Familie
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Mai 2012 Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband Familie Inhalt 2 Editorial Ein Abenteuer Familie Ich sehe mein Kind mit den Händen Blinde Eltern «Ich kenne nichts anderes und möchte es nicht eintauschen» Zum Wohle des Kindes Verweigerte Adoption Heimatlos 3 4 9 14 18 22 25 Fokus Zu viel ist zu viel! 27 Behinderte, setzt keine Kinder in die Welt!29 Magazin E-Voting für alle Nasbüechli – Eine Duftreise von Yvonn Scherrer Was Analphabeten nützt, kommt Blinden und Sehbehinderten zugute Autonomes Reisen mit PAVIP Verband Lobbyarbeit als Hebel für unsere Interessenvertretung Nachruf: Theres Wüthrich Veranstaltungen 31 32 34 35 37 38 39 Impressum43 Titelbild Strandspaziergang der Familie Müller. Papa ist blind und Hänschen klein mag nicht immer an der Hand von Mama gehen. Solches und Ähnliches liest auch der ungeübte Fährtensucher in den Fussspuren auf dem Titelbild. Editorial 3 Ein Abenteuer Naomi Jones Bis zur Geburt meiner Tochter, war es für mich völlig selbstverständlich, dass blinde und sehbehinderte Menschen Eltern sind. Erzählte mir eine blinde Frau von ihren Kindern, so klang dies wie bei jeder anderen Mutter. In meinem Quartier lebte eine Frau mit zwei kleinen Buben. Sie zog den Kinderwagen mit dem Grösseren drin hinter sich her. Den Kleineren trug sie auf dem Rücken. Sie selbst liess sich von einem Hund führen. Ich sah das Gespann manchmal von weitem und dachte mir nichts dabei. Während meinem Studium jobbte ich in einer Bibliothek. Regelmässig kam ein blinder Vater mit seinen schulpflichtigen Kindern zu mir an den Schalter. Wollten die Kinder einen nicht altersgerechten Film ausleihen, machte ich eine Bemerkung, so dass der Vater reagieren konnte. Das kam aber nicht oft vor. Denn der Vater reagierte und die Kinder versuchten nicht mehr, etwas an ihm vorbei zu schmuggeln. Auch hierbei dachte ich mir nicht viel. Denn ich machte bei allen Kindern eine Bemerkung, wenn sie etwas zu ergattern versuchten, was noch nicht für sie gedacht war. Als meine Tochter zur Welt kam, war alles an ihr so zart, dass ich mich fast nicht traute, sie zu wickeln oder anzuziehen. Sie war von Anfang an ein lebendiges Kind und strampelte wild mit den Beinchen. Mehrmals wäre sie mir beim Baden beinahe aus den Händen gerutscht. Da fragte ich mich zum ersten Mal: Wie machen das blinde Mütter bloss? Mittlerweile ist meine Tochter ein pausbäckiges Baby, das schon bald überall hin kriecht und seine Händchen flink zu gebrauchen weiss. Fröhlich testet sie jedes Ding auf seinen Geschmack. Für blinde Eltern ist diese Phase eine grosse Herausforderung. Aber wie alle Eltern müssen sie ihren individuellen Weg finden, um den Alltag mit ihren Kindern zu bewältigen. Der Austausch mit anderen sehbehinderten Eltern hilft, Lösungen zu finden. Dies umso mehr, als Naomi Jones, Redaktorin «der Weg». (Foto: Luzius Dinkel) viele Menschen mit einer Sehbehinderung ihre Schulzeit im Internat und fern der Familie verbracht haben. Das fehlende Vorbild aus der Herkunftsfamilie verunsichert zusätzlich, wenn es um Familiengründung geht. Im vorliegenden Heft versuchen wir eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie das Leben mit Kindern für sehbehinderte Eltern aussehen kann. Wir hoffen, jungen blinden und sehbehinderten Menschen mit Kinderwunsch Mut zu machen, das Abenteuer Familie zu wagen. Denn ein Abenteuer ist die Familiengründung alle Weil. «Aber man darf dem Leben ruhig vertrauen.» Niemand weiss dies besser als Pina Dolce, eine der befragten blinden Mütter. Familie 4 Ich sehe mein Kind mit den Händen Manuela von Ah Simone Rentsch sieht ihr Kind nicht gross werden. Oder wegspringen. Sie ist blind. Ein Tag im Leben einer Mutter mit Handicap. Walnussgrosse Augen, blondes Haar, hübsch wie ein Engel. So beschreiben Freunde und Bekannte Surya (2½). Gesehen hat Simone Rentsch (35) ihre Tochter noch nie. Aber sie weiss, wie sich ihr Engel anfühlt. Das Leben meistert die blinde Mutter ohne Augenlicht, aber mit Weitsicht. Links unten lagern die Pfannen, rechts oben der Reis, die Kochkelle steht im Tonkrug neben der Herdplatte – Simone Rentschs Hände tanzen über die Ablage. Sie zieht Schubladen, öffnet Kästchen, streicht über Gewürzgläschen, die in Blindenschrift Auskunft über den Inhalt geben. Bald zieht der Duft von Spinatrisotto und gebratenen Zwiebeln durch die Küche. Bloss der Hackbraten bereitet Mühe: Bei 180 Grad im Ofen schmoren bis er Farbe zeigt, hat der Metzger geraten. Was heisst das, Farbe zeigen? Simone Rentsch ist seit ihrer Geburt blind. Sie kam als Frühchen zur Welt, kurz darauf zerstörte ein zu hoch konzentrierter Sauerstoffgehalt im Brutkasten die zarte Netzhaut. Eine leise Ahnung von hell und dunkel ist alles, was Simone Rentsch an Sehvermögen ins Leben mitnimmt. Umso intensiver haben sich ihre Eltern um die gesunden Sinne ihres Einzelkindes gekümmert. Und um Normalität. Der Vater bastelte ihr ein 3-stöckiges Puppenhaus, installierte Lämpchen und Lichtschalter und legte rote, grüne und gelbe Teppiche in die Zimmerchen. Weil Simone die Vorstellung von Farbe faszinierte und sie die Eltern mit Fragen danach löcherte. «Surya, willst du den Tisch decken?» Das Mädchen drapiert fantasievoll die Gläser, Gabeln und Messer um die bereitgestellten Teller. Dann klettert sie auf den Trip Trap und kostet den Reibkäse aus dem Schälchen. Löffelweise. «Surya, du musst warten!» Die Mutter hat den Deckel klap- pern hören. Die Kleine nascht geräuschlos weiter. Sie schielt zur Besucherin, guckt ungläubig, als diese den Kopf schüttelt. Simone Rentsch weiss, dass Surya sie hie und da auszutricksen versucht, die Grenzen austestet wie alle Kinder eben. Sie nimmt es gelassen. Denn wo ihre Augen nicht sehen, da übernehmen die Ohren. «So nicht!», weise sie Surya manchmal zurecht worauf ihr Mann verblüfft nach dem Grund frage. Für Simone Rentsch sind Hintergrundgeräusche kein Tongeplätscher, sondern ein aufschlussreiches Klanggemälde. Die Welt lernte Simone Rentsch mit den Fingerspitzen kennen, erschnupperte sie mit der Nase, folgte ihren Ohren. Ihr Bildungswerkzeug waren Gehör und Blindenschrift. Die Matura machte Simone Rentsch in Sierre, danach studierte sie in Genf Deutsch und Englisch, inklusive Auslandsemestern. Heute arbeitet sie einen Tage pro Woche als Übersetzerin bei einer Stiftung in Bern. Sie ist froh, Surya an diesem Tag einer Tagesmutter übergeben zu können, «tschüss zäme» zu sagen und nach Bern zu pendeln. Bin ich eine gute Mutter? In Grafenried, hier wohnt sie, haben die Bauernhäuser die Familie Dächer tief in die Stirn gezogen und die Bise die Wolken über die Felder. Simone Rentsch kennt die Einsamkeitsgefühle der ans Haus gebundenen Mutter. Vielleicht mehr als andere. Weht ein starker Wind, bleibt sie daheim. Weil sie draussen die Geräusche nicht mehr einordnen kann. Weil Suryas Stimme zu schnell im Tosen untergehen würde. Und weil Simone Rentsch befürchtet, beim Überqueren der Strasse nahende Autos zu spät zu hören. Die wenigsten Autofahrer wissen, dass sie anhalten müssen, wenn ein Blinder mit Stock am Strassenrand steht. Mutig sei sie, hört Simone Rentsch manchmal, ein Kind in die Welt zu setzen. Macht sie das stolz? Oder verletzt es sie? Weder noch. Klar habe sie sich vor der Geburt manchmal gefragt, ob sie ihrem Kind eine gute Mutter sein könne. Ob sie ihm eine sichere und glückliche Kindheit Surya trickst ihre Mutter auch mal aus. 5 garantieren könne. Und welchen Schwierigkeiten sie wohl begegnen würde. Wie jede reflektierte Mutter fragt sie auch heute hie und da nach den eigenen blinden Flecken. Papa schneidet Fingernägel Gewiss ist: Blinde Eltern verfügen über ein geschärftes Sicherheitsbewusstsein. Seit Surya auf der Welt ist, wechselt Simone Rentsch die Windeln auf dem Boden. Notgedrungen, damit die Kleine nicht fällt. In der Krabbelphase gehörten Türund Treppenschutzgitter zur Grundausstattung. (Fotos Athanasiou & Lüem) Familie 6 Umgekehrt weiss Surya jetzt schon, dass sie den Puppenwagen aus dem Weg räumen, das grüne Holzkrokodil und die Dominoschachtel in der Spielecke versorgen muss. Damit Mama nicht darüber stolpert und sich weh macht. Wenn Simone Rentsch jedoch jemanden zu Surya sagen hört: «Du bist deiner Mama aber eine gute Hilfe», ärgert sie das. Nein, diese Verantwortung soll ihr Kind nicht tragen müssen. «Surya muss doch nicht mein fehlendes Sehvermögen ersetzen – sie hat genug zu tun mit ihrem Kindsein», sagt Simone Rentsch und zeigt schon wieder ihr schönes Lachen. Erfindungsgabe, das ist eine weitere Eigenschaft, für die sie das Leben in Dunkelheit geschult hat. Da ausser ein paar Tastbücher kaum Bilderbücher für blinde Eltern existieren, kennzeichnete Simone Rentsch die Seiten kurzerhand mit Brailleschrift. Manches Buch ist dafür aber schlicht zu komplex; dann plaudert Surya eben gleich selber über die Bauern, Kühe, Schafe, die sie auf den Bildern sieht. Oder Papa erzählt. Überhaupt übernimmt er alles, was mit sehenden Augen «gäbiger» zu erledigen ist: Fingernägelchen schneiden, Kleider auf Schmutzflecken hin absuchen, Surya das Laufradfahren beibringen. Ein engagierter Vater. Über Simone Rentschs stets halbgeschlossene Augen gleitet ein Lächeln, wenn sie von der ersten Begegnung erzählt. Im Tandemverein suchte man nach neuen Piloten – Fahrer, die vorne sitzen. Simone wurde der Mann mit der sympathischen Das kleine Mädchen hilft ihrer Mutter gerne, z.B. beim Tischdecken. Jedoch muss sie nicht helfen, um Simone Rentschs fehlendes Sehvermögen zu ersetzen. Familie Stimme zugeteilt. Schon auf der ersten Fahrt spürte sie: Der Rhythmus stimmt. Der trockene Humor auch. «Hast du 9/11 schon gesehen?», fragte Simone ihn kurz nach der Premierenfahrt. Nach dem Kinobesuch diskutierten die beiden bis spät in die Nacht über den dialogreichen Film. Seither bedeutet der Mann an ihrer Seite Simone viel mehr als der Ersatz für das fehlende Augenlicht. Nach dem Mittagessen will Surya «zu den Fischen», das Synonym für den Tierpark Dählhölzli in Bern. Ein Unterfangen, das Simone Rentsch nur bieten kann, wenn jemand sie begleitet. Das Laufgeschirr ist unabdingbar, die Mutter zieht es Surya stets an, bevor sie das Haus verlässt. Andere mögen sich angesichts des «Gschtältli» über das beschnittene Freiheitsgefühl der Kinder ereifern, für Surya ist es überlebenswichtig. Simone Rentsch hält die Leine eng um die linke Hand gewickelt, ihre rechte schwingt den Blindenstock in kleinem Radius hin und her. Tock, tock, tock, ein Meter gefühlte Sicherheit, dahinter Stimmfetzen, Dröhnen, Hupen, Brummen – die Stadt als kakofonischer Moloch. Niemand achtet auf das kleine Händchen, das sich am Fussgängerstreifen aufspannt und den Autos anzuhalten gebietet. Eine Gewohnheit vom Land. Auf den verkehrsreichen Strassen aber regieren die Ampeln: rot, grün, rot. Für Surya ist die Blickdistanz über die Hauptstrasse zu gross, zu abgelenkt sind die Kinderaugen vom Trubel und Treiben. Für Simone Rentsch Stress pur. Sie ist angewiesen auf die gelben Blindenvibratoren, auf die weissen Leitlinien am Boden, auf die Hilfe von Passanten. «Surya, wo bist du?» Endlich, im Vivarium des Tierparks legt sich die feuchte Luft wie eine Decke über die Besucher, erdig und schwül riecht es hier im Tropenhaus. Simone Rentsch nimmt Surya das «Gschtältli» ab, vertraut auf die