Institut Vorschulstufe und Primarstufe (FS11)

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Institut Vorschulstufe und Primarstufe (FS11)
Reflexionsbericht über das Mobilitätssemester
an der Facultad de Educación der Universidad de
Antioquia in Medellín/Kolumbien im Frühjahrssemester 2011
Jessica und Simon
PHBern / Institut Vorschulstufe und Primarstufe - IVP
Bern, im September 2011
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Einleitung
Hätte uns vor drei Jahren jemand gesagt, dass wir das 6. Semester unserer Ausbildung in
Medellin, Kolumbien verbringen würden, so hätten wir diese Person höchstwahrscheinlich
etwas belächelt und ihr in einem ironischen Untertan geantwortet: „Ja auf jeden Fall, ist ja
ein Katzensprung nach Medellin und die Bachelorarbeitchelor-Arbeit, die nehmen wir dann
gerade im Handgepäck mit…“. Heute nun, drei Jahre später, sitzen wir hier in der Schweiz am
Computer und schreiben über unser Mobilitätssemester in Medellin.
Obwohl wir durchaus Studierende der PH Bern kennen, welche ein
Mobilitätssemester gemacht haben und uns auch das Mobilitätsprogramm ERASMUS
bekannt ist – wir also mit dem Konzept der Mobilitätssemester vertraut sind - haben wir uns
in den ersten Semestern der Ausbildung nur wenig mit der Idee, ein Mobilitätssemester zu
machen, beschäftigt. Dies unter anderem aus administrativen, organisatorischen und
finanziellen Gründen. Noch ferner erschien uns dabei die Vorstellung eines
Auslandaufenthalts im 6. Semester, da in diesem bekanntlich die Bachelorarbeit geschrieben
werden muss und in unseren Köpfen ‚Bachelorarbeit-schreiben‘ direkt an den Standort Bern
gebunden war. So kam es, dass wir uns zu Beginn des 4. Semesters kaum mit dem
Gedanken, ein Mobilitätssemester zu machen, beschäftigten.
Dies änderte sich dank der Veranstaltung „Umgang mit Differenz“ unter der Leitung
von Prof. Dr. Angela Stienen aber schlagartig. Im Rahmen Ihrer Vorlesung wies Sie
wiederholt auf die Möglichkeit hin, ein Mobilitätssemester in Medellin, Kolumbien machen
zu können. Prof. Dr. Angela Stienen hat einst an der Universidad de Antioquia in Medellin
gelehrt und realisierte ebendort verschiedene Forschungsprojekte. Im Laufe des Semesters
entwickelte sich bei uns ein sehr grosses Interesse an der Vorlesung und an der Idee eines
Mobilitätssemester in Medellin. Zum Einen, weil wir persönliche Erfahrungen mit Differenz
bzw. dem Umgang mit ebendieser gemacht haben (Reisen, Migrationshintergrund usw.) und
zum Anderen, weil uns die Resultate der Untersuchungen von Prof. Dr. Angela Stienen in
Medellin, sehr beeindruckten und interessierten.
In den zahlreichen Gesprächen mit Prof. Dr. Angela Stienen verwandelte sich der
Traum bzw. der Gedanke ein Semester lang im Ausland zu studieren schliesslich in einen
konkreten Plan. Dabei war für uns gerade die Möglichkeit, den Aufenthalt mit dem Verfassen
unserer Bachelorarbeit in Verbindung setzen zu können, entscheidend. Denn dadurch ergab
sich die einmalige Möglichkeit den Blickwinkel unserer Bachelorarbeit zu öffnen, den
Aufenthalt in Medellin zu fokussieren und Informationen bzw. Erfahrungen aus dem
Austausch direkt in die Bachelorarbeit integrieren zu können.
So kam es schliesslich, dass wir uns für ein Auslandsemester an der Facultad der
Educación der Universidad de Antioquia in Medellin, Kolumbien entschieden.
Nachfolgend werden wir zuerst die Universidad de Antioquia und ganz allgemein das
Studieren in Kolumbien kontextualisieren, anschliessend erläutern wir die Administration
und Organisation des Austausches, dann folgt eine Beschreibung unserer Begleitung bzw.
Betreuung durch die Universidad de Antioquia und schliesslich beschreiben wir den Einfluss
des Austausches auf unsere zukünftige Tätigkeit als Lehrperson bzw. auf unsere persönliche
Entwicklung.
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1 Kontextualisierung
1.1 Das Recht auf öffentliche Bildung
In diesem ersten Teil des Berichts geht es darum, die spezifische Situation der Universidad de
Antioquia im Kontext der kolumbischen Bildungspolitik zu charakterisieren und verständlich
zu machen. Dazu beschreiben wir sowohl ein persönliches und subjektives Erlebnis an der
Universität, als auch den eher theoretischen und objektivierten Diskurs zum Bildungswesen
in Kolumbien. Wir glauben, dass der Schlüssel zum Verständnis des Kontextes der
Universidad de Antioquia gerade in der Kombination dieser beiden Elemente steckt. Und
schliesslich soll diese Kontextualisierung als eine Art von Folie dienen, welche während der
Lektüre der nachfolgenden Kapitel stets als Hintergrund mitgedacht werden muss. Als
Informationsgrundlage dieses ersten Teils unseres Berichts dienen bzw. dienten sowohl
Vorlesungen, Seminare und Foren an der Universität, als auch persönliche Beobachtungen
und Diskussionen mit Kommilitoninnen bzw. Kommilitonen und Lehrenden in Medellín.
Es ist ein gewöhnlicher Nachmittag an einem Tag in einer gewöhnlichen Woche an einer
Universität, die sich in einer Stadt eines gewöhnlichen Landes befindet, die Sonne scheint,
Münder sprechen und trinken Kaffee. Die zu den Mündern gehörenden Körper sitzen auf
Bänken, vor ihnen steht der Kaffee in zu den Bänken passenden Plastik-Bechern. Wie an
jedem anderen gewöhnlichen Tag auch steht und wartet die ESMAD - Escuadrón Móvil Anti
Disturbios – was so viel wie Mobile Anti-Aufstand-Einheit der nationalen Polizei bedeutet –
vor dem Haupteingang. Die Männer blicken gelangweilt oder grimmig, sind schwarz
uniformiert, vollgepanzert und bewaffnet mit Gummischrott und Tränengas, sie lehnen an
ihren riesigen, furchteinflössenden Panzerwagen. Auf wen oder was wartet dieser, so gar
nicht in das Bild der farbigen und fröhlichen Universität passende Pulk nur? Was hat eine
Spezialeinheit der Nationalen Polizei vor dem Haupteingang einer öffentlichen Universität
verloren?
Plötzlich taucht eine Gruppe Körper ohne Münder, aber mit Tuch ums Gesicht auf. Sie
schreien Parolen, fordern die Autonomie der Universität und den Erhalt der öffentlichen
Bildung und bewegen sich auf den Haupteingang zu. Etwas fliegt durch die Luft…. Es kracht.
Es kracht. Es kracht. Es explodiert. Es explodiert. Es explodiert.
Zwei Kaffees weniger sind in den zu den Bänken passenden Plastik-Bechern. Die restlichen
Kaffees befinden sich dort, wo sie sein sollten. Zwei Münder schweigen vor Schreck. Die
ESMAD rührt sich. Geht auf Angriffsstellung. Stellt die Nackenhaare in die Höhe. Wie war das
schon wieder mit dem schlafenden Bär – wer weckt hier wen und warum? Es kracht. Es
explodiert. Zwei Körper bleiben wie versteinert sitzen. Viele andere Körper stehen auf. Die
riesigen Panzerwagen der ESMAD bewegen sich. Es knallt. Es explodiert. Es brennt in den
Augen. Tränengas. Es knallt. Es explodiert. Es sticht in den Augen. Mehr Tränengas. Die
vermummten Parolenschreier verschwinden. Die Studierenden setzen sich wieder hin und
beginnen wieder zu sprechen, als ob nichts geschehen wäre. Zwei Körper sind immer noch
erstarrt. Zwei Münder bleiben geschlossen. Die ESMAD macht Gebärden, präsentiert ihre
Waffen, demonstriert Macht und geniesst den vermeintlichen Triumph. Sie bleibt aber vor
dem Eingang zum Universitätscampus stehen. Die Sonne scheint. Es ist ein gewöhnlicher
Nachmittag, an einem gewöhnlichen Dienstag, im März 2011, an der Universidad de
Antioquia, in Medellin, Kolumbien.
Im Verlaufe unseres Mobilitätssemesters erlebten wir wiederholt solche Szenen. Meistens
begannen sie damit, dass eine Gruppe maskierter Studierender, „Encapuchados“ genannt,
selbst gebastelte „Bömbchen“ gegen die ESMAD warfen. Oftmals werden bzw. wurden diese
„papabombas“ – das bedeutet so viel wie Kartoffel-Bombe – von verschiedenen Parolen
begleitet. Beispielsweise den Forderungen nach mehr Autonomie der Universität, nach dem
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Recht auf öffentliche Bildung oder von Kampfansagen an den korrupten Staats- und PolitikFilz. Fragte man Studierende, welche nicht diesen eher extremen Gruppierungen der
„Encapuchados“ angehören, nach dem Sinn und Zweck dieser Aktionen, so erhält man oft
die Antwort: Resistencia – Widerstand. Oftmals entwickelte sich diese Form des
Widerstandes folgendermassen: Nachdem einige „Papabombas“ explodiert sind, antwortet
die ESMAD in der Regel mit Tränengas-Bomben, welche sie von ausserhalb auf das
Universitätsgelände in Richtung der „Encapuchados“ innerhalb der Universität wirft.
Manchmal löst sich daraufhin der Tumult auf, die maskierten Studierenden verschwinden.
Was bleibt, sind zahlreiche „normale“ Studierende, die sich auf dem zentralen Platz der
Universität befanden, als die ESMAD ihre Tränengas-Bomben in die Universität warf, und
nun mit Hustenanfällen und tränenden Augen zu kämpfen hatten. Manchmal aber
verbündeten sich die Studierenden aber auch mit den „Encapuchados“. Es entstanden
regelrechte Aufmärsche und Ansammlungen. Oftmals begleitet von neuen „Papabombas“.
Rein gesetzlich darf die ESMAD das Universitätsgelände nur auf Befehl betreten. Von wem,
wann und warum dieser Befehl jedoch kommt, ist nicht immer ganz klar. Zudem stellt sich
die Frage, wie stark sich die ESMAD überhaupt an solche Befehle hält. Auf jeden Fall
antwortete die ESMAD auf die Studierendenansammlungen wiederholt mit einer
Evakuierung der Universität. Bei diesen Evakuierungen stürmt die ESMAD mit grösster
Brutalität das Universitäts-Gelände, schlägt alles kurz und klein, was ihr im Wege steht und
geht zum Teil willkürlich auf Studierende und Dozierende los.
Solche Ereignisse waren für uns jedes Mal sehr erschütternd und erschreckend. Umso
wichtiger erschien uns ein konstruktiver Umgang mit diesen. Denn weder ein blindes
Verurteilen der Provokationen der „Encapuchados“, noch ein totaler Hass gegen das
gewaltvolle Vorgehen der ESMAD erschien uns als eine angemessene Antwort. Also
begannen wir Fragen zu stellen und mit den Leuten zu diskutieren, um das Geschehene
kritisch einordnen zu können.
Wichtige Antworten auf unsere Fragen folgen im nachfolgenden, eher theoretischen
Teil der Kontextualisierung. Der folgende Abschnitt beginnt mit einer allgemeinen
Beschreibung des kolumbianischen Bildungssystems und wird anschliessend durch eine
Darstellung der spezifischen Situation der Universidad de Antioquia in Medellin konkretisiert
und abgeschlossen.
1.2 Eine Typologie von Bildungssystemen und das kolumbianische Bildungssystem
Bildung wird in jedem Land anders organisiert bzw. unterschiedlich institutionalisiert. Um
Bildungssysteme trotz dieser Unterschiede vergleichen zu können, wurde von Allmendinger
(1989) und später von Müller & Shavit (1998) eine mögliche Typologisierung von
Bildungssystemen anhand folgender Aspekte entwickelt: Standardisierung, Stratifizierung,
berufliche Spezifität und Grösse des tertiären Sektors des jeweiligen Bildungssystems.
