Auferstanden aus Ruinen

Transcription

Auferstanden aus Ruinen
Gründung der DDR:
Auferstanden aus Ruinen
Vor 60 Jahren
Neues Deutschland und Rosa-Luxemburg-Stiftung
7.
7. Oktober 2009
*
»Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen:
wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren,
fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend,
stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn
über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht
zurück ...«, wusste Homer über den mythischen Helden zu be-
Auferstanden aus Ruinen
Und der Zukunft zugewandt,
Laß uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
Und wir zwingen sie vereint,
Denn es muß uns doch gelingen,
Daß die Sonne schön wie nie
|: Über Deutschland scheint. :|
richten. War das Mühen von Millionen DDR-Bürgern vergleichbar der Sisyphosarbeit? »Die Flucht des Sisyphos« heißt
diese Arbeit von Wolfgang Mattheuer von 1972. Vision der
Massenflucht ’89? Die in dieser Beilage veröffentlichten Gemälde stammen aus der im Verlag Neues Leben erschienenen
Mappe »40 Kunstwerke aus der DDR« (36x52 cm, 49,90 ¤).
Glück und Frieden sei beschieden
Deutschland, unserm Vaterland.
Alle Welt sehnt sich nach Frieden,
Reicht den Völkern eure Hand.
Wenn wir brüderlich uns einen,
Schlagen wir des Volkes Feind!
Laßt das Licht des Friedens scheinen,
Daß nie eine Mutter mehr
|: Ihren Sohn beweint. :|
Laßt uns pflügen, laßt uns bauen,
Lernt und schafft wie nie zuvor,
Und der eignen Kraft vertrauend,
Steigt ein frei Geschlecht empor.
Deutsche Jugend, bestes Streben
Unsres Volks in dir vereint,
Wirst du Deutschlands neues Leben,
Und die Sonne schön wie nie
|: Über Deutschland scheint. :|
Text der DDR-Hymne von Johannes R. Becher; vertont von Hanns Eisler. Seit Anfang der 1970er Jahre wurde der Text offiziell nicht mehr gesungen.
2 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
7. Oktober 2009
»Es gibt nichts Heilsameres
als eine zerstörte Illusion.«
Li Si
Jedes historische
Experiment ist auf
Zeit gestellt. Wenn
nicht neue
Generationen für
sich in seiner
Weiterführung eine
eigene Zukunft
erkennen, wird es
abgebrochen.
Prof. Michael Brie
ist Direktor des
Instituts für Gesellschaftsanalyse der
Rosa-LuxemburgStiftung.
Die DDR war ein Experiment. Dies hat sie
gemeinsam mit allen Staatsgründungen.
Viele solche Experimente hat das 20. Jahrhundert gesehen, und nicht alle haben das
Jahrhundert überlebt.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg und der
Befreiung vom Faschismus von den Westalliierten eingesetzten Eliten in Westdeutschland hatten auf Westanbindung, einen regulierten Kapitalismus und parlamentarische
Demokratie gesetzt. In Ostdeutschland
wirkten die von der Sowjetunion an die
Macht gebrachten und in der SED vereinigten Kommunisten und Sozialdemokraten
für Integration in das sozialistische Weltsystem, das Modell der sowjetischen Planwirtschaft und eine Volksdemokratie unter
Führung einer kommunistischen Staatspartei. Die Ansätze einer eigenständigen Gestalt des Aufbaus des Sozialismus gerieten
seit 1948 in die Defensive. Der Kalte Krieg
ließ Dritte Wege weder in Ost noch in West
zu.
schen 1949 bis 1989 verließen. Während
aus dem Westen 550 000 zuzogen.
Jedes historische Experiment ist auf Zeit
gestellt. Wenn nicht neue Generationen für
sich in seiner Weiterführung eine eigene
Zukunft erkennen, wenn darum nicht erfolgreich gekämpft wird, wenn es sich in
den Augen großer Gruppen der Bevölkerung
nicht immer wieder als legitim erweist und
anderen Alternativen gegenüber überlegen,
wird es abgebrochen. Dies geschah mit
dem sowjetischen Staatssozialismus zwischen 1988 und 1991 auf europäischem
Boden und auch in der DDR.
Dies sagt nichts über und schon gar
nichts gegen die Leistungen von 40 Jahren
DDR aus – wirtschaftlich, sozial, kulturell,
international. Bis in die frühen 1980er Jahre hinein wurde die DDR von der Mehrheit
ihrer Bürgerinnen und Bürger als lebenswerter Ort mit Zukunftsperspektive akzeptiert. Wohlstand, Sicherheit und Frieden
schienen im Innern garantiert. Aber die
Freiheitsansprüche neuer Generationen,
die ökologische Frage, globale Gefährdungen und der wachsende technologisch-öko-
Das
Experiment
Wagnis und Enttäuschung
Von Michael Brie
Wolfgang Peuker
schuf sein Bild
»A. P., geboren
1949« im Jahre
1986.
Impressum
Herausgegeben von:
Neues Deutschland
und Rosa-LuxemburgStiftung
Franz-Mehring-Platz 1
10243 Berlin
Internet:
www.nd-online.de
www.rosalux.de
Redaktion: Wolfgang
Hübner, Detlef Nakath,
Karlen Vesper, Jürgen
Reents (V.i.S.d.P.),
Druck: Druckhaus
Schöneweide
Anzeigen:
ND-Anzeigenservice
+49-30-29781841
Es gab gute Gründe dafür, das Experiment DDR zu wagen. Um es durchzusetzen,
musste deutlich mehr Gewalt als in Westdeutschland ausgeübt werden. Politische
Verfolgung Andersdenkender, Berufsverbote, Einschränkungen elementarster Freiheiten haben im Osten viel größere Gruppen
erfasst als im Westen und spitzten sich zum
Ende hin wieder zu. Und trotzdem: Führende kommunistische und sozialdemokratische Funktionäre, geprägt durch die Niederlage der Arbeiterbewegung 1933, wie
Ulbricht, Pieck, Grotewohl, Ebert, trieben
das Experiment DDR voran. Eine disziplinierte Kaderpartei sicherte es mit hohem
Engagement. Viele ihrer jungen Mitglieder
hatten aus den Verbrechen des Hitlerfaschismus die Schlussfolgerung gezogen,
dass ein grundsätzlicher Gegenentwurf zum
Kapitalismus die Bedingung für eine Welt
ohne Krieg, Ausbeutung, Unterdrückung
sei. Wie Christa Wolf, die 1945 gerade 16
Jahre alt war, später sagen sollte: Marxismus und SED waren »für mich genau das
Gegenteil von dem, was im faschistischen
Deutschland geschehen war … Ich wollte
genau das Gegenteil. Ich wollte auf keinen
Fall mehr etwas, was dem Vergangenen
ähnlich sehen könnte«. Eine bedeutende
und relevante Minderheit der ostdeutschen
Bevölkerung unterstützte das sozialistische
Experiment, während sich viele neutral
verhielten und drei Millionen die DDR zwi-
nomische Rückstand gegenüber der Bundesrepublik stellten das Erreichte in Frage.
Welche Antwort konnte darauf gefunden
werden?
Die Ursache dafür, dass das Experiment
DDR nicht fortgesetzt werden konnte, waren die Strukturen des sowjetischen Sozialismus. Der Versuch, die grundlegenden Defizite zu überwinden, sprengte unvermeidlich das System. Drei Beispiele dazu: (1)
Schon in den 1960er Jahren waren wirtschaftliche Reformansätze und zentralistische Planwirtschaft in einen unlösbaren
Konflikt geraten. Die VR China ging seit
1978 dazu über, eine Mehrsektorenwirtschaft mit einem global sich öffnenden kapitalistischen Unternehmensbereich aufzubauen. (2) Da der Führungsanspruch der
SED »wissenschaftlich« gerechtfertigt wurde, war öffentliches Andersdenken unter
Strafe gestellt. Die Führung der KPdSU unter Michail Gorbatschow entwickelte eine
Politik von Glasnost, die bald alle Säulen
des Marxismus-Leninismus zum Einsturz
brachte. (3) Verbot der Bildung unabhängiger politischer Organisationen und umfassende Kontrolle über die Kader machten
politische Erneuerung unmöglich. Die polnische Gewerkschaft Solidarnosc erkämpfte
dagegen ihre Anerkennung und saß seit
1988 mit der Staatspartei Polens, der
PVAP, am Runden Tisch. Sie erzwang 1989
halbfreie Wahlen, bei denen sie die überwältigende Mehrheit der Stimmen erhielt.
Jeder radikale Versuch der Öffnung zerstörte institutionelle Grundlagen des Systems.
Der Sozialismus war historisch entstanden mit dem Anspruch, die Freiheitsfortschritte der bürgerlich-kapitalistischen Moderne zu verallgemeinern und auch den
Mitgliedern der unteren sozialen Gruppen
zugänglich zu machen. Eine klassenlose
Gesellschaft der Freien und Gleichen sollte
entstehen. Das Experiment DDR als Teil des
sowjetischen Experiments scheiterte, weil
die Strukturen, mit denen dieses Ziel erreicht werden sollte – Zentralverwaltungswirtschaft, Diktatur einer Staatspartei,
Herrschaft einer Ideologie
– sich nicht
als
Durchgangsstufe auf
dem Weg zu
höherer gleicher Freiheit
erwiesen,
sondern
als
Sackgasse eines Weniger
an Freiheit.
Die zivilisatorische Katastrophe
des
Ersten
und
mehr noch des
Zweiten Weltkriegs hatten
auf das völlige
Gegenteil zum
Kapitalismus
verwiesen.
Aber es zeigte
sich: Die Zentralverwaltungswirtschaft ist zwar
das genaue Gegenteil eines entfesselten
Kapitalismus, aber dem regulierten Kapitalismus nicht überlegen. Die Diktatur einer
Staatspartei steht im Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie, aber sie war
schlechter. Den Faschisten hätte nicht die
Freiheit gegeben werden dürfen, 1933 die
Macht an sich zu reißen. Aber deshalb kann
nicht die Freiheit des Andersdenkens verboten werden, soll Erneuerung nicht blockiert werden. Das bloße Gegenteil von
schlecht hat sich nicht als hinreichend gut
erwiesen.
Neue Generationen wollten 1989 das
Experiment DDR nicht fortsetzen. Der Sozialismus aber als eine höhere Ordnung der
Freien und Gleichen ist damit nicht von der
Tagesordnung der Weltgeschichte. Neue
Experimente auf dem Weg dahin werden
jedoch offen sein müssen für immer neue
Aufbrüche – wirtschaftlich, sozial, ökologisch, politisch und geistig.
7. Oktober 2009
Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
»Wie es wirklich war,
erzählt dir ja keiner«
Was wissen die Kinder der Wende von der DDR?
Von Martin Hatzius
Stephan, 19 Jahre alt, Polizeischüler aus
dem Vogtland, hat von seinen Eltern und
Großeltern »nur Gutes« über die DDR gehört. Und in der Schule? »Da wird dir immer nur die schlechte Seite beigebracht.«
Woran, will ich wissen, hält Stephan sich,
wenn er sich selbst ein Bild von der DDR
macht? An beide, an keinen: »Es gibt halt
immer gute und schlechte Seiten. Die
Schwarz-Weiß-Malerei muss abgeschafft
werden.«
Vor gut einem Jahr sorgte ein Studie des
Forschungsverbundes SED-Staat der FU Berlin für Aufsehen, die Schülern gravierende
Wissenslücken in Sachen DDR bescheinigte.
Nur die Bayern schnitten einigermaßen befriedigend ab. Besonders in Ostdeutschland
stellten die Politologen Klaus Schroeder
und Monika Deutz-Schroeder indes parallel
zu »alarmierendem« Unwissen eine »Verklärung und Verharmlosung« der DDR fest,
für die sie die brüchige Erinnerung der Eltern und starke Versäumnisse an den Schulen verantwortlich machten.
»Was wir in der Schule gelernt haben
und was meine Eltern über die DDR erzählt
haben, das passt schon im Großen und
Ganzen zusammen«, sagt Fabian zu mir,
ein 18-jähriger Abiturient und Fußballfan
aus der Gegend um Leipzig. »Aber wenn
man das immer nur aus Erzählungen erfährt
und nicht selbst erlebt hat, dann kann man
sich eben nur irgendwas zusammendenken.
Wie es wirklich war, das erzählt dir ja keiner.«
Die Schroeder-Studie mit dem Titel »Soziales Paradies oder Stasi-Staat?« löste einen Sturm des Widerspruchs aus. Schon das
methodische Vorgehen wurde als unzulässig
bewertet. »Diese Studie weiß immer schon
vorher, was richtig ist«, urteilte der Hamburger Historiker Bodo von Borries. Als
»richtig« sollte so wohl die Zustimmung zu
dem Satz gelten: »In der DDR war der Alltag
für viele durch Diktatur und Überwachung
geprägt.« Im Westen punkteten rund drei
Viertel der Schüler, im Osten nur 50 Prozent.