Aufsicht von aussen. Und schickt doch immer wieder ein fragendes «Surya?» in den Raum. Surya verschwindet nie ganz. Sie 7 erkundet die Tiere, rennt zurück, hin und her, wie an ein unsichtbares Gummiband geknüpft. «Siehst du den Nashornleguan dort hinten im Sand?», fragt ein Vater seinen Sohn. Surya drängt sich neben den Jungen, drückt die Nase an die Glasscheibe, scheint die Eindrücke mit den Augen zu trinken. Zwergkrokodil, farbige Fische, Robben mit Kugeläuglein – Simone Rentsch wird ihrer Tochter nie sagen: «Guck mal!» Ja, manchmal tut das weh. Für eine Zeichnung loben, Weihnachtssterne nach Vorlage basteln, Schönschreiben beibringen: geht nicht. Da ist ein Vakuum, das andere Menschen füllen müssen. Wackelige Hängebrücke Andererseits: Masst sich jemand an, seinem Kind in all seinen Ansprüchen und Bedürfnissen allein gerecht zu werden? Ein ganzes Dorf brauche es für die Erziehung eines Kindes, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Simone Rentsch weiss, dass andere Kinder wichtig sind für die Entwicklung von Surya. Deshalb packt sie jede Gelegenheit, mit der Kleinen einen Spielplatz zu besuchen. So wie jetzt. Aus dem Tierpark drüben quaken die Enten, im Hintergrund rauscht die Aare, Kinderstimmen sirren durch die Luft. Simone Rentsch fühlt den sicheren Tartanboden unter den Füssen und entlässt Surya in die Szenerie eines ungefähren Familie 8 Bildes in ihrem Kopf. Sie freut sich zu hören, dass ihr Kind die Holzleiter hochsteigt, sich auf die wackelige Hängebrücke wagt und auf die breite gelbe Rutschbahn setzt: «Mama, ich komme!» Simone Rentschs Arme rudern kurz verloren in der Luft, Surya landet dicht neben ihr auf dem Hintern. Halb so schlimm. Die Mutter streichelt über die Engelslocken, küsst ihr Mädchen auf die Wange. Zuwendung und Optimismus als Rückenwind in die Zukunft ihres Kindes. Weitsicht braucht Herz und Verstand. Nicht nur Augen, die sehen können. Manuela von Ah ist Stv. Chefredaktorin von «wir eltern». Das Porträt von Simone Rentsch ist im März 2012 in der Zeitschrift für Mütter und Väter in der Schweiz erschienen. www.wireltern.ch. Wir danken für die freundliche Genehmigung der Publikation. Inserat Ausbildungskurs für Teilzeit-Punktschriftlehrer/innen Im Auftrag der Deutschschweizer Blindenschriftkommission wird 2013 wiederum ein Ausbildungskurs für TeilzeitPunktschriftlehrer/innen organisiert. Der Lehrgang richtet sich an blinde oder stark sehbehinderte Personen, die interessierte und erfahrene Anwender/ innen der Blindenschrift sind. Voraussetzungen sind: Freude am Umgang mit Menschen, Geschick im Anleiten, Fähigkeit zu motivieren, gute Allgemeinbildung, abgeschlossene Berufsausbildung oder höherer Schulabschluss sowie das einwandfreie Beherrschen der Voll- und Kurzschrift. Der Kurs beinhaltet 6 Blocktage sowie das Erfüllen von 6 fachspezifischen Lernzielen. Vorgängig ist das Studium umfangreicher Kursunterlagen erforderlich. Es wird erwartet, dass die Teilnehmer/innen bis zur Abschlussprüfung des Kurses den vom SZB angebotenen Sensibilisierungskurs «Aspekte verschie- dener Fachbereiche im Sehbehindertenwesen» besucht haben. Kosten: Fr. 1200.– (ohne den SZB-Kurs) Anmeldeschluss für die Aufnahmeprüfung: 16. September 2012. Interessierte können eine Informationsmappe beziehen, in der sich Angaben zur Ausbildung, zum Aufnahmeprozedere in den Ausbildungskurs so wie zur Selbstüberprüfung der eigenen Punktschriftkenntnisse befinden. Die Kursorganisatorinnen stehen gern für weitere Auskünfte zur Verfügung. Anita Häni, Tel.: 078 712 59 65 Rose-Marie Lüthi, Tel.: 043 288 93 03 Hanni Wüthrich, Tel.: 031 941 48 74 Bezug der Informationsmappe und Kursanmeldung bei: Hanni Wüthrich-Ehrat Jupiterstr. 57/315 3015 Bern E-Mail: hh.wuethrich@bluewin.ch Familie 9 Blinde Eltern Naomi Jones «Kinder zu haben, ist die natürlichste Sache der Welt», sagt Pina Dolce. Und dies gilt glücklicherweise auch für sehbehinderte und blinde Menschen. Denn Dolce, seit drei Jahren Mutter, ist blind. Und doch erleben blinde Eltern immer wieder, dass sie als Eltern bei Nichtbehinderten Reaktionen auslösen. Sei es, dass sie bewundert werden, sei es, dass ihnen Verantwortungslosigkeit vorgeworfen wird. Denn wenn Menschen mit einer Behinderung eine gesellschaftliche Minderheit darstellen, so sind Eltern mit einer Behinderung geradezu exotisch. Und allgemein gilt: Wenn es um Kinder geht, fühlen sich wildfremde Menschen berechtigt, sich einzumischen. Wer eigene Kinder hat, weiss wie anspruchsvoll diese sein können. Wie lässt sich nun das Aufziehen von Kindern trotz einer Behinderung bewältigen? Die Frage zumindest ist berechtigt. «Ich habe mich während der Schwangerschaft oft gefragt, wie das denn geht», erzählt Pina Dolce. Sie bereitete sich intensiv auf die Zeit mit dem Baby vor. Sie nahm Kontakt zur Mütter- und Väterberatung auf. Vor allem aber sprach sie mit andern blinden Müttern. Im Strassenverkehr können blinde Eltern ihre Kinder erst frei laufen lassen, wenn diese sich der Gefahr gegenüber absolut richtig verhalten. Familie 10 Mut zum Unkonventionellen Die erste Zeit mit einem Baby ist geprägt vom Stillen, Wickeln, Baden und Tragen. «Ich habe meine Kinder immer im Tragetuch mit mir rumgetragen», erzählt Andrea Blaser, Mutter von drei Jungen im Alter von neun, sechs und fünf Jahren. «So merkte ich immer, wenn das Baby z.B. erbrochen hatte oder schmutzig war.» Auch andere Eltern erzählen, dass sie ihre Säuglinge stets bei sich getragen haben. Die Kleinen fühlen sich in einem Tragetuch so geborgen wie im Bauch der Mutter und durch den engen Körperkontakt entsteht eine starke Bindung zwischen Eltern und Kind. In einem Aufsatz gibt Anette Paul praktische Tipps zur Babypflege. Für sie selbst habe es z.B. grosse Überwindung gekostet, den Sohn zu füttern. Denn sie fürchtete, dass er sich verschmutzen und sie es nicht sehen würde. So zog sie das Bübchen aus, als sie es zum ersten Mal fütterte, und steckte es anschliessend in die Badewanne. Eine andere Mutter setzte ihr Kindchen in die Babywippe und band ein grosses Tuch so um das Baby, dass nur das Köpfchen hervor schaute. Der Körper und die Ärmchen aber waren unter dem Tuch. Da es auch normalsehenden Eltern nicht gelingt, ihr Baby ohne Spuren zu füttern, gibt es bei jedem Anbieter von Babyutensilien Lätzchen mit Ärmeln. Blinde Eltern betonen, dass in der Baby- und Kleinkindpflege vor allem Kreativität und Fantasie gefragt sind. Es geht darum, Probleme zu lösen und die sind in jeder Situation anders. Anette Paul, die offen über ihre unkonventionellen Lösungen spricht, erzählt, dass sie ihr nach einem Sturz schreiendes Kind auch schon mal abgeleckt habe, um eine mögliche Wunde zu finden, als ihre Hände dafür zu kalt waren. Pragmatische Kinder Schon in den ersten Lebenstagen beginnen Säuglinge, mit Blicken zu kommunizieren. Bereits im Alter von wenigen Wochen schauen sie in Gesichter und spiegeln diese. Wird das Baby angelacht, lacht es zurück. Sehr bald benutzen Säuglinge den Gesichtsausdruck der Eltern als Referenz. Bei allem, was neu und unbekannt ist, schauen sie rasch zu ihrer Bezugsperson. So lernt das Baby, wie es Situationen einschätzen soll. Im Umgang mit blinden Menschen sind sehende Babys daher irritiert. Sie erhalten keine Reaktion auf ihren Blick. Der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Watson filmte eine blinde Mutter und ihr sehendes Baby während einem Jahr immer wieder. Dabei beobachtete er, dass sich das Kind sehr rasch auf die Situation der blinden Mutter einstellte. Während es im Gesicht des sehenden Vaters die Augen als Referenz suchte, suchte es diese bei der Mutter nicht, sondern schaute als kleiner Säugling von der Mutter weg, bevor es lernte ihre Mimik zu lesen. Dafür war die Kommunikation über die Sprache und die Berührung schon sehr früh stark ausgeprägt. So konnte Watson etwa zusehen, wie das Baby die Hand der Mutter dahin führte, wo es ihr etwas zeigen wollte. Verschiedene blinde Eltern berichten von ähnlichen Erfahrungen. «Kinder gehen pragmatisch mit ihrer Welt um», erklärt Watson. «Die Entwicklung von Kindern blinder Eltern läuft vermutlich etwas anders ab, bzw. in anderer Reihenfolge, als die von Kindern sehender Eltern. Punktuell können sie früh eine grosse Selbständigkeit entwickeln.» Familie Auch die Psychologin Eva-Maria Glofke-Schulz weist auf die grosse Resilianz (Widerstandsfähigkeit gegenüber Frustrationen) von Säuglingen hin. Diese würden über viel Interaktionskompetenz verfügen und «Wege finden, sich der sehgeschädigten Bezugsperson verständlich zu machen.» Die Psychologin rät blinden Eltern zu Gelassenheit statt Selbstzweifel bezüglich der eigenen Behinderung. Umgang mit Gefahren Für die meisten blinden Eltern ist vor allem das Kleinkindalter sehr anstrengend. Das Kind wird zunehmend mobiler. Aber es ist noch nicht in gleichem Mass vernünftig. Es krabbelt hier hin und da hin und will die Welt entdecken. Es steckt in den Mund, was es zu greifen kriegt. «Ich musste als Mutter sehr präsent sein», erzählt Pina Dolce. «Ich bin den ganzen Tag mit meinem Sohn rumgekrochen und habe nichts anderes getan, als mit ihm zusammen zu sein.» Andere Eltern binden ihren Kindern Glöckchen an die Kleider, damit sie hören, wo sich das Kind gerade aufhält. Birgit Schopmans, die in zwei Texten von ihren Erfahrungen als blinde Mutter berichtet, vertraut auf ihre Intuition. Tochter Hannah mache normalerweise immer ein Geräusch. Und erst wenn es mal auffällig ruhig sei, müsse sie als Mutter sich sorgen. Alle blinden Eltern berichten, dass sie ihre Wohnung zu Beginn der Krab- 11 belphase kindersicher ausgerüstet haben. Messer, Alkohol und Putzmittel dürfen nicht rumliegen. Der Babybedarf bietet Lösungen für Steckdosen und Kochherd. Es gibt Kindersicherungen für Schränke, Türen und Treppen. Denn kleine Kinder sind furchtbar flink und die Gefahrenquellen sind für Kinder von normalsehenden Eltern die gleichen wie für Kinder von sehbehinderten Eltern. Draussen ist der Strassenverkehr die grosse Gefahr. «Ich war diesbezüglich immer wahnsinnig streng», sagt Andrea Blaser. Das Kind muss, wenn es nicht an der Hand geht, aufs Wort gehorchen. Alles andere kann tödlich sein. Ähnlich äussern sich andere blinde Eltern. Doch es ist genau das Wesen von kleinen Kindern, dass sie nicht zu hundert Prozent zuverlässig sind. Kinder sind nicht die Assistenten ihrer behinderten Eltern. Im Laden bittet Simone Rentsch die Verkäuferin um Hilfe. (Fotos Athanasiou & Lüem) Familie 12 In ihrer Studie über körper- und sinnesbehinderte Eltern beschreibt Gisela Hermes verschiedene Strategien von blinden Eltern, damit das Kind die Blindheit der Eltern nicht als Schwäche erlebt und auszunutzen versucht. Gerade weil es die Gefahren noch nicht kennt, müssen sich blinde Eltern soweit als möglich darauf verlassen können, dass sich das Kind nicht z.B. in einem ernsten Moment vor ihnen versteckt. Deshalb spielt ein Vater mit seiner Tochter immer wieder Verstecken in der Hoffnung, dass sie wenn nötig den Unterschied zwischen Spiel und Ernst erkennt. Eine Mutter versucht ihr Kind gar nicht erst merken zu lassen, dass sie es sucht. Sie beginnt ganz nebenbei ein Gespräch mit der Tochter, um herauszufinden, wo sie gerade ist. Diese Mutter berichtet ausserdem, dass sie manchmal sogar auf der Strasse Grenzüberschreitungen der Tochter bewusst ignoriere, um