, das gerade begonnen hat, wird mein Unternehmen sicher die Nase vorn halten“, hofft sie. Rund 4000 Betriebe der LED-Industrie haben sich in China angesiedelt. Selbst Bergbaufirmen investieren in den Wachstumsbereich, seit die Regierung die Branche kräftig fördert. Mittlerweile kämpfen viele Akteure ums Überleben, es wird brutal gesiebt. Am Ende würden vielleicht hundert Unternehmen übrig bleiben, schätzt Experte Sui. Einige von ihnen, meint er, würden dann in der Liga von Osram oder Philips mitspielen. Mit dieser Herausforderung gehen Europas alte Champions ganz unterschiedlich um. Osram konzentriert sich auf Speziallösungen, insbesondere für Kunden aus der Autoindustrie. Rund 40 Prozent des LED-Umsatzes macht das Unternehmen mit Fahrzeugherstellern. Fast wöchentlich säßen die Ingenieure zusammen, um gemeinsam neue Produkte zu entwickeln, sagt Osrams LED-Chef Kamper. So öffne man sich Markt für Markt. Angefangen hat dieser Prozess in den Neunzigerjahren, als Volkswagen die Tachos im Armaturenbrett mit blauen LED ausstatten ließ. Später folgten die ersten Leuchtdioden in den Rücklichtern, vor fünf Jahren kam dann das Tagfahrlicht dazu. Gegenwärtig ist die Industrie dabei, den gesamten Scheinwerfer mit LED-Tech- en 8 B ü ro nik auszustatten. Noch in der Entwicklung ist infrarotes Licht, das helfen soll, Kollisionen zu vermeiden. Es geht Schlag auf Schlag. „Jede Innovation muss sitzen“, sagt Osram-Mann Kamper. Philips verfolgt eine andere Strategie. Die Niederländer streben an, auf vielen Feldern mitzuspielen, möglichst an der Spitze. Sie wollen nicht nur Produkte verkaufen, sondern vor allem Anwendungen. Darunter sind Lifestyle-Produkte wie eine LED-Lampe, die per iPhone-App aus der Ferne steuerbar ist, aber auch Lichtsysteme für Schulen. Dort wird nachweislich leichter gelernt, wenn der Klassenraum ins rechte Licht gesetzt wird: So verbessern höhere Blau-Anteile die Konzentration. Von solchen Gesamtlösungen verspricht sich Philips höhere Erträge als von der schlichten LED-Lampenproduktion. Gerade im Medizinsektor eröffnen sich Möglichkeiten. In der Berliner Charité schauen Patienten nach der OP statt an die Decke in einen gewölbten, pastellfarbenen Lichthimmel. Die Optik soll helfen, die Genesung zu beschleunigen. So gehen Philips und Osram zwar strategisch unterschiedliche Wege, technologisch verfolgen sie als nächsten Entwicklungsschritt dasselbe Ziel: Sie wollen nun organische Leuchtdioden (OLED) zur Marktreife führen, millimeterdünne Elemente, die aus mehreren Schichten bestehen und ein sanftes Flächenlicht erzeugen. Diese Glasplättchen oder biegsamen Folien könnten Designer in Möbeln, Vorhängen, Fassaden oder Wänden direkt verarbeiten. In einigen Jahren sollen Fenster so ausgestattet sein, dass sie am Tage transparent sind und sich am Abend in eine ruhig strahlende Lichtquelle verwandeln. Der Durchbruch der organischen Variante steht indes noch aus, seit Jahren schon. Die Herstellungskosten sind noch immer zu hoch. In Aachen fertigt Philips kleine Serien in einer ehemaligen Bildröhrenfabrik, viele Arbeitsschritte sind nur mit Handarbeit zu bewältigen. Der Quadratmeter kostet rund 7000 Euro. Höchstens für Prestigeobjekte, etwa Lichtspiele in Hotelfoyers, lohnt sich der Aufwand. Für den Massenkunden aber bleibt die Technik vorerst unerschwinglich. Das dürfte sich wohl erst ändern, wenn sich beispielsweise ein Riese in der Unterhaltungselektronik wie Samsung entschließt, in großem Stil in das Geschäft einzusteigen. Es ist eine Gratwanderung, die in der Beleuchtungsindustrie gegenwärtig alle Kräfte bindet. Die kommenden Monate entscheiden darüber, ob den europäischen Akteuren die Transformation gelingt: ob sie das alte Geschäft ohne größere Schäden abwickeln können und genügend Energie bleibt, um das neue Geschäft in Höchstgeschwindigkeit aufzubauen und sich zugleich gegenüber den Angreifern aus Fernost zu behaupten. Über einen Mangel an Dynamik könne er sich nicht beklagen, sagt Philips-Manager Karner. Gegenwärtig beginnt das Unternehmen mit der Vorbereitung des Projekts „Allianz-Arena“. Das Stadion liegt direkt an der A 9, mehr als 150 000 Autos rasen dort täglich vorbei. Laut Autobahnmeisterei München-Nord hatte Osrams dreifarbiges Lichtkonzept eine Sondergenehmigung bekommen, allerdings unter strengen Auflagen. So darf die Beleuchtung erst nach zwei Minuten wechseln, die Fahrer sollen nicht irritiert werden. Die Hürden liegen also hoch, wenn nun Philips den Antrag für seine farbenprächtige LED-Show stellt. Manager Karner ahnt schon jetzt: „Wir werden nicht alles ausreizen, was die Technologie hergibt.“ Frank Dohmen, Alexander Jung, Bernhard Zand Solo für Winnetou Deutsche Bank Anshu Jain bereitet sich auf ein Leben als alleiniger Konzernchef vor und schwört das Institut auf seinen Kurs ein. Doch das Misstrauen der Aufseher könnte ihn stoppen. FOTO: STEFAN BONESS / IPON D Bankmanager Jain ie Geschichtsschreiber werden eines Tages darüber befinden, ob sich Anshu Jain und Jürgen Fitschen in die Galerie berühmter Freundespaare einreihen. Seit gut zwei Jahren führen der Brite mit den indischen Wurzeln und der Mann aus dem niedersächsischen Harsefeld gemeinsam die Deutsche Bank. Seither geht die demonstrierte Harmonie der beiden so weit, dass ein Berater der Bank scherzt: „Öffentlich treten Jain und Fitschen auf wie Winnetou und Old Shatterhand.“ Die beiden Romanhelden untermauerten ihre Freundschaft mit einer Blutsbrüderschaft. Jain und Fitschen haben das Ritual in die moderne Geldwelt übertragen, indem sie gutes Teamwork im Vorstand und somit auch untereinander mit einem höheren Bonus belohnen. Doch unter der Oberfläche zeigt die Einigkeit Risse. „Die Spannungen zwischen den beiden sind größer als vor einem Jahr“, sagt ein Insider. Es sind kleine Begebenheiten, die darauf hindeuten. So berichten Ohrenzeugen, dass sich jüngst in Berlin ein Jain-Vertrauter über Fitschen lustig gemacht und ihn als Frühstücksdirektor an der Seite des genialen Bankers Jain karikiert habe. Man darf davon ausgehen, dass Jain über seinen Co-Chef so nicht einmal denkt, geschweige denn spricht. Die Sticheleien seiner Gefolgsleute haben aber einen ernsten Hintergrund: Jain denke bereits an die Zeit nach Fitschen, heißt es im Umfeld der Bank, und arbeite darauf hin, das Institut dann ohne Partner zu führen. „Er will zeigen, dass er es allein kann“, sagt ein Kenner des Konzerns. Auf der Tagesordnung steht das Thema Nachfolge noch nicht, schließlich haben die Co-Chefs noch Verträge bis 2017. Doch Jain gilt als strategisch denkender Mann – außerdem könnte ihm Fitschen womöglich schon früher abhandenkommen. Die Staatsanwaltschaft München hat eine 600 Seiten starke Anklageschrift gegen Fitschen und mehrere ehemalige Vorstandsmitglieder der Bank fertiggestellt. Sie wirft ihnen vor, im Schadensersatzverfahren des verstorbenen Medienunternehmers Leo Kirch gegen die Bank Prozessbetrug begangen oder geduldet zu haben. Noch ist nicht klar, ob die Anklage in vollem Umfang zur Hauptverhandlung zugelassen wird. Doch schon jetzt wird in der Bank von manchen infrage gestellt, ob Fitschen weitermacht, wenn er vor Gericht DER SPIEGEL 32 / 2014 59 Investmentbanker Leonhard Fischer über Europas Finanzbranche Im Geldgeschäft galt er als Wunderkind, weil er es schon mit Mitte dreißig in den Vorstand der Dresdner Bank geschafft hatte und dort als Kandidat für den Chefposten galt. 2007 wurde Leonhard „Lenny“ Fischer, 51, Chef der Finanzholding RHJ, die vor einigen Monaten für 340 Millionen Euro die BHF-Bank erwarb. SPIEGEL: Herr Fischer, der Wettbewerb unter den europäischen Banken gilt als mörderisch. Warum legen Sie sich in so einer Situation ein eigenes Geldhaus zu? Fischer: Das ist doch genau der Zeitpunkt, zu dem man so einen Kauf tätigen sollte – wenn man davon überzeugt ist, dass das Bankgeschäft langfristig weiterhin interessant ist. Und das bin ich. Nur wird sich das Banking sehr verändern. SPIEGEL: Inwiefern? Fischer: Vielleicht werden wir in zehn Jahren mit unserem Handy den gesamten Zahlungsverkehr abwickeln, vielleicht über Plattformen, die nicht mal mehr eine Banklizenz haben. Auch im Kapitalmarktgeschäft ersetzt die Technologie viele Prozesse. Doch die Fähigkeit, Einlagen zu sammeln, Risiken einzuschätzen, Kredite zu vergeben oder Anlageberatung zu machen, wird weiter gefragt sein. SPIEGEL: Das sagen viele Banken, in der Branche gibt es aber große Überkapazitäten. Welche Fehler haben Europas Finanzpolitiker in der Krise gemacht? Fischer: Mir wäre es lieber gewesen, man hätte weniger Banken aufgefangen. Ein System, das Verluste sozialisiert und Gewinne privatisiert, ist unfair und nicht funktionsfähig. Deshalb ist es allerhöchste Zeit, dass man Wege findet, Banken abzuwickeln. SPIEGEL: Wer hat die besten Chancen, den Wandel zu überleben: eher Nischenbanken oder die globalen Finanzkonzerne? 60 DER SPIEGEL 32 / 2014 Fischer: Solange es die Globalisierung gibt, wird es auch globale Banken geben. Es kann allerdings unmöglich klug sein, auf die Krise im Bankwesen mit einer zunehmenden Konzentration zu reagieren. Kleinere Institute sollten weniger intensiv reguliert werden als systemisch relevante Banken. Wenn man versucht, über Regulierung immer mehr Einzelfallgerechtigkeit zu erzeugen, dann wird sie zu einem bürokratischen Monster. Das trifft kleine Banken stärker als große. SPIEGEL: Derzeit treten neue Probleme auf, wie die Turbulenzen um die portugiesische Banco Espírito Santo zeigen. Drohen uns in absehbarer Zeit wieder Bankenpleiten? Fischer: Nein, so wie ich die Banker einschätze, wird es eher zu Zusammenschlüssen europäischer Banken kommen. Die Schaffung einer gemeinsamen Aufsicht und einheitlicher Regeln ist der Treiber für eine Neuordnung des Finanzsystems in Europa. SPIEGEL: Wer sind die Gewinner und wer die Verlierer dieser Neuordnung? Fischer: Banken in Südeuropa haben einen großen Vorteil: Ihre Gewinnmargen sind höher, weil etwa die Milliardensummen an heimischen Staatsanleihen in ihren Bilanzen jeweils zwei Prozentpunkte mehr abwerfen als Bundesanleihen, die unsere Banken vor allem halten. Aber die Südländer haben auch ein Problem: Sie kommen schwerer an Einlagen. Und wo gibt es zu viele Einlagen? SPIEGEL: Bei deutschen Banken. Fischer: Richtig. Banken aus den Peripheriestaaten werden daher versuchen, Institute in Deutschland oder in anderen mitteleuropäischen Staaten zu übernehmen. Ich glaube, dass keine Bank in einem solchen Szenario gegen eine Übernahme gefeit wäre. Eines ist doch klar: Der deutsche Markt ist gerade in. Der Immobilienmarkt ist in, der Mittelstand ist in, alles hier ist in. Interview: Martin Hesse FOTO: MARC WETLI / 13 PHOTO „Das System ist unfair“ muss. Fitschen weist die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zurück. Er denke auch nicht an Rücktritt und wolle die Sache gegebenenfalls vor Gericht ausfechten, sagen Leute, die ihn kennen. Jain bereitet sich dennoch auf den Fall der Fälle vor, um dann allein regieren zu können. Er festigt seine Hausmacht, wirbt für seine Strategie und sammelt fleißig Belege dafür, dass seine eiserne Fixierung auf das Investmentbanking richtig ist. So hob er bei der Vorlage der jüngsten Quartalszahlen hervor, dass die Bank in dem Bereich Marktanteile zurückgewonnen habe. Zugleich erhöht Jain den Druck auf andere Geschäftsbereiche und ihre Chefs. Als kürzlich aus dem Inneren der Bank lanciert wurde, es gebe neue milliardenschwere Sparpläne, galt dies auch als Spitze gegen Privatkundenvorstand Rainer Neske. Die Nachricht wurde schließlich als Ente abgetan, die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat machte klar, dass sie von solchen Überlegungen nichts halte. Vor allem aber arbeitet Jain daran, sein Verhältnis zu Politik und Aufsehern zu verbessern, und nimmt die Beziehungspflege zunehmend selbst in die Hand. Während Fitschen auf Podien schon einmal forsch wie Old Shatterhand auftritt, pflegt Jain Hinterzimmerdiplomatie in Ministerien und Parteispitzen. Der Mann, den Branchenvertreter ehrfürchtig als Raubkatze bezeichnen, bewegt sich auf Samtpfoten. Trotz allem ist das Projekt Alleinherrschaft gefährdet. Der Aktienkurs schwächelt, und die Rating-Agentur Moody’s mäkelte jüngst an Jains Strategie herum. Besonders schwer wiegt aber das Misstrauen der Aufsichtsbehörden wegen der Skandale, die Jain mitzuverantworten hat. Das wird beispielsweise sichtbar in einem aktuellen Dokument zur Untersuchung der Libor-Affäre um manipulierte Zinsen durch die deutsche Finanzaufsicht BaFin. Im vergangenen Sommer hatte die Behörde einen vernichtenden Zwischenbericht zur Aufarbeitung der Affäre durch die Deutsche Bank geschrieben und missbilligende Schreiben an Jain und Finanzvorstand Stefan Krause geschickt. Auch eine vom Aufsichtsrat veranlasste Überprüfung des Topmanagements verriss die BaFin, sie sei weder unabhängig noch umfassend gewesen. Deshalb leitete die Behörde eine neue Sonderprüfung durch externe Wirtschaftsprüfer ein. Eine aktuelle Auftragsbeschreibung für die Prüfer von Ernst & Young zeigt, dass die BaFin den gesamten erweiterten Vorstand und weitere Führungskräfte unter die Lupe nehmen lässt. Zehn Themenblöcke sollen die Prüfer untersuchen, bei sechs wird Jain als Schlüsselfigur aufgelistet, häufiger als jeder andere. Das Papier macht klar, dass aus Sicht der Ermittler noch immer nicht ausrei- FOTO: ALEX DOMANSKI / DAPD Wirtschaft fürchtet, für eine solche Zahlung wegen Untreue haftbar gemacht werden zu können. Auch im Aufsichtsrat gibt es nach wie vor Widerstand gegen einen Vergleich. Den Druck auf die Bank erhöhen auch die amerikanischen Behörden. Vor zwei Wochen geriet ein Brief der New Yorker Niederlassung der Notenbank Fed aus dem vergangenen Dezember an die Öffentlichkeit. Die Behörde monierte, die Finanzberichte der Deutschen Bank an die Fed seien in einigen Sparten von „geringer Qualität, ungenau und unzuverlässig“. Ein Sprecher des Konzerns versicherte, man arbeite weiter gewissenhaft daran, zum Klassenbesten zu werden. Dagegen kritisierte die Fed, die Bank kenne die Probleme schon lange, komme aber bei der Behebung der Schwächen kaum voran. „Das ist besorgniserregend“, kommenVorstände Stephan Leithner, Fitschen, Neske, Jain, Henry Ritchotte: „Zeigen, dass er es allein kann“ tiert ein Aufsichtsrat den Rüffel der USBehörden. Ihm stinkt nicht nur der Vorfall chend geklärt ist, wann Jain von mögli- operiere hinsichtlich der Untersuchungen an sich, sondern auch, dass die Verantworchen Libor-Manipulationen in der Branche zur Libor-Problematik mit den Behörden. tung dafür allein Finanzvorstand Krause Jain ist bemüht, die alten Affären abzu- zugeschoben wird. Der wolle so etwas siim Allgemeinen und bei der Deutschen Bank erfahren hat. Er hatte dazu erklärt, arbeiten, ohne dass an ihm etwas hängen- cher nicht noch einmal erleben, merkten der Gesamtvorstand der Bank habe erst bleibt. Das zeigt kein Fall so eindrücklich Leute aus Jains Umfeld spitz an. 2011 Kenntnis von möglichen Manipula- wie der Streit mit vier Mitarbeitern der Kritiker Jains argwöhnen, der Co-Chef Bank, die dort einst für die Ermittlung der wolle davon ablenken, dass er früher als tionsvorwürfen gehabt. Bei der Bank of England waren mögli- Libor-Zinsen zuständig waren. Leiter des Investmentbankings viele Jahre Die Bank hatte die Männer Anfang 2013 für das Gros der US-Geschäfte verantche Libor-Manipulationen schon Mitte 2008 ein Thema. Am 10. Juni hatte Anshu entlassen, weil sie ihnen eine Verwicklung wortlich war. Jain ein Meeting mit den Notenbankern. in die Manipulationsaffäre Der Vorfall mit der New Seine Mitarbeiter präparierten ihn mit vorwirft. Die vier klagten Deutsche Bank Yorker Fed dürfte nur ein dem Hinweis, dass auch das Thema Libor sich vor dem Frankfurter Ar- Rückstellungen für Vorgeplänkel für größeres zur Sprache kommen könnte, was dann beitsgericht erfolgreich wie- Rechtsstreitigkeiten Ungemach sein. Der Deutder ein, weil die Richterin in Milliarden Euro aber offenbar nicht der Fall war. schen Bank drohen in den In dem Ernst & Young-Papier heißt es al- zu dem Schluss kam, die USA in den kommenden lerdings, im Zuge einer Untersuchung Bank selbst habe ihre Mit- II/2013 Monaten und Jahren unter 3,0 durch die Bundesbank habe Jain später arbeiter durch ihre interne anderem Strafen wegen der II/2014 „versucht herauszufinden, ob es ,proble- Organisation in einen InterManipulation von Zinsen 2,2 matische‘ Dokumente im Zusammenhang essenkonflikt gebracht. und Währungskursen sowie Die Mitarbeiter belastemit diesem Treffen bei der Bank of Engwegen Verstößen gegen Iranten das Management schwer, land gab“. Sanktionen. Zuletzt schickOffenbar hat die BaFin weiterhin den insbesondere den Jain-Verten US-Behörden AuskunftsVerdacht, dass in der Deutschen Bank trauten Alan Cloete, Mitersuchen, weil sie vermuten, mehrfach Spuren verwischt wurden. So su- glied im engsten Führungs- Drohende zusätzliche II/2014 die Deutsche Bank habe wie chen die Sonderprüfer Beispiele, inwieweit zirkel. Dennoch ging die Rechtskosten andere Konzerne krumme 3,2 Manager aus der Bankführung rund um Bank in die Revision, auch in Milliarden Euro Geschäfte mit HochfreJain versucht haben, bestimmte Informa- weil der Aufsichtsrat auf quenzhändlern gemacht. tionen aus einem internen Untersuchungs- eine Aufklärung der Verant- II/2013 All das kann sehr teuer 1,2 und vor allem dann zu eibericht – dem sogenannten BIRG-Bericht – wortlichkeit drängte. Doch in einer Vorstandssitzung nem Problem werden, wenn herauszuhalten. die Gewinne nicht ausreiAus dem Ernst & Young-Bericht geht drei Tage vor dem Revisionschen, um die hohen Rechtsauch hervor, dass im April 2012 entgegen termin setzte Jain durch, kosten auszugleichen. den Anweisungen der Rechtsabteilung di- dass man sich auf ein GüteAktienkurs in Euro Kommt es so weit, müsste gitale Tonbänder, die für die Libor-Unter- verfahren einlassen solle. Am 18. August soll vor wohl auch Jain seine Ambisuchung relevant waren, durch einen extionen aufgeben. „Wenn die ternen Dienstleister zerstört wurden. Die Gericht ein Vergleich ausgeDeutsche Bank wegen der Aufsicht wirft die Frage auf, wann das Ma- handelt werden. In VerhandFehltritte in den USA die nagement davon wusste. Sie will außer- lungskreisen heißt es, die Aktionäre noch einmal um dem wissen, warum mehrere elektronische Bank müsse einen beträchtKapital bitten muss“, schrieb Kommunikationssysteme der Bank intern lichen zweistelligen Millioneulich das Wall Street Jourim Zusammenhang mit der Libor-Affäre nenbetrag als Abfindung Quelle: zahlen. Doch im Vorstand nal, „dann dürfte dies zu eizunächst nicht untersucht wurden. Thomson Reuters Datastream nem Wechsel an der Spitze Die BaFin äußert sich zu der laufenden ist das noch nicht bewilligt führen.“ Prüfung nicht. Die Bank erklärt, sie ko- und umstritten, weil man Juni 2013 Martin Hesse Aug. 2014 DER SPIEGEL 32 / 2014 61 Wirtschaft „Der Anfang einer Revolution“ SPIEGEL-Gespräch Der amerikanische Ökonom und Gesellschaftstheoretiker Jeremy Rifkin über Kapitalismus im digitalen Zeitalter und den Weg in eine neue Kostenlos-Gesellschaft Rifkin, 69, zählt seit Jahrzehnten zu den einflussreichsten Kulturkritikern der Welt. 1967 war er einer der Organisatoren des sogenannten Marsches auf das Pentagon, bei dem bis zu 100 000 Menschen gegen den Vietnamkrieg protestierten. Der Ökonom setzte sich in zahlreichen international erfolgreichen Büchern immer wieder kritisch mit den Folgen des technologischen Fortschritts für Wirtschaft und Gesellschaft auseinander. Rifkin warnte unter anderem vor der Verharmlosung der Gentechnik und plädiert für eine neue Energiepolitik. Seit 20 Jahren lehrt er an der Wharton School of Business der University of Pennsylvania. Zeitalter des Kapitalismus gehe zu Ende. Wie kommen Sie darauf? Rifkin: Wir leben in besonderen Zeiten, denn wir können ein seltenes historisches Ereignis verfolgen: die Entstehung einer neuen Wirtschaftsordnung. Das hat es seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht mehr gegeben, als der Kapitalismus auf der Weltbühne erschien. Nun aber wird dieses System selbst in seinen Grundfesten erschüttert, und der Grund sind der enorme technologische Wandel und seine Folgen. SPIEGEL: Ihre These ist gewagt. Der Kapitalismus scheint als Wirtschaftsform dominanter denn je und breitet sich eher noch in andere Regionen der Welt aus, als zu schwächeln. Rifkin: Er löst sich ja auch nicht ganz auf, zumindest noch nicht. Wir sehen aber bereits jetzt die Entstehung einer hybriden Wirtschaft: zum einen ein kapitalistischer Markt, zum anderen ein neues System des Gemeinguts. Ich nenne dieses neue Paradigma die kollaborativen Commons. SPIEGEL: Das ist auch die zentrale Aussage Ihres neuen Buchs*. Was verstehen Sie darunter? Rifkin: Eine neue wirtschaftliche Organisationsform, die sich weg vom reinen Diktat des Eigentums bewegt und Teilen über Besitzen stellt. Während der vom materiellen Gewinn getriebene kapitalistische Markt auf Eigennutz basiert, charakterisiert die neue, auf wirtschaftlicher Kollaboration beruhende Welt das Interesse an der Zusammenarbeit. Der Kapitalismus bleibt präsent, aber erheblich beschnitten. Bis 2050 werden Kollektive nach und nach Un* Jeremy Rifkin: „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“. Campus-Verlag, Frankfurt am Main; 528 Seiten; 27 Euro. Das Gespräch führte der Redakteur Thomas Schulz. 62 DER SPIEGEL 32 / 2014 FOTO: MATHIAS MARX / IMAGETRUST SPIEGEL: Herr Rifkin, Sie behaupten, das ternehmen und Privatwirtschaft verdrängen. Wir sind schon auf dem Weg dahin. SPIEGEL: Das klingt nach einer Alternative zu Sozialismus und Kapitalismus, einem dritten Weg, der oft beschworen, aber nie beschritten wurde. Rifkin: Das Kollektiv als Wirtschaftsform ist nicht neu: Mehr als 1,5 Milliarden Menschen weltweit nutzen Gemeinschaftsbanken, Wohngesellschaften und kommunale Wasser- und Energieverbünde. Aber durch die Digitalisierung entstehen nun rasant immer neue Formen. Etwa das Teilen von Wohnungen über die Onlineplattform Airbnb, die gemeinsame Nutzung von Autos. Massen-Onlinekurse von Universitäten verändern die Bildung. Wir sehen also überall diese extremen Verschiebungen, die offenbar etwas anderes sind als der traditionelle, vertikale, kapitalistische Shareholder-Markt. Und das ist zunächst einmal eine gute Entwicklung. SPIEGEL: Wieso? Rifkin: Weil vieles dramatisch billiger wird. Globale Kommunikation kostet heute doch fast nichts mehr im Vergleich zu vor 20 Jahren. Das wird sich in anderen Industrien wiederholen. Und wenn insgesamt die Transaktions- und Logistikkosten fallen, können auch kleine Gemeinschaftsunternehmen global bedeutend sein. Das bietet ganz neue Möglichkeiten für die Menschheit, sich wirtschaftlich und sozial zu organisieren. Eine Share-Economy, in der statt Massenproduktion die Massen produzieren, wie Gandhi sagte, wird damit wirklich möglich. SPIEGEL: Das klingt jetzt mehr nach romantischer Sozialfantasie als nach handfester Wirtschaftstheorie. Rifkin: Das sehe ich nicht so. Diese Entwicklung ist doch schon seit Jahren zu erkennen und hat bereits die Kultur- und Medienindustrie auf den Kopf gestellt. Millionen Menschen teilen Musik, Videos, Nachrichten und Wissen – und das beinahe kostenlos. Entsprechend verschwinden die Geschäftsmodelle von Musikindustrie, Medien und Buchverlagen. SPIEGEL: Das Phänomen ist bekannt, daraus lässt sich aber schwerlich auf den Untergang des Kapitalismus schließen. Rifkin: Es ist der Anfang einer Revolution, die alle Grenzkosten verschwinden lässt und die sich nun nach und nach auf andere Wirtschaftsbereiche überträgt. Wir sind auf dem Weg in eine Art Kostenlos-Gesellschaft. SPIEGEL Das müssen Sie erklären. Rifkin: Jedes Unternehmen will seine Grenzkosten verringern … SPIEGEL: … Kosten, die für jedes zusätzlich hergestellte Produkt anfallen. Rifkin: Also wird schon immer versucht, die Produktivität zu erhöhen, mehr Marktanteile zu gewinnen und den größtmöglichen Profit zu erzielen. Niemand sah aber eine technologische Revolution kommen, die es möglich macht, tatsächlich so produktiv zu sein, dass die Grenzkosten bei fast null liegen: In der digitalen Welt sind Güter und Dienstleistungen tendenziell kostenlos. Damit verschwinden auch die Profite, und die Marktwirtschaft wird nutzlos. SPIEGEL: Das würde im extremen Fall aber eher das Ende des allgemeinen Wohlstands bedeuten als den Aufstieg der von Ihnen erhofften Gemeinschaftswirtschaft. Rifkin: Die Gefahr besteht. Aber wahrscheinlicher ist, dass Industrien und Unternehmen sich dieser neuen Welt anpassen werden. Nehmen wir beispielsweise die Energiekonzerne. Sie werden künftig nicht mehr selbst als Versorger auftreten, sondern eher Partnerschaften mit Tausenden kleinen kollektiven Energieunternehmen eingehen und das Energie-Internet managen. SPIEGEL: Das Phänomen der niedrigen Grenzkosten beschränkt sich bislang auf wenige von der digitalen Revolution er- und die Grenzkosten für die Produktion und den Vertrieb physischer Güter genauso nach unten treiben, wie es jetzt schon bei digitalen Gütern passiert ist. SPIEGEL: Führt das nicht eher zu einem technologisch getriebenen Wirtschaftsboom als zu einem Systemwandel? Rifkin: Ökonomische Paradigmenwechsel treten höchst selten auf. Aber wenn sie kommen, dann haben sie ihre Grundlage zumeist in einer neuen Technologie. Das war zuletzt bei der ersten industriellen Revolution der Fall, jetzt ist es wieder so weit. SPIEGEL: Sie setzen die Digitalisierung mit der Erfindung der Dampfmaschine und der Mechanisierung der Welt gleich? Rifkin: Damals folgten auf Dampf und Elektrizität Telefon und Radio, billiges Öl, Eisenbahnen und Motoren. Nun kommen wieder die drei Komponenten zusammen: neue Formen der Kommunikation, um die Wirtschaft zu managen; neue Formen der Energie, um sie anzutreiben; und neue Transport- und Logistikmechanismen. „Das Internet ist dabei, sich in ein Super-Internet der Dinge zu verwandeln.“ fasste Industrien. Es macht keinen Unterschied, tausend oder eine Million Musikalben zu vertreiben. Aber wie kommen Sie auf die Idee, dass sich diese Entwicklung schnell auf andere Industrien übertragen lässt? Rifkin: Dank einer neuen Technologieplattform, die gerade im Begriff ist, die Welt zu erobern. Das Internet ist dabei, sich in ein Super-Internet der Dinge zu verwandeln, in dem das Kommunikationsnetz mit Energie- und automatisierten Logistiknetzen zu einem großen System verbunden wird. Das wird eine dritte industrielle Revolution auslösen. SPIEGEL: Diese Welt der vernetzten Geräte und Maschinen steckt zurzeit noch in den Kinderschuhen. Rifkin: Viele der führenden Industriekonzerne wie Siemens, General Electric und IBM arbeiten mit Hochdruck daran, die Infrastruktur für solch ein globales neuronales Netzwerk zu errichten. Derzeit gibt es rund elf Milliarden Sensoren, die Geräte mit dem Internet der Dinge verbinden. Bis 2030 aber, so sagen Studien voraus, werden hundert Billionen Sensoren etwa mit Produktionsstätten, Lagerhäusern, Transportnetzwerken und dem Stromnetz verbunden sein. Zwischen Autos, Büros, Fabriken und Wohnungen werden riesige Datenmengen fließen. SPIEGEL: Das klingt erst mal nach einem guten Geschäft für viele Industrie- und Internetkonzerne. Rifkin: Aber diese Datenströme kann jeder analysieren und verwerten. Das wird Effizienz und Produktivität erheblich erhöhen SPIEGEL: Aber was hat das mit der von Ih- nen beschworenen gemeinschaftlich organisierten Wirtschaft zu tun? Rifkin: Die Architektur der Internetrevolution ist nicht für Zentralisierung und vertikal integrierte Konzerne geeignet. Sie bevorzugt breite Verteilung, Kollaboration, Teilen. SPIEGEL: Die Internetwirtschaft wird beherrscht von großen, kapitalistisch organisierten Multis wie Google, Apple oder Amazon. Kann es nicht sein, dass die dritte industrielle Revolution weitgehend genauso aussieht wie die zweite? Rifkin: Nein, die Natur der digitalen Welt ist ein offenes, transparentes System. Wachstum findet in der Breite statt: indem Musik oder Videos oder erneuerbare Energie geteilt und weitergegeben werden. Mit 3-DDruckern können wir künftig viele Produkte selbst herstellen, wie wir sie brauchen, einfach nur auf Grundlage einer digitalen Blaupause. Und hier passt auch der Erfolg von Uber, der elektronischen Plattform für Taxi- und Chauffeurdienste, genau ins Bild. SPIEGEL: Wieso denn das? Rifkin: Uber nutzt schon fast alle Aspekte des neuen Super-Internets: die Kommunikation über das Smartphone, die Lokalisierung über GPS und das entstehende Logistiknetzwerk. Und sie sprechen ja schon über selbstfahrende Roboterautos. Mit solchen Modellen könnten wir auch dafür sorgen, dass in Zukunft zahllose Privatautos von den Straßen verschwinden, die Verkehrsprobleme geringer werden. SPIEGEL: Uber ist allerdings ziemlich sicher eher an größeren Gewinnen als an einer DER SPIEGEL 32 / 2014 63 Wirtschaft Taxilobby drängt auf ein Verbot von Uber, und der Autoverleiher Avis hat die CarSharing-Plattform Zipcar einfach aufgekauft. Rifkin: Ich glaube aber nicht, dass die neuen Modelle ganz zerstört werden können. Denn was wäre die Alternative? Eher werden sich all die Menschen, die auf die Gemeinschaftsmodelle setzen, und wir alle, deren eigene Daten für Profitmodelle verwendet werden, zunehmend politisieren. Wir brauchen vielleicht eine neue Gewerkschaftsbewegung wie im 19. und 20. Jahrhundert nun auch für das digitale Zeitalter. SPIEGEL: Sie meinen eine Art globale Internetgewerkschaft in Sachen Datennutzung oder Netzneutralität? Rifkin: Ja. Schon jetzt ist bald die Hälfte der Menschheit dabei, irgendwie digitale Güter zu produzieren, zu teilen, Daten bereitzustellen. Und sie haben keine Interessenvertretung. Wir werden wohl bald schon Genossenschaften oder andere Arrangements von den Menschen sehen, die sicherstellen wollen, dass ihre Arbeit und ihre Daten nicht allein von Dritten zu Geld gemacht werden. SPIEGEL: Das ist zurzeit noch reines Wunschdenken. Rifkin: Es ist aber im Gegenzug naiv anzunehmen, dass es nicht so kommen wird! Hunderte Millionen, ja Milliarden Menschen, die auf Dauer dabei zusehen, wie ihre Daten und ihre Arbeit von anderen zu Geld gemacht werden? Ich glaube, das kann nicht gut gehen. SPIEGEL: Herr Rifkin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Produktionshalle von Volkswagen in Wolfsburg: „Kollektive werden Unternehmen verdrängen“ 64 DER SPIEGEL 32 / 2014 Ende des Entzugs Tourismus Ausgerechnet Griechenland wird zum Überflieger der Feriensaison. Das Urlaubsland profitiert davon, dass es sich vor Jahren neu erfunden hat. W er dem ungewöhnlichsten Phänomen der aktuellen Reisesaison auf den Grund gehen will, muss früh aufstehen – und viel Zeit investieren. Mit dem Flugzeug geht es zunächst nach Wien, dann weiter nach Santorin in Griechenland, vorausgesetzt, man findet in den knallvollen Jets überhaupt noch einen Platz. Von dort aus startet eine Fähre, die nach gut drei Stunden die Kykladeninsel Paros in der südlichen Ägäis erreicht. Auch sie ist in der Regel gut gebucht. Bis zu der Hafenstadt Naoussa dauert es noch eine Weile, allerdings nur, wenn man überhaupt noch einen Mietwagen bekommt. Trotzdem lohnt sich der Besuch. Denn dort sitzt ein Mann, der am besten erklären kann, warum es derzeit ein bisschen schwierig ist, ihn zu erreichen: der Chef und Eigentümer des Münchner Hellas-Spezialveranstalters Attika-Reisen, Michael Karavás, 75. Der vornehme Herr mit dem weißen Hemd und den eleganten Shorts bringt seit fast 40 Jahren deutsche Urlauber in seine Heimat. Dort gilt er als Pionier des griechischen Tourismus – mit besten Beziehungen zu Hoteliers und Behörden. So etwas wie in diesem Jahr hat allerdings auch er noch nicht erlebt. Der Archipel wird von Touristen aus aller Welt und speziell aus Deutschland geradezu überrannt. „Griechenland boomt“, freut sich Karavás, „es könnte gut sein, dass 2014 erneut zu einem Rekordjahr wird.“ Ausgerechnet Griechenland. Noch vor wenigen Jahren, auf dem Höhepunkt der Finanz- und Schuldenkrise, galt das Verhältnis zwischen den Einwohnern beider Länder als zerrüttet. Bilder von Massendemonstrationen, Straßenschlachten und brennenden Flaggen als Reaktion auf die von der Troika und auch der Bundesregierung verhängten Sparmaßnahmen schockierten die deutsche Öffentlichkeit. Zeitweise gab das Auswärtige Amt sogar Reisewarnungen heraus. Boulevardblätter wie die Bild-Zeitung heizten die Stimmung zusätzlich an, indem sie die Südlichter als „Pleite-Griechen“ schmähten und sie aufforderten, doch einige ihrer Eilande zu verkaufen. „Da wurde FOTO: CHRISTIAN BURKERT / LAIF sozialeren, kollektiven Wirtschaft interessiert. Es ist doch naiv anzunehmen, dass all die neuen kalifornischen Internetunternehmen nicht zuallererst dazu da sind, ihre Gründer reich zu machen. Rifkin: Das stimmt natürlich. Google, Facebook und Twitter haben eine Menge Geld verdient, indem sie eine kollaborative Gemeinschaft etabliert haben, mit der wir mit geringsten Kosten Informationsgüter teilen können. Allerdings ist das nicht ohne Ironie. Denn dabei nehmen sie zunehmend die Form globaler Kommunikationsversorger an. Und entsprechend gibt es eine Diskussion, ob sie Monopole sind und staatlich reguliert werden müssen. SPIEGEL: Aber was passiert denn, wenn diese neuen kollaborativen Gemeinschaften dauerhaft als kommerzielle Unternehmen betrieben werden? Führt das nicht im Zweifelsfall zu einem noch extremeren Kapitalismus mit einer neuen Tech-Elite an der Spitze, die sich auf Kosten aller anderen bereichert? Rifkin: Das kann durchaus passieren. Die Grenze zwischen profitorientierten und gemeinnützigen Unternehmen wird immer fließender werden. Am Ende wird aber eine nach der anderen der traditionellen Industrien in die Knie gehen. Der physische Handel fällt jetzt schon dem Onlinehandel zum Opfer, und so wird es weitergehen. SPIEGEL: Allerdings nicht ohne heftige Rückzugsgefechte. Wahrscheinlicher ist doch, dass jede Industrie versuchen wird, die neuen Geschäftsmodelle zu zerschlagen oder sie sich selbst einzuverleiben. Die FOTO: CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL unreflektiert gehetzt und vieles geschrieben, was einfach Unsinn ist“, erinnert sich Michael Karavás. Der Völkerverständigung tat das nicht gut, die Gästezahlen brachen drastisch ein. Erholungsuchende wichen auf andere Länder wie Spanien oder die Türkei aus, die für das gleiche Geld oft mehr boten. Die jüngste Vergangenheit aber scheint vergessen – oder zumindest verdrängt zu sein. Unter anderem wohl, weil Griechenland seit nunmehr zwei Jahren eine stabile Regierung hat und von Streiks und Protesten nichts mehr zu hören ist. Schon im vergangenen Jahr wagte sich erstmals eine wachsende Zahl eingefleischter Fans nach längerem Entzug in ihr Lieblingsurlaubsland zurück. Die Besucher, häufig Besserverdiener jenseits der 50, schätzen die Mischung aus Geschichte, Kultur und farbenfroher Natur, das Ganze umgeben von tiefblauem Wasser. „Griechenland bietet einfach ein ganz spezielles Lebensgefühl“, schwärmt Attika-Chef Karavás, „schon allein dafür lohnt es sich zu kommen.“ Das scheint sich herumgesprochen zu haben. Im Sommer 2014 kennt der Hellas-Hype keine Grenzen. Von den Kykladen über Kreta bis nach Rhodos ist kaum noch ein freies Bett zu bekommen. Selbst in Athen, als Urlaubsdestination bislang eher gemieden, sind die Hotels zum ersten Mal seit den Olympischen Spielen vor zehn Jahren nahezu komplett ausgebucht. Doch nicht nur die politischen Umstände haben sich zum Positiven entwickelt. Auch die Griechen selbst sowie ihre Hoteliers und Restaurantbesitzer haben in den vergangenen Jahren viel unternommen, um ihre Destination aufzuwerten. Vor noch nicht allzu langer Zeit spotteten Branchenkenner, bei den Hellenen würden in Sachen Servicequalität zuweilen Zustände wie im Paläolithikum herrschen. Weiße Plastikstühle und -tische mit klebrigen Decken gehörten zur Standardausstattung wie auch lauwarmes Essen und minderwertiger Wein. Mancherorts galt die Anwesenheit von Eseltreibern oder Bimssteinverkäufern am Straßenrand schon als ausreichendes Unterhaltungsangebot für die Gäste. Dass diese zuweilen in Bleiben absteigen mussten, die ihre beste Zeit in den späten Sechzigerjahren hatten, störte, wenn überhaupt, nur die Kunden. Bis vor einer Dekade ließen Einheimische gedankenlos leere Kaffeebecher und ausgedrückte Kippen am Strand zurück. Die Hellenen schmauchten schon damals kräftig und gelten auch heute noch als Stammkunden der Zigarettenindustrie. Doch schon vor Ausbruch der Krise im Jahr 2010 ging ein Ruck durch die griechische Tourismusbranche. Die Regierung Reiseveranstalter Karavás „Da wurde unreflektiert gehetzt“ hatte bereits 2004 erstmals einen Minister für den wirtschaftlich so wichtigen Dienstleistungszweig ernannt. Die Zahl der Vierund Fünfsternehotels wurde erhöht und soll auf bis zu 60 Prozent steigen. Viele Gastgeber gingen Kooperationen mit großen Veranstaltern wie TUI oder Thomas Cook ein, statteten ihre Häuser nach deren Vorschlägen aus und profitieren nun davon, dass die Marktführer ihre Angebote vertreiben. Boom im Krisenland Hotelzimmerpreise* in Euro Griechenland gesamt: 2013 119 Durchschnitt 2014 135 100 km G R I EC H E N L A N D 81 95 Athen Peloponnes 86 85 200 322 Mykonos Santorin 335 492 (Imerovigli) * jeweils im Juli für ein Kreta Standarddoppelzimmer Quellen: Trivago, Sete Rhodos (Faliraki) 101 113 83 103 19 17,9 Touristen in Mio. 15,9 geschätzt Einnahmen in Mio. Euro 11,6 10,4 9,6 10,5 10,0 2008 2009 2010 2011 2012 11,7 13 2013 2014 Gleichzeitig nahmen die griechischen Ferienmacher neue Zielgruppen ins Visier, Golfsportler etwa, Wellnessanhänger oder Gourmetreisende. Speziell für sie wurden Pakete mit Kosmetikangeboten, Wein- oder Olivenölverkostungen geschnürt, die es früher so nicht gab. Damit die zahlungskräftige Klientel sich künftig noch besser fühlt, sollen im ganzen Land knapp zwei Dutzend neue Wohlfühltempel entstehen, mit Golfplätzen, Wellnessoasen und exklusiven Restaurants. Das aber kostet Geld, weshalb die teuren Anlagen künftig schon im März öffnen und erst Ende Oktober schließen sollen. Das war früher nicht üblich, ist vom Wetter her in Griechenland aber kein Problem. Schon im Frühjahr und bis in den Herbst herrschen dort meist angenehme 20 Grad. Auch die Inhaber kleinerer Hotels haben sich in den vergangenen Jahren mächtig ins Zeug gelegt und profitieren nun von dem aktuellen Boom. Wie beispielsweise die Mitbesitzerin des kleinen Margarita’s House in Naoussa, Eleni Perperoglou, 45. Sie hat 20 Jahre lang in Deutschland gelebt und auch in Spitzengastronomie und Fünfsternehotellerie gearbeitet. Sie weiß genau, was ihre Klientel schätzt: eine gepflegte, saubere Einrichtung und Ausstattung, Klimaanlage plus ein üppiges Frühstück, das, anders als in Griechenland oft üblich, nicht nur aus Instantkaffee und trockenem Gebäck besteht. Genau das bietet sie ihren überwiegend deutschen Gästen – zu vergleichsweise zivilen Preisen. „Mancherorts will man die Urlauber nur abzocken“, kritisiert sie, „das kann auf Dauer nicht gut gehen.“ Einige ihrer Kollegen sehen das offenbar anders und fallen in eine alte Unart zurück, im Landesjargon „Arpachti“ genannt, zu Deutsch: sich die Beute greifen. Auf der Partyinsel Mykonos etwa, wo auch Fußball-Nationaltorhüter Manuel Neuer nach der WM Urlaub machte, schnellten die Hotelpreise innerhalb von nur einem Jahr um gut 100 Euro auf deutlich über 300 Euro pro Nacht nach oben, in der Spitze werden sogar 500 Euro und mehr verlangt. Besonders dreiste Anbieter fordern auf der Touristeninsel Santorin für eine schlichte Bleibe zurzeit bis zu 900 Euro – für eine Nacht. Machen die schwarzen Schafe in dem Stil weiter, dürfte es mit dem Run auf die Betten schnell wieder vorbei sein – zum Nachteil der griechischen Wirtschaft. Immerhin steuert der Tourismus knapp ein Fünftel zum Sozialprodukt bei. Freuen könnten sich dann nur die Griechen selbst. In einer aktuellen Umfrage gaben drei Viertel von ihnen an, dieses Jahr überhaupt keinen Urlaub zu planen, nicht einmal im eigenen Land. Der Grund: Die Preise sind für die Bewohner des neuen Trendziels schlicht viel zu hoch. Dinah Deckstein, Martin U. Müller DER SPIEGEL 32 / 2014 65 Islam ohne Politik USA „Gefährlich und dumm“ Mark Meckler, 52, Mitgründer der „Tea Party Patriots“ und Präsident der Organisation „Citizens for Self-Governance“, über die Pläne der Republikaner, Präsident Barack Obama zu verklagen den großen Parteien getragen – mit breiter Unterstützung der Öffentlichkeit. Doch diese Reform wurde den Bürgern aufgezwungen. Trotzdem ist die Klage reine Show, sie ist gefährlich und dumm. SPIEGEL: Warum gefährlich? Meckler: Kein Gericht würde eine solche Klage annehmen, denn sie müsste von Abgeordnetenhaus und Senat kommen. Obama wird die Zurückweisung als Sieg feiern – und noch gesetzloser handeln als bisher. SPIEGEL: Kann es sein, dass die Republikaner jetzt durchdrehen? Ihr Widerstand gegen die Gesundheitsreform wirkt rachsüchtig und hilflos. SPIEGEL: Die Republikaner im Abgeordnetenhaus wollen den Präsidenten wegen seiner Gesundheitsreform verklagen. Was steckt dahinter? Meckler: Obama ist der schamloseste Gesetzesbrecher unserer Geschichte. Er hat das Gesetz nach dessen Verabschiedung mehr als 20-mal verändert. Bislang wurden alle Sozialreformen von bei66 DER SPIEGEL 32 / 2014 Obama Meckler: Diese Klage ist reine Symbolpolitik. Wenn die Republikaner Obama ernsthaft stoppen wollten, würden sie ihm die Finanzierung entziehen, statt sinnlose Klagen anzustrengen. SPIEGEL: Manche glauben, die Republikaner hätten ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten im Sinn. Wäre das klug? Meckler: Auf keinen Fall! Im Senat, der über eine Amtsenthebung befinden müsste, haben die Demokraten die Mehrheit. Ein Impeachment würde nur Zeit und Energie verschwenden. Obama soll fertig regieren, danach ist es Zeit für einen Neuanfang. Dann müssen Präsident und Regierung endlich den Willen des Volkes ernst nehmen. mfk FOTOS: FADEL SENNA / AFP (O.); GETTY IMAGES (U.) Zu seinem 15. Thronjubiläum hat Mohamed VI. vergangenen Donnerstag Repräsentanten aus ganz Marokko in Rabat empfangen. Zuvor hatte er als erster Herrscher eines muslimischen Landes per Dekret die Trennung von Religion und Politik verordnet. Der König, zugleich Oberhaupt der Gläubigen, verbot den Imamen der über 45 000 Moscheen politische oder gewerkschaftliche Betätigung sowie jegliche Parteinahme in ihren Predigten. So will er den toleranten Islam stärken. hzu Ausland Argentinien Rettung aus China Die Finanzkrise in Argentinien könnte Chinas Einfluss in der Region stärken. Denn die Chinesen wollen Buenos Aires umgerechnet 5,6 Milliarden Euro leihen; das Geld soll in den Ausbau des Eisenbahnnetzes und in Energieprojekte investiert werden. Zudem will China das Land mit einem Devisenaustausch im Wert von 8,5 Milliarden Euro unterstützen. „Damit werden die Folgen des von den Hedgefonds erzwungenen Zahlungsausfalls kurzund mittelfristig abgemil- Südkorea Kultur der Vertuschung Tragische Unfälle können überall vorkommen, doch in Südkorea passieren sie derzeit auffallend oft: Innerhalb von vier Monaten versank die Fähre „Sewol“ mit über 300 Passagieren im Meer, in Seoul kollidierten zwei Züge der U-Bahn, und in der Touristenregion Taebaek stießen zwei Eisenbahnzüge zusammen. Was Südkorea von vielen Industrieländern unter- dert“, sagt der Wirtschaftsexperte Jorge Gaggero von der Universität in Buenos Aires. Die juristische Auseinandersetzung mit den USHedgefonds hatte vergangene Woche einen Zahlungsausfall Kirchner scheidet, ist die Unfähigkeit, Konsequenzen aus diesen Unglücken zu ziehen. Über drei Monate brauchte die Polizei, bis sie den Patriarchen der „Sewol“-Eignerfamilie fand – da war er bereits tot. Zwar hatten Fahnder die verweste Leiche Wochen zuvor entdeckt, doch hielten sie diese angeblich für einen Obdachlosen. Die Pannen und Gerüchte lassen viele Südkoreaner an eine Verschwörung glauben. So behauptete ein Oppositionspolitiker, die Leiche sei neun Zentimeter klei- bewirkt. Ökonomen und Ratingagenturen streiten, ob es sich um einen Staatsbankrott handelt. Gaggero sagt: „Argentinien hat bislang alle Schulden wie vereinbart beglichen.“ Der Zahlungsausfall sei auf die „erratische Entscheidung eines einzigen Richters“ zurückzuführen. Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner profitiere mit Chinas Hilfe möglicherweise sogar von der Krise: „Wenn die Regierung die Folgen der Finanzkrise mit Sozialprogrammen und Wirtschaftshilfen kompensiert, könnte sie vor den Wahlen im nächsten Jahr punkten.“ jgl ner als der Fährbesitzer. Ein Laptop, der im Wrack gefunden wurde, soll zudem Hinweise enthalten, dass der Geheimdienst in den Kauf und die fragwürdige Betriebsgenehmigung der Fähre verwickelt sein könnte. Gegen solche Spekulationen hilft nur Aufklärung, doch die ist kaum zu erwarten. In der hierarchischen, konfuzianisch geprägten Kultur Südkoreas ist Respekt gegenüber Amt und Alter vorrangig. Es ist eine Kultur, die den Nährboden für Katastrophen bereitet. ww Fußnote FOTOS: DAVID FERNANDEZ / DPA (O.); CHUNG SUNG-JUN / GETTY IMAGES (U.) 8196400 Wohnungen stehen in Japan leer. Das sind 13,5 Prozent – und 628 500 mehr als vor fünf Jahren, teilte die Regierung mit. Ein Grund für den Leerstand: Die Bevölkerung schrumpft. 