»Alltag« und »Diktatur« – beides in einem Atemzug zu nennen, stößt vielen Ostdeutschen übel auf. Ihre Studie brachte
den Schroeders haufenweise zornige Post
ein. »Oh, wie schön ist die DDR« heißt zynisch die jetzt von Klaus Schroeder und
Monika Deutz-Schröder publizierte Dokumentation der heftigen Reaktionen. »In nur
wenigen Zuschriften wird Entsetzen geäußert über das positive DDR-Bild vieler ostdeutscher Jugendlicher und die damit einhergehende Verklärung des SED-Staates als
soziales Paradies«, konstatierten die Politologen kürzlich auf »Welt Online«. »Die weit
überwiegende Mehrzahl der E-Mails und
Briefe verteidigt indes die Sichtweise der
ostdeutschen Schüler leidenschaftlich.«
Anfang 2008, kurz bevor die FU-Studie
Schlagzeilen machte, sprach ich mit jungen
Männern und Frauen, die 1989, im Jahr der
Wende, geboren worden sind. Ich fragte
sie, was sie über die DDR denken, die sie
nicht mehr erlebt haben. Und ich wollte
wissen, welche Rolle dieses ferne Land für
ihr heutiges Leben spielt. Das DDR-Bild
meiner Gesprächspartner war – trotz Hervorhebung der »fehlenden Arbeitslosigkeit«,
der »menschlichen Nähe« und der »sozialen
Absicherung« – keineswegs durchweg positiv. Es war differenziert. So äußert Marie,
die einem christlichen Leipziger Elternhaus
entstammt, den Wunsch, »die Gemeinschaft, zum Beispiel in der FDJ«, einmal
hautnah zu erleben. »Ob es wirklich so war,
dass der Eine auf den Anderen gebaut hat
und aufgepasst, das würde mich interessieren. Ich würde das gut finden.« Nach einer
Pause fügt sie hinzu: »Aber für den, der in
dieser Gemeinschaft nicht dabei war, ist es
sicher beengend gewesen.«
Ja-Nein-Optionen taugen nicht dazu, das
DDR-Bild derjenigen zu erfassen (und zu
bewerten), die neben dem Schulbuchwissen
über die DDR auch Eindrücke von Familienmitgliedern und Bekannten zu verarbeiten haben, die eben nicht ständig das Gefühl hatten, in einem »Unrechtsstaat« zu
leben. »In der Schule wird das Thema so
besprochen, wie jedes andere geschichtliche Thema auch«, sagt Claudia, eine
19-jährige Gymnasiastin, »das geht hier
rein und da raus.« Was wirklich interessiert, sind die eigenen Erfahrungen der Gegenwart – Überwachungskameras in der
Straßenbahn, Polizeiwillkür beim Fußballspiel, Nazis in der Nachbarschaft. Ist das
die Demokratie, die der »Diktatur DDR« so
überlegen ist?
Jeder, mit dem ich sprach, fühlt sich »irgendwie« als Ossi. Keiner wünscht sich die
DDR zurück. Aber mal einen Tag in dieses
Land hineinzuschnuppern, von dem sie so
Widersprüchliches hören, das wünschen sich
alle.
3
Was ich mir gerne
mal hautnah
angucken würde,
ist die
Gemeinschaft, die
ja immer da war,
zum Beispiel bei
der FDJ. Ob es
wirklich so war,
dass der Eine auf
den Anderen
gebaut hat und
aufgepasst. Das
würde ich gut
finden, ja. Aber für
den, der in dieser
Gemeinschaft nicht
dabei war, ist es
sicher beengend
gewesen.
Marie, 19 Jahre
Martin Hatzius,
geboren 1976
in Berlin (0st),
ist FeuilletonRedakteur dieser
Zeitung.
Rudolf Berganders
Bild »Junge Menschen« entstand
1962.
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Von der „doppelten Staatsgründung“ zur
„europäischen Zentralmacht“
„Deutsch-deutsche“ Außenpolitik von 1949 bis heute
13. Potsdamer Kolloquium zur Außen- u. Deutschlandpolitik
Donnerstag, 12. November 2009, 18.00 bis 21.00 Uhr
Eröffnung und Begrüßung: Otto Pfeiffer, Präsident
des Verbandes für Internationale Politik und Völkerrecht e. V. Berlin
Außenpolitik und Diplomatie zwischen NATO-Konsens im Kosovo
und Kriegsverweigerung im Irak
Podiumsdiskussion: Dr. Hans Voß, Prof. Egon Bahr, Dr. André Brie,
Dr. Gunter Pleuger – Moderator: René Heilig
Freitag, 13. November 2009
10.00 bis 12.30 Uhr
1970 - 1990. Die Treffen von Erfurt und Kassel und die deutschdeutsche Vertragspolitik
Podiumsdiskussion: Dr. Hans Schindler, Prof. Dr. Claus Montag, Dr.
Hermann Freiherr von Richthofen - Moderator: Dr. Detlef Nakath
12.30 bis 13.30 Uhr Mittagsimbiss
13.30 bis 15.30 Uhr
1949 - 1975. Zwischen Hallsteindoktrin und europäischer Entspannungspolitik
Podiumsdiskussion: Dr. Werner Kilian,
Prof. Dr. Wilhelm Ersil, Julij Kwizinskij (Moskau)
Moderator: Prof. Dr. Siegfried Prokop
15.30 bis 16.00 Uhr
Schlusswort Dr. Detlef Nakath
Eine Kooperationsveranstaltung der „Hellen Panke“ e. V. Berlin mit der RLS
Brandenburg und dem Verband für Internationale Politik und Völkerrecht
e.V. Berlin
Wir bitten um Ihre Anmeldung bis zum 6. November 2009: RLS Brandenburg
e.V., Dortustr. 53, 14467 Potsdam, Fon: 0331/817 04 32,
E-Mail: info@bbg-rls.de
Teilnahmegebühr: 2 Euro / 5 Euro (inkl. Imbiss und Getränke)
Tagungsstätte: Altes Rathaus Potsdam, Am Alten Markt 9, 14467 Potsdam
Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin
Kopenhagener Straße 76 - 10437 Berlin-Prenzlauer Berg
Tel: 030/47 53 87 24 – Fax: 030/47 37 87 78 oder 030/47 37 87 75
E-mail: info@helle-panke.de Internet: www.helle-panke.de
4 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
● Hans Modrow, wie haben Sie die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 erlebt?
Wenn man nach
dem Krieg in den
Dörfern, mit organisierte, dass Strom
in die Häuser kam
– das gehörte für
mich zum Erleben
von Demokratie.
Ich kam im Januar 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft und habe als
Schlosser in Hennigsdorf angefangen. Das
war eine Empfehlung meines Lehrers in der
Antifa-Schule: Wenn du zurück bist, gehe
in deinen Beruf, lerne das Leben kennen,
bevor du in einer politischen Funktion tätig
wirst. Das hat leider nur ein halbes Jahr
gedauert.
● Warum leider?
Weil ich gerne wenigstens ein Jahr im
Betrieb geblieben wäre. Das wäre solider
gewesen. So wurde ich schnell Leiter der
Abteilung Arbeiterjugend im Brandenburger FDJ-Landesvorstand. Und als FDJler war
ich Teilnehmer an der großen Demonstration, am Fackelzug am 10. Oktober 1949 in
Berlin Unter den Linden, wo Erich Honecker den Schwur der Jugend zur Deutschen
Demokratischen Republik ablegte.
7. Oktober 2009
dern ein Raum, um praktisch etwas für die
Interessen der Jugend zu tun. Ab 1952 kam
der Begriff der sozialistischen Demokratie;
das war damals noch keine Streitfrage in
dem Sinne, ob sie gewährt wird oder nicht.
Unser Empfinden war: Wir sind in einem
demokratischen Aufbau. Wenn man in Dörfern, wo noch die Petroleumlampen brannten, mit organisierte, dass Strom in die
Häuser kommt, wenn man dabei war, wie
das Licht angeschaltet wurde – das gehörte
für mich zum Erleben von Demokratie.
● Am 7. Oktober 1949 hieß es auf der Titelseite des ND, das Ziel sei die Schaffung eines
souveränen, unabhängigen, selbstständigen
deutschen Staates. Wie unabhängig, souverän und selbstbestimmt war diese DDR?
Ein erster Schritt war, dass die sowjetische Militäradministration einen nicht geringen Teil ihrer Rechte auf die neue Regierung übertrug. Natürlich blieb die Sowjetunion Siegermacht mit ihren Einflussmöglichkeiten. Die DDR hatte eine eingeschränkte Souveränität, ganz eindeutig.
Wie die Bundesrepublik auch.
Die inneren
Probleme wurden
verdrängt
Wolfgang Hübner sprach mit Hans Modrow
über Demokratieanspruch und -defizit der DDR
● Deutsche Demokratische Republik – dieser
Staatsname bedeutete einen hohen Anspruch. Welche Erwartungen haben Sie damals damit verbunden?
Hans Modrow war
jahrzehntelang FDJbzw. SED-Funktionär sowie Abgeordneter der Volkskammer. Während
der Wendezeit war
er Ministerpräsident der DDR. Später wurde er für die
PDS in den Bundestag und ins EU-Parlament gewählt.
ND-Foto:
Burkhard Lange
Ich war mit 17 Jahren überzeugt in den
Krieg gezogen und nach vier Jahren Kriegsgefangenschaft zurückgekommen mit der
Überzeugung, dass ein neues Deutschland
nötig ist, wenn es nicht wieder Krieg geben
soll. Das war zunächst das Hauptempfinden meiner Generation, die ja verheizt
werden sollte. Wir wollten ein Deutschland,
das wieder in der Welt geachtet wird, und
daran wollte ich mitarbeiten. Demokratisch
oder sozialistisch, darüber habe ich im Oktober 1949 nicht nachgedacht. Dieser 10.
Oktober mit unserer Demonstration abends
war ein Schritt in ein neues Leben.
● Wie ist der Anspruch der Demokratie, also
im Wortsinne der Volksherrschaft, in den
ersten Jahren der DDR verwirklicht worden?
In der Verfassung von 1949 stand der Satz:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Für mich als Abgeordneten – anfangs im
mecklenburgischen Landtag, dann in der
Volkskammer – war Demokratie nicht zuerst eine theoretische Angelegenheit. Son-
● In den 50er, stärker noch in den 60er
Jahren setzte die SED
ihre führende Rolle
durch – bis hin zur
Festschreibung in der
Verfassung 1968.
Um 1950 habe ich
den Demokratischen
Block der fünf Parteien als eine sehr
streitbare
Zusammenkunft erlebt.
● Zeitungsberichte
von damals vermitteln den Eindruck von Gleichberechtigung,
obwohl man das Ulbricht-Zitat von 1945
kennt: Es muss demokratisch aussehen, aber
wir müssen alles in der Hand haben.
Ich habe noch Persönlichkeiten wie Otto
Nuschke von der CDU kennen gelernt. Das
waren keine Leute, die sich über den Löffel
balbieren ließen. Aber im Übergang zu den
60er Jahren rückten neue Personen an die
Spitze der Parteien, da hat sich manches
verändert. Manfred Gerlach in der LDPD,
Gerald Götting in der CDU – die hatten ein
Stück FDJ-Geschichte zusammen mit Erich
Honecker erlebt. Da gab es einen anderen
Umgang miteinander. Ich möchte nicht sagen Kumpanei, aber neben der gegenseitigen Abstimmung der Parteien entstanden
neue Spielregeln, über die sich die Führungsrolle der SED durchsetzte.
● Im Rückblick – war das System von vornherein so angelegt?
Wenn man es im Rückblick nur so wertet, vergisst man eine Besonderheit der
DDR. Es gab kein zweites osteuropäisches
sozialistisches Land mit einem solchen Parteiensystem. Dass es bei uns anders war,
hatte mit zwei Momenten zu tun: mit der
Geschichte der Weimarer Republik, die bis
in die erste DDR-Verfassung reichte, und
der Klugheit der sowjetischen Militäradministration. Die ging davon aus, dass die politische Landschaft in allen Besatzungszonen zunächst eine Ähnlichkeit besitzen
sollte. Auch in den westlichen Besatzungszonen gab es SPD, KPD, die Liberalen, die
CDU. Man hatte ja damals noch den gesamtdeutschen Rahmen vor Augen.
● Trotzdem musste doch die Sowjetunion
ein großes Interesse daran haben, dass die
SED im Osten den Haupteinfluss hat.
Gewiss hatte sie ein Interesse daran.
Aber es saßen auch kluge Leute in der sowjetischen Militäradministration, die um
Gleichgewichte gerungen haben und die
manchmal mit ihrer Politik nicht die Zustimmung in Moskau fanden. Aber sie waren dem Leben in Deutschland näher und
wussten, dass man ganz ohne Beachtung
des Westens keine Politik machen konnte.
● Sie haben Ende der 60er, Anfang der 70er
Jahre in der Abteilung Agitation im Zentralkomitee der SED gearbeitet. In der DDR-Verfassung von 1949 steht der schöne Satz: Eine Pressezensur findet nicht statt. In der
Verfassung von 1968 heißt es, die Meinungsfreiheit sei gemäß den Grundsätzen
der Verfassung gewährleistet, ebenso die
Freiheit von Presse, Rundfunk und Fernsehen. Wie hat sich davon ausgehend die
enorme ideologische Bevormundung und
Steuerung entwickelt?
Wie in anderen Bereichen gab es auch in
der Medienpolitik wellenförmige Entwicklungen. Wir wollten nach dem 8. Parteitag
1971 neue Möglichkeiten für die journalistische Arbeit schaffen, im Sinne höherer
Qualität und einer größeren Leserschaft,
Zuschauerschaft, Zuhörerschaft. Denn wir
standen ja in einer Auseinandersetzung mit
den Medien der Bundesrepublik Deutschland. Damals entstanden im Fernsehen die
Unterhaltungssendung »Ein Kessel Buntes«, ein Kulturmagazin und anderes.
Gleichzeitig gab es eine Steuerung der Medien; jede Woche nach den Politbüro-Sitzungen kamen die Chefs der wichtigsten
Redaktionen bei uns zusammen. Das hatte
den Charakter der Hintergrundinformation
und Orientierung durch Minister und andere Politiker, die auch Fragen beantworten
mussten. Es war der Versuch, eine Lücke zu
schließen, denn Pressekonferenzen von Politikern waren bis zum Ende der DDR sehr
unüblich.
● Dennoch gab es keinen freien Nachrichtenfluss. Kein Chefredakteur hatte alle Informationen zur Verfügung, um dann frei zu
entscheiden, was er damit macht.
Die Nachrichtenagentur ADN war die
Stelle, über die die Nachrichtengebung am
stärksten beeinflusst wurde. Im Zweifelsfall
haben die ADN-Diensthabenden bei uns im
ZK gefragt, ob bestimmte Nachrichten freigegeben werden sollen. Die Redaktionen
bekamen verschiedene ADN-Bulletins, mit
denen bestimmte Sicherheitsstufen verbunden waren. Dadurch wurde gelenkt und
Wissen selektiert.
7. Oktober 2009
Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
5
»Opfer des Faschismus« von Hans
Grundig, 1946/47
Fortsetzung von Seite 4
● Mitte der 70er Jahre gab es den KSZE-Prozess, die Schlussakte von Helsinki wurde unterzeichnet. Für die DDR bedeutete das ein
großes Stück Anerkennung, aber auch die
Unterschrift unter die Gültigkeit politischer
Menschenrechte. Warum hat sich die DDRFührung mit diesen Menschenrechten immer
so schwer getan?