Machtkämpfe zu vermeiden. Ein gutes Umfeld und seine Tücken Es gibt fast für alles eine Lösung. Dennoch, so berichten die meisten Eltern mit einer Behinderung, gibt es Grenzen des Machbaren. Alle blinden Eltern berichten, dass sie für gewisse Dinge Hilfe von normalsehenden Personen in Anspruch nehmen – mal abgesehen davon, dass auch nichtbehinderte Eltern immer wieder auf Unterstützung von Dritten angewiesen sind. Ein alleinerziehender blinder Vater etwa schickt seine Tochter mit den Nachbarn zum Schwimmen. Dafür dürfen diese Nachbarn seine Garage benutzen. Eine blinde Mutter leistet sich eine Assistenz, um mit ihren Kindern Freizeitaktivitäten zu unternehmen, die ihr alleine nicht zugänglich sind. Eine andere Mutter bringt den Sohn zu einer Tagesmutter, um die grossen Einkäufe stressfrei zu tätigen. Ist ein Elternteil sehend, so teilen sich die Partner, die Aufgaben gemäss ihren Fähigkeiten, so wie dies auch bei nichtbehinderten Paaren der Fall ist. Bei der Familie Blaser z.B. ist der Vater für die Ballspiele, die blinde Mutter hingegen fürs Vorlesen zuständig. In ihrer Studie thematisiert Gisela Hermes die Vor- und Nachteile von verschiedenen Modellen der personellen Unterstützung. Nebst der Partnerschaft sind dies vor allem die persönliche Assistenz, Familie und Freunde sowie Nachbarn. Männern fällt es laut Hermes leichter, Nachbarn um einen Freundschaftsdienst zu bitten. Frauen bevorzugen bezahlte Assistenzen. Hier behalten sie die Kontrolle und sind zu keiner Dankbarkeit verpflichtet. Engagieren sich Verwandte und Freunde in der Familie sind Dankbarkeit und Abgrenzung ein Thema. Denn oft mischen sich gerade helfende Angehörige in die Erziehung des Kindes ein und meinen zu wissen, was das Beste für dieses sei. Oder sie möchten gerne selber eine intensive Beziehung zum Kind aufbauen. Für die behinderten Eltern ist es in solchen Situationen oft schwierig, Grenzen zu setzen. Sie riskieren, sich die Hilfe zu verspielen. Anette Paul ermutigt blinde Frauen deshalb dazu, im Umgang mit ihren Kindern möglichst viel selbst auszuprobieren und sich nicht aus Unsicherheit und Bequemlichkeit helfen zu lassen. Anders und doch gleich Spätestens wenn das Kind in den Kindergarten und in die Schule kommt, wird es merken, dass seine Mutter oder sein Familie Vater anders ist. Es wird sich mit Fragen von Kameraden konfrontiert sehen und selber Fragen haben. Birgit Schopmans erzählt, dass ihre Tochter sich erst ab dem Kindergartenalter für die Behinderung der Mutter interessierte. Dann wollte sie wissen, warum die Mutter blind sei. Schopmans meint, es könne sinnvoll sein, eine Unterrichtseinheit zum Thema Blindheit zu organisieren. So könne man alle Fragen auf einmal beantworten. Bei andern gehört das Fragen zum Alltag. Die meisten Eltern erzählen, dass die Fragen der Kinder natürlich kommen, die Blindheit der Eltern aber nie ein grosses Thema ist. Andrea Blasers Söhne fragen einfach immer mal wieder: «Mama, wie machst du das?» Viele Kinder empfinden die Blindheit der Eltern nicht als Behinderung. Sie orientieren sich an den Fähigkeiten ihrer Eltern. Das Blindsein gehört selbstverständlich zu diesen. Gisela Hermes gibt in ihrer Studie ein rührendes Beispiel dafür: Die kleine Marlen streitet sich im Kindergarten mit ihren Spielkameraden: «Mein Vater ist nicht blind, der kann nur nicht sehen.» 13 Literatur: –Gisela Hermes: Behinderung und Elternschaft leben – kein Widerspruch. Eine Studie zum Unterstützungsbedarf körper- und sinnesbehinderter Eltern in Deutschland. Neu-Ulm, 2004. –Anette Paul: Mutter sein unter dem Aspekt der Blindheit. In: «horus – Marburger Beiträge zur Integration Blinder und Sehbehinderter 3/1990». –Eva Maria Glofke-Schulz: Ich sehe etwas, das du nicht siehst! Sehgeschädigte Eltern und ihre Kinder. In: Gegenwart, Magazin für blinde und sehbehinderte Menschen und ihre Freunde, 64. Jahrgang, 7/8, 2010. –Birgit Schopmans: Von Rückentragen, Tastbaren Bilderbüchern und dem Spiel mit dem Weissen Stock. Blitzlichter aus dem Alltag einer blinden Mutter. Zu finden auf http://projekte.sozialnetz.de/ca/bax/bbev. –Birgit Schopmans: Mama, warum bist du blind? Blitzlichter aus dem Alltag einer blinden Mutter. In: «horus – Marburger Beiträge zur Integration Blinder und Sehbehinderter 1/2005». Inserat Für Kurzentschlossene: Auf nach Solothurn! Besuchen Sie uns am Auffahrtswochenende an den Solothurner Literaturtagen! Im Dunkelzelt vor der Kreuzackerbrücke gibt es ein attraktives Programm mit der bekannten blinden Radio-Redaktorin Yvonn Scherrer und vielen interessanten Gästen. Life treten u.a. auf: Der Wortakrobat Lorenz Pauli, der Klangforscher Andre Bosshard und der Liedermacher «Spürfuchs». Und Yvonn Scherrer stellt ihr eigenes «Nasbüechli» vor – eine Reise durch die Welt der Düfte. Der Eintritt ins Dunkelzelt ist frei. Das Programm finden Sie unter: www.literatur.ch und auf Televox Rubrik 812. Familie 14 «Ich kenne nichts anderes und möchte es nicht eintauschen» Olivier Schmid Christian Gehri hat blinde Eltern. Was für den 28-Jährigen völlig normal ist. Er lernte bereits früh, Verantwortung zu übernehmen und selbständig zu denken, wofür er dankbar ist. «der Weg»: In welchem Alter hast du realisiert, dass deine Eltern blind sind? Christian Gehri: Da ich nichts anderes kannte, ist dies schwierig zu sagen. Ich denke, es war ein kontinuierlicher Prozess. Zum einen hörte ich von anderen Leuten, dass meine Eltern blind seien, und zum anderen merkte ich es vielleicht daran, dass meine Schwester und ich meinen Eltern das eine oder andere mehr helfen mussten als andere Kinder. Bei welchen Tätigkeiten unterstütztet ihr eure Eltern? Es handelte sich um dieselben Tätigkeiten, bei denen auch Kinder von sehenden Eltern mithelfen müssen, zum Beispiel im Haushalt helfen oder zum Einkaufen mitgehen. Aber natürlich gingen wir mit unseren Eltern oft als Begleitpersonen mit auf einen Ausflug. Haben deine Eltern von dir Verständnis für ihre Blindheit erwartet? Vielleicht Verständnis in dem Sinne, dass sie an meine Eigenverantwortung appellierten, wenn sie mir etwas verboten, an meine Moral im Sinne von: «Es wäre nicht fair, wenn du es trotzdem machst, da wir es nicht kontrollieren können.» Und, nützte ihr Appell? Oder hast du sie ausgetrickst? Manchmal sicher, wie Kinder sehender Eltern auch. Aber nicht in dem Ausmass, in welchem ich es hätte machen können. Wenn wir zum Beispiel nicht fernsehen durften, haben wir halt manchmal einfach ohne Ton ferngesehen. War aber nur halb so lustig. Aber sonst war ich ziemlich ehrlich. Wenn ich mein Zimmer aufräumen musste, habe ich es in den meisten Fällen auch aufgeräumt und meine Mutter bei der Kontrolle nicht um die unaufgeräumten Stellen herumgeführt. Mir ist nicht bewusst, dass ich etwas verheimlicht hätte. Auch ob ich die Aufgaben gemacht hatte, konnte meine Mutter nicht kontrollieren, sie musste es mir glauben. Deine Ehrlichkeit ist erstaunlich… Ich war sicher nicht immer ehrlich, aber ich versuchte, die Blindheit meiner Eltern nicht auszunutzen. Ich hätte mich schlecht gefühlt. Es ist eine Frage des Respekts. Wenn es hiess, es sei so, habe ich dies akzeptiert, auch wenn ich es in der Mehrheit der Fälle nicht «musste», weil meine Eltern es nicht kontrollieren konnten. Glaubst du, der Umstand, dass deine Eltern blind sind, hat dich in deiner persönlichen Entwicklung positiv beeinflusst und deine Sozialkompetenz gefördert? Familie 15 Ja, ich denke, dadurch, dass ich relativ früh für jemanden anderen mitschauen und mich in ihn hineinversetzen musste, lernte ich sicher früher als Gleichaltrige, die Folgen meiner Handlungen abzuschätzen und Verantwortung zu übernehmen. Ich lernte früher als Gleichaltrige, Entscheidungen zu treffen und selbständig zu sein. Dies war im Verlauf des Erwachsenwerdens sicher ein Vorteil. In welchen Bereichen warst du früher selbständig? Als ich zum Beispiel schon Spaghetti kochen konnte, wussten meine Kollegen noch nicht einmal, dass man dazu Wasser kochen musste! Und als ich mit einem Freund in einem Lebensmittelladen war, hatte er keine Ahnung, wozu eine Bratensauce gut sei! Beim Einkaufen fragte mich meine Mutter nach den Produkten und so lernte ich diese kennen. Für meine Kollegen hingegen war es selbstverständlich, dass die Milch aus dem Beutel kommt und im Kühlschrank steht. Gab es Bezugspersonen in eurem Umfeld, die deine Eltern im Alltag und in der Betreuung ihrer Kinder unterstützten? Mehrere Personen im näheren Umfeld hatten ein wachsames Auge auf uns, darunter vor allem die Gotte meiner Schwester, die im selben Haus wohnte, sowie eine weitere Nachbarin. Als Christian Gehri schon Spaghetti kochen konnte, wussten seine Kollegen noch nicht einmal, dass es dazu Wasser braucht. (Foto: Olivier Schmid) Wie hast du den erweiterten Kreis an Bezugspersonen erlebt? Manchmal war es für mich schwierig, zu akzeptieren, dass sich meine Eltern ihre Meinung aufgrund von Aussagen Dritter machten. Denn so wie ich meine Eltern einschätze, glaube ich, hätten sie zum Teil ganz anders geurteilt und reagiert, wenn sie es mit eigenen Augen gesehen hätten. Umgekehrt konnte ich mit den Kindern der Nachbarin, die älter als ich waren, viele Dinge unternehmen, die meine Eltern mit mir nicht machen konnten. Hat sich deine Einstellung zur Blindheit deiner Eltern während des Erwachsenwerdens verändert? Zur Blindheit der Eltern an sich nicht, aber während ich früher meine Bedürfnisse zurücknahm und auch mal nicht nach draussen spielen Familie 16 ging, sondern sie irgendwohin begleitete, habe ich mit dem Erwachsenwerden gelernt, eine Grenze zu ziehen. Ich helfe ihnen gerne, wenn ich Zeit habe, aber ich kann nicht immer für sie da sein, wenn sie etwas brauchen. Dies ist vielleicht nicht einfach für meine Eltern, aber sie mussten lernen, vermehrt auch Hilfe von Aussenstehenden zu holen. Hast du manchmal irgendetwas vermisst, das dir deine Eltern aufgrund ihrer Blindheit nicht geben konnten? In der Schule mussten wir nach den Sommerferien zeichnen, wo wir in den Ferien waren. Alle zeichneten das Meer. Wir hingegen blieben in der Schweiz, weil wir nicht mit dem Flugzeug oder mit dem Auto irgendwohin fahren konnten. Aber es gibt ja Familien, denen dies aus finanziellen Gründen auch nicht möglich ist. Wohin seid ihr in die Ferien gegangen? Wir verbrachten unsere Ferien regelmässig im Hotel Solsana. Dort hat es mir immer sehr gefallen. Es kamen immer ein paar Familien zusammen. Dies machte Spass und war lustig. Erinnerst du dich an Reaktionen von Aussenstehenden auf die Blindheit deiner Eltern? Es gab Eltern von Kindern im Quartier, die verletzende Bemerkungen fallen liessen wie: «Es ist klar, dass es wieder Christian ist, der das gemacht hat.» Man wurde ein wenig abgestempelt. Aber damals realisierte ich noch nicht, dass es diskriminierend war. Inserat MEZZO Elektronische Grossflächenlupe mit High Definition-Bildqualität. Durch die leichte und handliche Bauweise eignet sich das System besonders für den privaten Bereich und im Haushalt. Das Gerät lässt sich einfach zusammenklappen und in der mitgelieferten Tasche transportieren. Sattelgasse 4 4001 Basel Tel. 061 261 58 72 www.ramstein-optik.ch/lowvision Familie Ist es dir wichtig, was andere über die Blindheit deiner Eltern, in ihrer Rolle als Eltern, denken? Viele Leute können sich gar nicht vorstellen, wie es ist, blinde Eltern zu haben. Sie haben ein Bild, das nicht der Realität entspricht. Sie sagen: «Ihr habt ja gar keine Kindheit gehabt.» Oder: «Warum haben solche Leute überhaupt Kinder.» Wenn ich solche kritischen oder negativen Stimmen höre, kläre ich sie auf und erzähle, wie ich es erlebe. Was sagst du zur Aussage: «Blinde Eltern können ihren Kindern nicht die bestmöglichen Bedingungen zum Aufwachsen bieten»? Es mögen vielleicht nicht die besten Bedingungen sein, aber es mögen sehr gute Bedingungen sein. Was sagst du zur Aussage: «Blinde Eltern können ihre Kinder nicht genügend vor Gefahrensituationen schützen»? Stimmt hinten und vorne nicht. Es spielt keine Rolle, ob sehend oder nicht sehend. Viele Dinge lernt man erst, wenn man sie einmal erlebt hat. So glaubt man erst, dass ein Bügeleisen heiss ist, wenn man sich einmal daran verbrannt hat. Aber es gibt Situationen, die dürfen nicht passieren, zum Beispiel könnte ein Kind, das im Strassenverkehr unvermittelt auf die Strasse rennt, tödlich verunglücken…. Ja, aber während ein Kind von seinen sehenden Eltern vielleicht nur gehört hat, dass es nicht blindlings auf die Strasse rennen sollte, habe ich dadurch, dass ich die Eltern zum Beispiel in den Laden brachte und um Gefahrensituationen herumführte, auch wirklich erlebt, was es heisst, auf Gefahren zu achten. So gesehen ist es eher ein Vorteil als ein Nachteil, blinde Eltern zu haben. Ist der Gebrauch deiner anderen Sinne dadurch, dass deine Eltern blind sind, gefördert worden? 