Auferstanden aus Ruinen
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Auferstanden aus Ruinen
Gründung der DDR: Auferstanden aus Ruinen Vor 60 Jahren Neues Deutschland und Rosa-Luxemburg-Stiftung 7. 7. Oktober 2009 * »Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück ...«, wusste Homer über den mythischen Helden zu be- Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muß uns doch gelingen, Daß die Sonne schön wie nie |: Über Deutschland scheint. :| richten. War das Mühen von Millionen DDR-Bürgern vergleichbar der Sisyphosarbeit? »Die Flucht des Sisyphos« heißt diese Arbeit von Wolfgang Mattheuer von 1972. Vision der Massenflucht ’89? Die in dieser Beilage veröffentlichten Gemälde stammen aus der im Verlag Neues Leben erschienenen Mappe »40 Kunstwerke aus der DDR« (36x52 cm, 49,90 ¤). Glück und Frieden sei beschieden Deutschland, unserm Vaterland. Alle Welt sehnt sich nach Frieden, Reicht den Völkern eure Hand. Wenn wir brüderlich uns einen, Schlagen wir des Volkes Feind! Laßt das Licht des Friedens scheinen, Daß nie eine Mutter mehr |: Ihren Sohn beweint. :| Laßt uns pflügen, laßt uns bauen, Lernt und schafft wie nie zuvor, Und der eignen Kraft vertrauend, Steigt ein frei Geschlecht empor. Deutsche Jugend, bestes Streben Unsres Volks in dir vereint, Wirst du Deutschlands neues Leben, Und die Sonne schön wie nie |: Über Deutschland scheint. :| Text der DDR-Hymne von Johannes R. Becher; vertont von Hanns Eisler. Seit Anfang der 1970er Jahre wurde der Text offiziell nicht mehr gesungen. 2 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7. Oktober 2009 »Es gibt nichts Heilsameres als eine zerstörte Illusion.« Li Si Jedes historische Experiment ist auf Zeit gestellt. Wenn nicht neue Generationen für sich in seiner Weiterführung eine eigene Zukunft erkennen, wird es abgebrochen. Prof. Michael Brie ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-LuxemburgStiftung. Die DDR war ein Experiment. Dies hat sie gemeinsam mit allen Staatsgründungen. Viele solche Experimente hat das 20. Jahrhundert gesehen, und nicht alle haben das Jahrhundert überlebt. Die nach dem Zweiten Weltkrieg und der Befreiung vom Faschismus von den Westalliierten eingesetzten Eliten in Westdeutschland hatten auf Westanbindung, einen regulierten Kapitalismus und parlamentarische Demokratie gesetzt. In Ostdeutschland wirkten die von der Sowjetunion an die Macht gebrachten und in der SED vereinigten Kommunisten und Sozialdemokraten für Integration in das sozialistische Weltsystem, das Modell der sowjetischen Planwirtschaft und eine Volksdemokratie unter Führung einer kommunistischen Staatspartei. Die Ansätze einer eigenständigen Gestalt des Aufbaus des Sozialismus gerieten seit 1948 in die Defensive. Der Kalte Krieg ließ Dritte Wege weder in Ost noch in West zu. schen 1949 bis 1989 verließen. Während aus dem Westen 550 000 zuzogen. Jedes historische Experiment ist auf Zeit gestellt. Wenn nicht neue Generationen für sich in seiner Weiterführung eine eigene Zukunft erkennen, wenn darum nicht erfolgreich gekämpft wird, wenn es sich in den Augen großer Gruppen der Bevölkerung nicht immer wieder als legitim erweist und anderen Alternativen gegenüber überlegen, wird es abgebrochen. Dies geschah mit dem sowjetischen Staatssozialismus zwischen 1988 und 1991 auf europäischem Boden und auch in der DDR. Dies sagt nichts über und schon gar nichts gegen die Leistungen von 40 Jahren DDR aus – wirtschaftlich, sozial, kulturell, international. Bis in die frühen 1980er Jahre hinein wurde die DDR von der Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger als lebenswerter Ort mit Zukunftsperspektive akzeptiert. Wohlstand, Sicherheit und Frieden schienen im Innern garantiert. Aber die Freiheitsansprüche neuer Generationen, die ökologische Frage, globale Gefährdungen und der wachsende technologisch-öko- Das Experiment Wagnis und Enttäuschung Von Michael Brie Wolfgang Peuker schuf sein Bild »A. P., geboren 1949« im Jahre 1986. Impressum Herausgegeben von: Neues Deutschland und Rosa-LuxemburgStiftung Franz-Mehring-Platz 1 10243 Berlin Internet: www.nd-online.de www.rosalux.de Redaktion: Wolfgang Hübner, Detlef Nakath, Karlen Vesper, Jürgen Reents (V.i.S.d.P.), Druck: Druckhaus Schöneweide Anzeigen: ND-Anzeigenservice +49-30-29781841 Es gab gute Gründe dafür, das Experiment DDR zu wagen. Um es durchzusetzen, musste deutlich mehr Gewalt als in Westdeutschland ausgeübt werden. Politische Verfolgung Andersdenkender, Berufsverbote, Einschränkungen elementarster Freiheiten haben im Osten viel größere Gruppen erfasst als im Westen und spitzten sich zum Ende hin wieder zu. Und trotzdem: Führende kommunistische und sozialdemokratische Funktionäre, geprägt durch die Niederlage der Arbeiterbewegung 1933, wie Ulbricht, Pieck, Grotewohl, Ebert, trieben das Experiment DDR voran. Eine disziplinierte Kaderpartei sicherte es mit hohem Engagement. Viele ihrer jungen Mitglieder hatten aus den Verbrechen des Hitlerfaschismus die Schlussfolgerung gezogen, dass ein grundsätzlicher Gegenentwurf zum Kapitalismus die Bedingung für eine Welt ohne Krieg, Ausbeutung, Unterdrückung sei. Wie Christa Wolf, die 1945 gerade 16 Jahre alt war, später sagen sollte: Marxismus und SED waren »für mich genau das Gegenteil von dem, was im faschistischen Deutschland geschehen war … Ich wollte genau das Gegenteil. Ich wollte auf keinen Fall mehr etwas, was dem Vergangenen ähnlich sehen könnte«. Eine bedeutende und relevante Minderheit der ostdeutschen Bevölkerung unterstützte das sozialistische Experiment, während sich viele neutral verhielten und drei Millionen die DDR zwi- nomische Rückstand gegenüber der Bundesrepublik stellten das Erreichte in Frage. Welche Antwort konnte darauf gefunden werden? Die Ursache dafür, dass das Experiment DDR nicht fortgesetzt werden konnte, waren die Strukturen des sowjetischen Sozialismus. Der Versuch, die grundlegenden Defizite zu überwinden, sprengte unvermeidlich das System. Drei Beispiele dazu: (1) Schon in den 1960er Jahren waren wirtschaftliche Reformansätze und zentralistische Planwirtschaft in einen unlösbaren Konflikt geraten. Die VR China ging seit 1978 dazu über, eine Mehrsektorenwirtschaft mit einem global sich öffnenden kapitalistischen Unternehmensbereich aufzubauen. (2) Da der Führungsanspruch der SED »wissenschaftlich« gerechtfertigt wurde, war öffentliches Andersdenken unter Strafe gestellt. Die Führung der KPdSU unter Michail Gorbatschow entwickelte eine Politik von Glasnost, die bald alle Säulen des Marxismus-Leninismus zum Einsturz brachte. (3) Verbot der Bildung unabhängiger politischer Organisationen und umfassende Kontrolle über die Kader machten politische Erneuerung unmöglich. Die polnische Gewerkschaft Solidarnosc erkämpfte dagegen ihre Anerkennung und saß seit 1988 mit der Staatspartei Polens, der PVAP, am Runden Tisch. Sie erzwang 1989 halbfreie Wahlen, bei denen sie die überwältigende Mehrheit der Stimmen erhielt. Jeder radikale Versuch der Öffnung zerstörte institutionelle Grundlagen des Systems. Der Sozialismus war historisch entstanden mit dem Anspruch, die Freiheitsfortschritte der bürgerlich-kapitalistischen Moderne zu verallgemeinern und auch den Mitgliedern der unteren sozialen Gruppen zugänglich zu machen. Eine klassenlose Gesellschaft der Freien und Gleichen sollte entstehen. Das Experiment DDR als Teil des sowjetischen Experiments scheiterte, weil die Strukturen, mit denen dieses Ziel erreicht werden sollte – Zentralverwaltungswirtschaft, Diktatur einer Staatspartei, Herrschaft einer Ideologie – sich nicht als Durchgangsstufe auf dem Weg zu höherer gleicher Freiheit erwiesen, sondern als Sackgasse eines Weniger an Freiheit. Die zivilisatorische Katastrophe des Ersten und mehr noch des Zweiten Weltkriegs hatten auf das völlige Gegenteil zum Kapitalismus verwiesen. Aber es zeigte sich: Die Zentralverwaltungswirtschaft ist zwar das genaue Gegenteil eines entfesselten Kapitalismus, aber dem regulierten Kapitalismus nicht überlegen. Die Diktatur einer Staatspartei steht im Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie, aber sie war schlechter. Den Faschisten hätte nicht die Freiheit gegeben werden dürfen, 1933 die Macht an sich zu reißen. Aber deshalb kann nicht die Freiheit des Andersdenkens verboten werden, soll Erneuerung nicht blockiert werden. Das bloße Gegenteil von schlecht hat sich nicht als hinreichend gut erwiesen. Neue Generationen wollten 1989 das Experiment DDR nicht fortsetzen. Der Sozialismus aber als eine höhere Ordnung der Freien und Gleichen ist damit nicht von der Tagesordnung der Weltgeschichte. Neue Experimente auf dem Weg dahin werden jedoch offen sein müssen für immer neue Aufbrüche – wirtschaftlich, sozial, ökologisch, politisch und geistig. 7. Oktober 2009 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR »Wie es wirklich war, erzählt dir ja keiner« Was wissen die Kinder der Wende von der DDR? Von Martin Hatzius Stephan, 19 Jahre alt, Polizeischüler aus dem Vogtland, hat von seinen Eltern und Großeltern »nur Gutes« über die DDR gehört. Und in der Schule? »Da wird dir immer nur die schlechte Seite beigebracht.« Woran, will ich wissen, hält Stephan sich, wenn er sich selbst ein Bild von der DDR macht? An beide, an keinen: »Es gibt halt immer gute und schlechte Seiten. Die Schwarz-Weiß-Malerei muss abgeschafft werden.« Vor gut einem Jahr sorgte ein Studie des Forschungsverbundes SED-Staat der FU Berlin für Aufsehen, die Schülern gravierende Wissenslücken in Sachen DDR bescheinigte. Nur die Bayern schnitten einigermaßen befriedigend ab. Besonders in Ostdeutschland stellten die Politologen Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder indes parallel zu »alarmierendem« Unwissen eine »Verklärung und Verharmlosung« der DDR fest, für die sie die brüchige Erinnerung der Eltern und starke Versäumnisse an den Schulen verantwortlich machten. »Was wir in der Schule gelernt haben und was meine Eltern über die DDR erzählt haben, das passt schon im Großen und Ganzen zusammen«, sagt Fabian zu mir, ein 18-jähriger Abiturient und Fußballfan aus der Gegend um Leipzig. »Aber wenn man das immer nur aus Erzählungen erfährt und nicht selbst erlebt hat, dann kann man sich eben nur irgendwas zusammendenken. Wie es wirklich war, das erzählt dir ja keiner.« Die Schroeder-Studie mit dem Titel »Soziales Paradies oder Stasi-Staat?« löste einen Sturm des Widerspruchs aus. Schon das methodische Vorgehen wurde als unzulässig bewertet. »Diese Studie weiß immer schon vorher, was richtig ist«, urteilte der Hamburger Historiker Bodo von Borries. Als »richtig« sollte so wohl die Zustimmung zu dem Satz gelten: »In der DDR war der Alltag für viele durch Diktatur und Überwachung geprägt.« Im Westen punkteten rund drei Viertel der Schüler, im Osten nur 50 Prozent. »Alltag« und »Diktatur« – beides in einem Atemzug zu nennen, stößt vielen Ostdeutschen übel auf. Ihre Studie brachte den Schroeders haufenweise zornige Post ein. »Oh, wie schön ist die DDR« heißt zynisch die jetzt von Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schröder publizierte Dokumentation der heftigen Reaktionen. »In nur wenigen Zuschriften wird Entsetzen geäußert über das positive DDR-Bild vieler ostdeutscher Jugendlicher und die damit einhergehende Verklärung des SED-Staates als soziales Paradies«, konstatierten die Politologen kürzlich auf »Welt Online«. »Die weit überwiegende Mehrzahl der E-Mails und Briefe verteidigt indes die Sichtweise der ostdeutschen Schüler leidenschaftlich.