Diese Schlussakte von Helsinki war ein
Kompromiss. Beide Seiten – Westen und
Osten – glaubten, dass sie dabei für sich
den größeren Vorteil erzielen. Egon Bahr
hat einmal gesagt: Beide Seiten haben Kröten geschluckt, aber der Westen war der
Überzeugung, dass die Zugeständnisse des
Ostens in Sachen Menschenrechte die größere langfristige Wirkung haben würden.
Die Geschichte zeigt, dass er Recht hatte.
Erich Honecker hat die Schlussakte unterschrieben, aber die SED hatte keine Konzeption für den Umgang mit den Festlegungen im Korb 3.
Ich möchte noch einen anderen Fakt erwähnen. Beide deutsche Staaten sind 1973
zur selben Stunde in die UNO aufgenommen worden und keiner der beiden Staaten
hat den anderen etwa vor die Tribüne der
Vereinten Nationen gebracht, um über Probleme zu diskutieren. Auch nicht über das
Thema Grenze mit all ihren Zwängen und
tragischen Ereignissen. Beide Blöcke waren
nicht interessiert, Fragen des Kalten Krieges oder der deutschen Teilung in die UNO
zu tragen. Das war nach meinem Empfinden in den folgenden Jahren die Basis, von
der aus die DDR-Führung die Welt betrachtet hat. Hinzu kam die schnelle internationale Anerkennung. Honecker begann seine
Reisen. Die inneren Probleme wurden dabei verdrängt und sie drückten doch immer
stärker, auch wegen der Vereinbarungen
von Helsinki.
● Wäre in der DDR etwa bei der Meinungsfreiheit mehr möglich gewesen oder hätte
jede Öffnung einen Schritt zum Zusammenbruch des gesamten Systems bedeutet, wie
er 1989/90 geschah?
Letzteres ist eine gewisse Übertreibung,
denn es kam im DDR-System vieles zusammen. Das Problem der Menschenrechte
in der DDR erfuhr ja eine ständige Zuspit-
zung durch die Frage der Reisens und Ausreisens. Dieses Problem hatte kein anderes
sozialistisches Land in dieser Dimension,
und daraus erwuchsen und verschärften
sich viele Schwierigkeiten. Wir hatten beispielsweise eine breite Medienlandschaft,
aber wir hatten in den Redaktionen neben
Anleitung und Zensur auch das, was man
als Schere im Kopf bezeichnet. In ihrem
Glauben, dass ihre Überzeugungen die Gesellschaft tragen, hat die SED nicht oder zu
spät den wachsenden Vertrauensverlust
bemerkt. Der ist nicht erst im Herbst 1989
entstanden, das war das Ende eines Prozesses. Begonnen hat er viel zeitiger.
● Mit der Wende im Herbst 1989 entstand
fast über Nacht eine Atmosphäre offener politischer Debatten ohne Tabus, etwa an den
Runden Tischen. Wenn man Demokratie als
Volksherrschaft und Republik als öffentliche
Angelegenheit wörtlich nimmt – wurde der
Anspruch im Namen DDR Ende 1989, Anfang 1990 am besten erfüllt?
Ja, ich glaube sogar, das war überhaupt
die demokratischste Zeit, die wir in
Deutschland jemals hatten. Da gab es ein
Wechselspiel zwischen der Regierung und
der Opposition, zwischen der Volkskammer
und dem Runden Tisch. Dazu gehört aber
auch: Der Runde Tisch hätte nicht diese
Wirkung gehabt, sondern wäre ein Tisch in
der Ecke geblieben, wenn die Regierung
nicht entschieden hätte, seine Tagungen im
Fernsehen direkt zu übertragen und alle finanziellen und materiellen Voraussetzungen seiner Tätigkeit zu gewährleisten.
● Sie waren damals Ministerpräsident.
In dieser Zeit kamen zu den Ministern
aus den fünf so genannten etablierten DDRParteien noch Minister ohne Geschäftsbereich aus acht Oppositionsgruppen, die
sich schon als Parteien verstanden. Diese
Acht wären nie in die Regierung gegangen,
wenn sie das Gefühl gehabt hätten, die
Fünf wollten sie über den Tisch ziehen. Wir
haben gemeinsam für die Volkskammerwahl 1990 ein Wahlgesetz ohne Fünf-Prozent-Klausel in Kraft gesetzt. Mit einer solchen Klausel, wie sie in der Bundesrepublik
üblich war und ist, wären die Oppositionsgruppen nicht mit einem einzigen Mandat
in die Volkskammer gekommen.
● Die PDS ist nicht, wie viele wünschten,
untergegangen, sondern in der Linkspartei
aufgegangen. Diese hat eine Programmdebatte vor sich. Was sollte sie aus dem Umgang mit der Demokratie in DDR lernen?
Wir müssen zweierlei leisten: Erstens
müssen wir uns weiter mit der Analyse des
Sozialismus im 20. Jahrhundert befassen,
seinen Defiziten, den Gründen für sein
Scheitern. Dazu gehört die Demokratiefrage. Zweitens stehen wir heute in einer
weltweiten Debatte u.a. darüber, wie es
mit dem Eigentum, mit der Macht des Kapitals und der Banken weitergeht. Auch darüber, ob die gegenwärtige parlamentarische Parteiendemokratie das letzte Wort
sein soll. Ich glaube nicht daran, dass man
den Kapitalismus mit Moral und Ethik bändigen kann. Der Staat, die Gesellschaft sind
da in Verantwortung. Wie kann die Gesellschaft stärker in wichtige Entscheidungen
einbezogen werden – bei dieser Frage geht
es um ein zentrales Element von Demokratie.
In ihrem Glauben,
dass ihre
Überzeugungen die
Gesellschaft
tragen, hat die SED
nicht oder erst zu
spät den
wachsenden
Vertrauensverlust
bemerkt.
Wolfgang Hübner
ist stellvertretender Chefredakteur
des ND. Er berichtete u.a. vom
Wahlkampf und der
Volkskammerwahl
im März 1990.
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UÊJürgen Hofmann/Detlef Nakath (Hrsg.):
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6 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
»Mensch, das sind
doch unsere
Kerzen, die haben
wir doch
hergestellt! Nur die
Verpackung liefern
sie uns.«
Lisa Kämpfer
Renate Guhl
Lisa Kämpfer:
klingt, war es damals nicht. »Man hat sich
dann dran gewöhnt.«
Die Kinder geraten gut, bald gehen sie
zur Schule. Die Nachbarn staunen: Stets
sehen alle drei Kämpfer-Kinder wie aus
dem Ei gepellt aus. Aber oft müssen sie
morgens allein aufstehen, die Mutter ist
dann schon im Betrieb. Die Frühstücks- und
die Schulbrote hat sie ihnen aber noch geschmiert. Immerhin, wenn sie Früh- oder
Nachtschicht hat, kann sie nachmittags
aufpassen, dass die Kinder ihre Schulaufgaben erledigen – da ist sie hinterher.
Lisa Kämpfer geht gern arbeiten. Mit den
Kollegen versteht sie sich. Anfangs ziehen
sie die Kerzen von Hand, dann mit Hilfe von
Halbautomaten, später haben sie Ziehautomaten. Jetzt ist sie Chemiefacharbeiterin,
den Abschluss hat sie in der Erwachsenenqualifizierung erworben. Sie stellen Haushaltskerzen, Tafelkerzen, Adventskerzen,
Raureifkerzen und Altarkerzen her, auch für
den Export. Einmal gibt eine Bekannte mit
einer hübschen Kerzenpackung aus dem
Westen an. Lisa schaut in die Schachtel und
ruft: »Mensch, das sind doch unsere Kerzen, die haben wir doch hergestellt! Nur die
Verpackung, die liefern sie uns.«
Sie verdient 500 Mark im Monat, später
600. Die Kinder fahren im Sommer ins Betriebsferienlager, ins Erzgebirge oder in
den Harz. Alle zwei, drei Jahre macht Lisa
Kämpfer mit ihnen gemeinsam Urlaub, in
einem Ferienheim der Gewerkschaft. Zwölf
Jahre lang ist sie in ihrer Brigade der Gewerkschaftsvertrauensmann, dabei leistet
sie mehr als mancher Mann. Sie Vertrauensfrau zu nennen, das kommt niemandem
in den Sinn. Trotzdem gibt es Frauentagsfeiern. Ebenso Brigadefeiern, -versammlungen und -ausflüge. Sie werden als »Kollektiv der sozialistischen Arbeit« ausgezeichnet, Lisa Kämpfer als Bestarbeiterin.
Wie andere alleinstehende Frauen fährt sie
nun, da die Kinder groß sind, Sonderschichten, um den Plan zu sichern. »Ihr
habt doch Zeit«, sagen die Verheirateten,
allen voran die Männer.
36 Jahre hat Lisa Kämpfer im VEB Wittol
gearbeitet. 1990, eines Tages vor der
Nachmittagsschicht, wurden die Kollegen
aus der Kerzenproduktion zusammengerufen. »Es tut uns sehr leid«, sagte man ihnen, »ihr braucht Montag nicht wiederzukommen.« Einer von Lisa Kämpfers Söhnen
arbeitet im Reichsbahnausbesserungswerk,
Bestarbeiterin, drei Kinder
Dreizehn ist sie, als der Krieg vorbei ist,
und sie hat Kummer: Gerade erst hat sie die
Großmutter verloren, bei der sie aufgewachsen ist; die Mutter zeigt an ihr kaum
Interesse. Lisa steht praktisch allein da.
Gern würde sie Verkäuferin werden, aber
»Eine« aus solchen Verhältnissen will kei-
Frauen in
der Chemie
Von Christina Matte
Christina Matte,
Reporterin beim
ND, porträtierte
die drei Chemiearbeiterinnen.
7. Oktober 2009
ner. Das Arbeitsamt schickt sie zum Bauern,
zum Kartoffelnlesen und Rübenverziehen.
Kein Wunder, dass sie, als sie sich verliebt,
Hals über Kopf einem jungen Mann folgt,
nach Lutherstadt Wittenberg an der Elbe.
Niemand hat Lisa aufgeklärt, so bringt sie
1953 ihr erstes Kind zur Welt, eine Tochter.
Der frischgebackene Vater macht sich aus
dem Staub. 1955 und 1961 werden ihre
Söhne geboren, auch deren Vater lässt sie
sitzen. Lisa hat kein Glück mit Männern.
Aber ein bisschen Glück hat sie doch.
Nach der Geburt ihrer Tochter findet sie
Arbeit im VEB Haushaltschemie Wittenberg, der wenig später VEB Wittol heißen
wird. Die junge Industrie sucht Arbeiterinnen. Lisa Kämpfer muss Geld verdienen.
Der Betrieb produziert Schuhcreme und
Kerzen. Sie fängt in der Kerzenproduktion
an, ungelernt. Gearbeitet wird in drei
Schichten. Die Frühschicht beginnt um
5.30 Uhr, die Mittelschicht um 14 Uhr, die
Spätschicht um 22 Uhr. Gut, dass sie später
ihre Söhne zunächst in der Wochenkrippe,
dann im Wochenkindergarten des Betriebes
unterbringen kann. Ein schlechtes Gewissen hat sie nicht, das kann sie sich nicht
leisten. »Man war froh, dass man’s hinkriegte. Zwischendurch konnte ich ja auch
nach ihnen schauen, ein bisschen mit ihnen
spazierengehen.« So einfach, wie es heute
Fotos: Joachim Fieguth
Hildegard Siems
der andere, ein Maschinenbauingenieur, ist
arbeitslos. Ihre Tochter, einst Kranfahrerin
im Stickstoffwerk, bezieht Hartz IV.
Hildegard Siems:
Zwanzig Patente
Hilde Siems ist nur elf Jahre jünger als Lisa
Kämpfer – schon eine andere Generation.
1957 beginnt sie ihre Lehre als Chemielaborantin im VEB Stickstoffwerk Piesteritz. Eine
Notlösung, denn eigentlich wollte sie Sportlehrerin werden. Die Aufnahmeprüfung in
Halle hatte sie schon bestanden, aber dann
mochte sie doch nicht von zu Hause fort.
Während der Lehre im Stickstockwerk durchläuft sie auch die Forschungsabteilung: Dort
wird sie eine neue Leidenschaft finden.
Hildes Arbeitstage beginnen zunächst wie
die Lisa Kämpfers um 5.30 Uhr. Viertel vor
Fünf muss sie los. Hilde nimmt den Bus ins
Werk oder das Rad. Vierzehn Jahre lang wird
sie Laborantin in der Forschungsabteilung
bleiben und am Monatsende 300 Mark nach
Hause tragen – die wissenschaftlich-technische Intelligenz verdient weniger als Produktionsarbeiter, und sie arbeitet nicht in
Schichten, so dass Zuschläge wegfallen. Hilde kann sich trotzdem Wünsche erfüllen: ab
und zu eine hübsche »Klamotte« kaufen
(wenn denn eine zu finden ist), tanzen, zelten. Zufrieden ist sie dennoch nicht: Sie will
weiterkommen, sich weiterbilden.
1971 delegiert sie der Betrieb an die Ingenieurschule Berlin, zum Frauensonderstudium. So eine Studium ist eine Auszeichnung und zugleich eine Chance für Frauen
und Mütter: Sie werden freigestellt, aber
nach wie vor bezahlt. Ein weiterer Glücksfall: Die Vorlesungen und Seminare finden
nicht in Berlin, sondern in der Betriebsakademie Piesteritz statt. 1972, mitten im Studium, heiratet Hilde den angehenden Diplomsportlehrer Peter Siems, 1973 bekommen sie einen Sohn. Peter absolviert zu dieser Zeit ein Fernstudium an der Deutschen
Hochschule für Körperkultur in Leipzig, auch
Hilde will keinen Stoff versäumen, so dass
sie nur zwei Wochen nach der Entbindung
wieder im Hörsaal sitzt. Den Sohn bringt Peter in die Krippe, Hilde holt ihn nachmittags
gegen halb drei wieder ab, gelegentlich
übernimmt die Oma. Die Krippe kostet
nichts, nur das Essengeld. Abends, nachdem
sie den Kleinen ins Bett gebracht hat, büffelt
Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
Fortsetzung von Seite 6
sie. Hart ist das. Heute sagt sie, sie würde
es wieder so machen, sogar »noch ein Studium dranhängen«.