2040 wird rund jeder Dritte über 65 Jahre alt sein; die Einwohnerzahl soll bis dahin um 20 Millionen sinken. Behörden fürchten Geisterhäuser als Gefahrenherde. Der Tokioter Bezirk Ota erließ 2013 eine Verordnung, nach der verfallene Häuser ohne Zustimmung der Eigentümer abgerissen werden dürfen. ww Mahnwache für die Opfer der „Sewol“ in Ansan DER SPIEGEL 32 / 2014 67 Titel Kapak Diese Titelgeschichte erscheint auch auf Türkisch – wie schon jene zu den Protesten in Istanbul vor einem Jahr. Nicht etwa, weil es den fast drei Millionen Deutschtürken an Sprachkenntnissen fehlen würde. Es geht – anlässlich der Wahl – um eine Geste an die größte Einwanderergruppe in Deutschland und an die Leser in der Türkei. Kapak yazımız, Türkçe yayınlanıyor, aynen bir yıl önce İstanbul'daki direniş hakkındaki yazılar gibi. Almanya'daki Türkiye kökenli yaklaşık üç milyon insanın Almancasının yetersiz olduğunu düşündüğümüz için değil. Cumhurbaşkanlığı seçimi vesilesiyle ülkemizdeki en büyük göçmen grubuna ve Türkiye'deki okurlarımıza yönelik bir jest olarak. Der neue Sultan Yeni Padişah S 68 DER SPIEGEL 32 / 2014 K eskin nişancılar çatılarda bekliyor, büyük bir kitlenin, ay yıldızlı kırmızı bayraklar salladığı meydanın üzerinde helikopterler daireler çiziyor. Yozgat'a, Anadolu'nun merkezindeki bu küçük şehre İstanbul'dan, Ankara'dan, Karadeniz'den, binlerce insan akın etmiş. Cayır cayır yakıcı sıcakta saatlerce beklemişler, onu karşılamak için. Hep bir ağızdan adını söylüyorlar, hoparlörlerden, karşıladıkları insanın seçim kampanyasının marşı çalıyor gümbür gümbür: “Halkın adamı Recep Tayyip Erdoğan”. Başbakan sahneye adım atıyor ve başörtülü kadınlar ağlamaya başlıyor, sakallı erkekler dizlerinin üzerine çöküyor. Erdoğan kollarını kaldırıp haykırıyor: “Hepimiz kardeş miyiz? Hepimiz birlikte Türkiye miyiz?” Kitle cevap veriyor: “Tayyip, senin için ölmeye hazırız!” Türkiye'de seçim mücadelesi sürüyor, ama bu ifade, burada olanları anlatmaya yetmiyor. İşte bu yüzden Erdoğan kampanyasına “İstiklal Savaşı” adını takmış. Ordularsa onu cumhurbaşkanı yapacak olan seçmenleri. “İstiklal Savaşı”; Mustafa Kemal Atatürk 95 yıl önce Batılı müttefik güçlere karşı yürüttüğü ve Türkiye Cumhuriyeti'nin kurulmasıyla sonuçlanan mücadelesine bu adı vermişti. Şimdi Erdoğan seçim mücadelesinde bu savaşın tohumlarının atıldığı yerleri dolaşıyor. Ve modern bir Atatürk gibi kükrüyor mikrofona: “Dış güçlerin Türkiye'ye zarar vermesine izin vermeyeceğiz!” Bu cümlenin bir ok gibi yöneldiği hedef, Gezi Parkı'nı işgal eden üniversiteliler, muhalif laikler ve Avrupa. Erdoğan onbir yıldır iktidar koltuğunda oturuyor ve üç seçim döneminden sonra bir kez daha başbakanlığa aday olamayacağı için, 10 Ağustosta cumhurbaşkanı seçtirmek istiyor kendisini. Aslında ona kalsa, hayatı boyunca hükmetmeyi yeğleyecek; ama hiç değilse cumhuriyetin kuruluşunun yüzüncü yılına, yani 2023 yılına kadar kalmak istiyor. Nitekim, sıkça sözünü ettiği 2023 tarihi, seçim afişlerine de koskocaman yazılmış. Türkiye, onun iktidarı döneminde müthiş bir değişim geçirdi; bir kriz ülkesiyken bölgesel bir güce dönüştü. Erdoğan da değişim geçirdi; köktendinci bir siyasetçi iken, demokratik reformlar yapan, elitlerin gücünü kıran, ekonomik atılımı körükleyen ve ülkesinin inançlı muhafazakar çoğunluğunu yoksulluktan ve siyasal suskunluktan kurtaran bir insan haline geldi. Kazandığı her seçim zaferinden sonra bir kat daha otoriterleşti. Protesto gösterilerini şiddetle bastırttı, iktidarını eleştirenleri tutuklattı ve islami ahlak tasavvurlarını adım adım yerleştirdi. Reformcuyken hüküm- L L charfschützen wachen auf den Dächern, und Hubschrauber kreisen über dem Platz, auf dem die Menge rote Fahnen mit Halbmond schwenkt. Tausende sind gekommen, aus Istanbul, aus Ankara und vom Schwarzen Meer, hierher, in die Kleinstadt Yozgat in Zentralanatolien. Sie haben stundenlang in der Hitze gewartet, um ihn zu feiern. Sie skandieren seinen Namen, aus den Lautsprechern dröhnt die Hymne seines Wahlkampfes: „Mann des Volkes, Recep Tayyip Erdoğan.“ Als der türkische Premier auf die Bühne tritt, brechen Frauen mit Kopftuch in Tränen aus, bärtige Männer fallen auf die Knie. Erdoğan hebt die Hände und brüllt: „Sind wir Geschwister? Sind wir Türken?“ Die Masse antwortet: „Tayyip, wir gehen bis in den Tod für dich!“ Es ist Wahlkampf in der Türkei, aber das drückt nicht aus, was hier passiert, und deshalb hat Erdoğan seine Kampagne als Befreiungskrieg beschrieben. Seine Wähler sind seine Truppen, die ihn nun zum Präsidenten machen sollen. „Befreiungskrieg“, so nannte Mustafa Kemal, genannt Atatürk, vor 95 Jahren den Feldzug gegen die westlichen Alliierten, der zur Gründung der türkischen Republik führte. Erdoğan reist jetzt in seinem Wahlkampf die Orte ab, von denen dieser Krieg ausging. Und wie ein moderner Atatürk brüllt er ins Mikrofon: „Wir werden nicht zulassen, dass fremde Kräfte der Türkei schaden!“ Er meint die Studenten, die den Gezi-Park besetzten, die säkulare Opposition, Europa. Seit elf Jahren regiert Erdoğan, 60, und da er nach drei Amtszeiten nicht mehr als Premier antreten darf, will er sich am 10. August zum Präsidenten küren lassen. Am liebsten aber will er Herrscher auf Lebenszeit werden; zumindest bis zum Jahr 2023, wenn sich die Staatsgründung zum 100. Mal jährt. Er spricht oft von 2023, auch auf den Wahlkampfplakaten prangt die Zahl. Die Türkei hat während seiner Amtszeit einen enormen Wandel durchgemacht, vom Krisenland zur Regionalmacht. Auch Erdoğan hat sich gewandelt, vom religiösen Fundamentalisten zum demokratischen Reformer, der die Eliten entmachtete, einen Wirtschaftsboom entfachte und die konservativ-fromme Mehrheit des Landes aus der Armut und politischen Sprachlosigkeit befreite. Mit jedem Wahlsieg jedoch wurde er autoritärer. Er ließ Proteste niederschlagen und Kritiker verhaften, setzte nach und nach islamische Moralvorstellungen durch. Der Reformer wurde zum Patriarchen, aus dem Hoffnungsträger wurde ein Risiko. Als Erdoğan sich in Yozgat von seinen Fans verabschiedet, Türkiye Başbakan Erdoğan demokratik reformlarla çıktı yola, ancak eski dönemin seçkinleriyle ve Gezi Parkı direnişçileriyle mücadelesinde hükümdara dönüştü. Şimdi kendisini cumhurbaşkanı seçtirmek niyetinde. Despot mu olacak bu sefer de? FOTO: UMIT BEKTAS / REUTERS Türkei Premier Erdoğan begann als demokratischer Reformer, doch im Kampf gegen die alten Eliten und die GeziDemonstranten entwickelte er sich zum Patriarchen. Jetzt will er sich zum Präsidenten wählen lassen. Wird er damit zum Despoten? Politiker Erdoğan Siyasetçi Erdoğan Rohbauten in Istanbul: „Wir haben Malls, Malls, Malls, vor allem die Bauindustrie boomt“ İstanbul´da kaba inşaatlar: “Her taraf AVM, her taraf AVM, hele inşaat sektörü patladı” dara dönüştü, vaktiyle kendisine büyük umutlar bağlanırken, risk olarak görülmeye başlandı. Bugün de, Yozgat'ta taraftarlarına veda ederken, elini Müslüman Kardeşler'in selamıyla kaldırıyor ve “Bitmedi, bu daha başlangıç” diye sesleniyor onlara. Erdoğan'ı kamçılayan şeyi, amacının ne olduğunu ve ülkesini nereye götürebileceğini tahmin edebilmek için, geçmişe dönüp, bu insanın yükselişine bakmak yerinde olur. Beş perdede bir dönüşüm öyküsü bu. Im Istanbuler Hafenviertel Kasımpaşa sind die Haustüren aus den Angeln gerissen, unter den Brücken schnüffeln Obdachlose Yükseliş: Istanbul Klebstoff. Hier ist Erdoğan aufgewachsen, hier liegen seine Wurzeln. Der jugendliche Erdoğan war ein „Schwarztürke“, ein Au- İstanbul'un liman semti Kasımpaşa'da, kapılar menteşelerinden ßenseiter, sein Vater Ahmet verdiente sein Geld damit, Güter sökülmüş, köprü altlarında evsiz barksız insanlar tiner çekiyor. über den Bosporus zu schiffen. Der junge Erdoğan lernte früh, Erdoğan burada yetişmiş, kökleri burada. Delikanlılığında “siyah sich durchzusetzen. Er verkaufte Sesamkringel auf der Straße, Türk” idi Erdoğan, dışarıda tutulandı, babası Ahmet, Boğaz'da und wenn ihn jemand prellte, schlug er angeblich zu. Die Alten yük taşıyarak kazanırdı hayatını. Genç Erdoğan, boyun eğmehier erinnern sich an einen Jugendlichen voller Zorn: „Tayyip meyi erken yaşta öğrendi. Sokakta simit satıyordu ve kendisine ging keiner Prügelei aus dem Weg“, sagt ein Mann. „Er kletterte yamuk yapan olursa, rivayet o ki, yumruğu yiyordu. Bu semtin auf das Dach der Moschee und zitierte Verse aus dem Koran.“ yaşlılarının aklında öfkeli bir genç kalmış: “Tayyip kavgadan hiç Erdoğan war Stürmer bei dem lokalen Fußballverein Erokspor, kaçmazdı”, diyor semtin bir sakini. “Caminin damına çıkar, besuchte eine religiöse İmam-Hatip-Schule, studierte Betriebs- Kur'an'dan sureler okurdu.” wirtschaft und arbeitete als Buchhalter in einer Wurstfabrik. Und Erdoğan yerel futbol takımı Erok Spor'da forvet olarak oynadı, er trat der islamistischen Refah-Partei bei, wo er seine Frau Emine imam hatip okuluna gitti, işletme okudu ve bir sucuk fabrikasında kennenlernte. Mit 40 Jahren war er ganz oben, wurde er zum muhasebecilik yaptı. Ve islamcı Refah Partisi'ne üye oldu, orada Bürgermeister von Istanbul gewählt. Die Eliten verachteten ihn, müstakbel eşi Emine'yle tanıştı. 40 yaşına geldiğinde zirvedeydi, doch Erdoğan regierte effizient, baute den İstanbul'un belediye başkanı seçilmişti. S c h w a r z e s M e e r Nahverkehr aus, verbesserte die WasserSeçkinler onu küçümsüyordu, ama Erversorgung und ließ die Straßen reinigen. doğan verimli çalışan bir belediye başkaIstanbul Kasimpaşa Schon als Jugendlicher ist Erdoğan benıydı. Şehir içi toplu taşımacılığını geliştirsessen von dem Gedanken aufzusteigen. di, şehrin su ihtiyacının daha iyi karşılanAnkara Yozgat Die Verachtung, die er zu Beginn seiner masını sağladı ve caddeleri temizletti. T Ü R K E I Karriere durch das säkulare Bürgertum erErdoğan delikanlılığından beri yükselme Diyarbakır fährt, verbittert ihn und treibt ihn an. „Erfikrine tutkundu. Kariyerinin başlarında 350 km doğan hat den Ehrgeiz und die Ausdauer, laik orta sınıf tarafından küçümsenmek, die nur Außenseiter mitbringen“, sagt der onu öfkeyle doldurdu ve kamçıladı. “Er70 DER SPIEGEL 32 / 2014 FOTOS: GEORGE GEORGIOU Der Aufstieg: Istanbul L L hebt er die Hand zum Gruß der Muslimbrüder und ruft: „Unsere Mission hat gerade erst begonnen.“ Um zu erahnen, was Erdoğan antreibt, was er will und wohin er sein Land führen könnte, hilft es zurückzublicken, auf den Aufstieg dieses Mannes. Die Geschichte einer Verwandlung in fünf Akten. Titel Anwalt Turgut Kazan, der den Premier seit Jahren kennt. „Er- doğan, sadece dışlananların sahip olabileceği bir hırsa ve azme doğan ist auch als Politiker ein Straßenkämpfer geblieben.“ sahip” diyor Başbakan'ı yıllardır tanıyan avukat Turgut Kazan. Die Menschen in Kasımpaşa sind arm, aber voller Stolz, und “Erdoğan siyasetçi olarak da sokak savaşçısı olmayı sürdürdü.” so ist auch Erdoğan. „Schau, wie Erdoğan geht, wie er redet, Kasımpaşalılar yoksul, ama gururlu insanlar. Erdoğan da öyle. das ist Kasımpaşa“, sagen sie hier. Stolz bedeutet aber auch, “Erdoğan'in yürüyüşüne bak, konuşmasına bak, işte Kasımpaşa dass er jede Kritik an seiner Regierung als persönliche Beleidi- bu!” diyor burada insanlar. Ama gurur, hükümetine yönelen her gung sieht – und als Aufforderung zurückzuschlagen. Wer Er- eleştiriyi, şahsına yapılmış bir hakaret olarak görmesine ve bunu, doğan enttäuscht, der wird von ihm bestraft und verfolgt. karşı darbeyi indirmek için bir kışkırtma olarak yorumlamasına Erdoğan ist ein begnadeter Populist, ein Menschenfänger, der da yol açıyor. Erdoğan'ı hayal kırıklığına uğratanlar, cezalandırıMassen für sich einnehmen kann. Aber er hat keine Übung darin, lıyor ve onun gazabından kurtulamıyor. seine Ziele durch Diplomatie zu erreichen. Beim WeltwirtschaftsErdoğan mükemmel bir popülist, kitleleri peşinden sürükleyeforum in Davos stürmte er 2009 während einer Diskussion vom bilen bir insanlı köyün kavalcısı. Ama hedeflerine diplomatik Podium, als er sich von dem israelischen Präsidenten Schimon yollardan ulaşma konusunda tecrübesiz. 2009'da Davos Dünya Peres herausgefordert fühlte. Der Premier sei nun mal ein „Ka- Ekonomi Forumu'nda bir tartışma esnasında İsrail Başbakanı sımpaşalı“, ein Draufgänger, entschuldigen ihn seine Berater. Sei- Şimon Peres tarafından kışkırtıldığı duygusuna kapılmış ve sahne Wähler lieben ihn für solche Auftritte. Erdoğan ist so, wie neyi paldır küldür terketmişti. Ne yapalım, başbakan Kasımpaşalı, viele Türken gern wären: selbstbewusst, dominant, furchtlos. serde kabadayılık var ne de olsa, diye durumu açıklamıştı daAber der Premier hält auch viel auf Gehorsam und Loyalität. nışmanları. Seçmenleriyse, bu çıkışlarından dolayı seviyor onu. Er ist dem Friseur seiner Jugend stets treu geblieben, heute schnei- Erdoğan, birçok Türkün olmayı isteyip de olamadığı bir adam: det ihm dessen Sohn die Haare. In dem Salon von Yaşar Ayhan kendinden emin, duruma hakim, gözüpek. in Kasımpaşa hängt sein Foto an der Wand. „Tayyip hat seine Ama başbakan sadakate de çok önem veriyor. Halen, delikanHerkunft nie vergessen“, sagt Ayhan. Er wird auch bei der Präsi- lılık döneminin berberine gidiyor. Kasımpaşa'da Yaşar Aydın'ın dentenwahl für Erdoğan stimmen. „Tayyip lässt uns stolz sein auf berber salonunun duvarında fotoğrafı asılı. “Tayyip köklerini hiç Kasımpaşa, auf unser Land, unsere Religion.“ unutmadı” diyor Ayhan. Cumhurbaşkanlığı seçiminde de Erdoğan'a oy verecek. “Tayyip sayesinde Kasımpaşa'yla, ülkemizle, dinimizle gurur duyuyoruz”, diye devam ediyor. Der Höhenflug: Kayseri L L Bevor die AKP an die Macht kam, lebten in Kayseri etwa eine Zirveye Tirmaniș: Kayseri halbe Million Menschen. Jetzt sind es mehr als doppelt so viele. Die Stadt steht für den wirtschaftlichen Erfolg der Türkei; sie ist AKP iktidarından önce Kayseri'nin nüfusu yarım milyon kadardı. das Zentrum der „anatolischen Tiger“, jener Aufsteigermetropo- Bugünse, bunun iki katından fazla. Bu şehir, Türkiye'nin ekonolen, in denen der türkische Wohlstand der vergangenen Jahre mik başarısının simgesi. Türkiye'de geçtiğimiz yıllarda yükselen entstanden ist. Die Stadt liegt am Fuß des 3916 Meter hohen Vul- refahın doğduğu, “Anadolu kaplanları” olarak anılan metropolkans Erciyes, und oben, auf dem Gipfel, wo sechs Monate im lerin merkezi. Şehir, 3.916 metre yüksekliğindeki Erciyes yanarJahr Schnee liegt, hat gerade ein neues Resort mit Sessellift, Pis- dağının eteklerine kurulmuş. Senenin altı ayı karlarla kaplı zirten und Restaurants eröffnet. In der Innenstadt reihen sich Fast- vedeyse, teleferikler, pistler ve restoranlarla donanmış yeni bir Food-Restaurants und Filialen europäischer Modeketten aneinan- kış sporları tesisi açıldı. Çarşıda fast food lokantaları ve Avrupa der, und vor den Vorstadtvillen stehen Limousinen und Gelän- moda zincirlerinin şubeleri yanyana sıralanıyor, şehrin kıyısındaki dewagen von Mercedes, BMW und Audi. villaların önündeyse Mercedes, BMW ve Audi limuzinleri ve cipHunderte neue Firmen sind hier entstanden, Textilfabriken, leri park etmiş. Maschinenhersteller, international tätige Konzerne wie die Boydak Burada yüzlerce yeni şirket kuruldu, tekstil fabrikaları, makina Holding, zu der eine Bank, eine Kabelfabrik und die größte tür- imalatçıları, Boydak Holding gibi uluslararası alanda çalışan ve kische Möbelfirma Istikbal gehören. Nahezu alle Sofas, Schrank- çatısı altında bir bankayı, bir kablo fabrikasını ve Türkiye'nin en wände und Einbauküchen des Landes werden hier gebaut, auch büyük mobilya şirketi İstikbal'i de barındıran şirket grupları bueuropäische Unternehmen lassen in der Stadt fertigen. raya yerleşti. Türkiye'de kullanılan koltukların, vitrinli dolapların „Kayseri ist das Schwaben der Türkei“, sagt Şafak Çivici. „Die ve ankastre mutfakların neredeyse tamamı burada üretiliyor. AvMenschen sind konservativ, fleißig und bescheiden.“ Die 50-jäh- rupa şirketleri de bu şehirde üretim yapıyor. rige Unternehmerin ist in Stuttgart aufgewachsen, dann zog es “Almanya'da Suebya neyse, Türkiye'de de Kayseri o” diyor sie in die Heimat ihrer Eltern. 1997 eröffnete sie mit ihrem Mann Şafak Çivici. “Buranın insanı muhafazakar, çalışkan ve mütevaeine Holzwerkstatt, inzwischen hat ihr Unternehmen 60 Mitar- zıdır.” 50 yaşındaki bu iş kadını Stuttgart'ta, yani Suebya bölgebeiter und produziert Stühle für Europa. „Das ist auch ein Erfolg sinde yetişmiş, ardından, ebeveyninin memleketine yerleşmiş. von Erdoğan“, sagt Çivici. „Vor seiner Amtszeit betrug die Infla- 1997'de eşiyle birlikte bir kereste imalathanesi açmış. Bugün şirtion über 40 Prozent. Die Regierungen waren chaotisch und kor- keti 60 eleman çalıştırıyor ve Avrupa pazarına sandalye üretiyor. rupt, ständig gab es Streit in den Koalitionen, auf nichts war Ver- “Bu aynı zamanda Erdoğan'ın da başarısı”, diyor Çivici. “Erdoğan lass.“ Viele ihrer Freunde, sagt Çivici, hätten Erdoğan und seine iktidara gelmeden önce enflasyon yüzde 40'ın üstündeydi. HüAKP aus Protest gewählt. „Seit seinem Amtsantritt ist die türki- kümetlerde kaos ve yolsuzluk egemendi, koalisyonlarda habire sche Lira relativ stabil und hat sogar an Wert gewonnen.“ birbirlerine girerlerdi, hiçbir şeye güvenemezdiniz.” Çivici, birçok Zuvor wurde die Wirtschaft von der kemalistischen Elite kon- arkadaşının Erdoğan'a ve AKP'ye oy vermelerinin bir protesto trolliert, doch Erdoğan öffnete die Märkte für Unternehmer aus olduğunu söylüyor. “Erdoğan iktidara geldiğinden beri Türk Anatolien. Er privatisierte große staatliche Unternehmen wie Lirası oldukça istikrar kazandı, hatta değeri de arttı.” Türk Telekom, die Öl- und Gasindustrie, Häfen und Flughäfen; Daha önce ekonomi Kemalist seçkinlerin denetimindeydi, aner liberalisierte den Arbeitsmarkt, reformierte den Banken- und cak Erdoğan pazarı Anadolu işadamlarına açtı. Türk Telekom Kreditsektor und förderte die Wirtschaft. gibi büyük kamu şirketlerini, petrol ve doğal gaz sanayiini, limanZu Beginn der AKP-Ära wuchs die Wirtschaft jährlich um bis zu ları ve hava limanlarını özelleştirdi, istihdam piyasasını liberalize neun Prozent. Ausländische Anleger investierten von 2003 bis 2012 etti, banka ve kredi sektörünü reforma tabi tuttu ve ekonomiyi rund 400 Milliarden Dollar. In den 20 Jahren zuvor waren es lediglich destekledi. AKP döneminin başlarında ekonomi yılda yüzde dokuza 35 Milliarden gewesen. So stiegen unbedeutende Orte in ZenDER SPIEGEL 32 / 2014 71 Café im kurdischen Diyarbakır: Noch vor zehn Jahren herrschte hier der Ausnahmezustand Kürt şehri Diyarbakır´da bir kahve: “Daha on yıl önce burada olağanüstü hal vardı” Noch vor zehn Jahren herrschte in der größten kurdischen Stadt der Ausnahmezustand. Heute kommen Touristen in die Stadt 72 DER SPIEGEL 32 / 2014 varan büyüme hızlarına ulaştı. Yabancı yatırımcılar 2003 ile 2012 yılları arasında yaklaşık 400 milyar dolarlık yatırım yaptı. Daha önceki 20 yıl içinde yapılan yabancı yatırımlarsa sadece 35 milyardı. Böylece Orta Anadolu'da vaktiyle önemsiz olan yerler sanayi kentleri haline geldi ve yeni bir orta sınıf doğdu, müslüman ve muhafazakar, hem zengin, hem dindar olan bir orta sınıf. Aynı zamanda ülkenin tamamında, şehirlere göç eden yoksul köylüler için yeni yerleşim bölgeleri inşa edildi. Erdoğan bütün Türkiye'nin Kayseri gibi olmasını hayal ediyor. Burada lokantalarda alkollü içki yok, birçok kadın başörtülü ve neredeyse bütün şirketlerde mescit var. İman ve zenginlik birbirini tamamlar, diyorlar burada insanlar. “Müslüman Kalvinistler” diyor sosyologlar bu kesime. AKP her seçimde yüzde 70'e varan oy oranlarına ulaşıyor. Erdoğan'a karşı çıkanların az olduğu bir yer burası. En azından şimdilik. Ama yavaş yavaş, alttan alta değişmeye başladı bu durum. Erdoğan artık birkaç yıl önceki kadar benimsenmiyor, diyor Çivici. Gezi direnişi sırasında ve muhalif gazetecilere karşı sergilediği hırçın tutumunu, “reform çizgisinden ayrılmasını ve AB'ye sırt çevirmesini” anlamadığını söylüyor. Erdoğan'ın ayağını bastığı zemin de sarsılıyor bu arada. Ekonomi 2013 yılında sadece yüzde üçlük bir büyüme gösterdi. İMF, Türkiye'nin gelişmekte olan tüm piyasalar içinde en kırılganı olduğu uyarısını yaptı. Çünkü başarı, uzun bir süre boyunca, AKP'nin daha da keskinleştirdiği yapısal bir sorunun farkedilmesini engelledi. Türkiye yıllardır, ihraç ettiğinden fazla mal ithal ediyor; dolayısıyla daha fazla borçlanıyor. Erdoğan'ın iktidarında dış ticaret açığı 16 milyar dolardan, 2012 rakamlarıyla 84 milyar dolara tırmandı. Çivici, ayrıca yabancı sermayenin kısa vadeli yatırımlar yaptığını söylüyor. “Dünya mali krizi patlak verir vermez, sermayelerini çektiler.” Bu yüzden, gelişmenin kalıcı olmadığını belirtiyor. “Her taraf AVM, her taraf AVM, hele inşaat sektörü patladı. Ama ortada ne sağlam bir sanayi var, ne de başarılı bir bilişim sektörü.” FOTO: EREN AYTUG / NAR PHOTOS / DER SPIEGEL Die Versöhnung: Diyarbakır L L tralanatolien zu Industriestädten auf – es entstand eine neue Mittelschicht: das islamisch-konservative Bürgertum, wohlhabend und fromm zugleich. Zugleich wurden im ganzen Land Neubausiedlungen für die zugezogene arme Landbevölkerung errichtet. So wie Kayseri stellt sich Erdoğan die ganze Türkei vor. In den Restaurants wird kein Alkohol ausgeschenkt, viele Frauen tragen Kopftuch, fast jede Firma verfügt über einen Gebetsraum. Glaube und Leistung, sagen sie hier, ergänzten sich. „Islamische Calvinisten“ werden sie von Soziologen genannt. Die AKP bekommt bei Wahlen regelmäßig bis zu 70 Prozent der Stimmen. Kayseri ist ein Ort, an dem es für Erdoğan wenig Widerworte gibt. Zumindest bis jetzt. Doch ganz langsam und leise ändert sich das. Erdoğan sei nicht mehr so unumstritten wie noch vor ein paar Jahren, sagt Çivici. Sein harsches Vorgehen gegen die GeziDemonstranten und kritische Journalisten sei ihr unverständlich, „ebenso seine Abkehr vom Reformkurs und seine Abwendung von der EU“. Und auch Erdoğans wichtigstes Fundament bröckelt: Die Wirtschaft wuchs 2013 nur noch um drei Prozent. Der IWF warnte, die Türkei sei der fragilste aller Schwellenmärkte. Denn der Erfolg täuschte lange Zeit über ein strukturelles Defizit hinweg, das die AKP noch befördert hat. Die Türkei importiert seit Jahren deutlich mehr Güter, als sie exportiert – und häuft so Schulden an. Das Handelsbilanzdefizit stieg unter Erdoğan von 16 Milliarden auf 84 Milliarden Dollar im Jahr 2012. Ausländische Geldgeber hätten zudem nur kurzfristig investiert, sagt Çivici. „Kaum begann die weltweite Finanzkrise, haben sie ihr Kapital wieder abgezogen.“ Nachhaltig sei die Entwicklung daher nicht. „Wir haben Malls, Malls, Malls, vor allem die Baubranche boomt“, sagt die Unternehmerin. „Eine solide Industrie oder einen langfristig erfolgreichen IT-Sektor gibt es nicht.“ Titel am Tigris, Hilton hat ein Hotel eröffnet, der Flughafen wird zu Barişma: Diyarbakir einem der größten des Landes ausgebaut. Wo früher Soldaten patrouillierten, verkaufen heute Händler T-Shirts mit dem Porträt Daha on yıl önce en büyük Kürt şehri Diyarbakır'da olağanüstü des PKK-Führers Abdullah Öcalan. hal egemendi. Bugün, Dicle kıyısına turistler geliyor, Hilton buBis 2004 war es verboten, Kurdisch zu sprechen, kurdische Bü- rada otel açtı ve hava limanı genişletilerek, ülkenin en büyüklecher zu lesen oder kurdische Musik zu hören. Doch Erdoğan ent- rinden biri haline getiriliyor. Vaktiyle askerlerin devriye gezdiği schuldigte sich als erster türkischer Regierungschef für die Ver- yerde şimdi PKK lideri Abdullah Öcalan'ın portresinin basılı olbrechen des Staates an den Kurden. Die Regierung handelte duğu tişörtler satılıyor. einen Waffenstillstand aus, sie lockerte das Sprachverbot und 2004 yılına kadar Kürtçe konuşmak, Kürtçe kitap okumak, förderte die Wirtschaft in der Region, inzwischen gibt es sogar Kürtçe müzik dinlemek yasaktı. Ama Erdoğan, devletin Kürtlere kurdischsprachiges Fernsehen. Uneigennützig war das alles nicht, karşı işlediği suçlar için özür dileyen ilk Türk başbakanı oldu. denn damit erschloss Erdoğan sich eine neue Wählerschicht. Erst Hükümet ateşkes için uzlaşmaya vardı, dil yasağını hafifletti ve Ende Juni brachte die Regierung ein Amnestiegesetz für PKK- bölgede ekonomiyi teşvik etti; bugün Kürtçe televizyon bile var. Kämpfer ins Parlament ein, ein Wahlgeschenk an die Kurden, Bunlar sadece alicenaplık olsun diye yapılmadı, çünkü Erdoğan deren Stimmen er für eine Mehrheit im ersten Wahlgang braucht. bu sayede yeni bir seçmen kesimi kazandı. Hükümet, Haziran Denn Erdoğan konkurriert mit einem kurdischen Präsident- sonunda meclise PKK saflarında savaşmış olanlara yönelik bir schaftskandidaten, dem ersten überhaupt. Selahattin Demirtaş ist yasa tasarısı sundu. Bu Kürtlere seçim öncesinde verilen bir hehier im Südosten aufgewachsen, er erlebte als Kind, wie türkische diyeydi, zira Erdoğan ilk turda çoğunluğu sağlayabilmek için Soldaten Dörfer niederbrannten und die Bewohner hinrichteten, Kürtlerin oylarını da almak zorunda. Cumhurbaşkanı seçiminde Erdoğan'ın karşısında bir Kürt rakip angeblich, weil sie PKK-Kämpfer waren oder sie versteckten. Heute ist Demirtaş der Spitzenkandidat der kurdischen Partei HDP, un- var, ilk Kürt cumhurbaşkanı adayı. Selahattin Demirtaş bu bölterstützt wird er auch von jungen und liberalen Türken. Meinungs- gede büyümüş, daha çocukken, Türk askerlerinin köyleri yakmasına ve PKK üyesi oldukları ya da onlara yatakumfragen sehen ihn bei nur etwa zehn Prozent, Wirtschaftsleistung 2014 lık ettikleri gerekçesiyle köylüleri öldürmesine doch allein seine Kandidatur ist eine Sensation. Prognose projeksiyonu şahit olmuş. Demirtaş Kürt partisi HDP'nin cum„Erdoğan hat das Land verändert“, gibt Demir- Veränderung des taş zu. Aber er sagt auch: „Unter Erdoğan ist eine BIP in Prozent gegen+ 73,1 hurbaşkanı adayı, ayrıca genç ve liberal Türklerden de destek görüyor. Kamuoyu araştırmalarında demokratische Türkei nicht möglich.“ Er will eine über 2002 oy oranı yüzde ondan ibaret görünüyor, ama aday linksliberale Opposition etablieren, für Kurden Ekonomik Performans olması bile kendi başına bir olay. und säkulare Türken. „Wir träumen von einer plu- 2002 yılına göre ralistischen Türkei, die nicht nur Kemalisten oder GSYİH değişim oranı konservativen Sunniten gehört.“ İktidar Mücadelesi: Ankara “Korkmayın! Buyrun, gelin!” diye sesleniyor Abdüllatif Şener. Sesi elektrikli bir matkabın gürültüsünde kayboluyor, inşaat işçileri merdivenler„Keine Angst! Treten Sie ein!“, ruft Abdüllatif den molozlar indiriyor. Şener daha uygun bir ofis Şener. Seine Stimme wird von einer Bohrmaschi2003 bulamamış, Ankara'da bu iktisat profesörünü kimne übertönt, Bauarbeiter schleppen Schutt durchs + 5,3 se kiracılığa kabul etmemiş. Halbuki AKP'nin kuTreppenhaus. Şener hat kein besseres Büro gerucularından biri Şener, maliye bakanlığı ve başbafunden, Hauseigentümer in Ankara weigern sich, Inflationsrate in Prozent kan yardımcılığı yapmış. Ama 2008'de partiden an den Wirtschaftsprofessor zu vermieten. Dabei Enflasyon Oranı kavgalı ayrılmış. hat er einst die AKP mitgegründet, er war Finanz2003 Tesbih çekerek anlatıyor. Erdoğan, diyor, AKP minister und Vizepremier. Doch 2008 hat er die 2014 25,3 Prognose kurucuları arasında tartışmalı bir isimdi. Siyasi Partei im Streit verlassen. projeksiyonu bir tasarısı yoktu, düpedüz taşralıydı, diyor. Ama Şener knetet eine Gebetskette. Erdoğan, erzählt 7,8 ülkenin en popüler Müslüman siyasetçisiydi, hele er, sei unter den AKP-Gründern umstritten gewe1997'de askerleri vesayet rejimi tarafından tutuksen. Er habe kein politisches Konzept gehabt, geQuelle: IWF landıktan ve on yıl hapse mahkum edildikten sonradezu provinziell sei er gewesen. Doch Erdoğan ra. Yaptığı bir konuşmada, bir şiirden alıntı yapmış war der populärste muslimische Politiker des Landes, vor allem, seit er 1997 vom Militärregime verhaftet und zu ve bu alıntı İslamcı bir kışkırtma olarak yorumlanmıştı: “Camiler zehn Monaten Haft verurteilt wurde – weil er in einer Rede aus kışla, minareler süngü.” Hapse girince kahraman oldu Erdoğan. AKP kurucuları, partilerinin ılımlı bir siyasi güç olarak görüleinem Gedicht den als islamistischen Aufruf verstandenen Satz zitiert hatte: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette mesini istiyordu, diyor Şener. Bu yüzden şeriatın getirilmesi ya unsere Bajonette.“ Die Haftstrafe machte Erdoğan zum Märtyrer. da Batı'dan uzaklaşma gibi taleplerden taktik nedenlerle vazgeDie AKP-Gründer wollten, dass ihre Partei als moderate Kraft çildiğini söylüyor. “Askerleri kızdırmamak için laik bir üslup kulerschien, erzählt Şener. Forderungen wie die Einführung der Scha- lanıyorduk.” İlk İslamcı başbakan Necmettin Erbakan darbeyle ria oder die Abkehr vom Westen wurden daher aus taktischen indirildikten sonra, daha temkinli davranmaya karar verdiklerini Erwägungen gestrichen. „Wir benutzten die säkulare Rhetorik, anlatıyor. Erbakan, AKP'nin de kaynağı olan Refah Partisi'nin um das Militär zu besänftigen.“ Nachdem der erste islamistische başbakanıydı. “Ama dini inançlarımızdan vazgeçmedik. Yalnız, Premier Necmettin Erbakan von der Refah-Partei, aus der die toplumu değiştirmenin zaman alacağını kavradık.” Laik Kemalist ordu başbakanı endişeyle izliyordu, ancak uzun AKP hervorging, 1997 aus dem Amt geputscht worden war, wollte man vorsichtiger vorgehen. „Aber wir haben unsere religiösen bir süre tepki göstermedi; Erdoğan'ın AB'yle ilişkileri geliştirmesi Überzeugungen nicht verworfen“, sagt Şener. „Wir haben begrif- ve ülkeyi İslamileştireceği yolundaki kuşkuları haklı çıkarmaması da bunda rol oynadı. Ancak generaller en geç 2007 yılında, güçfen, dass wir die Gesellschaft nur langsam verändern können.“ Die säkular-kemalistischen Militärs beobachteten den Premier lerinin ciddi bir tehdit altında olduğunu farkettiler. Zira Erdoğan, mit Sorge, doch lange reagierten sie nicht, auch weil Erdoğan die kendi partisinden Abdullah Gül'ü cumhurbaşkanı seçtirmek isAnnährung an die EU vorantrieb und den Verdacht der Islami- tediğini açıkladı. Generaller darbe yapmayı planladı, ama Erdoğan askerlerin tehditlerine cevap vermekte gecikmedi. sierung nicht bestätigte. Doch spätestens im Jahr 2007 merk- Der Machtkampf: Ankara L L DER SPIEGEL 32 / 2014 73 Festgenommener Demonstrant in Istanbul: „Wer gegen die Türkei arbeitet, wird vor Angst zittern“ İstanbul´da gözaltına alınan bir gösterici: “Türkiye aleyhine çalışanlar korkudan titreyeceklerdir” 74 DER SPIEGEL 32 / 2014 Ordu yönetimini kamuoyu önünde azarladı ve üç ay sonra Gül'ü cumhurbaşkanlığına getirdi. Kasımpaşa'lı savaşçı generalleri devre dışı bırakmış ve amacına ulaşmıştı. Erdoğan bu güç mücadelesini kazandıktan sonra, devlet kurumlarını eski seçkinlerden temizlemeye girişti. Savcılık, “Ergenekon” olarak adlandırılan gruba karşı, hükümeti devirmek için darbe planladıkları gerekçesiyle soruşturma başlattı. Erdoğan Ergenekon'u “derin devletin” belkemiği olarak niteledi ve işledikleri suçların aydınlatılacağını vaadetti. Bu “derin devletin” üyeleri seksenli yıllarda, kısmen hükümetin de verdiği görevle, devlet düşmanı olduğu öne sürülen insanları kaçırmışlardı. Ancak Ergenekon iddianamesinde bundan tek kelimeyle bile bahsedilmedi. Soruşturmayı yürütenler suikast planları yapıldığını geveleyip durmakla yetindiler; iddialarını gizli tanıklarla gerekçelendirdiler ve önemli belgelerin çoğunun sahte olduğu ortaya çıktı. Yüzlerce subay, akademisyen ve gazeteci tutuklandı ve göstermelik duruşmaları takiben uzun hapis cezalarına çarptırıldı. “Belli ki, suçlamalar uydurmaydı” diyor Avrupa İnsan Hakları Mahkemesi eski hakimi Rıza Türmen. “Erdoğan'ın amacı hiçbir zaman, derin devletin suçlularını cezalandırmak olmadı. Bu davayı, muhaliflerini devre dışı bırakmak için istismar etti.” 2001 ile 2011 yılları arasında terör kuşkusuyla dünyada toplam 35.000 kişi tutuklandı; bunların 12.897'si Türkiye'de tutuklanmıştı. “Ergenekon süreci Erdoğan'a mutlak güç sahibi olduğu duygusunu verdi”, diyor bir zamanlar başbakanın yakın çevresinde bulunmuş olan Nazlı Ilıcak. “O zamandan beri, kanunların artık kendisini bağlamadığını zannediyor.” Bazı siyasetçiler, başarıları arttıkça daha rahat ve kendine güvenli hale gelir. Erdoğan ise gittikçe daha iktidar tutkunu ve alıngan bir insan oldu. Başbakan, bir sonraki hamlede eski bir müttefikine karşı hücuma geçti. 1999'da askerlerden kaçmak için ABD'ye giden cemaat lideri Fetullah Gülen'i hedef almıştı. Gülen başbakana dindar seçmenlerin desteğini sağlıyor, Erdoğan da buna karşılık olarak Gülen cemaatinin ticari çıkarlarını koruyordu. Erdoğan Ergenekon davasını, üyelerini adalet mekanizmasına sızdırmış olan FOTO: EMIN OZMEN L L ten die Generäle, dass ihre Macht ernsthaft gefährdet war. Anlass war Erdoğans Ankündigung, seinen Parteifreund Abdullah Gül zum Präsidenten machen zu wollen. Die Generäle planten einen Putsch, doch Erdoğan reagierte schnell auf ihre Drohungen. Er kanzelte die Militärführung öffentlich ab und installierte Gül drei Monate später als Präsidenten. Der Kämpfer aus Kasımpaşa hatte die Generäle überlistet und sich durchgesetzt. Nachdem Erdoğan die Kraftprobe gewonnen hatte, begann er, die staatlichen Institutionen von der alten Elite zu säubern. Die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen gegen die sogenannte Ergenekon-Gruppe ein, die angeblich den Putsch gegen die Regierung geplant hatte. Erdoğan stellte sie als Rückgrat des „tiefen Staats“ dar und versprach, deren Verbrechen aufzuarbeiten. Mitglieder dieses „tiefen Staats“ hatten in den Achtzigerjahren, zum Teil im Auftrag der Regierung, vermeintliche Staatsfeinde verschleppt. In der Ergenekon-Anklageschrift fand sich jedoch nichts davon. Stattdessen schwadronierten die Ermittler über vermeintliche Anschlagspläne, die Vorwürfe stützten sich auf anonyme Zeugen, und entscheidende Dokumente stellten sich oft als Fälschungen heraus. Hunderte Offiziere, Akademiker und Journalisten wurden verhaftet und in Schauprozessen zu langen Haftstrafen verurteilt. „Die Vorwürfe waren offensichtlich frei erfunden“, sagt Riza Türmen, ein früherer Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. „Erdoğan hat nie beabsichtigt, gegen die Verbrecher des ‚tiefen Staates‘ vorzugehen. Er hat den Prozess missbraucht, um Kritiker auszuschalten.“ Zwischen 2001 und 2011 wurden weltweit 35 000 Menschen wegen Terrorverdachts verhaftet, davon allein 12 897 in der Türkei. „Der Ergenekon-Prozess hat Erdoğan das Gefühl gegeben, allmächtig zu sein“, sagt seine einstige Vertraute Nazlı Ilıcak. „Seitdem glaubt er, an Gesetze nicht mehr gebunden zu sein.“ Manche Politiker werden mit wachsendem Erfolg gelassener und souveräner. Erdoğan jedoch wurde machtgierig und dünnhäutig. Als Nächstes griff der Premier seinen einstigen Verbündeten an: den Prediger Fetullah Gülen, der 1999 vor dem Militär in die Titel USA geflohen war. Gülen sicherte dem Premier die Unterstützung frommer Wähler, Erdoğan schützte dafür die Geschäfte von dessen Gemeinde. Den Ergenekon-Prozess hätte Erdoğan nicht ohne die Hilfe der Gülen-Gemeinde führen können, die ihre Leute auf Posten in der Justiz geschleust hatte. Doch nachdem er die Parlamentswahl im Juni 2011 gewonnen hatte, wollte sich Erdoğan von der Bewegung befreien, weil er deren Forderungen nach Ämtern und Aufträgen nicht mehr erfüllen wollte. Im Herbst 2013 forcierte er den Machtkampf, indem er ankündigte, Gülen-Nachhilfeschulen schließen zu lassen. Kurz darauf verhafteten Polizisten mehr als 50 AKP-Politiker, Unternehmer sowie die Söhne dreier Minister wegen des Verdachts auf Korruption. Staatsanwälte, die offenbar Gülen verbunden waren, leiteten die Ermittlungen, die schließlich sogar auf Erdoğans Sohn Bilal ausgedehnt wurden. Erdoğan tauschte zwar sein halbes Kabinett aus, aber er weigerte sich, die Affäre aufzuklären. Und er tat so, als hätte er nie mit Gülen zusammengearbeitet. Im Frühjahr wurden etliche Ergenekon-Beschuldigte freigelassen; der Premier nannte den Prozess nun ein Komplott der Gülen-Bewegung gegen die Armee. Vor elf Jahren trat Erdoğan mit dem Versprechen an, die Türkei zu demokratisieren. Tatsächlich schaffte er die Todesstrafe ab, liberalisierte das Strafrecht, erlaubte Studentinnen und Staatsbediensteten das Tragen von Kopftüchern und räumte Christen und Juden mehr Rechte ein denn je. Doch die Institutionen hat er nicht reformiert, sondern selbst besetzt. Nicht viel anders als die Kemalisten vor ihm missbraucht er Justiz, Geheimdienst und Polizei, um Kritiker zu beseitigen. Der Inlandsgeheimdienst MİT wurde von Erdoğan mit nahezu uneingeschränkten Befugnissen ausgestattet; er kann ohne richterlichen Beschluss Telefone abhören, auf Daten von Behörden und Unternehmen zurückgreifen. Wer sich der Regierung widersetzt, wird als Staatsfeind verfolgt. In den vergangenen Monaten wurden Hunderte unliebsame Staatsanwälte, Richter und Polizisten versetzt. Journalisten, die kritisch berichteten, wurden verhaftet oder entlassen. Studenten, die während einer Rede Erdoğans ein Banner mit der Forderung nach freier Bildung entrollten, wurden wegen der Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe angeklagt. Twitter, Facebook und YouTube wurden immer wieder gesperrt. „In der Türkei sind manchmal andere, weniger feine Mittel als in Europa geboten, um politische Ziele zu erreichen“, verteidigt der AKP-Politiker Osman Can das autoritäre Gebaren. Erdoğan scheint sich um die Meinung im europäischen Ausland nicht mehr zu scheren. Anders als zu Beginn seiner Amtszeit, als er den EU-Beitritt nutzen wollte, um die Macht des Militärs zu beschränken, ist er nicht länger auf Brüssel angewiesen. Und auch in der Bevölkerung ist die Begeisterung für Europa gesunken. Die halbherzigen Beitrittsgespräche haben viele Türken frustriert. Noch vor zehn Jahren befürworteten 73 Prozent einen EU-Beitritt. Heute wünschen sich dies nur noch 44 Prozent. Europa sei ein Verlierer und steuere auf den Kollaps zu, sagt heute Erdoğans Chefberater. Die Türkei sei auf dem Weg zu einer Weltmacht – und stehe bald auf einer Stufe mit China und den USA. Die Krise: Gezi-Park Kriz: Gezi Parkı Aslında Taksim Meydanı'ndaki bu park Erdoğan'ın büyük planları içinde bir dipnottan ibaretti. Başbakan, İstanbul'da, Frankfurt'takinin üç katı büyüklüğünde bir havalimanı, bugüne kadar görülen en muazzam ayaklara sahip bir üçüncü Boğaz köprüsü, dünyanın en yüksek minarelerine sahip bir cami yapmak niyetinde. Marmara Denizi ve Karadeniz arasında bir yapay kanal planı da var, öylesine absürd ve pahalı bir tasarı ki, bizzat hükümet bile “çılgın proje" diyor buna. Bunlar inşaat sektörü için dev motorlar ve her şeyden önce Erdoğan için dikilen birer anıt. Bütün bunlar varken, bu el kadar, üstelik hiç de doğal cennet filan olmayan, yerini alışveriş merkezine bırakması tasarlanan park çıktı ortaya. 2013 Haziranında İstanbul'da yüzbinlerce insan, parkın yıkılmasını engellemek için sokaklara döküldü. Ancak olay kısa bir süre içinde hükümete karşı bir isyana dönüştü, çünkü polis L L Eigentlich war dieser Park am Taksim-Platz nur eine Fußnote in Erdoğans großen Plänen. Der Premier will einen dritten Flughafen in Istanbul bauen, dreimal so groß wie der in Frankfurt; eine dritte Bosporus-Brücke mit den mächtigsten Pfeilern und eine Moschee mit den höchsten Minaretten der Welt. Geplant ist auch ein Kanal zwischen Marmara- und Schwarzem Meer, so absurd und teuer, dass selbst die Regierung ihn ein „verrücktes Projekt“ nannte. Gigantische Motoren der Bauwirtschaft, vor allem aber Denkmäler für Erdoğan. Und dann dieser winzige, gar nicht idyllische Park, der einem Einkaufzentrum weichen sollte. Gülen cemaatinin desteği olmadan yürütemezdi. Ancak 2011 yılında genel seçimi kazandıktan sonra cemaatten kurtulmaya karar verdi, çünkü artık cemaatin yetkili makamlara adam yerleştirme ve ihale alma taleplerini yerine getirmek istemiyordu. 2013 sonbaharında Gülen'in dersanelerini kapatacağını açıklayarak güç mücadelesini körükledi. Bundan kısa bir süre sonra emniyet görevlileri, aralarında AKP'li siyasetçilerin, işverenlerin ve üç bakanın oğullarının yeraldığı 50'den fazla kişiyi yolsuzluk kuşkusuyla gözaltına aldı. Soruşturmalar, Gülen'e bağlı oldukları tahmin edilen savcılar tarafından yürütüldü ve sonunda Erdoğan'ın oğlu Bilal'e kadar uzandı. Erdoğan kabinenin yarısını değiştirdi değiştirmesine, ama olayı aydınlatmaya yanaşmadı. Ve sanki, hayatında Gülen'le hiç işbirliği yapmamış gibi davrandı. İlbaharda bütün Ergenekon sanıkları serbest bırakıldı; başbakan bu sefer de davayı Gülen hareketinin orduya karşı giriştiği bir komplo olarak takdim etti. Erdoğan onbir yıl önce, Türkiye'yi demokratikleştirme vaadiyle yola çıkmıştı. Gerçekten idam cezasını kaldırdı, ceza hukukunu liberalleştirdi, üniversite öğrencisi ve devlet memuru olan kadınlara başörtüsü takma hakkını verdi ve Hıristiyanlara ve Musevilere daha önce hiç sahip olmadıkları kadar hak tanıdı. Ama kurumlarda reform yapmak yerine, buralara kendi adamlarını yerleştirdi. Kendisinden önce Kemalistlerin yaptığına benzer bir şekilde adaleti, istihbaratı ve emniyeti, muhaliflerini devre dışı bırakmak için kullandı. Milli İstihbarat Teşkilatı neredeyse sınırsız yetkilerle donatıldı; bugün MİT hakim kararı olmadan telefon dinleyebiliyor ve devlet kurumlarının ve şirketlerin verilerine ulaşabiliyor. Hükümete karşı gelenler devlet düşmanı muamelesi görüyor. Geçtiğimiz aylar içinde yüzlerce savcı, hakim ve polisin görev yeri değiştirildi. Muhalif gazeteciler tutuklandı ya da işten çıkarıldı. Erdoğan'ın bir konuşması sırasında ücretsiz eğitim hakkı için pankart açan üniversite öğrencileri hakkında terör örgütüne üye oldukları gerekçesiyle dava açıldı. Twitter, Facebook ve YouTube defalarca kapatıldı. “Türkiye'de siyasi hedeflere ulaşmak için bazen Avrupa'dakinden daha az ince usuller kullanmak gerekebiliyor” diyor AKP'li siyasetçi Osman Can bu otoriter tutumu açıklamak için. Erdoğan Avrupa ülkelerinde ne düşünüldüğünü umursamaz gibi. İlk göreve geldiği dönemlerde, ordunun iktidarını sınırlamak için AB üyeliğini kullanmak istiyordu; ama artık Brüksel'e ihtiyacı kalmadı. Halkın Avrupa şevki de kırıldı. Gönülsüzce sürdürülen üyelik müzakereleri birçok Türkte hayal kırıklığı yarattı. Daha on yıl önce nüfusun yüzde 73'ü AB üyeliğini savunuyordu. Bugün bunu isteyenler, yüzde 44'ten ibaret. Erdoğan'ın başdanışmanı Avrupa'nın iflas ettiğini ve çöküşe doğru gittiğini söylüyor bugün. Ona göre Türkiye dünya çapında bir güç olma yolunda ve yakında Çin ve ABD ile aynı seviyede olacak. DER SPIEGEL 32 / 2014 75 Lachprotest gegen Vizepremier Arinç in sozialen Medien: Ist weibliche Heiterkeit in der Öffentlichkeit ein Laster? Başbakan Yardımcısı Bülent Arınç´a kahkahalı protesto: Kadınların herkesin içinde neşelenmesi iffetsizlik midir? 76 DER SPIEGEL 32 / 2014 göstericilerin üzerine acımasızca bir şiddetle, gaz fişekleri ve TOMA'larla yürüdü. O günlerde İpek Akpınar'a bir telefon geldi. Başbakanın kadın danışmanlarından biri “Sayın profesör, ne yapabiliriz?" diye soruyordu. “Bu insanları nasıl sakinleştirebiliriz?" Mimar Akpınar protestolara önayak olanlardan biriydi. Cevabı şu oldu: “Başbakan'a, göstericilerle diyalog kurması gerektiğini söyleyin." Erdoğan o sırada Kuzey Afrika'da resmi ziyaret yapmaktaydı. Ancak İstanbul'a döndüğünde bu öğüdü kulak arkası etti. Daha havalimanındayken nefret dolu bir konuşma yaptı ve göstericileri “yağmacı" ve “terörist" olarak niteledi. “Türkiye aleyhine çalışanlar korkudan titreyeceklerdir!" dedi. Erdoğan protestoların zirveye tırmandığı bir sırada bazı eylemcileri Ankara'ya davet etti, aralarında Akpınar da vardı. Başbakan görüşme boyunca dalgın görünüyordu, ta ki başörtülü bir eylemci “Sayın Başbakan, neden bizden nefret ediyorsunuz?" diye soruncaya kadar. Bu soru üzerine Erdoğan ayağa fırladı ve haykırdı: “Sen neden kimliğini reddediyorsun?" Ülke çapında yüzlerce gösterici tutuklandı, birçoğu uzun hapis cezalarına çarptırıldı. Erdoğan, hükümetine karşı bir komplo kurulduğundan sözetti. Böylece ülkesini ikiye böldü; o günlerden beri onu destekleyenler ve ona karşı olanlar daha da radikalleşti. Ve üzerindeki baskı arttıkça sağa sola daha fazla saldırır hale geldi. Yolsuzluk skandalında ve yeni bir Osmanlı İmparatorluğu düşünün iflas etmesinde de aynı tutumu sergiledi. 2011'de yeniden seçildiğinde şöyle demişti: “Bugün İstanbul kadar Saraybosna kazanmıştır, Ankara kadar Şam kazanmıştır." Arap Baharı'nın ardından, Mısır'da iktidara gelen Müslüman Kardeşler'le bir Sünni ittifak kurabileceğini ummuştu. Ama Mısır'daki askeri darbe bu planın önünü tıkadı. Türkiye'nin Esad rejimine karşı mücadelelerinde destek verdiği Suriye muhaliflerinden yana alınan tavır da pek olumlu sonuçlar doğurmadı. Suriye'deki iç savaş Türkiye'nin de istikrarını giderek daha fazla tehdit etmeye başladı. Bir dönem Türkiye'nin yoğun bir işbirliği yaptığı İsrail'le de FOTOS QUELLE: TWITTER L L Hunderttausende Menschen gingen im Juni 2013 in Istanbul auf die Straße, um seinen Abriss zu verhindern. Doch schnell wurde daraus ein Aufstand gegen die Regierung, denn die Polizei schlug die Proteste brutal nieder, setzte Gasgranaten und Wasserwerfer ein. In diesen Tagen erhielt İpek Akpınar einen Anruf. „Frau Professorin, was können wir tun?