« Anfang 2008, kurz bevor die FU-Studie Schlagzeilen machte, sprach ich mit jungen Männern und Frauen, die 1989, im Jahr der Wende, geboren worden sind. Ich fragte sie, was sie über die DDR denken, die sie nicht mehr erlebt haben. Und ich wollte wissen, welche Rolle dieses ferne Land für ihr heutiges Leben spielt. Das DDR-Bild meiner Gesprächspartner war – trotz Hervorhebung der »fehlenden Arbeitslosigkeit«, der »menschlichen Nähe« und der »sozialen Absicherung« – keineswegs durchweg positiv. Es war differenziert. So äußert Marie, die einem christlichen Leipziger Elternhaus entstammt, den Wunsch, »die Gemeinschaft, zum Beispiel in der FDJ«, einmal hautnah zu erleben. »Ob es wirklich so war, dass der Eine auf den Anderen gebaut hat und aufgepasst, das würde mich interessieren. Ich würde das gut finden.« Nach einer Pause fügt sie hinzu: »Aber für den, der in dieser Gemeinschaft nicht dabei war, ist es sicher beengend gewesen.« Ja-Nein-Optionen taugen nicht dazu, das DDR-Bild derjenigen zu erfassen (und zu bewerten), die neben dem Schulbuchwissen über die DDR auch Eindrücke von Familienmitgliedern und Bekannten zu verarbeiten haben, die eben nicht ständig das Gefühl hatten, in einem »Unrechtsstaat« zu leben. »In der Schule wird das Thema so besprochen, wie jedes andere geschichtliche Thema auch«, sagt Claudia, eine 19-jährige Gymnasiastin, »das geht hier rein und da raus.« Was wirklich interessiert, sind die eigenen Erfahrungen der Gegenwart – Überwachungskameras in der Straßenbahn, Polizeiwillkür beim Fußballspiel, Nazis in der Nachbarschaft. Ist das die Demokratie, die der »Diktatur DDR« so überlegen ist? Jeder, mit dem ich sprach, fühlt sich »irgendwie« als Ossi. Keiner wünscht sich die DDR zurück. Aber mal einen Tag in dieses Land hineinzuschnuppern, von dem sie so Widersprüchliches hören, das wünschen sich alle. 3 Was ich mir gerne mal hautnah angucken würde, ist die Gemeinschaft, die ja immer da war, zum Beispiel bei der FDJ. Ob es wirklich so war, dass der Eine auf den Anderen gebaut hat und aufgepasst. Das würde ich gut finden, ja. Aber für den, der in dieser Gemeinschaft nicht dabei war, ist es sicher beengend gewesen. Marie, 19 Jahre Martin Hatzius, geboren 1976 in Berlin (0st), ist FeuilletonRedakteur dieser Zeitung. Rudolf Berganders Bild »Junge Menschen« entstand 1962. ANZEIGE Von der „doppelten Staatsgründung“ zur „europäischen Zentralmacht“ „Deutsch-deutsche“ Außenpolitik von 1949 bis heute 13. Potsdamer Kolloquium zur Außen- u. Deutschlandpolitik Donnerstag, 12. November 2009, 18.00 bis 21.00 Uhr Eröffnung und Begrüßung: Otto Pfeiffer, Präsident des Verbandes für Internationale Politik und Völkerrecht e. V. Berlin Außenpolitik und Diplomatie zwischen NATO-Konsens im Kosovo und Kriegsverweigerung im Irak Podiumsdiskussion: Dr. Hans Voß, Prof. Egon Bahr, Dr. André Brie, Dr. Gunter Pleuger – Moderator: René Heilig Freitag, 13. November 2009 10.00 bis 12.30 Uhr 1970 - 1990. Die Treffen von Erfurt und Kassel und die deutschdeutsche Vertragspolitik Podiumsdiskussion: Dr. Hans Schindler, Prof. Dr. Claus Montag, Dr. Hermann Freiherr von Richthofen - Moderator: Dr. Detlef Nakath 12.30 bis 13.30 Uhr Mittagsimbiss 13.30 bis 15.30 Uhr 1949 - 1975. Zwischen Hallsteindoktrin und europäischer Entspannungspolitik Podiumsdiskussion: Dr. Werner Kilian, Prof. Dr. Wilhelm Ersil, Julij Kwizinskij (Moskau) Moderator: Prof. Dr. Siegfried Prokop 15.30 bis 16.00 Uhr Schlusswort Dr. Detlef Nakath Eine Kooperationsveranstaltung der „Hellen Panke“ e. V. Berlin mit der RLS Brandenburg und dem Verband für Internationale Politik und Völkerrecht e.V. Berlin Wir bitten um Ihre Anmeldung bis zum 6. November 2009: RLS Brandenburg e.V., Dortustr. 53, 14467 Potsdam, Fon: 0331/817 04 32, E-Mail: info@bbg-rls.de Teilnahmegebühr: 2 Euro / 5 Euro (inkl. Imbiss und Getränke) Tagungsstätte: Altes Rathaus Potsdam, Am Alten Markt 9, 14467 Potsdam Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin Kopenhagener Straße 76 - 10437 Berlin-Prenzlauer Berg Tel: 030/47 53 87 24 – Fax: 030/47 37 87 78 oder 030/47 37 87 75 E-mail: info@helle-panke.de Internet: www.helle-panke.de 4 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR ● Hans Modrow, wie haben Sie die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 erlebt? Wenn man nach dem Krieg in den Dörfern, mit organisierte, dass Strom in die Häuser kam – das gehörte für mich zum Erleben von Demokratie. Ich kam im Januar 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft und habe als Schlosser in Hennigsdorf angefangen. Das war eine Empfehlung meines Lehrers in der Antifa-Schule: Wenn du zurück bist, gehe in deinen Beruf, lerne das Leben kennen, bevor du in einer politischen Funktion tätig wirst. Das hat leider nur ein halbes Jahr gedauert. ● Warum leider? Weil ich gerne wenigstens ein Jahr im Betrieb geblieben wäre. Das wäre solider gewesen. So wurde ich schnell Leiter der Abteilung Arbeiterjugend im Brandenburger FDJ-Landesvorstand. Und als FDJler war ich Teilnehmer an der großen Demonstration, am Fackelzug am 10. Oktober 1949 in Berlin Unter den Linden, wo Erich Honecker den Schwur der Jugend zur Deutschen Demokratischen Republik ablegte. 7. Oktober 2009 dern ein Raum, um praktisch etwas für die Interessen der Jugend zu tun. Ab 1952 kam der Begriff der sozialistischen Demokratie; das war damals noch keine Streitfrage in dem Sinne, ob sie gewährt wird oder nicht. Unser Empfinden war: Wir sind in einem demokratischen Aufbau. Wenn man in Dörfern, wo noch die Petroleumlampen brannten, mit organisierte, dass Strom in die Häuser kommt, wenn man dabei war, wie das Licht angeschaltet wurde – das gehörte für mich zum Erleben von Demokratie. ● Am 7. Oktober 1949 hieß es auf der Titelseite des ND, das Ziel sei die Schaffung eines souveränen, unabhängigen, selbstständigen deutschen Staates. Wie unabhängig, souverän und selbstbestimmt war diese DDR? Ein erster Schritt war, dass die sowjetische Militäradministration einen nicht geringen Teil ihrer Rechte auf die neue Regierung übertrug. Natürlich blieb die Sowjetunion Siegermacht mit ihren Einflussmöglichkeiten. Die DDR hatte eine eingeschränkte Souveränität, ganz eindeutig. Wie die Bundesrepublik auch. Die inneren Probleme wurden verdrängt Wolfgang Hübner sprach mit Hans Modrow über Demokratieanspruch und -defizit der DDR ● Deutsche Demokratische Republik – dieser Staatsname bedeutete einen hohen Anspruch. Welche Erwartungen haben Sie damals damit verbunden? Hans Modrow war jahrzehntelang FDJbzw. SED-Funktionär sowie Abgeordneter der Volkskammer. Während der Wendezeit war er Ministerpräsident der DDR. Später wurde er für die PDS in den Bundestag und ins EU-Parlament gewählt. ND-Foto: Burkhard Lange Ich war mit 17 Jahren überzeugt in den Krieg gezogen und nach vier Jahren Kriegsgefangenschaft zurückgekommen mit der Überzeugung, dass ein neues Deutschland nötig ist, wenn es nicht wieder Krieg geben soll. Das war zunächst das Hauptempfinden meiner Generation, die ja verheizt werden sollte. Wir wollten ein Deutschland, das wieder in der Welt geachtet wird, und daran wollte ich mitarbeiten. Demokratisch oder sozialistisch, darüber habe ich im Oktober 1949 nicht nachgedacht. Dieser 10. Oktober mit unserer Demonstration abends war ein Schritt in ein neues Leben. ● Wie ist der Anspruch der Demokratie, also im Wortsinne der Volksherrschaft, in den ersten Jahren der DDR verwirklicht worden? In der Verfassung von 1949 stand der Satz: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Für mich als Abgeordneten – anfangs im mecklenburgischen Landtag, dann in der Volkskammer – war Demokratie nicht zuerst eine theoretische Angelegenheit. Son- ● In den 50er, stärker noch in den 60er Jahren setzte die SED ihre führende Rolle durch – bis hin zur Festschreibung in der Verfassung 1968. Um 1950 habe ich den Demokratischen Block der fünf Parteien als eine sehr streitbare Zusammenkunft erlebt. ● Zeitungsberichte von damals vermitteln den Eindruck von Gleichberechtigung, obwohl man das Ulbricht-Zitat von 1945 kennt: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben. Ich habe noch Persönlichkeiten wie Otto Nuschke von der CDU kennen gelernt. Das waren keine Leute, die sich über den Löffel balbieren ließen. Aber im Übergang zu den 60er Jahren rückten neue Personen an die Spitze der Parteien, da hat sich manches verändert. Manfred Gerlach in der LDPD, Gerald Götting in der CDU – die hatten ein Stück FDJ-Geschichte zusammen mit Erich Honecker erlebt. Da gab es einen anderen Umgang miteinander. Ich möchte nicht sagen Kumpanei, aber neben der gegenseitigen Abstimmung der Parteien entstanden neue Spielregeln, über die sich die Führungsrolle der SED durchsetzte. ● Im Rückblick – war das System von vornherein so angelegt? Wenn man es im Rückblick nur so wertet, vergisst man eine Besonderheit der DDR. Es gab kein zweites osteuropäisches sozialistisches Land mit einem solchen Parteiensystem. Dass es bei uns anders war, hatte mit zwei Momenten zu tun: mit der Geschichte der Weimarer Republik, die bis in die erste DDR-Verfassung reichte, und der Klugheit der sowjetischen Militäradministration. Die ging davon aus, dass die politische Landschaft in allen Besatzungszonen zunächst eine Ähnlichkeit besitzen sollte. Auch in den westlichen Besatzungszonen gab es SPD, KPD, die Liberalen, die CDU. Man hatte ja damals noch den gesamtdeutschen Rahmen vor Augen. ● Trotzdem musste doch die Sowjetunion ein großes Interesse daran haben, dass die SED im Osten den Haupteinfluss hat. Gewiss hatte sie ein Interesse daran. Aber es saßen auch kluge Leute in der sowjetischen Militäradministration, die um Gleichgewichte gerungen haben und die manchmal mit ihrer Politik nicht die Zustimmung in Moskau fanden. Aber sie waren dem Leben in Deutschland näher und wussten, dass man ganz ohne Beachtung des Westens keine Politik machen konnte. ● Sie haben Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in der Abteilung Agitation im Zentralkomitee der SED gearbeitet. In der DDR-Verfassung von 1949 steht der schöne Satz: Eine Pressezensur findet nicht statt. In der Verfassung von 1968 heißt es, die Meinungsfreiheit sei gemäß den Grundsätzen der Verfassung gewährleistet, ebenso die Freiheit von Presse, Rundfunk und Fernsehen. Wie hat sich davon ausgehend die enorme ideologische Bevormundung und Steuerung entwickelt? Wie in anderen Bereichen gab es auch in der Medienpolitik wellenförmige Entwicklungen. Wir wollten nach dem 8. Parteitag 1971 neue Möglichkeiten für die journalistische Arbeit schaffen, im Sinne höherer Qualität und einer größeren Leserschaft, Zuschauerschaft, Zuhörerschaft. Denn wir standen ja in einer Auseinandersetzung mit den Medien der Bundesrepublik Deutschland. Damals entstanden im Fernsehen die Unterhaltungssendung »Ein Kessel Buntes«, ein Kulturmagazin und anderes. Gleichzeitig gab es eine Steuerung der Medien; jede Woche nach den Politbüro-Sitzungen kamen die Chefs der wichtigsten Redaktionen bei uns zusammen. Das hatte den Charakter der Hintergrundinformation und Orientierung durch Minister und andere Politiker, die auch Fragen beantworten mussten. Es war der Versuch, eine Lücke zu schließen, denn Pressekonferenzen von Politikern waren bis zum Ende der DDR sehr unüblich. ● Dennoch gab es keinen freien Nachrichtenfluss. Kein Chefredakteur hatte alle Informationen zur Verfügung, um dann frei zu entscheiden, was er damit macht. Die Nachrichtenagentur ADN war die Stelle, über die die Nachrichtengebung am stärksten beeinflusst wurde. Im Zweifelsfall haben die ADN-Diensthabenden bei uns im ZK gefragt, ob bestimmte Nachrichten freigegeben werden sollen. Die Redaktionen bekamen verschiedene ADN-Bulletins, mit denen bestimmte Sicherheitsstufen verbunden waren. Dadurch wurde gelenkt und Wissen selektiert. 