Nach drei Jahren ist Hildegard Siems Diplom-Ingenieurin und in ihrer Abteilung
wieder voll einsetzbar. Sie leitet jetzt ein
Labor, in dem ausschließlich Frauen arbeiten, in der anorganischen Forschung. Außerdem überträgt man ihr »Projektbetreuungen«, darunter Projekte für die »Messe
der Meister von Morgen«: »Unsere wurden wirklich gebraucht.« Ihre Arbeit
bietet viel Abwechslung, sie kniet sich
hinein. Wenn die anderen in die Kantine
zum Mittag gehen,
bleibt Hilde an ihrem
Platz und macht weiter – essen wird sie
abends mit der Familie. In ihrem Labor
stellt sie Selteneerdeverbindungen her,
analysiert diese und
prüft sie auf ihre
Verwendbarkeit in
der Glas- und der optischen Industrie. Einige dieser Seltenen
Erden sind radioaktiv, so dass sie immer ein Gamma-Dosimeter, ein kleines
Plättchen, in der Brusttasche ihres Kittels
trägt, welches in der Betriebspoliklinik
kontrolliert wird. Die Zielstellung für die
Forscher lautet: teure Importe abzulösen.
Hildegard Siems ist gut darin: Sie bringt es
auf zwanzig Patente.
Bis 1994 war sie in der Forschung tätig.
Danach ging ihr Arbeitsverhältnis mit der
Stickstoffwerke AG Wittenberge-Piesteritz
auf die Chemischen Werke Piesteritz über.
Sie arbeitete als Laborleiterin im Phosphorsalzbetrieb und war zudem für die
Entsorgungsanlage phosphorhaltiger Massen verantwortlich – viele Tonnen kontaminierten Erdreichs, Betons sowie Phosphorschlämme wurden dort nach einem
von ihr patentierten Verfahren entgiftet.
2001 waren alle Phosphorschlämme entsorgt. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan und
durfte gehen. Ihr Sohn ist Diplom-Kaufmann geworden und arbeitet heute bei einer Finanzdienstleistungs AG in Rostock.
Renate Guhl:
Betriebsleiterin, Kämpferin
Jahrgang 1941. Renate wächst heran, ohne
wirklich zu wachsen, klein und schmal, so
bleibt sie lange. Ein rotblondes Mädchen,
knabenhaft, das sich noch auf der Erweiterten Oberschule nicht wahr-, nicht ernstgenommen fühlt. Das macht aus ihr die
Kämpferin. Neben ihr Bild in der Abi-Zeitung setzen die Schulkameraden den
Spruch: »Wer kratzen, beißen, boxen lernen will, der komme zu mir.«
Renate will Chemie studieren. Auf der
Penne hat sie einen Aufsatz geschrieben:
»Chemie bringt Brot, Wohlstand und
Schönheit.« Den Studienplatz hat sie in der
Tasche. Doch vor das Chemiestudium hat
die DDR zu jener Zeit ein praktisches Jahr
gesetzt. Renate beginnt dieses Jahr im September 1959 im VEB Stickstoffwerke Piesteritz. Dummerweise wird ihr ständig
schlecht. Schwanger! Die Pille gab es noch
nicht. Die Familien üben Druck aus. Sie will
nicht, sie »muss« heiraten.
Der Sohn Thomas wird geboren. Sechs
Wochen später arbeitet sie wieder, Thomas
gibt sie in die Wochenkrippe. Aus einem
praktischen Jahr werden zwei. Erneut Druck,
diesmal von der Mutter. Die Tochter soll
schaffen, was ihr verwehrt war: studieren.
Von 1961 bis 1964 studieren sie und ihr
Mann chemische Technologie in Köthen.
Sie werden sich als Freunde trennen. Die
Mutter betreut in dieser Zeit Thomas: Sie
wird stets zur Stelle sein, wenn eines von
Renates Kindern krank wird. Denn Renate
heiratet wieder, 1968 wird Karsten geboren, 1971 Karla. Da hat sich die junge
Technologin, inzwischen durchaus ein
Vollweib, bereits einige Jahre durch das
Stickstoffwerk gebissen, gekratzt, geboxt,
gekämpft. In die Produktion wollte sie! Als
Frau? Das traute man ihr nicht zu. Man
steckte sie ins Hauptlabor. Dort überwachte man zwar die Produktionsprozesse, aber
im Grunde war sie doch nur eine besser
bezahlte Laborantin. Auch als man sie zur
Instrukteurin für Hoch- und Fachschulkader
machte – eine Tätigkeit, die ihr Auge für
Menschen schärfte –, war nicht die Technologin gefragt. Dann jedoch, Ende der 60er
Jahre, beginnt man über Umweltschutz zu
reden. In der Stadt wird viel über den Zustand der Elbe »gemeckert«, mit deren
Wasser das Werk die Anlagen kühlt und das
es anschließend wieder zurückleitet. Ein
Fachbereich Umweltschutz wird gegründet,
Renate Guhl übernimmt das Wasserlabor.
Ihre Liebe zum Wasser erwacht.
Bewirken kann sie zunächst wenig. Das
Wichtigste bleibt die Produktion, die Ziffern
müssen erfüllt werden. Anfang der 70er
wird das Nordwerk gebaut. Im Fernstudium
hat sich Renate Guhl zur Ingenieurin für
Wasseraufbereitung und Abwasserbehand-
7
lung qualifiziert, nun baut sie die Wasseraufbereitungs- und Rückkühlwerke mit
auf. Sie hausen in Bauwagen, bis die Anlage in Betrieb geht – ein Riesenfortschritt.
1000 bis 1500 Kubikmeter Wasser kann sie
pro Stunde aufbereiten, der Schlamm wird
nun auf eine Halde und nicht mehr in die
Auf der Penne hat
Elbe gespült.
»Die Guhl« beherrscht jeden Arbeitsgang, sie einen Aufsatz
kann jeden Arbeitsplatz ausfüllen. Als sie geschrieben:
Betriebsleiterin werden soll, will einer der »Chemie bringt
Schichtleiter nicht unter einer Frau arbei- Brot, Wohlstand
ten. Beißen, boxen, und Schönheit.«
kratzen muss sie
nicht mehr. Kämpfen
kann sie noch immer.
40 Beschäftigte hat
der Betrieb. Die Betriebsleiterin
schrubbt
Bereitschaftsdienste ebenso wie Leitungsbereitschaft, oft wird
sie nachts ins Werk
geholt, häufig auch
an
Wochenenden.
Sie setzt sich durch.
Nicht immer gelingt
ihr das gegenüber
der Parteileitung, die
vieles besser weiß
als die Fachleute. Wilfried Falkenthals
Und stets der Kampf Bild »Veronikas
um Ersatzteile wie Mannschaft« entSchieber an den Ab- stand 1981/82.
sperrarmaturen. Die
muss sie in Reserve
haben, sind aber
kaum aufzutreiben – sie fährt in Maschinenbaubetriebe, im Kofferraum einen Sack
Dünger. Die DDR-Industrie: eine Tauschbörse.
1000 Mark verdient sie nun, dafür ist sie
mit ihrer Anlage verheiratet. Eines aber ist
Gesetz: Wenn die Kinder Ferien haben,
macht die ganze Familie Urlaub. Zum Wintersport geht es in die CSSR, zum Zelten im
Sommer mit dem Trabi nach Ungarn. Und
wie ihre Mutter einst auf sie übt Renate
Guhl auf ihre Kinder
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Druck aus: Lernen,
gut lernen sollen sie.
»Jetzt wächst zusammen,
Ihr Sohn Thomas ist
was zusammen gehört.«
Diplom-Ingenieur für
Informatik geworden
und arbeitet heute
als Administrator in
Halle. Karsten wurde
Chemiefacharbeiter,
er lebt in Bayern. Karneu
la, die Diplom-Fiim
nanzwirtin, ist Ber!
amtin in einem BerOktobe
liner Finanzamt.
Renate Guhl hat
den Betrieb bis 1995
geleitet, dann wurde
sie entlassen. Ihr
letztes Gehalt betrug
4800 D-Mark, aber
ums Geld ging es ihr
nie. Deshalb ist sie
bei ihrer Partei geblieben, die zunächst
zur PDS, dann zur www.dietz-verlag.de
LINKEN
geworden Verlag J.H.W. Dietz Nachf. • Dreizehnmorgenweg 24 • 53175 Bonn
Tel. 0228/23 80 83 • Fax 0228/23 41 04 • info@dietz-verlag.de
ist.
36,00 Euro | ISBN 978-3-8012-4195-7
7. Oktober 2009
8 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
Verlorene
Worte
ABF.
Arbeiter- und BauernFakultät – höhere Bildung für bislang
Ausgegrenzte.
7. Oktober 2009
Die
Überlebenden
Markenzeichen aus der Planwirtschaft
Bienchen.
Belobigungsstempel
für fleißige
Schulanfänger.
1958 zur besseren Versorgung mit alkoholfreien
Getränken
entwickelt,
war Vita Cola
ein Renner.
1994 neu gestartet, steht
Vita aus Thüringen heute
im Osten hinter Coca auf
Platz 2.
Campingbeutel.
Rucksack für
Freizeit und Sport.
Dederon.
Was im Westen
Perlon hieß und
nicht gebügelt
werden musste.
Erichs Krönung.
Statt Jacobs und Eduscho gab’s Kaffeemix.
Foto:
vita-cola.de
Trabant, Sandmännchen, Grüner Pfeil – diese Kreationen der DDR kennt noch heute fast jeder. Und zwar
in Ost und West. Vieles von dem, was in der DDR ausgedacht und produziert wurde, ist im Orkus der Geschichte verschwunden. Manches wollte niemand
mehr, anderes hatte bei der Treuhandanstalt und in
der plötzlich hereinbrechenden Marktwirtschaft keine
Chance. Es gibt aber auch Überlebende – Marken aus
dem Osten, die die turbulenten Nachwendejahre überstanden haben oder die aus dem Nichts wieder aufgetaucht sind – und von denen manche inzwischen den
Westen erobern. Einige von ihnen stellen wir hier vor.
Die Riesaer
Zündhölzer
überlebten
Wende und
Treuhand –
werden nun
aber vor allem
in Osteuropa
produziert.
Zuletzt setzte
ihnen nicht
die Krise zu,
sondern das
Rauchverbot.
Foto: zuendholz
riesa.de
Feierabendbrigade.
Manch einer verdankt
»Freizeit«baumeistern Haus, Garage
und Swimmingpool.
Gehhilfe.
Liebevolle Umschreibung für einen
Trabant.
Hausbuch.
Anwesenheitsnachweis, in dem kein
Westbesucher unerfasst bleiben sollte.
Intershop.
Für D-Mark-Lose ein
Neidtempel
Jahresendprämie.
Eine Art
Weihnachtsgeld für
zumeist ausgefallene
Leistungen.
Wer in den 60er
Jahren DDR-Produktwerbung im
Fernsehen sah,
kennt die Melodie noch: Baden
mit Badusan,
geträllert von
züchtig gefilmten Menschen
in der Wanne.
Das Schaumbad
in der Ente oder
dem Fisch fehlte
in kaum einem
Haushalt. Badusan überstand
eine Firmenpleite in der Marktwirtschaft, ist
heute bei Dresden zu Hause
und wird zur
Zeit über Internet verkauft.
Foto:
badusan.de
Der Klassiker von
Fit – die Halbliterflasche – ist dem
Roten Turm in
Chemnitz nachempfunden. Dort
begann 1954 die
Produktion. Heute
verkauft die Firma
aus Hirschfelde
monatlich mehr
als eineinhalb Millionen Flaschen
Fit und ist damit
drittgrößter Markenhersteller von
Spülmitteln in
Deutschland. Im
Jahr 2000 übernahm Fit die
westdeutschen
Marken Rei, Rei in
der Tube und
Sanso.
Die Liebesperle
stammt aus Görlitz.
In der ostsächsischen Stadt erfand
der Süßwarenfabrikant Rudolf Hoinkis
1908 die kleinen
bunten Zuckerkugeln. Er widmete sie
seiner Frau, doch
ihm fiel kein Name
für das Produkt ein.
Den steuerte die
Gemahlin bei: Liebesperlen. In der
DDR verstaatlicht,
ging der Betrieb
1990 wieder in die
Hände der Familie
Hoinkis über. Die
Firma exportiert die
Perlen und andere
Süßwaren in über
20 Länder.
Foto: fit.de
Foto:
hoinkis.de
Kulturschaffender.
Jeder, der irgendwie
im Verdacht stand,
Künstler sein zu
wollen.
LPG.
Landwirtschaftliche
Produktionsgenossenschaft.
MMM.
Messe der Meister von
Morgen – Erfinderund Tüftlerbewegung
der FDJ.
Scharf wie Westsenf
– das war in der
DDR eine anerkennende Floskel. Doch
eigentlich musste
man in dieser Frage
nicht nach »drüben«
schielen. Dass
Bautzner Senf konkurrenzfähig ist,
beweist er seit der
Wende. Marktanteil
im Osten: 63 Prozent. Im Westen:
Tendenz steigend.
Foto: bautzner.de
1920 wurde der
Name Florena
beim Reichspatentamt angemeldet. In der DDR
wurde der Betrieb
verstaatlicht; die
berühmte blauweiße Cremedose
gibt es seit 1960.
Seit 2002 gehört
Florena komplett
der Beiersdorf AG –
wie die Konkurrenzmarke Nivea.
Foto: florena.de
7. Oktober 2009
Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
Wenn im Osten gefeiert wird, dann
steht unweigerlich
Rotkäppchen auf
dem Tisch. Der Sekt
aus Freyburg an der
Unstrut übernahm
2002 als erstes Ostunternehmen einen
großen Westkonkurrenten – die Sektmarken Mumm, Jules Mumm und MM
Extra. Die Ursprünge
der Firma reichen
bis 1856 zurück;
der Name Rotkäppchen entstand
1894. Nach einem
Wendeknick fing
sich das Unternehmen und ist heute
eine feste Marktgröße mit allgegenwärtiger TV-Werbung.