“, fragte eine Beraterin des Premiers. „Wie bringen wir diese Leute zur Besinnung?“ Die Architektin Akpınar hatte die Proteste mitinitiiert, sie antwortete: „Erklären Sie dem Premier, er soll auf die Demonstranten zugehen.“ Erdoğan war da gerade auf Staatsbesuch in Nordafrika. Doch als er nach Istanbul zurückkehrte, ignorierte er den Rat. Noch am Flughafen hielt er eine hasserfüllte Rede, in der er die Demonstranten „Plünderer“ und „Terroristen“ nannte. „Wer gegen die Türkei arbeitet“, rief er, „wird vor Angst zittern!“ Auf dem Höhepunkt der Proteste lud Erdoğan einige der Aktivisten nach Ankara ein, auch Akpınar war dabei. Im Gespräch wirkte der Premier abwesend, bis eine junge Architektin mit Kopftuch fragte: „Herr Premier, warum hassen Sie uns?“ Erdoğan sprang auf und brüllte: „Warum verleugnest du deine Identität?“ Landesweit wurden Hunderte Demonstranten verhaftet, viele zu langen Haftstrafen verurteilt. Erdoğan sprach von einer Verschwörung gegen seine Regierung. Er polarisierte damit sein Land; seine Gegner und Unterstützer sind seitdem radikaler geworden. Und je mehr Erdoğan unter Druck geriet, desto mehr schlug er um sich. Das zeigte sich auch bei der Korruptionsaffäre und dem Scheitern seines Traums von einem neuen Osmanischen Reich. Bei seiner Wiederwahl im Juni 2011 hatte er gesagt: „Sarajevo hat heute ebenso sehr gewonnen wie Istanbul, Damaskus ebenso wie Ankara.“ Nach dem Arabischen Frühling hoffte der Premier, mit den in Ägypten regierenden Muslimbrüdern eine sunnitische Allianz bilden zu können. Doch der ägyptische Militärputsch vereitelte den Plan. Auch das Engagement für die syrischen Rebellen, die die Türkei in ihrem Kampf gegen das Assad-Regime unterstützte, brachte wenig Erfolg – der Bürgerkrieg destabilisiert stattdessen zunehmend die Türkei selbst. Titel Und mit Israel, einst enger Partner der Türkei, zerstritt sich Erdoğan – und schürt seither den Antisemitismus seiner Wählerschaft. So trat er Ende Juli in seiner letzten Parlamentsrede als Premier mit einem Palästinensertuch vor die Abgeordneten. In einem Interview sagte er: „Das, was Israel den Palästinensern antut, übertrifft die Verbrechen Hitlers an den Juden.“ kavgaya tutuştu Erdoğan ve o günden beri seçmenleri arasında antisemitizmi körüklüyor. Temmuz sonunda başbakan olarak mecliste yaptığı son konuşmada Filistin şalı vardı boynunda. Şöyle dedi bir röportajda: “İsrail Filistinlilere karşı barbarlıkta, Hitler'i geçti." *** *** Erdoğan habire ekonomik gelişmelerden dem vuruyor, ama Erdoğan beschwört den wirtschaftlichen Fortschritt, aber das Türklerin giderek büyüyen, hayatlarını bizzat belirme ihtiyacının wachsende Bedürfnis vieler Türken nach einem selbstbestimmten farkına varmaya yanaşmıyor. Kendisine itiraz edilmesine tahamLeben will der Premier nicht wahrhaben. Widerspruch kann er mülü yok. Gezi direnişiyle birlikte de nihai olarak otoriter bir nicht ertragen. Mit dem Gezi-Aufstand wurde Erdoğan endgültig hükümdara dönüştü. Ve bu hükümdar herşeyi denetlemek istiyor, zum autoritären Patriarchen. Und dieser Patriarch möchte alles insanların özel hayatına varıncaya kadar. Geçtiğimiz yıllarda kürtaj yasaları sertleştirildi. Alkol satışına kontrollieren, bis ins Privatleben der Bürger hinein. Das Abtreibungsrecht wurde in den vergangenen Jahren ver- sınırlamalar getirildi, bira ya da şarap reklamı yapmak yasaklandı. schärft. Der Ausschank von Alkohol wurde eingeschränkt, öffent- Ankara metrosunda öpüşmek yasak. Erkek ve kadın üniversite liche Werbung für Bier oder Wein ist untersagt. In der U-Bahn in öğrencileri artık ayrı yurtlarda kalacak. Vekili Bülent Arınç geçen Ankara ist das Küssen verboten. Männliche und weibliche Stu- hafta, kadınların herkesin içinde kahkaha atmasının iffetsizlik denten sollen künftig nur noch in getrennten Wohnheimen leben. olduğunu söyleyecek kadar ileri gitti: “Nerede öyle yüzüne bakErdoğans Stellvertreter Bülent Arinç behauptete vergangene tığımız zaman yüzü hafifçe kızarabilecek, boynunu öne eğebileWoche sogar, weibliches Lachen in der Öffentlichkeit sei ein Las- cek kızlarımız?" Bunun üzerine Twitter'de Türk kadınları, kahter: „Wo sind unsere Mädchen, die ihren Kopf senken und die kaha atarken çektikleri fotoğrafları paylaştılar. Hashtag'ları şuydu: Augen abwenden, wenn wir in ihre Gesichter schauen?“ Darauf- #direnkahkaha Erdoğan artık sadece yurttaşları değil, kendi partisini de sıkı hin posteten Türkinnen auf Twitter Bilder, die sie lachend zeigen – denetime almış durumda. Her bir milletvekilini, her bir valiyi unter dem Hashtag #direnkahkaha („Lachprotest“). Aber nicht nur die Bürger, auch seine Partei kontrolliert Erdoğan kendisi belirliyor. Bütün yol arkadaşları yollarını ayırıyor ondan. mittlerweile vollständig. Er bestimmt jeden Abgeordneten, jeden Ekonomi Bakanı Ali Babacan istifasının işaretlerini verdi, milletGouverneur. Etliche Weggefährten haben mit dem Premier gebro- vekilleri protesto ederek partiyi terketti. İşinin ehli danışmanlachen. Wirtschaftsminister Ali Babacan hat seinen Abschied ange- rının yerine sadık evet efendim'ciler aldı. Halen cumhurbaşkanı olan Abdullah Gül bile siyasetten çekikündigt, Abgeordnete haben aus Protest die Fraktion verlassen. Fähige Berater hat er durch loyale Jasager ersetzt. Selbst Noch- lebileceğini söylüyor. Ama AKP'nin çoğunluğu Erdoğan'ı destePräsident Abdullah Gül will sich womöglich aus der Politik zu- klemeye devam ediyor. Güçlü bir lider olmazsa partinin dağılarückziehen. Die Mehrheit der AKP unterstützt dennoch Erdoğan. cağından korkuyorlar. Erdoğan şimdi de cumhurbaşkanı olmak istiyor ve seçileceğine Sie fürchten, ohne eine Führungsfigur würde die Partei zerfallen. Und nun will Erdoğan Präsident werden, und es gilt als sicher, kesin gözüyle bakılıyor. Muhalefet zayıf, bir zamanların etkili dass er gewählt wird. Die Opposition ist geschwächt, die einst bir siyasal gücü olan Cumhuriyet Halk Partisi'nin etkisi ve deseinflussreiche Republikanische Volkspartei CHP hat kaum mehr tekçisi neredeyse kalmadı. Adayları Ekmeleddin İhsanoğlu, neEinfluss und Unterstützer. Ihr Kandidat Ekmeleddin İhsanoğlu redeyse kimsenin tanımadığı bir diplomat. Türkiye Barolar Birliği Başkanı Metin Feyzioğlu, Erdoğan'ın ist ein nahezu unbekannter Diplomat. Als Staatsoberhaupt werde Erdoğan auch die letzten Kontroll- cumhurbaşkanı olarak son denetim mekanizmalarını da felce mechanismen lahmlegen, warnt der Präsident der türkischen An- uğratacağını söylüyor. “O zaman despotizminin hiçbir sınırı kalwaltskammer, Metin Feyzioğlu. „Seinem Despotismus sind dann mayacak." Şimdilik Türkiye'de cumhurbaşkanının görevi büyük ölçüde keine Grenzen mehr gesetzt.“ Bislang sind die Aufgaben des türkischen Präsidenten weitgehend auf Zeremonielles beschränkt. temsili. Ama Erdoğan, cumhurbaşkanının yetkilerini artırmayı Doch Erdoğan plant, seine Befugnisse auszuweiten. Und ist er planlıyor. Ve cumhurbaşkanı olduğunda, yeni yasaları veto edeerst Präsident, gibt es auch keinen mehr, der sein Veto gegen bilecek kimse de kalmayacak. Feyzioğlu, Erdoğan'ın cumhurneue Gesetze einlegen könnte. Als Präsident sei Erdoğan nie- başkanı olarak kimseye hesap vermek zorunda olmayacağını söymandem mehr Rechenschaft schuldig, sagt Feyzioğlu. Sein Nach- lüyor. Başbakan olarak yerine geçecek kişinin de olsa olsa bir folger im Amt des Premiers werde bestenfalls eine Marionette kukla olacağını. Erdoğan'ın aşırı keyfiliğini defalarca sınırlamış olan Anayasa sein. Das Verfassungsgericht, das Erdoğan immer wieder allzu große Eigenmächtigkeit untersagte, dürfte als Korrektiv künftig Mahkemesi, gelecekte düzeltici bir güç olma özelliğini kaybedebilir. Çünkü hakimleri cumhurbaşkanı atıyor. ausfallen. Denn der Präsident ernennt die Richter. Bu yüzden İstanbullu hukuk profesörü Bertan Tokuzlu 10 Für den Istanbuler Rechtsprofessor Bertan Tokuzlu ist die Abstimmung am 10. August daher die „wichtigste Wahl in der jün- Ağustos seçimini “Türkiye'nin yakın tarihindeki en önemli seçim" geren Geschichte der Türkei“. Sollte Erdoğan zum Präsidenten olarak görüyor. Erdoğan'ın cumhurbaşkanı seçilmesi halinde geri gekürt werden, gebe es kein Zurück mehr. „Dann baut er das dönüşün mümkün olmadığını söylüyor. “O zaman Türkiye'yi tek adam devleti haline getirecektir." Land endgültig in einen Ein-Mann-Staat um.“ Erdoğan da kendisi için planladığı iktidar tarzını gizlemeye Erdoğan selbst macht keinen Hehl daraus, wie er künftig regieren will. In einem Fernsehinterview kündigte er Ende Juli gerek duymuyor. Televizyonda Temmuz sonunda yapılan bir röan, ein Präsidialsystem einführen zu wollen, als Vorbilder nannte portajda, başkanlık sistemini getirmeyi amaçladığını söyledi, örer China und Russland. Die Regierungsgeschäfte, so Erdoğan, nek olarak da Çin ve Rusya'yı verdi. Hükümetin icraatlarının “bürokratik oligarşi" tarafından engellendiğini würden durch „Oligarchen in der Bürokratie“ Video: Zu Besuch savundu, “yolumuza engeller konuyor", dedi. behindert, „unser Weg wird durch Hürden bei Erdoğans Friseur Erdoğan devletinde artık hiçbir engel kalmayaunterbrochen“. Im Erdoğan-Staat soll es keine Hürden mehr geben. Hasnain Kazim, Maximilian Popp spiegel.de/app322014erdogan cak. Hasnain Kazim, Maximilian Popp oder in der App DER SPIEGEL Übersetzung/Çeviri: Recai Hallaç, Melek Korkmaz DER SPIEGEL 32 / 2014 77 Titel Für ihn oder gegen ihn Ya ondan yana, ya da ona karşı Deutschtürken Der Hannoveraner Ilhami Oğuz verehrt Premierminister Erdoğan, Alp Kale in CastropRauxel bekämpft ihn. Eine Reise durch den sechstgrößten türkischen Wahlbezirk – die Bundesrepublik W enn der türkische Staatsgründer Atatürk noch lebte, würde er eine Gasmaske tragen und mit ihnen demonstrieren, am Taksim-Platz in Istanbul. Er würde sie anführen in ihrem Kampf gegen Premier Erdoğan. Alp Kale ist sich sicher. Er zeigt auf sein weißes T-Shirt. Den Aufdruck hat er selbst gezeichnet: Atatürk mit Gasmaske, darunter kleine Figuren, für Kale symbolisieren sie seine ideale pluralistische Türkei. Alp Kale ist 31, Grafikdesigner, geboren im Evangelischen Krankenhaus in Castrop-Rauxel, im Herzen des Ruhrpotts, er sitzt auf einem Metallstuhl auf der Terrasse seines besten Freundes und erzählt seit Stunden von „seiner Türkei“. Seit den Protesten um den Gezi-Park im vergangenen Jahr versucht er zu verstehen, was los ist in dem Land, das seine Eltern vor mehr als 30 Jahren verließen, das sie bis heute Heimat nennen, in dem er jeden Sommer verbracht hat seit seiner Kindheit. Er und sein bester Freund Fikret erzählen Geschichten aus den Heimatdörfern ihrer Eltern. Sie wollen damit erklären, wie Recep Tayyip Erdoğan an die Macht kommen konnte. Sie reden von systematischem Wahlbetrug, staatlichen Subventionen für den Stimmenfang, armen Bauern, die mit Goldtalern und Reissäcken an die Urne gelockt wurden, damit sie ihr Kreuz für Erdoğan machten. Seit den Protesten von Istanbul macht sich Alp Kale Sorgen. Er will keinen Premier, dessen einzige Errungenschaft wirtschaftliches Wachstum ist. Er findet, ein Mann dürfe nicht so viel Macht haben. Er findet es erschreckend, dass ein Premierminister bestimmen will, ob seine Bürger Raki trinken, wie viele Kinder sie kriegen oder ob sie sich tätowieren lassen. „Für mich ist Erdoğan ein Diktator in Ausbildung“, sagt er. Zu absolut, zu totalitär dieser Regierungsstil. Zu einheitlich diese Türkei von Erdoğan, die Alp Kale immer fremder wird. Am Wochenende durften türkische Staatsbürger zum ersten Mal im Ausland ihren Präsidenten wählen – 3 Millionen Menschen türkischer Herkunft leben in Deutschland, 1,4 Millionen von ihnen sind wahlberechtigt. Damit wäre die Bundesrepublik der sechstgrößte Wahlbezirk der Türkei. Es sind die Kinder und Enkel der Gastarbeiter, junge Menschen wie Alp Kale, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Es sind aber auch über 60-Jährige, die das erste Mal in ihrem Leben überhaupt ein Kreuz bei einer Wahl setzen. Alp Kale will die Türkei von Erdoğan befreien. Der Zeitungsmacher Ilhami Oğuz in Hannover dagegen bewundert ihn, kann seine Erfolge aufzählen und wünscht sich ihn noch lange an der Macht. Und in Berlin freut sich der Anwalt Ekrem Özdemir, örtlicher Vorsitzender der größten türkischen Oppositionspartei CHP, dass seine Landsleute endlich wählen dürfen. Auch er will nicht, dass Erdoğan die Wahl gewinnt – selbst wenn es aussichtslos scheint. 78 DER SPIEGEL 32 / 2014 Almanyalı Türkler Hannoverli İlhami Oğuz Başbakan´a hayranlıkla bağlı iken, Castrop-Rauxel´de yaşayan Alp Kale ona karşı mücadele ediyor. Türklerin altıncı büyük seçim bölgesinden, Almanya Federal Cumhuriyeti´nden, izlenimler. A tatürk bugün yaşıyor olsaydı eğer, mutlaka gaz maskesini takar, göstericilerle birlikte İstanbul´da, Taksim Meydanı´nda olurdu. Başbakan Erdoğan´a karşı sürdükleri mücadelelerinde öncülük ederdi. Alp Kale´nin hiç şüphesi yok. Kendi tasarımı olan beyaz tişörtünün baskısını gösteriyor. Gaz maskeli bir Atatürk resminin altında, Kale´nin idealindeki çok sesli ve çok renkli Türkiye´yi simgeleyen küçük figürler yer alıyor. Grafik tasarım eğitimi alan 31 yaşındaki Alp Kale CastropRauxel Protestan Hastanesi´nde, Ruhr bölgesinin merkezinde dünyaya gelmiş. En yakın arkadaşının terasında oturuyor ve saatlerdir “benim Türkiye´m” olarak tanımladığı idealini paylaşıyor. Anne ve babasının 30 yıl önce ayrılmış olmalarına rağmen vatanları olarak gördüğü, çocukluğundan bu yana her yıl yaz tatilini geçirdiği ülkede geçtiğimiz yıl başlayan Gezi olaylarından bu yana, olup bitenleri anlamaya çalışıyor. En yakın arkadaşı Fikret´le birlikte ailelerinin geride bıraktıkları köylerinden hikayelerle Recep Tayyip Erdoğan´ın hükümete nasıl geldiğini açıklamaya çalışıyorlar. Sandıklardaki sistematik usulsüzlüklerden, oy kazanmak için devlet ödeneklerinin istismar edilmesinden, Erdoğan için oy kullansınlar diye altınlar ve çuvallar dolusu pirinç ile sandık başına çekilen yoksul köylülerden söz ediyorlar. İstanbul´daki gösterilerden bu yana Alp Kale kaygılı. Tek kazanımı ekonomik büyüme olan bir başbakan istemiyor. Ayrıca bu denli geniş yetkilerin tek kişide olmasini sakıncalı buluyor. Vatandaşın rakı içip içmeyeceğine, sahip olacağı çocuk sayısına, hatta dövme yaptırıp yaptırmayacağına karişmasını dehşet verici buluyor. “Erdoğan´ın diktatörlükte çıraklık döneminde“ olduğunu düşünen Alp Kale iktidar tarzını fazlasıyla mutlakiyetçi ve totaliter buluyor. Onun yaratmaya çalıştığı tek tip ülke Alp Kale´ye gittikçe yabancılaşıyor. Yurt dışında Türk vatandaşları Haftasonu cumhurbaşkanlığı seçimlerinde ilk defa sandık başına giderek oy kullandılar. Almanya´da yaşayan üç milyon Türk kökenli içinde yaklaşık 1,4 milyon seçmen bulunuyor. Almanya Federal Cumhuriyeti bu özelliği ile Türkiye´nin altıncı büyük seçim bölgesi. Seçmen kitlesini oluşturan konuk işçilerin çocukları ve torunları, yani Alp Kale gibi Almanya´da doğup yetişen gençlerin yanında, hayatlarında ilk defa oy kullanan 60 yaş üstü seçmenler de var. Alp Kale Türkiye´yi Erdoğan´dan kurtarmayı hedefliyor. Hannoverli gazete sahibi İlhami Oğuz ise aynı Erdoğan´a büyük bir hayranlık besliyor, başarılarını uzun uzun anlatıyor ve daha yıllarca iktidarda kalmasını diliyor. Ana muhalefet partisi CHP´nin Berlin başkanı avukat Ekrem Özdemir öncelikle, yurttaşlarının nihayet seçim hakkından istifade edecekleri için mutlu.Erdoğan´ın kazanmasını o da istemiyor, fakat imkansız olduğunu da biliyor. Erdoğan Almanyalı Türkleri´de ayırmış durumda. Ya ondan yanalar, ya da ona karşı. Başka bir seçenek yok. Aynı durum, Al- man pasaportu taşıdıkları için seçim hakkı olmayanlar için bile geçerli. Mayıs ayında Köln´de 18.000 hayranı ile bir araya geldiğinde bir kesim onu coşkuyla karşılamak için toplanırken, diğer kesim ellerinde Erdoğan´ın resminin yer aldığı “Savaş Suçlusu Aranıyor” yazılı pankartlarla Berlin, Frankfurt ve Hamburg gibi metropollerde gösteriler düzenlemişti. Almanya´da yaşayan Türkiye kökenliler, Türkiye gibi heterojen bir toplum. Türklerin yanında, Ermeniler ve Kürtler. Aralarında Hıristiyanlar, Aleviler ve Sünniler var. 1980´li yıllardaki askerî darbe veya 1990´lu yıllardaki Kürt sorunu bağlantılı çatışma ve siyasi gerilim ortamlarından kaçanlar da var. Yine de çoğunluğu, 1960´lı yıllarda ülkeye göç eden birinci kuşak işçiler, onların burada yetişen çocukları ve torunları oluşturuyor. Aralarında Anadolu´daki köylerini toplu olarak geride bırakıp madenci lojmanlarına yerleşenlerde var. Erdoğan ön planda tuttuğu milliyetçi-islamî vurgusuyla öncelikli olarak onlarin beğenisini kazanıyor. Fakat destekleyicileri sadece eğitimsizlerden oluşmuyor: İkinci ve üçüncü kuşağa ait, diploma, meslek veya kariyer sahibi olanların arasında da Erdoğan´ı savunanlar var. Peki Türkiye´deki seçim sürecinin, onlarca yıldır bu ülkede yaşayan, hatta bu ülkede dünyaya gelen insanları, Almanya genel seçimlerinden daha fazla heyecanlandırması nasıl açıklanabilir? Seçmen kütüğünde kaydını yaptıran Alp Kale de oy kullandı, kendisi gibi Erdoğan´a karşı olan anne ve babası da. Fakat Alp Kale´nin gerekçeleri daha farklı, daha kişisel, daha Alman. Onun gerekçeleri Ankara´dan çok Castrop-Rauxel ile bağlantılı. Komşuları, yani kendi deyimiyle “organik Almanlar” sorumlu. Geçmişte sürekli, “Neler oluyor sizin oralarda?”, “Kadınlarınızı neden döversiniz siz?”, “Sizde namus cinayeti neden işlenir?“ gibi sorulara muhatap olmuş. Kale´ye yıllardır Türkiye´nin diplomatik temsilcisiymiş gibi bakmışlar. Ve Alp en sonunda, zaten herkesin onda gördüğü kimliğe bürünmüş ve Türk olmuş. Ergenlik çağını kendi deyimiyle “maganda Türk“ olarak geçirmiş. Türkçe rap dinlemiş, boynuna milliyetçi zincirler takmış, oruç tutmuş. L Die Frage, wie man zu Erdoğan steht, spaltet die Türken in Deutschland. Man ist für ihn oder gegen ihn, dazwischen gibt es nichts, und das gilt auch für jene, die nicht wählen können, weil sie den deutschen Pass angenommen haben. Die einen standen jubelnd in der Menge, als Erdoğan Ende Mai vor 18 000 Fans in Köln sprach. Die anderen hielten bei den Demonstrationen in Berlin, Frankfurt und Hamburg Plakate hoch, auf denen stand: „Kriegsverbrecher gesucht“, darüber das Bild Erdoğans. Wie die Türkei selbst ist die türkische Community in Deutschland sehr heterogen, sie besteht aus Türken, Armeniern und Kurden, sie sind Christen, Aleviten und Sunniten. Einige sind den politischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte entflohen, dem Militärputsch in den Achtzigern, dem Kurdenkonflikt in den Neunzigern. Doch die meisten entstammen der ersten Gastarbeitergeneration der Sechzigerjahre. Zu ihnen gehören die anatolischen Bauern, die in Dorfverbänden in die Zechensiedlungen von Nordrhein-Westfalen zogen – sie sind es, die Erdoğan mit seiner nationalislamischen Agenda vor allem anspricht. Aber es sind nicht nur die Ungebildeten: Erdoğan hat auch Fans in der zweiten und dritten Generation, bei Leuten mit Schulabschluss, Ausbildungsplatz oder Job. Wie kommt es, dass der Wahlkampf in der Türkei viele Menschen, die hier seit Jahrzehnten leben oder gar in Deutschland geboren sind, mehr bewegt als die Bundestagswahl? Alp Kale hat sich registriert, auch er hat gewählt, genau wie seine Eltern, auch sie sind gegen Erdoğan. Doch seine Gründe für die Ablehnung sind egoistischer, deutscher als ihre. Sie haben mehr mit Castrop-Rauxel zu tun als mit Ankara. Es sind die Nachbarn und die „Biodeutschen“, wie er sie nennt, die ihn immer fragen: Was ist da eigentlich los bei euch? Warum schlagt ihr eure Frauen? Warum gibt es bei euch Ehrenmorde? Die ihn jahrelang als diplomatische Vertretung der Türkei betrachteten. Bis Alp wurde, was alle in ihm sahen, ein Türke. Alp Kale sagt, dass er in der Pubertät ein „Prolltürke“ war, der türkischen Rap hörte, nationalistische Anhänger trug, L FOTO: SASCHA SCHUERMANN / GETTY IMAGES Erdoğan-Anhänger bei dessen Auftritt in der Kölner Lanxess-Arena im Mai: Auch Fans in der zweiten und dritten Generation Köln Lanxess Arena´da Mayis ayında Erdoğan taraftarları: İkinci ve üçüncü kuşaktan da destekleyenler var DER SPIEGEL 32 / 2014 79 Zeitungsmacher Oğuz in Hannover, Grafikdesigner Kale in Castrop-Rauxel: „Haben die Leute keine Ahnung von Politik?“ Hannoverli gazete sahibi Oğuz, Castrop-Rauxel´den Grafik tasarımcısı Kale: “Siyasetten anlamaz mı bunlar?” 80 DER SPIEGEL 32 / 2014 Çocukluk kahramanı Atatürk. Annesi ve babası CastropRauxel´e yerleştiklerinde, yanlarında getirdikleri posterde Atatürk de onlara eşlik etmişti. Erkekler maden ocaklarına iner, ama salonda asılı duran portredeki Atatürk hep orada kalır ve gözlerini Alp´in üzerinden ayırmazdı. İdolünün her dönem kahraman olmadığını Alp bugün biliyor. Fakat çocukluk yıllarında Atatürk onun için kimlik demekti. Anadolu´yu Batı ile kavuşturan, anne ve babasının Almanya yolunu açan, gurur duyabileceği bir isim. Alman Deniz Kuvvetlerinde görev yapan Alp´e herkes “Kale” dermiş. Fakat Alman üniformasına rağmen Stralsund´da bir diskoteğin kapısından geri çevrilmiş. Alman Milli Takımı Dünya Kupası´nda finale kaldığında bir türlü heyecan duyamamış. Kendisini hiç bir zaman Alman gibi hissetmemiş. Ama öte yandan ailesinin vatanı ile de özdeşlik kuramamış. Almanya´da dünyaya gelen, kendisini “Ruhr Türkü” olarak tanımlayan Alp. Geçen yaz nihayet ona ait duygusu verebilecek mekânı keşfetti. İstanbul´da Gezi olayları patlak verdiğinde televizyonda yaşıtı olan Türkler gördü. Aralarında sağcısı da vardı, solcusu da, Müslümanlar da, travestiler de. Hep birlikte Erdoğan´a karşı mücadele ediyorlardı. Alp Kale “Ben de Gezi´yim” diyor. Bir Ruhr Türkü olarak, hiç görmediği parktan daha fazla ait hissedebileceği başka bir yer yoktu. Vatanını bulduğunu hissetti. Gerici ve kültürsüz değildi artık Türkler. TOMAların üstüne lâle atan, biber gazına karşı tango yapanlar vardı ekranlarda. Ama Alp´in sonunda kavuştuğunu düşündüğü ideal vatanı Başbakan Erdoğan tahliye ettirmiş, terör yuvası olarak nitelendirmiş, eylemcilerini de hapse attırmıştı. Olayların patlak vermesinden bugüne kadar Alp Kale´nın gündeminde artık her gün Erdoğan var. Almanya´da ona karşı gösteriler düzenliyor. Onlara göre karşılarında, gözünü iktidar hırsı bürümüş, yurt dışı Türklerine seçim hakkını sırf kendisine oy vermeleri için sağlayan bir diktatör var. Alp Kale´nin anne ve babası Almanya´ya göç ettiklerinde en önemli temel haklarından biri olan seçim haklarını Türkiye´de bir birakmışlardı. Almanya´ya yerleştikten sonra da misafirldu- FOTO: STEFAN THOMAS KROEGER (L.) L L fastete und zum türkischen Militär wollte. Der seine Freundin einen Monat lang nicht küsste, weil das anständige Türken so machten. Alp trägt viele Widersprüche in sich, heute wie damals. Der Held seiner Kindheit war Atatürk. Atatürk war damals auf einem Poster mit seinen Eltern nach Castrop-Rauxel gekommen, einer Zechenstadt bei Recklinghausen. Die Männer gingen unter Tage, Atatürk blieb im Wohnzimmer und wachte über Alp. Heute weiß Alp, dass der Staatsgründer nicht immer ein Held war, aber als Kind bedeutete Atatürk für ihn Identität. Einer, der den Westen nach Anatolien gebracht und den Weg seiner Eltern nach Deutschland geebnet hatte. Auf ihn konnte er stolz sein. Alp, der zur deutschen Marine ging und nur noch Kale hieß, weil es klingt wie Kalle, und trotzdem in der deutschen Uniform an der Klubtür in Stralsund scheiterte. Dessen Herz bis heute nicht richtig klopfen will, wenn die deutsche Nationalelf im Finale der Weltmeisterschaft steht. Der Alp, der sich nie deutsch fühlte, sich aber auch nicht mehr mit der Heimat seiner Eltern identifiziert, wo keiner verstand, dass Bier nur mit Schaum schmeckt. Der in Deutschland geboren ist und von sich selbst sagt: „Ich bin Ruhrpott-Türke.“ Erst im vergangenen Sommer fühlte sich Alp Kale zum ersten Mal angekommen. Als in Istanbul der Gezi-Protest losging, sah er im Fernsehen Türken in seinem Alter. Es waren Rechte und Linke, Muslime und Transvestiten, die gemeinsam kämpften, gegen Erdoğan. Alp Kale sagt: „Auch ich bin Gezi.“ Er selbst war nie da, aber mit keinem Ort identifiziert er sich so sehr wie mit diesen wenigen Quadratmetern Park in der Ferne. Er hatte ein Gefühl der absoluten Heimat. Endlich waren die Türken nicht mehr rückständig und unkultiviert. Sie warfen Tulpen auf Wasserwerfer, tanzten Tango gegen Pfeffergas. Für Alp war es seine ideale Heimat. Doch Premier Erdoğan ließ sie räumen, bezeichnete sie als Hort von Terroristen und ließ die Demonstranten hinter Gitter sperren. Seit jener Zeit redet Alp Kale fast täglich mit seinen Freunden über diesen machtbesessenen Politiker. Seitdem veranstalten sie Demonstra- Titel klarından, onlarca yıl hiç bir Alman partisi kendileriyle ilgilenmemişti – tıpkı Türkiye´deki partiler gibi. Unutulmuşlardı. Alp 13 yaşına geldiğinde Türkiye´de anayasa değişikliğine gidilerek, yurt dışı Türklerinin artık göz önünde bulundurulması öngörülmüştü. Yine de siyasetçiler uygulanmasını umursamadı. Genel seçmen sayısının yüzde 5´ini oluşturan, bu oy potansiyelini ilk defa Erdoğan keşfetti. Yurt dışı Türklerinin büyük bir çoğunluğunun kendisine oy vereceğinin bilincindeydi. Alp Kale gibi düşünen Türklerin keyfini kaçırsa da, Erdoğan taraflarlarının çoğunlukta olduklarını onlar da kabul ediyor. Bu hem Türkiye, hem Almanya için geçerli. Alp Kale´den 190 kilometre kadar uzakta, Hannover´de İlhami Oğuz ise, Kale gibilerine anlamıyor. “Bu insanları anlamakta güçlük çekiyorum” diyor ve devam ediyor, “Hiç mi siyasetten anlamazlar? Diktatörün ne olduğunu bilmez mi bunlar?“ Türkçe yayınlanan bir derginin sahibi. “Adolf Hitler bir diktatördü. Saddam Hüseyin de. Ama eğer Tayyip için öyle diyorlarsa bunu ciddiye almak mümkün değil!“ diyor ve devam ediyor “Çılgınlıktır bu“. Eğer halk oyların çoğunluğu ile bir politikacıyı seçmişse Oğuz´a göre bunun adı diktatörlük değil, demokrasidir. İlhami Oğuz Erdoğan´ın başarılarını ispatlamak için bir takım yazıların çıktılarını hazırlamış. İşsizlik rakamları, ihracat hacminin gelişimi ve enflasyonun azalmasına ilişkin olan yazılarda önemli bulduğu bölümleri fosforlu kalemle işaretlemiş. Elindeki bir sayfayı havada sallarken sözlerine devam ediyor: “Bunları kimse yok sayamaz.” Aslen konstrüksiyon Teknikeri olan Oğuz yıllarca VW´de çalıştıktan sonra kendi reklam ajansını kurmuş ve daha sonra ücretsiz dağıtılan “İmaj” isimli bir dergi yayınlamaya başlamış. Genel yayın yönetmenliğini yapıyor. Ayda bir kez yayınlanan dergide yerel futbol kulübü “SV Melle Türkspor”un yükselme şansı, camilere uygulanan polis kontrolleri gibi yerel haberlerin yanında, Almanya´da ilk defa gerçekleşecek olan Türkiye Cumhurbaşkanlığı seçimleri için kayıt işlemleri gibi bilgilendirici bölümler de var. Özellikle ileri yaştakiler için zor bir prosedür. Sanal ortamda seçmen kütüğüne kaydını yaptıran her seçmene bir randevu veriliyor. Seçmen, Almanya´daki yedi seçim noktalarından birinde oyunu kullanmak için dört saatlik bir süreye sahip. 41 yaşındaki İlhami Oguz kendi gazetesinin yanında oluşturduğu kişisel bloğunda da yazılar yayınlıyor. Örneğin hacca gittiğinde çektirdiği fotoğraflarının yanında Erdoğan´la çekilmiş bir 1,4 Millionen der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger sind wahlberechtigt. Somit wäre Deutschland der sechstgrößte Wahlbezirk der Türkei. Quelle: ZfTI 1,4 milyon: Almanya´da yaşayıp, seçme hakkına sahip Türk vatandaşları. Böylece Almanya, Türkiye´nin altıncı büyük seçim bölgesi konumunda. resim de var. Facebook´ta “Lider Recep Tayyip Erdoğan“ gibi sayfaları takip ediyor. Cumhurbaşkanı Abdullah Gül´ün bir yarış arabasında çekilmiş resimlerini yayınlıyor. İlhami Oğuz Cumhurbaşkanı´nın özel kalemine yazılı olarak başvurarak, kendisine imzalı bir resim gönderilmesini bile rica etmiş. Gül´ün personeli tarafından gönderilen portrenin ise “ne yazık kı imzasız” olduğunu sözlerine ekliyor. Yine de çerçeveletmiş ve ofisine asmış. İlhami Oğuz´a göre Erdoğan barışın önemli bir aktörü, „Türkiye´nin Nelson Mandela´sı“. Ekonomideki başarısından ötürü Erdoğan´a hayranlıkla bakıyor. “Tayyip başa geldiğinden beri Türkiye bugün, on yıl öncesine göre çok daha iyi bir konumda“ diyor. Almanyalı Türklerin büyük çoğunluğunun Erdoğan´a oy vereceğine kesin bakiyor. “Burada yaşayanların çoğu muhafazakâr eğilimlidir“ diyen Oğuz çifte vatandaş olduğunu, Almanya dahil asla oy kullanmayı ihmal etmediğini, burada genelde Yeşiller´e veya sosyal demokrat SPD´ye oy verdiğini belirtiyor. Hannover doğumlu dört çocuk babası İlhami Oğuz çocuklarıyla evde sadece Türkçe konuştuğunu söylüyor. “Her iki dili iyi derecede öğrenmelerini önemsiyorum“ diyor. L L tionen gegen Erdoğan in Deutschland, suchen akribisch seine Fehler. Sie sehen in ihm einen Mann, der immer nur nach Macht lechzt, auch in der Ferne. Der den Auslandstürken nur das Wahlrecht gewährt, um noch mehr Stimmen zu erhalten. Beim Umzug nach Deutschland hatten Alp Kales Eltern damals eines ihrer Grundrechte in der Türkei geparkt, das Recht zu wählen. In Deutschland waren sie Gäste, für die sich in den ersten Jahrzehnten keine deutsche Partei interessierte – und die Parteien in der Türkei auch nicht. Sie waren die Vergessenen. Als Alp 13 Jahre alt war, änderte sich in der Türkei die Verfassung, die Auslandstürken sollten in Zukunft berücksichtigt werden, kaum ein Politiker kümmerte sich darum, es umzusetzen. Erst Erdoğan erkannte das Potenzial dieser Stimmen – sie machen insgesamt fünf Prozent der Wahlberechtigten aus. Er wusste, dass viele Auslandstürken zu seinen Wählern zählen würden. Auch wenn es Türken wie Alp Kale die Laune verdirbt, müssen sie anerkennen, dass die Erdoğan-Anhänger in der Mehrheit sind – nicht nur in der Türkei, auch in Deutschland. 190 Kilometer nordöstlich von Alp Kale, in Hannover, sitzt Ilhami Oğuz an seinem Schreibtisch und ärgert sich über Leute wie Kale. „Ich verstehe diese Menschen nicht“, sagt er. „Haben die keine Ahnung von Politik? Wissen die nicht, was ein Diktator ist?“ Der türkische Zeitungsmacher runzelt die Stirn. Oğuz trägt Jeans und Hemd, die kinnlangen Haare hat er sich hinter das Ohr gestrichen. Es ist kurz nach halb vier, fast 30 Grad zeigt das Thermometer an diesem Nachmittag, es dauert noch Stunden, bis er etwas essen oder trinken darf. Als gläubiger Muslim fastet Oğuz während des Ramadan. „Adolf Hitler war ein Diktator. Saddam Hussein auch. Aber Tayyip! Ernsthaft?“, fragt er. „Das ist doch verrückt.“ Wenn ein Politiker von der Mehrheit seines Volkes gewählt werde, dann nenne man das Demokratie, nicht Diktatur. Ilhami Oğuz blättert durch seine Unterlagen. Er hat Informationsmaterial ausgedruckt, um Erdoğans Erfolge zu belegen. Zahlen zur Arbeitslosigkeit, zur Exportentwicklung und zur Inflation. Mit grünem Textmarker hat er die wichtigen Stellen angestrichen. Er schwenkt ein Blatt Papier in der Luft. „Das lässt sich doch alles nicht einfach so wegreden.“ Der gelernte Konstruktionstechniker war jahrelang bei VW, bis er sich mit einer Werbeagentur selbstständig machte und mit Freunden die türkische Gratiszeitung Imaj gründete, heute ist er ihr Chefredakteur. Sie erscheint monatlich und berichtet über die Aufstiegschancen des Fußballvereins SV Melle Türkspor, über Polizeikontrollen in niedersächsischen Moscheen oder darüber, wie man sich für die erste türkische Präsidentschaftswahl auf deutschem Boden anmelden kann. Das war kompliziert, vor allem für Ältere. Sie mussten sich per Internet im Wählerverzeichnis eintragen, jeder bekam einen Termin zugewiesen und hatte vier Stunden, um in einem der deutschlandweit sieben Standorte zu wählen. Ilhami Oğuz, 41, betreibt neben seiner Zeitung ein eigenes Blog, darin hat er nicht nur Fotos seiner Pilgerfahrt nach Mekka veröffentlicht, sondern auch ein Foto von sich und Erdoğan. Bei Facebook ist er Fan von Seiten wie „Lider Recep Tayyip Erdoğan“. Er postet Bilder des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül im Rennwagen. Den findet Ilhami Oğuz so gut, dass er ihm geschrieben hat, um nach einem Foto mit persönlicher Signatur zu fragen. Güls Mitarbeiter haben ein Porträt geschickt, „leider ohne Unterschrift“, sagt Oğuz. Er hat es rahmen lassen und in sein Büro gehängt. Für Ilhami Oğuz ist Erdoğan „eine Art Nelson Mandela der Türkei“, eine Friedensfigur. Er habe zum Beispiel endlich den Kurdenkonflikt in den Griff bekommen. Er bewundert Erdoğan auch für dessen Wirtschaftspolitik. „Seitdem Tayyip das Sagen hat, geht es der Türkei viel besser als noch vor zehn Jahren“, sagt er. Er rechnet fest damit, dass die Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken für Erdoğan ist. „Viele hier sind eher DER SPIEGEL 32 / 2014 81 Oppositionspolitiker Özdemir vor dem Berliner Olympiastadion: „Ausweg aus der modernen Sklaverei“ Ana muhalafet politikacısı Özdemir Berlin Olimpiyat Stadı´nın önünde: “çağdaş kölelikten çıkış yolu” 82 DER SPIEGEL 32 / 2014 FOTO: AMIN AKHTAR L L Oğuz´un eşi ve iki kızı tesettürlü. Kızlarından birinin bu konservativ“, sagt er. Oğuz hat die doppelte Staatsbürgerschaft. Eine Wahl würde er niemals verpassen. Auch keine deut- yaz diş hekimi yardımcısı olarak meslek eğitimi yapıcağına seviniyor. Başörtülü kadınların Almanya´daki günlük yaşamları hâla sche. Oğuz wählt die Grünen oder die SPD. Ilhami Oğuz ist in Hannover geboren. Mit seinen vier Kindern kolay değil. Türkiye´de dahi başörtülü kadınlar kısa süre öncesine spricht er nur Türkisch. „Mir ist es wichtig, dass sie beide Spra- kadar hissedilir dezavantajlarla karşı karşıya kalıyordu. “Başörtülü kadınların geniş özgürlüklere kavuşmuş olmaları güzel tabii“ chen richtig lernen“, sagt er. Oğuz’ Frau trägt Kopftuch, genauso wie die beiden Töchter. diyor Oğuz. “Türkiye´nin modernleştiğinin bir göstergesidir bu.“ 1960´lı yıllarda göç eden ailesi, Hannover´e yerleşmiş, baba Eine seiner Töchter hat in diesem Sommer endlich einen Ausbildungsplatz als Zahnarzthelferin gefunden. Für Frauen, die Kopf- burada tramvay şoförü olarak çalışmış. Artık Türkiye´ye kesin tuch tragen, ist das in Deutschland nach wie vor nicht einfach. dönüş yapan anne ve baba tatil için Almanya´ya geliyor. Oğuz, ne zaman Türkiye´de birkaç hafta geçirse Almanya´yı Selbst in der Türkei hatten Kopftuchträgerinnen lange Zeit deutliche Nachteile. „Es ist schön, dass Frauen, die Kopftücher tragen, özlediğini de sözlerine ekliyor. Çocukluğunun geçtiği, eğitimini endlich mehr Freiheiten haben“, sagt Oğuz. „Das ist ein Zeichen gördüğü şehirde yaşıyor. Geçmişte Kur´an kursu için gittiği Millî Görüş Camisi´ne artık Cuma namazına gidiyor. dafür, dass die Türkei immer demokratischer wird.“ Sert bir dille eleştirdiği Gezi eylemcileri için “Demokrasinin Seine Eltern kommen aus der Nähe der türkischen Hauptstadt Ankara. In den Sechzigerjahren kamen sie nach Hannover, wo der ne olduğunu kavrayamayanlardır bunlar“ diyor. “Sokaklara çıVater als Straßenbahnfahrer arbeitete. Mittlerweile sind sie in die karak halkın seçtiği bir siyasiyi devirebileceklerini zannediyorlar.“ Türkei zurückgekehrt und verbringen ihren Urlaub in Deutschland. Oğuz, Erdoğan´ın eleştirilebileceğini, ama herşeyin bir sınırının Oğuz sagt, er fühle sich in Hannover zu Hause. Wenn er ein olduğunu, Erdoğan´ın Köln ziyaretinde ise bu sınırın aşıldığını paar Wochen lang in der Türkei sei, bekomme er jedes Mal Sehn- savunuyor. “Alman medyasının yaklaşımı bizde büyük bir hayal sucht nach Deutschland. Hier ist er aufgewachsen und zur Schule kırıklığına yol açmıştır“ diyor. Kendi başbakanının burada istenmediği duygusuna kapıldığını gegangen. Er hat in der Milli-Görüş-Moschee in der Nähe des Hauptbahnhofs den Koranunterricht besucht – und dorthin geht da ekliyor. Erdoğan´ın Köln´deki konuşması seçim konuşmasıydı, resmi olmasada. Türk yasaları yurt dışında seçim çalışmalarına er auch noch heute zum Freitagsgebet. Die Gezi-Demonstranten kritisiert Oğuz hart. „Sie verstehen izin vermiyor. Tanıtım ve kampanyalar Türk gazeteleri ve kahnicht, was Demokratie bedeutet“, sagt er. „Sie gehen auf die veleri ile sınırlı. “Almanları rahatsız etmek istemeyiz“ diyor İlStraße und glauben, dass sie einen vom Volk gewählten Politiker hami Oğuz. “Kendi aramızda yürütüyoruz. Sessiz, sakin.“ 250 kilometre ötede avukat Ekrem Özdemir Berlin´de, Kreuzso stürzen können.“ Für Oğuz dürfe man Erdoğan zwar kritisieren, aber alles habe seine Grenzen. Bei Erdoğans Besuch in berg´deki evinin mutfağında oturuyor. Türk kimliğini hiç bir zaKöln seien sie überschritten worden. „Wie die deutschen Medien man sorgulama ihtiyacı duymamış olan Özdemir Hatay´da büyümüş, Ankara´da hukuk eğitimi almış, 1999 yıdarauf reagiert haben, hat uns sehr entVideo: Deutsche Türken lında da Berlin´e yerleşmiş. Kız arkadaşıyla birtäuscht.“ vor der Wahl likte şehrin Kreuzberg semtinde oturan 44 Er habe das Gefühl bekommen, sein Preyaşındaki avukatın müvekkilleri Almanya´da mier sei hier nicht erwünscht. Erdoğans Rede spiegel.de/app322014trdwahl yaşayan, Türkiye´de dava ve takipleri olan oder in der App DER SPIEGEL war ein Wahlkampfauftritt, aber nicht offiziell. Titel Nach türkischem Recht sind Wahlkampagnen im Ausland verbo- Türklerden oluşuyor. Örneğin miras, boşanma ya da Türk firmaten. Geworben wurde nur in den türkischen Zeitungen, in den ları tarafından dolandırıldıkları davalarda onları temsil ediyor. Teestuben. „Wir wollen die Deutschen nicht stören“, sagt Ilhami Özdemir aynı zamanda CHP´nin Berlin başkanı. Oğuz. „Wir machen das unter uns. Schön ruhig.“ Seçim yasası değişmemiş olsaydı, Türk milletvekilleri bugün 250 Kilometer entfernt sitzt Rechtsanwalt Ekrem Özdemir in Alman şehirlerine kadar gelerek, onlarca yıl ihmal ettikleri insBerlin-Kreuzberg an seinem Küchentisch. Özdemir hat nie nach anlara nihayet olması gereken ilgiyi yine göstermeyeceklerdi, seiner Identität gesucht. Er ist Türke. Aufgewachsen ist er in Ha- Özdemir bundan emin. tay, in Ankara hat er Jura studiert, 1999 ist er nach Berlin gekomAlmanyalı Türklerin, Türkiye´de cumhurbaşkanlığı seçiminde men und geblieben. Heute ist er 44, lebt mit seiner Freundin in oy kullandıkları için entegrasyon karşıtı olmakla itham edilmeKreuzberg und vertritt mit seiner Anwaltskanzlei Türken aus lerine Ekrem Özdemir anlam veremiyor. “İnsanların duygusal Deutschland vor Gerichten in der Türkei. Wenn sie geerbt haben, bağlarını bir anda kesemezsiniz “ diyor. wenn sie sich scheiden lassen oder von türkischen Scheinfirmen Seçime buradan yüksek bir katılım olmasını beklemiyor. Yine um ihr Erspartes gebracht werden. de laik Türkiye adına Ekrem Özdemir de endişeli. Erdoğan´ın Er ist der Vorsitzende der türkischen Oppositionspartei CHP adaylığını açıkladığı konuşmasının ilk dört dakikasında tam 18 in Berlin, es ist die Partei von Staatsgründer Atatürk, vor zwei kez Allah veyat Rabbim adını zikretmiş olmasından hoşlanmıyor. Jahren gründete Özdemir ihre Vertretung hier. “Yani sanki Allah da AKP´ye kayitli üyemiş gibi bir algı yaratılıyor Er ist sich sicher, wenn das Wahlrecht nicht gekommen wäre, “ diye eleştiriyor Özdemir. würden türkische Abgeordnete heute nicht deutsche Städte beAKP siyasetçilerini, sünni ve tek tip bir Türkiye yaratmaya çasuchen. Und dann würden sie sich auch nicht um die Menschen balayan toplum mühendisleri olarak görüyor. Yahudi düşmankümmern, die sie jahrzehntelang vernachlässigt haben. lığının gayet olağan olduğu, Hıristiyanların esamesinin okunmaEkrem Özdemir versteht nicht, warum den Türken in Deutsch- dığı, ateistlerin dışlandığı AKP Türkiye´sinden hoşlanmıyor. land Integrationsverweigerung vorgeworfen wird, wenn sie den Konsoloslukların varlığına rağmen, Erdoğan´ın girişimiyle kutürkischen Präsidenten wählen. „Man kann eine emotionale Bin- rulan Yurtdışı Türkleri Başkanlığı´na da değiniyor. Türkler için dung nicht auf Knopfdruck unterbrechen“, sagt er. bir tür “Dert Köşesi“ olarak düşünülen bu oluşumun arka plaEr glaubt nicht an eine hohe Wahlbeteiligung der Türken in nında aslında, Başbakanın sınır tanımayan her şeyi kontrol etme Deutschland, aber auch Ekrem Özdemir hat Angst um seine lai- hırsının yattığını, bu yüzden her yerde kendi paralel sistemlerini zistische Türkei. Ihm gefällt nicht, dass Erdoğan in der Rede, mit oluşturmak istediğini ve gurbetteki vatandaşlar kontrol etme arder er seine Kandidatur erklärte, in den ersten vier Minuten 18- zusu olduğunu düşünüyor. mal das Wort „Allah“ einbaute. „Man könnte glauben, Allah Fakat her şeye rağmen yurttaşlarının seçim haklarını “çağdaş hat ein Parteibuch der AKP in der Tasche“, sagt Özdemir. kölelikten çıkış yolu” olarak değerlendiriyor. Alman vatanFür ihn sind die Politiker der AKP Gesellschaftsingenieure. daşlığına sahip olmayan, siyasi arenaya katılımlarına izin verilSie basteln sich eine sunnitische, eine einheitliche Türkei. Er mag meyen insanların demokratikleşmesi olarak değerlendiriyor. deren Türkei nicht, in der es selbstverständlich sei, dass es Juden“Çalışsınlar ve para göndersinler, eskiden tek istenen buydu“ feindlichkeit gebe, Christen nicht erwähnt würden, Atheisten diyor Özdemir. Öyle de oldu. Özdemir´e göre yurt dışı Türkleri diskriminiert. Türkiye için, son 50 yılın en önemli finans yatırımını oluşturmuş. Auch über das „Amt für Auslandstürken“ redet er, das Erdoğan Onların ülkeden ayrılmaları sonucunda işsizlik oranında düşüş gründen ließ, obwohl es doch die Konsulate gibt. Dieser „Kum- gerçekleşmiş. Üstelik maden ocaklarında kazandıkları Alman merkasten für Türken“ sei eigentlich nur das Instrument eines Marklarını doğrudan Türkiye´deki köylerine göndermiş, Opel machtgetriebenen Premiers – überall wolle er seine Parallel- arabalar satın almış, eski vatanlarında konut yaptırmış ve biriksysteme aufbauen, um die Kontrolle zu bewahren. Und vielleicht tirdikleri paralarını Türk hazinesine yatırmışlar. Anadolu´ya Alauch Einfluss zu nehmen auf die Landsleute in der Ferne. man radyolarını getirmışler. Dennoch bedeutet für Özdemir das Wahlrecht im Ausland den „Ausweg aus der modernen Sklaverei“. Die Demokratisierung können die türkischen 7 seçim merkezi: Türk seçmenlerinin In von Menschen, die nie an Politik teilnehmen durften, wenn Wähler ihre Stimme oy kullanmaları için kurulan seçim sie sich nicht für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden abgeben. In Hannover, merkezleri Hannover, Berlin, Essen, hatten. Berlin, Essen, Düsseldorf, Düsseldorf, Frankfurt am Main, „Sie sollten arbeiten und das Geld rüberschicken“, sagt ÖzdeFrankfurt am Main, Karls- Karlsruhe ve Münih´de bulunuyor. mir. Und es funktionierte. Für Özdemir sind die Auslandstürken Wahllokalen ruhe und München. die größte finanzielle Investition der Türkei in den vergangenen Ekrem Özdemir ve arkadaşlarının girdiği sohbet koyulaşırken 50 Jahren. Mit ihrem Weggang sank die Zahl der Arbeitslosen. Sie brachten die Deutsche Mark aus der Zeche in ihre türkischen farklı sorular gündeme geliyor. Örneğin sadece yedi seçim yerinin Dörfer, fuhren Opel, bauten dort Häuser, zahlten ihr Erspartes bulunması, oy kullanmak için her seçmene sadece dört saat gibi in die türkische Staatskasse ein und brachten deutsche Radios kısa bir sürenin ayrılması ve tüm bunların olası nedenleri tartışılıyor. Seçim görevlilerinden birisi, Hamburg´da seçim sannach Anatolien. An Ekrem Özdemirs Küchentisch diskutieren er und seine dığının kurulmamasının muhtemel nedenlerini gündeme getiriyor. Freunde darüber, warum es eigentlich nur sieben Wahllokale Başbakan, Hamburglu Türkleri fazlasıyla sol görüşlü buluyor olgab und der Termin jeweils nur auf vier Stunden beschränkt war. masın? Erdoğan´ı durdurmanın mümkün olmadığını Ekrem Özdemir Einer der Wahlhelfer fragt, warum es denn in Hamburg kein Wahllokal gab. Vielleicht zu links, die Türken in der Hansestadt, de biliyor. Yine de Berlinli Türkler Cumhurbaşkanlığı seçimi için Olimpiyat Stadı´nda sandık başına gidecekleri zaman o da aralafür den Premier? Ekrem Özdemir weiß, dass Erdoğan bei dieser Präsidentschafts- rında olacak. Oy pusulalarını sayacak, kapalı zarflar içinde sandıklara aktawahl nicht zu stoppen ist. Und dennoch wird er diese Woche, nachdem die türkischen Berliner ihre Stimme abgegeben haben, racak ve nihai değerlendirme için Türkiye´ye gönderecek. Göçün im Berliner Olympiastadion ihre Stimmen abzählen, die geschlos- üzerinden 50 yıl geçtikten sonra, çok uzaklardan, 2000 kilometre senen Umschläge in Kisten packen und in die Türkei zur Aus- öteden gönderilen umut dolu paketler. wertung schicken. Pakete der Hoffnung, aus 2000 Kilometer EntKatrin Elger, Özlem Gezer fernung, 50 Jahre nach Ankunft. Katrin Elger, Özlem Gezer Übersetzung/Çeviri: Recai Hallaç, Melek Korkmaz 7 DER SPIEGEL 32 / 2014 83 Illouz, 53, geboren in Marokko „Wir sind abgestumpft“ Israel Die Soziologin Eva Illouz über eine in ihrer Angst gefangene Gesellschaft, die auf Stärke setzt, sich zunehmend auf jüdische Werte beruft – und das Leiden der Palästinenser nicht mehr wahrnimmt SPIEGEL: Warum befürworten so viele Israelis diesen Krieg im Gaza-Streifen, in dem schon Hunderte Kinder gestorben sind? Illouz: Wir Israelis haben eine schizophrene Selbstwahrnehmung. Wir kultivieren ständig die eigene Stärke, hören aber zugleich nicht auf, uns als schwach und bedroht wahrzunehmen. Immer geht es um unsere Sicherheit, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik. Und viele Israelis sehen den Gaza-Streifen eben vor allem als Bastion des Terrors, weil er die Heimat der Radikalislamisten von der Hamas