7. Oktober 2009 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 5 »Opfer des Faschismus« von Hans Grundig, 1946/47 Fortsetzung von Seite 4 ● Mitte der 70er Jahre gab es den KSZE-Prozess, die Schlussakte von Helsinki wurde unterzeichnet. Für die DDR bedeutete das ein großes Stück Anerkennung, aber auch die Unterschrift unter die Gültigkeit politischer Menschenrechte. Warum hat sich die DDRFührung mit diesen Menschenrechten immer so schwer getan? Diese Schlussakte von Helsinki war ein Kompromiss. Beide Seiten – Westen und Osten – glaubten, dass sie dabei für sich den größeren Vorteil erzielen. Egon Bahr hat einmal gesagt: Beide Seiten haben Kröten geschluckt, aber der Westen war der Überzeugung, dass die Zugeständnisse des Ostens in Sachen Menschenrechte die größere langfristige Wirkung haben würden. Die Geschichte zeigt, dass er Recht hatte. Erich Honecker hat die Schlussakte unterschrieben, aber die SED hatte keine Konzeption für den Umgang mit den Festlegungen im Korb 3. Ich möchte noch einen anderen Fakt erwähnen. Beide deutsche Staaten sind 1973 zur selben Stunde in die UNO aufgenommen worden und keiner der beiden Staaten hat den anderen etwa vor die Tribüne der Vereinten Nationen gebracht, um über Probleme zu diskutieren. Auch nicht über das Thema Grenze mit all ihren Zwängen und tragischen Ereignissen. Beide Blöcke waren nicht interessiert, Fragen des Kalten Krieges oder der deutschen Teilung in die UNO zu tragen. Das war nach meinem Empfinden in den folgenden Jahren die Basis, von der aus die DDR-Führung die Welt betrachtet hat. Hinzu kam die schnelle internationale Anerkennung. Honecker begann seine Reisen. Die inneren Probleme wurden dabei verdrängt und sie drückten doch immer stärker, auch wegen der Vereinbarungen von Helsinki. ● Wäre in der DDR etwa bei der Meinungsfreiheit mehr möglich gewesen oder hätte jede Öffnung einen Schritt zum Zusammenbruch des gesamten Systems bedeutet, wie er 1989/90 geschah? Letzteres ist eine gewisse Übertreibung, denn es kam im DDR-System vieles zusammen. Das Problem der Menschenrechte in der DDR erfuhr ja eine ständige Zuspit- zung durch die Frage der Reisens und Ausreisens. Dieses Problem hatte kein anderes sozialistisches Land in dieser Dimension, und daraus erwuchsen und verschärften sich viele Schwierigkeiten. Wir hatten beispielsweise eine breite Medienlandschaft, aber wir hatten in den Redaktionen neben Anleitung und Zensur auch das, was man als Schere im Kopf bezeichnet. In ihrem Glauben, dass ihre Überzeugungen die Gesellschaft tragen, hat die SED nicht oder zu spät den wachsenden Vertrauensverlust bemerkt. Der ist nicht erst im Herbst 1989 entstanden, das war das Ende eines Prozesses. Begonnen hat er viel zeitiger. ● Mit der Wende im Herbst 1989 entstand fast über Nacht eine Atmosphäre offener politischer Debatten ohne Tabus, etwa an den Runden Tischen. Wenn man Demokratie als Volksherrschaft und Republik als öffentliche Angelegenheit wörtlich nimmt – wurde der Anspruch im Namen DDR Ende 1989, Anfang 1990 am besten erfüllt? Ja, ich glaube sogar, das war überhaupt die demokratischste Zeit, die wir in Deutschland jemals hatten. Da gab es ein Wechselspiel zwischen der Regierung und der Opposition, zwischen der Volkskammer und dem Runden Tisch. Dazu gehört aber auch: Der Runde Tisch hätte nicht diese Wirkung gehabt, sondern wäre ein Tisch in der Ecke geblieben, wenn die Regierung nicht entschieden hätte, seine Tagungen im Fernsehen direkt zu übertragen und alle finanziellen und materiellen Voraussetzungen seiner Tätigkeit zu gewährleisten. ● Sie waren damals Ministerpräsident. In dieser Zeit kamen zu den Ministern aus den fünf so genannten etablierten DDRParteien noch Minister ohne Geschäftsbereich aus acht Oppositionsgruppen, die sich schon als Parteien verstanden. Diese Acht wären nie in die Regierung gegangen, wenn sie das Gefühl gehabt hätten, die Fünf wollten sie über den Tisch ziehen. Wir haben gemeinsam für die Volkskammerwahl 1990 ein Wahlgesetz ohne Fünf-Prozent-Klausel in Kraft gesetzt. Mit einer solchen Klausel, wie sie in der Bundesrepublik üblich war und ist, wären die Oppositionsgruppen nicht mit einem einzigen Mandat in die Volkskammer gekommen. ● Die PDS ist nicht, wie viele wünschten, untergegangen, sondern in der Linkspartei aufgegangen. Diese hat eine Programmdebatte vor sich. Was sollte sie aus dem Umgang mit der Demokratie in DDR lernen? Wir müssen zweierlei leisten: Erstens müssen wir uns weiter mit der Analyse des Sozialismus im 20. Jahrhundert befassen, seinen Defiziten, den Gründen für sein Scheitern. Dazu gehört die Demokratiefrage. Zweitens stehen wir heute in einer weltweiten Debatte u.a. darüber, wie es mit dem Eigentum, mit der Macht des Kapitals und der Banken weitergeht. Auch darüber, ob die gegenwärtige parlamentarische Parteiendemokratie das letzte Wort sein soll. Ich glaube nicht daran, dass man den Kapitalismus mit Moral und Ethik bändigen kann. Der Staat, die Gesellschaft sind da in Verantwortung. Wie kann die Gesellschaft stärker in wichtige Entscheidungen einbezogen werden – bei dieser Frage geht es um ein zentrales Element von Demokratie. In ihrem Glauben, dass ihre Überzeugungen die Gesellschaft tragen, hat die SED nicht oder erst zu spät den wachsenden Vertrauensverlust bemerkt. Wolfgang Hübner ist stellvertretender Chefredakteur des ND. Er berichtete u.a. vom Wahlkampf und der Volkskammerwahl im März 1990. ANZEIGE Unsere Publikationen aus 12 Jahren „Potsdamer Kolloquia zur Außen- und Deutschlandpolitik“ UÊJürgen Hofmann/Detlef Nakath (Hrsg.): Ê yÊÌÊqÊvÀÌ>ÌÊqÊ«iÀ>Ì°ÊiÕÌÃV `iÕÌÃV iÊiâi Õ}iÊÊÊ Ê ÛiÀâ}Ê> ÀiÊ<ÜiÃÌ>>ÌV iÌ]Ê*ÌÃ`>Ê£n°Ê UÊDaniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):Ê Ê L}i}ÀiâÌiÊ7iÌvvi iÌ°Ê<ÕÀÊÕ~iÊÕ`ÊiÕÌÃV >`«ÌÊ`iÀÊ,]ÊÊ Ê *ÌÃ`>Ê£° UÊDaniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):Ê Ê ¹°°°ÊÃvÀÌ]ÊÕÛiÀâØ}V tºÊiÀÊ>Ê`iÀÊ>ÕiÀÊ>Ê°Ê ÛiLiÀÊ£n] Ê *ÌÃ`>ÊÓäää° UÊDaniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.): Ê iÀÊqÊÊqÊÃ>Õ°Ê>ÃÊÀiiVÃÛiÀ BÌÃÊâÜÃV iÊiÕiÀÊ"ÃÌ«ÌÊÊ Ê Õ`Ê`iÕÌÃV iÀÊ iÌ]Ê*ÌÃ`>ÊÓä䣰 UÊDaniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):Ê Ê iÀÊ`iÕÌÃV `iÕÌÃV iÊÀÕ`>}iÛiÀÌÀ>}°Ê1ÃÌB`i]Ê7ÀÕ}i] Ê -V ÌÜiÃi]Ê*ÌÃ`>ÊÓääΰ UÊDaniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.): Ê <ÜÃV iÊ>ÕiÀv>ÊÕ`ÊiÌÀÌÌ°Ê<ÕÀÊÕ~iÊÕ`ÊiÕÌÃV >`«ÌÊ`iÀÊ,ÊÊ Ê ÊiÌâÌiÊ> ÀÊ ÀiÃÊiÃÌi iÃ]Ê*ÌÃ`>ÊÓääx° UÊDaniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.): Ê iÊviÀiâÊØLiÀÊ`iÊ-V iÀ iÌÊÕ`Ê<ÕÃ>i>ÀLiÌÊÊÕÀ«>°Ê Ê 6À>ÕÃÃiÌâÕ}iÊqÊÀ}iLÃÃiÊqÊ7ÀÕ}i]Ê*ÌÃ`>ÊÓääÈ° UÊDaniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):Ê Ê ¹7iÀÊâÕÊëBÌÊÌ°°°º°Ê<ÕÀÊÕ~iÊÕ`ÊiÕÌÃV >`«ÌÊ>Ê`iÊ`iÀÊÊ Ê >V Ìâ}iÀÊ> Ài]Ê*ÌÃ`>ÊÓääÇ° UÊDaniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.): Ê iÀÊiViÀiÃÕV ÊÊ°Ê6ÀLiÀiÌÕ}ÊqÊ6iÀ>ÕvÊqÊi`iÕÌÕ}]Ê*ÌÃ`>ÊÊ Ê Óään° UÊDetlef Nakath (Hrsg.): Ê }}ÀiÃÃÊ>ÕvÊâ>ÌÃV i¶ÊiëÀBV iÊÌÊ`iÊÕ~iÊÕ`Ê Ê iÕÌÃV >`«ÌiÀÊ}Ê> À]Ê*ÌÃ`>ÊÓään°Ê Einzelpreis pro Publikation 10Êg <ÕÊLiâi iÊØLiÀ\ ,Ã>ÕÝiLÕÀ}-ÌvÌÕ}ÊÀ>`iLÕÀ}Êi°Ê6° ÀÌÕÃÌÀ°ÊxÎ]Ê£{{ÈÇÊ*ÌÃ`> \ÊäÎΣÊqÊn£ÇÊä{ÊÎÓ >Ý\ÊäÎΣÊqÊn£ÇÊä{ÊÎÎ >\ÊvJLL}Àð`iÊ ÌÌ«\ÉÉÜÜÜ°LL}Àð`i 6 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR »Mensch, das sind doch unsere Kerzen, die haben wir doch hergestellt! Nur die Verpackung liefern sie uns.« Lisa Kämpfer Renate Guhl Lisa Kämpfer: klingt, war es damals nicht. »Man hat sich dann dran gewöhnt.« Die Kinder geraten gut, bald gehen sie zur Schule. Die Nachbarn staunen: Stets sehen alle drei Kämpfer-Kinder wie aus dem Ei gepellt aus. Aber oft müssen sie morgens allein aufstehen, die Mutter ist dann schon im Betrieb. Die Frühstücks- und die Schulbrote hat sie ihnen aber noch geschmiert. Immerhin, wenn sie Früh- oder Nachtschicht hat, kann sie nachmittags aufpassen, dass die Kinder ihre Schulaufgaben erledigen – da ist sie hinterher. Lisa Kämpfer geht gern arbeiten. Mit den Kollegen versteht sie sich. Anfangs ziehen sie die Kerzen von Hand, dann mit Hilfe von Halbautomaten, später haben sie Ziehautomaten. Jetzt ist sie Chemiefacharbeiterin, den Abschluss hat sie in der Erwachsenenqualifizierung erworben. Sie stellen Haushaltskerzen, Tafelkerzen, Adventskerzen, Raureifkerzen und Altarkerzen her, auch für den Export. Einmal gibt eine Bekannte mit einer hübschen Kerzenpackung aus dem Westen an. Lisa schaut in die Schachtel und ruft: »Mensch, das sind doch unsere Kerzen, die haben wir doch hergestellt! Nur die Verpackung, die liefern sie uns.« Sie verdient 500 Mark im Monat, später 600. Die Kinder fahren im Sommer ins Betriebsferienlager, ins Erzgebirge oder in den Harz. Alle zwei, drei Jahre macht Lisa Kämpfer mit ihnen gemeinsam Urlaub, in einem Ferienheim der Gewerkschaft. Zwölf Jahre lang ist sie in ihrer Brigade der Gewerkschaftsvertrauensmann, dabei leistet sie mehr als mancher Mann. Sie Vertrauensfrau zu nennen, das kommt niemandem in den Sinn. Trotzdem gibt es Frauentagsfeiern. Ebenso Brigadefeiern, -versammlungen und -ausflüge. Sie werden als »Kollektiv der sozialistischen Arbeit« ausgezeichnet, Lisa Kämpfer als Bestarbeiterin. Wie andere alleinstehende Frauen fährt sie nun, da die Kinder groß sind, Sonderschichten, um den Plan zu sichern. »Ihr habt doch Zeit«, sagen die Verheirateten, allen voran die Männer. 36 Jahre hat Lisa Kämpfer im VEB Wittol gearbeitet. 1990, eines Tages vor der Nachmittagsschicht, wurden die Kollegen aus der Kerzenproduktion zusammengerufen. »Es tut uns sehr leid«, sagte man ihnen, »ihr braucht Montag nicht wiederzukommen.« Einer von Lisa Kämpfers Söhnen arbeitet im Reichsbahnausbesserungswerk, Bestarbeiterin, drei Kinder Dreizehn ist sie, als der Krieg vorbei ist, und sie hat Kummer: Gerade erst hat sie die Großmutter verloren, bei der sie aufgewachsen ist; die Mutter zeigt an ihr kaum Interesse. Lisa steht praktisch allein da. Gern würde sie Verkäuferin werden, aber »Eine« aus solchen Verhältnissen will kei- Frauen in der Chemie Von Christina Matte Christina Matte, Reporterin beim ND, porträtierte die drei Chemiearbeiterinnen. 7. Oktober 2009 ner. Das Arbeitsamt schickt sie zum Bauern, zum Kartoffelnlesen und Rübenverziehen. Kein Wunder, dass sie, als sie sich verliebt, Hals über Kopf einem jungen Mann folgt, nach Lutherstadt Wittenberg an der Elbe. Niemand hat Lisa aufgeklärt, so bringt sie 1953 ihr erstes Kind zur Welt, eine Tochter. Der frischgebackene Vater macht sich aus dem Staub. 1955 und 1961 werden ihre Söhne geboren, auch deren Vater lässt sie sitzen. Lisa hat kein Glück mit Männern. Aber ein bisschen Glück hat sie doch. Nach der Geburt ihrer Tochter findet sie Arbeit im VEB Haushaltschemie Wittenberg, der wenig später VEB Wittol heißen wird. Die junge Industrie sucht Arbeiterinnen. Lisa Kämpfer muss Geld verdienen. Der Betrieb produziert Schuhcreme und Kerzen. Sie fängt in der Kerzenproduktion an, ungelernt. Gearbeitet wird in drei Schichten. Die Frühschicht beginnt um 5.30 Uhr, die Mittelschicht um 14 Uhr, die Spätschicht um 22 Uhr. Gut, dass sie später ihre Söhne zunächst in der Wochenkrippe, dann im Wochenkindergarten des Betriebes unterbringen kann. Ein schlechtes Gewissen hat sie nicht, das kann sie sich nicht leisten. »Man war froh, dass man’s hinkriegte. Zwischendurch konnte ich ja auch nach ihnen schauen, ein bisschen mit ihnen spazierengehen.« So einfach, wie es heute Fotos: Joachim Fieguth Hildegard Siems der andere, ein Maschinenbauingenieur, ist arbeitslos. Ihre Tochter, einst Kranfahrerin im Stickstoffwerk, bezieht Hartz IV. Hildegard Siems: Zwanzig Patente Hilde Siems ist nur elf Jahre jünger als Lisa Kämpfer – schon eine andere Generation. 1957 beginnt sie ihre Lehre als Chemielaborantin im VEB Stickstoffwerk Piesteritz. Eine Notlösung, denn eigentlich wollte sie Sportlehrerin werden. Die Aufnahmeprüfung in Halle hatte sie schon bestanden, aber dann mochte sie doch nicht von zu Hause fort. Während der Lehre im Stickstockwerk durchläuft sie auch die Forschungsabteilung: Dort wird sie eine neue Leidenschaft finden. Hildes Arbeitstage beginnen zunächst wie die Lisa Kämpfers um 5.30 Uhr. Viertel vor Fünf muss sie los. Hilde nimmt den Bus ins Werk oder das Rad. Vierzehn Jahre lang wird sie Laborantin in der Forschungsabteilung bleiben und am Monatsende 300 Mark nach Hause tragen – die wissenschaftlich-technische Intelligenz verdient weniger als Produktionsarbeiter, und sie arbeitet nicht in Schichten, so dass Zuschläge wegfallen. Hilde kann sich trotzdem Wünsche erfüllen: ab und zu eine hübsche »Klamotte« kaufen (wenn denn eine zu finden ist), tanzen, zelten. Zufrieden ist sie dennoch nicht: Sie will weiterkommen, sich weiterbilden. 