17 Ich weiss nicht, ob der Grund die Blindheit meiner Eltern ist, aber es ist wirklich so, dass ich vieles über mein Gehör wahrnehme. Oft «fernsehe» ich nur über das Gehör. Und im Restaurant achte ich sehr stark auf die Gespräche und Geräusche um mich herum. Und viele Dinge begreife ich viel besser, wenn ich sie berühre oder auseinandernehme, als wenn ich sie nur visuell wahrnehme. Welche sind deiner Ansicht nach wichtige Eigenschaften des Elternseins? (Überlegt lange) Sicher nicht das Sehvermögen oder die Absenz von welcher Behinderung auch immer. Wichtig ist sicher, dass man bereit ist, den Job als Eltern zu übernehmen. Welche Tipps gibst du anderen blinden Eltern? Für mich wäre es manchmal wichtig gewesen, dass sich meine Eltern bei der Bildung ihres Urteils mehr auf ihre Wahrnehmungen und ihr Bauchgefühl verlassen hätten und sich weniger von sehenden Mitmenschen hätten beeinflussen lassen. Blinde Eltern sollen nicht glauben, sich anpassen zu müssen, damit die anderen ein gutes Bild von ihnen haben. Familie 18 Zum Wohle des Kindes Jean-Marc Meyrat Das Thema Adoption macht immer wieder Schlagzeilen, sei es der Adoptionswunsch gleichgeschlechtlicher Paare oder der Vorschlag eines Tessiner Nationalrats, Familien mit adoptierten Kindern sollten ebenso Elternurlaub erhalten wie all jene Paare, die sich auf natürlichem Wege vermehren. von ihren leiblichen Eltern verstossen worden sein. Wie jedoch ein «offensichtliches Desinteresse» der Eltern am eigenen Nachwuchs auszusehen hat, ist eine komplexe Frage, die nur selten gerichtlich entschieden wird. Ein paar Zahlen 2011 adoptierten französische Familien erheblich weniger ausländische Kinder als in den Jahren zuvor. Den jüngsten Statistiken zufolge lag die Zahl mit nur 1995 so niedrig wie nie in den letzten 25 Jahren. Dieser Rückgang ist in allen Industrienationen zu beobachten und war vorhersehbar. Das Recht auf Elternschaft Kann man Eltern sein, wenn man gesund und fit ist und beruflich Erfolg hat? Wenn man häufig auf Reisen ist? Wenn man an schlimmen Rückenschmerzen leidet oder oft schwere Beine hat? Wenn man einen überaus verantwortungsvollen Beruf ausübt? Kann man Eltern sein, wenn man bettelarm, total abgebrannt, behindert, depressiv, völlig fertig, HIV-positiv, Alkoholiker oder Junkie ist? Kann man Eltern sein, wenn man weder Manieren hat noch irgendein Wissen besitzt, das man weitergeben könnte? Solche Fragen darf man nicht stellen, denn sie erinnern fatal an die Doktrinen gewisser totalitärer Systeme. Verschärfte Bedingungen im Ausland Schon vor einigen Jahren haben Länder wie Haiti und Vietnam Adoptionen ins Ausland den Riegel geschoben. Zudem sind zahlreiche Staaten inzwischen dem Haager Übereinkommen beigetreten und begünstigen Adoptionen im Inland. Hindernisse für Adoptionswillige sind deshalb nicht nur die verschärften Bedingungen im Ausland, sondern auch die geringere Anzahl Kinder, die für eine legale Adoption in Frage kommt, denn die Kinder müssen Derzeit werden weltweit offenbar nicht mehr als 27 000 Kinder legal adoptiert. Genauso hoch ist die Zahl der 2011 allein in Frankreich gestellten Anträge. Angenommen, Sie kennen eine Schwangere, die bereits acht Kinder hat, von denen drei taub, zwei blind sind und eines geistig zurückgeblieben ist. Zu alledem ist diese Frau an Syphilis erkrankt. Würden Sie ihr zu einer Abtreibung raten? Falls ja, haben Sie gerade Beethoven auf dem Gewissen... Und doch stellt sich diese Frage in sehr vielen Fällen: Können behinderte Menschen Kinder grossziehen? In Frankreich leben über fünf Millionen Menschen mit Behinderungen. Wie viele von ihnen Familie Eltern sind, lässt sich nicht ermitteln, denn darüber ist noch nie eine Erhebung erfolgt. Gerade dieser Mangel an Zahlen spricht Bände darüber, wie wenig Interesse die Gesellschaft für den Kinderwunsch behinderter Menschen aufbringt, und wie schwer es Menschen mit Behinderungen fällt, dieses oft bittere Thema offen anzusprechen. Früher sprachen sich Verwandtschaft und Freundeskreis, aber auch die Vertreter des Gesundheitswesens in der Regel eher gegen den Kinderwunsch behinderter Erwachsener aus. Man hielt diesen Wunsch für unvernünftig, weil sie ja ihre Aufgaben als Eltern gar nicht erfüllen könnten, oder man befürchtete Schwierigkeiten, vor denen es behinderte Menschen zu schützen galt. All das wird mittlerweile hinterfragt. Heute ist das Thema nicht mehr tabu. Seminare und Fortbildungen beschäftigen sich mit dem Thema Handicap und Elternschaft. Immerhin hat die Bereitschaft zur Integration behinderter Menschen dazu geführt, dass beispielsweise ihr Anspruch auf Arbeit, auf Zugang zu öffentlichen Räumen und kulturellen Aktivitäten diskutiert wird. Warum sollte dann ihr Recht auf eine affektive und sexuelle Entfaltung – und damit auch auf eine Adoption – unter den Tisch fallen? Verbände, Ärzte und Psychologen plädieren dafür, es Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen, diesen Wunsch auszudrücken und alle damit verbundenen Schwierigkeiten zu diskutieren. Nur so könne man eine tragfähige Entscheidung treffen, sei es die Erfüllung des Kinderwunsches oder der Verzicht darauf. Das Recht auf sexuelle Entfaltung und Elternschaft ist seit 1994 von den Vereinten Nationen behinderten Personen gesetzlich ebenso garantiert wie Nichtbehinderten. Und die Eignung zur Adoption? In der Schweiz ist eine Adoption ein langer Weg durch die Instanzen. Aus meinem Bekanntenkreis 19 haben mir mehrere Leute erzählt, wie es ihnen dabei ergangen ist und wie belastend sie es fanden, von Sachbearbeitern abhängig zu sein, deren Sensibilität von Person zu Person und in unserem Land auch von Kanton zu Kanton völlig verschieden ausgeprägt ist. Ganz gleich, warum sich ein Paar für eine Adoption entscheidet: Alle müssen zunächst ein Hindernisrennen durchlaufen. Und wie sieht es für Blinde und Sehbehinderte aus? Ich kenne persönlich keinen Fall, in dem beide Adoptiveltern behindert sind, wie etwa beim blinden österreichischen Paar, um das es im folgenden Artikel geht. Dafür habe ich mit drei Mitgliedern des SBV gesprochen, die mit ihrem Ehepartner gemeinsam Kinder adoptiert haben. Michel André, Physiotherapeut in Morges, ist sehbehindert. Obwohl seine Sehfähigkeit sich verschlechterte, spielte dieser Umstand nach seiner Erinnerung keine wesentliche Rolle bei der Adoption der damals zweieinhalbjährigen Sheela. Allerdings ist in diesem konkreten Fall der Papa der sehbehinderte Elternteil. Vielleicht war das ja ein wichtiger Aspekt? Auch Damien Rech ist sehbehindert. Gemeinsam mit seiner nicht sehbehinderten Frau hat er drei Kinder aus Vietnam Familie 20 adoptiert: Vincent, Quentin und Faustine. Ironie des Schicksals: Zwischen den Adoptionen von Quentin und Faustine kommt ihr leiblicher Sohn Jean-Baptiste zur Welt. Auf die Frage, ob seine Behinderung die drei Adoptionen erschwert habe, meint Damien sogar, sie habe eher einen positiven Einfluss gehabt, denn gerade weil er nach 28 Jahren Berufstätigkeit nun nicht mehr arbeiten gehe, könne er sich zu Hause ständig um die grosse Kinderschar kümmern. Zwar wurde die Grossfamilie Rech von den Behörden etwas intensiver begleitet als «gewöhnliche» Adoptiveltern, doch war für die Adoption des jüngsten Sprösslings Faustine nach Damiens Meinung ihr Wohnort von Bedeutung, denn im Kanton Freiburg liegt die Anzahl Kinder pro Familie höher als im nationalen Durchschnitt. Der kleine Daniel wurde 2002 im Alter von drei Monaten Mitglied der Familie Gauchat. Die Mutter Catherine ist blind, und in ihrem Fall ging zunächst gar nicht alles glatt, bis der kleine Sonnenschein aus Guatemala das Heim der Gauchats doch noch erhellte. Nach zwar verständlichen, aber doch sehr eindringlichen Warnungen der Waadtländer Behörden vor den Schwierigkeiten einer Adoption, versuchten Catherine und Blaise ihr Glück dennoch mit Bedacht in Thailand. Dort entscheidet eine staatliche Behörde für oder gegen adoptionswillige Familien. Nach einjähriger Wartezeit kam dann die Enttäuschung: Der Antrag der Gauchats wurde wegen der Behinderung der Mutter abgelehnt. Erst im zweiten Anlauf klappte es dann. Statistisch sind diese drei Beispiele natürlich überhaupt nicht repräsentativ, doch man erkennt bereits, dass die zuständigen Behörden Kindesadoptionen durch Menschen mit Behinderungen nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen. Sind jedoch beide Elternteile behindert, sieht die Sache womöglich nicht ganz so positiv aus. Die Sicht der anderen Sehbehinderte Eltern, ganz gleich ob mit leiblichen oder adoptierten Kindern, sehen zwar das Mitleid in den Gesichtern ihrer Umgebung nicht. Oft genug aber können sich ihre Mitmenschen Kommentare nicht verkneifen wie: «Ach, du armes Kind – hoffentlich hast du trotzdem Spielkameraden und deine Eltern lassen dir genug Zeit zum Spielen, auch wenn du ihnen von früh bis spät helfen musst.» Eltern sollten ohne Umschweife mit ihren Kindern über ihre Behinderung sprechen, wie auch über die Adoption, so selbstverständlich, wie sie über alle anderen Dinge reden. Nur so können Kinder sich im Leben zurechtfinden und sich entwickeln. Natürlich können behinderte Menschen genauso gute oder schlechte Eltern sein wie jeder Nichtbehinderte, denn Fakt ist: Eltern zu sein lernt man tagtäglich und anhand der konkreten Gegebenheiten. Wenn Sie Einzelheiten über das Haager Übereinkommen erfahren möchten, empfehlen wir Ihnen die Website: www.espace-adoption.ch. EINLADUNG 3 0 . J U N I 2 0 12 9 - 16 U H R Tag der offenen Tür. WENN JEMAND EINE REISE TUT ... M E H R I N F O R M AT I O N E N U N T E R : www.sbs.ch/offenetuer Ab Zürich HB mit der Uetlibergbahn S 10 (Haltestelle Binz), ab Bahnhofstrasse/HB mit Tram Nr.13 (Haltestelle Laubegg) Wir bieten Führungen an (bei Bedarf auch für Einzelpersonen). Dauer ca. eine Stunde. Bitte frühzeitig anmelden. SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte Grubenstr. 