ist. Es ist schwierig, Mitleid mit denen zu empfinden, die einen bedrohen. SPIEGEL: Liegt das auch daran, dass die Gesellschaft zunehmend militaristisch ist? Illouz: Israel ist beides zugleich: eine militärische Kolonialmacht, aber auch eine Demokratie. Die Armee kontrolliert die Palästinenser mithilfe von Checkpoints und Militärgerichten; für sie gilt ein anderes Recht als für Israelis. Die Armee entscheidet, ob ein Palästinenser eine Arbeitsgenehmigung bekommt oder sein Haus zerstört wird. Und auch die israelische Zivil- 84 DER SPIEGEL 32 / 2014 gesellschaft ist militarisiert, aus fast jeder Familie ist jemand in der Armee. SPIEGEL: Es scheint in diesem Krieg, als hätte Israel bei seiner Selbstverteidigung das Gefühl für Verhältnismäßigkeit verloren. Illouz: Ich glaube, viele Israelis haben etwas verloren, was ich „humanitäre Sensibilität“ nennen möchte. Die Fähigkeit, sich in das Leiden des anderen hineinzuversetzen. Die Sichtweise der Israelis auf ihre Nachbarn hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Jetzt sehen wir die Palästinenser fast ausschließlich als „Terroristen“, ohne Gesicht und ohne Namen. SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das? Illouz: Früher waren Palästinenser Teil des israelischen Alltags, sie konnten sich frei im Land bewegen. Doch dann wurde die Mauer gebaut, die Straßen zum Westjordanland wurden gesperrt, es gab immer weniger Arbeitsgenehmigungen für Palästinenser. Innerhalb kurzer Zeit verschwanden sie aus der israelischen Gesellschaft. Die Selbstmordattentate der zweiten Intifada besiegelten diesen Prozess. Gleichzeitig änderte sich auch der Cha- rakter unserer Führung: Die messianische Rechte, früher ein Randphänomen, wurde mächtiger. Die Radikalen sitzen im Parlament, sie kontrollieren den Staatshaushalt, sie bestimmen den Diskurs. Viele Israelis begreifen gar nicht, wie extrem diese Leute sind, denn sie verbrämen ihre Radikalität mit Begriffen wie „jüdisch“ und „patriotisch“. SPIEGEL: Warum sind die Rechten gerade jetzt so stark, obwohl es doch deutlich weniger Terroranschläge gibt als früher? Illouz: Ganze Generationen von Israelis kennen nichts anderes als die Besatzung, die Zahl der Siedler wächst, und viele von ihnen sind sehr ideologisch. Die Siedlungen werden systematisch gefördert, durch Steuerbefreiungen, niedrige Mieten oder den Bau von Infrastruktur, die oft besser ist als im israelischen Kernland. Auch die Erziehung und der Unterricht sind sowohl religiöser als auch nationalistischer geworden. Wir müssen uns heute zwischen einem liberalen Dasein und einem strengen „Jüdischsein“ entscheiden. In den Sechzigerjahren konnte man noch beides zugleich sein, Zionist und Sozialist. Heute ist das nicht mehr möglich. Aber eine große Rolle kommt auch der jüdischen Diaspora zu, vor allem in den USA. Sie kauft Tageszeitungen und bezahlt Thinktanks oder religiöse Einrichtungen, die ihre rechtsnationalen Einstellungen verbreiten. SPIEGEL: Wird Israel von den Juden in der Diaspora anders gesehen als von den jüdischen Israelis im Land? Illouz: Die Wahrnehmung der Juden in der Diaspora wird durch die Erinnerung an den Holocaust geformt. Manchmal erleben die Juden dort antisemitische Übergriffe und wollen ihre jüdische Identität stärken, indem sie sich „proisraelisch“ zeigen. Sie leben allerdings zumeist in Ländern, in denen die demokratischen Rechte gesichert sind – und verstehen die Schwierigkeiten von uns Israelis nicht, die die demokratische Komponente in diesem Land mehr und mehr verschwinden sehen. SPIEGEL: Was passiert, wenn demokratische Prinzipien weiter erodieren? FOTO: AMIT SHABI / LAIF / DER SPIEGEL und aufgewachsen in Sarcelles bei Paris, ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sie erforscht die Beziehungen von Emotion, Ökonomie und Kommunikation und hat mehrere Bücher verfasst, 2011 erschien von ihr bei Suhrkamp „Warum Liebe weh tut“. Illouz schreibt zudem regelmäßig Kolumnen und Essays, in denen sie sich mit der Natur des israelisch-palästinensischen Konflikts und seinen Folgen für ihre eigene Gesellschaft beschäftigt. Ausland Luftangriff auf Gaza-Stadt: „Wir sehen die Palästinenser als ‚Terroristen‘, ohne Gesicht und ohne Namen“ FOTO: MOHAMMED SABER / PICTURE-ALLIANCE / DPA Illouz: Vor anderthalb Jahren haben in einer Umfrage der Zeitung Haaretz etwa 40 Prozent der Israelis angegeben, dass sie darüber nachdenken, das Land zu verlassen. Der Staat kaschiert die Zahl der Abwanderer, aber ich habe noch nie so viele Menschen getroffen wie jetzt, die sich derart befremdet über ihr Land äußern. Säkulare Tel Aviver haben heute mit ihren religiösen Landsleuten in Jerusalem weniger gemein als mit jemandem aus Berlin. SPIEGEL: Sie beschreiben ein ängstliches, verunsichertes Land. Illouz: Die Angst ist tief verwurzelt in unserer Gesellschaft. Angst vor der Schoah, Angst vor Antisemitismus, Angst vor dem Islam, Angst vor Terror, Angst vor Auslöschung. Egal wie stark oder wie wohlhabend Israel ist, diese Angst ist immer da. SPIEGEL: Diese unterschiedliche Wahrnehmung der Bedrohung und des Konflikts ist problematisch. Während sich Israel als Opfer begreift, sieht die Welt es zunehmend als gewalttätige Besatzungsmacht. Illouz: Stellen Sie sich vor, Sie wären als Mädchen von einem brutalen Vater erzogen worden. Dann würden Sie später jedem Mann misstrauen. Wenn Sie für längere Zeit in einem friedlichen Umfeld leben, wird Ihr Misstrauen irgendwann nachlassen. Wenn Sie aber in einer unruhigen Umgebung zu Hause sind, wo jederzeit alles passieren kann, wird es bald zur Obsession. Sie werden dann nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden kön- nen. Das ist das historische Trauma des jüdischen Bewusstseins: Israelis können die echte Gefahr von der eingebildeten nicht mehr unterscheiden. SPIEGEL: Rechtfertigt diese Angst ein brutales Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung, so wie jetzt im Gaza-Streifen? Illouz: Natürlich nicht. Aber wer die israelische Psyche kennen will, muss von dieser Angst wissen. Jetzt allerdings werden diese Ängste von Politikern wie Premier Benjamin Netanjahu zynisch instrumentalisiert. Sie machen uns glauben, alle wollten uns zerstören: die Hamas, die Uno, Iran. Das ist der Filter, durch den der durchschnittliche Israeli den Konflikt mit der Hamas betrachtet. Der Feind, der Palästinenser, wird „entmenschlicht“, er ist schlicht Terrorist. Er schickt seine Kinder in den Krieg und baut mit seinem Geld lieber Angriffstunnel als Schulen. Israel dagegen sieht sich als moralisch überlegen an, weil die Armee zur Warnung SMS verschickt und Flugblätter abwirft, bevor sie Ziele bombardiert. SPIEGEL: Trotzdem sterben in Gaza vor allem Zivilisten, es werden Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser bombardiert. Illouz: Für die Israelis zählt die Intention. Wir sind fest überzeugt von unserer moralischen Überlegenheit, davon, in diesem Konflikt der Gute zu sein. SPIEGEL: Neu ist der Hass im Land, der mit diesem Krieg sichtbar wird. Er zielt nicht nur auf die Palästinenser, sondern auch auf Teile der jüdischen Gesellschaft. Illouz: Es ist besorgniserregend, wie sich der Ton verändert hat. Rabbis und Abgeordnete hetzen offen gegen Araber. Ein Tabu wurde gebrochen, weil mittlerweile ganze Generationen ultranationalistisch erzogen sind. Ich glaube nicht, dass dieser Hass in Israel größer ist als anderswo, auch in Frankreich und Deutschland gibt es Rassisten. Aber als in Paris Palästinenser durch die Straßen zogen und „Tod den Juden“ riefen, hat Premier Manuel Valls das verurteilt und gezeigt, dass so etwas nicht geduldet wird. Letzteres würde hier nicht passieren. Unserer Gesellschaft fehlt eine Führung, die moralische Normen setzt. SPIEGEL: Wie erklären Sie diesen Gegensatz, einerseits diesen Hass und andererseits die Tatsache, dass Israel seine liberalen Werte stets so betont? Illouz: Israel startete als moderne Nation mit demokratischen Institutionen. Gleichzeitig hat es allerdings auch antimoderne Einrichtungen vorangetrieben, um den jüdischen Charakter dieser Demokratie zu sichern. Es hat dem Rabbinat viel Macht übertragen und die Ungleichheit zwischen der jüdischen Mehrheit und der nichtjüdischen Minderheit institutionalisiert. SPIEGEL: Überlagert der jüdische den demokratischen Charakter des Staats? Illouz: Absolut, ja. Das Jüdische hat die Demokratie mit ihren universellen Werten in Geiselhaft genommen. In Schulbüchern findet sich vornehmlich die jüdische Perspektive, und das Innenministerium will DER SPIEGEL 32 / 2014 85 Ausland Immigranten loswerden, aus Angst vor Mischehen. Über Menschenrechte wird mittlerweile verächtlich gesprochen. SPIEGEL: Das klingt recht düster. Illouz: Die einzige Antwort darauf wäre der Zusammenschluss derer, die die Demokratie verteidigen wollen. Denn es geht nicht mehr allein um rechts oder links, sondern um etwas viel Wichtigeres: um den Erhalt der Demokratie in Israel. Denn die Radikalen schämen sich nicht mehr, ihre Ansichten laut zu verbreiten und Andersgesinnte zu bedrohen. Dabei bedeuten diese rassistischen und faschistischen Elemente eine genauso große Gefahr für Israels Sicherheit wie seine äußeren Feinde. SPIEGEL: Auch Gegner Israels argumentieren, das Land sei nicht demokratisch. Stören Sie diese Angriffe von außen manchmal? Illouz: Trotz all meiner Kritik und meiner Aversion gegen die israelische Arroganz bin ich schon oft verblüfft, dass an Israel immer besondere Maßstäbe angelegt werden. Was passiert denn in Syrien, im Irak oder in Nigeria? Warum demonstrieren die Menschen nicht auch dagegen? Selbst die USA haben eine recht verheerende Menschenrechtsbilanz außerhalb der eigenen Grenzen vorzuweisen. Wo sind all die Intellektuellen, die die USA boykottieren? SPIEGEL: Befürworten Sie denn den Militäreinsatz im Gaza-Streifen? Illouz: Nein, das tue ich nicht. Nicht etwa, weil ich Pazifistin wäre – das bin ich nicht. Manchmal muss man militärische Mittel anwenden. Aber ich bin gegen diese Operation, weil es vorher keinen politischen Prozess gab. Netanjahu hat kein Interesse an einer politischen Einigung. Er hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas geschadet, wo er nur konnte. Ich persönlich weigere mich, die Palästinenser als Feinde zu sehen. Ich lehne es ab, sie weiter zu dominieren, und ich lehne es ab, ihnen ein normales Leben zu verweigern. Israel war nie als Siedlungsunternehmen gedacht; das zionistische Vorhaben wurde total verzerrt. Ein Großteil der Israelis glaubt inzwischen, wir könnten die Palästinenser auf lange Sicht kontrollieren und unterdrücken. SPIEGEL: Ist das die Folge von 47 Jahren Besatzung: dieses Gefühl, keine Zugeständnisse mehr machen zu müssen? Illouz: Ja, aber wir Israelis zahlen einen hohen Preis dafür, ohne es zu merken: Wir wissen nicht mehr, wie es sich anfühlt, in einer friedlichen Gesellschaft zu leben. Wir weigern uns, die Verbindung zu sehen zwischen einem immer schwerer aufrechtzuerhaltenden Lebensstandard und dem Besatzungsregime, das einen Löwenanteil der Steuergelder verschlingt. In der Psychologie bezeichnet man das als kognitive Dissonanz. Ein Großteil der israelischen Gesellschaft ist abgestumpft. Nicht nur gegenüber dem Leid der anderen, auch gegenüber dem eigenen Leiden. Interview: Julia Amalia Heyer 86 DER SPIEGEL 32 / 2014 Der tapfere Missionar USA John Kerry eilt als Weltaußenminister erfolglos von Krise zu Krise. Sein Scheitern zeigt, was passiert, wenn die einzige Supermacht keine Supermacht mehr sein will. Von Holger Stark M an kann im Nahen Osten schnell zum Terroristen werden, selbst dann, wenn man der Außenminister der USA ist. Tagelang pendelte John Kerry vorvergangene Woche zwischen Kairo, Jerusalem und Ramallah, um einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas im Gaza-Streifen zu vermitteln. Und dann dies: Ranghohe Politiker in Jerusalem sähen in Kerrys Vorschlag für einen Waffenstillstand einen „strategischen Terroranschlag“, berichtete die israelische Tageszeitung Haaretz. Dabei hatte Kerry alles versucht und einen im Grunde sinnvollen Vorschlag vorgelegt: eine Feuerpause, während der Verhandlungen über einen langfristigen Waffenstillstand geführt werden sollten. Doch zum Dank wurde er mit Häme überschüttet. Jerusalem lehnte wütend ab, der Plan enthalte nur Forderungen der Hamas. Kurz darauf wurde es noch schlimmer. Der israelische Sender Channel 1 veröffentlichte den angeblichen Wortlaut eines in aggressivem Ton geführten Telefonats zwischen Präsident Barack Obama und Premier Benjamin Netanjahu. Doch das Transkript war gefälscht. Als Kerry Ende vergangener Woche dann doch einen 72-stündigen Waffenstillstand verkünden konnte, herrschte für kurze Zeit Hoffnung. Nicht einmal drei Stunden später war es damit schon wieder vorbei: Die Hamas hatte einen israelischen Soldaten entführt, die Kämpfe in Gaza gingen vorerst weiter. Die Weltdiplomatie wirkt in diesen Tagen wie ein absurdes Theater, mit John Kerry in der Rolle des tragischen Helden. Er sehe nicht aus wie der Außenminister der Weltmacht, spottete Haaretz, sondern wie ein Außerirdischer, der gerade im Nahen Osten aus seinem Raumschiff gestiegen sei. Als Kerry vorige Woche in Washington über die Anfeindungen sprach, sagte er: „Man muss es einfach immer weiter versuchen.“ Die Hilflosigkeit des wichtigsten Außenministers der Welt zeigt, wie wenig Einfluss Amerika im Nahen Osten geblieben ist. Und mit jedem Scheitern schwindet auch der Einfluss im Rest der Welt ein bisschen mehr. In der Ukraine wird geschossen, mit Iran gibt es vorerst keine Einigung im Atomstreit, im Irak herrschen islamistische Terroristen über weite Teile des Landes – und die USA scheinen nicht in der Lage, etwas daran zu ändern. Genau zehn Jahre ist es her, dass Kerry als Präsidentschaftskandidat nominiert wurde. Aber die Amerikaner wählten George W. Bush. Jetzt ist Kerry Außenminister, er ist angetreten, als Vermittler die großen Konflikte zu lösen, von Israel bis Iran. Er hat diese Themen mit seiner Person verknüpft, er braucht einen Erfolg, um in die Geschichte einzugehen. Aber er ist auch Außenminister in einer US-Regierung, die dabei ist, sich aus ihrer Rolle als globaler Hegemon zurückzuziehen. Mit Kerry verbindet sich die Frage, wie Amerikas Rolle im 21. Jahrhundert aussieht. Wie erfolgreich kann eine amerikanische Außenpolitik sein, die nicht mehr auf Panzer und Flugzeugträger baut, sondern auf die Macht der Worte? Es ist ein Dienstag im Frühjahr, als John Kerry vom Ende des Friedensprozesses im Nahen Osten erzählt. Der Außenminister sitzt vor dem Auswärtigen Ausschuss des Senats in Washington, schwere Brokatvorhänge halten das Tageslicht fern. Kerry beschreibt sein Wochenende: Er saß daheim und wartete darauf, dass Israel einige palästinensische Gefangene entlässt, eine vereinbarte Geste des guten Willens, die eine Fortführung der Friedensgespräche ermöglichen sollte. Die Stunden vergingen. Kerry wurde unruhig. Aber die Israelis ließen die Gefangenen nicht frei, stattdessen kündigten sie den Ausbau von Siedlungen an. „Puff, das war der Augenblick“, sagt er und formt mit den Händen eine imaginäre Explosion. Für einen Moment wirkt Kerry wie ein Kind, dessen Spielzeug kaputtgegangen ist. Der Friedensprozess war sein persönliches Projekt, er hat Monate in Ramallah und Tel Aviv verbracht, in Katar, Riad und Amman. Er wollte diesen Deal erzwingen und den Nahen Osten neu formen. Und dann hat es puff gemacht. Kerry sieht makellos aus wie immer, marineblauer Nadelstreifenanzug, das silbergraue Haar dicht wie ein Toupet. Nur die Augenringe sind unübersehbar. Neben der Müdigkeit hat er auch einen Husten von einer Auslandsreise mitgebracht. Für Kerry ist der Saal, in dem der Auswärtige Ausschuss tagt, eine Art politisches Wohnzimmer. 1971 hat er hier gegen den Vietnamkrieg Stellung bezogen, nachdem er für seinen Dienst als Kommandant eines Patrouillenbootes im Mekongdelta mit hohen Tapferkeitsorden ausgezeichnet worden war. Später führte er vier Jahre lang den Vorsitz des Gremiums. An diesem Diens- FOTO: LUCAS JACKSON / AFP Vermittler Kerry auf dem Militärflughafen von Washington, D. C.: Über 300 000 Flugmeilen innerhalb von zwölf Monaten tagmorgen setzen die Republikaner Kerry Ausgabe eine „Renaissance des Nationalen“ in Amerika und stellt die Frage, ob unter Druck. „Ich habe den Eindruck, dass unsere Au- die Nation ihren Zenit überschritten habe. Die USA sind die einzige Supermacht, ßenpolitik außer Kontrolle geraten ist“, aber sie sind auf der Suche nach einer neusagt ein Abgeordneter aus Idaho. „Man muss einfach enttäuscht sein von en außenpolitischen Identität. Das Land ist unserer Tätigkeit“ in Syrien, sagt ein Ab- zerrissen zwischen einer Stimmung, die Kagan „Weltmüdigkeit“ nennt, und Sehngeordneter aus Tennessee. Dann meldet sich John McCain zu Wort, sucht nach der einstigen Bedeutung. Obama ist ein Präsident des „Retrenchder große alte Mann der Republikaner, der eigentlich immer militärisch eingreifen ments“, wie die Amerikaner ihren außenmöchte, egal wo und gegen wen. McCain politischen Rückzug nennen. Man kann fordert Waffen für die Ukraine und zitiert „Retrenchment“ mit Einschränkung, EinPräsident Theodore Roosevelt, der die sparung oder Abbau übersetzen. Obama USA Anfang des 20. Jahrhunderts zur hat Syrien nicht bombardiert, BodentrupWeltmacht erhob. „Sprich sanft und halte pen im Irak abgelehnt und nicht eingegrifeinen großen Knüppel in der Hand“, sagt fen, als Russland die Krim annektierte. McCain. „Sie reden stark daher, aber Sie „Wir befinden uns nicht länger im Kalten führen nur einen dünnen Zweig bei sich.“ Krieg, es gibt kein ‚großes Spiel‘ mehr, das Die Auseinandersetzung darüber, wohin es zu gewinnen gilt“, sagt Obama, wenn die Weltmacht Amerika driftet, zählt zu er über die US-Außenpolitik spricht. „Dass den großen Debatten in Washington. Sie wir den besten Hammer haben, bedeutet wird von Konservativen wie dem Politik- nicht, dass jedes Problem ein Nagel ist.“ wissenschaftler Robert Kagan betrieben, John Kerrys Auftrag ist es, eine wirksame der unlängst vor dem „Zusammenbruch Außenpolitik ohne Hammer zu entwickeln. „Der Präsident schätzt Kerrys unerder Weltordnung“ warnte. Eine Großmacht dürfe nicht in Rente gehen, nur Amerikas müdliche Arbeitsethik und seine BereitÜberlegenheit könne „die Büchse der Pan- schaft, diplomatische Risiken einzugehen“, dora“ geschlossen halten. Das Magazin sagt Obamas Vize-Sicherheitsberater Ben Foreign Policy beschreibt in seiner jüngsten Rhodes. Diese Qualitäten passten „in eine Zeit, in der Diplomatie ins Zentrum unserer Außenpolitik gerückt ist“. In den ersten zwölf Monaten seiner Amtszeit ist Kerry über 300 000 Meilen um die Welt geflogen, mehr als jeder andere US-Außenminister vor ihm. Er war auf Staatsbesuch in China, dann in Afghanistan, um im Streit um den Wahlausgang zu schlichten. Dann flog er am Wochenende des WM-Finales von dort weiter nach Wien, um über das iranische Atomprogramm zu verhandeln und mit dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier über die Spionageaffäre zu diskutieren. Wenig später reiste er in den Nahen Osten, um das Blutvergießen zu beenden. Kerry ist jetzt 70 Jahre alt, er hat Häuser in Boston und Washington, ein Anwesen bei Pittsburgh und einen Sommersitz auf Nantucket. Seine Frau Teresa Heinz hat einen Teil des Vermögens aus dem HeinzKetchup-Imperium geerbt, ihr Besitz wird auf mindestens eine halbe Milliarde Dollar geschätzt. Das Ehepaar reist in einer eigenen Gulfstream und wird von einem Koch begleitet. Kerry könnte mit seinen Enkeln segeln gehen und das Leben genießen. Stattdessen hetzt er von einem Krisenherd zum anderen. Sein Büro vergibt DER SPIEGEL 32 / 2014 87 27. Juni, Dschidda: Kerry mit dem saudi-arabischen König Abdullah 23. Juli, Ramallah: Kerry mit Palästinenserpräsident Abbas 23. Juli, Tel Aviv: Kerry mit Israels Premier Netanjahu Termine nur noch spontan. Und trotz dieses enormen Pensums wirkt Kerry, als hätte er seine Bestimmung gefunden. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie er das alles schafft“, sagt David McKean. McKean ist Kerrys Planungschef, sein Büro liegt im siebten Stock des State Department. Römische Säulen rahmen den goldlackierten Fahrstuhl ein. Nach rechts geht es durch eine Sicherheitsschleuse in Kerrys Flügel, links liegt McKeans Büro. Die beiden kennen sich, seit Kerry ein junger Staatsanwalt in Massachusetts war; seit 1987 arbeitet McKean für ihn, als Büroleiter im Senat, dann im Wahlkampfteam. Kerrys Rolle sei eine andere als die seiner Vorgängerin Hillary Clinton, sagt McKean. Als diese 2009 antrat, habe sich das Ansehen der USA auf einem historischen Tiefpunkt befunden. Clintons Mission sei daher Wiedergutmachung gewesen. Kerry, sagt McKean, könne darauf aufbauen, er stehe für die zweite Phase nach den Bush-Jahren: für den Versuch der Gestaltung von Weltpolitik mit anderen Mitteln, ohne militärische Invasionen und Waterboarding. „Kerry kennt in fast jedem Land den Regierungschef oder den Außenminister persönlich“, sagt McKean. „Er macht sich diese Kontakte zunutze, er ist der richtige Mann zur richtigen Zeit.“ Eine Art globaler Missionar zu sein, das war schon immer Kerrys Selbstverständnis. Als junger Senator flog er nach Manila, 88 DER SPIEGEL 32 / 2014 Ramallah, ein Tag im Mai 2013. Kerry um die Wahlen zu beobachten; in Nicaragua rang er den Sandinisten Zugeständnis- hat mit dem israelischen Premier Benjamin se ab; später spürte er den Verwicklungen Netanjahu und dem palästinensischen Prädes panamaischen Diktators in den Dro- sidenten Mahmud Abbas gesprochen, es genhandel nach. Kerry überzeugt Men- ging um die Bedingungen für eine Einischen durch Charme, Hartnäckigkeit und gung der beiden Seiten im Friedensprozess. Erfahrung, er hält für jeden Gast eine Jetzt hat er eine spontane Idee. Er lässt Anekdote bereit und eine Umarmung. „Er seine Delegation in Ramallah stoppen und glaubt, dass er den Unterschied ausmachen stürmt in einen Schawarma-Laden, die Bekann“, sagt Douglas Frantz, einer seiner dienung eilt heran, große Aufregung. Kerry, im dunklen Anzug mit erdbeerroter Unterstaatssekretäre. Deshalb bemüht sich Kerry auch so sehr Krawatte, bestellt ein Truthahn-Schawarum Verhandlungen zwischen Israelis und ma, gegrillte Fleischstückchen im Brot. Palästinensern, obwohl Obama daran be- „Mann, ist das gut“, seufzt er beim Essen. Es ist Kerrys Art, auf Menschen zuzureits vor vier Jahren gescheitert war. Der Versuch zu vermitteln „ist in unserer DNA gehen, aber das Echo von Ramallah ist unals Land und in unserer DNA als Freund erwartet. Die Republikaner werfen ihm Israels“, sagte Kerry zum SPIEGEL, bevor vor, einseitig Partei zugunsten der Palästier zu seiner jüngsten Nahostmission auf- nenser ergriffen zu haben. Die Israelis rübrach. Er bereue nicht, es versucht zu ha- gen, Kerry habe sich wie ein Erlöser aufben. „Ich glaube, dass jeder versteht, dass gespielt. Der Schawarma-Diplomat, so die Parteien eines Tages, an einem be- spotten sie seitdem über ihn. Während der Hochphase der Friedensstimmten Punkt, zum Friedensprozess zurückkehren werden, weil es der einzige verhandlungen im vergangenen Jahr teleWeg ist, jemals dauerhaft Frieden, Sicher- fonierte Kerry beinahe täglich mit seinen Gesprächspartnern im Nahen Osten, oft heit und Stabilität zu erreichen.“ Zu Kerrys Taktiken gehört, dass er sei- frühmorgens oder spätabends aus seiner nen Gesprächspartnern den Eindruck ver- Villa in Georgetown, über eine verschlüsmittelt, Amerika sei ihr „best friend for- selte Leitung. Aber wenn Kerry unterwegs ever“. Aber dieses Konzept funktioniert war und es schnell gehen sollte, nutzte er spätestens seit der NSA-Affäre nicht be- manchmal auch ein normales Telefon. Ein Großteil dieser Gespräche, die über sonders gut, und es reicht erst recht nicht bei so verfahrenen Konflikten wie dem Satelliten liefen, wurde von mindestens zwei Geheimdiensten abgehört, darunter zwischen Israel und den Palästinensern. FOTOS: BRENDAN SMIALOWSKI / NEW YORK TIMES / LAIF (L.O.); REUTERS (R.O.); CHARLES DHARAPAK / NEW YORK TIMES / LAIF (L.U.); AFP (R.U.) 24. Juni, Arbil: Kerry mit Kurdenpräsident Masud Barzani FOTO: ALAMY / MAURITIUS IMAGES Ausland von den Israelis, das bestätigen mehrere Quellen aus Geheimdienstkreisen dem SPIEGEL. Wahrscheinlich hörten auch die Russen und die Chinesen mit. Dadurch wussten die Israelis oft präzise, was Kerry mit der anderen Seite besprochen hatte. Kerry kannte das Risiko, aber er wollte Ergebnisse, ihm waren die persönlichen Gespräche wichtiger als die Bedenken der Sicherheitsleute. Sowohl Israelis als auch das State Department wollen sich dazu nicht äußern. Den Israelis halfen die Mitschnitte, Kerrys diplomatischen Balanceakt zu durchschauen – und je länger er als Vermittler wirkte, desto heftiger wurden ihre Attacken. Kerry sei „besessen“, er trete auf wie ein Messias, giftete Verteidigungsminister Mosche Jaalon Anfang dieses Jahres. „Das Einzige, was uns retten kann, ist, wenn Kerry den Friedensnobelpreis gewinnt und uns in Ruhe lässt.“ Effektive Außenpolitik bestehe aus einer klugen Mischung von „soft power“ und „hard power“, sagt Daniel Hamilton von der Johns Hopkins University in Washington. Bill Clinton habe das in den Neunzigerjahren meisterhaft vorgeführt. Aber Kerry lebe im Flugzeug, er verbringe die meiste Zeit mit der Lösung akuter Krisen. „Was dabei zu kurz kommt, ist eine strategische Vision. Und er hat es mit einem Präsidenten zu tun, der sich hauptsächlich innenpolitischen Themen widmet.“ Kerry ist ein Außenpolitiker alter Schule, er sieht Amerikas Rolle als die eines Hegemons und globalen Schlichters, im Zweifel auch als Weltpolizist. Obama schaut mit anderen Augen auf die Welt, er will sich nicht überall einmischen, er ist eher ein Innenpolitiker. In der Syrien-Krise wurden diese beiden Weltsichten besonders sichtbar. An einem Freitag Ende August 2013 trat Kerry im State Departement vor die Kameras und hielt eine leidenschaftliche Rede gegen den syrischen Einsatz von Chemiewaffen. Er wisse, dass die Amerikaner kriegsmüde seien, „aber Müdigkeit enthebt uns nicht unserer Verantwortung“, sagte er. Es gehe um die Einhaltung des Versprechens, dass „die abscheulichsten Waffen der Welt nie wieder gegen die schutzlosesten Menschen der Welt eingesetzt werden dürfen“. Es waren die Worte eines Feldherrn, sie klangen, als hätte Kerry soeben den Feuerbefehl für ein paar Mittelstreckenraketen erteilt. Am Abend lud Obama seine Berater ins Oval Office und teilte ihnen mit, es werde keine Luftschläge geben, solange der Kongress nicht zustimme. Die Militäroption war damit vom Tisch. Kerry sah aus wie einer, der vorgeprescht und nun von seinem Chef zurückgepfiffen worden ist. Beraten hatte sich Obama mit Kerry nicht, er rief ihn lediglich an, um seine Entscheidung zu verkünden. Trotzdem verteidigte Kerry die Entscheidung danach, als wäre es seine eigene gewesen. Die beiden verbinde eine „enge Beziehung“, sagt Obamas Berater Ben Rhodes, aber es ist keine Freundschaft. Dabei kennen sie sich schon lange. Man kann sogar sagen, dass Kerry Obama entdeckt hat. Als Kerry vor zehn Jahren für das Präsidentenamt kandidierte, bat er einen weitgehend unbekannten demokratischen Politiker aus Illinois, beim Nominierungsparteitag zu reden. Der Auftritt machte Barack Obama weltberühmt. Doch Kerry verlor die Wahl und durchlitt eine Phase der Depression, über die David McKean sagt, es sei „eine grobe Untertreibung, sie als tiefe Enttäuschung zu bezeichnen“. Obama bedankte sich bei Kerry für die Chance, die dieser ihm gegeben hatte, aber er machte Hillary Clinton zu seiner Außen- Politiker Kerry mit Ehefrau Teresa und Enkel „Man muss es immer weiter versuchen“ ministerin. Ihre Nachfolgerin sollte dann Susan Rice werden. Kerry ist nur Außenminister, weil Rice irreführende Aussagen über den Angriff auf das US-Konsulat in Libyen 2012 machte und damit politisch angreifbar wurde. Das Verhältnis der beiden Männer lässt sich mit einer Begegnung aus dem Oktober 2012 beschreiben. Es war die Hochphase des Präsidentschaftswahlkampfs, und Obama wollte mit Kerry ein wichtiges Fernsehduell üben. Kerry sollte Mitt Romney darstellen, den republikanischen Herausforderer. Das Duell fand in einem Hotelsaal in Virginia statt, die Berater hatten Kerry gebeten, Obama möglichst oft beim Reden zu stören. Kerry argumentierte scharfsinnig, trieb den Präsidenten vor sich her und fiel ihm so lange ins Wort, bis Obama fauchte, er wolle nicht dauernd unterbrochen werden. Schließlich stand Obama auf und verließ den Saal. Kerrys Verhalten war anmaßend, das war die Botschaft. Kerry hat für Obama zwar eine Funktion, aber er zählt nicht zu seinem engen Führungskreis. Angesichts der Krise im Nahen Osten hat Kerry keine Zeit für ein Treffen, aber er bietet an, schriftlich Fragen zu beantworten. Eine der Fragen ist, ob es eine Welt geben könne, in der jemand anders Amerikas Rolle übernehme, China etwa. „Niemals“, antwortet der Außenminister, „und niemand erwartet von den USA etwas anderes, als zu führen.“ Er vergleicht die aktuelle Situation mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, er sagt: „Damals haben auch viele Menschen gedacht, Amerika solle den Frieden genießen und sich zurückziehen.“ Aber es sei ein Moment gewesen, der Amerikas Führung erfordert habe, ähnlich sei es heute, in einer Welt, die „ungemein kompliziert“ sei und „mehr und nicht weniger Engagement erfordert“. Ob der Verzicht auf militärische Gewalt Amerikas internationalen Einfluss gemindert habe? Kerry antwortet, die Prämisse sei falsch: Die USA würden noch immer mit Gewalt drohen, er nennt als Beispiele die Einigung über die syrischen Chemiewaffen und das Bombardement in Libyen, um die Menschen vor dem angedrohten Gemetzel durch das Regime zu schützen. Amerikanische Politik gleicht einem Hollywoodfilm, Geschichte wird vom Ende her geschrieben, immer gibt es einen Gewinner und einen Verlierer. Sollte Kerry eine Einigung mit Iran oder zwischen Israelis und Palästinensern erreichen, wird er als Held in die Geschichte eingehen. Aber wenn er nichts erreicht, könnte er zu einem Symbol für den außenpolitischen Niedergang der USA werden. Vielleicht ist die große Zeit amerikanischer Dominanz vorbei, vielleicht beginnt danach ein neues Kapitel der Geopolitik. Das kann eine Chance sein, auch wenn die Konservativen davor Angst haben. Bei seinem Auftritt im Auswärtigen Ausschuss haben die Republikaner den Außenminister eine Stunde lang befragt, aber Kerry ist souverän geblieben. Am Ende dreht er sich nach rechts und schaut John McCain direkt an. Die beiden kennen sich seit 30 Jahren, beide haben in Vietnam gekämpft und sich um das Präsidentenamt beworben, beide sind gescheitert. „Ihr Freund Teddy Roosevelt“, sagt Kerry zu McCain, „hat auch gesagt, dass der Lohn denen gehört, die auf dem Spielfeld etwas zu erreichen versuchen.“ Animation: Die Akte John Kerry spiegel.de/app322014kerry oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 32 / 2014 89 Ausland Die Rückkehr der Generäle Essay Warum in der arabischen Welt die Sehnsucht nach einem starken Herrscher wächst Von Shadi Hamid I n den Jahren und Monaten vor den Aufständen von 2011 sah es so aus, als würden sich die Araber von der Diktatur abwenden. Eine Umfrage nach der anderen zeigte, dass immer mehr Ägypter, Jordanier und Marokkaner die Demokratie für die beste Regierungsform hielten – mehr noch als die Menschen in den USA. Aber „Demokratie“, als abstraktes Wort, konnte alles bedeuten, solange es positiv war. Es war eine Sache, an Demokratie zu glauben, und eine andere, sie zu praktizieren. In Ägypten kam es seither zu einem besonders drastischen Verlust des Glaubens an die Demokratie, ja sogar des Glaubens an die Politik insgesamt. Viele Ägypter unterstützten den Militärputsch vom 3. Juli 2013. Danach wandten sie sich enttäuscht von der Politik ab, oder, noch schlimmer, sie begrüßten sogar das Massaker, das Sicherheitskräfte am 14. August auf dem Kairoer Rabaa-Platz anrichteten. Mehr als 600 Menschen starben, als die Protestlager der Muslimbrüder und ihrer Unterstützer aufgelöst wurden. Das ist nun fast genau ein Jahr her, und es wird für immer ein dunkler Fleck in der Geschichte des Landes bleiben. In gewisser Hinsicht hat der Arabische Frühling nicht einfach nur das Chaos entfesselt, sondern etwas Dunkleres geweckt. Bevor die Herrscher der Region ins Wanken gerieten, in Ägypten, Tunesien, Syrien, Libyen wie im Jemen, haben sie den Westen gern daran erinnert, dass sie diejenigen waren, die für Frieden und Stabilität sorgten: trotz ihrer Brutalität, oder vielleicht sogar genau deshalb. Der ägyptische Präsident Husni Mubarak sagte noch zehn Tage bevor er zurücktreten musste: „Die Ereignisse der letzten Tage zwingen uns alle, als Volk und als Führung, zwischen Chaos und Stabilität zu wählen.“ In einem gewissen Sinne hatten er und die anderen Herrscher recht: Es gab ein gegenseitiges Tauschgeschäft. Dies waren schließlich schwache Staaten, gespalten durch Religion, Ideologie und Stammeszugehörigkeit. Die Aufstände brachten diese inneren Konflikte fast ohne Vorwarnung an die Oberfläche. Die arabischen Herrscher regierten Länder, die schwer beherrschbar waren, mit willkürlich gezogenen Grenzen und unklarer Identität. Sie versprachen Stabilität für den Preis der Freiheit. Diese Abmachung hielt über Jahrzehnte. In Osteuropa war der Übergang zur Demokratie möglich, weil die bis dahin herrschende Ideologie diskreditiert war. In Brasilien, Chile oder Argentinien wiederum konnte die zumeist linke Opposition den Regime-Eliten während des Übergangs zur Demokratie versichern, dass ihre materiellen Interessen geschützt würden. Doch im Nahen Osten konnte es so eine Lösung nicht geben. Obwohl wirtschaftliche Missstände für die tunesischen und ägyptischen Demonstranten im Vordergrund standen, wurden sie sehr schnell überlagert von Identitätsfragen. Denn die einflussreichen Parteien und Bewegungen, Islamisten wie Liberale, hatten, abgesehen vom allzu Offensichtlichen, wenig zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme anzubieten. Daher rückte der Islam in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Säkularen und einer aufstrebenden islamistischen Gegenelite. Die Grundlagen von Gesellschaft und Staat waren schon vorher umstritten – und die Aufstände machten eine Definition noch schwieriger. Es gab in der Bevölkerung keinen Konsens über die Bedeutung und Bestimmung des modernen Nationalstaats und, damit verbunden, über die Rolle der Religion in der Politik. Die Heftigkeit dieser Konfrontation führte bei einer wachsenden Zahl „Liberaler“ und „Demokraten“ dazu, dass sie das Mi92 DER SPIEGEL 32 / 2014 litär als Retter des ägyptischen Staats unterstützten – vor allem diesen charismatischen General namens Abd al-Fattah al-Sisi. Er passte genau in die Rolle. Er ist ein Mann, der in und mit der Armee groß geworden und unter dem Mubarak-Regime bis zum Chef des Militärgeheimdienstes aufgestiegen war. Jetzt inszenierte er sich als Patriarch, der sich um seine missratenen Kinder kümmert. Viele Ägypter, zu viele, zahlten es ihm mit Dankbarkeit zurück. Sie sehnten sich erneut nach einem starken Herrscher. Wenn ich mit meinen Freunden im Nahen Osten darüber spreche, wie wichtig es ist, demokratische Ergebnisse zu respektieren, selbst wenn man sie nicht gut findet, gibt es immer eine Kluft zwischen uns. „Für dich ist das etwas, was du studierst“, sagte mir einmal ein befreundeter Journalist. „Für uns ist das etwas, mit dem wir leben.“ Das sollte heißen: Sie müssten schließlich mit den Folgen der Wahlen leben. In Ägypten schien mir diese Haltung besonders irritierend. Denn in den anderthalb unruhigen Jahren nach der Revolution hatte die Armee das Land elendig zugrunde gewirtschaftet, und diese Erfahrung lag nur kurz zurück. Doch die Erinnerung daran verblasste während des Jahres, in dem die Muslimbrüder an der Macht waren. Liberale, Linke und selbst viele Revolutionäre hofften auf einen Neuanfang durch die Militärs. Sie sahen eine schleichende Übernahme des ägyptischen Staats, von der Justiz über die Medien bis hin zum Verwaltungsapparat. Für sie stand so viel auf dem Spiel, dass die Gefahr eines Militärputsches unerheblich war. Sie lebten zwar nun in einer „Demokratie“, aber das erschien ihnen nicht so aufregend, wie ihnen die westlichen Beobachter das vorgeschwärmt hatten. Es war stattdessen beängstigend. Die Rückkehr der Generäle, die in der Präsidentschaft von Abd al-Fattah al-Sisi gipfelt, war am offensichtlichsten und verblüffendsten in Ägypten. Aber auch anderswo hat sich Ernüchterung über die Demokratie und das damit einhergehende Chaos breitgemacht. In Libyen, Ägypten und Tunesien führte der Sturz der Herrscher zu einem schwachen Staat und einem Machtvakuum, das radikale Gruppen wie etwa Ansar al-Scharia in Libyen für sich nutzten. Dort rang der demokratisch gewählte Nationalkongress von Anfang an darum, sich gegen bewaffnete Milizen durchzusetzen, die sich mittlerweile offen bekriegen. Der Arabische Frühling hat nicht nur das Chaos entfesselt, sondern etwas Dunkleres geweckt. L ibyen, hatten viele anfangs gedacht, würde anders sein. Es galt als unwahrscheinlich, dass die Muslimbrüder dem Erfolg der anderen islamistischen Parteien in der Region nacheifern würden, denn sie waren in Libyen nie besonders stark gewesen. Die ideologischen Gegensätze im Land waren gering: Es gab keine säkulare Elite wie in Ägypten oder Tunesien, und selbst „säkulare“ Parteien hatten kein Problem damit, sich der Sprache von Religion und Scharia zu bedienen. Gruppen wie die Muslimbruderschaft hatten schon deshalb weniger Zugkraft, weil sie sich von den anderen Parteien nicht so sehr abhoben. Unterschiede in Stammeszugehörigkeit und regionaler Her- kunft waren wichtiger. Aber auch das hat sich geändert. Als die libyschen Muslimbrüder mächtiger wurden, weil sie besser organisiert waren als andere Gruppen, wuchs auch die Angst vor einer islamistischen Übernahme. Das verhalf einem anderen General, Chalifa Haftar, zu neuem Ruhm. Haftar beansprucht, für einen „obersten Rat der bewaffneten Kräfte“ zu sprechen. Genauso nannte sich auch die Militärführung in Ägypten, die vor einem Jahr Präsident Mohammed Mursi absetzte. Zudem trat Haftar im Februar im Fernsehen auf und kündigte einen „Fahrplan“ an, um Libyen vor islamistischen Milizen und Politikern zu retten, auch dies eine Parallele zu Ägypten. Er versammelte Unterstützer um sich, mit denen er im Mai den Nationalkongress angriff und nun gegen bewaffnete Islamisten im Land kämpft. Wie Sisi ist auch Haftar ein neues Gesicht und eine neue Stimme in der Ära nach dem Arabischen Frühling – beide präsentieren sich als Retter, die Stabilität und Sicherheit versprechen, nach dem chaotischen demokratischen Prozess. In dieser Hinsicht steht Ägypten Pate für seine Nachbarn, aber nicht unbedingt in der Weise, wie viele es erhofft hatten. D ie Kluft zwischen Islamisten und Säkularen gab es bereits davor, aber sie schien lokal begrenzt zu sein; zwischen den islamistischen Parteien in Nordafrika gab es außerdem große Unterschiede in ihrer Rolle und Stärke. Erst durch den Putsch in Ägypten kam es zu einem Dammbruch. Der Konflikt wurde regionalisiert, er wurde zu einem Stellvertreterkrieg. Auf der einen Seite standen Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die den Putsch unterstützten, und auf der anderen Seite die zunehmend isolierten Staaten Katar und Türkei. Die Anführer von Tunesiens Partei al-Nahda waren vor dem Putsch stets darauf bedacht gewesen, sich von ihren Gleichgesinnten in Ägypten abzugrenzen. Diese hatten in ihren Augen die islamistische „Marke“ beschädigt. Doch nachdem das Militär Mursi abgesetzt hatte, war ihre Wut spürbar. Tunesiens Islamisten solidarisierten sich mit den bedrängten ägyptischen Muslimbrüdern, vor allem nach dem Rabaa-Massaker vom August 2013. Aber sie fürchteten 94 DER SPIEGEL 32 / 2014 zugleich eine Wiederholung des ägyptischen Szenarios in ihrer Heimat. Und auch die Islamisten in Libyen sehen den Putsch in Ägypten als Warnung vor dem, was in ihrem Land passieren könnte. Die Partner und Abkömmlinge der Muslimbrüder sind heute auf eine Art und Weise verschmolzen wie jahrzehntelang nicht. Auf zahlreichen Konferenzen und Treffen in Doha, Istanbul und anderswo diskutieren sie Strategie, Taktik und Erfahrungen sowie die Zukunft des islamistischen Projekts. Die Bewegungen hatten sich der friedlichen politischen Teilnahme verschrieben, nun sehen sie sich damit konfrontiert, dass einige ihrer Unterstützer sich erneut der Gewalt zuwenden. Vor allem in Libyen und Syrien ist Gewalt zu einer Form der Politik geworden – und Anhänger der Muslimbrüder haben sich entweder bewaffneten Gruppen angeschlossen oder eigene Milizen gegründet. Es gibt unter den Islamisten nun ein Gefühl der Solidarität und des gemeinsamen Kampfes angesichts eines als feindlich empfundenen Umfelds. Jeder lokale Ableger der Bruderschaft hatte auch zuvor mit existenziellen Herausforderungen zu kämpfen, doch dies ist das erste Mal, dass so viele von ihnen zur gleichen Zeit betroffen sind. Möglich gemacht hat diese islamistische Solidarität der Arabische Frühling – im Guten wie im Schlechten. Nachdem die Islamisten der Verlockung von Macht und Bedeutung verfallen waren, denken sie nun wieder langfristig. Sie sind damit an einem Punkt, an dem sie schon einmal waren. Nur zwei Monate vor den arabischen Aufständen sprach ich mit Hamdi Hassan, der damals Fraktionschef der Muslimbrüder im ägyptischen Parlament war. Es fanden gerade Wahlen statt, und das Mubarak-Regime ließ sie nicht einen einzigen Sitz gewinnen. Sie schienen in ihr Schicksal ergeben, aber sie gingen auch davon aus, dass die Geschichte auf ihrer Seite sein würde. „In der Lebensspanne der Menschheit“, sagte Hassan, „sind 80 Jahre nicht lang, sie sind wie acht Sekunden.“ Hamid, 30, ist Wissenschaftler am Center for Middle East Policy der US-Denkfabrik Brookings. Er ist Autor des Buchs „Temptations of Power“ über die Muslimbrüder und andere islamistische Bewegungen. FOTO: MOHAMED EL-SHAHED / AFP Kind bei einer Demonstration für General Sisi in Kairo: „Zwischen Chaos und Stabilität wählen“ Ausland Im Plastozän Global Village Warum eine Britin an den Stränden Cornwalls nach angeschwemmten Lego-Figuren sucht D er Schatz liegt in einer Plastiktüte. Tracey Williams kippt den Inhalt auf den Küchentisch, schwarze Drachen fallen heraus, Kraken, Säbel, fingernagelgroße Taucherflossen, Harpunen, dünn wie Haarnadeln. Williams ist PR-Beraterin, freut sich aber wie eine Piratin über ihren Fang. Ihr Küchentisch steht in Newquay, einem Städtchen in Cornwall. Als Mädchen fand sie im Garten ihrer Eltern eine Münze von 1606, das habe ihre Schatzsucher-Leidenschaft entzündet, erzählt sie. Seitdem sucht Williams nach Dingen, die andere übersehen, am liebsten am Strand. Vor vier Jahren zog sie mit ihrem Mann John und den beiden Kindern in ein Haus am Rand von Newquay, zwei Minuten vom Meer entfernt. Vielleicht war es Zufall, vielleicht nicht. Jedenfalls muss Williams nicht mehr weit gehen, um im Strandgut stochern zu können. Sie findet Feuerzeuge, Zigarettenspitzen aus Kunststoff und Latexhandschuhe, aber in letzter Zeit stößt sie häufiger auf Lego-Figuren. Seit 17 Jahren werden sie an den Küsten Cornwalls angespült, mal in größerer, mal in kleinerer Zahl, was in erster Linie mit dem Frachter „Tokio Express“ zusammenhängt. Das Schiff war am 13. Februar 1997 von Rotterdam auf dem Weg nach New York, als es von einer Riesenwelle getroffen wurde, 20 Meilen vor dem Westzipfel Cornwalls. Einer der 62 Container, die dabei über Bord gingen, enthielt knapp fünf Millionen Lego-Einzelteile, darunter die Drachen und Kraken auf Tracey Williams’ Küchentisch. Meeresströmungen, Turbulenzen im Atlantik und Stürme sorgen dafür, dass die Figuren bis heute in Cornwall angeschwemmt werden. Ein Schatz ist für Tracey Williams etwas, das sie schätzt. Man muss es nicht mit Geld aufwiegen können. Es kann ein roter Golfballhalter sein, der Kopf einer Puppe oder ein Lego-Drache. Wenn Williams suchend am Spülsaum entlanggeht, ist sie keine PR-Beraterin mehr, sondern eine Forscherin, die das neue Plastikzeitalter seziert. Das Plastozän. „Wenn man so will, bin ich Strandarchäologin“, sagt sie. Wie alle, die etwas suchen, ohne es finden zu müssen, ist sie Romantikerin. Die Lego-Figuren sind nur ein Teil ihrer Sammlung. Williams hat begriffen, dass die Wellen nicht Zivilisationsreste anschwemmen, sondern Geschichten. Kabelbinder stellten sich bei genauer Untersuchung als Markierungen für Hummerfallen heraus; sie hat Dutzende davon, teils 20 Jahre alt, angespült aus Neufundland und Maine. Eine Boje, die zwischen Felsen steckte, konnte Williams zu den Akadiern in Neuschottland zurückverfolgen, den Nachfahren französischer Siedler in Kanada. Je mehr sie fand, desto schwieriger wurden die Rätsel, die ihr der Ozean aufgab. Voriges Jahr stieß sie auf einen braunen, gummiartigen Block von der Größe eines Atlanten. „Tjipetir“ war darin eingeprägt. Im Internet erfuhr Williams, dass das der Name einer Fabrik in Indonesien war, die Anfang des 20. Jahrhunderts eine Art Kautschuk produzierte, und dass die Blöcke auch in Holland, Frankreich und Deutschland angespült wurden. Irgendwo auf dem Meeresgrund muss das Wrack eines Schiffes verrotten, das seine Fracht freigibt, vermutet Williams. Sie steigt aus ihrem Cabrio. Auf einem Parkplatz südlich von Newquay hat sie sich mit Bekannten zur Strandsäuberung verabredet. Zwei Lehrerinnen sind dabei, drei Kinder, ein Buchautor und die Mitarbeiterin einer Surfschule. Jemand hat Müllsäcke mitgebracht, sie finden leere Chipstüten, ausgebleichte Spülmittelflaschen, Reste von Fischernetzen und Plastikschraubverschlüsse. Alles, was Menschen ins Meer werfen und das Meer wieder ausspuckt. Allzu weit kommen sie nicht. Die britischen Medien haben das neue Lego-Fieber entdeckt, deshalb ist heute auch ein Team der BBC da, es will filmen und unterbricht die Aktion dauernd. Außerdem stellt sich heraus, dass sich der Rest der Gruppe zwar für Müll, aber mehr noch für den Ausbau der privaten Strandgutsammlung interessiert. Tracey Williams sagt, sie wolle die Menschen mit der LegoGeschichte wachrütteln und zeigen, dass Plastik im Ozean nicht verschwindet, sondern immer wieder auftaucht. 