1971 delegiert sie der Betrieb an die Ingenieurschule Berlin, zum Frauensonderstudium. So eine Studium ist eine Auszeichnung und zugleich eine Chance für Frauen und Mütter: Sie werden freigestellt, aber nach wie vor bezahlt. Ein weiterer Glücksfall: Die Vorlesungen und Seminare finden nicht in Berlin, sondern in der Betriebsakademie Piesteritz statt. 1972, mitten im Studium, heiratet Hilde den angehenden Diplomsportlehrer Peter Siems, 1973 bekommen sie einen Sohn. Peter absolviert zu dieser Zeit ein Fernstudium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig, auch Hilde will keinen Stoff versäumen, so dass sie nur zwei Wochen nach der Entbindung wieder im Hörsaal sitzt. Den Sohn bringt Peter in die Krippe, Hilde holt ihn nachmittags gegen halb drei wieder ab, gelegentlich übernimmt die Oma. Die Krippe kostet nichts, nur das Essengeld. Abends, nachdem sie den Kleinen ins Bett gebracht hat, büffelt Vor 60 Jahren: Gründung der DDR Fortsetzung von Seite 6 sie. Hart ist das. Heute sagt sie, sie würde es wieder so machen, sogar »noch ein Studium dranhängen«. Nach drei Jahren ist Hildegard Siems Diplom-Ingenieurin und in ihrer Abteilung wieder voll einsetzbar. Sie leitet jetzt ein Labor, in dem ausschließlich Frauen arbeiten, in der anorganischen Forschung. Außerdem überträgt man ihr »Projektbetreuungen«, darunter Projekte für die »Messe der Meister von Morgen«: »Unsere wurden wirklich gebraucht.« Ihre Arbeit bietet viel Abwechslung, sie kniet sich hinein. Wenn die anderen in die Kantine zum Mittag gehen, bleibt Hilde an ihrem Platz und macht weiter – essen wird sie abends mit der Familie. In ihrem Labor stellt sie Selteneerdeverbindungen her, analysiert diese und prüft sie auf ihre Verwendbarkeit in der Glas- und der optischen Industrie. Einige dieser Seltenen Erden sind radioaktiv, so dass sie immer ein Gamma-Dosimeter, ein kleines Plättchen, in der Brusttasche ihres Kittels trägt, welches in der Betriebspoliklinik kontrolliert wird. Die Zielstellung für die Forscher lautet: teure Importe abzulösen. Hildegard Siems ist gut darin: Sie bringt es auf zwanzig Patente. Bis 1994 war sie in der Forschung tätig. Danach ging ihr Arbeitsverhältnis mit der Stickstoffwerke AG Wittenberge-Piesteritz auf die Chemischen Werke Piesteritz über. Sie arbeitete als Laborleiterin im Phosphorsalzbetrieb und war zudem für die Entsorgungsanlage phosphorhaltiger Massen verantwortlich – viele Tonnen kontaminierten Erdreichs, Betons sowie Phosphorschlämme wurden dort nach einem von ihr patentierten Verfahren entgiftet. 2001 waren alle Phosphorschlämme entsorgt. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan und durfte gehen. Ihr Sohn ist Diplom-Kaufmann geworden und arbeitet heute bei einer Finanzdienstleistungs AG in Rostock. Renate Guhl: Betriebsleiterin, Kämpferin Jahrgang 1941. Renate wächst heran, ohne wirklich zu wachsen, klein und schmal, so bleibt sie lange. Ein rotblondes Mädchen, knabenhaft, das sich noch auf der Erweiterten Oberschule nicht wahr-, nicht ernstgenommen fühlt. Das macht aus ihr die Kämpferin. Neben ihr Bild in der Abi-Zeitung setzen die Schulkameraden den Spruch: »Wer kratzen, beißen, boxen lernen will, der komme zu mir.« Renate will Chemie studieren. Auf der Penne hat sie einen Aufsatz geschrieben: »Chemie bringt Brot, Wohlstand und Schönheit.« Den Studienplatz hat sie in der Tasche. Doch vor das Chemiestudium hat die DDR zu jener Zeit ein praktisches Jahr gesetzt. Renate beginnt dieses Jahr im September 1959 im VEB Stickstoffwerke Piesteritz. Dummerweise wird ihr ständig schlecht. Schwanger! Die Pille gab es noch nicht. Die Familien üben Druck aus. Sie will nicht, sie »muss« heiraten. Der Sohn Thomas wird geboren. Sechs Wochen später arbeitet sie wieder, Thomas gibt sie in die Wochenkrippe. Aus einem praktischen Jahr werden zwei. Erneut Druck, diesmal von der Mutter. Die Tochter soll schaffen, was ihr verwehrt war: studieren. Von 1961 bis 1964 studieren sie und ihr Mann chemische Technologie in Köthen. Sie werden sich als Freunde trennen. Die Mutter betreut in dieser Zeit Thomas: Sie wird stets zur Stelle sein, wenn eines von Renates Kindern krank wird. Denn Renate heiratet wieder, 1968 wird Karsten geboren, 1971 Karla. Da hat sich die junge Technologin, inzwischen durchaus ein Vollweib, bereits einige Jahre durch das Stickstoffwerk gebissen, gekratzt, geboxt, gekämpft. In die Produktion wollte sie! Als Frau? Das traute man ihr nicht zu. Man steckte sie ins Hauptlabor. Dort überwachte man zwar die Produktionsprozesse, aber im Grunde war sie doch nur eine besser bezahlte Laborantin. Auch als man sie zur Instrukteurin für Hoch- und Fachschulkader machte – eine Tätigkeit, die ihr Auge für Menschen schärfte –, war nicht die Technologin gefragt. Dann jedoch, Ende der 60er Jahre, beginnt man über Umweltschutz zu reden. In der Stadt wird viel über den Zustand der Elbe »gemeckert«, mit deren Wasser das Werk die Anlagen kühlt und das es anschließend wieder zurückleitet. Ein Fachbereich Umweltschutz wird gegründet, Renate Guhl übernimmt das Wasserlabor. Ihre Liebe zum Wasser erwacht. Bewirken kann sie zunächst wenig. Das Wichtigste bleibt die Produktion, die Ziffern müssen erfüllt werden. Anfang der 70er wird das Nordwerk gebaut. Im Fernstudium hat sich Renate Guhl zur Ingenieurin für Wasseraufbereitung und Abwasserbehand- 7 lung qualifiziert, nun baut sie die Wasseraufbereitungs- und Rückkühlwerke mit auf. Sie hausen in Bauwagen, bis die Anlage in Betrieb geht – ein Riesenfortschritt. 1000 bis 1500 Kubikmeter Wasser kann sie pro Stunde aufbereiten, der Schlamm wird nun auf eine Halde und nicht mehr in die Auf der Penne hat Elbe gespült. »Die Guhl« beherrscht jeden Arbeitsgang, sie einen Aufsatz kann jeden Arbeitsplatz ausfüllen. Als sie geschrieben: Betriebsleiterin werden soll, will einer der »Chemie bringt Schichtleiter nicht unter einer Frau arbei- Brot, Wohlstand ten. Beißen, boxen, und Schönheit.« kratzen muss sie nicht mehr. Kämpfen kann sie noch immer. 40 Beschäftigte hat der Betrieb. Die Betriebsleiterin schrubbt Bereitschaftsdienste ebenso wie Leitungsbereitschaft, oft wird sie nachts ins Werk geholt, häufig auch an Wochenenden. Sie setzt sich durch. Nicht immer gelingt ihr das gegenüber der Parteileitung, die vieles besser weiß als die Fachleute. Wilfried Falkenthals Und stets der Kampf Bild »Veronikas um Ersatzteile wie Mannschaft« entSchieber an den Ab- stand 1981/82. sperrarmaturen. Die muss sie in Reserve haben, sind aber kaum aufzutreiben – sie fährt in Maschinenbaubetriebe, im Kofferraum einen Sack Dünger. Die DDR-Industrie: eine Tauschbörse. 1000 Mark verdient sie nun, dafür ist sie mit ihrer Anlage verheiratet. Eines aber ist Gesetz: Wenn die Kinder Ferien haben, macht die ganze Familie Urlaub. Zum Wintersport geht es in die CSSR, zum Zelten im Sommer mit dem Trabi nach Ungarn. Und wie ihre Mutter einst auf sie übt Renate Guhl auf ihre Kinder ANZEIGE Druck aus: Lernen, gut lernen sollen sie. »Jetzt wächst zusammen, Ihr Sohn Thomas ist was zusammen gehört.« Diplom-Ingenieur für Informatik geworden und arbeitet heute als Administrator in Halle. Karsten wurde Chemiefacharbeiter, er lebt in Bayern. Karneu la, die Diplom-Fiim nanzwirtin, ist Ber! amtin in einem BerOktobe liner Finanzamt. Renate Guhl hat den Betrieb bis 1995 geleitet, dann wurde sie entlassen. Ihr letztes Gehalt betrug 4800 D-Mark, aber ums Geld ging es ihr nie. Deshalb ist sie bei ihrer Partei geblieben, die zunächst zur PDS, dann zur www.dietz-verlag.de LINKEN geworden Verlag J.H.W. Dietz Nachf. • Dreizehnmorgenweg 24 • 53175 Bonn Tel. 0228/23 80 83 • Fax 0228/23 41 04 • info@dietz-verlag.de ist. 36,00 Euro | ISBN 978-3-8012-4195-7 7. Oktober 2009 8 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR Verlorene Worte ABF. Arbeiter- und BauernFakultät – höhere Bildung für bislang Ausgegrenzte. 7. Oktober 2009 Die Überlebenden Markenzeichen aus der Planwirtschaft Bienchen. Belobigungsstempel für fleißige Schulanfänger. 1958 zur besseren Versorgung mit alkoholfreien Getränken entwickelt, war Vita Cola ein Renner. 1994 neu gestartet, steht Vita aus Thüringen heute im Osten hinter Coca auf Platz 2. Campingbeutel. Rucksack für Freizeit und Sport. Dederon. Was im Westen Perlon hieß und nicht gebügelt werden musste. Erichs Krönung. Statt Jacobs und Eduscho gab’s Kaffeemix. Foto: vita-cola.de Trabant, Sandmännchen, Grüner Pfeil – diese Kreationen der DDR kennt noch heute fast jeder. Und zwar in Ost und West. Vieles von dem, was in der DDR ausgedacht und produziert wurde, ist im Orkus der Geschichte verschwunden. Manches wollte niemand mehr, anderes hatte bei der Treuhandanstalt und in der plötzlich hereinbrechenden Marktwirtschaft keine Chance. Es gibt aber auch Überlebende – Marken aus dem Osten, die die turbulenten Nachwendejahre überstanden haben oder die aus dem Nichts wieder aufgetaucht sind – und von denen manche inzwischen den Westen erobern. Einige von ihnen stellen wir hier vor. Die Riesaer Zündhölzer überlebten Wende und Treuhand – werden nun aber vor allem in Osteuropa produziert. Zuletzt setzte ihnen nicht die Krise zu, sondern das Rauchverbot. Foto: zuendholz riesa.de Feierabendbrigade. Manch einer verdankt »Freizeit«baumeistern Haus, Garage und Swimmingpool. Gehhilfe. Liebevolle Umschreibung für einen Trabant. Hausbuch. Anwesenheitsnachweis, in dem kein Westbesucher unerfasst bleiben sollte. Intershop. Für D-Mark-Lose ein Neidtempel Jahresendprämie. Eine Art Weihnachtsgeld für zumeist ausgefallene Leistungen. Wer in den 60er Jahren DDR-Produktwerbung im Fernsehen sah, kennt die Melodie noch: Baden mit Badusan, geträllert von züchtig gefilmten Menschen in der Wanne. Das Schaumbad in der Ente oder dem Fisch fehlte in kaum einem Haushalt. Badusan überstand eine Firmenpleite in der Marktwirtschaft, ist heute bei Dresden zu Hause und wird zur Zeit über Internet verkauft. Foto: badusan.de Der Klassiker von Fit – die Halbliterflasche – ist dem Roten Turm in Chemnitz nachempfunden. Dort begann 1954 die Produktion. Heute verkauft die Firma aus Hirschfelde monatlich mehr als eineinhalb Millionen Flaschen Fit und ist damit drittgrößter Markenhersteller von Spülmitteln in Deutschland. Im Jahr 2000 übernahm Fit die westdeutschen Marken Rei, Rei in der Tube und Sanso. Die Liebesperle stammt aus Görlitz. In der ostsächsischen Stadt erfand der Süßwarenfabrikant Rudolf Hoinkis 1908 die kleinen bunten Zuckerkugeln. Er widmete sie seiner Frau, doch ihm fiel kein Name für das Produkt ein. Den steuerte die Gemahlin bei: Liebesperlen. In der DDR verstaatlicht, ging der Betrieb 1990 wieder in die Hände der Familie Hoinkis über. Die Firma exportiert die Perlen und andere Süßwaren in über 20 Länder. Foto: fit.de Foto: hoinkis.de Kulturschaffender. Jeder, der irgendwie im Verdacht stand, Künstler sein zu wollen. LPG. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. MMM. Messe der Meister von Morgen – Erfinderund Tüftlerbewegung der FDJ. Scharf wie Westsenf – das war in der DDR eine anerkennende Floskel. Doch eigentlich musste man in dieser Frage nicht nach »drüben« schielen. Dass Bautzner Senf konkurrenzfähig ist, beweist er seit der Wende. Marktanteil im Osten: 63 Prozent. Im Westen: Tendenz steigend. Foto: bautzner.de 1920 wurde der Name Florena beim Reichspatentamt angemeldet. In der DDR wurde der Betrieb verstaatlicht; die berühmte blauweiße Cremedose gibt es seit 1960. Seit 2002 gehört Florena komplett der Beiersdorf AG – wie die Konkurrenzmarke Nivea. Foto: florena.de 7. Oktober 2009 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR Wenn im Osten gefeiert wird, dann steht unweigerlich Rotkäppchen auf dem Tisch. Der Sekt aus Freyburg an der Unstrut übernahm 2002 als erstes Ostunternehmen einen großen Westkonkurrenten – die Sektmarken Mumm, Jules Mumm und MM Extra. Die Ursprünge der Firma reichen bis 1856 zurück; der Name Rotkäppchen entstand 1894. Nach einem Wendeknick fing sich das Unternehmen und ist heute eine feste Marktgröße mit allgegenwärtiger TV-Werbung. Foto: rotkaeppchen.de Kathi – das Kürzel steht für den Firmengründer. 1951 ließ Kurt Thiele seine Nährmittelfabrik in Halle an der Saale ins Handelsregister eintragen. Um 1970 verstaatlicht, wurde die Firma nach der Wende wieder von der Familie Thiele übernommen. Das mittelständische Unternehmen erhielt für seine Mehle, Back- und Brotmischungen sowie Zutaten zahlreiche Unternehmer- und Innovationspreise. 9 Ochsenkopfantenne. TV-Antenne für Westempfang, benannt nach dem Sender Ochsenkopf im Fichtelgebirge. Poliklinik. Erst abgewickelt, dann vielerorts als Ärztehaus noch einmal erfunden. Queck Junior. Campinganhänger, 500 kg leer, 350 kg Ferienglück-Zuladung. Rentnervolvo. Foto: kathi.de Spreewälder Gurken sind fast so alt wie der Spreewald selbst. Schon Fontane befand, unter den Spreewaldprodukten stünden »die Gurken obenan«. Der Ruf der Spreewald-Gurken aus der Lausitz ist so gut, dass in der Marktwirtschaft Trittbrettfahrer auf den Plan traten. Seit 1999 allerdings ist der Name Spreewälder Gurken in der gesamten EU geschützt. Zeitung lesen – oder zumindest anschauen – fing in der DDR zeitig an. Die Zeitschrift Bummi richtete sich an Drei- bis Sechsjährige und erreichte eine Auflage von über 700 000 Exemplaren. Der Name Bummi war ohnehin populär – so hieß auch eine Figur im Kinderfernsehen. Heute erscheint »Bummi« in einem Verlag in Rastatt. Foto: Archiv Foto: bummi.de In Anspielung auf die Nobelkarossen der Parteiführung wurden rollende Einkaufstaschen so benannt. SERO. Annahmestelle für Sekundärrohstoffe, also Flaschen, Lumpen, Altpapier. Taigatrommel. Diesellok aus der Sowjetunion. UTP. Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion, ein pädagogischer Grundsatz ab 7. Klasse Vitamin B. Beziehungen, um begehrte Waren oder Dienstleistungen zu erlangen. WBS 70. Wichtigster NeubauWohnungstyp ab 1970. X und Y. Kennzeichen für Kraftfahrzeuge aus den Bezirken Karl-MarxStadt und Dresden. Burger Knäckebrot kommt ursprünglich gar nicht aus Burg, sondern aus Berlin-Lichterfelde. Allerdings verlegte der Ernährungswissenschaftler Wilhelm Kraft, der sich seine Knäcke-Begeisterung in Skandinavien geholt hatte, seine Firma »Erste Deutsche Knäckebrotwerke Dr. Wilhelm Kraft« 1931 nach Burg bei Magdeburg, weil in der Börde das ideale Getreide wächst. Burger Knäckebrot – dann freilich aus dem VEB – war wohl allen DDR-Bürgern ein Begriff. Nach der Wende folgten mehrere Besitzerwechsel; heute ist die Firma nach eigener Darstellung wieder klarer Marktführer im Osten und die Nummer 2 im Bundesmaßstab. Foto: burger-knaecke.de Wernesgrüner Bier zählte dereinst zu den Raritäten. Viel kann man über die Biere der DDR sagen – aber nicht, dass sie alle gut waren. Getrunken wurden sie trotzdem, weil es von fast allem fast nie genug gab. Wernesgrüner dagegen war sagenumwoben, denn man ergatterte es selten; das Bier aus dem Vogtland war eigentlich nur mit Westgeld zu bezahlen. Schließlich kam es aus dem VEB Exportbierbrauerei. Seit 2002 gehört das Jahrhunderte alte Traditionsunternehmen, das sein Produkt als Pils-Legende vermarktet, der Bitburger Gruppe – die Globalisierung kommt auch aus dem Zapfhahn. Johann Bollhagen begann 1835, in der Grabower Marktstraße Brezeln, Pfeffernüsse, Waffeln und andere Backwaren herzustellen. Seit 1951 hieß der Betrieb im Mecklenburgischen VEB Grabower Dauerbackwaren und belieferte die Nordbezirke der DDR. Die berühmten Schaumküsse gehören schon jahrzehntelang zum Sortiment. Seit den 90ern übernahm die Firma zahlreiche Konkurrenten; sie exportiert in 54 Länder und hat sich auch auf dem deutschen Markt fest etabliert: Bei den Lebensmitteldiscountern hat sie nach eigenen Angaben bundesweit einen Marktanteil von 50 Prozent. Foto: wernesgruener.de Foto: grabower.de Zellophanbeutel. Plastik-Beutel für den Einkauf und ähnliche Gelegenheiten. Besonders begehrt mit West-Werbung. Zusammengestellt von René Heilig und Wolfgang Hübner 10 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR Fakt ist, dass die DDR ein hochindustrialisiertes Land mit moderner Landwirtschaft und weltweitem Handel war. Die Urteile über die Wirtschaft des verblichenen Staates gehen weit auseinander. Die einen haben noch die zu Zeiten Walter Ulbrichts aus Prestigegründen in Umlauf gesetzte These im Ohr, die DDR belege – gemessen am absoluten Produktionsumfang – Rang 10 unter den Industrienationen der Welt. Tatsächlich war die in Mengeneinheiten erfasste Produktion im internationalen Vergleich beachtlich. Nur war damit nichts über den Arbeitsaufwand, mithin über die Produktivität gesagt. Für andere glich der zweite deutsche Staat einem Bankrotteur. Diese Schmähthese soll dazu dienen, die überstürzte Art und Weise der D-Mark-Übertragung auf die DDR wie auch die Privatisierungsorgien der Treuhand mit dem hinterlassenen Schuldenberg von 257 Milliarden D-Mark als alternativlos zu rechtfertigen und die Bevölkerung demütig zu machen. 7. Oktober 2009 abgedeckt. Das ökonomische Wachstum war gegenüber vorangegangenen Zeiträumen abgeschwächt, die Akkumulation rückläufig. Die knappen Investitionsmittel wurden auf ausgewählte Zweige (Mikroelektronik, Veredelungschemie, Erdöl- und Erdgaschemie) konzentriert. Das ging zu Lasten vor allem der verarbeitenden Industrie. Deren Kapitalstock alterte, in Infrastruktur und Umweltschutz stauten sich die Rückstände. Die Versorgung der Bevölkerung mit Waren des gehobenen Bedarfs stockte. Der Kaufkraftüberhang stieg. Die Auslandsverschuldung schwoll an, ein immer größer werdendes Inlandsprodukt musste für die Devisenerwirtschaftung aufgewendet werden, um den Schuldendienst zu leisten. Eine grundlegende Reformierung der Wirtschaft war überfällig. Bevölkerungsversorgung litt. Es zeigte sich jedoch bald, dass die Westverschuldung überhöht angegeben war. Doch die Panikziffer wurde von der BRD sofort aufgegriffen und als Hebel für die Durchsetzung eigener Interessen genutzt. Bis heute werden genüsslich Verschuldungszahlen aus dem sogenannten Schürer-Papier kolportiert, obwohl diese mehrmals öffentlich korrigiert wurden. Schürer hatte bereits Ende November 1989 die Volkskammer der DDR darüber informiert, dass die Westverschuldung der DDR nicht 49 Milliarden D-Mark beträgt, wie im Geheimpapier genannt, sondern 38 Milliarden D-Mark. Unter dem Druck der Ereignisse hatte der Bereich Kommerzielle Koordinierung zu einem Teil seine bis dahin streng geheim gehaltenen, außerhalb der offiziel- Aber war die DDR pleite? Nein! Pleite ist ein Staat, wenn er seinen fälligen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen kann und als nicht mehr kreditwürdig gilt. Beides traf Ende 1989 nicht zu. Ob das bei unveränderter Politik in zwei, drei oder vier Jahren eingetreten wäre, ist Spekulation. Woher aber stammt die von Politikern der BRD ab Februar 1990 verbreitete Alarmmeldung, die DDR sei bankrott? Welche Ironie! Als »Kronzeugen« gelten bis heute der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, und der Chef des Außenhandelsbereiches Kommerzielle Koordinierung, Alexander SchalckGolodkowski, sowie drei weitere Autoren einer von Egon Krenz am 24. Oktober 1989 in Auftrag gegebenen Geheimen Verschlusssache zur »Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen«. Darin gehen sie von einer unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit aus. Für Ende 1989 erwarteten sie Bruttoschulden in konvertierbarer Währung in Höhe von 49 Milliarden Valutamark bzw. DMark. Daran hätte die Volkswirtschaft tatsächlich ersticken können, weniger wegen der nominalen Höhe der Verbindlichkeiten, sondern weil die Mittel für den Schuldendienst mit immer höherem Inlandsaufwand erwirtschaftet werden mussten. In den 1980er Jahren waren 4,40 Mark der DDR für eine Valuta-/D-Mark aufzubringen. Das hatte die inländische Verwendung immer empfindlicher geschmälert, worunter die len Zahlungsbilanz geführten Devisenreserven offengelegt. Voll aufgedeckt waren sie zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht. Am 11. Mai 1990 gab der Finanzminister der de-Maizière-Regierung, Walter Romberg, vor dem Parlament bekannt, dass die Auslandsverschuldung gegenüber westlichen Ländern per 31. März 1990 in D-Mark umgerechnet 27,2 Milliarden betrug. Im Monatsbericht der Bundesbank vom Juli 1990 wurden die zu diesem Zeitpunkt erfassten Verpflichtungen in konvertierbaren Devisen mit 24,7 Milliarden D-Mark angegeben. Die Lage hatte sich also entdramatisiert. Schließlich wies die Deutsche Bundesbank in einem Bericht vom August 1999 als Netto-Schuldenstand der DDR in konvertierbaren Devisen am 30. Juni 1990, also einen Tag vor Beginn der Währungsunion, 19,8 Milliarden D-Mark aus. Zum Vergleich: Berlin allein steckt heute mit über 60 Milliarden Euro in den roten Zahlen. Was um die Jahreswende 1989/90 anstand, war: Modernisierungs- und Wachstumsblockaden lösen und zukunftsfähige Strukturen ausbauen. Auf bundesdeutscher Seite fehlte aber die Bereitschaft, der ostdeutschen Wirtschaft Zeit und Mittel dafür zu gewähren. Mitglieder der ost-west-gemischten Kommission zur Vorbereitung der Währungsunion berichteten, die Ost-Vertreter hätten immer am kürzeren Hebel gesessen, weil über allen Verhandlungen erschreckende Zahlen aus dem »Schürer-Papier« schwebten. Die Annäherung an die historische Wahrheit ist langwierig. Ein Bankrotteur? Ein Wirtschaftszwerg, aber nicht pleite Von Christa Luft Prof. Christa Luft war in der DDR Rektorin der Hochschule für Ökonomie »Bruno Leuschner« in Berlin. In der Regierung unter Hans Modrow nahm sie das Amt des Wirtschaftsministers wahr. Eberhard Heilands Bild »Die Aura der Schmelzer« stammt aus dem Jahr 1988. Beide Sichten widerspiegeln die Realität verzerrt. Fakt ist, dass die DDR ein hoch industrialisiertes Land mit moderner Landwirtschaft und weltweiten Außenhandelsbeziehungen war. Ihre größten Ex- und Importpartner waren die Sowjetunion und die BRD. Bis zum Ende ihrer Existenz belegte sie unter den RGW-Ländern in der Wirtschaftsleistung pro Kopf den ersten Rang. In Wissenschaft und Technik nahm sie einen Spitzenplatz ein. Das traf auch auf den Lebensstandard der Bevölkerung zu. Mit vielen entwickelten westlichen Ländern konnte sie sich ebenfalls messen. Im Vergleich mit der BRD erwies sich die Produktivität der Wirtschaft als Achillesferse. Bereits in den ersten 15 Nachkriegsjahren war gegenüber dem Marshall-Plan-begünstigten Nachbarn ein Rückstand eingetreten, der bis zuletzt nicht mehr aufgeholt werden konnte. Neben systemeigenen Ursachen waren dafür äußere Erschwernisse maßgebend, so umfangreiche Reparationsleistungen an die UdSSR in Form von Demontagen und Entnahmen aus der laufenden Produktion, Embargomaßnahmen kapitalistischer Länder, die offene Grenze zum Westen und die Abwanderung hochqualifizierter Männer und Frauen, die Zugehörigkeit zu einem Verbund ökonomisch und ökologisch weniger entwickelter Länder. Ende der 1980er Jahre hatte sich die ökonomische Lage der DDR zugespitzt. Erich Honeckers Kurs der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik war durch die reale Leistungsfähigkeit der Wirtschaft nicht 7. Oktober 