12, 8045 Zürich, Tel. 043 333 32 32, public@sbs.ch, www.sbs.ch Familie 22 Verweigerte Adoption Naomi Jones In Österreich wurde einem blinden Paar die Adoption eines Kindes verweigert. Der Fall rief im letzten Jahr ein grosses Echo in der österreichischen Presse hervor. Handelt es sich um Diskriminierung der Eltern oder um den Schutz des Kindes? Im Juni 2010 beantragten Dietmar Janoscheck (40) und seine langjährige Lebenspartnerin Elfriede Dallinger (45) in Linz die Adoption eines Kindes. Im Dezember des gleichen Jahres erhielten sie einen abschlägigen Bescheid. Zuvor durchliefen sie die übliche Eignungsprüfung. Janoscheck und Dallinger sind beide seit zwanzig Jahren blind. «In Österreich werden Kinder nicht an der Leine geführt», zitiert Dietmar Janoscheck die Fürsorgerin der Bezirkshauptmannschaft Linz Land. Surya lässt sich vom «Gstälti» nicht stören. (Foto: Athanasiou & Lüem) Familie Im Mai 2011 wandte sich das Paar an die Behörde und verlangte eine Darlegung der Ablehnungsgründe. Um ein neues Begehren in einem andern Bundesland stellen zu können, verlegten Janoscheck und Dallinger ihren Wohnsitz. In Wien stellten sie das Adoptionsbegehren erneut. Leider wieder ohne Erfolg. Sowohl die Linzer wie die Wiener Behörde betonte, dass nicht die Behinderung des Paares den Ausschlag für die Ablehnung des Gesuchs gegeben habe. Dennoch reichte das Paar Klage wegen Diskriminierung ein. Unwissen der Behörde Auf seiner Internetseite publizierte Dietmar Janoscheck ein selbst verfasstes Protokoll des Gesprächs mit den Linzer Behörden über die Ablehnungsgründe. Tatsächlich finden sich darin Aussagen, die ein grosses Unwissen bezüglich der Sehbehinderung auf Seiten der Behörden zeigen. So sehen die Behörden etwa die Sicherheit des Kindes durch die Blindheit der Eltern gefährdet. Die blinden Eltern könnten Krankheiten nicht rechtzeitig erkennen oder das Kind nicht mittels Mimik vor Gefahren warnen. Laut der Psychologin Tanja Guserl gibt es Studien, die belegen, dass dies nicht der Fall ist. Andererseits beurteilt die Behörde die möglichen Lösungen von Problemen, die aufgrund der Sehbehinderung entstehen, als problematisch: Glöckchen an den Schuhen oder ein Brustgurt mit Leine für das Kleinkind seien für dieses eine Zumutung, der Tastbefund ein Eingriff in seine Autonomie. Die Argumentation der Behörde im von Janoscheck verfassten Protokoll lassen eine relativ enge Haltung darüber, was geeignete Eltern sind, erkennen. So betonen die Vertreterinnen der Bezirkshauptmannschaft Linz Land mehrmals, dass Adoption eine besondere Situation für das Kind sei. Es sei ausreichend, dass diese eine besondere Situation gegeben sei. Diese solle nicht durch eine zweite Besonderheit, wie eben die Behinderung der Eltern verstärkt werden. Und genau hier wird es schwierig. 23 Denn welche Situation ist normal? Gedeiht ein Kind besser in einer kalten Familie mit korrekter Fassade oder bei einfühlenden Eltern mit einer Behinderung? Und wie lebt es sich Inserat TOPAZ Jetzt in HD! Das bei Accesstech AG seit 2007 erhältliche Bildschirmlesegerät Topaz von Freedom Scientific hat sich in den Jahren stets verbessert und ist nun in der qualitativen Topvariante mit HD Kamera verfügbar. Lassen Sie es sich zeigen – das Bild ist scharf! HD = High Definition = scharfes und flimmerfreies Bild Informieren Sie sich bei accesstech ag: Luzern St. Gallen Neuchâtel www.accesstech.ch 041 227 41 27 071 277 44 11 032 725 32 25 info@accesstech.ch Familie 24 mit einem fröhlichen Transvestiten als Mutter? Plakative Fragen schreien nach simplen Antworten. Die Aufgaben der Adoptionsbehörden sind jedoch alles andere als einfach. Denn Kinder, die zu einer Adoption freigegeben werden, bringen unweigerlich eine erste traumatische Erfahrung mit. Manche Kinder in Entwicklungsländern leben unter äusserst schwierigen Umständen. Dies erweckt bei adoptionswilligen Paaren leicht Mitleid und Beschützerinstinkt. Dietmar Janoscheck publiziert auf seiner Website Fotos von blinden Waisenkindern, die einem verstummen lassen. Ja, diese Kinder würde man am liebsten in den Arm und zu sich heim nehmen. Delikate Situation Ein solches Kind aufzuziehen ist jedoch äusserst anspruchsvoll und man versteht die Zurückhaltung der Behörden. Was gut gemeint ist, kann leicht zu weiterem Unglück führen. So ist es die Aufgabe der Behörde, adoptionswillige Paare auf ihre Qualität als Eltern von Kindern aus schwierigen Verhältnissen hin zu prüfen, bzw. diese Qualität zu beurteilen. Die professionelle Kompetenz, diese Qualität zu beurteilen, muss man den Behörden systembedingt zugestehen. Hingegen fehlt der Behörde die Kompetenz, Menschen mit einer Sehbehinde- rung bezüglich ihrem Umgang mit der Behinderung zu beurteilen. Hier müsste sie Fachleute aus dem Sehbehindertenwesen zuziehen. Allerdings: Zwischen den Zeilen des von Janoscheck verfassten Protokolls wird klar, dass die Behörden der Adoption eines Kindes durch Dietmar Janoscheck und Elfriede Dallinger nicht allein wegen der Behinderung kritisch gegenüber stehen. Unabhängig von der Behinderung äussert sich ein Unbehagen gegenüber dem forsch auftretenden Paar bezüglich seiner Qualität als Adoptiveltern. Mehrmals betont die Psychologin, das Paar vergesse ob der Thematik der Behinderung die Perspektive des Kindes. Dass diese aber im Vordergrund stehen muss, versteht sich von selbst. Bezüglich der Frage, ob eine Diskriminierung vorliege, ist noch kein Urteil gefallen. Die Chance allerdings, dass das Paar doch noch ein Kind adoptieren darf, ist allein wegen seines Alters gering. Denn Adoptiveltern dürfen in Österreich nicht mehr als 45 Jahre älter als das Kind sein. Dietmar Janoscheck und Elfriede Dallinger haben aber dennoch einen Weg gefunden, blinden Waisenkindern zu helfen. Sie engagieren sich für eine Blindenschule in Bulgarien. Dietmar Janoscheck ist Gründer und Geschäftsführer der Organisation freiraum-europa. Die Organisation setzt sich für Barrierefreiheit und Integration von Menschen mit Behinderung ein. So auch für Bulgarische Waisenkinder: www.freiraum-europa.org Familie 25 Heimatlos Claudine Damay Keine Angst, dieser Artikel wird nicht so rührselig wie der 1878 erschienene berühmte Roman von Hector Malot. Aus verschiedenen Gründen könnte er allerdings bei manchen Lesern schmerzliche Erinnerungen wachrufen, denn anhand eigener Erfahrungen beschäftigt sich die Verfasserin mit der Kindheit derer, die von ihrer Familie getrennt wurden und in einem Blindenheim leben mussten. Es geht dabei nicht um eine soziologische Analyse aller denkbaren Erlebnisse in einer solchen Konstellation, sondern um konkrete persönliche Erfahrungen. Der Nachteil der Behinderung Angesichts der ganzen Horden von Psychologen, die heute beim ersten Anzeichen für Probleme auf den Plan gerufen werden, fragt man sich unwillkürlich, wie wir eigentlich damals den brutalen Einschnitt heil überstanden, den der unumgängliche Wechsel in die Schulanstalt des Blindenheims für uns bedeutete. Während es für blinde Kinder einfach keine Alternative gab, gelangten sehbehinderte Kinder oft erst dort hin, nachdem sie an einer normalen Schule gescheitert waren. Bis zu den 1970er Jahren war von Integration noch keine Rede. Von heute auf morgen mussten wir unser gewohntes Umfeld, unsere Eltern, Geschwister und Freunde zurücklassen – alles, was ein Kinderleben ausmacht – und nunmehr in einem fremden, trostlosen Umfeld leben. Nicht selten kamen zur Sehbehinderung affektive und soziale Handicaps hinzu, zumal es nur den wenigsten gelang, eine enge Bindung an Geschwister oder Spielkameraden aus frühester Kindheit zu bewahren. Schon das Einschlafen ohne Kuscheln mit Mama war ja ein Problem… Die Familie glorifizieren Um diesen brutalen Mangel zu ertragen, entwickelten wir eine Reihe von Strategien: Völliges Einigeln: Nichts kann mich beeindrucken, nichts mir weh tun. Rückzug nach innen: Wenn ich mich tot stelle, geht es irgendwann vorbei. Oder Rebellion: Wenn ich schon keine Familie mehr habe, will ich wenigstens selbst entscheiden. Um das Heimweh auszuhalten, mussten viele von uns ihre Familien glorifizieren; alles, was die Eltern sagten, war das Wort Gottes und über alles erhaben, was wir im Heim hörten. «Meine Mutter hat immer Recht», lautete die unumstössliche Regel Nummer eins. Wie oft wurde ich bestraft, weil ich mich weigerte, die von den Vorstandsdamen gestiftete Kleidung anzuziehen anstelle der angeblich unschicklichen Sachen, die meine Mutter selbst genäht hatte! Ich kann mich nicht erinnern, darüber je mit Mitschülern gesprochen zu haben, denn wir sassen ja alle im selben Boot. Wozu über etwas reden, wenn sowieso alles beim Alten blieb? Die trügerische Hoffnung: Ferien Für diejenigen, die jedes Wochenende zu Hause verbringen durften, vergingen die 24 Stunden wie im Flug, ohne dass sie Zeit gehabt hätten, Beziehungen zu pflegen. Kaum im Dorf aus dem Zug gestiegen, lief der Countdown und die Familie 26 Furcht vor der Rückfahrt wuchs stetig. Unser sonntäglicher Weltschmerz stand dem Baudelaires in nichts nach – er verfolgt mich bis heute. Noch schlimmer war es für diejenigen, die nur einmal im Monat oder sogar nur in den grossen Ferien nach Hause konnten. Auch für ihre Eltern war es bestimmt nicht leicht, mit Kindern umzugehen, deren Gewohnheiten und Umgang sie nicht kannten. Ohne Vorbilder sein Leben gestalten Zum Glück geht alles einmal zu Ende. Endlich erwachsen, kehrten wir wieder zurück und versuchten, ein ganz normales Leben aufzubauen. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach vertreiben. Sie wirkt nach. Der Alltag verwischte oft Erinnerungen an eine unglückliche Kindheit und Jugend. Die wahren Probleme begannen oft erst, als wir begannen, unser Erwachsenenleben zu planen. Eine Paarbeziehung einzugehen, ist gar nicht so einfach, wenn man dafür keine Vergleichsmöglichkeiten oder das Vorbild der eigenen Eltern hat, wenn es nicht einmal eine Patchworkfamilie oder Ersatz für den abwesenden Elternteil gab. Kinder aus geschiedenen Ehen können ein Lied davon singen. Auch die Erziehung unserer eigenen Kinder wurde massiv dadurch erschwert, dass wir keine Vorstellung hatten, wie eine Kindheit oder Jugend in einem freien Umfeld verlaufen kann. Das A und O: seelische Belastbarkeit Angesichts dieses überaus düsteren Bildes armer sehbehinderter Kinderseelen fragen Sie sich sicher längst, was aus meinem anfänglichen Versprechen geworden ist. Doch nichts ist nur schwarz oder nur weiss, es gibt immer Zwischentöne: Es war auch eine Gelegenheit, das wirkliche Leben kennenzulernen. Die Selbsthilfe war selbstverständlicher Teil unseres Alltags. Das gilt nicht nur für die Solidarität, die man in jeder Kindergemeinschaft findet (ich übernehme deine Strafarbeit, dafür machst du meine Math-Hausaufgaben). Viel wichtiger war die wechselseitige Hilfe zwischen Sehbehinderten und Blinden. Es ist sicher kein Zufall, dass viele altgediente aktive SBV-Mitglieder einst die Schule des Blindenheims durchliefen. Wer schon früh lernt, eigene innere Kräfte zu mobilisieren, um nicht unterzugehen, ist für die Zukunft gut gerüstet. Natürlich schafft ein solches Miteinander schöne Erinnerungen an die erlebte Kameradschaft. Das Wichtigste aber ist die Erfahrung, dass eine Schwäche sich in eine Stärke verwandeln kann, denn sie ist tief in uns selbst