2005 fanden Forscher bei Hawaii im Magen eines Albatros das Kunststoffteil eines Wasserflugzeugs, das 61 Jahre zuvor und 6000 Meilen weiter westlich abgeschossen worden war. Der LegoUnfall ist nur ein kleines, lokales Beispiel dafür, wie Strömungen das Plastik durch die Meere treiben. Es ist ein Müllkreislauf. Das Problem ist, dass Williams mit ihrer Moral kaum durchdringt. Kürzlich hat sie auf Facebook das Foto eines Vogels Schatzjägerin Williams Drachen, Kraken, Säbel und Harpunen gepostet, der an Plastik erstickt ist. „Danach hatte ich einige Hundert Fans weniger.“ Die meisten Journalisten, die sie in den vergangenen Wochen anriefen, waren an Lego interessiert, nicht an der Umwelt. Sie wollten eine Sommer-Story. Sie stapft über den Sand, vorbei an Vätern, die wie Wayne Rooney aussehen, nur fetter und mit mehr Tattoos. Sie trinken aus Plastikflaschen und wickeln Sandwiches aus Plastikfolie. Williams wirkt in ihrer Jeans und den schweren Lederstiefeln wie eine Astronautin, die sich im Planeten geirrt hat. Sie sagt, jeder Urlauber könne zur Rettung der Meere beitragen, wenn er auf dem Rückweg zum Auto eine Tüte Müll einsammle. Inzwischen melden sich bei ihr Lego-Schatzjäger aus dem ganzen Land. Fast täglich führt sie Journalisten zum Wasser. Sie sagt, man dürfe die Menschen nicht mit der Moralkeule erziehen. Vorige Woche schickte ihr ein Verlag eine E-Mail. Ob sie nicht Lust habe, aus dieser niedlichen Lego-Geschichte ein Kinderbuch zu machen? Christoph Scheuermann DER SPIEGEL 32 / 2014 95 FOTO: MARIO CACCIOTTOLO / BBC N E W Q UA Y Sport Leichtathletik „9,99 sind machbar“ Sprinter Julian Reus, 26, über den Reiz, um Hundertstelsekunden zu kämpfen SPIEGEL: Sie haben bei den Rekordsprinter Reus Rennsport FOTOS: SVEN HOPPE / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.); BILD13 / IMAGO (U.) Taube Hände Viele Motorradrennfahrer berichten von heftigen Schmerzen im Unterarm und Taubheitsgefühlen in der Hand. Spitzenpiloten wie die Exweltmeister Dani Pedrosa und Stefan Bradl leiden unter erhöhtem Gewebedruck, dem sogenannten Kompartmentsyndrom. Die Muskeln werden von Faszien ummantelt, und wenn die beim Lenken, Bremsen und Beschleunigen stark beanspruchte Muskulatur sich ausdehnt, kann es in der Faszie zu eng werden. Die Durchblutung stockt, Nerven werden irritiert. „Der Rennfahrer kann nicht mehr richtig zupacken, die Kraft lässt nach. Und das passiert ständig, denn der Muskel schwillt immer wieder an“, sagt der Chirurg und Orthopäde Wolfgang Streifinger. Er hat Bradl im Mai in der Kreisklinik Wertingen nationalen Meisterschaften in Ulm in 10,05 Sekunden einen neuen deutschen 100Meter-Rekord aufgestellt. Vor zwei Jahren lag Ihre Bestleistung noch bei 10,09 Sekunden. Was haben Sie verändert? Reus: Ich trainiere seit einigen Jahren im Frühjahr in Florida. Bei warmem Wetter kann ich schneller regenerieren, also auch intensiver trainieren. Ich habe an meiner Bauchmuskulatur gearbeitet, den Hüftbeuger so gestärkt, dass ich in die optimale Laufposition komme. Ich habe viel Krafttraining gemacht, aber auch Videoanalysen meines Laufstils. Wir haben immer wieder die Winkel meiner Beine gemessen und Schrittlängen verglichen. SPIEGEL: Ganz schön viel Aufwand für vier Hundertstelsekunden. Reus: Das macht ja den Reiz des Sprintens aus. Mit meinem Trainer und den Physiotherapeuten legen wir den Lauf, die Bewegung ständig unters Mikroskop und suchen Details, die noch zu verbessern sind. SPIEGEL: Kommende Woche starten Sie bei den Europameisterschaften in Zürich. Knacken Sie dort die magische 10-Sekunden-Marke? Reus: Meine Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen, 9,99 Sekunden sind machbar. Aber ich werde nicht vorher ankündigen, wo und wann ich das probiere. Für eine solche Zeit müssen auch die äußeren Faktoren stimmen: das Wetter, der Wind und die Bahn. Das alles kann ich nicht beeinflussen. SPIEGEL: Kürzlich posteten Sie auf Ihrer Facebook-Seite die Ergebnisliste vom Diamond-League-Meeting in Lausanne. Sie schrieben dazu, dass die Hälfte der aufgeführten Sprinter eine Dopingvergangenheit habe. Was wollten Sie damit erreichen? Reus: Ich finde es krass, wie schnell in Vergessenheit gerät, dass manche Sprinter mal gedopt haben. Athleten wie Tyson Gay bekommen gleich nach ihrer Sperre einen Startplatz in der Diamond League, dort werden sie dann gefeiert. Da frage ich mich schon: Wo bleibt die moralische Strafe? le am Unterarm operiert. Um die Karriere fortzusetzen, lassen viele der Betroffenen eine Faszienspaltung vornehmen. Bei diesem Eingriff wird die Faszie längs eingeschnitten, dadurch bekommt der Muskel Platz zum Ausdehnen. Als Folge neigt der Unterarm allerdings dazu, sich bei Belastung nach außen zu wölben; außerdem bleibt eine Operationsnarbe. Das Kompartmentsyndrom tritt bei Motorradpiloten seit einigen Jahren verstärkt auf. Streifinger: „Dieser Sport ist extrem geworden.“ hac Motorradrennfahrer Bradl DER SPIEGEL 32 / 2014 97 Sport Peps Manifest Idole Aus der großen Politik hält sich die deutsche Fußballprominenz in der Regel lieber heraus. Pep Guardiola nicht. Der Trainer des FC Bayern kämpft leidenschaftlich für die Unabhängigkeit seiner Heimat Katalonien. V or einigen Wochen flog Pep Guar- Ziel gegründet, die katalanische Sprache diola nach Berlin, um auf dem Ale- zu fördern, mittlerweile kämpft er offen xanderplatz an einer Demonstra- für Kataloniens Unabhängigkeit. Wer Òmtion teilzunehmen. Es war ein sonniger nium beitritt, gilt als Separatist. Guardiola Junitag, etwa drei-, vierhundert Menschen ist seit Jahren Mitglied, seine drei Kinder versammelten sich auf dem Alexander- hat er ebenfalls angemeldet. Muriel Casals möchte „eine sofortige platz. Die meisten waren junge Katalanen, die Spanien während der Wirtschaftskrise Scheidung von Spanien“, da das Verhältnis verlassen hatten und jetzt in Deutschland „zerrüttet“ sei. Sie ist kein Hetzerin, sonnach einer Zukunft suchen, die ihr Land dern eine freundliche ältere Dame mit ihnen nicht mehr bieten kann. Einige von kurzen grauen Haaren und einer bunten ihnen trugen eine Senyera um den Hals, Brille. Sie ist zutiefst davon überzeugt, die katalanische Flagge. Andere hielten dass Spanien und Katalonien nicht zusamein großes orangefarbenes Banner. Darauf menpassen. Pep Guardiola teilt Casals’ Einschätzung. stand: „Die Katalanen wollen wählen“. Guardiola nahm ein Mikrofon und trug Die beiden kennen sich schon lange, sind einen Text auf Deutsch vor, ein Manifest: gut befreundet. War es schwer, den be„Seit Jahren bekunden wir Katalanen, so- rühmtesten Trainer der Welt für einen Aufwohl auf der Straße als auch an den Urnen, tritt auf dem Alexanderplatz zu bekomdass wir mittels der Demokratie entschei- men? „Nein, es war überhaupt kein Proden wollen, wie wir in diesem Europa des blem“, sagt Casals. Er sei sofort bereit 21. Jahrhunderts auftreten wollen. Auf de- gewesen, für „die Sache“ einzutreten. Zur „Sache“ hat sich Guardiola häufig mokratische Art und Weise haben wir in den vergangenen fünf Jahren anhand fried- geäußert. Allerdings meist in Spanien. Vor licher Massendemonstrationen bewiesen, einigen Jahren fragte ihn der Reporter eidass wir diese Anomalie mittels einer nes spanischen Privatsenders, was KataloVolksabstimmung am kommenden 9. No- nien für ihn bedeute. „Mein Land“, war Guardiolas Antwort. Auf die naheliegende vember ausgleichen möchten.“ Auch wenn die Sätze so verquast klan- Anschlussfrage, warum er dann 47-mal für gen, als hätte sie Bayern Münchens Auf- Spanien als Nationalspieler aufgelaufen sichtsratsmitglied Edmund Stoiber persön- sei, entgegnete er: „Die Gesetze sahen vor, lich formuliert, war doch klar, was hier ge- dass ich für die spanische Nationalmannrade passierte. Guardiola, Trainerstar und schaft spielen musste, da die katalanische berühmtester Katalane, forderte die Los- nicht zugelassen war. Ich bin gern zur lösung seiner Heimatregion Katalonien Nationalmannschaft gegangen, aber man kann nicht leugnen, was man fühlt. Ich von Spanien. Pep Guardiola ist seit 13 Monaten Coach fühle mich nun mal sehr meinem Land verdes FC Bayern. Er gilt als leidenschaftli- bunden, Katalonien.“ Als Guardiola im Sommer 2011 als Traicher Fußballlehrer, isst gern Fisch, mag Bücher, vor zwei Monaten heiratete er seine ner des FC Barcelona im katalanischen langjährige Lebensgefährtin Cristina Serra Parlament die Ehrenmedaille überreicht und feierte in Marrakesch. Ansonsten ist bekam, beendete er seine Rede mit den wenig über ihn bekannt. Guardiola meidet Worten: „Wenn wir früh aufstehen, ich die Öffentlichkeit, er gibt keine großen In- meine sehr, sehr, sehr früh, und uns an die Arbeit machen, dann sind wir als Land terviews, sein Privatleben schottet er ab. Und ausgerechnet dieser scheue Mann nicht zu stoppen. Es lebe Katalonien!“ Die in Barcelona erscheinende Zeitung stellt sich auf den Alexanderplatz in Berlin La Vanguardia jubelte und schrieb daraufund verliest politische Forderungen. Guardiola hatte noch nicht einmal beim hin: „Guardiola weiß, dass, außer in BarFC Bayern Bescheid gegeben, dass er als celona, ein Termin zur frühen Stunde nie Polit-Aktivist auftreten werde. Das Mani- vor zehn Uhr am Morgen beginnt.“ Inzwifest, das er vortrug, hat Muriel Casals ge- schen ist die Formulierung „Wenn wir sehr, schrieben. Sie ist Vorsitzende von Òmnium sehr, sehr früh aufstehen“ ein geflügeltes Cultural. Der Verein wurde 1961 mit dem Wort in Katalonien. Es gibt in Barcelona 98 DER SPIEGEL 32 / 2014 Tassen mit dieser Aufschrift zu kaufen. Der Satz drückt die tiefe Überzeugung vieler Katalanen aus, dass man besser dran sei, wenn man allein durchs 21. Jahrhundert marschieren könnte und nicht noch ein Spätaufsteher-Spanien mitschleppen müsste. Die gern von Funktionären bemühte Floskel, Sport habe mit Politik nichts zu tun, ist in jedem Land falsch, aber in wenigen so falsch wie in Spanien. Im Jahr 1714 verlor Katalonien im Erbfolgekrieg seine Teilsouveränität an das französische Königshaus der Bourbonen. Die Region wurde an Spanien angeschlossen, die Sprache verboten. Katalonien verlor alle Privilegien, die Universitäten wurden geschlossen. Heute, dreihundert Jahre später, schreien noch immer viele Fans des Coach Guardiola in Berlin am 8. Juni „Wenn wir früh aufstehen, ich meine sehr, sehr, sehr früh, und uns an die Arbeit machen, dann sind wir als Land nicht zu stoppen. Es lebe Katalonien!“ FOTO: THOMAS PETER / REUTERS Pep Guardiola, Trainer des FC Bayern München FC Barcelona bei jedem Heimspiel „independència“. Und zwar genau in dem Moment, wenn die Stadionuhr 17 Spielminuten und 14 Sekunden anzeigt. Besonders gut zu hören ist der Aufschrei, wenn Real Madrid, der ewige Rivale, zu Gast ist. Das Verhältnis zwischen Barça und Real beschrieb Verteidiger Gerard Piqué mit den Worten: „Madrid hat immer Spanien repräsentiert, wir immer Katalonien.“ Barcelonas Ex-Präsident Joan Laporta nennt das Team „die Nationalmannschaft Kataloniens“, und der ehe- malige Barça-Trainer Sir Bobby Robson erkannte: „Man muss Katalonien als Nation ohne Staat verstehen und Barça als seine Armee.“ Man könnte hinzufügen: Und Guardiola gebührt die Rolle des Generals. Pep Guardiola ist der erfolgreichste Trainer in der bisherigen Geschichte des FC Barcelona. Mit ihm hat der Klub – und somit ganz Katalonien – nicht nur viele Siege errungen, sie haben der Welt gezeigt, dass es sie gibt. Und dass sie besser sind als Real Madrid, also als Spanien. Es gibt Ka- talanen, die nur einen einzigen Satz auf Englisch sprechen können: „Catalonia is not Spain.“ Der Standardvorwurf aus Madrid Richtung Katalonien lautete über viele Jahre, dass sie alle – Klub und Region – Heulsusen seien, die sich in ihrer Opferrolle wohlfühlten. Santiago Bernabéu, langjähriger Präsident von Real Madrid, behauptete, dass die Menschen aus dem Zentrum Spaniens „die robustesten aller Spanier“ seien. Die Kastilier, wie sie genannt werden, seien „die wildesten auf dem SchlachtDER SPIEGEL 32 / 2014 99 Sport Land: Katalonien, meine Sprache: das Katalanisch, mein Tanz: die Sardana, mein Traum: die Freiheit“. Valentí Guardiola, ein angenehmer, höflicher Herr, möchte über seinen Sohn nicht Leichtathletik Renaud Lavillenie, sprechen, das hat er ihm versprochen. Aber zur Politik in Katalonien äußert er Weltrekordler im Stabhochsprung, ist kein Modellathlet – sich gern. Am 9. November wird er wählen gehen. doch das gleicht der Franzose Für diesen Tag hat die Regionalregierung Kataloniens ein Referendum über die Un- mit einer Portion Wahnsinn aus. abhängigkeit anberaumt. Der Moment erscheint günstig. Seit Spanien in der ie Senioren der Diabetiker-Sportschlimmsten Wirtschaftskrise seiner Gegruppe haben ihren Kurs unterbroschichte steckt, steigt die Zustimmung für chen, sie stehen auf der Stadiontridie Unabhängigkeit, einigen Umfragen zu- büne von Clermont-Ferrand und warten. folge auf über 50 Prozent. Vor der Krise Neben ihnen hocken 50 Jugendliche von war nur knapp ein Fünftel der Bevölke- einer nahe gelegenen Schule. Reporter der rung Kataloniens für die Abspaltung. Lokalpresse sind da, ein Team des TV-SenValentí Guardiola wird natürlich für die ders France 2 ist gekommen, sieben FilmUnabhängigkeit stimmen. Er nimmt auch kameras sind in Stellung gebracht. seinen berühmten Sohn in die Pflicht. „Ich Alle warten auf Renaud Lavillenie. Ein wünschte mir sehr, Pep würde stärker für Sponsor des Stabhochspringers hat zum unsere Sache eintreten. Er sollte die Mög- öffentlichen Training eingeladen. Es sind lichkeit nutzen und im Ausland die Lage Werbefahnen aufgestellt, neben der in Katalonien erklären. Er hat eine gewich- Sprunganlage steht ein Buffet. tige Stimme.“ Lavillenie, 27, neonfarbenes Shirt, neonVielleicht tut Pep Guardiola gut daran, farbene Schuhe, kommt ins Stadion gedas so zu handhaben wie bisher. Also nicht schlendert. Ein kurzes Aufwärmprogramm, zu oft mit dem Thema öffentlich aufzutre- dann stellt er sich mit dem Stab auf die ten. Die Schönheit des Fußballs besteht da- Anlaufbahn, die Zuschauer klatschen im rin, dass er furchtbar einfach sein kann. An- Rhythmus. Lavillenie beschleunigt, hebt ders als die Politik, die selten einfach ist. ab und katapultiert sich über 5,50 Meter. Wer in Deutschland hat die Muße, sich „Und jetzt 6,16 Meter“, ruft ein Rentner mit der katalanischen „Sache“ zu beschäf- von der Tribüne. Lavillenie lächelt und tigen? Guardiola ist für die meisten Deut- winkt. Jeder hier kennt die Zahl: 6,16. Es schen ein Spanier, der etwas von Fußball ist der neue Weltrekord im Stabhochversteht. Es klingt für deutsche Ohren sprung, der Rekord von Lavillenie. ermüdend, wenn Südtiroler, Korsen oder Die Bestmarke im Stabhochsprung geKatalanen erklären, warum sie so ganz an- hört zu den legendären der Leichtathletik. ders seien als ihre Landsleute, mit denen Der Ukrainer Sergej Bubka verbesserte sie sie seit teilweise Hunderten Jahren zu- in den Achtziger- und Neunzigerjahren sammenleben. 35-mal, er schraubte sie Zentimeter für Der Kampf um die katalanische Unab- Zentimeter nach oben, bis auf 6,15 Meter. hängigkeit könnte ein Ziel sein, das nicht Die Höhe galt als Rekord für die Ewigkeit, einmal Guardiola erreicht. Die spanische 20 Jahre lang kam keiner in ihre Nähe. Verfassung sieht sie nicht vor, die Mehrheit Nun hat Lavillenie den Rekord geder Spanier lehnt sie ab, viele Unterneh- knackt, ein Mann aus der französischen mer in Katalonien wollen sie nicht, weil Provinz, der im linken Ohr einen Glitzer80 Prozent der katalanischen Waren nach stein trägt und im Vergleich zu seinen KonRestspanien gehen. Und wäre die konser- kurrenten aussieht wie ein Hänfling. vative Regierung in Madrid mit ihrer abLavillenie wurde 2012 Weltmeister und soluten Mehrheit eine Spur weniger selbst- in London Olympiasieger, er ist der Favorit gerecht und ein wenig kompromissbereiter, bei den Europameisterschaften kommende würde auch die Zustimmung für eine Ab- Woche in Zürich. Doch erst sein Weltrespaltung unter den Katalanen sinken. kordsprung im Februar in Donezk machte Kurz nachdem Pep Guardiola bei der ihn zum Star. Als er danach auf dem FlugDemo auf dem Alexanderplatz das Mikro- hafen in Paris landete, empfingen ihn Dutfon weglegt, erklingt katalanische Folklore. zende Journalisten und Fans. Mehrere PoliJemand reicht ihm ein weinrotes T-Shirt, zisten mussten Lavillenie abschirmen, er auf dem auch das Motto steht: „Katalanen flüchtete in einen Aufzug. wollen wählen“. Er zieht es über und beNach dem Training in Clermont-Ferrand grüßt einige der Fans, die ihm wild auf die erzählt Lavillenie, wie sich sein Leben seit Schultern klopfen. Guardiola lächelt und Februar verändert hat. Am Anfang sei der wirkt ein wenig verloren. Fünf Minuten Trubel noch lustig gewesen, sagt er. „Doch später ist er auf dem Rückweg nach Mün- irgendwann wurde ich gefragt, ob ich bei chen. Juan Moreno einem Geburtstag als springender Clown Der Vielflieger Fußballlehrer Guardiola Von Trainern in aller Welt kopiert feld. Im Kampf Mann gegen Mann würden wir die Katalanen jederzeit besiegen“. Guardiola hat die Katalanen von ihrem Minderwertigkeitskomplex gegenüber Madrid erlöst. Als Spieler verhalf er Barcelona zu seinem ersten Sieg im Europapokal der Landesmeister 1992. Als Trainer erfand Guardiola den Barça-Code, jenen eleganten und rasanten Ballbesitzfußball, der inzwischen von Teams und Trainern in aller Welt kopiert wird. Drei Meisterschaften und zwei Triumphe in der Champions League holte Guardiola für Barcelona. Das alles sehen Katalanen, wenn sie an ihn denken. Guardiola ist das, was möglich wäre. Ein Katalane, der sein Potenzial ausschöpft. Artur Mas, Kataloniens Präsident, gab einmal zu, dass er gern etwas von Guardiolas Charisma hätte. Muriel Casals, die Aktivistin aus Barcelona, sagt: „Guardiola hat unser Selbstbewusstsein verändert. Seine Erfolge haben uns gezeigt, dass wir als Katalanen den Kampf um die Unabhängigkeit gewinnen können.“ Pep Guardiola ist in Santpedor geboren, etwa 75 Kilometer nördlich von Barcelona. Wer verstehen will, warum der heutige Bayern-Trainer auf einen einzigen Anruf hin schnurstracks auf den Alexanderplatz eilt, um politische Reden zu schwingen, sollte in dieses Dorf fahren. Santpedor liegt im Kernland des katalanischen Separatismus. Der Ort wird von der linksnationalen Regionalpartei Esquerra Republicana de Catalunya regiert. Auf dem Rathausdach sollte laut Gesetz unter anderem die spanische Fahne wehen. Die Bürgermeisterin hat sie entfernen lassen. An den Häuserfassaden wehen Unabhängigkeitsflaggen. Die Mehrheit der Bewohner von Santpedor würde sich lieber heute als morgen von Spanien abspalten. Das gilt auch für den ehemaligen Maurer Valentí Guardiola, Pep Guardiolas Vater. An seiner Hauswand hängen gleich zwei Fahnen, und im Haus findet sich ein kleiner Wandteller, auf dem steht: „Mein 100 DER SPIEGEL 32 / 2014 FOTO: LACKOVIC / IMAGO D FOTOS: GETTY IMAGES (O.); ALEXA BRUNET / TRANSIT (U.) Stabhochspringer Lavillenie bei Show-Wettkampf vor dem Eiffelturm auftreten könnte.“ Sein Manager blockt jetzt die meisten Anfragen ab. Dass sich Lavillenie zum König der Lüfte aufgeschwungen hat, gilt als Sensation. Er entspricht nicht dem Prototyp eines Springers. Lavillenie misst 1,77 Meter und wiegt 69 Kilogramm, er ist der Kleinste und Leichteste im Kreis der Sechs-MeterSpringer. Doch weil er auch einer der Schnellsten im Anlauf ist, biegt Lavillenie den Stab so lange und stark wie kein anderer. Bei seinen Sprüngen sieht es aus, als wäre sein Sportgerät nicht aus Fiberglas, sondern aus Gummi. „Es geht nicht darum, wie viel Energie du in den Stab steckst“, sagt Lavillenie, „es geht darum, wie viel du rausholst.“ Er könne die Biegung optimal nutzen, auch wegen seiner Figur. Wer leichter ist, den katapultiert der Stab höher hinaus. Wer kleiner ist, kann geschmeidiger nach oben turnen, sich über die Latte schlängeln. Stabhochsprung ist eine komplexe Disziplin, der Bewegungsablauf muss jahrelang trainiert werden. Viele Springer sind Hobbyphysiker, sie beschäftigen sich mit Biomechanik, mit Impulsübertragung und athletik. Die stürzen sich mit dem Snowboard in die Halfpipe, die machen Extremsport.“ Für Bundestrainer Jörn Elberding ist Lavillenie „ein Wahnsinniger“. Kein Athlet würde den Stab so hoch greifen, niemand würde sich trauen, so weit vor der Matte abzuspringen. Lavillenie sagt, er habe eben „größere mentale Kapazitäten“ als andere. „Ich stelle mir keine Fragen, während ich auf den Einstichkasten zurenne“, sagt er. Manchmal schrammt Lavillenie damit knapp an einer Katastrophe vorbei. Nach seinem Weltrekord ließ er die Latte prompt auf 6,21 Meter legen. Der Versuch misslang, Lavillenie wurde zurück auf die Anlaufbahn geschleudert. Er zog sich eine Risswunde an der Ferse zu, die mit zwölf Stichen genäht werden musste. Im Kampf um globale Aufmerksamkeit und TV-Übertragungszeiten ist die Leichtathletik auf Charaktere wie Lavillenie angewiesen. Bei den vergangenen drei Weltmeisterschaften waren die Stadionränge nur bei den Auftritten des 100-Meter-Sprinters Usain Bolt einigermaßen voll. Die neuneinhalb Sekunden kurzen Laufspektakel bilden jedoch kaum die Vielfalt einer Sportart ab, die aus über 20 Disziplinen besteht. Inzwischen werden auch viele Stabhochsprung-Wettkämpfe als Show inszeniert, sie finden an Stränden und auf Marktplätzen statt. Lavillenie sprang kürzlich vor dem Eiffelturm. Bei Wettkämpfen schlägt er manchmal über der Latte einen Rückwärtssalto. Die Aktion ist ein Markenzeichen von ihm, er versteht sich als Entertainer. Neben Bolt ist er einer der wenigen Leichtathleten mit Vermarktungspotenzial. Er twittert unter Spannenergie. Die deutschen Athleten am seinem Spitznamen Air Lavillenie, der Stützpunkt in Leverkusen nutzen Mess- ebenfalls auf seinen Stäben und Startnumplatten, mit denen sie ihren Absprung- mern steht. Er hat mehrere Sponsoren, für Werbeaufnahmen eines Unterwäscheherdruck ermitteln können. Die Deutschen würden die Messungen stellers sprang er auch schon nackt. Auf Stabhochspringer wirkt beim Einsehr ernst nehmen, sagt Lavillenie und lächelt. Er habe einen anderen Zugang. „Ich stich ungefähr das Dreieinhalbfache ihres suche nicht den perfekten Sprung. Ich ar- Körpergewichts. Viele Athleten leiden unbeite mit Gefühl, mir geht es darum, ab- ter Überlastungsschäden, 20 bis 30 Sprünzuheben. Ich bin mehr der Surfertyp, die ge pro Training sind für sie das Maximum. Bewegung, das Springen an sich ist das, Lavillenie springt bis zu 80-mal. Selbst am Abend noch. Er hat sich eine was ich für mein Leben gern mache.“ Stabhochspringer sind Artisten, sie ha- Stabhochsprunganlage hinter sein Haus ben ein feines Gespür für ihren Körper – gestellt, direkt in den Garten. „Andere und für brenzlige Situationen. Wenn sie hängen sich einen Basketballkorb in die Garageneinfahrt, ich habe den Stab schlecht eingestoeine Sprungmatte“, sagt Lachen haben, brechen sie den villenie. Das sei immer sein Sprung sofort ab. Lavillenie Traum gewesen. Kürzlich gab ist bekannt dafür, seine er eine Party, ein paar FreunSprünge immer durchzuziede kamen, auch Jean Galhen. Egal, was passiert. fione war da, der Olympia„Renaud lotet seine Grensieger von 1996. Die Gäste zen nicht aus, er ignoriert sie grillten, tanzten, schwammen einfach“, sagt der deutsche im Pool – und machten ein Athletenmanager Marc Osenbisschen Stabhochsprung. berg, „solche Typen landen Leichtathlet Lavillenie eigentlich nicht in der LeichtLukas Eberle DER SPIEGEL 32 / 2014 101 Wissenschaft+Technik Schwarzer Raucher im Indischen Ozean Meeresforschung „Jo-Jo in der Wassersäule“ Ulrich SchwarzSchampera, 48, von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover über die geplante Exploration von Erzvorkommen im Indischen Ozean SPIEGEL: Ende Juli hat die In- ternationale Meeresbodenbehörde Deutschland eine neue Lizenz zur Erkundung von Bodenschätzen am Meeresgrund erteilt. Wo genau wollen Sie auf die Suche gehen? Schwarz-Schampera: Wir werden ein 10 000 Quadratkilometer großes Gebiet im Indischen Ozean erkunden, fünf Tagesreisen südöstlich von Madagaskar. In etwa 3000 Meter Tiefe existieren dort sogenannte Schwarze Raucher. Aus diesen bis zu 400 Grad heißen Vulkanquellen am Meeresgrund treten schwarze Wolken aus Mineralien aus, die auf ver- borgene Erzlager hinweisen können. SPIEGEL: Um welche Erze geht es dabei? Schwarz-Schampera: Dort unten haben einige Felder einen Kupfergehalt von 24 Prozent, das sind damit die höchsten Metallanreicherungen, die bisher vom Meeresboden bekannt sind. SPIEGEL: Wie funktioniert die Erkundung? Schwarz-Schampera: Wir konstruieren derzeit einen mit Sensoren bestückten Schnüffelschlitten, der hinter unserem Erkundungsschiff hergezogen wird und sich dabei wie ein Jo-Jo in der Wassersäule auf und nieder bewegt. Mit dieser Methode wollen wir nach den Wolken voller Mineralien fahnden, die aus den Schwarzen Rauchern austreten und uns mögliche Lagerstätten anzeigen. SPIEGEL: Kritiker warnen, dass die unterseeischen Biotope unter der Exploration leiden könnten. Schwarz-Schampera: Wir nehmen Proben aus der gesamten Wassersäule, Biologen ermitteln anschließend alle darin vorkommenden Lebensformen. Die empfindlichen Biotope bleiben garantiert unangetastet. hil Kommentar D ie Partnerbörse OkCupid hat heimlich Menschenversuche mit ihren Kunden angestellt. In einem Experiment wurde das Computerprogramm manipuliert, das zwei Liebessuchenden verraten soll, wie gut sie zusammenpassen. In einem Fall errechnete die Software beispielsweise einen Wert von nur 30 Prozent. Angezeigt wurde den Kandidaten hingegen, dass er und sie zu 90 Prozent zusammenpassen: High Score d’amour! Und was geschah nach der geschönten Liebesprognose? Die nichts ahnenden Versuchspersonen flirteten beinahe so intensiv miteinander wie jene, deren Übereinstimmung tatsächlich bei 90 Prozent lag. Das Computerorakel wirkte also als selbsterfüllende Prophezeiung. Ist es verwerflich, derart mit den Gefühlen von Menschen zu spielen? Treibt die Part102 DER SPIEGEL 32 / 2014 nerbörse einsame Herzen in die Arme unpassender Liebhaber, vielleicht sogar in eine unglückliche Ehe? Alles Quatsch. Vor allem zeigen die Experimente, dass die Liebesprognosen nicht allzu ernst genommen werden sollten. Wer seine Bekanntschaft nur nach den Empfehlungen eines Computerorakels aussucht, überschätzt die Aussagekraft solcher Prognosen, die oft mehr mit Spökenkiekerei als mit seriöser Wissenschaft zu tun haben. In Wahrheit entstehen die Empfehlungen von Partnerbörsen durch Herumprobieren – das ganze System ist ein großes Experiment. Eine Konsequenz aus den Tests könnte sein, die spekulative Prozentangabe zukünftig nicht mehr anzuzeigen, um den Partnersuchenden nicht den unbefangenen Blick auf ihre Liebeskandidaten zu verbauen. Hilmar Schmundt Computer Bildschirm mit Brille Adieu, Lesebrille! Wissenschaftler haben ein Display entwickelt, das sich automatisch an die Fehlsichtigkeit des jeweiligen Betrachters FOTOS: GEOMAR (L.O.); CHRISTOPH BEIER (L.M.) Hört nicht auf Liebesorakel! Wächter im All FOTO: NASA Der Mond (u. r.) schob sich am 26. Juli zwischen die Sonne und das Weltraumteleskop „Solar Dynamics Observatory“. Das im All schwebende Observatorium dient als Frühwarnsystem für sogenannte Sonneneruptionen (hellgelb) – die fortgeschleuderten Partikelströme erreichen teils nach nur acht Minuten die Erde und können hier Stromausfälle auslösen. anpasst. „Wir setzen nicht dem Leser eine Brille auf, sondern dem Bildschirm“, sagt Gordon Wetzstein vom MIT Media Lab. Der Brillenbildschirm beruht auf der sogenannten Lichtfeld-Technik, bei der jedes einzelne Pixel des Displays über eine Lochschablone auf die richtige Stelle der Netzhaut projiziert wird. Ein ähnliches Verfahren kommt bereits zum Einsatz, um bei 3-D-Bildschirmen ein Gefühl von räumlicher Tiefe hervorzurufen. red Fußnote 36 Gesten umfasst das erste Wörterbuch der Schimpansensprache, das schottische Affenforscher in der Zeitschrift Current Biology vorgestellt haben. Die äffischen Gesten erinnern teils stark an menschliche. Das Aufstampfen mit den Füßen etwa heißt bei Schimpansen: Lass uns spielen! Eine Luftumarmung bedeutet: Komm näher! DER SPIEGEL 32 / 2014 103 Patient Bertrand Might (r.), Familie Die Kinder ohne Tränen „The Genome is a language we are just learning“ (Inschrift auf dem Uni-Campus in Stanford). K inder sind meist keine gern gesehenen Gäste auf medizinischen Fachtagungen. Doch beim Symposium für seltene Krankheiten des Sanford-Burnham-Forschungszentrums im kalifornischen La Jolla in diesem Februar saßen sie in der ersten Reihe: Bertrand aus Salt Lake City, Grace aus Menlo Park und Tim aus 104 DER SPIEGEL 32 / 2014 Was Freeze und seine Kollegen so rührDeutschland. Bertrands Schwester hatte einen Ball mitgebracht. Tim robbte ihm auf te, war das Zusammentreffen von Kindern, die das gleiche Schicksal teilen. Sie begegdem Boden vor dem Podium hinterher. Während die Kinder spielten, hielten die neten sich am Ende einer langen Reise Forscher ihre Vorträge. Es waren Kliniker, „durch die diagnostische Wüste“, wie es Stoffwechselexperten und Genetiker von Freeze beschreibt. Bertrand, Grace und Tim leiden an einer Weltrang. Statt vom Kinderlärm genervt zu sein, waren viele den Tränen nahe. „Das sehr seltenen Krankheit, die bis vor Kurwar ein magischer Moment“, erinnert sich zem noch unbekannt war und erst mithilfe Hudson Freeze, Direktor am Sanford Chil- moderner molekularbiologischer Methodren’s Health Research Center in La Jolla, den entschlüsselt werden konnte. Ihre Geschichte erzählt vom Wandel, der sich ge„einer der besten in meiner Karriere.“ FOTO: STACI CUMMINGS Medizin Überall auf der Welt leiden Kinder an mysteriösen Krankheiten, die so selten sind, dass kein Arzt die richtige Diagnose stellt. Nun ist es Genforschern gelungen, ein solches Erbleiden zu entschlüsseln – weil die Eltern nicht aufgaben. FOTO: WINNI WINTERMEYER Wissenschaft genwärtig in der Erforschung solcher mysteriösen Leiden vollzieht. Die Geschichte erzählt auch von irrwitzigen Zufällen, von Eltern, die das Schicksal ihrer Kinder nicht nur Ärzten überlassen wollen. Und es ist eine Geschichte über jene Hoffnung, so sagt es Bertrands Vater, „die nur die Wissenschaft bieten kann“. Rund drei Prozent aller Kinder kommen mit einer genetischen Schädigung zur Welt, schätzt der Genetiker Mike Snyder von der kalifornischen Stanford University. „Bei etwa der Hälfte wissen wir ziemlich schnell, was los ist“, sagt er, „bei der anderen nicht.“ Viele Eltern erfahren nie, was genau ihren Kindern fehlt. Kaum ein Kinderneurologe, den nicht seine ungeklärten Fälle quälen. In Deutschland stranden diese vor allem in den Sozialpädiatrischen Zentren und in Epilepsiekliniken, denn viele mysteriöse Leiden gehen mit Anfällen einher. Etwa 7000 seltene Krankheiten sind gegenwärtig bekannt – Syndrome, von denen weniger als 5 von 10 000 Menschen betroffen sind. Wer darunter leidet, muss oft jahrelang von Arzt zu Arzt pilgern, bis endlich einer die richtige Diagnose stellt. Schlimmer noch sind für die Betroffenen jene rätselhaften Leiden, die bislang kein Arzt der Welt kennt. Als sich die Eltern von Bertrand Might, dem ältesten der drei Kinder in dieser Geschichte, auf den Weg in die diagnostische Wüste machen, ahnen sie nicht, dass ihr Kind an einer solchen namenlosen Krankheit leidet. Im Dezember 2007 kommt Bertrand zur Welt, ein Junge mit dunklen Augen und braunem Haar. Er hat Neugeborenen-Gelbsucht, wie viele Babys, ansonsten scheint er gesund. Sein Vater eröffnet ein Sparkonto fürs College. Doch als Bertrand drei Monate alt ist, erscheint seine Entwicklung plötzlich wie eingefroren. Seinen Eltern Matt und Cristina fallen die seltsamen Bewegungen ihres Sohnes auf; „ruckelig“ nennen sie sie. Er lächelt nie. Ein Kinderarzt vermutet einen Hirnschaden. Es ist die erste von vielen Hiobsbotschaften. Ein Hirnscan zeigt nichts Auffälliges. Doch der behandelnde Neurologe ist alarmiert. Bertrands Symptome passen zu keiner Krankheit, die der Mediziner kennt. Im Blut des Kindes sind Eiweiße, die die Ärzte eine neurodegenerative Erkrankung vermuten lassen – unaufhaltsam, tödlich. Es gibt einen Gentest für dieses Leiden: Bertrand hat es nicht. Dann finden die Mediziner verdächtige Zuckerketten in seinem Urin: wieder ein Hinweis auf seltene Stoffwechselkrankheiten, eine schlimmer als die andere. Bertrand hat keine davon. Dennoch geht es ihm immer schlechter. Seine Leberwerte sind erhöht – die Mediziner tippen auf fortschreitende Zerstörung des Organs. Er hat epileptische Anfälle, sein EKG zeigt Hinweise auf Herzrhythmusstörungen. Es scheint, erinnert sich sein Vater, als hätten Leber, Hirn und Herz seines Sohnes „einen finsteren Wettstreit eröffnet mit dem Ziel, ihn umzubringen“. Besonders auffällig: Der Junge produziert so gut wie keine Tränenflüssigkeit. Genetiker Snyder Lange Reise durch die diagnostische Wüste Seine Augen sind oft entzündet, die Hornhaut ist vernarbt. Matt Might ist Informatiker an der University of Utah, er glaubt an die Forschung. Von neuen Methoden der Molekularbiologie erhofft er sich zwar keine Heilung, aber doch eine Erklärung für die Leiden seines Sohnes. Er nimmt Kontakt zu Genforschern auf, lässt sich beim Abendessen vorrechnen, was es kosten würde, Bertrands komplettes Erbgut zu untersuchen. Die Antwort ist deprimierend: Mit allen notwendigen Analysen und Wiederholungen zur Vermeidung von Fehlern, erfährt Might, lägen die Kosten bei rund einer halben Million Dollar. Denn die Forscher könnten nicht gezielt nach einer bereits bekannten Krankheit suchen – das wäre inzwischen bezahlbar –, sie müssten in den Milliarden Basenpaaren in Bertrands Genom nach unbekannten Veränderungen fahnden. An der ersten Entschlüsselung des menschlichen Genoms arbeiteten Hunderte Wissenschaftler mehr als zehn Jahre lang. 2003 präsentierten sie der Welt den Bauplan des Lebens. Das Humangenomprojekt hatte bis dahin rund drei Milliarden Dollar verschlungen. Heute kostet das reine Auslesen der DNA noch etwa tausend Dollar. Und Bioinformatiker entwickeln immer klügere Programme, um dem Buchstabensalat seine Geheimnisse zu entreißen. Die Preise werden also weiter fallen. Aber noch kostet die Suche nach unbekannten Mutationen viel Geld. Die Mights lassen sich davon nicht abschrecken. Sie finden einen Weg, das Erbgut ihres Sohnes untersuchen zu lassen – ebenso wie die Familie Wilsey. A n einem warmen Tag im Mai dieses Jahres trägt die vierjährige Grace Wilsey ein blau kariertes Sommerkleid mit bunten Stoffblumen, das vor Jahrzehnten einmal ihrer Tante gehörte. Mit unsicherem Schritt stakst sie über eine Wiese auf dem Uni-Campus in Stanford. Erst vor einem Jahr fing Grace an zu laufen, seit Kurzem kann sie Treppen steigen, auf Stühle klettern und vom Boden aufstehen, ohne sich hochzuziehen. Ihr iPad in lila Gummihülle ist vollgepackt mit „Sesamstraße“-Episoden – Grace ist ein Fan vom roten Pelzmonster Elmo –, mit Fotos und Videos von ihrer Familie, von Alltagsdingen wie ihrem Lieblingsspielzeug, ihrem Bett. Grace spricht nur ein paar Worte, aber sie klickt sich mit großer Sicherheit durch die Symbole ihres Sprachprogramms. „I want music“, sagt sie oft. Sie liebt die Songs von Katy Perry. Die meisten Eltern würden viel tun, um ihrem kranken Kind zu helfen. Bei den Wilseys bekommt diese schlichte Erkenntnis eine neue Dimension. Seit Grace’ Geburt reisen sie mit ihr von Arzt zu Arzt. Knapp zweihundert DER SPIEGEL 32 / 2014 105 Grace hat von ihren Eltern Lesen lernen Mediziner und Wissenschaftler haben das Kind inzwischen untersucht, schätzt Mut- je eine beschädigte Kopie geter Kristen. Die meisten haben die Wilseys erbt, sodass das Gen bei ihr Der Preissturz der * selbst aufgetan, durch Empfehlungen von gleichsam ausgeschaltet ist. Genomanalysen Freunden und Bekannten und jenen Ex- Doch die anderen sieben Muperten, bei denen sie schon waren. Sie tationen können ebenso gut Mio. Dollar wollen nur die besten im jeweiligen Fach- der Auslöser der Krankheit kostete die Entschlüsselung sein. Die Forscher müssen eines Humangenoms 2001. gebiet. Einmal stellten sie Grace den Fachleuten nun die Fachliteratur nach Sept. 2001 100 Mio. der US-amerikanischen National Institutes Informationen über jedes logarithmische of Health vor, wo es ein Spezialprogramm einzelne ihrer verdächtigen Darstellung für seltene Krankheiten gibt. „Der Direk- Gene durchforsten. Außertor des Programms sagte, wir hätten schon dem versuchen sie im Labor unser eigenes Seltene-Krankheiten-Pro- in Zellkulturen zu enträtseln, gramm absolviert“, sagt ihr Vater Matt, was Veränderungen in diesen Genen anrichten können. „mehr könnten sie auch nicht machen.“ Die Wilseys lassen Grace’ In seinem früheren Leben war Matt Wilsey Politikberater und Unternehmer. Jetzt Erbgut auch am Baylor Colist seine Tochter sein Job, mehr noch: seine lege of Medicine im texaniMission. Auf seinen Visitenkarten nennt schen Houston auslesen. 10 Mio. er sich „Rare Disease Advocate“, Anwalt Dort setzt später Genforfür seltene Krankheiten. „Ich habe immer scher Matthew Bainbridge daran geglaubt, dass wir eine Diagnose fin- NGLY1 auf seine Liste der den werden“, sagt Wilsey. „Und jetzt bin möglichen Verursacher. In ich überzeugt, dass wir eine Therapie ent- einer Fachzeitschrift stößt er auf einen erst kürzlich erwickeln können.“ Für manche der Forschungsprojekte hat schienenen Artikel. Kollegen die Familie selbst Geld zur Verfügung ge- beschreiben darin den Fall eistellt – ebenso wie die Mights, die aus ei- nes Kindes mit verschiedegener Tasche einen Teil der Forschung von nen Symptomen, die sie auf Jede Körperenthält Hudson Freeze finanzieren. Durch Stiftun- Mutationen im NGLY1-Gen zelle die gesamte 1 Mio. zurückführen. gen soll es nun noch mehr werden. Erbinformation Wenn der Junge weint, eines IndividuAuf Matt Wilseys Visitenkarte stehen seine Telefonnummer, E-Mail-Adresse und fließen keine Tränen. ums, festgeEs ist Bertrand Might. die Symptome der mysteriösen Krankheit, schrieben in Bainbridge schreibt eine der DNA mit darunter globale Entwicklungsverzögerung, Hypotonie, erhöhte Leber-Transami- E-Mail an Grace’ Mutter: mehr als 6 nasen, Bewegungsstörung, Krampfanfälle, „Produziert Grace Tränen?“ Milliarden Schielen – und der auffällige Mangel an Fast gar nicht, antwortet Kris- Basenpaaren ten Wilsey. Nach ein paar Ta- und Tränenflüssigkeit. 21000 Genen, Auch bei Grace tippten viele Ärzte an- gen meldet sich Genetiker die Bauanfangs auf bereits bekannte Stoffwechsel- Bainbrigde bei den Wilseys: leitungen für 100000 krankheiten, darunter solche, bei denen „Ich glaube, ich habe es.“ Proteine sind. Der Aufsatz, der Baindie Mitochondrien – die Kraftwerke der Zellen – nicht richtig funktionieren. „Bei bridge auf die richtige Fährte diesen Krankheiten ist die Lebenserwar- bringt, stammt von David tung gering“, sagt Kristen Wilsey, „wir ha- Goldstein, einem Genetiker ben jeden Tag mit der Trauer um unser an der Duke University in Kind gelebt und mit der Angst, dass es Durham im Bundesstaat Prozent North Carolina. Bei ihm waGrace bald schlechter gehen könnte.“ des Genoms entDie Wilseys lassen ihr eigenes Erbgut ren die Mights gelandet, um halten Informatiound das ihrer Tochter sequenzieren, im La- das Erbgut ihres Sohnes un- nen für den Aufbau bor des Genetikers Mike Snyder in Stan- tersuchen zu lassen. Weil von Proteinen. Darin 10000 ford. „Wir sind weit davon entfernt, die Bertrand in eine Studie über kann gezielt nach Funktion jedes Gens zu kennen“, sagt der seltene Krankheiten aufge- Mutationen gesucht Wissenschaftler, „das macht es kompli- nommen worden war, konn- werden. te das Experiment am Ende * bezogen auf den einfachen ziert.“ Chromosomensatz Snyder und seine Mitarbeiter suchen doch gemacht werden. ** US-Firma Illumina Goldstein hatte nicht das laut nach Veränderungen in Grace’ Erbgut im Quellen: NHGRI, Ensembl Vergleich zu dem ihrer Eltern und anderer gesamte Genom ins Visier gegesunder Testpersonen. Nach und nach nommen, sondern nur jene schließen die Forscher jene Unterschiede DNA-Abschnitte, die tatsäch- Neueste Verfahren aus, die offenkundig nichts mit der rätsel- lich den Aufbau von Eiwei- haben die Kosten für haften Erbkrankheit zu tun haben. Am ßen vorgeben, die sogenann- eine Genomanalyse auf Ende stehen acht verdächtige Mutationen ten Exons. Sie machen nur Dollar ** 2014 auf der Liste, darunter Veränderungen in ein bis zwei Prozent der Erbsinken lassen. substanz aus, das Verfahren einem Gen namens „NGLY1“. 95,3 1–2 1000 106 DER SPIEGEL 32 / 2014 ist schneller und billiger als die bisherigen. Auch Goldstein war dabei der Fehler bei NGLY1 aufgefallen, aber er hatte nur diesen einen Patienten. „Eine Diagnose auf eine solche Basis zu stellen ist ziemlich ungewöhnlich und auch ein bisschen riskant“, gibt Goldstein zu. Er entschied sich trotzdem für die Veröffentlichung. Bainbridge stößt auf Goldsteins Aufsatz – und nun gibt es, Anfang 2013, plötzlich zwei Patienten. Bertrand und Grace haben dieselbe Krankheit, die Mediziner nennen sie „NGLY1 Deficiency“. In den Zellen der Kinder fehlt ein wichtiges molekulares Werkzeug. Bei gesunden Menschen sorgt das NGLY1-Gen dafür, dass die Zellen ein bestimmtes Enzym bilden. Wie eine winzige Schere schneidet es Zuckermoleküle von jenen Eiweißen ab, die die Zelle entsorgen muss, weil sie fehlerhaft aufgebaut sind. Bei Bertrand und Grace, vermuten die Wissenschaftler, sammeln sich diese SchrottEiweiße an, in der Leber etwa oder im Gehirn, und schädigen die Organe. Cristina und Matt Might schreiben Internetblogs über ihren Sohn. Seit Bertrand erste Symptome zeigt, führen sie die Online-Tagebücher über die Ängste der Familie, über diagnostische Fehlschläge und kleine Erfolge. Ein rührendes Video auf den Seiten von Vater Matt zeigt Bertrands erstes Lachen. Aufgeschwemmt von Medikamenten sitzt der Junge mit den dunklen Locken in seinem Krankenhausbett und schaut sich Trickfilme an. Wenn Gelächter eingespielt wird, juchzt er mit. R und 12 000 Kilometer entfernt, im indischen Neu-Delhi, stößt eine deutsche Mutter auf Cristina Mights Blog. An einem Sonntagabend im vergangenen Sommer sitzt Carola Baumann* auf dem Sofa und * Name von der Redaktion geändert. Wissenschaft FOTO: WINNI WINTERMEYER Patientin Grace Wilsey, Mutter Kristen: „Wir haben mit der Trauer um unser Kind gelebt“ sucht im Internet nach Ernährungstipps für ihren Sohn Tim. Er hat Krampfanfälle, gegen die kein Medikament hilft. Jetzt will seine Mutter eine spezielle Diät ausprobieren. „In dem Blog stand genau das, was wir gerade erlebten“, erinnert sich Baumann. „Bertrand und Tim sehen sich sogar ein bisschen ähnlich.“ Carola Baumann und ihr Mann arbeiten bei deutschen Organisationen in Indien, doch die Ärzte dort können ihnen nicht helfen. Alle paar Monate fliegt die Familie nach Deutschland, zuletzt waren sie zwei Wochen lang in einem großen Epilepsiezentrum. Was Tim hat, kann ihnen auch dort niemand sagen. Doch jetzt ist Carola Baumann sicher: Sie hat Tims Krankheit gefunden. Mithilfe der Mights nehmen die Deutschen Kontakt zu den US-Forschern auf, die daraufhin Tims Hautzellen molekularbiologisch untersuchen. „Wir haben es!“, erfährt die Familie kurz darauf per Mail. Das ist der Durchbruch. Nun geht es schnell. Mediziner aus aller Welt melden weitere Fälle, Kinder aus den USA, aus der Türkei, aus Israel, aus Italien. Die älteste Patientin ist 20 Jahre alt. Im März beschreibt ein Team von mehr als 30 Wissenschaftlern die neue Krankheit erstmals im Fachblatt „Genetics in Medicine“. So wegweisend erscheint der Fall den Herausgebern, dass sie einen Aufsatz zweier Väter dazustellen. „Wie Sequenzanalysen der neuesten Generation und die Mitarbeit der Familien die Weise verändern, auf die seltene Krankheiten entdeckt, untersucht und behandelt werden“, heißt der Beitrag von Matt Might und Matt Wilsey. Ohne die Bereitschaft der Wissenschaftler, sich frühzeitig über ihre Erkenntnisse auszutauschen, wäre die Krankheit nicht so schnell entdeckt worden, glauben die beiden Väter. „Dieser Fall zeigt einen Paradigmenwechsel“, sagt auch Genetiker Snyder. Meist halten Forscher ihre Entdeckungen möglichst lange zurück, damit sie bloß keiner vor ihnen publiziert. „Gerade in der Genomforschung werden wir aber nur weiterkommen, wenn wir möglichst früh Informationen teilen“, glaubt er. Gegenwärtig entwickeln Verlage neue Fachzeitschriften, in denen auch vorläufige Ergebnisse veröffentlicht werden können. Dieser Weg ist auch deshalb kaum aufzuhalten, weil immer mehr Eltern sich auf die Suche nach Antworten machen – und wie Bertrands Eltern die Krankengeschichten ihrer Kinder selbst ins Netz stellen. „Am Anfang dachten wir, die Ärzte wissen alles“, sagt Carola Baumann. „Wir haben gelernt, dass man vieles selbst herausfinden muss.