2009 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 11 Geisterfahrer Autoritätsgläubigkeit und Paternalismus Von Thomas Klein Es kostet schon einige Überwindung, sich heute ausgerechnet im ND, inzwischen vom »Zentralorgan« zur »sozialistischen Tageszeitung« gewendet, zum bevorstehenden 20. Todestag der DDR zu äußern. Wer zu Lebzeiten der DDR an einem »Republikgeburtstag« das ND aufschlug, sah sich gewöhnlich einer Überdosis der auch sonst gängigen Selbstbeweihräucherung ausgesetzt. Die Mitteilungen von journalistischen Kopflangern der SED-ZK-Abteilung Agitation zwangen den Leser sowieso, zwischen den Zeilen zu lesen, um einen Zipfel Wirklichkeit zu erwischen. Doch an einem 7. Oktober nutzte selbst das nichts. Als geübter Zeitungsleser konnte man höchstens an den Häufungspunkten überbordenden Selbstlobs die Zentren bereits ausgewachsener Krisen erahnen. Ob das diesjährige Gedenken an 60 Jahre Bundesrepublik bessere Noten verdient, mag verschieden beurteilt werden. Dieses Geburtstagsfest wurde jedenfalls effektvoll in Beziehung gesetzt zur Totenfeier der DDR. Solche Inszenierungen erlauben zuweilen auch tiefe Einblicke in den Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft. In dieser soll nun alles anders sein. Was ist anders? Damaliger Abwesenheit kritischen Journalismus’ steht heute dessen Folgenlosigkeit gegenüber. Die Funktion früherer Erfolgspropaganda in der vertuschten Krise übernimmt heute die Konditionierung der Bürger auf ihre willkommene Opferbereitschaft für das »Gemeinwohl« mit gleichzeitigem Ausblick auf künftige Besserung, wenn die Krisenopfer den Gürtel zugunsten der Krisengewinner noch enger schnallen. Das Bild wird bestimmt durch die Schamlosigkeit galoppierenden Sozialabbaus bei gleichzeitiger Begünstigung der Oberschichten, die Kommerzialisierung bzw. den Verfall aller Sektoren gesellschaftlicher Wohlfahrt (Kultur, Bildung, Verkehrs- und Gesundheitswesen) sowie die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Was hat das alles nun mit dem zeitgenössischen Erinnern an die DDR zu tun? Es hat fatale Folgen. Angesichts der gegenwärtigen sozialen Unsicherheit in ganz Deutschland und tief greifender Enttäuschungen über einige Resultate von 20 Jahren deutscher »Einheit« in großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung scheint sich vielerorts auch das Erinnern an 40 Jahre DDR zu verändern. Die berechtigte Sehnsucht nach einem Zustand sozialer Sicherheit und öffentlicher Wohlfahrt mischt sich mit einer unreflektierten »Ostalgie», die zwar wenig mit dem Wunsch nach einer Rückkehr zur SED-Diktatur, aber viel mit dem hilflosen paternalistischen Hang nach sozialem Autoritarismus á la DDR zu tun hat. Die gesamtdeutsche mangelnde Emanzipation vom obrigkeitsstaatlichen Denken hat im Osten die Gestalt einer unabgeschlossenen Verarbeitung von vergangener politbürokratischer Stellvertreter-Ermächtigung. Die Erinnerung an die Massendemonstrationen des Herbstes 1989 und die Wucht des Rufes »Wir sind das Volk« wird aufgegeben zugunsten der Hoffnung auf die Rettung beim Urnengang. In Vergessenheit gerät, dass die Verteidigung und Ausweitung sozialer Rechte nur in der Selbsttätigkeit derer, die sie erkämpft haben, gut aufgehoben ist. Wo sich autoritäre Parteiengläubigkeit mit den neuen Realitäten einer neoliberalen Barbarei mischt, haben der Klassenkampf von oben und die Aushöhlung demokratischer und sozialstaatlicher Errungenschaften beste Chancen. Doch es kommt noch Einiges hinzu: Natürlich ist auch die Erinnerung an die DDR anhaltend von tagespolitischen Kämpfen der Konkurrenten auf dem Markt der veröffentlichten Meinung und politischen Parteien gezeichnet. Im publizistischen Mainstream fungiert die DDR, an der es wenig Positives hervorzuheben gibt, umso mehr als negative Projektionsfläche demagogischer Verherrlichung gegenwärtiger Staatlichkeit. Die mitunter haarsträubende Dümmlichkeit, mit der solche geschichtspolitischen Konstruktionen den ehemaligen Bewohnern dieses untergegangenen Staates zugemutet werden, feuert die unangebrachte Beschönigung dessen vergangener Existenz nun auch noch an. Früher, in der DDR, funktionierte die Delegitimierung der Perspektive eines freiheitlichen, demokratischen Sozialismus durch das Erleben der Realität einer stalinistischen und parteibürokratischen Despotie nachhaltiger, als es der real existierende Kapitalismus je vermochte. Heute produziert die gegenwärtige Gesellschaft (natürlich ungewollt) materielle und »ideologische« Ressourcen zur fragwürdigen Rehabilitierung und Verklärung einiger Momente autoritärer Wohlfahrtsstaatlichkeit in der DDR. Ohne die Überwindung damals entstandener als auch gegenwärtiger Autoritätshörigkeit wird es nichts werden mit einer wirklichen Emanzipation. Im vereinigten Deutschland treffen wir heute auf ein bemerkenswertes Spektrum der Verarbeitung vergangener und gegenwärtiger Zumutungen. Zwei Beispiele: Mehr als einmal haben ehemalige Funktionsträger der SED, die mir früher in der DDR beinhart und drohend als Sachwalter der politischen Reinheit gegenübertraten und die Verwerflichkeit gerade linker Opposition in der DDR begreiflich zu machen versuchten, mich nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik von den Vorzügen der jetzt herrschenden Ordnung überzeugen wollen – und mich vor der Sinnlosigkeit linker Opposition in Deutschland gewarnt. Zu dieser eher komischen Spielart systemübergreifenden Opportunismus’ gesellt sich jedoch auch eine vorwiegend deprimierende Variante neudeutscher Friedfertigkeit: Viele »ehemalige Bürgerrechtler« (so lautet heute die Sprachregelung) – in der DDR mutig und unbestechlich gegen die nominalsozialistische Diktatur, für Demokratie und Menschenrechte kämpfend – sehen heute keinen Anlass, etwa die zeitgenössische Entwürdigung der vom Kapital unverwertbaren Arbeitskräfte durch die Hartz–IV-Gesetze wenigstens als Menschenrechtsfrage zu entdecken. Als sich die Aushöhlung bürgerlicher demokratischer Standards durch den Ausbau des hoch technisierten Überwachungsstaates beschleunigte, gedachte man »in der Szene« gerade des Überfalls der Stasi auf die Berliner Umweltbibliothek 20 Jahre zuvor. Während dieses Gedenkens wurden u. a. Autoren des »telegraph«, der Nachfolgezeitschrift der damals von der Umweltbibliothek herausgegebenen »Umweltblätter«, von der Bundesanwaltschaft mit grotesken Beschuldigungen und Ermittlungsverfahren überzogen. Den meisten Feiergästen war das zeitgenössische Geschehen um die nach allen Regeln der Kunst von den Staatsschutzorganen observierten Autoren nur ein dröhnendes Schweigen wert. Doch anderswo gab es Solidarität, und sie war – wie damals auch – nicht vergeblich. Nach wie vor gilt: Vorwärts und nicht vergessen … »Berliner Vorortstraße« von Konrad Knebel aus dem Jahre 1956 Ohne die Überwindung in der DDR entstandener als auch gegenwärtiger Autoritätshörigkeit wird es nichts werden mit einer wirklichen Emanzipation. Der Bürgerrechtler und Historiker Thomas Klein war 1979/80 in der DDR inhaftiert, gründete Mitte der 80er Jahre die Gruppe Gegenstimmen und war im Herbst 1989 Mitbegründer der Vereinigten Linken. 12 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR Hätte sich die SED-Führung dem schöpferischen, kritischen Denken gegenüber aufgeschlossen verhalten, wäre es schon damals möglich gewesen, den Bruch mit dem Stalinismus zu vollziehen. Unbestritten stellte die Zeit nach dem XX. Parteitag der KPdSU auch für die DDR eine große Chance dar, mit dem Konzept des sowjetisch geprägten autoritären Sozialismus zu brechen und stattdessen dem demokratischen Sozialismus den Weg zu bahnen. Der Literaturwissenschaftler und Querdenker Hans Mayer schrieb: »Zeitweilig glaubten wir, es gab eine reale Chance. Die Situation mit Ulbricht konnte nicht dauern. Dass 1956, in der Periode des sogenannten Tauwetters, eine Mannschaft aus Kadern der Partei, der anderen Organisationen und der übrigen Bevölkerung bereitstand, um das Ulbricht-System zu stürzen, ist sicher.« Mayers Bewertung wird man kaum widersprechen können. Es gab 1956 nicht nur unter den Intellektuellen des Kulturbundes eine alternative Programmatik, die in Texten von Walter Versäumte Chancen Wie kritische Geister der Macht unterlagen Von Siegfried Prokop Jüngste Bücher des Berliner Geschichtsprofessors Siegfried Prokop: »1956 – DDR am Scheideweg« und »Der versäumte Paradigmenwechsel 1978« »Brecht, Weigel, Eisler in Buckow« von Arno Mohr, 1977 Janka und Gustav Just sowie in Wolfgang Harichs »Memorandum« und »Plattform« gipfelte; dieser Ansatz war auch mit Karl Schirdewan im Politbüro und in Regierungskreisen feststellbar. Selbst Otto Grotewohl ging davon aus, dass nach dem XX. Parteitag der KPdSU das Ziel im Aufbau eines »westlichen Sozialismus« bestünde. Das theoretische Denken erlebte in der DDR einen Aufschwung wie in keinem anderen Land. Auf Initiative von Ernst Bloch, Wolfgang Harich und Georg Klaus fand vom 8. bis 10. März 1956 an der Akademie der Wissen- 7. Oktober 2009 schaften die Konferenz »Das Problem der Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus« statt. Dieser erste Versuch einer philosophischen Neubestimmung der internationalen Linken nach Stalins Tod führte Ernst Fischer, Roger Garaudy, Leszek Kolakowski, Ernst Bloch, Hermann Duncker, Friedrich-Karl Kaul, Rudolf Schottlaender und Kurt Hager mit den Konferenz-Initiatoren zusammen. Der ebenfalls eingeladene Georg Lukács konnte nicht teilnehmen. Harich, der eine »marxistische Anthropologie« verlangte, sprach über »Das Rationelle in Kants Konzeption der Freiheit«. Dieser erste Versuch einer theoretischen Neubestimmung sollte zugleich die letztmalige Begegnung eines so erlauchten Gremiums linker Denker in der DDR werden. Hätte sich die SED-Führung diesem schöpferisch-kritischen Denken gegenüber aufgeschlossen verhalten, wäre es schon damals möglich gewesen, den Bruch mit dem Stalinismus zu vollziehen. Doch der im Ergebnis der sowjetischen Intervention in Ungarn möglich gewordene Sieg Ulbrichts über seine innerparteilichen Kritiker führte zur rigorosen Abrechnung mit den unbequemen Geistern Bloch, Harich, Janka und Just. Die nach Chruschtschows halbherziger Kritik am Personenkult um Stalin 1956 kaum in Gang gesetzte Rückkopplung zwischen Theorie und Politik kam nun wiederum ins Stocken, alte Dogmen blieben letztlich unangetastet. Ulbricht war allerdings zu klug, diese Rückkopplung vollends zu unterbinden. Mit der 1957 vollzogenen Gründung des Forschungsrates der DDR kanalisierte er sie auf das weite Feld der Naturwissenschaft und Technik. Außerdem bemühte er sich, Elemente der Harichschen Plattform trotz deren öffentlicher Verunglimpfung als »konterrevolutionär« in seine Politik einzubauen, in sein Konzept des »realen Sozialismus«. In Politik, Gesellschaft und Staat beförderte Ulbricht jedoch auch angesichts der erneuten Krise von 1960/61 die parteipolitische Zentralisierung. Als kurzzeitiges Krisenmanagement hätte dies gewiss Sinn gemacht, wenn sodann der notwendige gesellschaftliche Modernisierungsschritt nicht blockiert worden wäre, den nun Robert Havemann mit Demokratisierung als den wichtigen zweiten Schritt der Revolution einforderte. Wir wissen, dass trotz der beachtlichen Reformfähigkeit, die das Neue Ökonomische System beinhaltete, es zu keinem Fortschritt bei der Reform des politischen Systems kam. Man kam hier über Ansätze wie die These des VI. Parteitages der SED vom »Übergang von der Diktatur des Proletariats zum Staat des Volkes« sowie den Mitgliederzulauf zur CDU, DBD, LDPD und NDPD Mitte der 60er Jahre nicht hinaus. Obwohl Ulbricht selbst mit der Aufnahme der Kybernetik in die Gesellschaftstheorie der SED 1967 vorsichtig zu erkennen gab, dass ihm die alten ML-Dogmen als Führungsinstrumentarium nicht mehr genügten. Doch das Pendel schlug in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu Gunsten der reformfeindlichen Honecker-Gruppe im Politbüro aus, die sich nach Chruschtschows Sturz auf die Breshnew-Administration in Moskau stützen konnte. Nach der militärischen Intervention zur Zerschlagung des Prager Frühlings entschied sich die Niederlage der kritischen Theorie gegenüber der Politik. Die DDR bewegte sich nach 1968 wie andere osteuropäische Länder Schritt für Schritt und blindlings sicher auf den Untergang zu. Honecker ging mit dem Reform-Potenzial in der SED ähnlich rigide um wie Ulbricht 1956/57. Die Kritik Wolf Biermanns, Rudolf Bahros und Hermann von Bergs wurde abgeblockt; Biermann ausgewiesen, Bahro eingesperrt und von Berg erst eingesperrt, dann beruflich kaltgestellt und schließlich aus dem Land hinaus »komplimentiert«. Der Ökonom Fritz Behrens musste seine höchst aufschlussreichen Studien versteckt halten. Gerade seine Analysen, die erst nach der Wende publiziert werden konnten (»Abschied von der sozialen Utopie«, Berlin 1992), verdeutlichen, in welchem Maße der »reale Sozialismus« als »linker Staatsmonopolismus« in die historische Sackgasse geraten war. Dies erkennend, hatte Behrens eindringlich systemtranszendente Reformen angemahnt. Doch auch dieser Intellektuelle ward nicht erhört worden. 