Nachfolgend wird versucht, das kolumbianische Bildungssystem anhand dieser Aspekte zu
typologisieren. Jedoch erhebt die Typologisierung keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit,
da sie sich auf die oben erwähnten Informationsgrundlagen stützt.
Ein wichtiger Aspekt von Bildungssystemen ist ihr jeweiliger Grad an
Standardisierung. Folglich lassen sich standardisierte von nicht- bzw. wenig-standardisierten
Bildungssystemen unterscheiden. Ein hoch standardisiertes Bildungssystem zeichnet sich
dadurch aus, dass es landesweit einheitlich geregelt und bezüglich Standards harmonisiert
ist. Dass also alle Schülerinnen und Schüler auf der Stufe X, dieselben Curricula durchlaufen
und auf demselben Niveau sind. „Standardization is the degree to which the quality of
education meets the same standards nationwide“ (Allmendinger 1989, S. 233).
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Kolumbien als zentralistisch organisiertes Land, das jedoch seit den 1990er-Jahren
zunehmend eine Regionalisierung durchläuft, das Land verfügt über einen
Verfassungsartikel, welcher besagt, dass es jedem Departement (das wären in der Schweiz
die Kantone) frei gestellt ist, wie das Bildungssystems organisiert wird. Jedoch wird von
diesem Verfassungsartikel kaum Gebrauch gemacht. Im Umfeld eines in Wirklichkeit stark
zentralisierten Bildungssystems könnte also davon ausgegangen werden, dass Bildung in
Kolumbien stark standardisiert ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Beispielsweise in Medellin
bestehen signifikante Unterschiede zwischen den jeweiligen Grundschulen. Dies wird unter
anderem dadurch ersichtlich, dass Schülerinnen und Schüler aus bestimmten Schulen über
einen leichteren Zugang an die Universidad de Antioquia verfügen, weil sie schlicht und
einfach besser auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet werden.
Unter dem Begriff der Stratifizierung ist die Aufteilung in verschiedene Laufbahnen
während der Schul- und Ausbildungszeit von Kindern bzw. jungen Erwachsenen gemeint.
„Stratifizierung bezieht sich auf das Ausmass und die Art der Schullaufbahndifferenzierung
(tracking)“ (Müller & Shavit 1998, S. 506). Dabei steht dieses 'tracking' immer auch im
Zusammenhang mit Selektionen. Diese ist grösstenteils fremdbestimmt, jedoch ist auch eine
Selbst-Selektion, bei Erfüllung der Selektionskriterien, von jungen Erwachsenen möglich (in
der Schweiz z.B. die Wahlmöglichkeit zwischen Berufslehre oder weiterführender Schule). In
einem wenig stratifizierten Bildungssystem schliesst demzufolge ein ganzer Jahrgang die
gesamte Schulbildung zusammen ab, hingegen in einem stark stratifizierten System teilt sich
der Jahrgang während der Schulbildung in verschiedene ‚tracks‘ bzw. Laufbahnen auf. Dabei
können sich die einzelnen ‚tracks‘ durchaus auch bezüglich der Schuljahre unterscheiden.
„Stratification is the proportion of a cohort that attains the maximum number of school years
provided by the educational system, coupled with the degree of differentiation within given
educational levels (tracking)“ (Allmendinger 1989, S. 233).
Das kolumbianische Bildungssystem ist wenig stratifiziert. Eine Selektion, wie wir sie im
schweizerischen Bildungssystem beispielsweise für den Übertritt in die Sekundarstufe I
kennen, existiert in dieser Art und Weise nicht. Grundsätzlich schliessen alle Schülerinnen
und Schüler die 11 Jahre dauernde Grundschule gemeinsam ab mit dem Bachillerato
(Matura). Im Anschluss folgt die Selektion bzw. das tracking durch die jeweiligen
Aufnahmeprüfungen an die Universitäten. Da die tertiäre Bildung jedoch teilweise
privatisiert wurde, entscheiden nicht nur Leistungsfaktoren über das erfolgreiche Bestehen
einer Aufnahmeprüfung an die Universität, sondern auch ökonomische Faktoren bestimmen
wesentlich, welche Studierende an welchen Universitäten aufgenommen werden. Da die
privaten Universitäten oftmals hohe Semestergebühren erheben, ist es für zahlreiche
Studierende, sogar wenn sie durchaus über die nötigen Leistungsfaktoren verfügen, rein
finanziell unmöglich, sich das Studium an einer privaten Universität zu leisten – überspitzt
formuliert: Studieren an einer renommierten Privatuniversität ist ein Luxusgut.
Ein weiterer wichtiger Aspekt von Bildungssystemen ist der Anteil an
berufsspezifischer Bildung. Berufsspezifische Bildung ist als Gegensatz zur allgemeinen
Bildung zu verstehen. „Die meisten Bildungssysteme vermitteln eine Mischung von
allgemeinen und spezifischen Kenntnissen, aber sie unterscheiden sich in der relativen
Dominanz einzelner Elemente und in der Art der Mischung nach unterschiedlichen
Ausbildungsgängen“ (Müller & Shavit 1998, S. 505).
Das Bildungssystem Kolumbiens ist zu einem stärkeren Masse auf allgemeine Bildung
ausgelegt, als beispielsweise das schweizerische. So sind etwa die Berufsschulen stärker auf
Allgemeinbildung ausgerichtet, als die vergleichbaren Berufslehren in der Schweiz, welche
sehr stark berufsspezifisch ausgerichtet sind. Das System der Berufslehre, in welchem bereits
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während der Ausbildung in Betrieben gearbeitet wird, existiert in dieser Art und Weise in
Kolumbien nicht. Die Ausbildung erfolgt in der Schule und endet mit einer Art
Berufsmaturität.
Der letzte Aspekt zur Typologisierung von Bildungssystemen, ist die Anzahl an
Personen, welche sich in einer tertiären (Aus-)Bildung befinden, die Grösse des tertiären
Sektors also. Das kolumbianische Bildungssystem ist stark auf tertiäre Bildung ausgerichtet.
Viele Ausbildungen sind akademisch organisiert. Dies deckt sich beispielsweise mit der
stärkeren Fokussierung auf eine allgemeine Bildung und der geringen Stratifizierung des
Bildungssystems. Aus diesem Grunde ist die Zahl der Studierenden an den Universitäten sehr
hoch.
1.3 Die Universidad de Antioquia in Medellín
Medellin mit seinen umliegenden Gemeinden, die zusammen die urbane Region Medellín
und Aburrá-Tal ausmachen, zählt beinahe vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.
Gemäss einem Studierendenportal existieren in der gesamten urbanen Region sechs
öffentliche und 35 private Universitäten. Die Universidad de Antioquia ist neben der
Universidad Nacional die wichtigste und grösste der öffentlichen Universitäten in Medellin.
Am Campus studieren 36'000 Leute. Im Kontext einer grösstenteils privatisierten tertiären
Ausbildungslandschaft, besitzt die Universidad de Antioquia eine sehr spezielle und wichtige
Rolle. Obwohl sich die privaten Universitäten natürlich immer wieder im Vergeben von
Stipendien rühmen, ist es in Wirklichkeit für viele junge Leute aus den ärmeren und ärmsten
Teilen der Stadt nicht möglich, an eine private Uni zu gehen.
Daher bietet die Universidad de Antioquia, zusammen mit den anderen öffentlichen
Universitäten, für viele junge Menschen die einzige Möglichkeit, eine universitäre
Ausbildung zu absolvieren. Wie bereits erwähnt, ist die Ausbildung in Kolumbien stark tertiär
und akademisch ausgerichtet. Umso wichtiger ist es, dass Menschen aus allen sozioökonomischen Schichten Zugang zu einer Universität bzw. zu einer tertiären Ausbildung
haben. Aus diesem Grunde werden die Semesterbeiträge an der Universidad de Antioquia
dem jeweiligen strato social, eine Art sozio-ökonomische Kategorisierung der Bürgerinnen
und Bürger in Medellin, angepasst. Der Mindestbeitrag pro Semester beträgt 1'000 Pesos
zum Vergleich: eine Busfahrt kostet 1'500 Pesos. Es handelt sich also um einen symbolischen
Beitrag. Die Aufnahme an die Universidad de Antioquia wird über eine Prüfung geregelt,
welche den Ruf geniesst, sehr schwierig zu sein – auf alle Fälle aber, ist sie enorm
selektionierend, jedes Jahr bewerben sich über 40'000 Leute für die Universidad de
Antioquia. Tatsächlich aufgenommen werden pro Semester 2'000 Studierende.
Aufgrund dieser Zahlen erstaunt es kaum, dass es für die meisten Studierenden ein
Privileg und eine Ehre ist, die Möglichkeit zu haben, an der Universidad de Antioquia
studieren zu können. Beeindruckend sind die Motivation und das Engagement der
Studierenden. Das Interesse an den jeweiligen Kursen, die Teilnahme und die
Wortmeldungen sind extrem hoch und lebendig. Und immer schwingt ein gewisser
politischer Unterton mit. Versammlungen, öffentliche Sitzungen und Diskussions-Foren
gehören zum Alltag auf dem Campus der Universidad de Antioquia.
Dieser Umstand erklärt sich durch die Zusammensetzung der Studierenden. Die
Universidad de Antioquia ist, bildlich beschrieben, ein Spiegel der Gesellschaft (und deren
Konflikten bzw. Brennpunkten), da die Studierenden aus allen verschiedenen sozioökonomischen Schichten kommen. Diese enorm heterogene Zusammensetzung bringt
zahlreiche, unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen mit, welche innerhalb des
Mikrokosmos Universidad de Antioquia ausgelebt, diskutiert und manifestiert werden. Die
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Universidad de Antioquia ist also gewissermassen ein Raum einer wahren Demokratie. Zu
dieser Bastion der freien Meinungsäusserung gehören nebst Tierschützerinnen und
Tierschützern, Menschenrechts-Aktivisten, Umweltschützerinnen und Umweltschützern,
auch Vertreter bzw. Vertreterinnen radikaler politischer Gruppierungen oder eben auch die
sogenannten „Encapuchados“.
Genau diese Möglichkeit bzw. dieser Raum der freien Meinungsäusserung, der
unterschiedlichsten Ideen und Weltansichten, des kritischen Denkens und Hinterfragens ist
ein absolut grundlegender Wesenszug der öffentlichen Universitäten in Kolumbien. Die
Mitglieder der Universidad de Antioquia – Studierende, Dozierende und auch die
Verwaltungsangestellten – scheinen stolz auf den kritischen Charakter ihrer Universität zu
sein, sie sind stolz darauf, dass ihre Universität nicht irgendwelche Partikularinteressen
privater Unternehmen vertritt, sondern eine Universität von allen und für alle ist. Aus
diesem Grunde setzen sich Studierende und Dozierende so stark für den Erhalt der
Autonomie ihrer Universität ein.
Die Universidad de Antioquia, hat den Ruf, qualitativ eine der besten Universitäten
Südamerikas zu sein. Insbesondere die Facultad de Educación, an der wir unser
Mobilitätssemester verbrachten, besitzt ein Renommee, welches über Kolumbien
hinausgeht. Ein wichtiger Grund für dieses hohe Ansehen der Universidad de Antioquia ist
die Forschungstradition. Seit je her geniesst die vielfältige, qualitativ hochstehende
Forschung mit ihren unterschiedlichen Linien eine sehr wichtige Rolle an der Universidad de
Antioquia. Vergleicht man beispielsweise das Niveau zwischen den Kursen an der
Universidad de Antioquia und der Universität EAFIT (eine der teuersten und
renommiertesten Privatuniversitäten Medellins), so ist das Niveau an der Universidad de
Antioquia eher als höher und besser einzuschätzen. Hier zeigt sich auch wieder, wie enorm
selektionierend die Aufnahmeprüfung an die Universidad de Antioquia ist.
Zu Beginn des Jahres 2011 wurde vom Präsidenten Kolumbiens Juan Manuel Santos
eine Reform der Gesetze, welche die Organisation der Bildung auf universitärer Stufe regeln,
der Öffentlichkeit zur Diskussion vorgelegt. Während dem Frühlingssemester 2011 –
unserem Mobilitätssemesters also – wurde diese Reform in der Universidad de Antioquia
sowohl von Studierenden als auch von Dozierenden heftig diskutiert und kritisiert. Was mit
ein Grund für die eingangs beschriebenen Unruhen war. Nach verschiedenen Debatten in
öffentlichen Foren, gab der Rektor der Universidad de Antioquia zusammen mit den
Dekanen aller Fakultäten eine öffentliche Stellungnahme ab. Dabei wurden verschiedene, für
die öffentliche Universität negativen Konsequenzen der Reform hervorgehoben und betont.