Foto:
rotkaeppchen.de
Kathi – das Kürzel
steht für den Firmengründer. 1951
ließ Kurt Thiele seine Nährmittelfabrik
in Halle an der Saale
ins Handelsregister
eintragen. Um 1970
verstaatlicht, wurde
die Firma nach der
Wende wieder von
der Familie Thiele
übernommen. Das
mittelständische Unternehmen erhielt
für seine Mehle,
Back- und Brotmischungen sowie Zutaten zahlreiche Unternehmer- und Innovationspreise.
9
Ochsenkopfantenne.
TV-Antenne für Westempfang, benannt
nach dem Sender
Ochsenkopf im Fichtelgebirge.
Poliklinik.
Erst abgewickelt,
dann vielerorts als
Ärztehaus noch
einmal erfunden.
Queck Junior.
Campinganhänger,
500 kg leer, 350 kg
Ferienglück-Zuladung.
Rentnervolvo.
Foto: kathi.de
Spreewälder
Gurken sind fast so
alt wie der Spreewald selbst. Schon
Fontane befand, unter den Spreewaldprodukten stünden
»die Gurken obenan«. Der Ruf der
Spreewald-Gurken
aus der Lausitz ist
so gut, dass in der
Marktwirtschaft
Trittbrettfahrer auf
den Plan traten. Seit
1999 allerdings ist
der Name Spreewälder Gurken in der
gesamten EU
geschützt.
Zeitung lesen – oder
zumindest anschauen – fing in der DDR
zeitig an. Die Zeitschrift Bummi richtete sich an Drei- bis
Sechsjährige und erreichte eine Auflage
von über 700 000
Exemplaren. Der
Name Bummi war
ohnehin populär –
so hieß auch eine
Figur im Kinderfernsehen. Heute erscheint »Bummi« in
einem Verlag in Rastatt.
Foto: Archiv
Foto: bummi.de
In Anspielung auf die
Nobelkarossen der
Parteiführung wurden
rollende Einkaufstaschen so benannt.
SERO.
Annahmestelle für
Sekundärrohstoffe,
also Flaschen, Lumpen, Altpapier.
Taigatrommel.
Diesellok aus der Sowjetunion.
UTP.
Unterrichtstag in der
sozialistischen Produktion, ein pädagogischer Grundsatz ab
7. Klasse
Vitamin B.
Beziehungen, um begehrte Waren oder
Dienstleistungen zu
erlangen.
WBS 70.
Wichtigster NeubauWohnungstyp ab
1970.
X und Y.
Kennzeichen für Kraftfahrzeuge aus den
Bezirken Karl-MarxStadt und Dresden.
Burger Knäckebrot kommt ursprünglich gar
nicht aus Burg, sondern aus Berlin-Lichterfelde. Allerdings verlegte der Ernährungswissenschaftler Wilhelm Kraft, der sich seine Knäcke-Begeisterung in Skandinavien
geholt hatte, seine Firma »Erste Deutsche
Knäckebrotwerke Dr. Wilhelm Kraft« 1931
nach Burg bei Magdeburg, weil in der Börde
das ideale Getreide wächst. Burger Knäckebrot – dann freilich aus dem VEB – war wohl
allen DDR-Bürgern ein Begriff. Nach der
Wende folgten mehrere Besitzerwechsel;
heute ist die Firma nach eigener Darstellung
wieder klarer Marktführer im Osten und die
Nummer 2 im Bundesmaßstab.
Foto: burger-knaecke.de
Wernesgrüner Bier zählte dereinst zu den
Raritäten. Viel kann man über die Biere der
DDR sagen – aber nicht, dass sie alle gut
waren. Getrunken wurden sie trotzdem, weil
es von fast allem fast nie genug gab. Wernesgrüner dagegen war sagenumwoben,
denn man ergatterte es selten; das Bier aus
dem Vogtland war eigentlich nur mit Westgeld zu bezahlen. Schließlich kam es aus
dem VEB Exportbierbrauerei. Seit 2002 gehört das Jahrhunderte alte Traditionsunternehmen, das sein Produkt als Pils-Legende
vermarktet, der Bitburger Gruppe – die Globalisierung kommt auch aus dem Zapfhahn.
Johann Bollhagen begann 1835, in der Grabower Marktstraße Brezeln, Pfeffernüsse,
Waffeln und andere Backwaren herzustellen.
Seit 1951 hieß der Betrieb im Mecklenburgischen VEB Grabower Dauerbackwaren
und belieferte die Nordbezirke der DDR. Die
berühmten Schaumküsse gehören schon
jahrzehntelang zum Sortiment. Seit den
90ern übernahm die Firma zahlreiche Konkurrenten; sie exportiert in 54 Länder und
hat sich auch auf dem deutschen Markt fest
etabliert: Bei den Lebensmitteldiscountern
hat sie nach eigenen Angaben bundesweit
einen Marktanteil von 50 Prozent.
Foto: wernesgruener.de
Foto: grabower.de
Zellophanbeutel.
Plastik-Beutel für den
Einkauf und ähnliche
Gelegenheiten. Besonders begehrt mit
West-Werbung.
Zusammengestellt
von René Heilig und
Wolfgang Hübner
10 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
Fakt ist, dass die
DDR ein hochindustrialisiertes Land
mit moderner
Landwirtschaft und
weltweitem
Handel war.
Die Urteile über die Wirtschaft des verblichenen Staates gehen weit auseinander.
Die einen haben noch die zu Zeiten Walter
Ulbrichts aus Prestigegründen in Umlauf
gesetzte These im Ohr, die DDR belege –
gemessen am absoluten Produktionsumfang – Rang 10 unter den Industrienationen der Welt. Tatsächlich war die in Mengeneinheiten erfasste Produktion im internationalen Vergleich beachtlich. Nur war
damit nichts über den Arbeitsaufwand,
mithin über die Produktivität gesagt. Für
andere glich der zweite deutsche Staat einem Bankrotteur. Diese Schmähthese soll
dazu dienen, die überstürzte Art und Weise
der D-Mark-Übertragung auf die DDR wie
auch die Privatisierungsorgien der Treuhand mit dem hinterlassenen Schuldenberg
von 257 Milliarden D-Mark als alternativlos
zu rechtfertigen und die Bevölkerung demütig zu machen.
7. Oktober 2009
abgedeckt. Das ökonomische Wachstum
war gegenüber vorangegangenen Zeiträumen abgeschwächt, die Akkumulation rückläufig. Die knappen Investitionsmittel wurden auf ausgewählte Zweige (Mikroelektronik, Veredelungschemie, Erdöl- und Erdgaschemie) konzentriert. Das ging zu Lasten vor allem der verarbeitenden Industrie.
Deren Kapitalstock alterte, in Infrastruktur
und Umweltschutz stauten sich die Rückstände. Die Versorgung der Bevölkerung
mit Waren des gehobenen Bedarfs stockte.
Der Kaufkraftüberhang stieg. Die Auslandsverschuldung schwoll an, ein immer größer
werdendes Inlandsprodukt musste für die
Devisenerwirtschaftung aufgewendet werden, um den Schuldendienst zu leisten. Eine grundlegende Reformierung der Wirtschaft war überfällig.
Bevölkerungsversorgung litt. Es zeigte sich
jedoch bald, dass die Westverschuldung
überhöht angegeben war. Doch die Panikziffer wurde von der BRD sofort aufgegriffen und als Hebel für die Durchsetzung eigener Interessen genutzt.
Bis heute werden genüsslich Verschuldungszahlen aus dem sogenannten Schürer-Papier kolportiert, obwohl diese mehrmals öffentlich korrigiert wurden. Schürer
hatte bereits Ende November 1989 die
Volkskammer der DDR darüber informiert,
dass die Westverschuldung der DDR nicht
49 Milliarden D-Mark beträgt, wie im Geheimpapier genannt, sondern 38 Milliarden
D-Mark. Unter dem Druck der Ereignisse
hatte der Bereich Kommerzielle Koordinierung zu einem Teil seine bis dahin streng
geheim gehaltenen, außerhalb der offiziel-
Aber war die DDR pleite? Nein! Pleite ist
ein Staat, wenn er seinen fälligen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen
kann und als nicht mehr kreditwürdig gilt.
Beides traf Ende 1989 nicht zu. Ob das bei
unveränderter Politik in zwei, drei oder vier
Jahren eingetreten wäre, ist Spekulation.
Woher aber stammt die von Politikern der
BRD ab Februar 1990 verbreitete Alarmmeldung, die DDR sei bankrott?
Welche Ironie! Als »Kronzeugen« gelten
bis heute der Vorsitzende der Staatlichen
Plankommission, Gerhard Schürer, und der
Chef des Außenhandelsbereiches Kommerzielle Koordinierung, Alexander SchalckGolodkowski, sowie drei weitere Autoren
einer von Egon Krenz am 24. Oktober 1989
in Auftrag gegebenen Geheimen Verschlusssache zur »Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen«. Darin gehen sie von einer unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit
aus. Für Ende 1989 erwarteten sie Bruttoschulden in konvertierbarer Währung in
Höhe von 49 Milliarden Valutamark bzw. DMark.
Daran hätte die Volkswirtschaft tatsächlich ersticken können, weniger wegen der
nominalen Höhe der Verbindlichkeiten,
sondern weil die Mittel für den Schuldendienst mit immer höherem Inlandsaufwand
erwirtschaftet werden mussten. In den
1980er Jahren waren 4,40 Mark der DDR
für eine Valuta-/D-Mark aufzubringen. Das
hatte die inländische Verwendung immer
empfindlicher geschmälert, worunter die
len Zahlungsbilanz geführten Devisenreserven offengelegt. Voll aufgedeckt waren sie
zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht. Am
11. Mai 1990 gab der Finanzminister der
de-Maizière-Regierung, Walter Romberg,
vor dem Parlament bekannt, dass die Auslandsverschuldung gegenüber westlichen
Ländern per 31. März 1990 in D-Mark umgerechnet 27,2 Milliarden betrug. Im Monatsbericht der Bundesbank vom Juli 1990
wurden die zu diesem Zeitpunkt erfassten
Verpflichtungen in konvertierbaren Devisen
mit 24,7 Milliarden D-Mark angegeben. Die
Lage hatte sich also entdramatisiert.
Schließlich wies die Deutsche Bundesbank in einem Bericht vom August 1999
als Netto-Schuldenstand der DDR in konvertierbaren Devisen am 30. Juni 1990, also einen Tag vor Beginn der Währungsunion, 19,8 Milliarden D-Mark aus. Zum Vergleich: Berlin allein steckt heute mit über
60 Milliarden Euro in den roten Zahlen.
Was um die Jahreswende 1989/90 anstand, war: Modernisierungs- und Wachstumsblockaden lösen und zukunftsfähige
Strukturen ausbauen. Auf bundesdeutscher
Seite fehlte aber die Bereitschaft, der ostdeutschen Wirtschaft Zeit und Mittel dafür
zu gewähren. Mitglieder der ost-west-gemischten Kommission zur Vorbereitung der
Währungsunion berichteten, die Ost-Vertreter hätten immer am kürzeren Hebel gesessen, weil über allen Verhandlungen erschreckende Zahlen aus dem »Schürer-Papier« schwebten. Die Annäherung an die
historische Wahrheit ist langwierig.
Ein
Bankrotteur?
Ein Wirtschaftszwerg, aber nicht pleite
Von Christa Luft
Prof. Christa Luft
war in der DDR
Rektorin der
Hochschule für
Ökonomie »Bruno
Leuschner« in Berlin. In der Regierung unter Hans
Modrow nahm sie
das Amt des Wirtschaftsministers
wahr.
Eberhard Heilands
Bild »Die Aura der
Schmelzer« stammt
aus dem Jahr 1988.
Beide Sichten widerspiegeln die Realität
verzerrt. Fakt ist, dass die DDR ein hoch
industrialisiertes Land mit moderner
Landwirtschaft und weltweiten Außenhandelsbeziehungen war. Ihre größten Ex- und
Importpartner waren die Sowjetunion und
die BRD. Bis zum Ende ihrer Existenz belegte sie unter den RGW-Ländern in der Wirtschaftsleistung pro Kopf den ersten Rang.
In Wissenschaft und Technik nahm sie einen Spitzenplatz ein. Das traf auch auf den
Lebensstandard der Bevölkerung zu. Mit
vielen entwickelten westlichen Ländern
konnte sie sich ebenfalls messen.
Im Vergleich mit der BRD erwies sich die
Produktivität der Wirtschaft als Achillesferse. Bereits in den ersten 15 Nachkriegsjahren war gegenüber dem Marshall-Plan-begünstigten Nachbarn ein Rückstand eingetreten, der bis zuletzt nicht mehr aufgeholt
werden konnte. Neben systemeigenen Ursachen waren dafür äußere Erschwernisse
maßgebend, so umfangreiche Reparationsleistungen an die UdSSR in Form von Demontagen und Entnahmen aus der laufenden Produktion, Embargomaßnahmen kapitalistischer Länder, die offene Grenze zum
Westen und die Abwanderung hochqualifizierter Männer und Frauen, die Zugehörigkeit zu einem Verbund ökonomisch und
ökologisch weniger entwickelter Länder.
Ende der 1980er Jahre hatte sich die
ökonomische Lage der DDR zugespitzt.
Erich Honeckers Kurs der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik war durch die reale Leistungsfähigkeit der Wirtschaft nicht
7. Oktober 2009
Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
11
Geisterfahrer
Autoritätsgläubigkeit und Paternalismus
Von Thomas Klein
Es kostet schon einige Überwindung, sich
heute ausgerechnet im ND, inzwischen vom
»Zentralorgan« zur »sozialistischen Tageszeitung« gewendet, zum bevorstehenden
20. Todestag der DDR zu äußern. Wer zu
Lebzeiten der DDR an einem »Republikgeburtstag« das ND aufschlug, sah sich gewöhnlich einer Überdosis der auch sonst
gängigen Selbstbeweihräucherung ausgesetzt. Die Mitteilungen von journalistischen
Kopflangern der SED-ZK-Abteilung Agitation zwangen den Leser sowieso, zwischen
den Zeilen zu lesen, um einen Zipfel Wirklichkeit zu erwischen. Doch an einem 7.