“ Sie hat Elternzeit genommen, weil sie diesen Sommer mit Tim in Deutschland verbringen will. Er soll hier zu verschiedenen Therapeuten gehen, vielleicht lernt er sprechen. Tim ist vor Kurzem drei Jahre alt geworden, an der Wand in der Mietwohnung in Süddeutschland hängt noch die bunte Geburtstagsgirlande. Er ist ein freundliches Kind mit hellbraunen Augen und weinroter Brille, das Bälle liebt und die Bücher vom Grüffelo und der Heule Eule. Sein Entwicklungsstand, das haben jüngste Tests ergeben, entspricht etwa dem eines neun Monate alten Kindes. Tim hat keine Anfälle mehr. „Wir hatten unseren Frieden damit gemacht, dass wir vielleicht nie erfahren wer- den, was Tim hat“, sagt seine Mutter. Dennoch mache die Diagnose manches leichter. Besonders quälend sei die Ungewissheit darüber gewesen, wie es wohl mit ihm weitergeht; und die Sorge, vielleicht eine wichtige Therapie zu verpassen. Inzwischen haben die Baumanns die Wilseys in Kalifornien besucht, die Mights trafen sie beim Symposium in La Jolla. Als Matt Might im Juni auf einer Konferenz in Deutschland war, holten sie ihn vom Flughafen ab. Kurz danach musste Bertrand auf die Intensivstation – Lungenentzündung, künstliche Beatmung. Die kleine NGLY1-Gemeinde nahm Anteil. „Wir sind nicht mehr allein“, sagt Tims Mutter. „Für die Eltern ist es ganz wichtig, dass ihre Suche ein Ende hat“, bestätigt Greg Enns, Kinderarzt und Biochemiker in Stanford. Auf dem Campus ist der Arzt bekannt für seine mit Kinderzeichnungen bedruckten Krawatten; er kennt Grace, seit sie fünf Monate alt ist. Die Wilseys sehen die Diagnose als Startschuss für eine weitere Expertenrunde – diesmal auf der Jagd nach Heilung. Am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg experimentiert jetzt etwa der deutsche Genforscher Lars Steinmetz mit Substanzen, die in den Zellstoffwechsel eingreifen und dafür sorgen könnten, dass das fehlende Enzym wieder vom Körper produziert wird. Steinmetz und Wilsey treffen sich regelmäßig und besprechen die Fortschritte, die Wilseys finanzieren die Forschung. „Für mich ist es toll, dass meine Arbeit einen Bezug zum realen Leben hat“, sagt Steinmetz. Stanford-Forscher Enns koordiniert gegenwärtig eine erste Medikamentenstudie mit NGLY1-Patienten. Davon, glaubt er, könnten langfristig auch Nichtbetroffene profitieren: „Einige der Mechanismen dieser Krankheit spielen auch bei Prozessen wie der Zell-Alterung eine Rolle“, sagt er, „wenn wir sie besser verstehen, kann das vielen Menschen helfen.“ Bertrand, Grace und Tim sind jeweils das erste Kind ihrer Eltern. Das Risiko, dass weitere Kinder die Krankheit haben, liegt bei 25 Prozent. Bertrands Schwester Victoria wurde 2011 geboren – bevor ihre Eltern die Diagnose kannten. Die Mights hatten Glück: Victoria hat zwei intakte Kopien des NGLY1-Gens geerbt. Am 19. Juni kam Winston John Might zur Welt, ein Junge mit dunklen Augen und braunem Haar. Zu Beginn der Schwangerschaft hatten Cristina und Matt Might sein Erbgut testen lassen. Winston ist gesund. Julia Koch Video: Im „National Institute of Health“ spiegel.de/app322014krankheiten oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 32 / 2014 107 Seuchen Tropenmediziner Florian Steiner erklärt, warum es so schwer ist, die EbolaEpidemie in Westafrika unter Kontrolle zu bekommen. Steiner, 35, ist Arzt an der Berliner Charité. SPIEGEL: In Liberia, Sierra Leone und Guinea sind bereits mehr als 700 Menschen an Ebola gestorben – darunter auch Ärzte und Pflegekräfte. Wie gefährlich ist der Einsatz für die Helfer? Steiner: Das Virus ist längst nicht so ansteckend wie die Erreger von Masern oder Windpocken. Das Risiko, in diesen Ländern bei einem Autounfall zu sterben, ist vermutlich höher, als sich mit Ebola zu infizieren – für Touristen jedenfalls. SPIEGEL: Aber sogar der Chefarzt des wichtigsten Krankenhauses in Liberia hat sich angesteckt. Er ist vorige Woche gestorben. Steiner: Warum das passiert ist, wissen wir nicht genau. Zum einen gibt es immer ein Restrisiko, dass ein Kranker zu spät als Ebola-Patient identifiziert wird und andere ansteckt. Es könnte sich aber auch im Ablauf ein Fehler eingeschlichen haben. Das medizinische Personal ist extrem im Stress. Ständig müssen die Mediziner und Krankenschwestern in den Schutzanzug und 108 DER SPIEGEL 32 / 2014 FOTO: AHMED JALLANZO / DPA (O.) „Eltern geraten in Panik“ davon profitiert. Die Erkrankung verläuft sehr schnell. Bis alle Formalitäten geklärt sind und man die nötigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat, ist der Patient mit großer Wahrscheinlichkeit entweder schon auf dem Wege der Besserung – oder gestorben. Auch der erkrankte Mediziner, der für die Behandlung in Deutschland im Gespräch war, lebt nicht mehr. SPIEGEL: Könnten Sie an der Charité auch Ebola-Kranke aufnehmen? Steiner: Grundsätzlich ja. Wir verfügen über die größte Sonderisolierstation in Deutschland. Für extra eingeflogene Patienten fehlt uns in Berlin im Moment aber ein entsprechend ausgestatteter Flughafen. Allerdings muss auch die Frage erlaubt sein, ob es überhaupt ethisch vertretbar ist, Kosten in – möglicherweise – MillioAbtransport eines Ebola-Opfers in Foya, Liberia nenhöhe für einzelne Menschen zu verursachen, wenn man mit dem gleichen Geldbetrag in Afrika Berge versetzen könnte. wieder raus. Auch Routine kann zum Pro- Vor allem wenn die Vorteile für die Patienten fraglich sind. blem werden … SPIEGEL: Wie kann sich bei einer so gefähr- SPIEGEL: Wie steht es derzeit um die medilichen Seuche Routine einschleichen? zinische Versorgung in den betroffenen Steiner: Das hört sich vielleicht merkwür- Regionen? dig an. Aber manche Ärzte dort machen Steiner: Die Epidemie lähmt die Länder. seit Monaten nichts anderes, als Ebola- Plötzlich haben Pflegekräfte und Ärzte Patienten zu behandeln. Den ersten Fall Angst, zur Arbeit zu fahren. Das führt gab es im März in Guinea. Das medizini- dazu, dass Menschen mit Malaria oder sche Personal vor Ort muss über eine lange Tuberkulose auf einmal unterversorgt Zeit hinweg die gleichen Arbeitsschritte sind. Eltern geraten in Panik und verlassen machen. Irgendwann kann ein fataler Feh- mit ihren Kindern die Krankenhäuser, ler passieren. Die Ärzte und obwohl die Kleinen Hilfe Pfleger sind übermüdet und Gemeldete Ebola-Fälle brauchten, etwa weil sie überarbeitet – und plötzlich lebensgefährlichen Durchfall steigt jemand in Schutzkleihaben. AFRIKA 1 dung, die noch nicht perfekt SPIEGEL: Zeichnet sich eine NIGERIA desinfiziert worden ist. Besserung der Lage ab? SPIEGEL: Wie überträgt sich Steiner: Im Moment sieht es das Virus? nicht danach aus. Die Zahl der Neuinfektionen steigt Steiner: Viele Menschen glau329 weiter an. Westafrika ist unben, dass es sich über die Luft erfahren im Umgang mit verbreiten könnte. Soweit wir davon verstorben: Ebola; wie es aussieht, koopedie Krankheit kennen, deutet riert die Bevölkerung nicht aber nichts darauf hin. Um 156 gerade optimal, was auf fehsich anzustecken, muss man LIBERIA lendes Vertrauen hinweist. direkten Kontakt zu den Patienten haben. Die Erreger SPIEGEL: Nach Liberia hat nun können über Körperflüsauch Sierra Leone den Not533 sigkeiten wie Blut, Schweiß stand ausgerufen und schließt oder Erbrochenes weiterSchulen und Grenzen. Wird gegeben werden. Hygiene in das helfen? 233 den Krankenhäusern ist desSteiner: Ich halte das nicht für halb extrem wichtig. sinnvoll. Das bringt nur weiSIERRA tere Armut über das Land. SPIEGEL: Die WeltgesundheitsLEONE Die Ansteckungsgefahr ist ja, organisation WHO wollte in wie gesagt, vergleichsweise der vergangenen Woche ei460 gering. Die WHO hat eine nen erkrankten Mitarbeiter solche Empfehlung auch nach Deutschland bringen. nicht ausgesprochen. Es wäre Wie sinnvoll ist es, Patienten sicherlich Erfolg versprefür eine Behandlung auszu339 chender, das schlecht funkfliegen? tionierende GesundheitssysSteiner: In einem solchen Fall GUINEA tem zu verbessern. muss man sich die Frage stellen, ob der Kranke wirklich Quelle: WHO; Stand: 27. Juli Interview: Katrin Elger Wissenschaft Blaublütige Krabbler Tiere Die Zahl der Pfeilschwanzkrebse in Neuengland schrumpft. Der Schwund der Urzeitwesen gefährdet Zugvögel und Arzneisicherheit. B Abzapfen von Pfeilschwanzkrebsblut: Sterile Kanüle ins Gliedertierherz scheint, dass ihre Zahl sinkt, und niemand weiß so recht, warum. Nun gibt es gewiss Krabbeltiere, deren Überleben akuter bedroht ist. Aber kaum eines hat eine so große Fangemeinde. Zum Teil mag dies in der Gutmütigkeit dieser behäbigen Kreaturen begründet sein: Sie sind weder giftig noch glitschig, und ihre Kneifversuche muten eher hilflos an. Vor allem aber beruht ihre Popularität auf der biologischen Einzigartigkeit der Pfeilschwanzkrebse. Wissenschaftlich sind sie als „lebende Fossilien“ von Interesse. Zehnbeinig und neunäugig, sind sie eine Sonderanfertigung der Evolution, die äußerlich kaum verändert Äonen überdauert hat. Denn Pfeilschwanzkrebse sind keine Krebse, sie haben mit ihnen nicht mehr gemein als Pfeilschwanzkrebs am Strand der Delaware Bay: Sonderanfertigung der Evolution 110 DER SPIEGEL 32 / 2014 Mensch und Stachelrochen miteinander. Eher schon sind sie verwandt mit den Spinnen, im Grunde aber bilden sie eine Tiergruppe für sich. Mehr als 400 Jahrmillionen Evolution trennen sie von jeder anderen Kreatur. Unklar ist, was die Vorfahren von Limulus (so der lateinische Name) hat überleben lassen: War es ihr Chitinpanzer, der sich in Zeiten saurer Ozeane als besonders robust erwies? War es ihre Genügsamkeit in Sachen Sauerstoff? Sicher ist nur, dass Pfeilschwanzkrebse noch heute den Ozean bevölkern, während die mit ihnen verwandten Trilobiten, die einst die Herrscher der Meere waren, allesamt ausgestorben sind. Ökologisch betrachtet stellen die proteinreichen Gelege der Pfeilschwanzkrebse eine wichtige Nahrungsquelle der Zugvögel dar. Denn im Frühsommer, wenn Limulus zum Laichen in die Gezeitenzone der Bucht von Delaware krabbelt, finden sich dort auch die Austernfischer, Strandläufer und Seeschwalben ein, die eine Wegzehrung für ihre kontinentale Reise suchen. Unter Vogelfreunden besondere Beachtung findet der Knutt. Der amselkleine Watvogel rastet hier auf dem Weg von Feuerland zu seinen Brutplätzen in der kanadischen Tundra. Zu Berühmtheit hat es ein Exemplar namens B95 gebracht. Vor 19 Jahren beringt, hat dieser Vogel über eine halbe Million Kilometer zurückgelegt. „Mondvogel“ wird B95 von seinen Bewun- FOTO: ANDREW TINGLE (O.); ALAMY / MAURITIUS IMAGES (U.) ei Vollmond lässt sich an den Stränden Neuenglands mitunter ein eigenwilliger Schichtwechsel beobachten. Wenn die Badegäste Handtücher und Picknickreste einpacken, taucht eine neue Art von Strandbesuchern auf: Barfuß oder in Gummistiefeln waten sie durchs Meer, den Blick starr auf das auflaufende Wasser der Springflut gerichtet. Es sind Hobbyforscher, die gekommen sind, um Pfeilschwanzkrebse zu zählen. Manchmal schwemmt die Flut Hunderte der helmbewehrten, bis zu 75 Zentimeter langen Urzeitkreaturen ans Ufer, und oft kommen sie zu zweit, die Männchen mit den Greifzangen ihrer Vorderbeine an den Panzer der Weibchen geklammert. So können sie, kaum dass die Partnerin ihre Eier gelegt hat, diese befruchten. In Rhode Island und Connecticut, aber auch in Maryland und Delaware patrouillieren Freiwillige, um dieses Treiben zu erfassen. Barmherzig wenden sie jene Tiere, die eine Welle auf den Rücken geworfen hat. Vor allem aber suchen sie nach nummerierten Etiketten am Panzer, um ihre Sichtung anschließend zu melden. Aus Tausenden solcher Einzeldaten rekonstruieren Meeresbiologen derzeit die Bestände der Tiere. Nur sehr ungenau ist bisher bekannt, wie viele Pfeilschwanzkrebse zum Laichen an die amerikanische Ostküste kommen. Vorsichtige Schätzungen sprechen von 2,3 bis 4,5 Millionen zwischen New Jersey und Virginia. Das Beunruhigende aber: Es derern genannt, weil diese Strecke weiter ist als die zum Mond. Seit 20 Jahren jedoch schrumpft die Zahl der Knutts. Eine der möglichen Ursachen sehen Ornithologen darin, dass die Vögel bei ihrer Rast in Delaware nicht mehr genug Pfeilschwanzkrebseier finden. Wenn Wissenschaftler nun mehr Schutz für die urtümlichen Krabbler fordern, haben sie nicht nur den Knutt, sondern auch den Menschen im Auge. Denn die Sicherheit vieler Arzneimittel und Medizinprodukte hängt ebenfalls vom Wohl der Pfeilschwanzkrebse ab. Sie verfügen nämlich über ein einzigartiges Immunsystem: Sobald molekulare Detektoren in ihrem trüb-blauen Blut („Hämolymphe“) die geringste Spur bakterieller Toxine registrieren, verklumpen die Abwehrzellen und frieren die Erreger gleichsam ein. Im Mikroskop lässt sich beobachten, wie plötzlich überall in der blauen Flüssigkeit klumpige Gerinnsel aufpoppen. Die extreme Empfindlichkeit dieser Immunabwehr nutzt die Pharmaindustrie für die Produktion von Schnelltests zum Nachweis von Bakteriengiften. Zu Tausenden sammeln Fischer die Krabbler ein, um sie an die Hersteller sogenannter LAL-Tests zu schicken. Dort spannen Laborassistenten die Tiere auf stählerne Bänke, schieben sterile Kanülen in ihr Herz und zapfen jeweils rund 200 Milliliter blaue Flüssigkeit ab. Mit etwas Apfelsaft und Crackern aufgepäppelt, werden die Tiere dann wieder ins Meer entlassen. Einige Artenschützer fürchten, dass genau diese Prozedur den duldsamen Gliederfüßern zusetzt. Zwar überleben 70 bis 90 Prozent der Tiere den Aderlass, er könnte sie jedoch nachhaltig schwächen. Um diese Hypothese zu testen, befestigten Forscher aus New Hampshire Beschleunigungsmesser an freigelassenen Weibchen. Tatsächlich erwiesen sich diese als ungewöhnlich lethargisch. Sie sind deshalb vermutlich wenig zum kräftezehrenden Marsch zu den Laichgebieten aufgelegt. Ob dies allerdings den Rückgang der Bestände allein erklären kann, ist fraglich – zumal der Mensch den Pfeilschwanzkrebsen auch in anderer Weise nachsetzt: Noch immer werden Zigtausende von ihnen zerhackt und als Köder für den Aal- und Meeresschneckenfang benutzt. Gemessen daran ist die Gewinnung ihrer Körperflüssigkeit vergleichsweise schonend und zudem schwer verzichtbar. Bei rund 15 000 Dollar liegt der Preis für einen Liter des blauen Lebenssaftes. Daraus gewonnen wird ein Test, den Implantate und alle injizierbaren Arzneimittel bestehen müssen. Wer je eine Spritze bekommen hat, verdankt die Sicherheit dieser Prozedur also einer blaublütigen Urzeitkreatur. Johann Grolle DER SPIEGEL 32 / 2014 111 Totengräber der Republik Z uerst kam die Bahre aus Gold und Elfenbein. Unter purpurnen Decken lag der Tote. Als der Trauerzug das Marsfeld erreichte, um die Leiche zu verbrennen, stieg ein Adler zum Himmel. 2000 Jahre nach dieser Zeremonie hat der Stuttgarter Altgeschichtler Holger Sonnabend das „langsame Sterben“ des Kaisers Augustus in einem packenden Buch rekonstruiert*. Der Gelehrte beschreibt das Finale als meisterliche „politische Inszenierung“. Noch kurz vor seinem Exitus befahl der Sterbende: Bindet mein Kinn hoch, und kämmt mir die Haare! Seine Asche kam in ein Mausoleum. Mit 45 Metern war es das höchste Bauwerk Roms. Kaum je hinterließ ein Mensch so viele Spuren in der Nachwelt wie jener Gaius Octavius, dem der Senat den Ehrentitel „Augustus“ (der Erhabene) verlieh. Seine Armeen zeichneten die Landkarte Europas, dem Abendland drückte er seinen Stempel auf, auch dem Kalender. Der Monat August trägt seinen Namen. Selbst die biblischen Evangelisten schufen ihren Jesus nach dem Bilde dieses Tycoons, der sich als „Sohn Gottes“ und „Erlöser“ preisen ließ. Zudem war er mit seiner vermaledeiten Steuerzählung schuld daran, dass Maria im Stall von Betlehem niederkommen musste. Wer aber steckt hinter dieser Schlüsselfigur der Antike, die der römische Senat posthum zum Gott erhob? In einfacher Kleidung, die seine Gattin ihm genäht hatte, lief der Mann daheim umher. Auf dem Palatin bewohnte er ein enges Haus ohne Luxus. Zugleich aber hinterließ er über 25 000 Selbstporträts – ein Weltrekord an Eitelkeit. Ein sittenstrenger Paterfamilias wollte er sein. Seine einzige Tochter jedoch, verlottert und sexsüchtig, missriet ihm. Er nannte sie eine „Eiterbeule“. Auch sein politisches Erbe ist schwer zu bewerten. Den einen gilt er als „Friedensfürst“, anderen als „Blutsäufer“, weil er während des römischen Bürgerkriegs die Tötung von etwa 300 Senatoren und 2000 Rittern zuließ. „Herr“ wollte er nie genannt werden. Nur: Warum entmachtete er dann als „Totengräber der Republik“ (Petrarca) den Senat und ebnete sich den Weg zur Alleinherrschaft? * Holger Sonnabend: „August 14. Der Tod des Kaisers Augustus“. Primus-Verlag, Darmstadt; 168 Seiten; 19,90 Euro. 112 DER SPIEGEL 32 / 2014 Vom süßen Kelch der Fleischeslust nippNun steht der Kaiser erneut auf dem Prüfstand. Fast ein Dutzend Historiker te er ebenfalls nur in Maßen. Die Reize melden sich anlässlich seines Jubiläums Kleopatras, die er in Ägypten traf, prallten mit neuen Büchern zu Wort. Hinzu kom- an ihm ab. 51 Jahre lang war er mit seiner men Ausstellungen. Das Landeskriminal- Gattin Livia verheiratet. Bieder und dröge kommt der damals amt von Nordrhein-Westfalen hat ungeschönte Phantombilder des alternden mächtigste Mann der Welt daher. Auch das Kaisers erstellt. Wien ehrt den Jubilar mit unzüchtige Sexualgebaren der Römer störkaltem Marmor als einen der „Väter te ihn. 18 v. Chr. erließ er harte MoralgeEuropas“. Und in der Skulpturhalle Basel setze. Ehebruch wurde nun bestraft. Zukann man sogar ein Dreigängemenü ge- gleich galt fortan für alle Bürger Heiratszwang: Männer zwischen 25 und 60 Jahren nießen. Motto: „Speisen wie Augustus“. Allzu Köstliches dürfte dabei allerdings (Frauen zwischen 20 und 50) mussten sich nicht auf den Tisch kommen. Der Pflicht- vermählen. Zudem lobte der Staatschef mensch liebte es frugal. Morgens labte er eine Geburtsprämie aus. Ab dem dritten sich an Brot, getaucht in Wasser. Dazu aß Kind gab es eine Belohnung. Der Hang zu Strenge und Tradition war er Gurke, Lattich oder Obst. Sein Trinklimit abends lag bei 0,6 Liter Weinschorle. offenbar Ergebnis frühkindlicher Prägung: Der Vater starb früh. Noch als Kleinkind kam die Halbwaise zu den Großeltern in die Provinz. Das Kinderzimmer war „so groß wie eine Vorratskammer“, draußen quakten Frösche, berichtet der Biograf Sueton. Der Opa hatte sich als schnöder Geldwechsler und Bankier Reichtum erworben. Beim snobistischen Adel Roms galt derlei Fleiß nichts; selbst zu arbeiten war ihnen verpönt. Klein Octavius dagegen wuchs gleichsam auf dem Bauernhof auf. Zwei griechische Hauslehrer, Anhänger der Stoa, lehrten ihn Moral und Verzicht. „Hübsch“ (ein Chronist) war der Junge, aber er kränkelte und zog zuweilen das linke Bein nach. Später, als Princeps, mummelte er sich im Winter mit vier Tuniken ein und trug wollene Brustleibchen. Ein jäher Abschied aus der Enge der Provinz bot sich erst, als der Großonkel, Julius Cäsar, den Jungen für sich entdeckte. Gegner lästerten, der Neffe habe sich als Lustknabe das Vertrauen des gerühmten Feldherrn erschlichen. Richtig ist: Kaum 18 Jahre alt, bekam Octavius den Job des „magister equitum“ (Reiterführer) zugeschanzt. Der Spitzenposten überforderte ihn allerdings ebenso wie Cäsars Angebot, ihm ins iberische Militärcamp zu folgen. In Spanien angekommen, geriet der Teenager mit seiner Sänfte in ein Unwetter. Plötzlich zuckte ein Blitz und tötete den nur wenige Meter vorweglaufenden Fackelträger. Danach bildete der Rekrut eine Gewitterfurcht aus, die er zeitlebens nicht mehr loswurde. Gegen solche Schwächen kämpfte er allerdings verbissen an. Der Historiker Bronzebüste des Augustus, um 25 v. Chr. FOTO: WERNER FORMAN / AKG Antike Er liebte Gemüse, führte die Zwangsehe ein und zählt zu den wichtigsten Herrschern der Weltgeschichte: Vor 2000 Jahren starb Kaiser Augustus. Wer war der Mann, der Rom neu erfand? Wissenschaft Werner Dahlheim sieht in der Entschlossenheit, sich nie zu beugen, die eigentliche Kraftquelle seines Charakters. Eine erste Kostprobe dieser Zähigkeit lieferte der junge Mann nach dem Attentat auf Cäsar 44 v. Chr., mit dem die Anhänger der Republik den übermächtig gewordenen Diktator stoppten. Zur Überraschung aller hatte Cäsar seinen Neffen als Haupterben eingesetzt. Die Familie riet zwar, das Testament auszuschlagen; Augustus jedoch griff zu – und befand sich damit umgehend in Typisch ist seine Rolle 42 v. Chr. beim morastigen Philippi (Griechenland), wo insgesamt 200 000 Legionäre zur finalen Schlacht antraten. 40 000 Männer starben, die Republikaner verloren. Der junge Octavian war während der wochenlangen Kämpfe wenig zu sehen. Entweder lag er krank im Zelt, oder er versteckte sich vorm Feind im Sumpf. Erst als alles vorbei war, eilte er herbei und ließ Brutus den Kopf abschlagen. War der Mann deshalb grausam? Die Historikerin Angela Papst („Kaiser Augus- War es seine merkelhaft-unaufgeregte Art, um Vertrauen zu werben, die am Ende alle Gegner stoppte? jenem Machtkampf zwischen den CäsarAnhängern, die sich mit dem einfachen Volk verbündet hatten, und dem alteingesessenen Adel, der um seine Privilegien fürchtete. Ungestüme Kerle im Brustpanzer, von Marc Anton bis zu Brutus und Sextus Pompeius, betraten damals die Szene und verwandelten das Imperium in ein Blutfass. 13 Jahre lang dauerte der Bürgerkrieg. Octavian stand selten an vorderster Front. Rohes Soldatentum und Biwak waren seine Sache nicht. tus“, Reclam-Verlag) behandelt den Gescholtenen mit Nachsicht. Sie verweist darauf, dass der Monarch keine Gladiatorenspiele liebte – zu brutal. Auch den Hinweis, er habe einem Prätor die Augen ausgestochen, hält sie für eine Lüge. Vielmehr sei der Mann zart besaitet gewesen: Beim Sport bevorzugte er Ballspiele. Wenn Properz oder Horaz ihre neuesten Verse vortrugen, weinte er gerührt. Womöglich war es seine merkelhaftunaufgeregte Art, um Vertrauen zu werben, die am Ende alle Gegner stoppte. Nach seinem Griff zur Macht 27 v. Chr. führte er das zerrüttete Land goldenen Zeiten entgegen. Statt sich weiter zu zerfleischen, marschierten Roms Armeen nun siegreich bis nach Britannien und sogar in den Sudan. Die Hauptstadt erstrahlte derweil im Glanz. „Ich übernahm Rom als Ziegelstadt und überlasse sie euch in Marmor“, so etwa rief jener Mann, der eigentlich bescheiden sein wollte. Dass er Gemüselatein sprach und häufig hortikulturelle Redewendungen im Munde führte („weich wie Mangold“, „schneller, als man Spargel kocht“), steigerte seine Beliebtheit im einfachen Volk noch. Als der Kaiser schließlich, von Capri kommend, im Alter von 75 Jahren nach einer Diarrhö starb, lag ihm der Weltkreis zu Füßen. Alles war ihm gelungen. Nur das eigene Leben nicht. Wie alle übermäßig Pflichtbewussten empfand offenbar auch Augustus zu wenig Spaß. Im tiefsten Inneren hielt er das irdische Dasein für schal und lächerlich. Ob er die „Komödie“ denn angemessen hinter sich gebracht habe, wollte der Greis auf dem Sterbebett wissen. „Wenn ja, dann applaudiert dem Schauspieler.“ Matthias Schulz Dorfbewohner in Marokko um 1912 Das Fremde in Farbe Die Welt vor hundert Jahren ist in der Vorstellung der meisten Menschen schwarz-weiß. Eine gerade eröffnete Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau kann da einiges ändern: „Die Welt um 1914 – Farbfotografie vor dem Großen Krieg“ präsentiert die Sammlung des französischen Bankiers Albert Kahn, der bereits 1909 mehrere Fotografen auf Weltreise schickte, um das Leben in bunt zu dokumentieren. Bis zum Ersten Weltkrieg entstanden über 2200 Aufnahmen (bis 1930 wurden es dann 72 000), von denen der Martin-Gropius-Bau fast 200 zeigt: ein Süßigkeitenladen im türkischen Barsu, ein senegalesischer Scharfschütze in Marokko, ein Häftling mit einer riesigen Stahlkette um den Hals im mongolischen Ulan Bator, der Taj Mahal und die Chinesische Mauer. Ergänzt werden die Bilder durch zeitgenössische Farbfotografien von Adolf Miethe und Sergej Prokudin-Gorskii, zwei Fotografen, die vor allem Gebäude und Landschaften dokumentierten. Kahns „Archive des Planeten“ waren keine Menschenschau im kolonialen Sinne; Nacktheit war auf seinen Bildern verboten. Er wollte die jeweiligen kulturellen Errungenschaften präsentieren und die Angst vor dem Fremden heilen, indem er das Unvertraute in die Nähe holte. Mit dem Ausbruch des Krieges scheiterte dieser Versuch an der Wirklichkeit. Doch das Leuchten der Vorkriegsjahre in den Bildern bleibt. red Fernsehen Operation gelungen Im vergangenen Jahr hatte der Regisseur Steven Soderbergh („Ocean’s Eleven“) seinen Abschied vom Kino angekündigt. Jetzt ist sein neues Großprojekt fürs Fernsehen fertig: „The Knick“ heißt die von Soderbergh inszenierte und produzierte TVSerie, die der Bezahlsender Sky ab 9. August in Deutschland zeigt, nur einen Tag nach der Premiere in den USA. „The Knick“ ist benannt nach dem Knickerbocker Hospital in New York. Ähnlichkeiten mit populären Arztserien wie „Emergency 114 DER SPIEGEL 32 / 2014 Darsteller Owen (M.) in „The Knick“ Room“, „Grey’s Anatomy“ oder gar, die Älteren werden sich erinnern, „Die Schwarzwaldklinik“ gibt es allerdings kaum. Soderberghs Serie ist eher ein düster-realistisches Historiendrama: Die ersten zehn Episoden spielen im Jahr 1900, als viele Chirurgen mit brutaler Ahnungslosigkeit in ihren Patienten herumstocherten. Wer kein Blut sehen kann, wird bei „The Knick“ oft die Augen schließen müssen. Der Held der Serie, Doktor Thackery, gespielt von dem Briten Clive Owen, hat ein besonderes Medikament gefunden, um mit dem Stress fertigzuwerden: Er spritzt sich regelmäßig Kokain. mwo FOTOS: MUSÉE ALBERT-KAHN, DEPARTEMENT DES HAUTS-DE-SEINE (O.); HBO (U.) Fotografie Kultur Kino in Kürze Prima Primaten Er heißt Caesar und ist ein Schimpanse; er muss nur streng gucken, um seine Untertanen zur Räson zu bringen. Seine Artgenossen und er haben in dem ScienceFiction-Epos „Planet der Affen: Revolution“ weite Teile der Erde unter Kontrolle. Der Schauspieler Andy Serkis verkörpert Caesar, mithilfe von Computerbildern wird aus seiner Darstellung das packende Porträt eines Affen, der schon auf halbem Wege zum Menschen ist. Ja, es gibt auch ein paar echte Menschen, aber die meisten von ihnen verhalten sich kaum intelligenter als Affen. Der Zuschauer beginnt zu zweifeln, ob er sich wirklich für die Krone der Schöpfung halten soll. Über zwei Stunden lang beschäftigt sich der Regisseur Matt Reeves ebenso unterhaltsam wie geistreich mit der Frage, was uns zu Menschen macht. Dann bricht allerdings eine gewaltige Schlacht los, alle schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein. Weniger Revolution, mehr Evolution, und der Film wäre richtig gut. lob Szene aus „Planet der Affen: Revolution“ Literatur FOTO: 20TH CENTURY FOX ; ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL Frösteln im Sommer Erstaunlich, dass sich ein Buch seit Wochen auf der Bestsellerliste hält, das von zwei befreundeten Schriftstellern berichtet, die sich vor den Nazis in Sicherheit bringen müssen und deren Werke in Deutschland nicht mehr gelitten sind. Der Strand von Ostende ist im Sommer 1936 das Ferienziel von Stefan Zweig, dem damals bereits weltweit erfolgreichen Bestsellerautor, und Joseph Roth, den seine Trunksucht immer wieder am Schreiben hindert. Außerdem dabei: die Geliebte Zweigs, Partnerin bis zum gemeinsamen Freitod 1942, und die Schriftstellerin Irmgard Keun, die mit Roth eine wilde Liebesgeschichte beginnt. Vielleicht liegt es an der einladenden sommerlichen Strandszene, die den Umschlag ziert (und eigentlich wenig mit der Geschichte zu tun hat), vielleicht aber macht einfach die Erzählfreude den Erfolg aus, die dem Autor und Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Volker Weidermann, 44, eigen ist und die er schon in seiner Biografie über Max Frisch unter Beweis gestellt hat. „Ostende“ ist kein Sachbuch, das sich nüchtern an Fakten hält. Der verbürgte Aufenthalt der vier Protagonisten im belgischen Seebad wird wie in einer Novelle dargeboten, die sich gelegentlich dem Ton Zweigs anverwandelt, das Frösteln angesichts des aufziehenden Unheils einbezogen. vha Volker Weidermann Ostende – 1936, Sommer der Freundschaft Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 160 Seiten; 17,99 Euro. Claudia Voigt Mein Leben als Frau Kollateralschaden Seit fast drei Wochen befinde ich mich auf einer Urlaubsreise durch Kalifornien. Die Landschaft ist fantastisch schön. Auf dem Pazifik kann man mit bloßem Auge Wale beobachten. In jedem noch so kleinen Ort findet sich jemand, der mir versichert: „You guys really deserved to win the World Cup.“ – „Ihr habt es wirklich verdient, die WM zu gewinnen.“ Weil ich im Goethe-Institut von Los Angeles bei der Übertragung des Finales gebangt und gejubelt habe, lächle ich dann immer zustimmend. So weit zu den positiven Eindrücken. Es fiel mir schon am Beginn der Reise in Santa Monica auf, dieser unbedingte Wille, sich in kurzen Hosen zu zeigen, aber da habe ich es mir noch mit dem kalifornischen Sportwahn erklärt. Später dann, in der Wüste am Zabriskie Point, als selbst französische Touristinnen keine Ausnahme mehr machten, dachte ich: gut, nicht der Ort, um auf Kleidung zu achten. Doch irgendwann war es unübersehbar: Die Frauen hier tragen Shorts. Keine Sommerkleider, keine Röcke – nur Shorts. Als ob sie schlecht gekleideten Männern nacheifern wollten. In den Städten sieht man auch den sogenannten Businesslook, aber wenn die Frauen nicht gerade auf dem Weg zur Arbeit sind, wählen sie Radlerhosen, abgeschnittene Jeans oder Bermudas, Hotpants oder Schlabbershorts. Karl Lagerfeld hat mal gesagt, der Mode entkomme man nicht. Ich muss ihm widersprechen. Erwachsene Frauen in Shorts bedeuten das Ende der Mode. Bisher dachte ich immer, dieses Kleidungsstück sei dem Zahnspangenalter vorbehalten. Nicht im sonnigen Kalifornien. Und weil auch Hollywood-Filme, McDonald’s und das iPhone von hier aus die Welt eroberten, befürchte ich Schlimmes. Die Kulturwissenschaftlerin Barbara Vinken vertritt in ihrem Buch „Angezogen. Das Geheimnis der Mode“ die These, dass Kleider es den Frauen ermöglichen, ihrer Erotik und ihrer spielerischen Seite Ausdruck zu verleihen. Nach der Französischen Revolution sollte die weibliche Mode ihre Trägerinnen von Autorität und Macht ausschließen. Der Körper der Frauen wurde als zur Arbeit unfähig inszeniert, wohingegen die Männer durch ihre zunehmend uniforme Kleidung signalisierten, dass sie zur Gemeinschaft der verantwortlichen Bürger gehörten. Mode diente der Trennung der Geschlechter in der bürgerlichen Welt. Vielleicht muss man Shorts deshalb als Kollateralschaden der Gleichberechtigung betrachten. Wie auch konservative Kostüme, Hosenanzüge und Helmfrisuren. Karriere und der Dernier Cri passen noch immer nicht zueinander. Um ernst genommen zu werden, verzichten viele Frauen auf Eleganz. Doch 225 Jahre nach der Französischen Revolution dürfte es langsam an der Zeit sein, dass die Frauen Mode und Macht miteinander verbinden. Es wäre schön, wenn die Weiblichkeit und das Spielerische nicht verschwinden würden – Röcke, Kleider, hohe Schuhe und Accessoires. Wenn Bequemlichkeit kein Grund wäre, diese aufzugeben, und auch nicht der Anspruch, dem Dresscode der Männer zu gehorchen. An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nächste Woche ist Elke Schmitter an der Reihe, danach Dirk Kurbjuweit. DER SPIEGEL 32 / 2014 115 Kultur Das lolligroße Auge Gottes E r ist schon sehr cool, der neue Ar- dem Schrottplatz, wo der Sänger wahrbeitsplatz von Mae Holland. Andere scheinlich verhungern würde, weil für MuMenschen haben so viel Angeneh- sik seit Jahren keiner mehr bezahlt. Der Welt da draußen geht es schlecht, mes nicht einmal in den Ferien. Mae, das Mädchen aus der Provinz, dessen Eltern aber hier drinnen wird das Geld herbeigesich keine richtige Krankenversicherung flutet wie bei einem Tsunami. Der Circle leisten können, wird auch noch bezahlt da- hat alles zusammengebracht. Die größte Suchmaschine, das größte soziale Netzfür, dass es hier ist. Ein Traum. Wow. Alle sind jung, keiner ist dick. Was auch werk, das dominierende Online-Bezahldaran liegen mag, dass auf den vielen Par- system. Google, Facebook und PayPal. tys, die die Angestellten auf dem Firmen- „Ein einziger Button für den Rest deines gelände feiern, ein hier entwickelter Ries- Onlinelebens“, wie ein Circler begeistert ling ausgeschenkt wird. Weniger Kalorien sagt. 90 Prozent des Suchmaschinenmarkts hat er, dafür mehr Alkohol. Und alles ist so schön, so easy, so kali- etwa beherrscht der Circle, aber er ist gierig und gefräßig, und er will immer mehr, fornisch, so hip. Kosmetik bio und regional, Yoga, Fahr- er will 100 Prozent. Er will alles, lieber räder, eine Hundetagesstätte, Rasentennis- Freund, sonst würde er ja nicht Circle heiplätze und Massagen, weil ja die Firma die ßen. Ist denn ein Kreis nicht erst ein Kreis, wichtigste Gemeinschaft im Leben ist. wenn er vollendet wurde? Geschlossen? Und da wir schon einmal dabei sind, Familie? Privatleben? Ich bitte dich. Wer braucht solch nervigen, komplizierten den Schrottplatz, diese miese, unvollkomMist. Es ist doch alles da, auf dem Campus mene Welt, aufzuräumen, warum nicht in der tollsten aller Firmen, die Circle heißt. alle Bereiche des Lebens eindringen? Den Alles. Plus das Beste, was von dem dahin- Menschen, diese seltsame Kreatur mit so siechenden Ort jenseits des großen Zauns, viel Potenzial, endlich berechenbar madiesem riesigen Schrottplatz namens Rest chen, kontrollierbar für sich selbst und den Rest des Planeten. der Welt, noch zu gebrauchen ist. So sieht sie aus, die Ausgangslage, die Zum Beispiel ein Mobile des Bildhauers Alexander Calder. Hing früher im franzö- Dave Eggers, 44, in seinem Buch „Der sischen Parlament. Oder sechs Bilder des Circle“ beschreibt, das in der nächsten Künstlers Jean-Michel Basquiat. Stammen Woche in Deutschland erscheinen wird*. aus einem Museum in Miami, das leider Eggers heitere und zugleich düstere Verfast bankrott war. Oder der Singer- suchsanordnung ist viel mehr als die Songwriter, der mittags in der Kantine auf- Schwarzmalerei eines schlecht gelaunten tritt und dem keiner zuhört. Tja, immer Außenseiters. Eggers liefert den Roman noch besser, hier zu sein als draußen auf für den internetkritischen Diskurs, satirisch, lakonisch, bisweilen brillant. Eggers eignet sich die Kultur des Silicon Valley an. Er spiegelt und dramatisiert die Haltung der modernen Tycoons dort, der IT- und Hightech-Spezialisten, er schleicht sich in die Köpfe der Larry Pages, Mark Zuckerbergs, Sergey Brins und ihrer Untergebenen. Und Eggers liegt ziemlich richtig, was unter anderem die Beschwerde von Katherine Losse beweist. Losse hat früher ihr Geld als Ghostwriterin des FacebookGründers Mark Zuckerberg verdient. Nun hat sie Eggers vorgeworfen, bei ihr abgekupfert zu haben. Eggers sagt, er kenne Autor Eggers 116 DER SPIEGEL 32 / 2014 * Dave Eggers: „Der Circle“. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 560 Seiten; 22,99 Euro. die Dame nicht, er habe ihr Facebook-Erlebnis-Buch nie gelesen. Möglicherweise kann sich Eggers solche Lektüre wirklich sparen. Er lebt und arbeitet in San Francisco, wo er eine Zeitschrift herausgibt, einen Verlag bewirtschaftet und in 826 Valencia Street, einer Adresse im Mission District, eine Art modernes Wohltätigkeitszentrum betreibt, in dem Stipendien vermittelt werden und Tutoren Grundschülern bei den Hausaufgaben helfen. San Francisco liegt in der Nähe des Silicon Valley. Eggers erlebt täglich eine Stadt, die in Digitalgeschwindigkeit gentrifiziert wird, in der eine Zweizimmerwohnung 4000 Dollar Miete kosten kann, Sterneköche das Abendessen bereiten und vollklimatisierte Google-Busse die hoch bezahlten Angestellten morgens ins Valley kutschieren. Es ist, als würden sich jene Bewohner der Stadt, die sich nicht rechtzeitig in die Kultur der Tekkies, der Technikjünger, gerettet haben, ihre Daseinsberechtigung verlieren. Viele tun es tatsächlich. San Francisco gilt inzwischen bei manchen als Amerikas Hauptstadt der Obdachlosen. Für diese Welt, deren Unzulänglichkeiten sie mitschufen, haben die Milliardäre des Valley, diese neuen Herrscher des Universums, vor allem Verachtung übrig. Diese neuen Herrscher kommen nicht mehr in Nadelstreifen und roten Hosenträgern daher wie die der Wall Street in den Achtzigerjahren. Sie nuscheln jetzt aus Kapuzenpullis und Fleecejacken heraus, und doch haben sie eine ähnliche Haltung der Geringschätzung, auch wenn sie jetzt bisweilen milde und sorgenvoll und politisch korrekt klingen. Tapsige Nerd-Herablassung. „Move fast and break things“, hieß es bei Mark Zuckerberg. „10 × Thinking“, sagt Google-Erfinder Larry Page. Wenn du das Leben von 100 Millionen Menschen veränderst, bist du nicht erfolgreich. Erst wenn du das von einer Milliarde Menschen veränderst, bist du es. „Wir sind überzeugt, dass Portale wie Google, Facebook, Amazon oder Apple weitaus mächtiger sind, als die meisten Menschen ahnen“, schreibt Googles Chairman Eric Schmidt. „Ihre Macht beruht auf der Fähigkeit, exponentiell zu wachsen. Mit Ausnahme von biologischen Viren gibt FOTO: TOM PILSTON / PANOS PICTURES / VISUM Internet-Debatte In „Der Circle“ erzählt der US-Schriftsteller Dave Eggers die Geschichte eines totalitären Superkonzerns, der Ähnlichkeiten mit Google, Facebook und Amazon aufweist – ein satirisches Horrorszenario. Von Thomas Hüetlin ILLUSTRATION: CHRISTOPH NIEMANN es nichts, was sich mit derartiger Geschwindigkeit, Effizienz und Aggressivität ausbreitet.“ Eigentlich müssten solche Eingeständnisse Fragen der Konsumenten hervorrufen. Aber weil so viel im Verborgenen geschieht, weil sich die Ausweitung und Datensammlung von Google eher geräuschlos vollzieht, weil der vordergründige Kostenlos-Service so großartig scheint, weil der Glanz und Glamour der immer neuen Telefone und Tablets so gewaltig ist, reagieren die Konsumenten mit Gleichgültigkeit. Oder sie haben Angst. Die Furcht, als Ewiggestrige überrollt zu werden von einem Sturm des Spotts. Es ist eben nichts kostenlos im Netz. Der Konsument bezahlt mit der Preisgabe seiner Daten, seiner Wege, seiner Interessen, seines Lebensgefühls, der eigentlichen Währung des 21. Jahrhunderts. Dem Gold, auf dem das Dorado an der Westküste der USA aufgebaut ist. „Jeder weiß, wie man ein Smartphone bedient; die politische Frage lautet umgekehrt: wie man verhindert, dass man vom Smartphone bedient wird“, schrieb Frank Schirrmacher, einer der wichtigsten deutschen Denker seiner Generation. Schirrmacher war immer ein Technologiefreund gewesen, zuletzt aber, in den Monaten vor seinem Tod im Juni, war er in großer Sorge, was die Technik aus den Menschen und aus der Demokratie machen wird. „Dark Google“ nennt die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Viele „Smiles“: guter Mensch, wertvoll. Wenig „Smiles“: ein Fall für die Gesinnungspolizei. DER SPIEGEL 32 / 2014 117 Shoshana Zuboff das unheimliche Imperium von Larry Page und Eric Schmidt: „Ein neues Reich, dessen Stärke auf einer ganz anderen Art von Macht basiert – allgegenwärtig, verborgen und keiner Rechenschaft pflichtig.“ Im Kampf um die Vorherrschaft im Digitalzeitalter gehe es zu wie in der Steinzeit, sagt der frühere IT-Wunderknabe Jaron Lanier. Im herkömmlichen Kapitalismus konkurrieren verschiedene Marktteilnehmer, jeder mit seinen eigenen Informationen. „Im Cyberkapitalismus erledigt das der Computer – und derjenige mit dem größten Computer ist den anderen überlegen und wird letztlich zur weltbeherrschenden Macht.“ Wenn es so weitergeht, wenn die Gesetzgeber nicht stärker eingreifen, werden Der Circle funktioniert wie ein riesiges soziales Netzwerk, alles ist rückgekoppelt. Viele „Smiles“: guter Mensch, wertvoll. Wenig „Smiles“: ein Fall für die Gesinnungspolizei, die politisch korrekte Psychoschrauben anlegt: Wir wollen nur dein Bestes, und dein Bestes kommt erst zum Vorschein, wenn du es teilst mit uns, der Firma, den Kunden, dem Rest der Welt. Dieser verordnete Exhibitionismus erhält einen entscheidenden Schub durch eine Erfindung aus dem Laboratorium des Circle. Es ist eine Kamera, groß wie ein Lolli, wasserresistent, sandresistent, windresistent, insektenresistent, betrieben durch eine Lithiumbatterie mit einer Laufzeit von zwei Jahren, aufstellbar überall: auf dem Parkplatz vor deinem Haus, auf dem Tahrir-Platz in Kairo, an deinem be- Im Konzern herrscht ein moralisches Denken, das durch die Möglichkeit, es anderen zu verordnen, totalitär wird. die mit dem größten Computer selbst zu Supermächten. Haben die Herrscher dieser Fast-schon-Monopolisten ein Problem damit? Nein, sagt Lanier. „Diese Unternehmer, Larry Page, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, haben eine Mission, die größer ist als der Kapitalismus. Und sie hat religiöse Züge.“ Es ist eine Kultur derer, die das große Licht gesehen haben. Und ihrer Jünger. Dieses Projekt – das Vervollkommnen des großen Lichts – ist der Gegenstand des Romans von Dave Eggers. Scharfsinnig und lässig, voller Detailkenntnis und trotzdem nur selten streberhaft dekliniert der Schriftsteller seinen Roman durch. Manchmal wirkt das ein wenig mechanisch, bisweilen vorhersehbar, aber das liegt in der Natur der Sache. Corporate America, die Welt der Konzerne, ist nicht der Ort, an dem sich große, menschlich komplexe Charaktere entwickeln können, wie die Schriftsteller F. Scott Fitzgerald oder Philip Roth sie geschaffen haben. Der Held ist die Firma, der Circle. Die Menschen darin funktionieren, sie sind Angestellte im Sog eines Heilsversprechens. Die Figuren hätten zu wenig menschliche Substanz, beschwerte sich eine Kritikerin der New York Times. Ein Missverständnis altmodischer Art – denn der Circle verlangt nach Figuren, die erst durch die Mission der Firma auf Touren kommen, entlang eines raffiniert angelegten Businessplans. Mae Holland ist so jemand, der empfänglich ist für große Botschaften. Ein modernes Aschenputtel, eine verlorene Seele auf der Suche. Jemand, der erst unterzugehen droht in der digitalisierten Welt, jemand, der dazugehören will, jemand, der wenig Sicherheit in sich trägt und schon deshalb die Bestätigung der Firma braucht, dringend. 118 DER SPIEGEL 32 / 2014 vorzugten Surfstrand, auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Kostet 59 Dollar, das Ding, sagt einer der Firmenchefs. Wenn jemand zehn Stück davon zu Weihnachten verschenken möchte, no problem. „Alles, was passiert, muss bekannt sein“, lautet schließlich das Mantra der „Vierzigerbande“, wie die wichtigsten Köpfe des Unternehmens sich hip und pseudoselbstironisch nennen, in Anspielung auf die „Viererbande“, die nach dem Tod des Vorsitzenden Mao Zedong vergebens nach der Macht strebte. Geheimnisse seien wie „Krebs, wenn wir sie in uns behalten, aber harmlos, wenn sie draußen in der Welt sind“, doziert einer der Circle-Maoisten weiter. „Geheimnisse führen zu antisozialem, unmoralischem und destruktivem Verhalten.“ Lange bevor die lolligroßen Augen Gottes erfunden wurden, hatte einer der Circle-Chefs ein Erweckungserlebnis: Er war verheiratet, und als er zum ersten Mal auf Geschäftsreise ging, verriet ihm seine Frau einen Trick, damit er „anständig“ bleibe: Er solle sich vorstellen, dass immer eine Kamera auf ihn gerichtet sei. Es ist ein verkrampftes, moralisches Denken, das durch die Möglichkeit, es anderen zu verordnen, totalitär wird. Die Dialektik der Aufklärung im Digitalzeitalter. Gesteuert und kontrolliert von einem monopolgleichen Superkonzern. Wie so oft seit der Französischen Revolution bildet das Gutgemeinte erst die Basis für einen neuen Absolutismus. Die Halle, in der man sich versammelt, strahlt nicht die offensichtliche Menschenfeindlichkeit sowjetischer Protzbauten aus, Hörprobe: Ein Auszug aus „Der Circle“ spiegel.de/app322014eggers oder in der App DER SPIEGEL sondern wurde dem Dom in Siena nachempfunden. Die Losungen, die in der Halle präsentiert werden, sind trotzdem Tugendterror pur. „Geheimnisse sind Lügen“, heißt es da, „alles Private ist Diebstahl“. Der Weg ins Licht führt nur über die totale Hingabe des Selbst an das Digitale. Denn nur „Teilen ist Heilen“. So satirisch überzogen und dramaturgisch beschleunigt dieses Szenario klingt, es trifft die Haltung nicht weniger ITTycoons. „Es ist im Kern eine Heilslehre, die mit dem Kommunismus vergleichbar ist, der als gute Idee begann, bevor alles in der Katastrophe und im Gulag endete“, sagt der Internetkritiker Lanier. „Im Silicon Valley gibt es diese Einstellung, die sagt: Wir wissen am besten, wie es geht. Technik löst alle Probleme der Welt. Wenn man uns nur machen lässt und der Rest einfach die Klappe hält, dann wird es allen besser gehen.