Grundsätzlich würde sich durch die vorgeschlagene Reform das Verständnis von Bildung
ändern. Bildung würde neu zu einer Dienstleistung des Staates werden. Dementsprechend
würde der Artikel 26 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der besagt, dass der
Zugang zu Bildung ein Recht für alle ist, in höchstem Masse missachtet und gefährdet. Denn
Dienstleistungen werden nur von „Kundinnen und Kunden“ in Empfang genommen, welche
diese auch finanzieren können und dadurch wird der Zugang zu Bildung automatisch an
finanzielle Bedingungen seitens der Familien bzw. jungen Erwachsenen geknüpft, was
wiederum zu einer strukturellen Diskriminierung von Leuten aus tiefen sozio-ökonomischen
Schichten führt. Ein Zustand, welcher an den privaten Universitäten bereits Tatsache ist.
Zudem würden die öffentlichen Universitäten zunehmend an Autonomie verlieren. Des
Weiteren würde die Unterstützung des Staates für die öffentlichen Universitäten stark
eingeschränkt und die Finanzierung vermehrt durch den freien Markt übernommen werden
(vgl. Consejo Académico de la Universidad de Antioquia 2011).
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Es wird sofort klar, dass sich diese Diskussion im, weiter oben bereits angedeuteten,
Konfliktfeld Privat – Öffentlich befindet. So lässt es sich auch erklären bzw. wird verständlich,
weshalb sich die Studierenden und Dozierenden der Universidad de Antioquia so vehement
gegen diese Reform wehren. Denn in dieser Reform geht es um die Zukunft der öffentlichen,
autonomen Universitäten und den Zugang zu universitärer Bildung für alle – auch für Leute
aus weniger privilegierten sozio-ökonomischen Verhältnissen.
Praktisch alle Mitglieder der Universidad de Antioquia sind sich in höchstem Masse
bewusst, was das Recht auf Bildung bedeutet – ein Zustand, welcher in der Schweiz
sehnlichst vermisst wird. Viele Studierende wissen, dass sie ohne öffentliche Universität,
ohne ihre Universidad de Antioquia niemals die Möglichkeit gehabt hätten, ein Studium zu
absolvieren. Auch zahlreiche Dozierende verdanken ihre heutige gesellschaftliche Stellung
und ihren Wohlstand in hohem Mass den öffentlichen Universitäten.
Aufgrund dieser Tatsachen identifizieren und solidarisieren sich viele Studierende
und Dozierende mit der Universidad de Antioquia bzw. mit den Bewegungen, welche sich für
ihre Zukunft und für das Recht auf Bildung einsetzen.
Die Präsenz des Staates in Form der ESMAD wird an der Universidad de Antioquia
geradezu als Bedrohung wahrgenommen. Dies erklärt, wieso Angriffe der „Encapuchados“
auf die ESMAD, von einem Grossteil der Studierenden zwar nicht gutgeheissen, jedoch
geduldet werden. Denn im Widerstand gegen die ESMAD steckt, nicht immer, aber meistens,
mehr als ein blosses Provozieren der Staatsgewalt. Der Widerstand gegen die ESMAD
symbolisiert den Kampf der Universidad de Antioquia für das Recht auf freien Zugang zu
Bildung der zukünftigen Generationen kolumbianischer Bürgerinnen und Bürger.
2 Mobilitätssemester an der Universidad de Antioquia
2. 1. Administrative Organisation des Austausches
Die offizielle Anmeldung für das Austauschsemester erfolgte über das International Office
der PH Bern, welches mit dem Büro für internationale Beziehungen - Oficina de Relaciones
Internacionales der Universidad de Antioquia in Kontakt stand. Unsere Ansprechsperson des
International Office der PH Bern ist bzw. war Christine Tauch. Beim Büro für internationale
Beziehungen - Oficina de Relaciones Internacionales der Universidad de Antioquia stehen
bzw. standen wir vor allem mit Silvia Medina und Amanda Nieto Franco in Kontakt.
Über diese offizielle Verbindung zwischen dem International Office der PH Bern und
dem Büro für Internationale Beziehungen - Oficina de Relaciones Internacionales der
Universidad de Antioquia fand der Austausch von Informationen und Dokumenten
(Lebensläufe, Zeugnisse), sowie eine Vorauswahl der Kurse statt – von den Verantwortlichen
der Universidad de Antioquia wurde uns eine Liste mit passenden Kursen zugestellt, welche
sie extra für uns, anhand unserer Lebensläufe und Infos, zusammengestellt hatten. Zudem
erhielten wir über diese Verbindung auch ein Angebot mit Unterkünften – nach Rückfrage
bei Prof. Dr. Angela Stienen, Dozentin an der PHBern, die einmal an der U de A gelehrt hat
und deshalb eine Vermittlungsfunktion zwischen der PHBern und der U de A einnahm –
wählten wir jedoch keine der vorgeschlagenen Unterkünfte aus. Dieser Entscheid erwies sich
als absolut richtig, denn die vorgeschlagenen Wohnungen sind sehr weit entfernt von der
Universität und liegen zudem in einem sehr reichen Viertel, was bedeutet, dass die einzelnen
Häuser beinahe hermetisch voneinander abgeriegelt sind und zwischen den Bewohnerinnen
und Bewohnern des Viertels grosse Anonymität herrscht. Dies wäre für uns ein grosser
Nachteil gewesen, da es so sehr schwierig gewesen wäre, Kontakte zu finden.
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Zu unserem Glück ergab sich die Möglichkeit, in einem Viertel, das nicht allzu weit von der
Universität entfernt liegt, bei einer Professorin ein Zimmer zu mieten.
Nebst der Beschreibung der offiziellen Verbindung zwischen dem International Office
der PH Bern und dem Büro für Internationale Beziehungen - Oficina de Relaciones
Internacionales der Universidad de Antioquia muss darauf hingewiesen werden, dass wir als
erste Austauschstudierende der PHBern an der U de A von der Vermittlungsfunktion und
dem sozialen Kapital (Bourdieu) von Prof. Dr. Angela Stienen in Medellín stark profitieren
konnten. Ihrer Vermittlungstätigkeit verdanken wir, dass der Austausch rasch und
unbürokratisch zustande kam und mögliche Missverständnisse aus dem Weg geräumt
werden konnten. Ebenso ermöglichte ihre Unterstützung, dass wir uns fokussiert persönlich
vorbereiten konnten. Es ist zu hoffen, dass sich die Studierendenmobilität zwischen der PH
Bern und der Universidad de Antioquia in Zukunft so institutionalisieren lässt, dass die
Schritte, die in unserem Fall noch einer Vermittlung bedurften, zu einer institutionellen
Selbstverständlichkeit werden. In diesem Zusammenhang sehen wir auch unsere Rolle als
ehemalige Austauschstudierende. Auf unsere Reflektionen zu diesem Punkt werden wir
weiter unten eingehen.
In Kolumbien vor Ort, also während des Semesters wurde(n) der Austausch bzw.
Fragen und Probleme grundsätzlich von zwei Anlaufstellen organisiert. Zum einen vom Büro
für internationale Beziehungen - Oficina de Relaciones Internacionales der Universidad de
Antioquia und zum Anderen vom Sekretariat der Facultad de Educación mit den zuständigen
Verantwortlichen. Das Büro für internationale Beziehungen ist dabei speziell für die
spezifischen Probleme von Austauschstudierenden zuständig. Beispielsweise also für die
Beschaffung des Universitätsausweises. Dieser Ausweis, TIP genannt, ist enorm wichtig.
Denn nur mit diesem ist es möglich die Universität zu betreten, zudem wird auch die
Ausleihe von Büchern der Universitäts-Bibliothek mit dem TIP abgewickelt. Des Weiteren
wird bzw. werden vom Büro für internationale Beziehungen die Unterkunft, die Einbindung
bzw. Aufnahme ins Parcero-Programm (wird im Kapitel Betreuung und Begleitung der
Studierenden ausgeführt und erklärt), der soziale und kulturelle Anschluss, die VisaAngelegenheiten sowie die Erteilung von Autorisationen für den Besuch von Exkursionen
organisiert.
Auf der anderen Seite steht das Sekretariat der Fakultät mit den verschiedenen
Verantwortlichen der Studienprogramme. Von dieser Seite wurde die definitive
Kurseinschreibung, Fragen und Anliegen zu Seminaren, Prüfungen etc. geregelt. Unter den
Verantwortlichen der Studienprogramme war für uns Beatriz Henao (Dozentin und
Koordinatorin des Studienprogrammes Ciencias Sociales – Sozialwissenschaften) besonders
wichtig. Sie war während dem Semester die ständige Anlaufstelle für alle Sorgen rund um
den Studierendenalltag. Beatriz Henao ist in einem gewissen Masse die Verbindung zwischen
den Studierenden, den Dozierenden und den Verantwortlichen der Fakultät.
Gewissermassen die Brücke zwischen den beiden Instanzen, dem Büro für
internationale Beziehungen - Oficina de Relaciones Internacionales und dem Sekretariat der
Fakultät mit den verschiedenen Verantwortlichen der Studienprogramme, war bzw. ist
Carlos Andres Rios-Uribe. Er ist sowohl Dozent in der Fakultät, arbeitet aber auch mit dem
Büro für internationale Beziehungen zusammen. Beispielsweise gingen wir nach unserer
Ankunft zuerst einmal ins Büro für internationale Beziehungen, dort wurden einige
Formalitäten erledigt und anschliessend begleitete uns Carlos Andres Rios-Uribe zum
Sekretariat der Fakultät, wo er mit uns die offizielle Einschreibung der Kurse vornahm und
uns einige Informationen zu den Kursen gab.
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Nebst diesen gut funktionierenden Strukturen gibt es einige kleine, konkrete Dinge, welche
optimiert werden können:
• Die von der Universidad de Antioquia vorgelegten Vorschläge von
Wohnmöglichkeiten sollten überarbeitet werden. Denn wie bereits erwähnt,
befinden sich diese Wohnungen sehr weit von der Universität entfernt und befinden
sich zudem in einem sehr abgeriegelten und anonymen, sehr reichen Quartier.
• Die Buchausleihe mit dem TIP (Studierendenausweis) sollte unbedingt funktionieren,
was bei uns nicht der Fall war.
• Wichtig wäre, wenn das TIP für Austauschstudierende, genauso wie die TIP‘s der
lokalen Studierenden, für die Metro benutzt werden könnten. Die lokalen
Studierenden können sich einen bestimmten Geldbetrag auf das TIP laden. So kann
das TIP als Ticket für die Metro verwendet und lange, zeitraubende Wartezeiten vor
den Ticket-Verkaufsstellen vermieden werden. Zudem erhalten Studierende eine
Ermässigung auf die Metro-Fahrten.
• Der Abholdienst vom Flughafen, welcher von der Universität organisiert ist, muss
zuverlässig funktionieren. Bei unserer Ankunft gab es ein Missverständnis mit dem
Abholdienst, so dass wir schliesslich von der Bekannten von Prof. Dr. Angela Stienen
abgeholt wurden.
Die beschriebenen Strukturen für die Organisation von Auslandsemestern an der
Universidad de Antioquia erscheinen sehr sinnvoll und zweckmässig, zudem haben sie sich in
der Praxis bewährt. In diesem Bereich könnte die PHBern sehr viel vom Know-How der
Universidad de Antioquia profitieren.
2.2 Betreuung und Begleitung der Studierenden
Die Begleitung und Betreuung durch die Universidad de Antioquia lässt sich wiederum
anhand der im vorherigen Kapitel geschilderten Strukturen erklären und aufzeigen.
Seitens des Büros für internationale Beziehungen - Oficina de Relaciones
Internacionales bestehen verschiedene Angebote zur Begleitung der Mobilitätsstudierenden.