Oktober nutzte selbst das nichts. Als geübter Zeitungsleser konnte man höchstens an
den Häufungspunkten überbordenden
Selbstlobs die Zentren bereits ausgewachsener Krisen erahnen.
Ob das diesjährige Gedenken an 60 Jahre Bundesrepublik bessere Noten verdient,
mag verschieden beurteilt werden. Dieses
Geburtstagsfest wurde jedenfalls effektvoll
in Beziehung gesetzt zur Totenfeier der
DDR. Solche Inszenierungen erlauben zuweilen auch tiefe Einblicke in den Zustand
der gegenwärtigen Gesellschaft. In dieser
soll nun alles anders sein. Was ist anders?
Damaliger Abwesenheit kritischen Journalismus’ steht heute dessen Folgenlosigkeit
gegenüber. Die Funktion früherer Erfolgspropaganda in der vertuschten Krise übernimmt heute die Konditionierung der Bürger auf ihre willkommene Opferbereitschaft
für das »Gemeinwohl« mit gleichzeitigem
Ausblick auf künftige Besserung, wenn die
Krisenopfer den Gürtel zugunsten der Krisengewinner noch enger schnallen. Das
Bild wird bestimmt durch die Schamlosigkeit galoppierenden Sozialabbaus bei
gleichzeitiger Begünstigung der Oberschichten, die Kommerzialisierung bzw.
den Verfall aller Sektoren gesellschaftlicher
Wohlfahrt (Kultur, Bildung, Verkehrs- und
Gesundheitswesen) sowie die sich immer
weiter öffnende Schere zwischen Arm und
Reich.
Was hat das alles nun mit dem zeitgenössischen Erinnern an die DDR zu tun? Es
hat fatale Folgen. Angesichts der gegenwärtigen sozialen Unsicherheit in ganz
Deutschland und tief greifender Enttäuschungen über einige Resultate von 20 Jahren deutscher »Einheit« in großen Teilen
der ostdeutschen Bevölkerung scheint sich
vielerorts auch das Erinnern an 40 Jahre
DDR zu verändern. Die berechtigte Sehnsucht nach einem Zustand sozialer Sicherheit und öffentlicher Wohlfahrt mischt sich
mit einer unreflektierten »Ostalgie», die
zwar wenig mit dem Wunsch nach einer
Rückkehr zur SED-Diktatur, aber viel mit
dem hilflosen paternalistischen Hang nach
sozialem Autoritarismus á la DDR zu tun
hat. Die gesamtdeutsche mangelnde Emanzipation vom obrigkeitsstaatlichen Denken
hat im Osten die Gestalt einer unabgeschlossenen Verarbeitung von vergangener
politbürokratischer Stellvertreter-Ermächtigung. Die Erinnerung an die Massendemonstrationen des Herbstes 1989 und die
Wucht des Rufes »Wir sind das Volk« wird
aufgegeben zugunsten der Hoffnung auf die
Rettung beim Urnengang. In Vergessenheit
gerät, dass die Verteidigung und Ausweitung sozialer Rechte nur in der Selbsttätigkeit derer, die sie erkämpft haben, gut aufgehoben ist. Wo sich autoritäre Parteiengläubigkeit mit den neuen Realitäten einer
neoliberalen Barbarei mischt, haben der
Klassenkampf von oben und die Aushöhlung demokratischer und sozialstaatlicher
Errungenschaften beste Chancen.
Doch es kommt noch Einiges hinzu: Natürlich ist auch die Erinnerung an die DDR
anhaltend von tagespolitischen Kämpfen
der Konkurrenten auf dem Markt der veröffentlichten Meinung und politischen Parteien gezeichnet. Im publizistischen Mainstream fungiert die DDR, an der es wenig
Positives hervorzuheben gibt, umso mehr
als negative Projektionsfläche demagogischer Verherrlichung gegenwärtiger Staatlichkeit. Die mitunter haarsträubende
Dümmlichkeit, mit der solche geschichtspolitischen Konstruktionen den ehemaligen
Bewohnern dieses untergegangenen Staates zugemutet werden, feuert die unangebrachte Beschönigung dessen vergangener
Existenz nun auch noch an.
Früher, in der DDR, funktionierte die Delegitimierung der Perspektive eines freiheitlichen, demokratischen Sozialismus
durch das Erleben der Realität einer stalinistischen und parteibürokratischen Despotie nachhaltiger, als es der real existierende Kapitalismus je vermochte. Heute
produziert die gegenwärtige Gesellschaft
(natürlich ungewollt) materielle und »ideologische« Ressourcen zur fragwürdigen Rehabilitierung und Verklärung einiger Momente autoritärer Wohlfahrtsstaatlichkeit
in der DDR. Ohne die Überwindung damals
entstandener als auch gegenwärtiger Autoritätshörigkeit wird es nichts werden mit
einer wirklichen Emanzipation.
Im vereinigten Deutschland treffen wir
heute auf ein bemerkenswertes Spektrum
der Verarbeitung vergangener und gegenwärtiger Zumutungen. Zwei Beispiele: Mehr
als einmal haben ehemalige Funktionsträger der SED, die mir früher in der DDR
beinhart und drohend als Sachwalter der
politischen Reinheit gegenübertraten und
die Verwerflichkeit gerade linker Opposition in der DDR begreiflich zu machen versuchten, mich nach dem Anschluss der DDR
an die Bundesrepublik von den Vorzügen
der jetzt herrschenden Ordnung überzeugen wollen – und mich vor der Sinnlosigkeit linker Opposition in Deutschland gewarnt. Zu dieser eher komischen Spielart
systemübergreifenden Opportunismus’ gesellt sich jedoch auch eine vorwiegend deprimierende Variante neudeutscher Friedfertigkeit: Viele »ehemalige Bürgerrechtler«
(so lautet heute die Sprachregelung) – in
der DDR mutig und unbestechlich gegen
die nominalsozialistische Diktatur, für Demokratie und Menschenrechte kämpfend –
sehen heute keinen Anlass, etwa die zeitgenössische Entwürdigung der vom Kapital
unverwertbaren Arbeitskräfte durch die
Hartz–IV-Gesetze wenigstens als Menschenrechtsfrage zu entdecken.
Als sich die Aushöhlung bürgerlicher
demokratischer Standards durch den Ausbau des hoch technisierten Überwachungsstaates beschleunigte, gedachte man »in
der Szene« gerade des Überfalls der Stasi
auf die Berliner Umweltbibliothek 20 Jahre
zuvor. Während dieses Gedenkens wurden
u. a. Autoren des »telegraph«, der Nachfolgezeitschrift der damals von der Umweltbibliothek herausgegebenen »Umweltblätter«, von der Bundesanwaltschaft mit grotesken Beschuldigungen und Ermittlungsverfahren überzogen. Den meisten Feiergästen war das zeitgenössische Geschehen
um die nach allen Regeln der Kunst von
den Staatsschutzorganen observierten Autoren nur ein dröhnendes Schweigen wert.
Doch anderswo gab es Solidarität, und sie
war – wie damals auch – nicht vergeblich.
Nach wie vor gilt: Vorwärts und nicht vergessen …
»Berliner Vorortstraße« von Konrad
Knebel aus dem Jahre 1956
Ohne die
Überwindung in der
DDR entstandener
als auch
gegenwärtiger
Autoritätshörigkeit
wird es nichts
werden mit einer
wirklichen
Emanzipation.
Der Bürgerrechtler
und Historiker
Thomas Klein war
1979/80 in der
DDR inhaftiert,
gründete Mitte
der 80er Jahre
die Gruppe Gegenstimmen und war
im Herbst 1989
Mitbegründer der
Vereinigten Linken.
12 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
Hätte sich die
SED-Führung dem
schöpferischen,
kritischen Denken
gegenüber
aufgeschlossen
verhalten, wäre es
schon damals
möglich gewesen,
den Bruch mit dem
Stalinismus zu
vollziehen.
Unbestritten stellte die Zeit nach dem XX.
Parteitag der KPdSU auch für die DDR eine
große Chance dar, mit dem Konzept des
sowjetisch geprägten autoritären Sozialismus zu brechen und stattdessen dem demokratischen Sozialismus den Weg zu bahnen. Der Literaturwissenschaftler und
Querdenker Hans Mayer schrieb: »Zeitweilig glaubten wir, es gab eine reale Chance.
Die Situation mit Ulbricht konnte nicht
dauern. Dass 1956, in der Periode des sogenannten Tauwetters, eine Mannschaft
aus Kadern der Partei, der anderen Organisationen und der übrigen Bevölkerung bereitstand, um das Ulbricht-System zu stürzen, ist sicher.« Mayers Bewertung wird
man kaum widersprechen können.
Es gab 1956 nicht nur unter den Intellektuellen des Kulturbundes eine alternative Programmatik, die in Texten von Walter
Versäumte
Chancen
Wie kritische Geister der Macht unterlagen
Von Siegfried Prokop
Jüngste Bücher
des Berliner Geschichtsprofessors
Siegfried Prokop:
»1956 – DDR am
Scheideweg« und
»Der versäumte
Paradigmenwechsel 1978«
»Brecht, Weigel, Eisler in Buckow« von
Arno Mohr, 1977
Janka und Gustav Just sowie in Wolfgang
Harichs »Memorandum« und »Plattform«
gipfelte; dieser Ansatz war auch mit Karl
Schirdewan im Politbüro und in Regierungskreisen feststellbar. Selbst Otto Grotewohl ging davon aus, dass nach dem XX.
Parteitag der KPdSU das Ziel im Aufbau eines »westlichen Sozialismus« bestünde.
Das theoretische Denken erlebte in der
DDR einen Aufschwung wie in keinem anderen Land.
Auf Initiative von Ernst Bloch, Wolfgang
Harich und Georg Klaus fand vom 8. bis 10.
März 1956 an der Akademie der Wissen-
7. Oktober 2009
schaften die Konferenz »Das Problem der
Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen
Sozialismus« statt. Dieser erste Versuch einer philosophischen Neubestimmung der
internationalen Linken nach Stalins Tod
führte Ernst Fischer, Roger Garaudy, Leszek
Kolakowski, Ernst Bloch, Hermann Duncker,
Friedrich-Karl Kaul, Rudolf Schottlaender
und Kurt Hager mit den Konferenz-Initiatoren zusammen. Der ebenfalls eingeladene
Georg Lukács konnte nicht teilnehmen. Harich, der eine »marxistische Anthropologie«
verlangte, sprach über »Das Rationelle in
Kants Konzeption der Freiheit«. Dieser erste Versuch einer theoretischen Neubestimmung sollte zugleich die letztmalige Begegnung eines so erlauchten Gremiums linker Denker in der DDR werden.
Hätte sich die SED-Führung diesem
schöpferisch-kritischen Denken gegenüber
aufgeschlossen verhalten, wäre es schon
damals möglich gewesen, den Bruch mit
dem Stalinismus zu vollziehen. Doch der
im Ergebnis der sowjetischen Intervention
in Ungarn möglich gewordene Sieg Ulbrichts über seine innerparteilichen Kritiker führte zur rigorosen Abrechnung mit
den unbequemen Geistern Bloch, Harich,
Janka und Just. Die nach Chruschtschows
halbherziger Kritik am Personenkult um
Stalin 1956 kaum in Gang gesetzte Rückkopplung zwischen Theorie und Politik kam
nun wiederum ins Stocken, alte Dogmen
blieben letztlich unangetastet. Ulbricht war
allerdings zu klug, diese Rückkopplung
vollends zu unterbinden. Mit der 1957
vollzogenen Gründung des Forschungsrates
der DDR kanalisierte er sie auf das weite
Feld der Naturwissenschaft und Technik.
Außerdem bemühte er sich, Elemente der
Harichschen Plattform trotz deren öffentlicher Verunglimpfung als »konterrevolutionär« in seine Politik einzubauen, in sein
Konzept des »realen Sozialismus«.
In Politik, Gesellschaft und Staat beförderte Ulbricht jedoch auch angesichts der
erneuten Krise von 1960/61 die parteipolitische Zentralisierung. Als kurzzeitiges Krisenmanagement hätte dies gewiss Sinn
gemacht, wenn sodann der notwendige gesellschaftliche Modernisierungsschritt nicht
blockiert worden wäre, den nun Robert Havemann mit Demokratisierung als den
wichtigen zweiten Schritt der Revolution
einforderte. Wir wissen, dass trotz der beachtlichen Reformfähigkeit, die das Neue
Ökonomische System beinhaltete, es zu
keinem Fortschritt bei der Reform des politischen Systems kam. Man kam hier über
Ansätze wie die These des VI. Parteitages
der SED vom Ȇbergang von der Diktatur
des Proletariats zum Staat des Volkes« sowie den Mitgliederzulauf zur CDU, DBD,
LDPD und NDPD Mitte der 60er Jahre nicht
hinaus. Obwohl Ulbricht selbst mit der
Aufnahme der Kybernetik in die Gesellschaftstheorie der SED 1967 vorsichtig zu
erkennen gab, dass ihm die alten ML-Dogmen als Führungsinstrumentarium nicht
mehr genügten. Doch das Pendel schlug in
der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu Gunsten der reformfeindlichen Honecker-Gruppe
im Politbüro aus, die sich nach Chruschtschows Sturz auf die Breshnew-Administration in Moskau stützen konnte.
Nach der militärischen Intervention zur
Zerschlagung des Prager Frühlings entschied sich die Niederlage der kritischen
Theorie gegenüber der Politik. Die DDR
bewegte sich nach 1968 wie andere osteuropäische Länder Schritt für Schritt und
blindlings sicher auf den Untergang zu.
Honecker ging mit dem Reform-Potenzial in
der SED ähnlich rigide um wie Ulbricht
1956/57. Die Kritik Wolf Biermanns, Rudolf Bahros und Hermann von Bergs wurde
abgeblockt; Biermann ausgewiesen, Bahro
eingesperrt und von Berg erst eingesperrt,
dann beruflich kaltgestellt und schließlich
aus dem Land hinaus »komplimentiert«.
Der Ökonom Fritz Behrens musste seine
höchst aufschlussreichen Studien versteckt
halten. Gerade seine Analysen, die erst
nach der Wende publiziert werden konnten
(»Abschied von der sozialen Utopie«, Berlin 1992), verdeutlichen, in welchem Maße
der »reale Sozialismus« als »linker Staatsmonopolismus« in die historische Sackgasse geraten war. Dies erkennend, hatte Behrens eindringlich systemtranszendente Reformen angemahnt. Doch auch dieser Intellektuelle ward nicht erhört worden.