verwurzelt. Gerade das Wissen, dass man kein Einzelfall ist, dem das Schicksal besonders übel mitspielt, hat uns zweifellos befähigt, aus unserem Leben das Beste zu machen. Die Familie des Herzens Die fehlende Zuwendung hat uns zudem gelehrt, die Nestwärme der Familie besonders hoch zu schätzen. Das gilt nicht nur für Blutsverwandte, sondern auch für die belastbare, verlässliche Familie, die wir uns selbst aussuchen: die Familie des Herzens, den im Laufe der Zeit aufgebauten Freundeskreis, der sich je nach Lebensphase verändert, aber immer für uns da ist. Ob aktive Mitwirkung in Verein, Partei oder Sportclub, diese Dinge suchen wir uns selbst ohne Zwang aus. Sie ermöglichen uns ein Leben in einer Gemeinschaft – nicht, wie wir sie uns erträumen, sondern wie wir sie selbst gestalten. Fokus 27 Zu viel ist zu viel! Daniel Pulver Die behinderten Menschen und ihre Organisationen sagen Stopp! zu weiteren Sparmassnahmen bei der IV. Der nationale Verein «Nein zum Abbau der IV» bekämpft die IVG-Revision 6b. Die Dachorganisationenkonferenz der privaten Behindertenhilfe (DOK), welcher auch der SBV angehört, gründete im Auftrag von 43 Organisationen aus dem Behindertenwesen im September letzten Jahres den Verein «Nein zum Abbau der IV». Ziel des Vereins ist es, die Revision 6b zu bekämpfen. Die 43 Organisationen aus der gesamten Schweiz sind Mitglied des Vereins. Kinderrente Wir sind uns einig. Wir müssen verhindern, dass ausgerechnet auf dem Buckel von schwerbehinderten Menschen und ihren Familien weiter gespart wird. Nebst einem stufenlosen Rentensystem sieht die Revision eine Kürzung der Kinderrenten (Renten, für Kinder von IV-berechtigten Eltern) um einen Viertel vor. Die Auswirkungen für Familien mit einem behinderten Elternteil wären verheerend. Es darf nicht sein, dass Kinder unter der Behinderung ihrer Eltern leiden. Revision um Revision Die geplante Revision ist in der aktuellen Form inakzeptabel und übersteigt die Schmerzgrenze. Bevor über derart einschneidende Massnahmen überhaupt diskutiert werden kann, müssen die Auswirkungen der letzten Revisionen ausgewertet werden – diese Resultate liegen aber noch nicht vor. «Zu viel ist zu viel!» sagt auch Florence Nater, Vorstandsmitglied des Vereins «Nein zum Abbau der IV» und Lehrerin für Lebenspraktische Fertigkeiten bei der SBV-Beratungsstelle Freiburg. Denn seit 2004 folgt Revision auf Revision im Schnellzugtempo. Diese Revisionen verursachen für die behinderten Menschen Leistungskürzungen von 700 Millionen Franken pro Jahr. Nach den Zahlen des Bundesamts für Sozialversicherungen BSV ist aber die Entschuldung der IV auch ohne eine weitere Revision möglich. Stufenloses Rentensystem Die verheerendsten Konsequenzen der geplanten Revision tragen allerdings die Schwerbehinderten, die schon heute an der Grenze des Existenzminimums leben: Ein IV-Bezüger mit Invaliditätsgrad 72% erhält heute eine Rente von durchschnittlich 1800.– Franken. Mit dem neuen stufenlosen Rentensystem der IV-Revision 6b würde seine Rente nun auf Fr. 1296.– gekürzt! Ein solcher Systemwechsel bedingt, dass zahlreiche Schwerbehinderte ihre 20–30% Restarbeitsfähigkeit mit Teilzeitanstellungen ausschöpfen müssten. «Ein Modell, das in der Theorie zwar gut tönt – in der Realität des heutigen Arbeitsmarktes jedoch völlig illusorisch ist», sagt Florence Nater. Genau das verdeutlicht die Situation von Judith Erni: Die Muskelkranke mit IV-Grad 73% bezieht heute eine volle Rente. Mit dem stufenlosen Rentensystem der IV-Revision 6b würde Fokus 28 sie noch 73% Rente erhalten – eine Reduktion von mehr als einem Viertel. Damit könnte sie ihren Lebensunterhalt aber nicht mehr decken. Gleichzeitig weiss sie aus Erfahrung, dass sie auf dem Arbeitsmarkt chancenlos ist: «Ich bin seit Jahren auf der Suche nach einer Teilzeitstelle. Etwas zu finden, das meine Behinderung berücksichtigt, ist in der heutigen Zeit schlicht unmöglich.» Der Verein «Nein zum Abbau der IV» akzeptiert keine weiteren Kürzungen, die zur Verarmung der Schwächsten führen. Wenn das Parlament die IV-Revision 6b in dieser Form verabschiedet, wird der Verein das Referendum ergreifen. Daniel Pulver ist Leiter der SBV-Interessenvertretung und Präsident des Vereins «Nein zum Abbau der IV». Inserat Rehabilitationsfachperson 60% Per 1.8.2012 oder nach Vereinbarung suchen wir in unserer Beratungsstelle Zürich eine Persönlichkeit als Rehabilitationsfachperson 60%. –Sie beraten Behörden, Institutionen und Fachpersonen im Bereich der sehbehindertengerechten Gestaltung von Gebäuden und Verkehrsflächen. Ihre Aufgaben –Sie beraten blinde und sehbehinderte Menschen über Hilfsmittel und unterrichten sie in blinden- und sehbehindertenspezifischen Techniken. –Sie informieren die Öffentlichkeit sowie spezialisierte Fachkreise über die Anliegen sehbehinderter und blinder Menschen und vertreten diese bei Behörden und in Fachgremien. Ihr Profil –Sie verfügen über einen Abschluss und praktische Erfahrung in den Bereichen «Orientierung & Mobilität» und/oder «Lebenspraktische Fertigkeiten» oder eine Ausbildung in Ergotherapie mit der Bereitschaft, eine spezifische Weiterbildung zu absolvieren. –Sie arbeiten team- und lösungsorientiert und verfügen über gute kommunikative und didaktische Fähigkeiten. Unser Angebot Bei Ihrem künftigen Arbeitgeber erwarten Sie eine gute Einführung, ein innovatives Betriebsklima und vorteilhafte Anstellungsbedingungen. Für zusätzliche Auskünfte wenden Sie sich an Frau Beatrice Acuña, Leiterin Beratungsstelle Zürich, 044 444 10 60. Wir freuen uns auf Ihre vollständigen Bewerbungsunterlagen. Bitte bewerben Sie sich direkt online auf unserer Homepage www.sbv-fsa.ch > Verband > Offene Stellen. Wir freuen uns darauf, Sie kennen zu lernen! Fokus 29 Behinderte, setzt keine Kinder in die Welt! Joël Favre Lebt von Luft und Liebe, denn das kostet uns ja nichts, aber setzt nur keine Kinder in die Welt! So lautet die klare Botschaft der IV-Revision. Das gilt vor allem für die bitterste Massnahme der IV-Revision 6b: die Kürzung der Kinder-Zusatzrenten. Wirklich nur eine geringfügige Herabsetzung? Hierzu ein erfundener, aber absolut plausibler Fall: Für Caroline ist die Kürzung eine Katastrophe. Kurz vor dem Abschluss ihrer Konditorlehre wird sie Knall auf Fall mit der Diagnose Retinitis pigmentosa konfrontiert. Da sie in den Oberkellner verliebt ist, kommt sie über den ersten Schrecken rasch hinweg, doch ihr Liebster ist alles andere als naiv. Als sich herausstellt, dass Caroline Zwillinge erwartet, lässt er sie am Ende der Saison sitzen und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Caroline erhält nun eine IV-Rente in Höhe von 1200 Franken für sich selbst sowie zwei Kinderrenten in Höhe von je 480 Franken. Da ihr Gehalt in der Lehre zu gering war, hat sie von der zweiten Säule nichts zu erwarten. Und da ihre Invalidität nur auf 78% festgesetzt ist, unterstellt ihr der Kanton ein höheres hypothetisches Einkommen, um ihr nicht zu viele Ergänzungsleistungen (EL) gewähren zu müssen. Kurzum: Sie muss sich mit 2160 Franken IV plus 500 Franken Familienzulagen begnügen; hinzu kommen EL, die hier nicht zur Debatte stehen. Wird die Revision 6b angenommen, sinkt die Zusatzrente ihrer beiden Söhne von 40 auf 30%, also um 25% von 960 auf 720 Franken. Doch der Zynismus des Bundesrats geht noch weiter: Gemäss Revision wird auch Carolines Rente gekürzt, und zwar auf rund 78% dessen, was sie derzeit bezieht, denn künftig soll die Rentenhöhe gemäss dem Invaliditätsgrad anteilig berechnet werden. Unter dem Strich würden diese 78% deshalb auch für die Kinder-Zusatzrenten gelten, die dann für jeden Sprössling nur noch 30% davon betragen würden. Caroline stünden somit für sich und ihre beiden Kinder nur noch 1900 Franken zur Verfügung. Carolines Ängste Caroline macht sich keine Illusionen. Ohne eigene Schuld müssen die Jungs ihre Mutter weit mehr unterstützen, als es ihre Spielkameraden tun. Ohne das Geringste dafür zu können, sehen sie als Sprösslinge einer behinderten Mutter einem Leben in Armut entgegen – und das ausgerechnet in Genf, einer der teuersten Städte der Welt. Mit anderen Worten: Die Kinder sind doppelt gestraft. Dabei hätte Caroline ihren Kindern gern optimale Voraussetzungen und die gleichen Chancen wie anderen Kindern geboten, allein schon als Dank für die Unterstützung, die sie ihr ein Leben lang werden geben müssen. Stattdessen wachsen die Kinder in Armut Fokus 30 auf, denn Caroline wird ihnen bei schulischen Problemen Nachhilfeunterricht nie und nimmer finanzieren können. An ein Studium nicht zu denken. Meine Kinder werden mich nicht unterstützen können Wie man die Dinge auch dreht und wendet, werden Caros Zwillinge nie der gehobenen Mittelschicht angehören. Und auch wenn sie es gern täten, können sie ihre Mutter später nicht finanziell unterstützen, ihr keine wohlverdienten Ferien oder eine Thalasso-Kur spendieren oder wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit eine Zusatzversicherung bezahlen. Sollten aber – was wir nicht hoffen wollen – Caros Jungen selbst unter einer so schweren Behinderung leiden, dass sie eine IV-Rente beziehen, hätten sie nicht einmal eine Chance, eine Partnerin zu finden, denn welche Frau würde sich schon darauf einlassen, ihren behinderten Mann zu ernähren, ein Leben lang arm zu sein und zu allem Überfluss noch Kinder in die Welt zu setzen, die vom ersten Tag an zur Armut verdammt sind? Das Bundesamt für Sozialversicherungen und seine Verbündeten verweisen gern darauf, arme Erwerbstätige seien ja noch viel schlechter dran als Caroline und ihre Kinder. Sie müssten ja nur ihren Lebensstil anpassen. Doch das Argument zieht nicht – zudem hiesse es ja wohl, Behinderte sollten gefälligst schlechter dran sein als die ärmsten Nichtbehinderten! Das BSV behauptet auch, die Kürzungen würden teils durch die 2. Säule, teils durch Zusatzleistungen ausgeglichen. Doch diese Rechnung geht nie auf. Erinnern wir uns an die 5. IV-Revision: Kein Ehepaar hat je einen Ausgleich für die entfallene Ehegattenrente erhalten. Durch solche nicht ausgeglichenen Kürzungen der Bezüge werden Dutzende Familien unter die Armutsgrenze rutschen. Ja zum Leben, nein zum blossen Überleben Auch wenn uns jedoch der Arbeitsmarkt (meist) verschlossen bleibt, wollen wir uns nicht mit dem blossen Überleben begnügen, in ständiger Angst leben, in bitterste Armut abzugleiten, und Tag für Tag die letzten Rappen zusammenkratzen. Wir wollen leben wie alle anderen, wir wollen gesund sein, am gesellschaftlichen Leben Teil haben, ab und zu im Kino einen Film mit Audiodeskription sehen, Spass haben – und das hat seinen Preis. Aus all diesen Gründen werden wir mit ganzer Kraft diesen Versuch bekämpfen, uns klammheimlich von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Deshalb werden diejenigen von uns, die sich Kinder wünschen, auch Kinder zeugen – wir wissen sehr gut, was man tun muss, damit sie gut geraten! Und wir werden alles tun, damit unsere Kinder nicht in Armut leben müssen. Magazin 31 E-Voting für alle Rahel Escher E-Voting steht für elektronisches Abstimmen und Wählen per Computer. Diese neue Form der Demokratie unterstützt Menschen mit einer Behinderung bei der Ausübung ihrer politischen Rechte, da sie unter der Wahrung ihres Stimmgeheimnisses selbstständig abstimmen können. Im Jahre 2000 startete die Bundeskanzlei das