So wurden alle Mobilitätsstudierenden zu einem Informationsanlass eingeladen, bei
welchem sowohl der Rektor, Vizerektor, als auch der Verantwortliche der internationalen
Beziehungen anwesend waren. Dies ist umso erwähnenswerter, als dass dieses Treffen
gerade während heftiger Unruhen an der Universität stattfand und sich der Rektor trotzdem
über eine Stunde Zeit nahm um zu den Mobilitätsstudierenden zu sprechen und ihnen die
Geschichte der Universidad de Antioquia näher zu bringen. Auch schickte das Büro für
internationale Beziehungen jeden Monat aufs Neue ein Kulturprogramm mit zahlreichen
Veranstaltungen und Anlässen an alle Mobilitätsstudierenden.
Für den sozialen Anschluss der Mobilitätsstudierenden besteht das sogenannte
Parcero-Programm (Parcero bedeutet so viel wie ‚Kumpel‘). Dieses Programm wurde vom
Büro für internationale Beziehungen - Oficina de Relaciones Internacionales ins Leben
gerufen, wird heute aber von Studierenden der Universität geleitet. Grundsätzlich geht es
darum, dass lokale Studierenden, welche sich teilweise selbst in der Vorbereitung für einen
Austausch nach Europa, Mexiko oder in andere Länder befinden, die Rolle eines Tutors bzw.
eines „Göttis / Gotte“ für die Austauschstudierenden übernehmen. So wurde uns auch ein
Parcero zugeteilt, dieser begleitete uns dann zum Beispiel auf das Amt für VisaAngelegenheiten und leistete uns sehr wertvolle Starthilfe. Zudem werden jeden Monat
Treffen oder Aktivitäten innerhalb des Parcero-Programmes organisiert, von Tanzabenden,
über Kinobesuche, bis hin zum Delta-Segeln ist alles dabei.
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Für administrative Fragen stand uns das Büro für internationale Beziehungen - Oficina de
Relaciones Internacionales zudem jeder Zeit sehr freundlich und hilfsbereit zur Verfügung.
Zudem war es dem ganzen Team und vor allem auch dem Leiter des Büros für internationale
Beziehungen stets ein Anliegen, Rückmeldungen zur Betreuung und Begleitung zu erhalten,
sowie über unseren Aufenthalt bzw. über unsere Sorgen und Freuden informiert zu sein. Es
war wirklich sehr ergreifend zu sehen, wie unser Wohlbefinden dem ganzen Team des Büros
für internationale Beziehungen am Herzen lag.
Wie im vorherigen Kapitel bereits beschrieben, wurden wir auch vom Sekretariat der
Facultad de Educación mit den verschiedenen Verantwortlichen der Studienprogramme
begleitet und unterstützt. So wurden wir am ersten Tag sowohl vom Dekan Carlos Arturo
Sandoval Casilimas, als auch von der Vize-Dekanin Luz Stella Correa Botero der Facultad de
Educación persönlich empfangen.
Die wichtigste Person, also so zu sagen das Zentrum unseres akademischen
Universums, war die Koordinatorin des Programmes, Beatriz Henao. Es war und ist enorm
beeindruckend, wie liebevoll sie sich um uns gekümmert hat und stets für uns da war. Sie
half uns, wenn wir etwas nicht wussten, informierte die Professoren über unsere Ankunft,
gab uns wertvolle Ratschläge und informierte uns, wenn Unruhen an der Universität
befürchtet wurden. Auch unterstützte Sie uns für die Recherchen zur Bachelorarbeit, indem
Sie uns mit Forschenden der jeweiligen Gebiete in Kontakt brachte. Sie war unsere stete
Anlaufstelle, was wir wirklich sehr zu schätzen wussten bzw. wissen.
Bezüglich der Unruhen an der Universität wurde von Beatriz Henao und den weiteren
Verantwortlichen ein ganzes Massnahmenprogramm extra für uns zusammengestellt. So
wurden wir beispielsweise zu Beginn informiert, welche Ausgänge wir benützen müssen
bzw. können, falls es zu Unruhen kommen könnte. Zudem teilte Beatriz Henao uns jedes Mal
mit, wenn es beispielsweise konfliktgeladene Jahrestage gab – gewissermassen als
Vorwarnung. Jedoch war es den Verantwortlichen auch ein Anliegen, dass wir auch diese
Realität, also den Kampf um das Recht auf öffentliche Bildung, kennen lernen. Deshalb
nahmen sie sich auch stets Zeit, ja war es ihnen ein Anliegen, mit uns zu diskutieren und uns
die Hintergründe bzw. Kontexte der jeweiligen Konflikte zu erklären.
Dank dieser Informationen und Begleitungen fühlten wir uns stets sicher und gut
aufgehoben an der Universidad de Antioquia.
Daneben spielten auch die Dozierenden eine sehr wichtige Rolle für unsere
Integration in das Studierendenleben. Von der ersten Lektion an wurden wir als „normale“
Studierende behandelt. Dies war für uns sehr wichtig, wollten wir uns doch in die Kurse
reingeben und keine Sonderprivilegien geniessen. So hatten wir genau dieselben
Leistungsnachweise und Übungen wie die restlichen Studierenden auch. Gerade für die
Integration und Akzeptanz unter den anderen Studierenden ist dieser Umstand sicher sehr
wichtig.
Jedoch waren wir nie alleine oder auf uns selbst gestellt. Die Dozierenden suchten
stets das Gespräch mit uns, versicherten sich, dass wir den Anschluss haben bzw. finden und
boten uns stets Hilfen bzw. Unterstützungen (Besprechungen, Literaturverweise etc.) an.
Sehr eindrücklich ist bzw. war der Umstand, wie flexibel das Sekretariat der Fakultät mit den
verschiedenen Verantwortlichen stets auf Anliegen oder Unstimmigkeiten reagierte. Im
Gespräch liessen sich alle Probleme oder Ungereimtheiten leicht und konstruktiv lösen.
Wie erwähnt war es uns stets ein Anliegen, nicht bloss Austauschstudierende
sondern Studierende der Universidad de Antioquia zu sein. Aus diesem Grunde suchten wir
stets den Kontakt zu den Kommilitonen und Kommilitoninnen der jeweiligen Kurse. Dies
führte dazu, dass wir mit der Zeit die Angebote, beispielsweise des Parcero-Programmes,
11
kaum mehr nutzten, da wir praktisch immer mit Freunden der Universität unterwegs waren
– mit unserem Parcero standen wir jedoch oft in Kontakt, es entwickelte sich ein richtig
freundschaftliches Verhältnis. Wir denken, dass diese institutionell geschaffenen, sozialen
Räume bzw. Gruppen, wie das Parcero-Programm eines ist, durchaus auch Gefahren der
sozialen Schliessung und Abgrenzung mit sich bringen. Es besteht die Gefahr, dass in diesen
geschlossenen Zirkeln die Mobilitätsstudierenden mit ihren jeweiligen Tutoren unter sich
bleiben und dadurch nicht wirklich ein Teil des sozialen Konstrukts Universität bzw.
Gesellschaft von Medellin werden. Trotzdem bietet dieses Programm eine gute Starthilfe
und gute Ergänzungen für die Mobilitätsstudierenden an der Universidad de Antioquia.
Nebst der Unterstützung durch die Universidad de Antioquia war für uns die
Begleitung durch Prof. Dr. Gloria Patricia Lopera Mesa, bei der wir wohnten, absolut zentral.
Prof. Dr. Gloria Patricia Lopera Mesa ist Dozentin für Recht an der Universität EAFIT. Die Idee
war ursprünglich, nur für die erste Zeit bei ihr zu wohnen. Jedoch entwickelte sich schnell
eine sehr freundschaftliche Beziehung, so dass wir schlussendlich für die ganze Zeit bei Ihr
eingemietet blieben. Es war ein absoluter Glücksfall, bei Prof. Dr. Gloria Patricia Lopera Mesa
wohnen zu können.
Am besten verstehen lässt sich die Unterstützung durch sie dadurch, dass die
verschiedenen Ebenen oder Facetten ihrer Begleitung aufgezeigt werden. Aus einer
persönlichen Perspektive betrachtet, ist es schlicht und einfach rührend, mit welcher
Gastfreundschaft Gloria Patricia Lopera Mesa uns aufgenommen hat. Vom ersten Tag an,
war sie stets für uns da – als der Abholdienst vom Flughafen nicht funktionierte, war sie es,
welche uns vom Flughafen abholte. Sie begleitete uns am ersten Tag an die Universität, aufs
Büro für internationale Beziehungen und auf das Amt für Visa-Angelegenheiten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, eine weitere wichtige Ebene, war das soziale Kapital
(Bourdieu) von Prof. Dr. Gloria Patricia Lopera Mesa, von welchem wir enorm profitieren
konnten. Es war für uns extrem wertvoll, dass sie selbst Absolventin der Universidad de
Antioquia ist und dadurch sehr viele Professorinnen und Professoren an der Universität
kennt. Viele Ihrer Freunden und Bekannten nahmen sich unser an. Dadurch hatten wir die
Möglichkeit, Veranstaltungen und Aktivitäten zu besuchen, welche uns sonst niemals offen
gestanden hätten. Wir konnten also stark von ihrem sozialen Netz profitieren, was uns die
Integration und das Einleben in Medellin und an der Universität stark erleichterte. Aber auch
für Ausflüge und Reisen unterstützte sie uns stets und brachte uns in Kontakt mit Leuten an
den Zielorten, bei welchen wir dann beispielsweise übernachten konnten. Zudem lernten wir
ihren Vater und Bruder kennen und gingen jeden Samstag gemeinsam essen.
Auch auf kultureller Ebene war die Begleitung durch Gloria Patricia Lopera Mesa
absolut wertvoll. Sie zeigte uns feine Restaurants, lud uns zu Konzerten ein, gab uns Tipps für
gute Bücher, Filme oder Vorträge oder begleitete uns zu politischen Veranstaltungen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Begleitung durch Gloria Patricia Lopera Mesa ist
fachlicher Art. Hatten wir Probleme oder Fragen mit den Inhalten der Vorlesungen konnten
wir stets bei ihr nachfragen und sie nahm sich jeweils viel Zeit uns die Sachverhalte zu
erklären. Oder sie unterstützte uns beim Abwickeln der verschiedenen administrativen
Angelegenheiten. Es wird ersichtlich, dass Gloria Patricia Lopera Mesa während des
Aufenthaltes in Medellin für uns enorm wichtig und oftmals die erste Ansprechperson war.
Für eine zukünftige Studierendenmobilität zwischen Medellin und Bern kann jedoch
nicht davon ausgegangen werden, dass alle Mobilitätsstudierenden auf die Unterstützung
von Personen wie Prof. Dr. Gloria Patricia Lopera Mesa zählen können. Deshalb ist es von
grosser Wichtigkeit, dass die Aufgaben und Funktionen, welche diese in unserem Fall
12
übernommen hat, von der Universidad de Antioquia übernommen und institutionalisiert
werden. Dabei erscheinen uns nachfolgende Ideen sinnvoll:
• Das Wohnungsangebot der Universidad de Antioquia muss angepasst werden. Ein
optimaler Standort dafür wären beispielsweise die grossen Blöcke vis-a-vis des
Haupteinganges der Universität. Einerseits befinden sich diese Wohnungen extrem
nahe zur Universität, Transportkosten könnten gespart werden und andererseits
wohnen in diesen Blöcken bereits sehr viele Studierende, damit wäre es auch
wesentlich einfacher Bekanntschaften zu lokalen Studierenden zu schliessen. Zudem
sind diese Wohnungen für Mobilitätsstudierende auch finanziell attraktiv.
• Eine weitere Möglichkeit zur Institutionalisierung der Betreuung zukünftiger
Mobilitätsstudierender wäre eine noch stärkere Integration des ParceroProgrammes. Dabei hätten die zukünftigen Mobilitätsstudierenden im besten Fall
bereits vor der Ankunft Kontakt zu ihren jeweiligen Parceros. Falls dies
organisatorisch schwierig umzusetzen ist, so wäre es auf jeden Fall sehr wichtig, dass
der Kontakt zum Parcero vom ersten Tag an vorhanden ist. Denn die ersten Tage sind
ja bekanntlich, wenigstens administrativ und organisatorisch betrachtet, die
schwierigsten und intensivsten. Einfach umsetzen liesse sich diese Idee dadurch, dass
der jeweilige Parcero zusammen mit dem bzw. der Abholverantwortlichen der
Universidad de Antioquia die ankommenden Mobilitätsstudierenden bereits am
Flughafen abholt.