7. Oktober 2009 In der Dritten Welt ist die Erinnerung an die DDR noch nicht verblasst. Das hat seine guten Gründe. Man erinnert sich an die vielfältige Unterstützung des ostdeutschen Staates für den nationalen Befreiungskampf gegen die alten Kolonialmächte. Von DDR-Bürgern aufgebaute Fabriken und Schulen sind in einigen afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern noch heute in Betrieb. Auch die kulturellen Kontakte waren mannigfaltig. Das ist alles bekannt. Weniger hingegen sicher der UN-Blauhelmeinsatz von DDR-Bürgern. Als die DDR in ihr letztes Jahr eintrat, sollte sich für das bis dato von Südafrika besetzte Namibia das Tor zur Unabhängigkeit öffnen. Wahlen unter UN-Aufsicht entließen 1989 nach jahrzehntelangem Befreiungskampf die letzte Kolonie in die Unabhängigkeit. Beteiligt war die DDR. Nach zehnjähriger Verzögerung des UNUnabhängigkeitsplans für Namibia durch das von der Reagan-Administration in Washington gestützten Südafrika sollte dieser am 1. April 1989 endlich in die Realität umgesetzt werden. Der UN-Plan beinhaltete Rückzug der südafrikanischen Truppen, Rückkehr der Flüchtlinge sowie Wahlen unter Kontrolle der UN-Übergangshilfsgruppe UNTAG und die Proklamierung von Namibias Unabhängigkeit im Verlauf eines Jahres. Streit in den Vereinten Nationen um das UNTAG-Budget verzögerte jedoch deren Einsatz. Der UN-Sonderbeauftragte für Namibia, Martti Ahtisaari, verfügte am 1. April nur über einen Bruchteil der vorgesehenen Polizeikräfte. An jenem Tag meldete Südafrika das Eindringen von Kämpfern der Befreiungsbewegung SWAPO aus Angola, forderte den Einsatz der eigenen Truppen zur »Wiederherstellung der Ordnung« und drohte mit dem Scheitern des gesamten UN-Plans. Ahtisaari musste ohnmächtig zähneknirschend einem begrenzten südafrikanischen Einsatz zustimmen. Tatsächlich waren SWAPO Kämpfer in Nordnamibia einmarschiert, wo die UN noch nicht präsent war. Südafrika nahm dies zum Vorwand für einen massiven Militärschlag mit Hunderten von Toten auf Seiten der SWAPO. Der UN-Namibiaplan war akut gefährdet und damit die politische Konfliktlösung in der Region insgesamt bedroht. Nach einer Woche hektischer diplomatischer Verhandlungen zwischen Vertretern von Angola, Kuba, Südafrika, der USA und Sowjetunion konnte ein Ende der Kämpfe erreicht werden. Ahtisaari kam nun erst wieder zum Zuge. Er etablierte UNTAG landesweit, hatte es aber nicht leicht, die Vertrauenskrise seiner Einheiten angesichts der blutigen April-Ereignisse zu überwinden. Schließlich gelang es ihm jedoch, die Intentionen der UN gegenüber Südafrika durchzusetzen, unterstützt durch diplomatische Beobachtermissionen aus 40 Ländern, darunter der DDR. 42 000 Flüchtlinge kehrten nach Namibia zurück, auch mit Interflug-Sondermaschinen, die zudem dringend benötigte Zelte und Hilfsgüter aus der DDR ins Land brachten. SWAPO-Präsident Sam Nujoma führte kurz vor der Rückkehr in seine Heimat noch Konsultationen in Berlin. Die DDR hatte den von westlichen Staaten erarbeiteten UN-Namibiaplan 1978 noch als Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 13 «Abtransport der sechsarmigen Göttin« von Harald Metzkes entstand 1956. Die erste und letzte UN-Mission Blauhelmeinsatz in Namibia Von Hans-Georg Schleicher Man erinnert sich noch heute in Asien, Afrika und Lateinamerika an die vielfältige Unterstützung des ostdeutschen Staates für den nationalen Befreiungskampf gegen die alten Kolonialmächte. Dr. Hans-Georg Schleicher, Botschafter a.D., ist heute noch oft in Afrika unterwegs, u. a. für SODI. ANZEIGE einen Versuch abgelehnt, eine Machtübernahme der SWAPO zu verhindern. Inzwischen wurde der Plan als realistischer Kompromiss für eine politische Konfliktlösung aktiv unterstützt. Auch deshalb wurde die DDR-Beobachtermission trotz sowjetischen Widerspruchs nach Windhoek entsandt. Bei der Verwirklichung des UN-Plans kam der Polizei-Funktion der UNTAG eine Schlüsselrolle zu. Mitte 1989 wurde beschlossen, ihre Stärke zu verdreifachen. Hier kamen nun auch beide deutsche Staaten zu ihrem ersten Blauhelmeinsatz – 50 Mann vom Bundesgrenzschutz und 30 Polizeibeobachter aus der DDR. Da patrouillierten an der angolanischen Grenze auch schon mal Volkspolizei und Bundesgrenzschutz gemeinsam im UN-Schützenpanzer. Die UNTAG-Polizeibeobachter trugen dazu bei, latente Konflikte zu entschärfen und unter Kontrolle zu halten. Die Verleihung der UN-Friedensmedaille war dann auch mehr als nur eine Geste. Zu den Wahlen vom 7. bis 11. November reisten weitere 1200 internationale Beobachter nach Namibia, wiederum auch aus der DDR. Die internationale Präsenz trug zum Erfolg der Wahlen bei, an denen sich beeindruckende 95 Prozent der Bevölkerung beteiligten. Während auf Windhoeks Straßen der Wahlsieg der SWAPO gefeiert wurde, bilanzierte die UNO eine ihrer erfolgreichsten Missionen. UNTAGStabschef Cedric Thornberry erwähnt in seinen Erinnerungen an Namibia lobend auch explizit die DDR-Mission. P a p y R o s s a Ve r l a g | Luxemburger Str. 202 | 50937 Köln Eberhard Czichon / Heinz Marohn: Das Geschenk Die DDR im Perestroika-Ausverkauf Interviews mit Zeitzeugen, die in der DDR hohe Funktionen innehatten, zu den Vorgängen von 1989/90 bisher aber geschwiegen haben, sowie unbekannte Dokumente eröffnen unerwartete Einblicke in das Ende der DDR und in die Rolle ihrer »Reformer«. 526 Seiten; Euro 22,90 Peter Jung (Hg): AufBRUCH – 9. November ’89 Leserbriefe aus der DDR Ohne zu ahnen, dass abends ein Genosse Schabowski die Grenze öffnen würde, schrieben am 9. November ‘89 zahlreiche Leser an die Junge Welt. Etliche bekannten sich zu einer Erneuerung des Sozialismus, einige hielten ihn für gescheitert, ein Mauerfall stand aber für keinen zur Debatte. Ein Stimmungsbild. 168 Seiten; Euro 12,90 Ludwig Elm: Wenn ich einmal der Kanzler wär Ein Zwischenruf zur deutschen Einheit »Wenn ich einmal der Herrgott wär« betitelte Karl Valentin ein Couplet. Diese Simulation nutzend, konfrontiert Ludwig Elm die bundesdeutsche Vereinigungspolitik mit Alternativen. Er untersucht aktuelle Debatten um DDR und NS-Vergangenheit und holt die historischen Leichen aus dem Keller von CDU/CSU und FDP. 186 Seiten; Euro 14,90 Tel.: 0221 / 44 85 45 | www.papyrossa.de | mail@papyrossa.de 14 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7. Oktober 2009 Patient statt Kunde Ein Wort ist Synonym für das Gesundheitswesen der DDR: Poliklinik.Die Zerstörung dieses Systems ist ein Sündenfall der Vereinigung. »Schwimmer« von Willi Sitte, 1971 Dr. med. Heinrich Niemann ist Facharzt für Sozialmedizin und war von 1992-2001 Gesundheitsstadtrat in Berlin-Hellersdorf. An ihrem Gesundheitswesen ging die DDR nicht zugrunde Von Heinrich Niemann 1989 gehörte das Gesundheitswesen der DDR international zu den leistungsfähigen und anerkannten Systemen der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzte beispielsweise die medizinische Basisversorgung der Bevölkerung. Trotz des beträchtlichen Unterschieds in der ökonomischen Leistungskraft befanden sich die DDR und die Bundesrepublik in den wesentlichen medizinischen Standards und gesundheitlichen Kennziffern auf einem vergleichbar hohen Niveau. Das berufliche Können der 52 000 Ärzte und Zahnärzte wurde nie in Frage gestellt. Ihr hoher Ausbildungsstand verweist auch auf das anerkannt hohe Niveau der Lehre an den medizinischen Hochschulen der DDR. Waren in der BRD medizintechnische Geräte oder Heilmittel für die Behandlung bestimmter Krankheiten besser verfügbar, so standen dem in der DDR bessere Ergebnisse auf dem Gebiet der Vorbeugung, der Kindergesundheit und des Impfschutzes gegenüber. Nicht zu bestreiten sind manche Engpässe, so die zu langen Wartezeiten bei Untersuchungen mit modernen Importgeräten wie Compu- tertomografen, die nicht in ausreichender Zahl vorhanden waren. Immerhin waren die Gründe nachvollziehbar – im Gegensatz zur heutigen Situation, in der es unerträgliche Wartezeiten gibt, obwohl an Geräten kein Mangel herrscht. An ihrem Gesundheitssystem ist die DDR sicher nicht zugrunde gegangen. In der benachbarten Bundesrepublik wusste man zu jener Zeit sehr wohl von den Vorzügen einer poliklinischen Struktur oder anderen Stärken, die möglicherweise gern übernommen worden wären. Aber was ist ein Bundesminister oder ein Ärztekammerpräsident gegen eine Kassenärztliche Vereinigung oder die Lobby der Pharmaindustrie? Deren Ohnmacht zieht sich durch alle Reformen des bundesdeutschen Gesundheitssystems, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Trotz des enormen medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts der letzten beiden Jahrzehnte mit den Möglichkeiten der digitalen Datenverarbeitung und den deutlichen baulichen Verbesserungen in vielen DDR-Krankenhäusern seit der Vereinigung bleibt der Umbau des Gesundheitssystems eine höchst aktuelle Aufgabe. Das zweifellos hoch entwickelte bundesdeutsche Gesundheitssystem leidet an steigenden Kosten, zunehmender Zwei-Klassen-Medizin und territorialen Disproportionen, die nur mit strukturellen Veränderungen grundsätzlicher Art zu beheben sind. Ein zentrales Merkmal der DDR war der staatliche Charakter ihres Gesundheitswesens, verbunden mit dem programmatischen Ansatz, den Gesundheitsschutz als gesamtgesellschaftliches Aufgabe zu verstehen und zu gestalten. Das steht den heutigen Tendenzen der Privatisierung und Unterwerfung unter die Marktgesetze diametral entgegen. Mit dem Wort »staatlich« waren nicht nur die Eigentumsverhältnisse angesprochen. Es beinhaltete die unmittelbare Verantwortung des Staates für die Gesundheitspflege. Ein Beispiel: Eine gesetzliche Pflicht etwa zu bestimmten Impfungen oder für Reihenuntersuchungen von Kindern festzulegen, implizierte auch die Verpflichtung, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Das setzte die DDR um. Die einheitliche Krankenversicherung der DDR war transparent, sozial gerecht, kostengünstig und unbürokratisch. Ambulante und stationäre Behandlung bildeten eine Einheit, ebenso Prophylaxe, Diagnostik, Therapie und Nachsorge. Der vorbeugende Gesundheitsschutz spielte eine große Rolle – besonders bei Kindern und in Betrieben. Es existierte ein abgestimmtes System der Aus-, Weiter- und Fortbildung für Ärzte und andere Gesundheitsberufe. Aus all diesen Grundsätzen wurde eine sinnvolles, fachlich und territorial abgestimmtes System der medizinischen Grundbetreuung, der spezialisierten und der hoch spezialisierten Betreuung entwickelt. Ein Dispensairebetreuungssystem