“ Der Weg ins Paradies ist von Kameras gesäumt. Politiker hängen sich das lolligroße Auge um den Hals. Jene, die an dieser Errungenschaft öffentlich zweifeln, werden erledigt durch Gerüchte: Sie nutzten Kinderpornoseiten oder hätten Verbindungen zu iranischen Terrornetzwerken in ihrer Cloud. Es ist nur logisch, dass sich bei diesem Kreuzzug zur Ausrottung des Bösen Mae Holland an der Spitze einreiht und ebenfalls um die Kamera zur Volltransparenz bittet. Sie ist sofort ein Star. 50, 60, 70 Millionen User bewundern sie, unterstützen sie, sorgen sich um sie. Einem Viewer aus Schottland fällt auf, dass Holland manchmal Salami isst. Er meldet sich umgehend bei der Firmenärztin des Circle, weil Nitrate Darmkrebs verursachen könnten. Andy Warhols Diktum, wonach in der Zukunft jeder für 15 Minuten berühmt sein kann, wird vom Fernsehzeitalter ins digitale Zeitalter gebeamt. In dieser RealitySoap, die an sieben Tagen der Woche 24 Stunden lang läuft, muss man dauernd auf Sendung sein, weltweit. Mae ist elektrisiert und spürt „die Zuneigung von Millionen durch sich hindurchströmen“. Ein Programm namens DemoVis soll die Demokratie endlich säubern, es soll den direkten und deshalb reinen Willen des Volkes sichtbar machen. Wie so ein Dauerplebiszit aussehen könnte, demonstriert Mae in einer Sitzung mit einigen Tausend vermeintlichen Jüngern. Frage Nummer ILLUSTRATION: CHRISTOPH NIEMANN Kultur Holland verbringt eine schlaflose Nacht, bis ein Vertrauter sie beruhigt. Die Namen der Verräter stünden doch lückenlos geordnet im System. Im großen Rechner finden sich auch sonst noch alle Daten, die man zu einem scheinbar komfortablen Leben benötigt. Wie voll der Kühlschrank ist, wie hoch der Blutdruck, ob jemand auch die 10 000 von der Firma empfohlenen Schritte jeden Tag tut, wessen Vorfahren vor ein paar Hundert Jahren wen abgeschlachtet haben. Aber hier, und das ist verblüffend, wirkt Eggers’ Fantasie schon fast ein wenig alt, verglichen mit der Wirklichkeit. In den Jahren, die seit dem Beginn seines Schreibens vergangen sind, hat sich in der Realität einiges getan. Tony Fadell, der Entwickler des iPods, hat seine Firma Nest für 3,2 Milliarden Dollar an Google verkauft, in dessen Reich nun jene intelligenten Thermostate hergestellt eins: „Sollte der Circle mehr Veggiegerichte beim Lunch anbieten?“ Frage Nummer zwei: „Sollte der Bring-deine-Tochter-mitzur-Arbeit-Tag zweimal im Jahr stattfinden statt nur einmal?“ Frage Nummer drei: „John oder Paul oder … Ringo?“ Frage Nummer vier: „Geheimdienste haben Terroristenführer Mohammed Khalil al-Hamed in einer dünn besiedelten Gegend Pakistans lokalisiert. Sollten wir eine Drohne schicken, um ihn zu töten, wenn mit gewissen Kollateralschäden zu rechnen ist?“ Die meisten Circler sind für mehr Veggieessen, gegen den zweiten Kindertag, für Ringo und für die Drohne. Am Ende fragt Holland dann noch: „Ist Mae Holland Spitze oder was?“ Auch hier Zustimmung: 97 Prozent. Was Holland dann aber doch leider an den Rand der Paranoia treibt. Warum, zum Teufel, mögen die restlichen drei Prozent sie nicht? Wollen diese heimtückischen kleinen Biester sie vernichten? werden, die das Leben in Häusern erleichtern sollen. Fadell verspricht zwar, die von seinen Geräten gesammelten Daten nicht weiterzugeben, aber mit Daten solcher Art könnten profunde Persönlichkeitsprofile der Bewohner erstellt werden: Was treibt einer so in seiner Wohnung, was lagert er im Kühlschrank, wann geht er zu Bett? In Zusammenhang gesetzt sind es Daten, die viele interessieren könnten: Versicherungen, Banken, Gesetzeshüter, Krankenkassen. Ernährt sich der Bewohner gesund? Trinkt er abends noch ein Bier? Oder zwei? Warum nicht bei einer Kreditanfrage auf solche Daten zurückgreifen? Ist doch keine große Sache, solange der Bewohner nichts zu verbergen hat. Shoshana Zuboff schreibt in ihrem Aufsatz „Dark Google“: „Google und andere werden ihr Geld damit verdie- nen, dass sie diese Realität kennen, manipulieren und in kleinste Stücke schneiden.“ Die Politik ist dramatisch gefordert, eine solche Zukunft zu verhindern. Unternehmen wie Google oder Facebook beherrschen den Markt, sie sind dabei, weltweite Monopole aufzubauen. Was genau sie mit den Daten veranstalten, die sie bunkern, entzieht sich zum großen Teil unserem Einblick, aber genau dies sollte unser Misstrauen nähren. Ziemlich ungeniert zeigt dagegen bereits Amazon, wie sich der Konzern die Zukunft vorstellt. Wie ein IndustrieRäuberbaron des 19. Jahrhunderts setzt Amazon-Gründer Jeff Bezos, seine Lieferanten, die Verlage dieser Welt, unter Druck. Ausgerechnet in der Digitalökonomie entstehen gerade Monopole, die mächtiger sind als alles, was es bis jetzt gab. In Eggers’ satirischer Dystopie existieren nur ganz wenige, die nicht mitziehen wollen. Einem von ihnen behagt es nicht mehr, dass seine Unterhaltungen im Netz laufen sollen. Er heißt Mercer und ist der Exfreund von Mae Holland. Mercer gibt sein Geschäft auf, er flüchtet in die Berge. Nach dem Beispiel alter US-Pioniere hofft er, dort seinen Frieden und ein einfaches Leben zu finden: eine Hütte, klares Wasser, vielleicht ein paar Freunde. Aber dank einiger Onlinerecherchen, dank GPS und einer Drohne hat Mae Holland ihn nach ein paar Minuten aufgespürt. Unter dem Gejohle vieler Circler jagt und verfolgt sie ihn. „Mercer“, ruft sie ihm über Funk zu, „stopp den Wagen und ergib dich. Du bist umzingelt.“ Kunstpause. „Von Freunden!“ Das Gelächter im Publikum verrät, dass dies grausamer Hohn ist. Mercer rast mit seinem Pick-up durch eine Betonbrüstung, er sucht den Tod in einer Schlucht. „Das wäre nie und nimmer passiert, wenn Mercer in einem selbstfahrenden Fahrzeug gesessen hätte“, sagt einer der CircleChefs. „Die Programmierung hätte das ausgeschlossen. Fahrzeuge wie das, in dem er gesessen hat, gehören offen gesagt verboten.“ Wie schön, dass Google solche selbstfahrenden Autos bereits baut. Man richtet keinen Schaden mehr an, weder an Betonbrüstungen noch an sich selbst. Man fährt eine Strecke, begleitet von der Firma, und, das Beste, man kann während des Transports googeln. Hammer! Alles wird gut. DER SPIEGEL 32 / 2014 119 Kultur Pornograf aus der Finsternis Legenden War der Marquis de Sade ein philosophierender Psychopath oder ein Freigeist? Eine neue Biografie versucht, die Widersprüche einer extremen Existenz zu entschlüsseln. 120 DER SPIEGEL 32 / 2014 FOTO: BPK E s gibt in der Weltliteratur viele Wer- Die Anklage ist falsch, ich schwöre es bei noch viel dunkleren Legenden durchwirkt“ ke über das Böse. Aber es gibt nicht allem, was mir am heiligsten ist.“ Doch war. Gemessen am obszönen Inhalt seiner viele, die selbst als Inbegriff des Bö- die Handschrift verriet ihn, eine Durchsu- Schriften verliefen die tatsächlichen Auschung seiner Wohnung erbrachte weitere schweifungen des Marquis zwar keineswegs sen gelten. Am 6. März 1801 – in Paris übte der jun- Beweise. Während der Verleger Massé frei- harmlos, aber ohne tödliche Folgen für die ge Revolutionsgeneral Napoleon Bona- kam, nachdem er der Polizei das Versteck Opfer. Sie kamen manchmal mit ein paar parte die Macht aus – stürmte ein Trupp genannt hatte, in dem er die frisch gedruck- Striemen und dem Schrecken davon. Polizisten die Räumlichkeiten des Verle- ten Exemplare hortete, wurde der Marquis Trotzdem verurteilte ein Gericht in Aixgers Nicolas Massé. Ziel der Fahndung war ohne Prozess für den Rest seines Lebens en-Provence ihn schon am 12. September ein radikal pornografisches und blasphe- eingesperrt. Sein Verbrechen bestand al- 1772, da war der Marquis 32 Jahre alt, in misches Machwerk, das Tout-Paris in Atem lein in der Veröffentlichung von „Justine“ Abwesenheit zum Tode. Während einer und „Juliette“. hielt. wie eine Theatervorstellung in mehreren De Sade starb 13 Jahre und neun Mona- Akten inszenierten Séance mit AuspeitDie Beamten erwischten einen verdächtigen Störenfried der öffentlichen Ordnung te später, am 2. Dezember 1814 (Napoleon schungen und Analverkehr hatte de Sade und der guten Sitten am Tatort – den ein- hatte inzwischen als Kaiser abgedankt und angeworbenen Prostituierten in Marseille schlägig vorbekannten und vorbestraften residierte auf der Insel Elba), friedlich und „galante Pastillen“ verabreicht – ein AphroAristokraten und Lebemann Donatien Al- vermutlich sogar glücklich in der Irren- disiakum, das in Überdosis lebensgefährphonse François Marquis de Sade, der sich anstalt von Charenton. Keineswegs dem lich wirken konnte. Einer der Frauen war neuerdings „Homme de Lettres“, Schrift- Wahnsinn verfallen, hatte er die Zeit ge- speiübel geworden. Das reichte der könignutzt, um mit den Insassen Theaterstücke lichen Justiz, um den Marquis und seinen steller, nannte. Der zu diesem Zeitpunkt 60 Jahre alte (angeblich zu therapeutischen Zwecken) tatbeteiligten Diener Latour des Giftmords Marquis hatte eine neue, erheblich erwei- aufzuführen und noch drei eher unverfäng- und der Sodomie schuldig zu sprechen. De terte Ausgabe eines Romans voller sexuel- liche Geschichtsromane zu schreiben. Sade, der sich keiner Schuld und zunächst Es war ein erstaunlicher Lebensab- auch keiner Gefahr bewusst war, konnte ler Gewalttaten und fantasierter Exzesse in Händen. Das Buch war erstmals 1791 schluss in einer turbulenten und blutigen sich rechtzeitig absetzen. Ersatzweise wuranonym veröffentlicht worden, hatte un- Epoche für einen Adligen, der seit seinem de sein Bildnis öffentlich verbrannt. geheures Aufsehen und ebenso große Em- 23. Lebensjahr eine Skandalspur als UnEinige Jahre spielte er mit seinen Hätergraber aller Moral durch schern Katz und Maus, wurde festgenompörung erregt, was den Erjedes politische Regime gezo- men und konnte wieder entkommen. Das folg nur steigerte: „Justine gen hatte. oder Die Unglücksfälle der Leben im Untergrund, wo er sich eine War der 1740 geborene de Ethik des Widerstands und des unschuldig Tugend“. Sade ein Sadist und Triebver- Verfolgten zulegte, endete 1778. Zwar wurDie neue „Justine“ des brecher oder ein Seher und de das Todesurteil von Aix aufgehoben, Marquis enthielt handschriftAufklärer, der, Ironie des aber dafür verschwand der Marquis, ein liche Korrekturen und ZusätSchicksals, von staatlichen „Schandfleck“ seines Standes, ein erstes ze; aus dem ursprünglichen Tugendwächtern, die selbst Mal für lange Zeit im Gefängnis, zunächst Werk war ein Doppelroman massenhaft mordeten, in ein in der Festung Vincennes, dann in der Pageworden: Justines LebensAsyl für Geisteskranke weg- riser Bastille. bericht, gefolgt von der Gegesperrt werden musste? Der schichte ihrer Schwester JuVon dort aus ergriff er während der ReHistoriker Volker Reinhardt, volutionswirren im Sommer 1789 seine liette oder den „Vorteilen des Professor für Geschichte der Chance zu einem denkwürdigen Auftritt. Lasters“. Dieser zweite Teil Autor de Sade Neuzeit an der Universität Am Mittag des 2. Juli 1789 rief er von seiwar noch viel schändlicher Entfesselter Libertin Fribourg in der Schweiz, hat nem Fenster in der Bastille durch ein selbst als der erste. Auf weit über tausend Druckseiten wimmelte es von jetzt eine Biografie mit dem Anspruch vor- gebasteltes Megafon aus Leibeskräften auf Folter- und Lustmordszenen, Gottesläste- gelegt, das wahre Leben und Denken des die Rue Saint-Antoine hinunter um Hilfe, rungen und organisierten Massenorgien, Marquis aus altem provenzalischem Adel „sodass sich viele Leute versammelten“, raffinierter Grausamkeit und niederträch- hinter den zahlreichen Bildern, Mythen wie ein Aufseher berichtete. „Er erging tigem Verrat. Unterbrochen wurde die und Gegenmythen freizulegen, durch die sich in Beschimpfungen des KommandanAufzählung des Schreckens nur von Recht- das Werk de Sades bis heute gelesen und ten, forderte die Bürger auf, ihm zu Hilfe fertigungstiraden des triumphierenden Bö- gedeutet wird*. zu kommen, und schrie, dass man ihn erDieser wohl „berüchtigtste Schriftsteller würgen wolle.“ sen, während die Stimmen der gequälten Guten in ebenso hilflosem wie naivem Pro- aller Zeiten“, wie Reinhardt meint, hat nur Als es am 14. Juli so weit war, eine aufin seinen Texten, also in seiner Einbildung, gebrachte Menge tatsächlich zum Sturm test untergingen. Dem ertappten Marquis half es im Ver- gemordet, nicht im wirklichen Leben, das auf die Bastille ansetzte und deren Befehlshör nicht viel, dass er seine Urheberschaft allerdings „reich mit düsteren Fakten und haber de Launay bestialisch ums Leben weiterhin konsequent verleugnete. Er sei brachte, war de Sade nicht mehr da. Man nur der Kopist, nicht der Autor, verteidigte hatte den Aufwiegler vorsichtshalber ver* Volker Reinhardt: „De Sade oder Die Vermessung des er sich: „Man beschuldigt mich, der Ver- Bösen. Eine Biographie“. Verlag C. H. Beck, München; legt. Der Einlieferungsschein trug den Verfasser des infamen Buchs ,Justine‘ zu sein. 464 Seiten; 26,95 Euro. merk: Dauer unbegrenzt. Doch am 2. April FOTOS: GUSMAN / LEEMAGE De-Sade-Illustrationen, 1929: Hochmut des Lasters 1790 kam der Marquis frei. Die Verfassunggebende Nationalversammlung hatte die Freilassung aller königlichen Sonderhäftlinge, zu denen de Sade gehörte, verfügt. Der Revolutionsgewinnler konnte sich rühmen, ganz persönlich den Sturz der Willkürherrschaft eingeleitet zu haben. In der Haft hatte der Marquis begonnen, eine rege literarische Produktivität zu entfalten. Die fertigen und unvollendeten Manuskripte musste er in der Bastille zurücklassen. Darunter befand sich auch sein kostbarster Schatz: „Die 120 Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung“, auf Zetteln geschrieben und zu einem mehr als zwölf Meter langen Papierstreifen zusammengeklebt, der sich aufrollen ließ, um ihn vor den Gefängnisaufsehern zu verbergen. Stolz hatte der Autor sein Projekt als „den schmutzigsten Bericht, seit es die Welt gibt“, vorgestellt. Das lange verschollene Fragment wanderte durch verschiedene Privatsammlungen und wurde erstmals 1904 veröffentlicht, in einer sehr fehlerhaften Edition des Berliner Sexualwissenschaftlers Iwan Bloch, der die beschriebenen Szenen für eine genaue Wiedergabe tatsächlicher Vorkommnisse hielt und darin die Skandalchronik einer zutiefst verdorbenen Nation zu erkennen wähnte. Dem Marquis, der zu bösem Sarkasmus und einem parodistischen Ton neigte, hätte das Missverständnis gefallen. Der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini hat „Die 120 Tage von Sodom“ 1975 als Film herausgebracht und in Mussolinis faschistische Republik von Salò am Ende des Zweiten Weltkriegs verlegt. Die Erinnerung an den „göttlichen Marquis“, wie ihn der Dichter Guillaume Apollinaire nannte, ließ sich nicht auslöschen. Im 20. Jahrhundert, das den Erfolg der freudschen Psychoanalyse, den Surrealismus, die Gräuel des Totalitarismus und die existenzialistische Rebellion gegen die Absurdität des menschlichen Schicksals hervorgebracht hat, „entwickelten sich Leben und Werk des Marquis de Sade zu einer Projektionsfläche und damit auch zu einem Spiegelbild der Moderne, die sich selbst, ihre Befindlichkeiten, Errungenschaften und Fehlentwicklungen, darin zu entdecken glaubte“, so der Biograf Reinhardt. Er hat die gelebten und ersonnenen Ausschweifungen, die Lust an der Qual und die Philosophie der Zerstörung als spannende und aufschlussreiche Forschungsreise in die Abgründe der menschlichen Seele zusammengefasst. Der entfesselte „Libertin“ de Sade (so seine Selbstbezeichnung) sah sich in seinen realen und erdachten Experimenten als Erkunder des menschlichen Bewusstseins. Die Natur ist grausam, ihre Triebkraft die kreative Zerstörung, so lautete de Sades Glaubenssatz. Der totale Triumph des freien Geistes wäre in seiner Imagination letztlich die Vernichtung der ganzen Welt gewesen, wie sie sich manche der Gestalten de Sades ausmalen, etwa mittels eines künstlich erzeugten gigantischen Vulkan- ausbruchs. Das Verlangen seiner Lüstlinge, Sex- und Foltermonstren ist am Ende ein Verlangen nach gar nichts, de Sades „Philosophie im Boudoir“ löst sich in reinem Nihilismus auf. Denn das Böse strebt, so interpretiert Reinhardt den Marquis, nach dem Absoluten und stößt doch immer auf seine Begrenzung. Erlösung gibt es paradoxerweise nur für die verhöhnten Tugendhaften – im Märtyrertod. Seine Libertins sind, wie wahrscheinlich der Marquis selbst, Psychopathen, weil sie vom eigenen emotionalen Leben völlig losgelöst und damit unfähig zur Empathie sind. Darin besteht ihr eigentlicher „Sadismus“. Ihre Erotik ist Abstraktion und deshalb Perversion. Das Böse hat für sie keinen praktischen Zweck. Es ist sich selbst Grund genug. Das Verbrechen an sich ist der Sinnenrausch; die höchste Kunst des Lustmords besteht im kaltblütigen, leidenschaftslosen Töten. Der Hochmut, in dem die lasterhaften Quälgeister sich verzehren, ist ein Zeichen ihrer Verzweiflung, ein Protest gegen das Elend des Daseins insgesamt. Vergewaltigung, Folter, Mord, Inzest, Kinderschändung: In der obsessiven Wiederholung des immer Gleichen verliert die radikale Pornografie de Sades ihr Erregungspotenzial. Das Böse, das am Anfang den Leser in seinen Bann zieht, wird langweilig und bleibt endlos dasselbe. Wenn es denn eine Bilanz dieses Lebens und dieses Werks gibt, dann diese: Die Hölle ist für alle Ewigkeit. Romain Leick DER SPIEGEL 32 / 2014 121 Schauspielerin Johansson in „Lucy“ Die Frau an sich D ie junge Frau sitzt angekettet in ihrer Zelle, verängstigt wie ein kleines Mädchen. Die Tür öffnet sich, ein Wärter kommt herein. Die Frau sieht ihn an, lächelt plötzlich lasziv und spreizt ihre Beine. Der Wärter öffnet den Gürtel seiner Hose und geht auf sie zu. Wenige Sekunden später ist er ein toter Mann und die Frau auf freiem Fuß. Die Frau heißt Lucy und transportiert synthetische Drogen in ihrem Körper. Als ein Päckchen platzt, gelangt der Wirkstoff ins Blut und verändert sie von Grund auf. Bald agiert sie so schnell, präzise und gefühllos wie ein Supercomputer. Die Schauspielerin Scarlett Johansson macht aus der Hauptfigur Lucy in dem gleichnamigen Film eine ebenso schöne wie furchterregende Intelligenzbestie. „Diese Figur beruht auf einem Gedankenspiel“, erzählt der 29-jährige Star. „Einige Wissenschaftler behaupten, dass wir Menschen nur 10 Prozent unserer Gehirnkapazität nutzen. Wie würden wir uns verhalten, wenn es 30 Prozent oder 60 wären? Was würde mit uns passieren? Lucy ist 122 DER SPIEGEL 32 / 2014 eine Idee, die ich mit Leben zu füllen ihr telefoniert, begreift, was es bedeutet, ganz Ohr zu sein. versuche.“ Fünf Filme mit ihr kommen in diesem Der von dem Franzosen Luc Besson inszenierte Film „Lucy“, der Mitte August Jahr heraus, im Kino oder auf DVD. Der in die deutschen Kinos kommt, hat in den erste lief schon im Frühjahr an, er heißt USA am ersten Wochenende fast 45 Mil- „Her“ und spielt in der Zukunft. Er erzählt lionen Dollar eingespielt, mehr als sein die Geschichte eines Mannes (gespielt von Budget. Für Johansson ist das ein Tri- Joaquín Phoenix), der sich in eine Frau umph. Sie hat damit erstmals bewiesen, verliebt, die tatsächlich keinen Körper hat, dass sie einen Sommer-Blockbuster tragen sondern nur eine Stimme, eine Computerstimme, gesprochen von Johansson. kann. In „Under the Skin“, einem weiteren Anlässlich des Filmstarts gibt die Schauspielerin einige wenige Interviews, per Science-Fiction-Film, der im Oktober auf Telefon. Johansson ist hochschwanger, mit DVD erscheinen wird, spielt sie eine dem französischen Journalisten Romain Außerirdische, die in den Körper einer Dauriac erwartet sie im Spätsommer ein Frau schlüpft, um Jagd auf Männer zu gemeinsames Kind. Nun sitzt sie in New machen. Immer wieder nimmt der Film York am Telefon, es ist Vormittag. Sie den kalten Blick seiner Hauptfigur ein, die auf ein bestimmtes Beuteschema programscheint gut gelaunt, aufgekratzt. „Ein Schauspieler hat zwei Werkzeuge“, miert ist. Vielleicht will Johansson sie endlich einsagt sie fröhlich, „den Körper und die Stimme. Hat er das eine nicht zur Verfügung, mal hinter sich lassen, all diese Listen, auf muss er aus dem anderen umso mehr raus- denen sie zur „sexiest woman alive“ geholen.“ Sie lacht, mit dieser rauen Stimme, kürt wurde, all diese dummen Journalisdie immer so klingt, als hätte Johansson tenfragen, wie sie sich denn dabei fühle, die letzte Nacht durchgesoffen. Wer mit ein Sexsymbol zu sein. Vielleicht spielt FOTO: UNIVERSAL PICTURES Kino Hollywood-Star Scarlett Johansson spielt in diesem Jahr in gleich fünf Filmen mit. Und sie durchbricht dabei weibliche Rollenklischees. Kultur sie deshalb jetzt Figuren, die gar keinen Körper haben oder für die er bloß eine Hülle ist. „Wer weiß, vielleicht löst sich Lucy am Ende des Films in einem großen, universalen Bewusstsein auf?“, sagt sie und lacht wieder. „Ich bewege mich in meinen Filmen gerade an den Grenzen dessen, was man vielleicht ganz grob als menschliche Natur bezeichnen kann. Wo hört sie auf, wo fängt sie an? Was ist ihr Kern?“ „Lucy“ erzählt von einem blutigen Rückzugsgefecht der Menschlichkeit. Mit zunehmender Intelligenz gingen Moral und Empathie verloren, behauptet der Film. So wird aus der verzweifelten jungen Frau, die am Anfang des Films in die Gewalt von Drogenhändlern gerät, eine Tötungsmaschine. Immer öfter erstarrt Johanssons Miene im Laufe des Films in völliger Ausdruckslosigkeit. Alles, was Lucy sieht, scannt sie mit der Genauigkeit eines Lasers. Johansson lässt den Zuschauer spüren, wie es ist, wenn die Augen auf einmal viel zu viel sehen, als ob sie jeden Menschen, den sie betrachteten, in Milliarden Bytes zerlegten. „Leute im Alltag zu beobachten, sie zu studieren ist ein ganz wichtiger Teil meiner Arbeit als Schauspielerin“, erzählt Johansson. „Dabei versuche ich, mich in den Menschen einzufühlen. Doch Lucy analysiert ihr Gegenüber so schnell, dass ihre Gefühle nicht mitkommen. Die Distanz zwischen ihr und den anderen Menschen nen Köder – das Dummchen mit den großen Augen, die Schlampe mit den großen wird immer größer.“ Johansson spielt die zurzeit modernsten Brüsten oder den männermordenden Heldinnen des Kinos. Sie leben genau an Vamp –, um ihn dann hineinzuziehen in der Schnittstelle der analogen zur digitalen eine Welt, in der alles ganz anders und Welt: Lucy, die am Ende mit einem Com- viel komplizierter ist. Als sie vor vier Jahren in dem Film puter fusioniert wie in einem gewaltigen, ekstatischen Geschlechtsakt; Samantha „Iron Man 2“ erstmals die Agentin Natasha aus „Her“, die nichts weiter ist als eine Romanoff spielte, erschuf sie eine Figur, digitale Stimme, die aber aus den Daten- die für Hollywood neu war. Bis dahin strömen hinauswill in die Welt aus Fleisch mussten Actionheldinnen hochgewachsen, und Blut, die sich für ihre Stimme sehnlich dünn und drahtig sein, amazonenhaft wie Sigourney Weaver oder Milla Jovovich. einen Körper wünscht. Selbst Angelina Jolie ist so spindeldürr, Kaum eine Hollywood-Schauspielerin kann Widersprüche so in sich vereinen dass man sich immer fragt, woher sie die wie Johansson. Schon als Kind wirkte sie Kraft nimmt, die monströsen Waffen hocherwachsen. Johansson wollte Musicalstar zuheben, mit denen sie in ihren Filmen werden, Judy Garland war ihr Vorbild. hantiert. Johanssons Körper dagegen Doch ihre Stimme war viel zu dunkel. Be- scheint zu sagen: Ich mache keinen Sport, reits im Alter von acht Jahren klang sie und das ist gut so. Wenn sie in Interviews über Ernährung redet, dann über Nachos nach sehr viel Whisky und Zigaretten. 1998 spielte Johansson in Robert Red- und Martinis. Scarlett Johansson ist heute mehr als fords Romanverfilmung „Der Pferdeflüsterer“ ein Mädchen, dem nach einem Un- nur ein Männertraum, wie noch am Anfall ein Teil des Beins amputiert werden fang ihrer Karriere. Weil sie sich auf keinen muss. Sie habe wie eine 13-Jährige gewirkt, Typus festlegen lässt und inzwischen so et„die auf die 30 zugeht“, sagte Redford über was wie die Frau an sich verkörpert, mit seine junge Darstellerin. Sie gab ihrer Figur all ihren Möglichkeiten, ist sie ein Idol für die Schwermut einer viel zu früh vom Le- viele Mädchen. Sie ist so populär wie Jennifer Lawrence oder Angelina Jolie. ben Gezeichneten. Schon als sie vor sechs Jahren mit WooIn Sofia Coppolas Film „Lost in Translation“, durch den Johansson 2003 im Alter dy Allen die Komödie „Vicky Cristina Barvon 18 Jahren zum Star wurde, wirkt sie celona“ drehte, standen Tausende Fans auf zunächst wie ein naives Mädchen, wie die den Straßen der spanischen Metropole. Unschuld vom Lande, die den ganzen Tag „Wenn du eine kleine intime Szene in eiauf der Fensterbank ihres Hotelzimmers nem Straßencafé drehst, kann das echt nerhockt, auf die Metropole Tokio hinabblickt ven“, sagt sie. „Du sprichst einen Liebesund sich nicht hinaustraut in die große dialog und fühlst dich wie bei ,Shakespeare im Park‘.“ weite Welt. Dann geht sie eines Nachts in die HotelBei den Dreharbeiten für „Lucy“ in Taibar, lehnt sich lässig an den Tresen, klopft wan wurde sie ständig von Paparazzi vereine Zigarette aus der Packung, streicht folgt. Regisseur Besson überlegte zeitweise, über sie und zündet sie sich an. Auf einmal die Arbeit abzubrechen. „Deswegen liebe liegt eine ganz unerwartete Souveränität ich New York“, sagt sie. „Hier bin ich aufin jeder ihrer Gesten. Der Mann, der ne- gewachsen, hier lassen mich die Leute in ben ihr sitzt, ein Hollywood-Star um die Ruhe. Wenn ich mich verkleiden müsste, fünfzig, wirkt da wie ein kleiner Junge. um auf die Straße zu gehen, würde ich Ihr Körper ist ein einziges Dementi des wahnsinnig werden.“ heutigen Schlankheitsideals. Johansson In New York spielt auch ihr Regiedebüt, wirkt eher wie ein Star aus den Fünfziger- „Sommerdiebe“, die Verfilmung des ersten oder Sechzigerjahren. Auch deshalb kann Romans von Truman Capote. Das Manusie mühelos in die Rollen früherer Holly- skript ist erst 2004 gefunden worden, 20 wood-Diven schlüpfen. In dem Film „Hitch- Jahre nach dem Tod des Schriftstellers. cock“ etwa spielt sie den Sechzigerjahre- Das sind Johanssons Pläne für die nächste Star Janet Leigh. Johansson scheint irgend- Zeit: erst die Heirat mit Dauriac, dann ihr wie aus der Zeit gefallen. Kind zur Welt bringen, dann 30 werden, Als sie 2008 für Barack Obama Wahl- dann ihren Film drehen. kampf machte, fühlten sich viele Ameri„Capotes Geschichte ist auf eine sehr kaner plötzlich zurückkatapultiert in das tragische Weise romantisch, und wahrJahr 1962, als Marilyn Monroe dem Präsi- scheinlich hat sie mich deshalb so berührt“, denten John F. Kennedy zum Geburtstag erzählt sie. „Er beschreibt das Ende der ein Ständchen sang. Eine wehmütige Er- Unschuld als den Verlust von etwas überinnerung an die glückliche Zeit, als Holly- aus Kostbarem. An der Zeit, in der man wood und Washington ihre Liebe fürein- erwachsen wird, kann man zerbrechen, ander entdeckten. wenn man sie nicht überwindet.“ Johansson liebt es, dem Zuschauer weibUnd sie klingt dabei, als wisse sie, woliche Rollenklischees hinzuwerfen wie ei- von sie redet. Lars-Olav Beier DER SPIEGEL 32 / 2014 123 Die Mörder und ihr Gott Religion Der Papst hat alle Mafiosi exkommuniziert. Wie reagieren sie darauf? Eine Reise nach Italien zu Priestern und Paten. S ie halten ihre Hand auf bei dem geheimen Ritual. Auf ihrer Handfläche verbrennt ein Papierbild. Es zeigt den Erzengel Michael. „Ich werde treu sein, solange ich lebe“, schwören die jungen Männer, wenn sie in die Mafia aufgenommen werden. Der Schwur gilt ihrem Paten. Und er gilt dem Heiligen, der in ihrer Hand verbrennt. Mafiosi sind religiös. Sie verstehen sich so, zumindest wenn sie zur ’Ndrangheta gehören, zur kalabrischen Mafia, der mächtigsten Verbrecherorganisation Europas, die jedes Jahr mehr als 50 Milliarden Euro umsetzt. Es ist kein Widerspruch für sie: zu morden und die Muttergottes zu verehren, mit Drogen und Waffen zu handeln, illegale Müllgeschäfte zu machen und einmal im Jahr zur Madonna von Polsi hoch oben in den Bergen Kalabriens zu pilgern. Aber seit dem 21. Juni haben die Mafiosi ein Problem mit der Kirche. Ihr Heiliger Vater hat verkündet, sie seien exkommuniziert. Papst Franziskus brach an jenem Tag zu einer Reise in den Süden Italiens auf, nach Kalabrien. Er besuchte das Gefängnis von Castrovillari, sprach dort mit den Eltern des kleinen Cocò. Der Vater sitzt wegen Drogenhandels ein, die Mutter steht unter Hausarrest. Cocò lebt nicht mehr. Er war drei Jahre alt, als er im Januar bei einem Racheakt der Mafia getötet wurde. Nachdem der Papst mit den Eltern von Cocò gesprochen hatte, hielt er in Cassano allo Ionio eine Messe. Er sagte: „Diejenigen, die den falschen Weg wählen, wie auch die Mafiosi, sind nicht in Gemeinschaft mit Gott. Sie sind exkommuniziert.“ Damit wären sie vom Empfang der heiligen Sakramente ausgeschlossen. Immer mal wieder haben sich Päpste gegen die Mafia gestellt, doch die Worte von Franziskus sind ungewöhnlich deutlich. Wie kommt der Bannspruch bei den Verbrechern an, die sich als Christen verstehen? Und wie gehen die Priester in Kalabrien damit um, die für Mafiosi predigen, sie trauen, ihre Kinder taufen? „Die Mafia missbraucht die heiligen Sakramente“, donnert Don Ennio Stamile an einem Sonntag im Juli bei seiner Messe in der Kirche San Benedetto im kalabrischen 124 DER SPIEGEL 32 / 2014 Papst Franziskus, Mitglieder der ’Ndrangheta „Wie sind keine Heiligen“ Cetraro. Er trägt einen grünen Talar, die Sonne schickt goldenes Licht durch die Fenster. Immer wieder zitiert Don Ennio bei seiner Predigt den Heiligen Vater, er ist stolz auf ihn, er fühlt sich von ihm unterstützt in seinem Kampf. Don Ennio ist in Kalabrien dafür bekannt, dass er gegen die Mafia predigt. Er ist bereits gewarnt worden, er gehe zu weit. Ein Schweinekopf mit einem Lappen im Maul lag einmal vor seiner Tür. Die Botschaft: Schweig oder stirb. Aber der Priester schweigt nicht. „Die Worte des Papstes stellen die Mitglieder der ’Ndrangheta außerhalb der Kirche“, sagt er. Die Mafiosi hätten das auch verstanden. Im Gefängnis von Larino seien 200 Insassen nach den Worten des Papstes nicht zur Messe erschienen, erzählt er. Eine Machtdemonstration der ’Ndrangheta? Don Ennio denkt nach. „Die Mafiosi haben den Papst womöglich falsch verstanden“, sagt er dann, „eine Exkommunikation gilt nicht für alle Zeiten, für Reue und Umkehr ist es nie zu spät.“ Domenico aber sieht keinen Anlass zur Reue. Domenico ist Mafioso. Es ist nicht leicht, ihn zu treffen, man braucht Hilfe von Leuten, denen er vertraut. Der italienische Journalist Francesco Sbano ist so jemand. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der ’Ndrangheta, es gelingt ihm, eine Verabredung zu arrangieren. Domenico taucht zunächst nicht auf, Sbano organisiert ein nächstes Treffen, Domenico bleibt wieder fern. Irgendwann kommt er doch. Er ordnet an, alle Handys im Raum einzusammeln. Die italienische Staatsanwaltschaft hört Telefone ab, programmiert Smartphones zu Wanzen um. „Welcher Papst?“, fragt er, „wir haben zwei.“ Den Rücktritt Papst Benedikts im Februar 2013 kann er nicht akzeptieren. Dieser Rücktritt stellt für ihn die Autorität des Papsttums infrage: Ein Papst tritt nicht zurück, und wenn, dann fehlt seinem Nachfolger die Legitimation. „Wir sind tiefgläubig, aber der Papst ist nicht Gott. Für uns haben seine Worte keine Bedeutung“, sagt Domenico. Schlimmer wäre es, wenn sich die Priester gegen sie stellten. Aber er glaubt nicht, dass das passiert. „Wir haben Priester, die sogar unsere Latitanten trauen.“ Latitanten sind die Mörder der Mafia, die sich im Bergmassiv Aspromonte vor der Polizei verstecken. So viele Kriege und Tote auf der Welt – da sei die Mafia doch nur ein kleines Problem. „Der Papst war sich der Tragweite seiner Worte nicht bewusst.“ Er wird wissen, dass das nicht wahr ist. Anlass für den Bannspruch des Papstes war die Ermordung des kleinen Cocò, und es ist selbst für einen Mafioso wie Domenico nicht zu rechtfertigen, dass es zu dieser Tat gekommen ist. Mafiosi der ’Ndrangheta sehen sich als Beschützer von Frauen und Kindern. „Es gab Dutzende Morde in dem Ort, die alle sauber nach den Regeln der ’Ndrangheta ausgeführt wurden“, sagt Domenico. Ein Ehrenmann würde kein Kind töten, behauptet er, die Tat könne nicht das Werk der ’Ndrangheta sein. Sich als Wohltäter darzustellen hat bei der ’Ndrangheta Methode. Die Verbrecherorganisation bezieht daraus einen Teil ihrer Legitimation. Deswegen leben auch die Paten trotz ihrer Millionengewinne aus kriminellen Geschäften zumindest in der Heimat bescheiden. Sie demonstrieren so Verbundenheit mit dem Volk. Bislang konnten sich die Paten mehr oder weniger auf die Kirche verlassen. Die meisten Priester, mit denen sie es zu tun hatten, überließen das Weltliche der Staatsanwaltschaft und das Göttliche dem Jüngsten Gericht. Oft saßen Mafiosi bei kirchlichen Veranstaltungen in der ersten Reihe und demonstrierten ihre Macht. Franziskus aber, der den Priestern und sich selbst Bescheidenheit auferlegt und für Solidarität mit den Armen eintritt, gilt als ein Papst, der dem Volk nahe ist. Für die Mafia, die sich so gern als volksnah und volksgläubig inszeniert, ist gerade dieser Papst besonders gefährlich. Don Pino Strangio ist seit 34 Jahren Pfarrer in San Luca, jetzt, nach den Worten des Papstes, sieht er eine „neue Epoche“ anbrechen. Mitglieder der ’Ndrangheta seien nun keine Christen mehr. Für sie gebe es in der Kirche nur noch den Weg der Umkehr. Pfarrer in San Luca zu sein, das ist nicht leicht. Der 4000-Einwohner-Ort gilt als Hochburg der ’Ndrangheta; von dort stammen Täter und Opfer eines Mafiakriegs, FOTOS: AGF / REX FEATURES / ACTION PRESS (O.); FRANCESCO SBANO / DER SPIEGEL (U.) Kultur bei dem 2007 in Duisburg an Mariä Himmelfahrt sechs Menschen starben. Don Pino kennt ihre Angehörigen und wohl auch alle anderen Mitglieder der rund 30 Mafiafamilien im Ort. Eine „Revolution“ seien die Worte des Papstes. Jetzt sei klar, dass es „keine Verbindung“ zwischen Kirche und Mafia gebe. Aber auch Don Pino weiß nicht, wie sein kirchlicher Alltag nach dieser Revolution aussehen soll. „Die Mafiosi werden nicht auf die Kirche verzichten.“ Priester wissen, was passieren kann, wenn sie Mafiosi die Sakramente verweigern. Sie müssen mit Drohungen rechnen, mit Anschlägen, Mordversuchen. „Auch wenn es gefährlich wird, muss allen Priestern klar sein, dass die Worte des Papstes gelten“, sagt Don Pino. „Ich weiß nicht, was mich erwartet, aber ich habe keine Angst. Der Papst gibt mir Kraft.“ Der Mafioso Andrea empfängt in einem Haus unweit von Gioia Tauro, einer Gegend, die vom Clan der Piromalli-Molé dominiert wird. Das Haus wirkt seltsam unbewohnt. Vor Andrea auf dem Tisch liegen eine Pistole vom Typ Beretta, Kaliber 9 Millimeter, und ein Bild des heiligen Michael. „Ich glaube an Gott, er hat mich immer geleitet und ist auf allen Wegen präsent“, sagt der Mafioso mit sanfter Stimme. Bei seiner Mafiataufe habe auch er auf den Erzengel Michael geschworen. Seine Exkommunikation durch den Papst bezeichnet er als „mediale Sache“. „Ich glaube, der Papst wollte ein Zeichen setzen, das Gute über das Böse stellen, aber so einfach ist das nicht“, sagt er. „Wir sind böse, wenn wir böse sein müssen. Aber wir sind gut, wenn wir den Armen helfen, die vom Staat vergessen werden“ – so sehen sich die Kriminellen. „Wir sind keine Heiligen“, sagt er, „unser Gesicht kennt jeder, wir lügen nicht.“ Die Kirche aber habe zwei Gesichter. Sie sei nie zögerlich, wenn es ums Geschäft gehe – auch um Geschäfte mit der Mafia: „Die Kirche verwaltet sogar unsere Olivenhaine bei Sinopoli.“ Und außerdem: Es gebe so viele pädophile Priester, die auch nicht exkommuniziert würden. „Bislang hat uns noch nie jemand an der Taufe gehindert oder bei Prozessionen verboten, die Madonna zu tragen“, sagt Andrea. Es habe zwar Priester gegeben, die es versucht hätten. Aber die seien überzeugt worden, es zu lassen. Der Name des Erzengels Michael übrigens ist ursprünglich hebräisch und bedeutet: „Wer ist wie Gott?“ In der Bibel tritt Michael als Bezwinger Satans auf. Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin buchreport; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik 1 (2) spiegel.de/app322014mafia oder in der App DER SPIEGEL Diana Gabaldon Ein Schatten von Verrat und Liebe 1 (1) 2 (2) Blanvalet; 24,99 Euro 2 (1) Kerstin Gier Silber – Das zweite Buch der Träume Wilhelm Schmid Gelassenheit – Was wir gewinnen, Insel; 8 Euro wenn wir älter werden Susanne Fröhlich / Constanze Kleis Diese schrecklich schönen Jahre Gräfe und Unzer; 17,99 Euro Fischer JB; 19,99 Euro 3 4 5 (3) (4) (5) Jan Weiler Das Pubertier 3 (5) Matthias Weik / Marc Friedrich Der Crash ist die Lösung 4 (3) 5 (4) Roger Willemsen S. Fischer; 19,99 Euro Das Hohe Haus Volker Weidermann Ostende – 1936, Sommer der Freundschaft 6 (9) Christian Wulff Ganz oben Ganz unten 7 (6) Frank Schirrmacher Ego – Das Spiel des Lebens Kindler; 12 Euro Donna Tartt Der Distelfink Goldmann; 24,99 Euro Kerstin Gier Silber – Das erste Buch der Träume Eichborn; 19,99 Euro Fischer JB; 18,99 Euro 6 7 (9) (6) John Williams Stoner Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro dtv; 19,90 Euro Marc Elsberg ZERO – Sie wissen, was du tust C. H. Beck; 19,95 Euro Blanvalet; 19,99 Euro 8 (11) Blessing; 19,99 Euro Frank Schätzing Breaking News 8 (11) Kiepenheuer & Witsch; 26,99 Euro Peter Hahne Rettet das Zigeuner-Schnitzel! Quadriga; 10 Euro 9 10 (8) (7) Donna Leon Das goldene Ei Diogenes; 22,90 Euro 9 (–) Jonas Jonasson Die Analphabetin, die rechnen konnte George Packer Die Abwicklung S. Fischer; 24,99 Euro Carl’s Books; 19,99 Euro 11 (10) Hanns-Josef Ortheil Die Berlinreise Preisgekrönte Analyse des langen und erschreckenden Niedergangs der USA Luchterhand; 16,99 Euro 12 (–) Ursula Poznanski Die Vernichteten Dieter Hildebrandt Blessing; 19,99 Euro Letzte Zugabe 11 (10) Christopher Clark DVA; 39,99 Euro Die Schlafwandler 12 (8) Guido Maria Kretschmer Edel Books; 17,95 Euro Anziehungskraft 13 (13) Glenn Greenwald Die globale Überwachung 10 Loewe; 18,95 Euro Furioses Finale der ThrillerTrilogie: die verzweifelte Suche nach dem Heilmittel gegen ein schnell tötendes Virus 13 (12) Graeme Simsion Das Rosie-Projekt 14 (15) Timur Vermes Er ist wieder da 15 (18) David Safier 28 Tage lang 16 (14) Simon Beckett Der Hof (–) Stewart O’Nan Die Chance 19 (16) Ildikó von Kürthy Sternschanze 20 (–) 14 (17) Peter Sloterdijk Die schrecklichen Kinder der Neuzeit Suhrkamp; 26,95 Euro Eichborn; 19,33 Euro 15 (12) Florian Illies 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro Kindler; 16,95 Euro 16 (–) 17 (–) Wunderlich; 19,95 Euro 17 (13) Veronica Roth Die Bestimmung – Letzte Entscheidung 18 (7) Droemer; 19,99 Euro Fischer Krüger; 18,99 Euro Andreas Ulrich Video: Auf den Spuren der ’Ndrangheta Sachbuch Peter Wensierski DVA; 19,99 Euro Die verbotene Reise Hamed Abdel-Samad Der islamische Faschismus Droemer; 18 Euro cbt; 17,99 Euro Rowohlt; 19,95 Euro 18 (14) Axel Hacke Fußballgefühle Wunderlich; 17,95 Euro Marie Lu Legend – Berstende Sterne Loewe; 17,95 Euro Kunstmann; 16 Euro 19 (19) Christine Westermann Da geht noch was Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro 20 (–) Rhonda Byrne The Secret – Das Geheimnis Arkana; 16,95 Euro DER SPIEGEL 32 / 2014 125 Rechtspopulisten Le Pen, Geert Wilders Pfahl ins Herz Essay Demokratisch gewählte Rechtsextreme greifen das liberale Menschenbild Europas an. Künstler sollten es nun verteidigen. Von Lars Brandt 126 DER SPIEGEL 32 / 2014 Wahlerfolg seines Front national auskostete – indem er die Leute vom Fernsehen genüsslich stundenlang vor der Tür warten ließ, weil er lieber weiter telefonieren wollte –, da streifte mich etwas aus der Vergangenheit am Ärmel, etwas, was ich für endgültig begraben gehalten hatte. Doch nun ist er plötzlich wiederauferstanden, der schäbige Triumphalismus im Auftreten der Nazis, den Bild- und Tondokumente uns Nachgeborenen überliefert haben. Immer weniger werden es, die auf der einen oder anderen Seite selbst miterlebt haben, wie es damals losging. Was da in der Luft lag. Lange bevor die von Le Pen zurückersehnten Verbrennungsöfen qualmten und Europa in Schutt und Asche fiel, war einem denkenden Künstler wie Thomas Mann im Prinzip klar, mit wem die Welt es nun zu tun bekommen würde. Um was es sich hinter all dem schwülstigen Geschwafel im Kern handelte – klarer als den meisten derer, die im Unterschied zu ihm in dezidiert politischen Kategorien dachten: „Hass, Rache, gemeine Totschlagslust und kleinbürgerliche Seelenmesquinerie“, so charakterisierte er vor 81 Jahren in einem Brief an Albert Einstein den Nazismus. An all das will Frankreichs Nationale Front anknüpfen. Und wir stehen daneben, staunend, schon halb gelangweilt, weil eine Nachricht die andere jagt und wir von kaum einer mehr richtig ins Gefühl bekommen, was sie uns eigentlich sagt über die Realität. In den Ohren säuselt das einschläfernde Gestammel der Wortführer des politischen Establishments, es handele sich eben um Populismus. Populus, das Volk. Soll das heißen, wir, die Leute, sind in ihren Augen von Natur Faschisten? Gespenster, namentlich die der blutsaugerischen Sorte, haben ein zähes Leben, noch aus dem Grab stehen sie immer wieder auf. Dagegen hilft nur eines, wie wir wissen: ein Pfahl ins Herz. Aber wer besitzt ihn? Politiker? Oder doch eher ganz andere Leute – Künstler? Wiedergänger fügen der Wirklichkeit eine gespenstische Dimension hinzu. Die üblichen Mittel versagen vor der Aufgabe, sich damit zurechtzufinden. Man muss den Spuk berücksichtigen, will man nicht herbe Überraschungen erleben. Und es geht ein Gespenst um in Europa. Nicht jenes, das Marx und Engels vor gut anderthalb Jahrhunderten im Kommunistischen Manifest besangen. Unser Gespenst ist das eines oberflächlich weichgespülten Faschismus, keineswegs aus der Mottenkiste, sondern von heute. Der Kampf läuft längst, auch wenn wir noch schlafen: Faschismus gegen Humanität. Es steht nicht gut. FOTO: VALERIE KUYPERS / AFP G eht es nur mir so? Seit einiger Zeit wächst das Gefühl, als neige sich die Ebene, auf der wir uns bewegen, und die Frage drängt sich auf, wie lange wir noch Halt finden. Wann rutschen wir über die Kante? Unwirklichkeit legt sich über den Kontinent. Womit das anfing, kann ich nicht sagen, es kam leise in Gang. Nach und nach mehrten sich die Anzeichen einer unguten Entwicklung, richtig greifbar aber war lange Zeit wenig. Das hat sich nun geändert – mit dem Ergebnis der Europawahl. In weiten Teilen Europas schossen rechtsextremistische Parteien in die Höhe, oft an den anderen vorbei. Wie in Frankreich. Die Aufregung darüber hat sich schnell gelegt, unheimlich schnell. Ausgerechnet Frankreich. Ganz überraschend kam der 25-Prozent-Erfolg der Nationalen Front ja nicht gerade. Der Gründer der Partei, Jean-Marie Le Pen, hat es ja schon vor zwölf Jahren in die Endausscheidung bei der Wahl des Präsidenten der Republik geschafft. Seine Tochter fraß seitdem ausgiebig Kreide, um die letzten Zentimeter zur Macht auch noch zu nehmen. Denn diese Europawahl, über deren Ergebnis sich kaum jemand wirklich Sorgen zu machen scheint, war wohl zugleich die Generalprobe für den Kampf um den Élysée-Palast. „Politische Fehler“ nannte Marine Le Pen gewisse Bemerkungen ihres Vaters: nämlich dass das Problem der vielen Schwarzen in Afrika vom Ebola-Virus gelöst werde und dass Juden sich als Ofenladung eigneten. Vater und Tochter stellen auf diese Weise sicher, dass auch niemand vergisst, mit wem man es zu tun bekommt. Mit Faschisten. Es gibt wieder einen nennenswerten Faschismus in Europa – und zwar mittendrin, nicht in irgendwelchen abgehängten Winkeln, wo Hoffnungslosigkeit sich ein Ventil sucht. Das ist die Nachricht, die alles verändert. Bis auf unser Bewusstsein. Wir tun, als wäre alles mehr oder weniger so wie immer. Was soll eigentlich noch geschehen, um uns aufzuwecken, frage ich mich. Erstmals seit dem Untergang der Nazis und ihrer Komplizen haben wir es jetzt wieder mit einer europaweiten faschistischen Bewegung zu tun, die in der Lage ist, parlamentarische Mehrheiten zu gewinnen. Die also drauf und dran ist, ganz anders als der nazinostalgische Mob, an den wir uns inzwischen gewöhnt haben, legal in unser Leben einzugreifen und zu bestimmen, wie es weitergeht mit Europa. Uns bringt das alles nicht aus der Ruhe. Wie gesagt, das kam nicht von einem Tag auf den anderen. Man hatte Zeit, sich daran zu gewöhnen. Abzustumpfen. Für vorübergehende Schocks (an die man sich allerdings auch gewöhnt) sorgte jahrelang immer mal wieder faschistischer Schläger- und Mörderpöbel. Im Zentrum der Gesellschaft machten derweil andere sich in Samtpantoffeln auf den Weg. Wie weit sie inzwischen gekommen sind, beginnen wir nun langsam zu merken. Als Journalisten nach der Europawahl dann darüber berichteten, wie der alte Le Pen den Kultur Der Kampf läuft längst, auch wenn wir noch schlafen. Die Glocke hat schneller geklingelt, als wir uns vorstellen konnten – in