• Des Weiteren erscheint es uns zentral, dass die Mobilitätsstudierenden über die
Wichtigkeit der Beziehungen zum Büro für internationale Beziehungen, zu den
jeweiligen Studienverantwortlichen innerhalb der Universität, wie beispielsweise
Beatriz Henao und nicht zuletzt auch zu den Dozierenden und Studierenden Bescheid
wissen. Dies mit dem Wissen, dass viele Probleme und organisatorische
Angelegenheiten an der Universidad de Antioquia persönlich, also im direkten
Gespräch mit den verschiedenen Verantwortlichen geregelt werden und
dementsprechend ein gut gepflegtes und funktionierendes Beziehungsnetz absolut
wichtig ist.
2.3 Vorbereitung auf das Austauschsemester
Wie eingangs erläutert, entstand die Idee, ein Auslandsemester in Medellin zu absolvieren
im Verlauf des 4. Semesters. Folglich begann unsere Vorbereitung auf den Austausch auch
bereits in ebendiesem Semester und war zu Beginn stark mit der Lehrveranstaltung von Frau
Prof. Dr. Angela Stienen „Umgang mit Differenz“ verbunden. Dieses Modul des Fachbereichs
Sozial- und Erziehungswissenschaften-ESS am IVP gab uns verschiedene wichtige Werkzeuge
in die Hand, welche uns im Verlauf des Semesters in Medellin sehr nützlich und hilfreich
waren. So half uns beispielsweise das Konzept der Stereotypen von Stuart Hall (vgl. Hall
2004) zu verstehen, weshalb wir wiederholt und immer wieder auf reiche und im Luxus
lebende Europäer reduziert wurden. Oder auch die Ausführungen von Pierre Bourdieu (vgl.
Bourdieu 2001) über die konservative Schule schärfte unsere Wahrnehmung für die sozialen
Chancenungerechtigkeiten, welche beispielsweise beim Zugang zu den privaten
Universitäten in Medellin herrschen. Aber auch Begriffe bzw. Konzepte wie Macht, soziale
Schliessung unterstützten uns immer wieder in der Analyse und Reflexion von alltäglichen
Erlebnissen. So beobachteten wir immer wieder soziale Schliessungen anhand des
ökonomischen Status bzw. anhand der Dimension reich - arm. Teilweise fühlten wir uns aus
Gruppen ausgegrenzt, weil die Mitglieder der Gruppe sich alle als arm identifizierten. Diese
13
Identifikation mit der Armut und die gleichzeitige Ausgrenzung der ‚reichen Europäer‘
(Stereotyp) verlieh der Gruppe bzw. deren Mitgliedern Macht und Identität.
Nebst dieser wichtigen Vorbereitung des Mobilitätssemesters durch die
Lehrveranstaltung „Umgang mit Differenz“, ergab sich zusätzlich die Möglichkeit im Rahmen
des VC-EDU Moduls „Von der Schule in den Beruf“ eine Analyse und Kontextualisierung des
schweizerischen Bildungssystems in Form eines Leistungsnachweises zu erarbeiten. Dabei
wurden Typologisierungen von Bildungssystemen vermittelt, welche später eine grosse Hilfe
für ein differenzierteres Verständnis des kolumbianischen Bildungssystems waren. Zudem
erlagen wir dank dem gewonnen Wissen aus diesem Leistungsnachweis auch nicht der
Verlockung, die Bildungssysteme Kolumbiens bzw. der Schweiz direkt miteinander zu
vergleichen und zu werten. Ein solcher direkter Vergleich macht wenig Sinn, weil die
jeweiligen gesellschaftlichen bzw. wirtschaftlichen Kontexte und Anforderung der beiden
Länder unterschiedlich sind und es DAS weltweit richtige und gute Bildungssystem schlicht
und einfach nicht gibt bzw. nicht geben kann.
Ein Teil der Vorbereitung des Mobilitätssemesters bestand also aus
Lehrveranstaltungen an der PHBern, ein anderer wesentlicher Teil der Vorbereitung bestand
aus der persönlichen Aneignung von Wissen über den kulturellen, sozialen, politischen und
schulischen Kontext von Medellin bzw. Kolumbien. Dabei unterstützte uns Prof. Dr. Angela
Stienen, indem sie uns in Gesprächen auf verschiedene Materialien (Bücher, Texte, Filme,
Web-Seiten) aufmerksam machte. In diesen Vorbereitungssitzungen hatten wir die
Möglichkeit, vom breiten Wissen und den Erfahrung von Prof. Stienen zu profitieren, sie
konnte viele Fragen und Befürchtungen beantworten bzw. klären.
Da, wie erwähnt, ein Fokus des Mobilitätssemesters auf dem Verfassen unserer
Bachelorarbeit lag, bestand ein wesentlicher Teil unserer Vorbereitung zudem auf dem
Planen und Organisieren der Bachelorarbeit. Dabei erwiesen sich die Sitzungen der BachelorProjektgruppen, welche von den Dozierenden Angela Stienen und Beat Reck gemeinsam
geleitet wurden, und an denen die, von den beiden Dozierenden betreuten Studierenden
teilnahmen, als grosse Unterstützung. In den jeweiligen Sitzungen erstellten wir
Studierenden einen Zeitplan für das Erstellen unserer Bachelorarbeit, setzten uns
Etappenziele und werteten bereits vorhandene Forschungsresultate und Literatur aus. Stets
wurde dabei die Moodle-Plattform bzw. der eigens von Herrn Reck für die BachelorProjektgruppen eingerichtete Moodle-Kurs in die Sitzungen mit einbezogen. Die Betreuung
unserer Bachelorarbeiten beruhte also von Beginn an stark auf web-Elementen, dadurch war
sie nicht an einen fixen Standort bzw. an eine fixe Zeit gebunden. Während der ganzen Zeit
vor und während dem Mobilitätssemester wickelte sich ein Grossteil der Kommunikation
innerhalb der Bachelor-Projektgruppen sowie zwischen uns, den Studierenden und den
Betreuungspersonen über die Moodle-Plattform ab. Das Kennenlernen und
Anwendenlernen der Moodle-Plattform stellte also einen weiteren wichtigen Teil unserer
Vorbereitung auf das Mobilitätssemester dar. Denn nur so war es möglich, dass wir während
unserer Abwesenheit stets in Kontakt mit unseren jeweiligen Betreuungspersonen – Angela
Stienen und Beat Reck – standen und diese gleichzeitig stets über unsere Fort- und
Rückschritte informiert waren.
Während unserem Aufenthalt zeigte sich, dass diese Vorbereitung sehr wichtig und
sinnvoll war. Zum Einen waren gewisse Probleme oder Konflikte viel schneller verständlich
und zum Anderen zeigten sich die Menschen jeweils sehr erfreut darüber, dass wir uns
bereits mit ihren Realitäten auseinandergesetzt hatten und über Fachwissen verfügten.
Durch diesen Umstand war es uns leichter und schneller möglich, mit den Leuten etwas
tiefgründiger zu diskutieren. Was wiederum enorm wichtig ist bzw. war, um das Land
14
Kolumbien mit seinen Realitäten und Konflikten verstehen zu können und um akzeptiert zu
werden.
Jedoch war es keineswegs so, dass wir mit einer fertigen Interpretation bzw.
Vorstellung über das Leben in Medellin, nach Kolumbien gereist sind. Sehr viele Dinge waren
für uns neu, was uns immer wieder wie kleine Kinder fühlen liess, welche daran sind ihre
Welt zu entdecken. Genau dieses Nicht-Wissen bzw. Nicht-Verstehen war es, was bei uns
eine riesen Neugierde, und Offenheit, kurz ein Verstehen-Wollen, auslöste und eine Haltung
des ständigen Fragens zur Folge hatte. Diese Haltung ihrerseits, wurde von den Menschen
sehr geschätzt, da es ihnen oftmals eine Freude war, uns ihr Land bzw. ihre spezifischen
Lebenssituationen zu erklären.
Trotz unserer Vorbereitung wäre es gelogen, wenn wir hier schreiben würden, dass
uns der erste Monat in Medellin leicht gefallen ist. Zu Beginn war der Aufenthalt hart und
ziemlich steinig. Obwohl stets sehr gut und liebevoll für uns gesorgt wurde, mussten wir uns
doch erst an die vollkommenen neuen Zustände akklimatisieren. Erschwerend kam unser
sprachliches Handicap dazu. Simon verstand zu Beginn praktisch nichts und konnte sich
kaum ausdrücken. Jessica verstand schon etwas mehr und konnte sich dank ihren
Italienischkenntnissen auch bereits etwas unterhalten. Es ist sicherlich nicht unmöglich ein
Mobilitätssemester zu machen, ohne über ausreichende Sprachkenntnisse zu verfügen. Wir
sind ja sozusagen der lebendige Beweis dafür, dass es machbar ist. Jedoch denken wir,
besonders wenn man ein Auslandsemester mit der Bachelorarbeit in Verbindung setzen
möchte, es sinnvoll ist ein gewisses sprachliches Niveau bereits mit zu bringen. Wir mussten
bis zum Schluss viel Zeit ins Sprachelernen investieren. Texte lesen erforderte grosse
Anstrengungen und das Kommunizieren am Anfang viel Mut. Die ersten zwei Monate war es
zudem frustrierend sich nicht genau ausdrücken zu können und immer alles umschreiben zu
müssen. Diese Umstände machen es faktisch unmöglich beispielsweise ein Interview für die
Bachelorarbeit zu machen.
Doch schliesslich konnten wir sprachlich unheimlich viel profitieren und können uns
mittlerweile gut verständigen. Jedoch denken wir, muss man sich gut überlegen, welche
Ziele ein solcher Aufenthalt hat bzw. wie man sich organisiert. Wir denken bzw. haben die
Erfahrung gemacht, dass es nicht möglich ist, alles gleichzeitig tun zu wollen, also
verschiedene Module zu besuchen, die Sprache zu lernen und eine Bachelorarbeit zu
schreiben.
So mussten wir einen Abstrich in unseren ehrgeizigen Zielen machen: Wir
beschlossen, die Bachelorarbeit erst nach unserer Rückkehr fertig zu stellen. Wenngleich wir
dies ursprünglich nicht vorgesehen hatten, war es uns das Auslandsemester wert, das
Studium ein Semester später abzuschliessen als ursprünglich geplant.
Jedoch möchten wir erwähnen, dass wir trotz unseres sprachlichen Handicaps alle
Kurse abschliessen, soziale Kontakte knüpfen, spanische Filme ansehen, verstehen und
Bücher lesen, Leistungsnachweise schreiben und Vorträge halten konnten und uns zudem
mit dem Thema unserer Bachelorarbeiten auseinandersetzten.. Natürlich wäre dies ohne die
Unterstützung und Flexibilität unzähliger Personen nicht möglich gewesen.
Wir denken ein Mobilitätssemester in Medellin verlangt aufgrund des eingangs
geschilderten Kontextes eine spezielle Vorbereitung (und Nachbereitung). Gerade also weil
die Unversidad de Antioquia eine öffentliche Universität ist, die öffentliche Bildung im
gegenwärtigen Globalisierungskontext hart umkämpft ist und die kolumbianische
Gesellschaft von einer zugespitzten Konfliktdynamik gekennzeichnet ist. Zur Vorbereitung
haben wir ausgehend von unseren eigenen Erfahrungen, den Diskussionen mit Studierenden
15
und Dozierenden der Universidad de Antioquia sowie der Schlussevaluation unseres
Aufenthaltes an Ort folgende Vorschläge:
• In der Vorbereitung auf einen Aufenthalt in Medellin sollte ein Fundament an Wissen
und Informationen zum Gastland erarbeitet werden, welches eine gewisse
Orientation im Alltag bzw. in den täglichen Gesprächen ermöglicht. Diese Orientation
beinhaltet idealerweise, dass Gesprächsbeiträge und Meinungen von
Diskussionspartnerinnen und –partnern gesellschaftlich verortet und dadurch
relativiert werden können.
• Dieses Fundament an Wissen und Informationen muss von den
Mobilitätsstudierenden stets kritisch reflektiert und hinterfragt werden. Uns
erscheint es zudem sehr wichtig, dass sich die jeweiligen Mobilitätsstudierenden
zudem bewusst sind, dass dieses Fundament an Wissen nur ein Anfang, eine Basis
und daher unvollständig ist. Denn die Annahme, dass dieses Fundament bereits eine
abgeschlossene Interpretation sei, wäre für das differenzierte Verstehen der
verschiedenen Realitäten in Medellin fatal. Es sollte also während dem Aufenthalt
zusätzliches theoretisches Wissen aus Büchern, Websites, Filmen, Vorlesungen und
Gesprächen gewonnen und angeeignet werden.