für Patienten mit Krankheiten wie Tuberkulose, Lungenkrankheiten, Rheuma oder Diabetes wurde aufgebaut, dessen Stärke die Erfassung und Betreuung praktisch aller Betroffenen, stringente medizinische Standards und entsprechende Weiterbildung des Personals waren. Es wurden sinnvolle gesetzliche Regelungen für komplizierte Probleme gefunden. So galt bei Organspenden die Nichteinwilligungsregelung. Wer eine Spende nicht ausdrücklich abgelehnt hatte, galt als Spender – ein System, das in anderen Ländern heute noch existiert und das sich einige Experten für die Bundesrepublik wünschten, weil es Leben retten könnte. Dem Ministerium für Gesundheitswesen zugeordnete Institute befassten sich mit Spezialfragen wie dem Kinder- und Jugendgesundheitsschutz, der Arbeitsmedizin oder der Organisation des Gesundheitsschutzes sowie mit der Facharztaus- und Fortbildung. Beispielhaft war die Gesundheitsstatistik – darunter das Krebsregister. Fast auf all diesen Feldern besteht in der Bundesrepublik Handlungsbedarf, weil oft nicht alle betroffenen Bürger oder Patienten mit den heutigen Strukturen erreicht werden und auch in fachlicher Hinsicht nicht selten Mängel festgestellt werden. Ein Wort ist inzwischen fast zum Synonym für das DDR-Gesundheitswesen geworden: Poliklinik. Die Zerstörung dieses Systems ist der gesundheitspolitische Sündenfall der Vereinigung. Polikliniken waren keine Erfindung der DDR. Ihre historischen Wurzeln liegen in der Idee einer »Sozialen Medizin« Rudolf Virchows ebenso wie in den in der Weimarer Republik entstandenen Ambulatorien der Krankenkassen. Nicht nur die Sowjetunion, sondern auch westeuropäische Länder nahmen sie sich nach 1945 zum Vorbild. Polikliniken sind mehr als Praxisgemeinschaften. Ihr Prinzip ist die Einheit vorbeugender, kurativer und rehabilitativer sowie sozialer Maßnahmen. Das erfolgt in einer abgestimmten Zusammenarbeit mehrerer für die ambulante Betreuung notwendiger Fachdisziplinen, in der Regel unter einem Dach. Ärzte und andere Berufsgruppen arbeiten gleichberechtigt zusammen und sind als Angestellte beschäftigt. So ist das individuelle ärztliche Handeln nicht unmittelbar vom finanziellen Wert der einzelnen ärztlichen Maßnahmen beeinflusst. Der Patient ist kein Kunde, die Gesundheit keine Ware. Eine Poliklinik kann einen vorbeugenden Ansatz und eine aufsuchende medizinische Arbeit im Unterschied zur Einzelpraxis viel besser organisieren. Die Poliklinik kann sozialen Belangen des Patienten besser Rechnung tragen und kommunale Funktionen zu Gesundheitsfragen in ihrer Stadt erfüllen. Betriebswirtschaftlich, also bei den Kosten, liegt ihr Vorteil allein mit Blick auf die bessere Auslastung vieler Geräte auf der Hand. AUSGEWÄHLTE VERANSTALTUNGEN BERLIN 4. NOVEMBER AB 10:30 »EINES LANGEN TAGES REISE ... DER 4. NOVEMBER 1989 IN BERLIN – DER WEG ZUR DEMOKRATIE« MULTIMEDIALE REKONSTRUKTION DIESES EREIGNISSES UND PODIUMSDISKUSSION MIT ZEITZEUGINNEN REIHE «GESCHICHTSJAHR 2009» Mit: Lothar Bisky, Konrad ElmerHerzig, Gregor Gysi, Luc Jochimsen, Johanna Schall, Hennig Schaller, Friedrich Schorlemmer, Franz Sodann, Joachim Tschirner u. a. Ort: KINO BABYLON-MITTE RosaLuxemburg-Str. 30, 10178 Berlin Kontakt: WOLFGANG BEY Tel. 030 44310-161, bey@rosalux.de BUNDESWEIT Detlef Nakath u. a. Ort: ALTES STADTHAUS Bärensaal, Eingang Jüdenstr. 42, 10179 Berlin Kontakt: WOLFGANG BEY Tel. 030 44310-161, bey@rosalux.de 20. NOVEMBER 17:00 BIS 22. NOVEMBER 16:00 MARX – WELCOME BACK? MARX-HERBSTSCHULE 2009 Thema: Die zentralen Begriffe des Zirkulations- und Kreislaufprozesses des Kapitals Ort: ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin Kontakt: SABINE NUSS Tel. 030 44310-448, nuss@rosalux.de 13. NOVEMBER 17:00 BIS 14. NOVEMBER 24:00 ÜBERLEBEN IN DEN «CREATIVE INDUSTRIES» ZWISCHEN LUST UND LAST DES INFORMELLEN. INTERNATIONALE KONFERENZ Wissenschaftiche Analyse trifft auf zugespitzte publizistische Meinung und literarische, filmische und darstellende künstlerische Form. Ort: VOLKSBÜHNE IM PRATER Kastanienalle 7–9, 10435 Berlin Kontakt: MARIO CANDEIAS Tel. 030 44310-179, candeias@rosalux.de 24. OKTOBER 9:00 BIS 25. OKTOBER 17:00 NEONAZIS, IHRE ORGANISATIONEN UND NEOFASCHISTISCHE FORMIERUNG IN DEUTSCHLAND EIN WORKSHOP-WOCHENENDE An historischer Stätte wird sich mit der Geschichte und der Gegenwart des Faschismus in Deutschland auseinandergesetzt. Mit: Prof. Dr. Kurt Pätzold; Dr. Christoph Busch; Martina Renner; Kevin Stützel; Yves Müller; Michael Weiss; Friedrich Burschel, Anke Hoffstadt, Dr. Horst Helas, Michael Brühl, u. a. Ort: NS-DOKUMENTATIONSZENTRUM RHEINLAND PFALZ. GEDENKSTÄTTE KZ OSTHOFEN Ziegelhüttenweg 38, 67574 Osthofen Kontakt und Anmeldung: RLS-REGIONALBÜRO MAINZ Tel. 06131 6274703, oberhaus@rosalux.de 5. NOVEMBER 19:00 «DIE MAUER FIEL UND ICH BIN SCHULD» LESUNG MIT GÜNTER BROCK, AUTOR UND TEILNEHMER DER SPÄTER SO BERÜHMT GEWORDENEN PRESSE- KONFERENZ MIT GÜNTER SCHABOWSKI, DIE NOCH IN DER SELBEN NACHT ZUM MAUERFALL FÜHRTE Ort: HAUS DER KULTUR Arsenalstr. 8, 19053 Schwerin Kontakt: RLS MECKLENBURGVORPOMMERN Tel. 0381 4900450, mv@rosalux.de 12. NOVEMBER 18:00 BIS 13. NOVEMBER 16:00 13. POTSDAMER KOLLOQUIUM ZUR AUSSEN- UND DEUTSCHLANDPOLITIK: 1949 – 1989/90 – 2009 TAGUNG ZUR GESCHICHTE DER AUSSENPOLITIK DER DDR, DER BRD UND DES VEREINIGTEN DEUTSCHLAND Mit: Prof. Egon Bahr, Dr. André Brie, Dr. Werner Kilian, Prof. Dr. Wilhelm Ersil, Botschafter a. D. Julij Kwizinskij (Moskau), Prof. Dr. Claus Montag, Dr. Hermann Freiherr von Richthofen u. a. Ort: KULTURHAUS ALTES RATHAUS Am Alten Markt, 14467 Potsdam Kontakt: RLS BRANDENBURG Tel. 0331 8170432, luxembbg@t-online.de 17. NOVEMBER 17:00 BIS 20:00 20 JAHRE NACH DER MODROW-REGIERUNG SYMPOSIUM IN KOOPERATION MIT FRAKTION DIE LINKE IM ABGEORDNETENHAUS VON BERLIN, »HELLE PANKE E. V.« UND ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG BRANDENBURG Mit: Carola Bluhm, Matthias Platzeck, Hans Modrow, Heinz Vietze, Christa Luft, Gabriele Lindner, Siegfried Prokop, Juri Kwisinski (angefragt), EIN EIN EIN EIN DEUTSCH-DEUTSCHES GESCHICHTENBUCH. DEUTSCH-DEUTSCHES GESCHICHTSBUCH. GEGENWARTSBUCH. EIN VERGANGENHEITSBUCH. DIE-GEGENWART-IN-DER-VERGANGENHEIT-BUCH. Immer wieder, immer wieder neu, machen die Autoren Kerstin und Gunnar Decker dieselbe Erfahrung: ohne dass dieses Land auch die DDR-Geschichte als ihre eigene annimmt, wird die Einheitsnarbe nicht heilen, bleiben wir dümmer, als wir eigentlich sind. Doch gerade im 20. Jahr des Mauerfalls, im 60. Jahr der Bundesrepublik scheint nichts unpopulärer zu sein als die Kunst, ungeteilt zu erben. Besitzt Deutschland nur eine westliche Vergangenheit? Neueste Bilder- und Geschichtsausstellungen zum Thema »60 Jahre Bundesrepublik« legten es nahe. Wann wird die innere Einheit des Landes vollendet sein? Vielleicht erst, wenn wir nicht nur eine gemeinsame Gegenwart und eine gemeinsame Zukunft, sondern auch eine gemeinsame Vergangenheit haben. Zeit für eine neue Deutschstunde. Kerstin und Gunnar Decker Über die unentwickelte Kunst, ungeteilt zu erben Eine Deutschstunde Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2009, 320 Seiten, Broschur, 19,90 Euro, ISBN 978-3-320-02194-8 16 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR Nostalgiker sind überzeugt davon, dass die Witze in den Farben der DDR besser waren als der deutsche Humor der Gegenwart. Oddo und Rischard, zwee Sachsen, sitzen auf der Parkbank und klagen über die Kolonisatoren aus’m Westen. Beim Überfliegen besudelt eine Amsel, die mal muss, Oddos Jackenärmel. Rischard, verbittert: »Was hab’ch dir gesagt, mei Oddo, uns scheißen se an, un for de Westler sing’ se!« Wenn auch die Jahre enteilen, bleibt dem gelernten DDR-Bürger doch unauslöschlich die Erinnerung an die politischen Witze von einst. In dieser Hinsicht musste die DDR den internationalen Vergleich nicht scheuen: Über Spanien lachte nur die Sonne, über die DDR jedoch die ganze Welt. Witze, die das Leben riss Die kurzweiligste Form der Volkskunst Von Ernst Röhl Ernst Röhl ist Satiriker und Witzesammler. Zu seinen zahlreichen Büchern gehört »Zehn Jahre sind zuviel. Deutsch-deutsche Witze der Jahrtausendwende« von 1998. Sighard Gille schuf das Bild »Autofahrer« 1972. Mehr als mir lieb sein konnte, bestimmten solche Flüsterpointen meine Jugend. In meiner Leipziger Studentenzeit gehörte ich dem Kabarett »Rat der Spötter« an, wurde 1961 nach der Errichtung des unvergesslichen Antifaschuwa gemeinsam mit fünf Freunden verhaftet und in der Stasi-Untersuchungshaft monatelang von einem Oberleutnant der Schutz- und Sicherheitsorgane verhört. Witze, die wir schätzten, nannte er Feindwitze. Er kannte sie alle. Im Gegensatz zur Bevölkerung jedoch mochte er darüber nicht lachen. 7. Oktober 2009 listische Wartegemeinschaft vor dem KONSUM Obst & Gemüse löste sich endgültig erst auf, als auch die DDR sich auflöste. Sagt eine Hausfrau zur anderen Hausfrau: »Ich hab gehört, morgen soll’s Schnee geben.« Sagt die andere Hausfrau: »Mir egal, ich stell’ mich nicht an.« Was gab es früher, Henne oder Ei? Früher gab es beides. Warum ist die Banane krumm? Damit sie um die DDR einen großen Bogen machen kann. Unser Handel hatte alles, was wir nicht brauchten. Sobald in der Kaufhalle eine Apfelsine golden erstrahlte wie der Stern von Bethlehem, wussten wir auch ohne Kalender: Aha, das ist die Festtagsversorgung, bald nun ist Weihnachtszeit, fröhliche Zeit. Den Südfrüchten zum Trotz kreisten die Gedanken der Verbraucher jedoch nicht um den sonnigen Süden, sondern um den goldenen Westen. NSW-Reisekader wurden glühender beneidet als Filmstars. Preisfrage: Es ist schwarz, fliegt durch die Luft und darf nicht nach’m Westen, was ist das? Na, was schon: ein Pechvogel. Mehr und mehr wurde auch die betagte Partei- und Staatsführung zum Gegenstand von Hohn und Spott. Läuft ein Sowjetbürger über den Roten Platz in Moskau, hat aber nur einen Schuh an. Ein Passant ruft ihm zu: »Eh, du, Genosse, du hast’n Schuh verloren!« – »Nee, gefunden, gefunden!« Aus dem Programm des XII. Parteitags: 1. Hereintragen des Präsidiums 2. Synchronisieren der Herzschrittmacher 3. Absingen der Weise »Wir sind die junge Garde des Proletariats« Versorgungsmängel waren das Thema Nummer eins; denn die frühen Jahre der DDR waren geprägt von den Schwierigkeiten des Wachstums, die späten Jahre vom Wachstum der Schwierigkeiten. Die sozia- Die Pointen wurden brutaler von Jahr zu Jahr. Der Parteisekretär krönt in der Versammlung sein Referat mit der Prophezeiung: LINKER JOURNALISMUS BRAUCHT ÖFFENTLICHKEIT BRAUCHT LINKEN JOURNALISMUS »Der Sozialismus siegt!« In der ersten Reihe sitzt Paule und sagt unbeeindruckt: »Mir kannste nich mehr drohen, ich hab Krebs.« Standardfrage seinerzeit: Welcher Spaßvogel erfindet eigentlich all diese subversiven Scherze? Erich Honecker, hieß es, kannte die Antwort: Der Gegner erfindet sie, der Genosse verbreitet sie, die Freie Deutsche Jugend verwirklicht sie. Urheber, soviel immerhin lässt sich sagen, ist ein kollektiver Autor – nennen wir ihn Volksmund. Hinter vorgehaltener Hand meldet er sich immer dann zu Wort, wenn es riskant wird, die Wahrheit auf offenem Markte auszuposaunen. Bis in die obersten Führungsgremien hinein empfand die Bevölkerung politische Witze als kurzweiligste Form der Volkskunst. Nostalgiker sind überzeugt davon, dass die Witze in den Farben der DDR besser waren als der deutsche Humor der Gegenwart. Der Kleinanleger betritt die Sparkasse. Der Kassierer begrüßt ihn mit den Worten: »Zwei Nachrichten für Sie, eine gute und eine schlechte.« – »Zuerst die gute, bitte.« – »Ihr Geld ist noch da.« – »Und nun die schlechte?« – »Es gehört leider nicht mehr Ihnen.« Jetzt testen im ND-Aktionsabo: die überregionale sozialistische Tageszeitung aus Berlin, 2 Monate für nur 29 €. 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