der wievielten Runde befinden wir uns eigentlich? Dabei prangt es groß angeschlagen über dem Ring: Faschismus gegen Humanität. Gegen europäische Emanzipationsgeschichte. Und gegen alles, was uns etwas wert ist. Es steht nicht so gut. Mit noch so gewieftem Weiterwursteln schaffen wir es diesmal nicht. Kulturvergessenheit hat uns ausgehöhlt. Der Gegner zielt auf unser Glaskinn: auf unseren Hang zum Nicht-wahrhaben-Wollen. Wir Künstler sind zu müde für echte Debatten, für Neugier auf das, was außerhalb des Hauptstroms der vorfabrizierten Gedanken liegt. Betäubt vom Gefühl zunehmenden Bedeutungsverlusts in der realen Welt, in der wir atmen, lieben und dichten, der Welt zum Anfassen außerhalb digitaler Datenströme, halten wir es ihm hin. Doch der diskrete Charme des Politmanagements, das heutzutage am liebsten auf andere Mittel setzt als auf heiße Debatten mit ihren schwer kontrollierbaren Emotionen, mag in manchem Fall sein Ziel erreichen: Hier wird er versagen. Diese Auseinandersetzung reicht in die Tiefe, und deswegen sind nun, auch wenn sie müde geworden sind, andere Kräfte zuständig. Dichter, Tänzer, Filmleute, Maler, Fotografen, Musiker. Zumal es in Wahrheit um anderes geht als die berechtigte Wut der Bürger darüber, was allzu üppig bezahlte Bürokraten in Brüssel ihnen zumuten, um mehr als schwer verständliche Konstruktionsprobleme der Europäischen Union und das demokratisch defizitäre Gestrüpp, in dem sich der Wille des Souveräns, Populus, verliert. Es handelt sich um einen Frontalangriff auf Europas moralisches Rückgrat. Einen Angriff auf das moderne liberale Menschenbild, das hier entworfen wurde und hier auch zu verteidigen ist. Dieses Menschenbild ist nicht isolierte Leistung einzelner Kulturen, sondern die Frucht ihres Zusammenwirkens, und darum eine gemeinsame Verpflichtung. Die Köche in Brüssel und in den Hauptstädten der unierten Länder machen es einem nicht leicht, dem Glauben ans Rezept der europäischen Einigung treu zu bleiben. Die schwer verdauliche Kost aus bürokratischem Irrsinn, stumpfsinniger Gleichmacherei und nationaler Borniertheit stößt den robustesten Essern auf. Immer entnervter fragt man sich, ob denn tatsächlich auf die Quadratur des Kreises hinausläuft, wonach der schlichte Menschenverstand verlangt: Einheit, die Eigenheiten nicht abhobelt, sondern als Schatz an Vielfalt zu nutzen versteht. Einigkeit, die Widersprüche nicht prinzipiell scheut, sondern Funken draus zu schlagen weiß. FOTO: GUNTER GLUECKLICH D ie innergesellschaftlichen Machtverhältnisse haben sich auch bei uns unübersehbar verschoben. Wie viel Politik noch in Berlin und Brüssel gemacht wird oder schon gleich in den Zentralen global agierender Konzerne, kann man nur erahnen. Die Bedeutung demokratischer Wahlen relativiert sich, wenn zu spüren ist, wie oft Politiker nicht wirklich gestalten, sondern, alle am selben Spielkreuz in der Hand unsichtbarer Akteure hängend, bloß so tun als ob. Intellektuelle Debatten und künstlerische Interventionen werden nicht mehr so wichtig genommen, weil das Gerücht um sich greift, der Geist wehe mittlerweile aus anderer Richtung und treibe jetzt Naturwissenschaften, Mathematik, Medizin vor sich her. Im Unterschied zu den diversen Gegnern unserer komplizierten Lebensform ordnet Deutschland (sterilen Sonntagsreden zum Trotz) Kunst und Geist an seiner Peripherie ein. Leute, die sich damit abgeben, gelten als Quantité négligeable, was sie umtreibt, als einigermaßen gleichgültig. Doch woher, wenn nicht aus dem, womit sie sich beschäftigen, aus der Seele nämlich, die sich von nicht domestizierbaren autonomen Gedanken und Träumen nährt, soll die Kraft zur Selbstbehauptung kommen? Sich mit den Großen der Vergangenheit zu schmücken, ob Schiller oder Gryphius, Hölderlin oder Kleist, fällt nicht schwer. Für den geistigen Sprengstoff, der bei ihnen zu holen ist, haben wir keine Verwendung. Wir weichen ihn so lange in Political Correctness ein, bis nur Eierpampe übrig ist. Jean Genets Theaterstück „Die Neger“ sollte für die Neuaufführung auf einer renommierten Bühne in „Die Weißen“ umgetauft werden, weil dunkelhäutigen Mitbürgern der Titel missfiel. Mit der Schärfe kommt uns schlicht und einfach die gern besungene Freiheit der Gedanken abhanden. A ber was sollen dann die Feierstunden zur Bücherverbrennung, was die Krokodilstränen über die Beschränkungen von Kunst und Literatur in den braunen oder roten Diktaturen der Vergangenheit? Kümmern wir uns um die Gegenwart, jeder mit den Mitteln, die seine sind. Dafür müssen wir zur Kenntnis nehmen, was uns heute bedroht. Hören wir einander endlich zu, nicht nur den aalglatten Statements der Roboter im Fernsehen. Lassen wir auf uns einwirken, was Künstler zu zeigen haben, lesen wir die Texte der Autoren. Konzentriert. Antijüdischer Hass regt sich immer unverblümter – und meint in Wahrheit all das, was in Europa für uns alle über Jahrhunderte erkämpft wurde, nicht zuletzt mit jüdischer Beteiligung. Wenn westeuropäische Faschisten ihre Sympathie für ein Russland nicht verhehlen können, das sich anscheinend zum Rammbock der Kräfte berufen sieht, denen diese Art Kultur zuwider ist, handelt es sich wohl auch nicht um einen Zufall. Durchstoßen wir die Oberfläche der Wirklichkeit, auf der die Faschisten von gestern oder heute ihre Stellungen errichten. Setzen wir uns dem anderen aus, das die Kunst ihrem Wesen nach ist. Von ihr, der Kunst, können wir etwas über den Wert der Widersprüche erfahren. Das aber verlangt Rezeptionsfähigkeit. Mit- oder nachmachend haben wir verlernt, das Unbequeme wahrzunehmen und uns darauf einzulassen und dabei zum Beispiel wieder zu erleben, dass auch Schönheit wehtun und dumpfem Wohlbehagen gefährlich werden kann. Künstler haben natürlich nicht dasselbe zu bieten wie Ökonomen, Fußballspieler und Politiker. Verschieden gesponnene und anders gewickelte Gedankenstränge aber sind exakt das, was wir eigentlich brauchen, um mit unserem europäischen Verständnis von Gesellschaft zu bestehen – in einer Welt, die weithin durchaus nicht denselben oder auch nur ähnlichen Idealen (zum Beispiel der Aufklärung) zu folgen gewillt scheint wie wir. Idealen – oder, wie man heute zu sagen vorzieht, Werten –, die eben keine Wimpel sind, die wir uns einfach mal ans Autofenster stecken können. Die vielmehr den roten Faden der Entwicklung unseres Kontinents bilden – hin zu dem, was er heute ist. Und erst recht noch werden könnte. Die geistige Dimension Europas speist sich nicht aus Tagungen politischer Gremien, sondern aus der verqueren Substanz, die schöpferische Einzelgänger schaffen. Wenn wir glauben, das, was diese Einzelgänger geschaffen haben, gehe uns nichts an, werden wir das bitter zu bereuen haben. Irgendwann haben wir vergessen, wer wir sind. Wussten wir Deutschen nicht mehr weiter in und mit unserem eigenen Land, haben wir immer gern nach Westen geschaut – ich meine nach Amerika, England. Nach Frankreich. Doch wir können es uns nicht länger gemütlich machen in dem Gefühl, dass da ja noch westlich des Rheins ein humanistischer Posten Wache schiebt, dass Frankreich Zivilisation und Kultur in Europa garantiert. Und so pfeifen wir uns im dunklen Wald selber etwas vor, um uns Mut zu machen und die Gespenster zu besänftigen, damit sie den Sturm nicht entfachen. Langsam schwant uns nämlich, wie leicht all das gebaut worden und zum Einsturz zu bringen ist, woran wir uns in Europa gewöhnt haben. Brandt, 63, ist Schriftsteller und lebt in Bonn. In seinem letzten Roman „Alles Zirkus“ (Hanser Verlag) geht es auch um das kulturelle Selbstverständnis Deutschlands. Lars Brandt ist ein Sohn des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt (1913 bis 1992). DER SPIEGEL 32 / 2014 127 Feministischer Opa Literaturkritik Verena Stefan, literarischer Star der Siebzigerjahre, porträtiert in ihrem neuen Roman ihren mutigen Großvater. E s war ein überwältigender Erfolg. Eine junge Frau aus Bern, die es nach Westberlin verschlagen hatte, veröffentlichte vor knapp 40 Jahren eine autobiografische Erzählung mit polemischem Unterton, die sich hunderttausendfach verkaufte. Das Buch, ein kleinformatiges Paperback, trug den Titel „Häutungen“ und erschien 1975 im frisch gegründeten Verlag Frauenoffensive. Die anschaulich vorgetragene Überzeugung der Autorin Verena Stefan, damals 28 Jahre alt, von ihr in modischer Kleinschreibung verfasst: Auch in der linken antibürgerlichen Szene gelten Frauen nur etwas, wenn sie „teil eines paares“ sind, sich mit einem Mann verbinden und den „gemeinsamen orgasmus“ kultivieren, um sich gegenseitig zu beweisen, „daß wir zueinander gehören“. Mit dem Satz „ich beherberge keinen mann mehr“, der die radikale Trennung markiert, wurde Verena SteAutorin Stefan fan zur feministischen Ikone, ihr Buch zum viel zitierten Beleg des lädierten Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, Bezugspunkt zahlloser Debatten und Zeitungsartikel über die „Neue Frau“ – das Thema „Frauen entdecken sich“ schaffte es auch auf den Titel des SPIEGEL. Seit rund 15 Jahren lebt die Autorin in Montreal und arbeitet als Dozentin für Kreatives Schreiben. Den eher stillen Büchern, die sie nach ihrem rasanten Debüt veröffentlichte, war ein vergleichbarer Erfolg nicht mehr beschieden, darunter eines über das Leben und Sterben ihrer Mutter mit dem Titel „Es ist reich gewesen“ und der 2007 publizierte Roman „Fremdschläfer“, in dem ihre eigene Krebserkrankung eine wichtige Rolle spielt. In ihrem neuen Buch „Die Befragung der Zeit“ erweist sich Verena Stefan als gereifte Schriftstellerin, die dokumentarische Quellen, eigene Erinnerungen und die Mittel der Fiktion bravourös zu verbinden weiß. Sie schildert die schwierige Ehe ihrer Großeltern, bei denen sie ihre ersten Jahre verbrachte. Und sie erzählt die Geschichte des Großvaters, der als Landarzt in der Schweiz Abtreibungen vornahm, von einer geschwätzigen Patientin verraten und in der Waldau, einer Heilund Pflegeanstalt bei Bern, auf seinen Geisteszustand untersucht wurde – erst 2002 wurde die Kriminalisierung der Abtreibung in der Schweiz mit einer Fristenregelung aufgehoben. 128 DER SPIEGEL 32 / 2014 Sie selbst, informiert Stefan in einer Nachbemerkung, war zwei Jahre alt, als ihr Großvater 1949 verhaftet wurde, und hat „keine persönlichen Erinnerungen an die Ereignisse jenes Sommers“. Als der schwer kranke Mann starb, war die von ihm über alles geliebte Enkelin fünf Jahre alt. Die Autorin, der nur ein vages Bild im Kopf geblieben ist, musste sich für ihr Buch an Briefe von ihm und Tagebuchnotizen ihrer Mutter halten – und an das reichlich vorhandene Aktenmaterial. Nicht weniger als 800 Seiten umfassen die Prozessunterlagen, die Protokolle jener Befragungen und Verhöre, die nicht nur der Arzt über sich ergehen lassen musste, sondern mehr noch – in voyeuristisch gefärbtem Inquisitorenton – die Frauen, denen er in ihrer Not geholfen hatte. Auch Krankenberichte der Klinik Waldau konnte die Autorin einsehen. Im Roman sind Zitate aus diesen Quellen durch Kursivierung kenntlich gemacht, dabei so perfekt eingeflochten, dass sie so gut wie nie den Erzählfluss hemmen. Die Figuren tragen, soweit sie reale Vorbilder haben, andere Namen, auch ist der Zeitrahmen verknappt. Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, in gleitenden Übergängen. Sie spielt von Sommer 1949, als der Arzt Julius Brunner verhaftet wird, bis zum Mai 1950: Da nimmt die Enkelin Rosa ihren Großvater noch einmal an der Hand, streift mit ihm durch Obstwiesen und lässt sich die Welt erklären. Fasziniert ist sie vor allem von seiner Ballonfahrt hoch über der Erde, einem Erlebnis, das der Alte liebvoll ausschmückt. Und vom Geheimnis der Zeit, das er ihr anschaulich darstellt. Die kriminelle Tat hätte ihn ins Zuchthaus bringen können, zumal er als Wiederholungstäter galt, doch hat das Gericht angesichts seines Alters und Verena Stefan seiner Krankheit von einer Verurteilung Die Befragung abgesehen und auch eine endgültige der Zeit Einweisung in die Psychiatrie abgelehnt. Verlag Nagel & Kimche, So stirbt er mit 77, wieder daheim, bis Zürich; 224 Seiten; zuletzt durch Rosas Nähe beglückt. 18,90 Euro. Der Roman holt weit aus. Die sich über Monate erstreckende Befragung in der Waldau, im Hauptteil in Szene gesetzt, rufen in ihm Erinnerungen wach, die bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückreichen. Als junger Arzt assistierte er bei Amputationen – was ihm und seinen Patienten später in seiner Dorfpraxis nicht selten zugutekommen sollte. Brunner ist ein Mann von Mut und Könnerschaft, Entschlossenheit und Eigensinn. Nur in seiner Ehe ist er glücklos. Das empfindet er als das eigentliche Drama seines Lebens, und in der Schilderung des Gezänks und der trostlosen Fremdheit zwischen den Eheleuten kehrt Verena Stefan doch noch einmal zu ihrem ursprünglichen Thema zurück – nur dass sie dem Mann, ihrem Großvater, im Roman nun viel Verständnis entgegenbringt, wenn er etwa über die „Gemütsschwere“ seiner Frau klagt: „Als ob sie mit Eifer darauf bestand, unglücklich zu sein, nur um ihm ihr Unglück vorwerfen zu können.“ Volker Hage FOTO: KATRIN SIMONETT Kultur Medien ZDF Heidemann wird Show-Chef auf Zeit Das ZDF hat Oliver Heidemann, 50, zum kommissarischen Unterhaltungschef ernannt. Das soll er bleiben, bis ein Nachfolger für Oliver Fuchs gefunden ist, der den Sender nach dem Skandal um die gefälschten Ergebnisse der Show „Deutschlands Beste!“ verlassen hat. Ein ZDF-Sprecher bestätigte die Personalie, die intern bereits vorvergangene Woche verkündet worden war. Heidemann arbeitet seit 1999 beim ZDF, der promovierte Musikwissenschaftler verantwortete Shows wie „Echo Klassik“, „Lustige Musikanten“ und zuletzt die „Helene Fischer Show“. Seit Juli 2013 leitet Heidemann die „Wetten, dass ..?“-Redaktion; er wird das einstige Flaggschiff des Senders bis zur letzten Sendung im Dezember weiter betreuen. Beim ZDF geht man davon aus, dass die Suche nach einem neuen Unterhaltungschef Monate dauern könnte. Auch Heidemann werden Chancen auf den Posten eingeräumt. akü TV-Unterhaltung „Summen, die ich verschmerzen kann“ Reiseunternehmer Vural Öger, 72, über die Start-up-Show „Die Höhle der Löwen“ (ab Dienstag, 19. August, 20.15 Uhr, Vox) FOTO: BERND-MICHAEL MAURER / VOX SPIEGEL: In der Sendung kämpfen Nachwuchsgründer darum, dass Sie und vier andere prominente Juroren Geld in deren Firmenidee investieren. Ist das wirklich Ihr eigenes Vermögen? Öger: Ja. Viele junge Leute mit hervorragenden Ideen kommen nicht voran, weil sie von der Bank keinen Kredit bekommen. Denen geben Twitter-Kurzmitteilungen Soziale Netzwerke Auf Entzug Wie sehr die sozialen Netzwerke das Leben von Millionen mittlerweile dominieren, zeigt sich zuverlässig, wenn ein solcher Dienst ausfällt. Als am vergangenen Freitag gegen 18 Uhr Facebook für etliche Nutzer rund um die Erde nicht mehr erreichbar war, brach sich eine Flut von Reaktionen Bahn – auf wir eine Möglichkeit, sich zu verwirklichen. Aber es handelt sich dabei um Summen, die ich verschmerzen könnte, falls es schiefgeht. SPIEGEL: Wie viel haben Sie eingesetzt? Öger: Ich habe rund 400 000 Euro zugesagt. Aber noch nicht alle Geschäfte sind zustande gekommen. SPIEGEL: Warum nicht? Öger: Nach Aufzeichnung der Sendung haben wir alle Firmen genau geprüft, um herauszufinden, wie sie finanziell dastehen: Wie hoch sind ihre Verbindlichkeiten, wie viel Eigenkapital besitzen sie? SPIEGEL: Gab es böse Überraschungen? Öger: Manche Gründer haben falsche Angaben darüber gemacht, wie viele Gesellschaf- einem anderen Kanal des Netzes, dem Kurzmitteilungsdienst Twitter. Von zornig bis besorgt, manchmal lustig. Der Ausfall dauerte keine 30 Minuten – manche Nutzer wirkten dennoch wie auf Entzug. Facebook teilte mit, man wisse, dass viele Leute gerade Probleme hätten, Facebook zu erreichen. Das Unternehmen arbeite daran, so schnell wie möglich wieder Normalität herzustellen. bra ter sie haben. Bei anderen gab es Lizenzprobleme. SPIEGEL: Die meisten Ideen – etwa eine Nagellackierhilfe oder Portemonnaies aus Ökomaterial – wirken nicht wie bahnbrechende Erfindungen. Öger: Stimmt. Deshalb bin ich in beiden Fällen nicht eingestiegen. Es waren einige Ideen dabei, die meiner Meinung nach eher unterhaltsam sind, aber kein Potenzial für ein erfolgreiches Geschäftsmodell haben – wie die eines Bastlers, der Zahnpasta durch ein komisches Pulver ersetzen wollte. SPIEGEL: Klingt nach „Deutschland sucht den Superstar“ für Betriebswirte. Öger: Das ist nicht vergleichbar. „Die Höhle der Löwen“ ist keine Castingshow. Und ich bin kein Dieter Bohlen. Castingshows kann ich mir nicht länger als eine Minute anschauen. In unserer Sendung gibt es durchaus seriöse Unternehmer, die mit uns auf Augenhöhe verhandeln und ein tragfähiges Geschäftsmodell haben. Für den Zuschauer wird der Lerneffekt groß sein. SPIEGEL: Sie fungieren als eine Art Mentor. Wie helfen Sie Ihren Schützlingen nach Drehschluss? Öger: Mit meinem Netzwerk. Ich habe beispielsweise vor, in eine Firma zu investieren, die vegetarisches indisches Essen vertreiben will. Ich kann mir vorstellen, dass wir deren Gerichte in unseren Hotels und Charterflugzeugen anbieten. akn DER SPIEGEL 32 / 2014 129 Treffpunkt für Raumschiffpiloten im Computerspiel „Star Citizen“ (Konzeptzeichnung) Der 49-Millionen-Dollar-Mann D ie südkalifornische Sonne haben sie einfach ausgesperrt, wozu gibt es schließlich Jalousien. Rechner surren, Tasten klackern, eine Klimaanlage hat den Raum auf 22 Grad Celsius heruntergekühlt. Es sind einige Nerd-Klischees zu besichtigen, hier im Hauptsitz des Computerspiele-Entwicklers Cloud Imperium Games: blasse Männer in Comic-T-Shirts, auf den Schreibtischen thronen Super-Mario-Figürchen und Fantasy-Miniaturen. Es ist eine abgeschottete Welt, die sich das Team um den Computerspiele-Designer Chris Roberts, 46, in einem Hinter130 DER SPIEGEL 32 / 2014 hofbüro mitten in der Fußgängerzone von Santa Monica nahe Los Angeles errichtet hat. Eine Welt, in der Wörter umherfliegen, die für Außenstehende so verständlich sind wie Klingonisch für Erdbewohner; und in der die Frage, ob man Konsolenoder PC-Spiele bevorzugt, so lebensentscheidend ist wie die Wahl zwischen Beatles und Stones. Hier also werkeln Programmierer, Grafiker und Autoren an einem ambitionierten Projekt: einer Weltraumsimulation für den PC, angesiedelt in einer fernen Zukunft, in der Spieler per Raumschiff durch hundert Sonnensysteme navigieren, Außerirdische bekämpfen, Planeten entdecken. „Star Citizen“ heißt das Spiel, Sternenbürger. Ende nächsten Jahres soll es fertig sein. Es ist der Jungstraum schlechthin: einmal Luke Skywalker sein. Roberts, breite Oberarme, kleines Bäuchlein, sitzt an seinem Schreibtisch, vor sich zwei riesige Bildschirme und eine neongrün leuchtende Tastatur. Er sieht aus wie ein Raumschiffkapitän. Auch Roberts ist ein Nerd. Als er später für den Fotografen posiert, lässt seine Hand ein Raumschiffmodell durch die Luft FOTO QUELLE: CLOUD IMPERIUM Unterhaltung Der Amerikaner Chris Roberts gilt als Pionier der Computerspiele-Branche. Nun hat er per Crowdfunding eine Rekordsumme eingesammelt. Damit entwickelt er eine Weltraumsimulation, in der sich die Spieler fühlen sollen wie Luke Skywalker. FOTO: ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL Medien Videospiele sind längst zu einem Mas- zigerjahre kreierte er die Reihe „Wing senmedium avanciert – und die Hersteller Commander“, in der es katzenartige und Vermarkter zu mächtigen Akteuren Aliens vom Volk der Kilrathi abzuschießen der Unterhaltungsindustrie. 102 Milliarden galt. Aus heutiger Sicht wirkt die Grafik Dollar soll die Branche in diesem Jahr laut so fortschrittlich wie ein Scheibentelefon, einer Prognose des Marktforschungsunter- doch damals kauften viele eigens dafür einehmens Gartner weltweit umsetzen, nen leistungsstärkeren PC. Seine Fans halmehr als die Filmwirtschaft. Die Filme ten Roberts für das Genre des Science-Fic„Avatar“ und „Titanic“ haben zwar insge- tion-Computerspiels so prägend wie Bram samt mehr eingespielt als jedes Videospiel, Stoker für den Vampirroman. Der Verkauf der Entwicklerfirma Origin doch die Spieleindustrie holt auf: Das Konsolenspiel „Grand Theft Auto V“ setzte Systems, an der Roberts Anteile besaß, im vergangenen Jahr eine Milliarde Dollar und seiner Rechte an „Wing Commander“ machten ihn reich. Später versuchte er sich um – in den ersten drei Tagen. Dominiert wird der Markt von einer als Regisseur und Produzent in Hollywood, Handvoll sogenannter Publisher, vergleich- unauffällig bis erfolglos. Seine Verfilmung bar mit Filmproduzenten, die ein Spiel von „Wing Commander“ floppte. Die finanzieren und vertreiben. Konzerne wie Bösewichte „sehen aus wie Figuren aus Electronic Arts („Fifa“-Reihe) oder Activi- ,Cats‘, die man mit einer schleimigen, grüsion („Call of Duty“) geben Spiele in Auf- nen Kunstlederhaut bezogen hat“, lästerte trag, sie besitzen die Rechte – und sie das Branchenblatt Variety damals. kassieren einen Großteil der Erlöse. Konzeption und Umsetzung eines Spiels übernehmen hingegen in der Regel eigenständige Entwicklerfirmen, deren Überleben vom Wohlwollen der Publisher abhängt. Weil Produktion und Marketing eines Spiels mitunter mehrere Hundert Millionen Dollar verschlingen, sind die Studios vorsichtig geworden. Statt zu experimentieren, setzen sie auf Fortsetzungen bewährter Spiele – ähnlich wie HollywoodStudios, die auch lieber den siebten Teil der „X-Men“-Reihe drehen als ein neues Sozialdrama. An diesen Regeln rüttelt Roberts nun heftig. Das Geld seiner Anhänger hat ihn unabhängig gemacht, auch wenn er mit Spielemacher Roberts seinem Budget noch immer ein Underdog ist. Spiele werden zudem nicht mehr nur im Handel verkauft, sondern größtenteils Seine neue Idee verfolgt Roberts mit digital. Das ermöglicht den „Star Citizen“gleiten, das einem Phallus ähnelt. Dabei Machern, ihr Spiel ohne Zwischenmakler großer Entschlossenheit. Ständig läuft er zwischen seinem Büro und den Schreibgibt er Schussgeräusche von sich. Einmal im Netz zu vertreiben. Auch andere Entwickler hat die Macht tischen der Mitarbeiter hin und her. Zwiverlor Roberts eine Wette gegen einen Kollegen. Sie hatten darüber gestritten, wie des Schwarms beflügelt. Tim Schafer, wie schendurch konferiert er mit den Außenviele Exemplare eines Spiels sie verkaufen Roberts ein Branchenveteran, hat mehr als büros, er ist Chef von mehr als 200 Mitarwürden. Der Wetteinsatz: Roberts’ Por- drei Millionen Dollar für eine Idee ein- beitern. Wie viel er arbeite? „In Frankreich gesammelt, für die große Studios ihn aus- würden sie mich ins Gefängnis stecken.“ sche. Mit einer „Star Citizen“-Tasse in der Das neue Vorhaben des Amerikaners ist gelacht hätten, wie er sagt. Die kleine Breauch deshalb kühn, weil es versucht, das mer Firma King Art Games hat für zwei Hand baut sich Roberts vor dem Arbeitswirtschaftliche Machtgefüge innerhalb der Projekte immerhin über 400 000 Dollar platz des Chefautors auf, der einen kurzen Film abspielt: eine Mondlandschaft. Ein Spieleindustrie umzukrempeln und die von ihren Anhängern bekommen. Aber „Star Citizen“ hat alle abgehängt. Rudel Außerirdischer schlägt mit einem Branchengrößen zu attackieren. Die Entwicklung des Spiels finanzieren Das Spiel ziele auf Fans ab, die seit Lan- länglichen Steinwerkzeug auf einen Rieausschließlich die Fans. Rund 500 000 Men- gem zocken und nun die finanziellen Mit- senkrebs ein. Im Hintergrund dröhnen Bläschen haben Roberts’ Firma einen Vor- tel haben, sich das Spiel ihrer Träume bau- ser und donnern Pauken. Das Werkzeug schuss gegeben, manche 30, einige mehre- en zu lassen, sagt Heiko Klinge, Chefre- fliegt durch die Luft, es dreht sich und verre Hunderttausend Dollar. Im Gegenzug dakteur des Fachmagazins Making Games. wandelt sich in ein Raumschiff. Eine Parokönnen die Anhänger Teile des Spiels Tatsächlich sind die überwiegend männ- die des Science-Fiction-Klassikers „2001: herunterladen, noch bevor es vollständig lichen Unterstützer mehrheitlich zwischen Odyssee im Weltraum“. Roberts’ Blick klebt am Bildschirm, er freut sich wie ein fertig ist, und im Raumschiff ihrer Wahl 25 und 35 Jahren alt. Doch ohne Roberts, Kopf des Projekts kleiner Junge. darin herumfliegen. 49 Millionen Dollar Das Video ist ein Internetwerbespot für hat „Star Citizen“ bislang innerhalb von und Identifikationsfigur, hätten wohl nicht ein Raumschiffmodell, spezialisiert auf Erknapp zwei Jahren eingesammelt, so viel so viele ihr Geld gegeben. In Roberts’ Büro hängen gerahmte Pla- kundungsmissionen im All. Noch ist der wie kein anderes Crowdfunding-Projekt kate seines Frühwerks. Anfang der Neun- Clip nicht veröffentlicht, doch wenn es so zuvor. Und ein Ende ist nicht in Sicht. DER SPIEGEL 32 / 2014 131 Mitarbeiter des Spieleentwicklers Cloud Imperium Games in Santa Monica Blockbuster Budgets der bislang teuersten Videospiele* Destiny Sept. 2014 500 Millionen Dollar Grand Theft Auto V 2013 265 Millionen Dollar *inkl. Entwicklung und Marketing Quelle: Schätzungen von Branchenkennern Call of Duty: Modern Warfare 2 2009 Star Wars: The Old Republic 2011 Final Fantasy VII 1997 mehr als bis zu 200 200 145 Millionen Dollar Millionen Dollar Millionen Dollar läuft wie meistens, dann werden Tausende schiffe halbwegs den Gesetzen der Physik Fans ihn auf dem YouTube-Kanal des Un- gehorchen – sich etwa die Flugeigenschafternehmens anschauen. Er wird sich im ten eines Gefährts verändern, wenn es im Netz verbreiten und die Begehrlichkeit Kampf ein Triebwerk verliert. Der Mann hat Fluglenkungstechnik studiert, er könnweiter anheizen. Die sozialen Medien sind für Spieleent- te auch in der Satellitenindustrie arbeiten. Für ungeübte Spieler sind jene Teile von wickler ein gleichsam wichtiges wie kostengünstiges Marketinginstrument: Die „Star Citizen“, die schon fertig sind, allerFans machen im Netz Werbung für ein dings kein Vergnügen. Im Raumschiff sitSpiel, umsonst und getrieben von ihrer Be- zend soll man feindliche Alien-Schwärme abschießen und dabei Kollisionen mit Asgeisterung. Besonders viele Nutzer lockt die Strea- teroiden und Weltraumschrott vermeiden. ming-Plattform Twitch an, die Google an- Tatsächlich gleicht der Flug einer Autogeblich für eine Milliarde Dollar überneh- fahrt im trunkenen Zustand. Schon nach men will. Auf Twitch gucken Menschen ein paar Minuten hat man das eigene anderen Menschen per Livestream dabei Schiff so zerstört, dass es sich kein Stück zu, wie sie am Computer spielen. Das mehr bewegen lässt. Spieler, die sich ähnlich ungeschickt anklingt öde, doch große Spieleturniere erstellen, können ihr Gefährt vorsichtshalber reichen dort mehr als 100 000 Zuschauer. Der Werbespot soll später außerdem im mit Schnickschnack ausstatten, der es roSpiel zu sehen sein, als Fiktion innerhalb buster macht. Aber die Extras kosten – ein der Fiktion. Die Macher haben ein Kon- in der Branche übliches Geschäftsmodell, strukt um „Star Citizen“ herumgebaut, das so auch bei „Star Citizen“. Für den Zugang zum Spiel ist ein eindarauf abzielt, die Fans zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenzuschwei- maliger Betrag fällig. Wer jedoch Raumßen, den Bewohnern des „United Empire schiffe besitzen möchte, die genauer zielen oder mehr Fracht transportieren als andeof Earth“. Jedem Unterstützer wird eine Karte ge- re, kann sie sich entweder mühsam wähschickt, mit der er sich als Bürger des „Ver- rend des Spiels verdienen oder hinzukaueinigten Erd-Imperiums“ ausweisen kann. fen. Das Modell „Constellation“ etwa, das Hersteller der Raumschiffe ist unter ande- sich durch „seine außergewöhnliche Wenrem die fiktive Firma Roberts Space Indus- digkeit“ und sein „anpassungsfähiges Waftries, die laut Eigendarstellung „im frühen fensystem“ auszeichnet, ist schon ab 225 Dollar zu haben. 22. Jahrhundert“ gegründet wurde. Ums Geschäft kümmert sich bei Cloud „Ich möchte, dass die Spieler sich fühlen, als würden sie tatsächlich in dieser Welt Imperium Games ein Deutscher. Ortwin leben“, sagt Roberts. Ein Mitarbeiter tüf- Freyermuth, 55, sitzt in einem feinen Retelt beispielsweise daran, dass die Raum- staurant mit Blick auf die Strandpromena132 DER SPIEGEL 32 / 2014 de von Santa Monica. Freyermuth, kleine Statur, Haifischlachen, ist Anwalt und lebt seit 30 Jahren in Los Angeles. Er berät Filmproduzenten in rechtlichen Fragen und setzt Verträge mit Schauspielern auf. Roberts und er begegneten einander in Hollywood. Weil Freyermuth Science-Fiction-Fan ist, stieg er in Roberts’ Firma ein. Freyermuth versichert, dass jeder Cent der Fans in die Entwicklung des Spiels fließe und die Firma weit davon entfernt sei, Gewinn zu machen. Doch wenn das Spiel richtig gut werde, mache er sich ums Geldverdienen keine Sorgen, sagt er. Die Überlegung dahinter: Spiele wie „World of Warcraft“ oder „Eve Online“ entfalten solch einen Sog, dass die Nutzer auch Jahre nach dem Erscheinen für sie zahlen. Es wäre untertrieben, die Anhänger von „Star Citizen“ völlig verrückt zu nennen. Kürzlich tauchte im Büro in Santa Monica ein Fan auf. Er war mit dem Auto 24 Stunden von Idaho im Norden der USA nach Südkalifornien gefahren. Der Mann wollte Roberts unbedingt ein Geschenk überreichen: ein handgeschmiedetes Messer. Roberts hat es auf einem Schränkchen hinter seinem Schreibtisch ausgestellt. Kurz nach zwölf Uhr öffnet sich die Tür am Empfang des Firmensitzes. Ein Mann mit Ziegenbart und Cowboyhut schiebt seinen Rollstuhl über die Schwelle. Sein Name ist Fox Anderson – so heißt er wirklich – und er ist wohl einer der besessensten unter all den fanatischen „Star Citizen“-Anhängern. 20 000 Dollar hat Anderson, 36, für das Spiel gespendet. Nun hat er auch noch neun wagenradgroße Pizzen mitgebracht, weil er den Entwicklern danken möchte, wie er sagt. Während die anderen Pizza essen, lässt Roberts auf sich warten, Anderson ist nervös. „Meine Freundin ist ein großer ,Star Wars‘-Fan“, ruft er in den Raum hinein, „sie hat zuerst nicht kapiert, warum ich Chris so toll finde. Irgendwann hat sie gesagt: ,Verstehe, Chris Roberts ist dein George Lucas.‘“ Später erzählt Anderson, er sei wohlhabend und habe auch andere teure Hobbys, doch mit „Star Citizen“ befasse er sich acht Stunden täglich. Wenn er einen Bug entdecke, einen Fehler, schaue er sofort im Fanforum nach, ob dieser schon jemandem aufgefallen sei. Er spricht davon wie von einem schwierigen Job. Anderson erzählt, dass er vor neun Jahren angeschossen wurde. Weil eine Kugel seine Wirbelsäule traf, sitzt er im Rollstuhl. Anderson kann nicht mehr laufen, aber in „Star Citizen“, einem Computerspiel, kann er fliegen. Ann-Kathrin Nezik Video: Ein erster Einblick in „Star Citizen“ spiegel.de/app322014videogamer oder in der App DER SPIEGEL FOTO: ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL Medien Nachrufe FOTOS: CARMEN JASPERSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.L.); MARCUS KRÜGER / ACTION PRESS (U.L.); JÖRG CARSTENSEN / DPA (M.) GERT VON PACZENSKY, 88 Wenn der Mann mit dem Schnauzer auf dem Bildschirm erschien, wurde es für die Zuschauer informativ und für Politiker ungemütlich. „Panorama“, das er 1960 beim NDR mit begründete, war das erste deutsche Polit-Magazin. Berühmt wurde Paczenskys Moderation: „Nun wollen wir uns noch ein wenig mit der Bundesregierung anlegen.“ Nachdem sich insbesondere die CDU regelmäßig über Paczensky beschwert hatte, HARUN FAROCKI, 70 Den schönen Bildern hat er sich verweigert, denn er wollte sein Publikum aufrütteln, nicht einlullen. 1944 im heute tschechischen Nový Jičín geboren, landete der Sohn einer Sudetendeutschen und eines Inders 1966 im ersten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, wo er genug politische Unruhe stiftete, um 1968 mit Kommilitonen wie Wolfgang Petersen und Holger Meins vorübergehend vom Studium ausgeschlossen zu werden. Noch vor seinem Abschluss machte er sich mit Kurzfilmen wie der NapalmDokumentation „Nicht löschbares Feuer“ einen Namen in der Agitprop-Szene, um später zu einem der wichtigsten Dokumentarfilmer Deutschlands aufzusteigen. Seine großen Themen waren Krieg und Kapitalismus, doch auch mit Beiträgen für die „Sesamstraße“ und als langjähriger Autor der Zeitschrift „Filmkritik“ verdiente er sein Geld. Weil seine kühle, analytische Art des Filmemachens es im Kino schwer hatte, waren seine Arbeiten später eher in Museen zu sehen, zweimal war er Gast der Documenta. Als CoDrehbuchautor des Regisseurs Christian Petzold war er bei Filmen wie „Gespenster“ (2005) und „Barbara“ (2012) letztlich doch noch mit verantwortlich für einige der schönsten Bilder, die das deutsche Kino hervorgebracht hat. Harun Farocki starb am 30. Juli in der Nähe von Berlin. das HANS-HERMANN SPRADO, 58 Nachts, wenn der Redaktionsbetrieb ruhte, schrieb er Krimis – und war seinem Tagesgeschäft damit wieder sehr nah. Denn auch das Wissensmagazin P.M., das Sprado verantwortete, sollte den Leser fesseln wie ein Kriminalfall, ob es um die Inka ging, das All oder die Schwarzen Löcher der Ozeane. Sprados Helden waren die großen amerikanischen Schriftsteller wie Ernest Hemingway oder John Irving, deren signierte Erstausgaben er sammelte. Wie man Kompliziertes einfach ausdrückt, hatte er bei den Bremer Nachrichten gelernt, vor allem aber während seiner zwei Jahre bei Bild. Danach arbeitete er bei der Bunten und in der Chefredaktion des Modemagazins Marie Claire. 1994 kam er zu P.M., wo er als Chefredakteur und später auch als Herausgeber wirkte. Sprado, der sich für Geschichte ebenso interessierte wie für Menschen, entwickelte P.M.-Ableger wie Biografie oder History. Seine Redakteure schätzten „Hannes“, wie sie ihn nannten, für seine leise Art. Hans-Hermann Sprado starb am 24. Juli in der Nähe von Bremen. akü lehnte der NDR-Verwaltungsrat 1963 dessen Vertragsverlängerung ab. Nach einem Jahr beim Stern und der Gründung einer eigenen Zeitschrift wechselte Paczensky zu Radio Bremen, wo er Chefredakteur wurde und den Talk „3 nach 9“ moderierte. Auch als Gastrokritiker machte er sich einen Namen. Sein Buch über Cognac trug ihm die Ehrenbürgerschaft der gleichnamigen französischen Stadt ein. Gert von Paczensky starb am 1. August in Köln. akü JULIO GRONDONA, 82 „Don Julio“ nannten sogar Spitzenpolitiker den medienscheuen Netzwerker ehrfurchtsvoll. 35 Jahre lang knüpfte er als hochrangiger Sportfunktionär weltweite Kontakte, zunächst als Boss des argentinischen Fußballverbands Afa, später auch als Vizepräsident des Weltverbands Fifa. Vielleicht war dies der Grund, warum er etliche Affären so schadlos überstehen konnte. Jedoch haftete ihm immer der Verdacht an, er sei als Fifa-Zuständiger für Finanzen und Marketing in Korruption und Geldwäsche verwickelt. Er prahlte sogar damit, dass er häufiger als Al Capone verklagt, aber nie bestraft worden war. Don Julio brachte es zu einem beträchtlichen Vermögen. 2011 ermittelte die Finanzaufsicht, dass er rund hundert Millionen Dollar auf ausländischen Konten gebunkert hatte. Woher das Geld stammte, blieb sein Geheimnis. Julio Grondona starb am 30. Juli in Buenos Aires. rab FRANZ VÖLKL, 87 Der gebürtige Niederbayer war ein Visionär, machte um sich selbst aber wenig Aufheben. „Immer schön am Boden bleiben“ lautete sein Lebensmotto. Es passte genau zu seiner Passion, dem Skifahren, weil Abheben dort schnell gefährlich werden kann. Der von ihm entwickelte schwarzgelb gemusterte „Renntiger“ erreichte in den Siebzigern unter Wintersportlern Kultstatus. Schon zuvor hatte der Straubinger in der väterlichen Firma erstmals Skier im Zebradesign produziert und damit die Konkurrenz schockiert – nicht aber seine Kunden: Die rissen ihm die schnellen Bretter aus den Händen. Als einer der ersten Hersteller weltweit bot Völkl auch Kunststoff- und Carbonski an, die selbst Anfängern halfen, auch steilere Berge heil hinunterzukommen. Anfang der Neunzigerjahre ging die Erfolgssträhne des Familienbetriebs Völkl wegen schleppender Nachfrage zu Ende. Finanzinvestoren und Wettbewerber übernahmen die Firma. Ihr ehemaliger Chef und Eigentümer blieb ihr trotzdem bis zuletzt eng verbunden. Franz Völkl starb am 26. Juli in Straubing. did DER SPIEGEL 32 / 2014 135 Katzen-Glamour Sie hat zwei Zofen, sie reist im Privatjet, und sie ist ein Star: Choupette, fast drei Jahre alt, Hauskatze des Designers Karl Lagerfeld, 80, hat auf Twitter, Facebook und Instagram eine ansehnliche Gefolgschaft. Lagerfeld setzt dem Kätzchen nun ein Denkmal in Buchform. Im September erscheint „Choupette: The Private Life of a High-Flying Fashion Cat“, ein 128 Seiten starker Band über Tagesabläufe, Speisepläne und modische Accessoires der wohl verwöhntesten Katze der Welt. Es heißt, sie besitze eine Handtaschensammlung von Louis Vuitton. Bald wird Choupette einen Beitrag zur Finanzierung ihres Luxuslebens leisten können: Es ist eine Kosmetiklinie in Vorbereitung, die als Kooperation der Katze mit der japanischen Kosmetikfirma Shu Uemura angekündigt wird. „Shupette“ soll zum Beispiel flauschige falsche Wimpern für Menschenaugen im Programm haben. ks Verwöhnt, realitätsfremd und nicht besonders intelligent – so sehen viele die Hotelerbin Paris Hilton, 33. Als sie jünger war, habe sie das oft verletzt, jetzt würde sie „einfach lachen“, sagte die Milliardärin dem Sunday Telegraph. Nur die Behauptungen, sie bekomme immer alles von ihren Eltern geschenkt, ärgerten sie nach wie vor: „weil es absolut nicht stimmt“. Hilton, die ihr Geld unter anderem mit dem Verkauf von Parfum, Unterwäsche und Schuhen verdient, wird nicht müde, weitere Einnahmequellen zu erschließen. Sie hat nicht nur eine neue Single („Come Bescheidene Klage Die beiden Mitglieder der russischen Protestband Pussy Riot, Marija Aljochina, 26, und Nadeschda Tolokonnikowa, 24, fordern Schadensersatz von Russland. Aljochina und Tolokonnikowa waren wegen einer Performance in einer Kirche in ihrer Heimat im Jahr 2012 zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Schon während der Gerichtsverhandlung damals hatten die Aktivistinnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Klage gegen den Kreml eingereicht. Sie mussten fast die gesamte Strafe absitzen, erst nach 21 Monaten kamen sie wieder frei. Ihre Schadensersatzforderung beläuft sich auf insgesamt 250 000 Euro. Tolokonnikowas Vater begrüßt die Entscheidung, findet die Forderung aber zu bescheiden: „Sie sollten 250 Millionen Euro fordern.“ red Gabrielle Giffords, 44, amerikanische Politikerin, die im Januar 2011 bei einem Attentat mit einem Schuss in den Kopf lebensgefährlich verletzt worden war, initiierte mit einer Petition die erste Anhörung zum Thema Waffen und häusliche Gewalt in der Geschichte des US-Senats. Demokratin Giffords trat früher für liberale Waffengesetze ein, jetzt verlangt sie schärfere Kontrollen, um den Schusswaffenerwerb für häusliche Gewalttäter ausschließen zu können. Frauen in den USA sterben elfmal häufiger infolge von Schusswaffengebrauch als Frauen in anderen Industrienationen. ks 136 DER SPIEGEL 32 / 2014 Alive“) herausgebracht, sondern will international auch als DJ glänzen: am 6. August im Klub Amnesia auf Ibiza. Nach ihrem Auftritt im vergangenen Sommer waren die Reaktionen allerdings gemischt: Während ein Kommentator sie als „lustig und hübsch“ beschrieb, meinte ein anderer, ihre Anwesenheit bedeute „das Ende von Ibiza“. ks Jon Bon Jovi, 52, amerikanischer Rockstar, hat sich eine ganze Stadt zum Feind gemacht: In Buffalo City gibt es eine Bürgerinitiative, die „Bon-Jovi-freie-Zonen“ fordert, seine Songs werden im Lokalradio boykottiert. Der Musiker steht an der Spitze einer Investorengruppe, die das legendäre Footballteam Buffalo Bills kaufen und die Mannschaft in einen anderen Ort umsiedeln will. Die Buffalo Bills aber sind der ganze Stolz der Stadt. Die Mannschaft steht zum Verkauf, weil der bisherige Besitzer verstorben ist. Geschätzter Wert: eine Milliarde Dollar. red FOTOS: QUELLE: FACEBOOK (O.); MICHAEL REYNOLDS / DPA (L.); PAUL J. FROGGATT / FAMOUS / BABIRADPICTURE (R.); PHOTOPRESS.AT (U.L.); SONIA MOSKOWITZ / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.R.) Ibizas Ende? FOTOS: BESTIMAGE (O.); REX FEATURES / ACTION PRESS (U.L.); FREDERIK VARFJELL / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.R.) Personalien Verliebt ohne Helm Der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy, 59, der sein politisches Comeback von einem Ermittlungsverfahren wegen Korruption gefährdet sieht, pflegt gern sein jugendliches Image in der Öffentlichkeit. Daher dürfte ihm eines der letzten Cover des auflagenstarken Magazins Paris Match gefallen haben: Es zeigt den früheren Staatschef mit Ehefrau Carla Bruni, 46, auf einer blauen Vespa in Südfrankreich, spor- tiv und doch entspannt. Aber das Foto der „beiden Verliebten in den Ferien“, wie Paris Match schrieb, zog nicht nur wohlwollende Kommentare nach sich. Es provozierte auch eine aufgeregte Diskussion auf Twitter, denn Fahren ohne Helm wird in Frankreich mit einer Geldstrafe von 135 Euro pro Person und mit Strafpunkten geahndet. „Sarkozy braucht seinen Helm erst vor dem Richter“, schrieb ein Bürger. Ob nach dem Paris Match-Cover tatsächlich ein Strafzettel im Haus der Sarkozys ankam, ist nicht bekannt. pe Sarah West, 41, erster weiblicher Kommandant der britischen Kriegsmarine, musste Ende Juli ihre Fregatte HMS „Portland“ mit 185 Mann Besatzung verlassen, weil ihr eine Affäre mit einem ihrer Offiziere vorgeworfen wird. Sexuelle Beziehungen sind bei der Royal Navy keine Seltenheit und erlaubt, solange sie die „operative Wirksamkeit“ des Einsatzes nicht beeinträchtigen. Im Fall West jedoch stehen die moralische Integrität und Autorität der Kommandantin zur Debatte: Ihr angeblicher Liebhaber ist frisch verheiratet. Der Fall wird nun von der Royal Navy untersucht. ks Jens Stoltenberg, 55, ehemaliger Ministerpräsident Norwegens und zukünftiger Nato-Generalsekretär, trauert öffentlich um seine Schwester Nini, die vergangene Woche im Alter von 51 Jahren an Herzversagen verstorben ist. „Kleine Schwester Nini, ich werde dich vermissen“, twitterte der Sozialdemokrat. Nini war lange Jahre das Sorgenkind der Familie: Schon mit 12 Jahren begann sie, Haschisch zu rauchen, wurde schwer heroinabhängig. Ihr Vater, Exaußenminister Thorvald Stoltenberg, hielt zu ihr; sie wurde Juristin und setzte sich für die Entkriminalisierung von Drogen in Norwegen ein. gt DER SPIEGEL 32 / 2014 137 Hohlspiegel Aus der Celleschen Zeitung: „Der Überfall kommt für das Schreibwarengeschäft zur Unzeit.“ Weinbeschreibung in einem EdekaMarkt in Offenburg Aus der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung: „Sechs Jahre alt war Rojinski, als sie im März 1991 mit ihren russisch-jüdischen Eltern und der neun Jahre jüngeren Schwester aus Russland nach Berlin zog.“ Aus der Rhein Main Presse Aus den Kieler Nachrichten: „Da glühten Farben und Synkopen, reihte sich eine wunderbare Cellopassage an Coralie Commons Marimba-Solo und bescherte die berühmte Stecknadel im Heuhaufen.“ Rückspiegel Zitate Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGEL-Essay „Hausaufgaben statt Hass“ von Raed Saleh (Nr. 31/2014), der Antisemitismus mit aktiver Integrationspolitik bekämpfen will: In einem hellsichtigen Text in der jüngsten Ausgabe des SPIEGEL hat Raed Saleh, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus, auf die Zusammenhänge zwischen fehlender Bildung und politischer Radikalisierung hingewiesen und geradezu leidenschaftlich dafür plädiert, „den sozialen Aufstieg der jungen Leute mit fremden Wurzeln zu organisieren“ … Keine Ahnung, ob sein SPIEGEL-Text von irgendjemand ins Arabische übersetzt wird. Aber vielleicht hätte einer, der selber palästinensischer Herkunft ist, in der Heimat seiner Eltern mehr Chancen, gehört zu werden, als US-Amerikaner oder Deutsche. Die französische Tageszeitung „Le Monde“ zum SPIEGEL-Bericht „EZB auf Kurs der Bundesbank“ (Nr. 31/2014): Laut dem deutschen Magazin SPIEGEL unterstützt die Europäische Zentralbank die deutsche Bundesbank in ihrem Ruf nach höheren Löhnen in Deutschland. Früher war die Zentralbank eine Verfechterin der Lohnmäßigung, nun macht sie sich Sorgen wegen der niedrigen Inflation in der Eurozone. Der SPIEGEL berichtete … … in Heft 20/2014 „Bienchen in Gefahr“ über Vorwürfe, dass Kleinkinder in der Barbara-Strell-Kindertagesstätte im oberbayerischen Kolbermoor von Mitarbeitern grob behandelt und vernachlässigt wurden. Schild vor einem Bekleidungsgeschäft in Tegernsee Aus dem Badischen Tagblatt: „Im Schlaf soll eine 67-Jährige mit einem Fliesenschneider auf ihren Ehemann eingeschlagen und dann mehrmals mit einem Messer auf ihn eingestochen haben.“ Aus der Kreiszeitung Wesermarsch 138 DER SPIEGEL 32 / 2014 Anfang Juli entzog das Jugendamt der Kita die Betriebserlaubnis für die Krippengruppen. Die Leiterin wurde von ihren Aufgaben entbunden. Es war einmal ... Die „Bild“-Zeitung zur SPIEGEL-Kantine: Das berühmte Innenleben in Orange ist schon seit dem Auszug der Redaktionen 2011 nicht mehr da. Jetzt wird die SPIEGEL-Kantine ganz abgerissen. Der Großteil ist schon weggeknabbert. Die 1969 gestalteten Speisesäle haben eine neue Heimat im aktuellen SPIEGEL-Haus und im Museum für Kunst und Gewerbe.