Projekt E-Voting mit dem langfristigen Ziel, das System bei eidgenössischen, kantonalen und kommunalen Wahlen und Abstimmungen gesamtschweizerisch einzuführen. In den letzten Jahren haben verschiedene Kantone das E-Voting versuchsweise getestet. Inwieweit die Anliegen von blinden und sehbehinderten Menschen berücksichtigt werden, ist noch unklar. Bei ersten Versuchen bemängelte die Fachstelle Egalité Handicap, dass der Zugang zum E-Voting-System für Menschen mit einer Sehbehinderung ohne fremde Hilfe noch nicht möglich ist, da der dafür notwendige Code auf dem Postweg zugestellt wird. Auch ist fraglich, ob die Website den barrierefreien Standards genügt. Dafür wird sich die Fachstelle Egalité Handicap mit seinen Partnern, darunter auch die Interessenvertretung des SBV, einsetzen. Nichts desto trotz: E-Voting birgt ein grosses Potenzial. Wenn auch nicht aus denselben Beweggrün- den, wünschen sich auch andere Interessengruppen eine rasche Einführung der elektronischen Stimmabgabe. Allen voran die Stimmberechtigten im Ausland. Die Auslandschweizer-Organisation ASO lancierte darum die Petition «E-Voting für alle». Sie appelliert an den Bundesrat, die elektronische Stimmabgabe für alle Schweizerinnen und Schweizer im In- und Ausland einzuführen. Auch wenn die Petition nicht explizit ein barrierefreies E-Voting fordert, setzt sie dennoch ein Zeichen. E-Voting für alle heisst auch E-Voting für alle Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderung. Auf der Website www.petition.aso.ch können die Details der Petition nachgelesen, Unterschriftenbögen ausgedruckt oder die Petition gleich online unterzeichnet werden. Leider ist das Onlineformular wegen des Sicherheitscodes nicht barrierefrei. Die benötigten Angaben (Vorname, Name, Wohnort und Land) können auch der Interessenvertretung mitgeteilt werden, entweder per Mail (interessenvertretung@sbv-fsa.ch) oder telefonisch (031 390 88 33). Die Interessenvertretung leitet diese dann an die Auslandschweizer-Organisation weiter. Die Petition dauert noch bis zum 15. August 2012. Inserat Petition «Via für den elektronischen Kiosk» Du möchtest auch das spannende Reisemagazin «Via» der SBB auf dem elektronischen Kiosk lesen? Mach einfach mit bei der Petition und schreibe eine Mail an: juerg.cathomas@sbv-fsa.ch mit der Bitte, das Via in den elektronischen Kiosk aufzunehmen. Herzlichen Dank fürs Mitmachen. Hans Schneuwly Magazin 32 Nasbüechli – Eine Duftreise von Yvonn Scherrer Petra Aldridge Die Autorin und Journalistin Yvonn Scherrer. In allen nur erdenklichen Farben funkelnd liegt in einer schwarzen, ästhetisch gelungenen Umhüllung, ein kleines Juwel. Dessen Leuchtkraft entspringt Yvonn Scherrers schillernder Beschreibung ihrer Dufterlebnisse. Und die Autorin trägt ihren berndeutschen Text so brillant vor, dass die Hörbuchfassung eine ganz individuelle, intime Note erhält. Farben und Klänge Ein Hörerlebnis! Ein aufgeschlagenes Fotoalbum ohne Fotos. Ein lebendiger Bildband ohne Bilder. Und dennoch ein fröhlicher Spaziergang durch eine Galerie voll von vor Lebensfreude sprühenden Collagen. Weder die Fotos noch die Bilder (Foto: Walter Imhof) vermisst der Leser wirklich. Die mit Worten gemalten Gemälde haben mich im Handumdrehen in ihren Bann gezogen. Ich bin überzeugt, einem Maler, der die so lebendigen Schilderungen von der Rosenölgewinnung oder der Kakaobohnenernte liest oder hört, gelänge mühelos die Wiedergabe in ausdrucksstarken Aquarellen. Ein Komponist hätte Freude, an der Umsetzung der gezeichneten Klangbilder. Zumal es Yvonn Scherrer auf faszinierende Magazin Weise versteht, Düfte mit Farben und Klängen zu verweben. «Am schönschte sy Düft, wo ne chüeli und e warmi Syte hei. Sanduholz het meh Wermi aus Chüeli. Bir Rose ischs umgekehrt. Die weichi Syte isch e wachsige, hunigfarbige Ton, di chüeli Syte isch aquamarin, es häus, stius Blau ohni jede Kitsch mit ere Nuance i ds Grüen. Es Blau, wo Schmärze löscht.» Dieser Farbvielfalt fügt sie ihre ganz individuell «geschmeckte» Duftvielfalt hinzu. Das wiederum gewährt einen Einblick auch in die Persönlichkeit der Autorin. Donnerstag ist ihr Lieblingstag. Sandelholz der Lieblingsduft. Nach ihrem Tod möchte sie am liebsten als Aromenbouquet verduften. Auf 3000 m ü. M.: «Schmöckigs isch rar.» An einem 8. Mai in Rupperswil werden wir zu einer Duftreise über mehrere Kontinente abgeholt. Die eigene Erinnerung Neben den tausendfach angenehmen Düften, kommt der Reisebegleiter von Yvonn Scherrer nicht umhin, auch anderes mit zu durchleiden: Die breite Palette menschlicher Schnupperkategorien, die eher heikel sind und oft Peinlichkeit auslösen. Ungepflegte Menschen sind grusig, gar egoistisch und rücksichtslos. 33 Schmunzelnd wiedererkannt habe ich eigene Dufterlebnisse. Beim Pendeln oder bei den stark nach Knoblauch riechenden – und schmeckenden – Hackplätzli bei unseren Freunden in Sofia. Ein vier Jahrzehnte zurückliegendes Dufterlebnis, ganz frisch, wie konserviert. Mit Yvonn Scherrer am 30. Oktober auf dem Markt von São Joaquim angekommen. Die Nase – noch voller Chiligeschmack – in die Luft gestreckt in Erwartung auf das nächste Duftziel. Nanu? Die Reise ist plötzlich, unerwartet, vielleicht sogar etwas abrupt zu Ende. Ein wenig verdutzt versuche ich, das Rätsel zu lösen, warum meine Reiseführerin sich beim Duft des Chilis Séraphine Malagueta nennen möchte. Gibt es bald in einem neuen Büchlein die Auflösung? Ich käme gerne mit auf eine weitere Sinnesreise. Das «Nasbüechli» ist ein wunderbares Geschenk für alle, die selber mit der Nase auf Reisen die Myriaden Orange, Blau und andere Töne entdecken. Aber auch für all diejenigen, die sich und vor allem uns Blinde verwundert fragen, was wir vom Reisen in die Ferne haben. Scherrer, Yvonn Nasbüechli – Eine Duftreise Cosmos Verlag AG, Muri-Bern. 2012 ISBN, Gebundene Ausgabe: 978-3-305-00460-7 Fr. 29.– Hörbuch: Gelesen von der Autorin, 2 CD’s ISBN: 978-3-305-00461-4 Sprache: Deutsch (Mundart) Fr. 34.– Magazin 34 Was Analphabeten nützt, kommt Blinden und Sehbehinderten zugute Jean-Marc Meyrat Mittel und Wege, unseren Alltag zu erleichtern, findet man gelegentlich an Stellen, wo man sie am wenigsten erwartet. In diesem Fall Barrierefreiheit in Ouagadougou. Während meines letzten Aufenthalts in Burkina Faso wartete ich gerade auf mein Zeitfenster für einen Internetzugang, um mit Hilfe eines USB-Sticks meinen Blog auf meiner Website www.jeanmarcmeyrat.ch zu aktualisieren. Nicht zuletzt wegen der überalterten Festnetze bevorzugen die Afrikaner im Allgemeinen und die Burkiner im Besonderen meist Mobiltelefone. So hockte ich in den klimatisierten Räumen eines Internetcafés, dessen indischstämmiger Betreiber im ganzen Land den besten Internetzugang bietet. Wie von daheim gewohnt, zog ich erst einmal eine Nummer und nahm dann Platz auf einem wackligen Stuhl zwischen Frauen, die Gepäck und Nachwuchs hüteten, und angeregt plaudernden Männern. Eines gleich vorweg: Nach Angaben in Blindenschrift suchte ich auf dem Ticketausgabegerät selbstverständlich vergeblich. Umso verblüffter war ich, als auf einmal eine akustische Ansage nicht nur die nächste Nummer aufrief, sondern auch den Schalter, an den deren Inhaber man sich wenden sollte. Die Ansage ist natürlich kein Allheilmittel, aber sie nützt denjenigen, die sich die Wartezeit mit dem Warenhandel auf dem angrenzenden Trottoir versüssen, ebenso wie denjenigen, die sich mit den Ziffern auf der elektronischen Anzeigetafel schwertun, und einem Blinden wie mir, der einfach aufstehen und sich bemerkbar machen kann, wenn er an der Reihe ist. Verblüffend, nicht wahr? Mancher wird mir vorhalten, dass es für Blinde schon reichlich Ansagen gibt, die ebenso wie Kuh- und Kirchenglocken regelrecht zur akustischen Umweltbelastung werden können. Andersherum kenne ich eine ganze Reihe Leute, die ihr Nummernticket verfallen liessen, weil sie gerade in ihre Zeitung vertieft waren. Aber wie jede Geschichte hat auch diese eine Moral. In Afrika gibt es ein Sprichwort, das Ihnen vielleicht zu denken gibt: «Solange die Löwen keine eigenen Geschichtenerzähler haben, werden die Jäger immer als Sieger aus der Geschichte hervorgehen!» Magazin 35 Autonomes Reisen mit PAVIP Rahel Escher Seit Anfang Jahr ist die gesamte Fahrzeugflotte der Verkehrsbetriebe St. Gallen mit dem PAVIPSystem ausgerüstet. Dadurch werden sämtliche reiserelevanten Informationen für blinde und sehbehinderte Fahrgäste zugänglich. PAVIP ist ein Informations- und Navigationssystem, das blinden und sehbehinderten Fahrgästen Reisen mit dem öffentlichen Verkehr erleichtern soll. Es liefert ihnen all jene Informationen, die auch Sehenden zur Verfügung stehen. Dafür benötigt es zwei Dinge: eine so genannte PAVIPBox in jedem Fahrzeug und ein Handgerät, bestehend aus einem Milestone 312 samt speziellem Funkaufsatz. Orientierung mittels Vogelgezwitscher Am Bahnhof oder an der Haltestelle nimmt der PAVIP-Nutzer das Handgerät in Betrieb. Er kann nun von sämtlichen Bussen, die gerade einfahren oder auf Platz stehen, Liniennummer und In St. Gallen zwitschern die Busse wie die Vögel. Endhalt abrufen. Hat er sich für ein Fahrzeug entschieden, löst er mit dem Handgerät ein akustisches Signal beim Fahrzeug aus. Dieses klingt wie das Zwitschern von Vögeln und hilft, das Fahrzeug zu lokalisieren. PAVIP ermöglicht aber nicht nur die Kommunikation mit dem Fahrzeug, sondern auch mit dem Fahrpersonal. So kann der PAVIPNutzer in einem nächsten Schritt seinen Einsteigewunsch beim Chauffeur platzieren und stressfrei einsteigen. Im Wageninnern lassen sich dann sämtliche Haltestellen abrufen. Auch das Suchen des Halteknopfs entfällt. Denn mit PAVIP kann auch der Aussteigewunsch bequem mit dem Handgerät mitgeteilt werden. (Foto: VBSG) Magazin 36 Aktuelle Informationen via Funk Da PAVIP sämtliche Informationen direkt aus dem Bordrechner des Fahrzeugs zieht, ist das System jederzeit aktuell. So wird beispielsweise ein spontaner Linienwechsel oder Sonderanzeigen wie «Extrafahrt» sofort erfasst. PAVIP nutzt für die Kommunikation zwischen Fahrzeug und Fahrgast eine drahtlose Übertragungstechnik via Funk. PAVIP im öffentlichen Verkehr ist ein Projekt des SBV, des Bundesamtes für Verkehr BAV, der Verkehrsbetriebe St. Gallen und der Bones AG. Die Pilotanlage in St. Gallen wird durch einen Beitrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung unterstützt. Als Partner vor Ort konnte der SBV die Beratungsstelle Obvita des Ostschweizerischen Blindenfürsorgevereins (OBV) gewinnen. In deren Lokalitäten in Bahnhofsnähe werden die Nutzer im Umgang mit dem System geschult. Auf Wunsch wird auch eine Übersicht der wichtigsten Tastenfunktionen in Grossschrift oder Braille abgegeben. Interessierte können sich direkt mit der Beratungsstelle Obvita unter der Nummer 071 246 61 10 in Verbindung setzen. Inserate Tisch-Bildschirmlesegerät «Tieman» Reinecker Videomatic LUX Tieman-Bildschirmlesegerät mit Echtfarbenwiedergabe und schwarz/weiss-Darstellung. Einstellbare Lesefarben, Helligkeit im Lesemodus, positiv und negativ. (Neupreis Fr. 6800.–) zu verkaufen. Wir verkaufen einen neuwertigen Videomatic LUX, 22“ für Fr. 3700.