• Nebst oder gemeinsam mit der Aneignung von Sachwissen gilt es eine Haltung von
Offenheit und Neugierde, eine Haltung des Entdeckens also, zu entwickeln. Denn nur
so können subjektive, persönliche und vielschichtige Erfahrungen gemacht werden.
Die beiden Aspekte sollten also als sich gegenseitig ergänzend verstanden werden.
Denn weder ein Wissen, basierend auf blossen Fakten und Lektüre, noch ein Wissen
gestützt einzig und allein auf subjektive Erfahrungen, trägt zu einem tatsächlichen
Verständnis von Realität, von Leben im Gastland bei. In diesem Sinne erscheint eine
gute Vorbereitung, ein gutes Fundament gerade auch im Bezug auf das Verhindern
einer Reproduktion und Verbreitung von Stereotypen als grundlegend.
• In der Universidad de Antioquia müssen an Mobilität interessierte Studierende für
ein Auslandsemester jeweils ein regelrechtes Bewerbungsverfahren durchlaufen.
Dies hat unter anderem damit zu tun, dass es für kolumbianische Studierende
äusserst schwierig ist, ein Visum für einen Aufenthalt in einem anderen Land zu
bekommen. Wir denken, dass auch die PH Bern ein solches Verfahren einführen
sollte. Nicht nur für Aufenthalte in Medellin, sondern generell für alle
Auslandsemester. Dies um auch hier eine höhere Wertschätzung einer solchen
Möglichkeit zu erreichen und vor Augen zu führen, dass das Auslandsemester ein
wichtiger Bestandteil unserer Ausbildung zu LP sein kann.
• Die Beweggründe für ein Auslandsemester sollten klar dargelegt sein und einen
akademischen Hintergrund haben: Wir haben erfahren, dass die Arbeit an unseren
Bachelorarbeiten Anlass für zahlreiche Gespräche und interessante Kontakte zu
Professoren und Studierenden war. Die jeweiligen Recherchen an unseren
Bachelorarbeiten haben viele Fragen aufgeworfen und uns einen Fokus für die
Annäherung an den neuen Kontext gegeben. Bezüglich der Kombination von
Bachelorarbeit und Auslandsemester gilt es folgende Fragen zu klären. Sollte das
Austauschsemester eher für die Vorbereitung auf die Bachelorarbeit genutzt werden
und daher im 5. Semester absolviert werden? Wie kann es gelingen, den
Auslandaufenthalt im 6. Semester von Seiten der Gastuniversität als auch der
Studierenden, die das Mobilitätssemester absolvieren, so zu strukturieren, dass die
Bachelorarbeit tatsächlich während des Aufenthalts geschrieben werden kann?
16
2.4 Lernerfolge und Gewinne für die zukünftige Tätigkeit als Lehrperson
Gleich in der ersten Stunde von unserem ersten Modul an der Facultad de Educación an der
Universidad de Antioquia stellte die Professorin die Frage, wozu Schule gut ist und welche
Rolle die Lehrperson einnimmt. Fragen, die wir auch schon aus der Schweiz kennen. Was wir
daran spannend finden, ist dass sich die Schulsysteme grundlegend unterscheiden, jedoch
das Ziel und die Rolle von Schule immer wieder neu definiert werden muss, egal in welchem
Kontext man sich befindet. Die Einbettung von Schule in der Gesellschaft scheint nicht
immer einfach zu sein, vor allem dann nicht, wenn sich die Gesellschaft so schnell verändert
wie in Kolumbien. Diese Veränderungen wirken auf die Schule ein und die Schule wiederum
löst neue Veränderungen aus. So dass nicht klar wird, wer reagiert und wer agiert. Wobei
davon auszugehen ist, dass sowohl die Gesellschaft wie auch die Schule beide Rollen
einnehmen. Wir sind der Ansicht, dass in der Schweiz der Lehrberuf mehr in die Rolle des
Reagierens gezwängt wird und nicht als Auslöser von Veränderungen verstanden wird. An
der Facultad de Educación der Unversidad de Antioquia haben wir hingegen erfahren, dass
unter Studierenden und Dozierenden ein grosser Glaube an Veränderungen durch Bildung
besteht. Dies wurde uns ganz deutlich vor Augen geführt, als wir in verschiedenen Räumen –
an der Universität, in Schulen, auf der Strasse – den Kampf für das Recht auf Bildung erlebt
haben.
Während unserer Zeit in Kolumbien wurde ein neues Gesetz verfasst, welches zum
Ziel hat, die öffentliche Bildung abzuschaffen und die Bildungsinstitutionen zu privatisieren
und die Qualität der Bildung von privaten Investoren abhängig zu machen statt von der
öffentlichen Hand. Dass der Zugang zur Bildung damit nicht mehr für alle gewährleistet
werden kann, müssen wir nicht mehr erwähnen. Wir begleiteten unsere Kommilitonen und
Kommilitoninnen an verschiedene Veranstaltungen wie Protestmärsche, Podiumsdiskussionen usw. Ihre Betroffenheit über die Privatisierungsdrohungen auch für ihre Universität
kennt keine Grenzen. Trotzdem haben wir auch erfahren, dass die Leute genug haben von
den Protesten. Nicht wegen Desinteresse sondern weil eine grosse Resignation und
Frustration unter den Studierenden am entstehen ist. Oftmals wurden die
Lehrveranstaltungen wegen der Proteste unterbrochen, dies geschieht manchmal auch für
längere Zeit, was zur Folge hat, dass sich das Studium für unsere Kommilitoninnen und
Kommilitonen verlängert. Der Tag der Diplomfeier – der einen unheimlich grossen Wert für
alle Studierenden hat und wie Weihnachten, Geburtstag, Ostern gefeiert wird – wurde
dieses Jahr von Protesten gestört, so dass die Feier nicht, wie übliche im Theater der
Universität, Teatro Camillo Torres, durchgeführt werden konnte. Viele Studierenden
beklagten sich darüber, dass nicht einmal der Tag ihres Abschlusses frei von Protesten ist.
Unser Mobilitätssemester hat die Selbstverständlichkeit, mit der wir die Möglichkeit
auf Bildung betrachten, sehr in Frage gestellt. Obwohl der Lehrberuf immer wieder mit
Autonomie in Verbindung gebracht und das Klassenzimmer als Insel im wilden Meer der
Gesellschaft oder als Gärtchen im Dschungel der Realität hochstilisiert wird – wie etwa
Rousseau mit seiner Gartenpädagogik aufzeigt – wurde uns dank unseres
Mobilitätssemesters an der Universidad de Antioquia bewusst, dass diese Umschreibungen
nur sehr begrenzt den Tatsachen entsprechen. Uns wurde klar, wie stark der Lehrberuf und
sein Selbstverständnis mit einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext zusammenhängt
bzw. von diesem konstruiert wird, dieser Kontext wirkt auf das Berufsverständnis und auf
den Unterricht zurück, so dass die Schulstube schliesslich keineswegs als ein universaler
Schon- und Schutzraum verstanden werden kann.
Die Schule und das Berufsverständnis von Lehrpersonen definieren sich zu einem
guten Stück über die Ausbildung der Lehrpersonen. Wird in der Schweiz höchst kontrovers
17
über die sogenannte Akademisierung der Lehrpersonenausbildung debattiert, so stellt sich in
Medellin diese Frage kaum. Vergleicht man die Ansichten der Schweizer Studierenden mit
jenen der kolumbianischen Kommilitoninnen und Kommilitonen, so werden grosse
Unterschiede ersichtlich. Für die kolumbianischen Studierenden ist klar, dass der Lehrberuf
resp. die Lehrpersonenausbildung auf gleicher Höhe steht wie die Ausbildung eines Arztes,
eines Architekten oder eines Musikers. Demgegenüber steht die Meinung zahlreicher
Schweizer Studierenden, welche die Ausbildung zur Lehrperson doch eher als Lehre
organisieren würden. Diese grossen Unterschiede zeigten uns, dass es den Lehrberuf an sich
nicht gibt, sondern dass er grösstenteils durch die jeweilige Gesellschaft definiert und
normiert wird. Genauso definiert diese auch die jeweiligen materiellen und strukturellen
Bedingungen unter denen die Lehrpersonen ihren Beruf ausüben. So macht es, ohne über
richtig oder falsch bzw. gut oder schlecht werten zu wollen, einen Unterschied aus, ob eine
Lehrperson 40 oder 15 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Ein weiterer Aspekt, welcher
den Einfluss der Gesellschaft auf das Selbstverständnis der Lehrpersonen bzw. der Schule
verdeutlicht, manifestiert sich in der Beziehung Lehrperson-Lernende. Ob die Lehrerin bzw.
der Lehrer sich nun als General, Projektleiter bzw. –leiterin, Freund bzw. Freundin oder als
eine Art von Onkel bzw. Tante sieht, wird stark gesellschaftlich definiert. Erst durch das
Mobilitätssemester in Kolumbien wurde uns dieser Aspekt so richtig bewusst.
Wichtige Konsequenz für uns aus diesen Feststellungen ist, das Wertungen über
richtig oder falsch bzw. gut oder schlecht zwischen denen dort und uns in der Schweiz wenig
Sinn machen. Denn der gute Lehrer, die gute Lehrerin oder die richtige Schule gibt es nicht.
Vielmehr ist Schule ein Konstrukt von zahlreichen und unterschiedlichen Einflüssen.
Handlungen können kaum normiert werden. Jedoch werden Handlungen und Haltungen
idealisiert, hochstilisiert und als erstrebenswert festgeschrieben. Obwohl der ungleiche
Zugang zur Bildung auch in der Schweiz breit diskutiert wird, gibt es praktisch kein
Umdenken in Bezug auf die Annahme, dass der Zugang zu Bildung für alle selbstverständlich
ist. Der Wert und die Wichtigkeit von Bildung werden gar nicht wirklich wahrgenommen.
Dies ist im kolumbianischen Kontext völlig anders. Die meisten Kommilitoninnen und
Kommilitonen in Medellin definierten Schule bzw. Bildung immer aus der Perspektive der
Gesellschaft. Führt man sich den kolumbianischen Kontext mit dem Kampf um das Recht auf
öffentliche Bildung vor Augen, so wird schnell verständlich, warum dieses Bewusstsein über
solche gesellschaftlichen Zusammenhänge derart gross ist, ja sein muss. Für uns als
zukünftige Lehrpersonen ist es sehr wichtig, einen Teil dieses Bewusstseins mitzunehmen, ja
geradezu zu konservieren, da es auch in unserem Kontext bald notwendig sein könnte, dass
über das Recht auf öffentliche Bildung für alle diskutiert und vielleicht gar gekämpft wirdWie in letzter Zeit zu spüren ist, sind wir mitten in grossen Veränderungen. Angefangen bei
einer Wirtschaftskrise die viele Fragen aufgeworfen hat. Man denke an die Unruhen in
Griechenland, Spanien und England. Spätestens mit Pisa wurden neue Fragen, neue
Ansprüche an Bildung aufgeworfen. Wenn die Bildung „gut“ ist, so wird oftmals (unserer
Ansicht nach fälschlicherweise) auf eine gute, wachsende Wirtschaft zurückgeschlossen, die
wieder zu mehr Wohlstand führen soll.