7. Oktober 2009
In der Dritten Welt ist die Erinnerung an
die DDR noch nicht verblasst. Das hat seine guten Gründe. Man erinnert sich an die
vielfältige Unterstützung des ostdeutschen
Staates für den nationalen Befreiungskampf gegen die alten Kolonialmächte.
Von DDR-Bürgern aufgebaute Fabriken und
Schulen sind in einigen afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern noch heute in Betrieb. Auch die kulturellen Kontakte waren mannigfaltig. Das
ist alles bekannt. Weniger hingegen sicher
der UN-Blauhelmeinsatz von DDR-Bürgern.
Als die DDR in ihr letztes Jahr eintrat,
sollte sich für das bis dato von Südafrika
besetzte Namibia das Tor zur Unabhängigkeit öffnen. Wahlen unter UN-Aufsicht entließen 1989 nach jahrzehntelangem Befreiungskampf die letzte Kolonie in die
Unabhängigkeit. Beteiligt war die DDR.
Nach zehnjähriger Verzögerung des UNUnabhängigkeitsplans für Namibia durch
das von der Reagan-Administration in Washington gestützten Südafrika sollte dieser
am 1. April 1989 endlich in die Realität
umgesetzt werden. Der UN-Plan beinhaltete Rückzug der südafrikanischen Truppen,
Rückkehr der Flüchtlinge sowie Wahlen unter Kontrolle der UN-Übergangshilfsgruppe
UNTAG und die Proklamierung von Namibias Unabhängigkeit im Verlauf eines Jahres. Streit in den Vereinten Nationen um
das UNTAG-Budget verzögerte jedoch deren Einsatz. Der UN-Sonderbeauftragte für
Namibia, Martti Ahtisaari, verfügte am 1.
April nur über einen Bruchteil der vorgesehenen Polizeikräfte. An jenem Tag meldete Südafrika das Eindringen von Kämpfern der Befreiungsbewegung SWAPO aus
Angola, forderte den Einsatz der eigenen
Truppen zur »Wiederherstellung der Ordnung« und drohte mit dem Scheitern des
gesamten UN-Plans. Ahtisaari musste
ohnmächtig zähneknirschend einem begrenzten südafrikanischen Einsatz zustimmen.
Tatsächlich waren SWAPO Kämpfer in
Nordnamibia einmarschiert, wo die UN
noch nicht präsent war. Südafrika nahm
dies zum Vorwand für einen massiven Militärschlag mit Hunderten von Toten auf Seiten der SWAPO. Der UN-Namibiaplan war
akut gefährdet und damit die politische
Konfliktlösung in der Region insgesamt bedroht. Nach einer Woche hektischer diplomatischer Verhandlungen zwischen Vertretern von Angola, Kuba, Südafrika, der USA
und Sowjetunion konnte ein Ende der
Kämpfe erreicht werden. Ahtisaari kam
nun erst wieder zum Zuge. Er etablierte
UNTAG landesweit, hatte es aber nicht
leicht, die Vertrauenskrise seiner Einheiten
angesichts der blutigen April-Ereignisse zu
überwinden. Schließlich gelang es ihm jedoch, die Intentionen der UN gegenüber
Südafrika durchzusetzen, unterstützt durch
diplomatische Beobachtermissionen aus
40 Ländern, darunter der DDR.
42 000 Flüchtlinge kehrten nach Namibia zurück, auch mit Interflug-Sondermaschinen, die zudem dringend benötigte Zelte und Hilfsgüter aus der DDR ins Land
brachten. SWAPO-Präsident Sam Nujoma
führte kurz vor der Rückkehr in seine Heimat noch Konsultationen in Berlin. Die
DDR hatte den von westlichen Staaten erarbeiteten UN-Namibiaplan 1978 noch als
Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
13
«Abtransport der
sechsarmigen Göttin« von Harald
Metzkes entstand
1956.
Die erste und
letzte UN-Mission
Blauhelmeinsatz in Namibia
Von Hans-Georg Schleicher
Man erinnert sich
noch heute in
Asien, Afrika und
Lateinamerika an
die vielfältige
Unterstützung des
ostdeutschen
Staates für den
nationalen
Befreiungskampf
gegen die alten
Kolonialmächte.
Dr. Hans-Georg
Schleicher, Botschafter a.D., ist
heute noch oft in
Afrika unterwegs,
u. a. für SODI.
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einen Versuch abgelehnt, eine Machtübernahme der SWAPO zu verhindern. Inzwischen wurde der Plan als realistischer
Kompromiss für eine politische Konfliktlösung aktiv unterstützt. Auch deshalb wurde
die DDR-Beobachtermission trotz sowjetischen Widerspruchs nach Windhoek entsandt.
Bei der Verwirklichung des UN-Plans
kam der Polizei-Funktion der UNTAG eine
Schlüsselrolle zu. Mitte 1989 wurde beschlossen, ihre Stärke zu verdreifachen.
Hier kamen nun auch beide deutsche Staaten zu ihrem ersten Blauhelmeinsatz – 50
Mann vom Bundesgrenzschutz und 30 Polizeibeobachter aus der DDR. Da patrouillierten an der angolanischen Grenze auch
schon mal Volkspolizei und Bundesgrenzschutz gemeinsam im UN-Schützenpanzer.
Die UNTAG-Polizeibeobachter trugen dazu
bei, latente Konflikte zu entschärfen und
unter Kontrolle zu halten. Die Verleihung
der UN-Friedensmedaille war dann auch
mehr als nur eine Geste.
Zu den Wahlen vom 7. bis 11. November reisten weitere 1200 internationale
Beobachter nach Namibia, wiederum auch
aus der DDR. Die internationale Präsenz
trug zum Erfolg der Wahlen bei, an denen
sich beeindruckende 95 Prozent der Bevölkerung beteiligten. Während auf Windhoeks Straßen der Wahlsieg der SWAPO
gefeiert wurde, bilanzierte die UNO eine
ihrer erfolgreichsten Missionen. UNTAGStabschef Cedric Thornberry erwähnt in
seinen Erinnerungen an Namibia lobend
auch explizit die DDR-Mission.
P a p y R o s s a Ve r l a g | Luxemburger Str. 202
| 50937 Köln
Eberhard Czichon / Heinz Marohn:
Das Geschenk
Die DDR im Perestroika-Ausverkauf
Interviews mit Zeitzeugen, die in der DDR hohe Funktionen innehatten, zu den Vorgängen von 1989/90 bisher aber geschwiegen haben, sowie unbekannte Dokumente eröffnen unerwartete Einblicke in das Ende
der DDR und in die Rolle ihrer »Reformer«.
526 Seiten; Euro 22,90
Peter Jung (Hg): AufBRUCH – 9. November ’89
Leserbriefe aus der DDR
Ohne zu ahnen, dass abends ein Genosse Schabowski
die Grenze öffnen würde, schrieben am 9. November
‘89 zahlreiche Leser an die Junge Welt. Etliche bekannten sich zu einer Erneuerung des Sozialismus,
einige hielten ihn für gescheitert, ein Mauerfall stand
aber für keinen zur Debatte. Ein Stimmungsbild.
168 Seiten; Euro 12,90
Ludwig Elm: Wenn ich einmal der Kanzler wär
Ein Zwischenruf zur deutschen Einheit
»Wenn ich einmal der Herrgott wär« betitelte Karl Valentin ein Couplet. Diese Simulation nutzend, konfrontiert Ludwig Elm die bundesdeutsche Vereinigungspolitik mit Alternativen. Er untersucht aktuelle Debatten um DDR und NS-Vergangenheit und holt die historischen Leichen aus dem Keller von CDU/CSU und
FDP.
186 Seiten; Euro 14,90
Tel.: 0221 / 44 85 45 | www.papyrossa.de | mail@papyrossa.de
14 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
7. Oktober 2009
Patient statt Kunde
Ein Wort ist
Synonym für das
Gesundheitswesen
der DDR:
Poliklinik.Die
Zerstörung dieses
Systems ist ein
Sündenfall der
Vereinigung.
»Schwimmer« von
Willi Sitte, 1971
Dr. med. Heinrich
Niemann ist Facharzt für Sozialmedizin und war von
1992-2001 Gesundheitsstadtrat
in Berlin-Hellersdorf.
An ihrem Gesundheitswesen ging die DDR nicht zugrunde
Von Heinrich Niemann
1989 gehörte das Gesundheitswesen der
DDR international zu den leistungsfähigen
und anerkannten Systemen der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzte
beispielsweise die medizinische Basisversorgung der Bevölkerung.
Trotz des beträchtlichen Unterschieds in
der ökonomischen Leistungskraft befanden
sich die DDR und die Bundesrepublik in den
wesentlichen medizinischen Standards und
gesundheitlichen Kennziffern auf einem
vergleichbar hohen Niveau. Das berufliche
Können der 52 000 Ärzte und Zahnärzte
wurde nie in Frage gestellt. Ihr hoher Ausbildungsstand verweist auch auf das anerkannt hohe Niveau der Lehre an den medizinischen Hochschulen der DDR. Waren in
der BRD medizintechnische Geräte oder
Heilmittel für die Behandlung bestimmter
Krankheiten besser verfügbar, so standen
dem in der DDR bessere Ergebnisse auf dem
Gebiet der Vorbeugung, der Kindergesundheit und des Impfschutzes gegenüber. Nicht
zu bestreiten sind manche Engpässe, so die
zu langen Wartezeiten bei Untersuchungen
mit modernen Importgeräten wie Compu-
tertomografen, die nicht in ausreichender
Zahl vorhanden waren. Immerhin waren die
Gründe nachvollziehbar – im Gegensatz zur
heutigen Situation, in der es unerträgliche
Wartezeiten gibt, obwohl an Geräten kein
Mangel herrscht.
An ihrem Gesundheitssystem ist die DDR
sicher nicht zugrunde gegangen. In der benachbarten Bundesrepublik wusste man zu
jener Zeit sehr wohl von den Vorzügen einer
poliklinischen Struktur oder anderen Stärken, die möglicherweise gern übernommen
worden wären. Aber was ist ein
Bundesminister oder ein Ärztekammerpräsident gegen eine Kassenärztliche Vereinigung oder die
Lobby der Pharmaindustrie? Deren
Ohnmacht zieht sich durch alle Reformen des bundesdeutschen Gesundheitssystems, die wir in den
letzten Jahren erlebt haben. Trotz
des enormen medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts der letzten beiden Jahrzehnte mit den
Möglichkeiten der digitalen Datenverarbeitung und den deutlichen
baulichen Verbesserungen in vielen DDR-Krankenhäusern seit der
Vereinigung bleibt der Umbau des
Gesundheitssystems eine höchst
aktuelle Aufgabe.
Das zweifellos hoch entwickelte
bundesdeutsche Gesundheitssystem leidet an steigenden Kosten,
zunehmender Zwei-Klassen-Medizin und territorialen Disproportionen, die nur mit strukturellen Veränderungen grundsätzlicher Art zu
beheben sind. Ein zentrales Merkmal der DDR war der staatliche
Charakter ihres Gesundheitswesens, verbunden mit dem programmatischen Ansatz, den Gesundheitsschutz als gesamtgesellschaftliches Aufgabe zu verstehen
und zu gestalten. Das steht den
heutigen Tendenzen der Privatisierung und Unterwerfung unter die Marktgesetze diametral entgegen. Mit dem Wort
»staatlich« waren nicht nur die Eigentumsverhältnisse angesprochen. Es beinhaltete
die unmittelbare Verantwortung des Staates für die Gesundheitspflege. Ein Beispiel:
Eine gesetzliche Pflicht etwa zu bestimmten
Impfungen oder für Reihenuntersuchungen
von Kindern festzulegen, implizierte auch
die Verpflichtung, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Das setzte die DDR um.
Die einheitliche Krankenversicherung der
DDR war transparent, sozial gerecht, kostengünstig und unbürokratisch. Ambulante
und stationäre Behandlung bildeten eine
Einheit, ebenso Prophylaxe, Diagnostik,
Therapie und Nachsorge. Der vorbeugende
Gesundheitsschutz spielte eine große Rolle
– besonders bei Kindern und in Betrieben.
Es existierte ein abgestimmtes System der
Aus-, Weiter- und Fortbildung für Ärzte und
andere Gesundheitsberufe. Aus all diesen
Grundsätzen wurde eine sinnvolles, fachlich und territorial abgestimmtes System
der medizinischen Grundbetreuung, der
spezialisierten und der hoch spezialisierten
Betreuung entwickelt. Ein Dispensairebetreuungssystem für Patienten mit Krankheiten wie Tuberkulose, Lungenkrankheiten,
Rheuma oder Diabetes wurde aufgebaut,
dessen Stärke die Erfassung und Betreuung
praktisch aller Betroffenen, stringente medizinische Standards und entsprechende
Weiterbildung des Personals waren.
Es wurden sinnvolle gesetzliche Regelungen für komplizierte Probleme gefunden. So galt bei Organspenden die Nichteinwilligungsregelung. Wer eine Spende
nicht ausdrücklich abgelehnt hatte, galt als
Spender – ein System, das in anderen Ländern heute noch existiert und das sich einige Experten für die Bundesrepublik
wünschten, weil es Leben retten könnte.
Dem Ministerium für Gesundheitswesen zugeordnete Institute befassten sich mit Spezialfragen wie dem Kinder- und Jugendgesundheitsschutz, der Arbeitsmedizin oder
der Organisation des Gesundheitsschutzes
sowie mit der Facharztaus- und Fortbildung. Beispielhaft war die Gesundheitsstatistik – darunter das Krebsregister. Fast auf
all diesen Feldern besteht in der Bundesrepublik Handlungsbedarf, weil oft nicht alle
betroffenen Bürger oder Patienten mit den
heutigen Strukturen erreicht werden und
auch in fachlicher Hinsicht nicht selten
Mängel festgestellt werden.