– Wegen stark fortschreitender Makula-Degeneration möchte ich das Gerät verkaufen. Es befindet sich praktisch im Neuzustand, da es auch anfangs sehr wenig gebraucht wurde. –Einzigartige Bilddarstellung mit höchster Auflösung –kontrastreiche, flimmerfreie Bilder –ergonomische Lesehaltung mittels variabler Monitoreinstellung –komfortables Lesen dank Einstellungsspeicherung und Zeilenlineal –abnehmbares Bedienfeld für praktische Handhabung Verkaufspreis nach Vereinbarung Anfragen: Tel. 031 921 74 80, Achille Hettiger, Ittigen Weitere Informationen unter www.reineckerreha.com Tel. 061 931 17 60 Lesefarben: 8 Vergrösserung: 3,5 bis 43fach Masse: 40 x 52 x 30 cm Netzteil 100–240 Volt AC Stromaufnahme: < 50 Watt Verband 37 Lobbyarbeit als Hebel für unsere Interessenvertretung Denis Maret An einem Frühlingsnachmittag rief mich Mélanie Sauvain an. Die für die Romandie zuständige Sekretärin der Agile Behinderten-Selbsthilfe Schweiz fragte an, ob ich Lust hätte, an einem Lobbying-Tag teilzunehmen. reagieren. Was wir brauchen, sind behinderte Menschen, die bereit sind, sich im Zweierteam zu engagieren. Probieren Sie es doch einfach mal aus! Da Lobbyarbeit für meine Vorstellung nur eine etwas andere Art der Interessenvertretung darstellt, sagte ich zu, und wir beschlossen, als Zweierteam aufzutreten. Während meine Aufgabe die Sensibilisierung der Parlamentarier dafür war, welche Probleme die IV-Revision für behinderte Menschen aufwirft, übernahm Mélanie den rein fachlich-juristischen Teil. Denis Maret lebt in Monthey. Er ist Mitglied der Sektion Wallis sowie des Forum Handicap Valais. Der Tag X ist da Vor dem Bundeshaus klopfte mir ganz schön das Herz! Zunächst hiess es, die Sicherheitsschleuse zu passieren und sich auszuweisen, erst dann wurden wir in die Vorhalle der heiligsten Burg der Schweizerischen Politik vorgelassen, eben der «Lobby», in der Parlamentarier sich zum Plaudern treffen und Komplotte schmieden! Wachsam pickten wir den Politiker heraus, an dem uns lag. Wir konnten uns seine Aufmerksamkeit sichern und begannen mit der Lobbyarbeit. Was für eine bereichernde Erfahrung! Wie wir feststellten, gibt die Anwesenheit einer behinderten Person der abstrakten Realität eines Parlamentariers schlagartig ein konkretes Gesicht. Im Gespräch mit Betroffenen horchen sie auf. Ich halte es für eine gute Idee, uns mehr ins Scheinwerferlicht zu stellen. Durch die Lobbyarbeit können wir aktiv gestalten, anstatt nur zu Verband 38 Nachruf: Theres Wüthrich Ursula Kälin Am 3. Januar 2012 verstarb nach kurzer, schwerer Krankheit Theres Wüthrich, ehemalige Präsidentin der Sektion Ostschweiz und ehemaliges Zentralvorstandsmitglied, in ihrem 81. Lebensjahr. Theres Wüthrich wurde am 12. Juni 1931 in Burgdorf geboren. Sie war das zweitälteste Kind neben vier Brüdern und drei Schwestern. Ihr Vater arbeitete als Melker bei verschiedenen Berner Grossbauern im Emmental. Da Theres nur über einen kleinen Sehrest verfügte, besuchte sie das Blindeninstitut «Sonnenberg» in Fribourg. Nach der Schule arbeitete sie im Blindenheim Horw als Bürstenbinderin, fand dann aber später eine Stelle in der Seifenfabrik «Blidor» in Langnau am Albis. Theres war ein aktives Mitglied der Schweizerischen Caritasaktion der Blinden. Der Wechsel in einen religiös-caritativen Beruf misslang leider. Im Alter von fast 40 Jahren machte sie jedoch eine Umschulung zur Telefonistin und Stenotypistin und fand eine Stelle in der Personalabteilung der Helvetia Versicherungs-AG in St. Gallen, wo sie mich in der Telefonzentrale während meiner Ferien ablöste. Ich durfte während einiger Jahrzehnte die Wohnung mit der lieben Verstorbenen teilen. Im Jahr 2004 wechselte Theres aus gesundheitlichen Gründen ins Blindenaltersheim St. Gallen über. Theres Wüthrich war dem SBV bereits 1948 beigetreten. 1973 wurde sie in den Vorstand der Sektion Ostschweiz des SBV gewählt, den sie von 1980 bis 1997 präsidierte. Im Anschluss daran wurde sie Ehrenmitglied. Während sechs Jahren war Theres Mitglied des Zentralvorstandes. Als Präsidentin unserer Sektion setzte sich Theres tatkräftig für die Gründung eines Ateliers für Blinde und Sehbehinderte in St. Gallen ein, das sie eifrig besuchte. Hier betätigte sie sich vor allem am Webstuhl, wo Sie Handtücher, Tischläufer und Tischsets wob. Theres Wüthrich: Wir werden dich nicht vergessen und dir ein ehrendes Andenken bewahren. Gott schenke dir das ewige Licht. Verband 39 Veranstaltungen Sektion Aargau-Solothurn 18.–20.05.Dunkelzelt an den Solothurner Literaturtagen. Attraktives Programm mit der blinden Radio-Redaktorin Yvonn Scherrer. www.literatur.ch, Televox: 031 390 88 88, Rubrik 812. Auskunft: Urs Kaiser, 076 339 50 31, urs.kaiser@gmx.ch 05.06.Stammtisch/Kaffeetreff, Aarauerstube, Bahnhofstrasse 78, Aarau. 14.00–16.15 Uhr. Auskunft: Verena Müller, 062 721 51 67 20.06. Führung durchs Steinmuseum in Solothurn. 14.15–16.45 Uhr. Anmeldung: Urs Kaiser 076 339 50 31, urs.kaiser@gmx.ch 03.07.Stammtisch/Kaffeetreff, Aarauerstube, Bahnhofstrasse 78, Aarau. 14.00–16.15 Uhr. Auskunft: Verena Müller, 062 721 51 67 Sektion Bern 30.05. Stammtisch ab 17.00 Uhr im «a familia portuguesa», Zähringerstrasse 15 in Bern. 04.06. Mittagstisch in der Villa Stucki ab 12.00 Uhr, Seftigenstrasse 11 in Bern. 16.06. Besichtigung Rheinfall. Anmeldeschluss 20.05. Anmelden über E-Mail: sektion.be@blindenverband.ch 27.06. Stammtisch ab 17.00 Uhr im «a familia portuguesa», Zähringerstrasse 15 in Bern. Sektion Berner Oberland 14.06. Freizeitgruppe, Brigitta Stehli, Tel. 034 461 89 88. Bruno Seewer, Tel. 033 657 10 58 29.06. Freitagstreff, Yvonne und Jürg Albisser/ Gut, Tel. 033 437 25 82 Sektion Ostschweiz 06.05. Tandem-Erlebnis am Bodensee, Start in Romanshorn, Distanz ca. 50–70 km, weitere Info in Post und Televox 031 390 88 88 (126612) 07.05. Stamm, Rest. Brasserie, ab 19.00 Uhr, beim HB St. Gallen 03.06. Wanderung «Rund um Waldkirch», 08.45 Uhr bei Appenzellerbahn am HB St. Gallen, ohne Anmeldung, weitere Info 14 Tage vorher auf Televox 04.06. Stamm, Rest. Brasserie, ab 19.00 Uhr, beim HB St. Gallen 16.06. Sektionsausflug zur Halbinsel «Au», weitere Info in Post und Televox 031 390 88 88 (126612) 02.07. Stamm, Rest. Brasserie, ab 19.00 Uhr, beim HB St. Gallen Verband 40 Sektion Zürich 26.05. Samstags-Lunch: Rest. Brunnentor, Brunnenstrasse 21, 8610 Uster Zeit: 11.30–13.30 Uhr Anmeldung bei Urs Lüscher 044 940 93 10 oder sbv.zh@ buero-lektro.ch 29.05. Kontaktgruppe Enge: Maibummel Anmeldung telefonisch bei Ursula Graf: 044 940 33 23 oder 079 219 89 34 06.06. Wandergruppe Merkur, Rorbas-Eglisau. Anmeldung bei Maya + Gilbert Monnerat, Tel. 044 741 23 49 (Ersatzdatum 04.07.) 24.06. Wandergruppe Soleblitz, Uesslingen/Ittingen/Frauenfeld Anmeldung bei Marianne + Walti Ogi, Tel. 044 432 28 28 (Ersatzdatum 22.07.) 26.06. Kontaktgruppe Enge. Kirchgemeindehaus Enge, Zürich, 14.00–16.00 Uhr 30.06. Samstags-Lunch: Rest. Brunnentor, Brunnenstrasse 21, 8610 Uster Zeit: 11.30–13.30 Uhr. Anmeldung bei Urs Lüscher, 044 940 93 10 oder sbv.zh@buero-lektro.ch Inserat Drei Sterne Ferienhotel für Erholung, Sport und Plausch. Speziell eingerichtet für blinde- und sehbehinderte Gäste. Das ganze Haus ist zudem rollstuhlgängig. Einzigartige Infrastruktur für Seminare, Anlässe und Bankette jeder Größe und jeder Art. Lassen Sie sich auf die besondere Weise verwöhnen und genießen Sie das unvergessliche Ambiente mit erschwinglichen Preisen und außerordentlichen Leistungen. Inserate 41 Hundekörbe aus Peddigrohr hergestellt ergestellt von blinden- und sehbehinderten Menschen. • Masse: 96 x 59 x 29 • abnehmbares Futter • waschbar • Preis: Fr. 160.– Schweiz. Blindenlinden- und Sehbehindertenverband SBV-Atelier | Schachenstrasse 9 | 9016 St. Gallen Tel. +41 (0)71 288 60 11 | Mail: info@sbv-fsa.ch www.sbv-fsa.ch Begleitete Reise für Blinde und Sehbehinderte nach Sri Lanka Dem trüben Herbst entfliehen und in die Wärme ziehen! Nächste Reise: 12. November – 5. Dezember 2012 Kleines Resort im Süden bei Mirissa. Jedes Zimmer mit Du / WC, Swimmingpool. Traumhafte, ruhige Lage Kosten: Pro Person im DZ all inklusiv ca. Fr. 2700.– (hängt vom Flugpreis ab). EZ Zuschlag Fr. 19.– pro Tag Begleitung wenn nötig individuell je nach Aufwand. Interessierte melden sich bis 4 Monate vor Reisebeginn. Beschränkte Anzahl Zimmer. Mehr Informationen bei: Monika Koch, 079 774 81 90, mkoch@deep.ch, www.resortedelweiss.ch Inserate 42 Vocatex plus (HD) Tag der offenen Türe im Atelier Zürich am Montag, 25. Juni 2012, 14.00–20.00 Uhr Seit fünf Jahren benutzen Blinde und Sehbehinderte das Atelier Zürich für Kurse und Weiterbildung, kunsthandwerkliche Tätigkeit und gemeinschaftlichen Austausch. Am 25. Juni 2012 von 14.00–20.00 Uhr öffnen wir das Atelier für Fachpersonen, Freunde und Familienangehörige, welche die Möglichkeiten des Ateliers sehen, spüren, hören und schmecken wollen. Neben Werkzeugen und Werkmaterial, neben Jogamatten und Lesegeräten stehen im Küchenbereich schmackhafte Snacks und Getränke für Sie bereit. Die Benutzer und das Team vom Atelier freuen sich auf Ihren Besuch und auf den Austausch mit Ihnen. Atelier Zürich Moosmattstrasse 30 8953 Dietikon http://zuerich.atelier.www.sbv-fsa.ch/de unsere Erfahrung – Ihr Vorteil! Das Lesegerät, das Sie optisch und akustisch unterstützt. Sie lassen sich längere Texte einfach vorlesen. Handgeschriebene Texte und Bilder lesen und betrachten Sie in Echt- und verschiedenen kontrastverstärkten Falschfarben. Vocatex, das audiovisuelle Lesegerät wird seit 2009 produziert und erfolgreich eingesetzt. Nun ist bei Accesstech der Nachfolger erhältlich. Die lange Erfahrung und nun vielen Neuerungen überzeugen uns. Wann lassen Sie sich von Vocatex vorlesen? Informieren Sie sich bei accesstech ag: Luzern 041 227 41 27 St. Gallen 071 277 44 11 Neuchâtel 032 725 32 25 www.accesstech.ch info@accesstech.ch Verband 43 Korrigendum Im Kasten zum Artikel «Der Assistenzbeitrag – eine Chance für uns» in «der Weg Nr. 2/2012» hat sich leider ein Fehler eingeschlichen: Für Assistenzdienste, die in der Nacht geleistet werden müssen, bezahlt die IV gerade mal Fr. 86.– pro Nacht statt Fr. 86.– pro Stunde, wie wir geschrieben haben. Impressum Offizielle Zeitschrift des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (SBV) im 99. Jahrgang. Erscheint sechsmal im Jahr in Grossdruck, in Braille, im DAISY-Format, im Elektronischen Kiosk, teilweise auf www.sbv-fsa.ch sowie auf Bestellung per E-Mail (ohne Fotos) in Deutsch und Französisch («clin d’œil»). Herausgeber: SBV Redaktion: Naomi Jones und Jean-Marc Meyrat Fotos von Surya und Simone Rentsch: Nadja Athanasiou, Zürich. www.atelier-nave.ch Umschlaggestaltung: Büro Grotesk.cc Layout: Claudia Holzer, Ediprim AG, Biel Übersetzungen: USG ÜbersetzungsService AG Druck: Ediprim AG, Biel/Bienne Druck auf umweltfreundliches FSC-Papier Brailleumwandlung und -druck: Hanni Wüthrich, Anton Niffenegger DAISY: Paul Güntert Tonstudio ISSN (Schwarzschrift): 1422-0490 ISSN (Blindenschrift): 1422-0504 Für Mitglieder des SBV: gratis. Jahresabonnement für Nichtmitglieder: Fr. 28.– (Inland), Fr. 34.– (Ausland). Postkonto: 30-2887-6 Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe: 10. Juni 2012 Thema: Entwicklungen in der Ophthalmologie Anregungen bitte an: Redaktion «der Weg / clin d’œil» Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband, Gutenbergstrasse 40b, 3011 Bern, Tel. 031 390 88 00; Fax 031 390 88 50 info@sbv-fsa.ch, www.sbv-fsa.ch Auch mit einer blinden Mutter kann ein kleines Mädchen vorzüglich rumtollen. (Foto: Athanasiou & Lüem)