Der letzte Punkt stützt sich auf das Selbstverständnis des Schulzimmers als Insel,
isoliert vom Rest der Welt. Am Beispiel der Universidad de Antioquia –verstanden als
einziges grosses Klassenzimmer – wird es offensichtlich, dass ein Schulzimmer nur wenig mit
einer Insel zu tun hat. Obwohl die Universidad de Antioquia räumlich vom Rest der Stadt
abgegrenzt wird – der Campus ist umzäunt und man muss sich ausweisen, wenn man das
Gelände betreten will – spiegeln sich in ihr alle Konflikte und Probleme der kolumbianischen
Gesellschaft wieder. Seit Kurzem werden in die Unversidad de Antioquia nur Personen
18
reingelassen, die in der Universidad arbeiten oder studieren. Wenn eine Person nicht zu
diesen zwei Gruppen gehört, so muss ein Gesuch erstellt werden, was oftmals nicht
problemlos funktioniert. Der Zugang wird mittels eines Studierendenausweises geregelt, der
immer elektronisch eingelesen werden muss. Sollte es vorkommen, dass man den Ausweis
vergisst, kann man auch gleich den Zugang in die Universität vergessen, erinnert sei, dass wir
von einer öffentlichen Universität reden…
Die Universität ist als Mikrokosmos der Gesellschaft zu verstehen. Was in der
Gesellschaft geschieht, welche Mechanismen und Prozesse in ihr stattfinden, findet man
auch wieder in der Universität. Und ein ebensolcher Mikrokosmos stellen auch unsere
Schulzimmer dar. Das Grosse im Kleinen. Deshalb ist es für uns als zukünftige Lehrpersonen
äusserst wichtig, die gesellschaftlichen Konflikte verstehen zu versuchen, denn nur so lassen
sich schliesslich auch die Dynamiken innerhalb eines Klassenzimmers besser verstehen oder
wenigstens erahnen.
2.5 Einfluss des Mobilitätssemesters auf unsere persönliche Entwicklung
In einer geistigen Rückschau über das vergangene Mobilitätssemester erscheinen uns
Tausende unterschiedliche Bilder, Erfahrungen und Erlebnisse, welche uns sehr beeindruckt
und beeinflusst haben. Im ersten Moment erscheint es unmöglich, einen gemeinsamen
Nenner für all diese Eindrücke zu finden. Trotzdem haben viele der eindrücklichsten
Erlebnisse einiges gemeinsam. So waren bzw. sind sie meist unerwartet, neu und werfen
eine vorhandene Vorstellung total über den Haufen. Dies war beispielsweise der Fall, als wir
zum ersten Mal all die Regeln in der perfekt funktionierenden Metro in Medellín sahen, der
erste Transport in der Metrocable 1, oder aber auch, als wir zum ersten Mal in den Bus
COONATRA stiegen genauso wie der ersten Tag auf dem riesigen Campus der Universidad de
Antioquia, die ersten Studentenproteste, der erste Besuch eines der riesigen ShoppingCenters usw.
Wir möchten hier noch kurz unsere erste CONNATRA-Erfahrung weitergeben, weil sie
doch sehr speziell und aufregend war. Als erstes, es gibt offizielle Bushaltstellen, so wie wir
sie aus der Schweiz kennen, aber dann gibt es noch unzählige Haltstellen, die als weniger
offiziell genannt werden könnten. Der Bus hält nur auf Verlangen. Dies gilt für die bereits
Reisenden sowie für die Reisenden, die einsteigen möchten. Ein leichter Wink, den man mit
der Zeit ohne weiteres kann, reicht aus, damit der Busfahrer anhält. Das Einsteigen wie das
Bezahlen muss schnell gehen, denn der Busfahrer verliert keine Sekunde, um wieder auf das
Gaspedal zu drücken. Der Busfahrer ist sozusagen der König der Strassen, da wird nicht auf
Ampeln, nicht auf Taxis oder Fussgänger Rücksicht genommen. Hauptsache die Passagiere
kommen schnell ans Ziel. Leider ist der CONNATRA nicht der richtige Bus, um schnell ans Ziel
zu kommen, denn die Route vom CONNATRA führt durch ganz Medellin. Er wird auch oft als
Touristenbus beschimpft, denn nach nur wenigen Fahrten mit dem CONNATRA kennt man
die ganze Stadt. Es sind alle diese kleinen Erlebnisse, welche am Schluss einen Eindruck
hinterlassen – ein Eindruck, der möglichst real oder vielleicht besser ausgedrückt, bestehend
aus verschiedenen Realitäten und deshalb mehrschichtig ist bzw. sein sollte. Und auch dieser
Eindruck ist nicht einfach ein Stempel, der uns aufgedrückt wurde. Vielmehr ist er eine Art
von Komposition, welche durch das Besprechen, Diskutieren, Kontrastieren, Reflektieren,
Kritisieren, Vergleichen und Benennen all dieser kleinen Eindrücken und Erlebnisse
entstanden ist. Nun kommen wir wieder auf den vorhin beschriebenen gemeinsamen
1
Die erste Jungfernfahrt der Metro fand am 30.November 1995 statt. Die Metro verbindet die Stadt in den
Talregionen, während die Metrocable die hochgelegenen Stadtteile verbindet.
19
Nenner zurück: Was sich wie ein Roter Faden durch unser Mobilitätssemester hindurch zog
war das Unerwartete, das Neue, das ständige Verwerfen einer vorhandenen Vorstellung.
In den Zeitungen liest man viel über Armut und soziale Ungleichheiten. Es wird viel
darüber diskutiert und gesprochen. In der Schweiz erleben wir tagtäglich soziale
Ungleichheiten. Wir dachten, dass wir, weil wir uns im Vorfeld unseres Mobilitätssemesters
informiert hatten, mit diesen Problemen würden umgehen können. Doch wir möchten
ehrlich sein, der erste Monat in Medellín war hart. Kolumbien hat alles was sich ein Land
wünschen kann. Eine gute geografische Lage, unheimlich viele Naturresourcen (Erdöl,
Wasser), alle Klimastufen, sodass eine breite und vielfältige Landwirtschaft betrieben
werden kann und trotzdem geht es der Mehrheit der Menschen in Kolumbien immer noch
wirtschaftlich schlecht, obwohl in den letzten Jahren eine starke Verbesserung festgestellt
werden konnte. In vielen Lehrveranstaltungen haben wir über die sozialen Ungleichheiten
und deren Ursprung reflektiert. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie das Land selber. Was
uns aber am meisten erstaunte (ein Grund für dieses Erstaunen ist bestimmt eine ungeahnte
Naivität) war die Rolle, die die westlichen Länder einnahmen. Wenn man über Kolumbien
etwas hört, geht es meistens um Drogenhandel, Korruption, Guerilla und Paramilitär. Diese
Probleme werden dem Land zugeschrieben, der Rest der Welt nimmt dabei die Heldenrolle
ein und versucht dem Land zu „helfen“. Zu „helfen“ in Anführungs- und Schlusszeichen, weil
diese Heldenrolle nicht helfen ist, sondern ein Bereichern, ein Geschäft ist. Natürlich gibt es
in Kolumbien viele Probleme, viele ungelöste soziale Konflikte und eine labile Politik. Was wir
eigentlich aber zum Ausdruck bringen möchten ist, dass unsere Weltansicht durch den
Aufenthalt an der U de A viel globaler geworden ist.
Im Modul Heterogenität an der PHBern haben wir verschiedene Konzepte
kennengelernt. Diese Konzepte haben wir anhand von Texten und Realitäten aus der
Schweiz erfahren. Dank diesen Konzepten gelang es uns Phänomene in Kolumbien genauer
zu definieren und analytischer zu betrachten. Wir denken dabei vor allem an die Konzepte
„Stereotypisierung“, „soziale Schliessung“ und „Differenz“ wie sie Stuart Hall (2004) definiert.
Immer wieder wird Kolumbien mit Drogenmafia und Korruption in Verbindung gebracht.
Unter diesem schlechten Ruf leidet die ganze kolumbianische Gesellschaft, wie wir erfahren
haben. Das Selbstbild von der kolumbianischen Gesellschaft ist von den negativen Bildern
stark geprägt und dies zeigt sich oft in verschiedenen Situationen. Wir wurden oft gefragt,
wieso wir gerade Medellin als Stadt gewählt hatten. Oder ob sich unsere Eltern nicht grosse
Sorgen um uns machen würden.
Wir hatten jedoch auch sehr oft mit den Vorurteilen und Stereotypen gegenüber den
Europäern zu kämpfen. Dieses „gegenüber Europäer“ sagt auch schon ziemlich viel aus, denn
oft wurden wir als Europäer wahrgenommen und nicht als Schweizer oder Italienerin. Die
Staatszugehörigkeit, so schien es uns oft, war zweitrangig gegenüber dem „Europäer-Sein“.
Es gab „harmlose“ Stereotypen mit denen wir zu kämpfen hatten, dazu gehört die
Vorstellung von Hygiene. Sauberkeit in Bezug auf die äussere Erscheinung. In Medellin ist die
äussere Erscheinung sehr wichtig. Einige Beispiele sind; Frauen sowie auch Männer pflegen
die Nägel regelmässig. Dabei scheuen weder Frauen noch Männer eine professionelle Maniresp. Pediküre. Frauen gehen einmal die Woche zum Coiffeure, geduscht wird jeden Tag
mind. einmal. In der Schweiz, so finden wir, definiert der Beruf viel eher die äussere
Erscheinung, z.B. Studierende der PH kleiden sich anders als Wirtschaftsstudierende. An der
Universidad de Antioquia, so fanden wir, ist diese Abgrenzung viel schwächer. Die
Körperhygiene ist für alle sehr wichtig und dieser wird viel Zeit gewidmet. Während einer
Reise duschte Simon an einem Morgen nicht, dies gab viel Aufruhr und natürlich auch viel
Gelächter und war somit für unsere Kameraden eine Bestätigung, dass Europäer nicht so
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hygienisch sind. Damit umzugehen war einfach, weil man leicht daraus Witze machen
konnte.
Es gab aber auch Stereotypen, die für uns sehr unangenehm waren und der Umgang
mit ihnen war nicht einfach. Ein solches Beispiel war die Vorstellung, dass, wer aus Europa
kommt, reich und wohlhabend sein muss. Wir können die Entstehung dieser Stereotypen
verstehen und nachvollziehen. Der schlichte Vergleich, dass wir einfacher ein
Auslandsemester machen können als unsere kolumbianischen Kommilitoninnen und
Komilitonen, zeigt auf, dass ihre Stereotypen immer wieder ganz einfach bestätigt werden
konnten. Dieser Umstand machte uns sehr zu schaffen. Wir versuchten oft die
Lebensumstände in der Schweiz unseren Freunden zu erklären und ersichtlich zu machen.
Wir erklärten ihnen, dass wir nebst dem Studium beide auch arbeiten mussten. Trotz allen
Erklärungen war für viele klar, dass wir aus dem sichersten, wohlhabendsten Land der Welt
kommen. Aus diesem Grund dachten viele, dass wer aus der Schweiz kommt, wohlhabend
sein muss. Es war fast unmöglich diese Stereotypen zu verändern. Stereotypen können als
eine Form von sozialer Schliessung gesehen werden. Wir haben uns überlegt, ob das
Differenzmerkmal arm/reich zu einer sozialen Schliessung uns gegenüber geführt hat. Dieses
Denkmuster gab unseren Kameraden bei Themen wie Geld eine gewisse Macht. Diese Macht
muss nicht unbedingt wertend betrachtet werden. Es war einfach einfacher zu sagen, dass
wir uns alles kaufen konnten, weil wir reich sind und sie nicht. Diese Erfahrung war sehr
eindrücklich, denn die Stereotypen uns gegenüber kamen von allen Kreisen, also nicht nur
von flüchtigen Bekannten sondern auch von unseren engeren Freundinnen und Freunden in
Medellin Die wenigsten konnten sich vorstellen, dass wir dafür kämpfen mussten, unser
Mobilitätssemester finanzieren zu können. Verübeln können wir es niemandem, denn es ist
für viele unvorstellbar, wie man ein halbes Jahr lang ohne zu arbeiten überleben und dann
noch dazu reisen, ausgehen usw. kann. Mit der Zeit lernten wir, wie wir auf bestimmte
Fragen – z.B wie viel verdient eine Lehrperson? – antworten mussten. Jedoch war es uns bis
zum Schluss unangenehm mit Freundinnen und Freunden etwas einkaufen zu gehen oder
über Geld zu sprechen. Die meisten unserer Freundinnen und Freunde oder flüchtigen
Bekannten waren Studierende aus der Universidad de Antioquia. Die meisten von ihnen
arbeiten und mir ihrer Arbeit müssen sie oft die ganze Familie unterstützen. Natürlich gab es
auch einzelne die nicht arbeiteten, aber oft aus dem Grund, weil es nicht einfach ist, einen
Nebenjob zu finden. Die finanziellen Mittel unserer Freundinnen und Freunde waren eher
knapp und erlaubten nicht, unverantwortlich damit umzugehen.