Ein Wort ist inzwischen fast zum Synonym für das DDR-Gesundheitswesen geworden: Poliklinik. Die Zerstörung dieses
Systems ist der gesundheitspolitische Sündenfall der Vereinigung. Polikliniken waren
keine Erfindung der DDR. Ihre historischen
Wurzeln liegen in der Idee einer »Sozialen
Medizin« Rudolf Virchows ebenso wie in
den in der Weimarer Republik entstandenen Ambulatorien der Krankenkassen. Nicht
nur die Sowjetunion, sondern auch westeuropäische Länder nahmen sie sich nach
1945 zum Vorbild. Polikliniken sind mehr
als Praxisgemeinschaften. Ihr Prinzip ist
die Einheit vorbeugender, kurativer und rehabilitativer sowie sozialer Maßnahmen.
Das erfolgt in einer abgestimmten Zusammenarbeit mehrerer für die ambulante Betreuung notwendiger Fachdisziplinen, in
der Regel unter einem Dach. Ärzte und andere Berufsgruppen arbeiten gleichberechtigt zusammen und sind als Angestellte beschäftigt. So ist das individuelle ärztliche
Handeln nicht unmittelbar vom finanziellen
Wert der einzelnen ärztlichen Maßnahmen
beeinflusst. Der Patient ist kein Kunde, die
Gesundheit keine Ware. Eine Poliklinik
kann einen vorbeugenden Ansatz und eine
aufsuchende medizinische Arbeit im Unterschied zur Einzelpraxis viel besser organisieren. Die Poliklinik kann sozialen Belangen des Patienten besser Rechnung tragen
und kommunale Funktionen zu Gesundheitsfragen in ihrer Stadt erfüllen. Betriebswirtschaftlich, also bei den Kosten,
liegt ihr Vorteil allein mit Blick auf die bessere Auslastung vieler Geräte auf der Hand.
AUSGEWÄHLTE VERANSTALTUNGEN
BERLIN
4. NOVEMBER AB 10:30
»EINES LANGEN
TAGES REISE ... DER
4. NOVEMBER 1989
IN BERLIN – DER WEG
ZUR DEMOKRATIE«
MULTIMEDIALE REKONSTRUKTION
DIESES EREIGNISSES UND PODIUMSDISKUSSION MIT ZEITZEUGINNEN
REIHE «GESCHICHTSJAHR 2009»
Mit: Lothar Bisky, Konrad ElmerHerzig, Gregor Gysi, Luc Jochimsen,
Johanna Schall, Hennig Schaller,
Friedrich Schorlemmer, Franz Sodann, Joachim Tschirner u. a.
Ort: KINO BABYLON-MITTE RosaLuxemburg-Str. 30, 10178 Berlin
Kontakt: WOLFGANG BEY
Tel. 030 44310-161, bey@rosalux.de
BUNDESWEIT
Detlef Nakath u. a.
Ort: ALTES STADTHAUS Bärensaal,
Eingang Jüdenstr. 42, 10179 Berlin
Kontakt: WOLFGANG BEY
Tel. 030 44310-161, bey@rosalux.de
20. NOVEMBER 17:00
BIS 22. NOVEMBER 16:00
MARX –
WELCOME BACK?
MARX-HERBSTSCHULE 2009
Thema: Die zentralen Begriffe des
Zirkulations- und Kreislaufprozesses
des Kapitals
Ort: ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG
Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin
Kontakt: SABINE NUSS
Tel. 030 44310-448, nuss@rosalux.de
13. NOVEMBER 17:00
BIS 14. NOVEMBER 24:00
ÜBERLEBEN
IN DEN «CREATIVE
INDUSTRIES»
ZWISCHEN LUST UND LAST DES INFORMELLEN. INTERNATIONALE KONFERENZ
Wissenschaftiche Analyse trifft auf
zugespitzte publizistische Meinung
und literarische, filmische und
darstellende künstlerische Form.
Ort: VOLKSBÜHNE IM PRATER
Kastanienalle 7–9, 10435 Berlin
Kontakt: MARIO CANDEIAS
Tel. 030 44310-179,
candeias@rosalux.de
24. OKTOBER 9:00 BIS 25. OKTOBER 17:00
NEONAZIS, IHRE
ORGANISATIONEN UND
NEOFASCHISTISCHE
FORMIERUNG
IN DEUTSCHLAND
EIN WORKSHOP-WOCHENENDE
An historischer Stätte wird sich mit
der Geschichte und der Gegenwart
des Faschismus in Deutschland
auseinandergesetzt.
Mit: Prof. Dr. Kurt Pätzold; Dr. Christoph Busch; Martina Renner; Kevin
Stützel; Yves Müller; Michael Weiss;
Friedrich Burschel, Anke Hoffstadt,
Dr. Horst Helas, Michael Brühl, u. a.
Ort: NS-DOKUMENTATIONSZENTRUM
RHEINLAND PFALZ. GEDENKSTÄTTE
KZ OSTHOFEN Ziegelhüttenweg 38,
67574 Osthofen
Kontakt und Anmeldung: RLS-REGIONALBÜRO MAINZ Tel. 06131 6274703,
oberhaus@rosalux.de
5. NOVEMBER 19:00
«DIE MAUER FIEL
UND ICH BIN SCHULD»
LESUNG MIT GÜNTER BROCK, AUTOR
UND TEILNEHMER DER SPÄTER SO
BERÜHMT GEWORDENEN PRESSE-
KONFERENZ MIT GÜNTER SCHABOWSKI,
DIE NOCH IN DER SELBEN NACHT ZUM
MAUERFALL FÜHRTE
Ort: HAUS DER KULTUR Arsenalstr. 8,
19053 Schwerin
Kontakt: RLS MECKLENBURGVORPOMMERN Tel. 0381 4900450,
mv@rosalux.de
12. NOVEMBER 18:00
BIS 13. NOVEMBER 16:00
13. POTSDAMER
KOLLOQUIUM ZUR
AUSSEN- UND
DEUTSCHLANDPOLITIK:
1949 – 1989/90 – 2009
TAGUNG ZUR GESCHICHTE DER
AUSSENPOLITIK DER DDR, DER BRD
UND DES VEREINIGTEN DEUTSCHLAND
Mit: Prof. Egon Bahr, Dr. André Brie,
Dr. Werner Kilian, Prof. Dr. Wilhelm
Ersil, Botschafter a. D. Julij Kwizinskij (Moskau), Prof. Dr. Claus
Montag, Dr. Hermann Freiherr von
Richthofen u. a.
Ort: KULTURHAUS ALTES RATHAUS
Am Alten Markt, 14467 Potsdam
Kontakt: RLS BRANDENBURG
Tel. 0331 8170432,
luxembbg@t-online.de
17. NOVEMBER 17:00 BIS 20:00
20 JAHRE NACH DER
MODROW-REGIERUNG
SYMPOSIUM IN KOOPERATION
MIT FRAKTION DIE LINKE IM
ABGEORDNETENHAUS VON BERLIN,
»HELLE PANKE E. V.« UND ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG BRANDENBURG
Mit: Carola Bluhm, Matthias
Platzeck, Hans Modrow,
Heinz Vietze, Christa Luft,
Gabriele Lindner, Siegfried Prokop,
Juri Kwisinski (angefragt),
EIN
EIN
EIN
EIN
DEUTSCH-DEUTSCHES GESCHICHTENBUCH.
DEUTSCH-DEUTSCHES GESCHICHTSBUCH.
GEGENWARTSBUCH. EIN VERGANGENHEITSBUCH.
DIE-GEGENWART-IN-DER-VERGANGENHEIT-BUCH.
Immer wieder, immer wieder neu, machen die Autoren Kerstin und Gunnar Decker dieselbe Erfahrung: ohne
dass dieses Land auch die DDR-Geschichte als ihre eigene annimmt, wird die Einheitsnarbe nicht heilen, bleiben wir dümmer, als wir eigentlich sind.
Doch gerade im 20. Jahr des Mauerfalls, im 60. Jahr der Bundesrepublik scheint nichts unpopulärer zu sein
als die Kunst, ungeteilt zu erben. Besitzt Deutschland nur eine westliche Vergangenheit? Neueste Bilder- und
Geschichtsausstellungen zum Thema »60 Jahre Bundesrepublik« legten es nahe.
Wann wird die innere Einheit des Landes vollendet sein? Vielleicht erst, wenn wir nicht nur eine gemeinsame
Gegenwart und eine gemeinsame Zukunft, sondern auch eine gemeinsame Vergangenheit haben.
Zeit für eine neue Deutschstunde.
Kerstin und Gunnar Decker
Über die unentwickelte Kunst, ungeteilt zu erben
Eine Deutschstunde
Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2009, 320 Seiten, Broschur, 19,90 Euro, ISBN 978-3-320-02194-8
16 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR
Nostalgiker sind
überzeugt davon,
dass die Witze in
den Farben der DDR
besser waren als
der deutsche
Humor der
Gegenwart.
Oddo und Rischard, zwee Sachsen, sitzen
auf der Parkbank und klagen über die Kolonisatoren aus’m Westen. Beim Überfliegen besudelt eine Amsel, die mal muss,
Oddos Jackenärmel. Rischard, verbittert:
»Was hab’ch dir gesagt, mei Oddo, uns
scheißen se an, un for de Westler sing’ se!«
Wenn auch die Jahre enteilen, bleibt dem
gelernten DDR-Bürger doch unauslöschlich
die Erinnerung an die politischen Witze
von einst. In dieser Hinsicht musste die
DDR den internationalen Vergleich nicht
scheuen: Über Spanien lachte nur die Sonne, über die DDR jedoch die ganze Welt.
Witze, die das
Leben riss
Die kurzweiligste Form der Volkskunst
Von Ernst Röhl
Ernst Röhl ist Satiriker und Witzesammler. Zu seinen
zahlreichen Büchern gehört »Zehn
Jahre sind zuviel.
Deutsch-deutsche
Witze der Jahrtausendwende« von
1998.
Sighard Gille schuf
das Bild »Autofahrer« 1972.
Mehr als mir lieb sein konnte, bestimmten solche Flüsterpointen meine Jugend. In
meiner Leipziger Studentenzeit gehörte ich
dem Kabarett »Rat der Spötter« an, wurde
1961 nach der Errichtung des unvergesslichen Antifaschuwa gemeinsam mit fünf
Freunden verhaftet und in der Stasi-Untersuchungshaft monatelang von einem Oberleutnant der Schutz- und Sicherheitsorgane
verhört. Witze, die wir schätzten, nannte er
Feindwitze. Er kannte sie alle. Im Gegensatz zur Bevölkerung jedoch mochte er darüber nicht lachen.
7. Oktober 2009
listische Wartegemeinschaft vor dem KONSUM
Obst & Gemüse löste
sich endgültig erst auf,
als auch die DDR sich
auflöste.
Sagt eine Hausfrau zur
anderen Hausfrau: »Ich
hab gehört, morgen
soll’s Schnee geben.«
Sagt die andere Hausfrau: »Mir egal, ich
stell’ mich nicht an.«
Was gab es früher,
Henne oder Ei? Früher
gab es beides.
Warum ist die Banane
krumm? Damit sie um
die DDR einen großen
Bogen machen kann.
Unser Handel hatte
alles, was wir nicht
brauchten. Sobald in der Kaufhalle eine Apfelsine golden erstrahlte wie der Stern von
Bethlehem, wussten wir auch ohne Kalender: Aha, das ist die Festtagsversorgung,
bald nun ist Weihnachtszeit, fröhliche Zeit.
Den Südfrüchten zum Trotz kreisten die
Gedanken der Verbraucher jedoch nicht um
den sonnigen Süden, sondern um den goldenen Westen. NSW-Reisekader wurden
glühender beneidet als Filmstars.
Preisfrage: Es ist schwarz, fliegt durch die
Luft und darf nicht nach’m Westen, was ist
das? Na, was schon: ein Pechvogel.
Mehr und mehr wurde auch die betagte
Partei- und Staatsführung zum Gegenstand
von Hohn und Spott.
Läuft ein Sowjetbürger über den Roten
Platz in Moskau, hat aber nur einen Schuh
an. Ein Passant ruft ihm zu: »Eh, du, Genosse, du hast’n Schuh verloren!« – »Nee,
gefunden, gefunden!«
Aus dem Programm des XII. Parteitags:
1. Hereintragen des Präsidiums
2. Synchronisieren der Herzschrittmacher
3. Absingen der Weise »Wir sind die junge
Garde des Proletariats«
Versorgungsmängel waren das Thema
Nummer eins; denn die frühen Jahre der
DDR waren geprägt von den Schwierigkeiten des Wachstums, die späten Jahre vom
Wachstum der Schwierigkeiten. Die sozia-
Die Pointen wurden brutaler von Jahr zu
Jahr.
Der Parteisekretär krönt in der Versammlung sein Referat mit der Prophezeiung:
LINKER JOURNALISMUS
BRAUCHT
ÖFFENTLICHKEIT
BRAUCHT
LINKEN JOURNALISMUS
»Der Sozialismus siegt!« In der ersten Reihe sitzt Paule und sagt unbeeindruckt: »Mir
kannste nich mehr drohen, ich hab Krebs.«
Standardfrage seinerzeit: Welcher Spaßvogel erfindet eigentlich all diese subversiven Scherze? Erich Honecker, hieß es,
kannte die Antwort: Der Gegner erfindet
sie, der Genosse verbreitet sie, die Freie
Deutsche Jugend verwirklicht sie. Urheber,
soviel immerhin lässt sich sagen, ist ein
kollektiver Autor – nennen wir ihn Volksmund. Hinter vorgehaltener Hand meldet er
sich immer dann zu Wort, wenn es riskant
wird, die Wahrheit auf offenem Markte
auszuposaunen. Bis in die obersten Führungsgremien hinein empfand die Bevölkerung politische Witze als kurzweiligste
Form der Volkskunst. Nostalgiker sind
überzeugt davon, dass die Witze in den
Farben der DDR besser waren als der deutsche Humor der Gegenwart.
Der Kleinanleger betritt die Sparkasse. Der
Kassierer begrüßt ihn mit den Worten:
»Zwei Nachrichten für Sie, eine gute und
eine schlechte.« – »Zuerst die gute, bitte.«
– »Ihr Geld ist noch da.« – »Und nun die
schlechte?« – »Es gehört leider nicht mehr
Ihnen.«
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