Während wir diesen Bericht schreiben, stellen wir fest, dass wir nach unserem
Mobilitätssemester die Unterschiede zwischen einem Land wie Kolumbien und einem Land
wie die Schweiz nicht mehr so sehen, wie wir sie uns davor vorgestellt hatten. Grundsätzlich
gibt es in Kolumbien praktisch nichts, was es in der Schweiz nicht gibt und umgekehrt. Oder
wie anlässlich der Evaluation unseres Mobilitätsaufenthalts, die in Medellín stattfand, gesagt
wurde: „In unserer globalisierten Welt verschwinden die Grenzen und Unterschiede
zwischen so genannten Drittweltländern und den so genannten Industrieländern
zunehmend, dafür aber werden die Unterschiede und Differenzen innerhalb der Länder
immer grösser“. Ungleichheit und Differenz ist nicht mehr eine Frage des Entwicklungsstatus
eines Landes, sondern eine Frage der Schichtzugehörigkeit. Auf der ganzen Welt lassen sich
Prozesse der Polarisierung der Gesellschaft feststellen – quasi als globales Phänomen, nebst
Klimaerwärmung, Facebook und Fussball. Diese Polarisierung ist in Kolumbien
offensichtlicher als in der Schweiz. Jedoch hatten wir den Eindruck, dass diese Polarisierung
in Kolumbien durchaus wahrgenommen wird – der Kampf um das Recht auf Bildung kann als
ein Beispiel dafür gesehen werden. Und in der Schweiz? Einige mögen sagen: Bei uns in der
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Schweiz ist es bestimmt noch nicht so schlimm, wie immer werden wir bestimmt einen
Mittelweg finden… Weit gefehlt, wie Studien des Soziologen Ueli Mäder von der Universität
Basel belegen, weist die Schweiz nach Singapur und Namibia die ungleichste
Reichtumsverteilung der Welt auf und steht im Vergleich zu Kolumbien sogar schlechter da
(vgl. Mäder 2010). Klar gibt es Unterschiede zwischen der Armut in Kolumbien und der
Armut in der Schweiz, ganz offensichtlich hat eine arme Person in der Schweiz bessere
Lebensbedingungen als in Kolumbien, weil es im Gegensatz zu Kolumbien noch
sozialstaatliche Auffangnetze gibt. Trotzdem entwickelte sich in uns mehr und mehr die
Vermutung, dass in der Schweiz in weiten Teilen die wahren gesellschaftlichen Konflikte –
nicht die Stimmfang-Themen – kaum wahrgenommen bzw. diskutiert werden. Wiederum ein
Beispiel aus dem Bildungsbereich: An der Universidad de Antioquia werden die
Semestergebühren dem jeweiligen sozio-ökonomischen Status der Studierenden angepasst
– ein sozial viel gerechteres System als das Unsrige. Aber niemand kritisiert in der Schweiz
unser Studiengebühren-System. Im Gegenteil, als die Ankündigung publik wurde, dass die
Studiengebühren um 20% erhöht wurden, protestierte oder kritisierte dies niemand. Im
Vergleich dazu organisierte die Studierendenorganisation der Universidad de Antioquia beim
letzten Versuch, die Semesterbeiträge um 5% zu erhöhen, einen zweiwöchigen
Generalstreik. Es geht hier wiederum nicht darum zu sagen, dass eine Verhalten ist richtig
bzw. das andere Verhalten ist falsch. Jedoch erscheint es uns wichtig, dass man die eigenen
Verhältnisse und Strukturen bewusster wahrnimmt, relativiert und kritisch hinterfragt.
Wir glauben, genau aus diesem Grund wäre es wichtig, dass Studierende aus
Medellin ein Semester an der PHBern verbringen, der Austausch also ein gegenseitiger
würde, nur so könnten Stereotypen gegenüber einem Land wie die Schweiz bearbeitet
werden. Nicht damit die Schweiz besser dargestellt werden kann, sondern damit
Studierende aus Medellín, die nicht der Elite angehören, genau wie wir die Möglichkeit
haben, aus der Kontrasterfahrung heraus ihr Land und die Globalisierung besser zu
verstehen.
3.Fazit
Unser Mobilitätssemester in Medellín wurde am Schluss an Ort evaluiert. An der Evaluation
nahmen der Dekan der Facultad de Educación, die Vizedekanin, Koordinatoren der
verschiedenen Fachbereiche der Fakultät, die Verantwortlichen des Büros für Internationale
Beziehungen, Professorinnen und Professoren und Studierenden sowie, von der PHBern
Prof. Dr. Angela Stienen teil. Die Evaluation wurde auf Video und Tonträger aufgezeichnet.
Die Evaluation war sehr produktiv, es wurde ausgehend von konkreten Beispielen diskutiert
und für uns war besonders erfreulich, dass wir offen Kritik äussern konnten an den Sachen,
die aus unserer Sicht verbesserungswürdig sind und dass diese Kritik aufgenommen und als
Lehren festgehalten wurden.
Ganz klar ist dabei herausgekommen, dass der Austausch zwischen der PHBern und
der Facultad de Educación der Universidad de Antioquia gegenseitig sein muss, d.h. auch
kolumbianische Studierende die Möglichkeit haben müssen, ein Mobilitätssemester an der
PHBern zu verbringen. Nicht nur um persönlich den Horizont zu erweitern, was durchaus
wichtig ist, sondern auch um den oben erwähnten Stereotypen entgegen zu wirken und um
in fachlicher Hinsicht voneinander profitieren zu können. Zusätzlich finden wir, schulden wir
es der Universidad de Antioquia auch Studierenden an der PHBern aufzunehmen. Wir haben
so viel in der Universidad de Antioquia gelernt und, wie an den Evaluationssitzungen gesagt
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wurde, die Leute dort auch von uns. Dieses Wissen können wir hier in der Schweiz
anwenden, erweitern und vertiefen. Wieso sollte die PHBern diese Wissensquelle nicht auch
für die Ausbildung nutzen? Die PHBern könnte auch kolumbianische Studierende
aufnehmen. So wie die PHBern funktioniert, sehen wir es allerdings als schwierig an, dass sie
Mobilitätsstudierenden einen ähnlichen Austausch und eine ähnliche Betreuung anbieten
kann, wie wir ihn erlebt haben.
Wir wussten in der Universidad de Antioquia immer, wo unsere Anlaufstelle war. Wir
waren bestens umsorgt, wir fragen uns, ob die PHBern so etwas auch anbieten kann? Die
Flexibilität, die wir an der Universidad de Antioquia erlebt haben, war riesengross und hat
uns gerade am Anfang sehr geholfen. Wir denken, dass man sich an der PHBern
diesbezüglich einige Gedanken machen müsste. Ausserdem denken wir, dass Studierende
aus Kolumbien nicht zu viele Vorlesungen haben sollten sondern mehr in Seminaren
untergebracht werden sollten. Nicht weil die Vorlesungen inhaltlich zu einer Überforderung
führen könnten, sondern weil es in Seminarveranstaltungen einfacher ist, persönliche
Kontakte mit Studierenden und Dozierenden zu knüpfen. Wir sehen in einem reziproken
Austausch mit der Universidad de Antioquia die Möglichkeit den Grundgedanken eines
Mobilitätssemesters grundlegend zu verändern. Wir sehen eine Veränderung darin, dass der
Schwerpunkt eines solchen Semesters nicht der Erwerb neuer Sprachenkenntnisse und die
persönliche Horizonterweiterung sein sollte, sondern der Austausch von fachlichem Wissen,
von Haltungen und menschlichen Erfahrungen. Uns schwebt eine Globalisierung von Wissen,
Fähigkeiten und Kenntnissen durch ein Mobilitätssemester vor.
Zur Vorbereitung scheint uns zentral, dass die Studierenden von den doch
unterschiedlichen Bildungssystemen Bescheid wissen, so dass die Lehrerinnen- und
Lehrerbildung kontextualisiert und aus dem jeweiligen Kontext heraus verstanden werden
kann. Etwas über die Geschichte und Politik des jeweiligen Landes zu wissen, ist sicherlich
genauso von Vorteil wie eine grundsätzlich positive, offene und neugierige Haltung.
Wir fänden es sehr wichtig, dass die zukünftigen Austauschstudierenden an beiden
Hochschulen (in Medellín und in Bern) die Möglichkeit erhielten, ein Praktikum zu
absolvieren. Gerade im Lehrberuf ist es wichtig, viele praktische und vor allem verschiedene
Erfahrungen sammeln zu können. Dass der kolumbianische Schulalltag nicht der gleiche wie
der schweizerische Schulalltag ist, liegt auf der Hand. Es wäre eine unheimliche
Horizonterweiterung gewesen, wenn wir in Medellín ein richtiges Praktikum hätten machen
können um zu erfahren, welche Methoden angewendet und welche Inhalte vermittelt
werden und wie die Klassenzusammensetzung jeweils aussieht. Wir hatten die Möglichkeit,
einmal privat einen Schulbesuch zu machen, der sehr beeindruckend war und Lust auf mehr
gemacht hat. Die Möglichkeit einer solchen Lehrerfahrung sollte man in unseren Augen nicht
ungenützt lassen. Ob Praktika machbar sind, sollte unbedingt von vornherein klar sein. So
können die jeweiligen Studierenden sich etwas vorbereiten und vielleicht Lehrmittel
(müssen ja nicht Bücher sein) mitbringen. Zum Beispiel Lieder, Spiele, didaktische Konzepte
usw. Die müssten dann bestimmt angepasst werden, aber so wäre der Austausch auch im
Klassenzimmer gewährleistet. Die Praxislehrpersonen spielen dabei eine grosse Rolle, diese
müssten mit grosser Sorgfalt ausgewählt werden. Wahrscheinlich wäre eine Kombination
aus Halbtages- und Blockpraktikum am sinnvollsten.
Wir haben eine unglaubliche Erfahrung gemacht und dafür sind wir extrem dankbar.
Für uns besteht kein Zweifel, dass, wenn Studierende aus der Universidad de Antioquia an
die PHBern kämen oder sich Studierende der PHBern für ein Semester an der Universidad de
Antioquia vorbereiten, wir gerne in diesen Prozess eingebunden werden würden. Es wäre
uns eine Ehre. Wir können uns verschiedene Rollen in diesem Prozess vorstellen.
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Angefangen damit, Ansprechpersonen für Studierende der PHBern zu sein,
Informationsveranstaltungen zu gestalten. Wir bieten gerne auch Hilfe an, wenn
Studierenden von Medellin hier herkommen, sei es bei der Wohnungssuche, als
Kontaktpersonen, bei der Auswahl der Module usw. Falls wir bis dahin eine eigene Klasse
unterrichten, sind wir auch bereit, einen Praktikumsplatz anzubieten oder schlichtweg als
Begleiter für Praktika zu dienen. Wir würden sehr gerne in die Betreuung von
Mobilitätsstudierenden einbezogen werden.
An dieser Stelle möchten wir nochmals all den unzähligen Personen, die an diesem
Prozess beteiligt waren, herzlichen Dank für die Begleitung, Unterstützung, Wärme und
Liebe ausdrücken. Wir sind uns bewusst, dass dieses Mobilitätssemester ohne die vielen
Personen um uns, nicht diesen Erfolg gehabt hätte. Danke!
4 Literatur
Allmendinger, Jutta (1989): „Educational Systems and Labor Market Outcomes“. In:
European Sociological Review, Jg. 89, Nr. 5. S. 231-250.
Altillo el portal de los estudiantes (2011): „Universidades en Colombia. Listado de
Universidades privadas y públicas de Colombia ordenadas por Departamento.” URL:
http://www.altillo.com/universidades/universidades_colombia.asp [Stand: 17. August
2011].
Consejo Academico de la Universidad de Antioquia (2011): „Consideraciones preliminares
del Consejo Académico frente a la Reforma de la Ley 30. Comunicado 77.” URL:
http://www.udea.edu.co/portal/page/portal/bActualidad/Principal_UdeA/noticias2/re
formaLey30/Consejo%20Acad%C3%A9mico%20presenta%20consideraciones%20preli
minares%20frente%20a%20Reforma%20de%20la%20Ley%2030 [Stand: 18. August
2011].
Hall, Stuart (2004): Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. (Hrsg.):
Koivisto Juha, Merkens Andreas. Hamburg: Argument Verlag, S. 108-163
Müller, Walter & Shavit, Yossi (1998): „Bildung im institutionellen Kontext“.
In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 98, Nr. 1. S. 501-533.
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