Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von
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Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von
ISSN 2029-6134 print Development of Public Law / Viešosios teisės raida / Entwicklungen im öffentlichen Recht 2010 (1): 163–180 Verfassungsentwicklung in Litauen und Polen im Kontext der Europäisierung / Lietuvos ir Lenkijos konstitucijų raida europeizacijos kontekste Prof. Dr. Otto Luchterhandt Universität Hamburg Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip I. Einleitung Es hat einen besonderen Reiz, über das gewählte Thema gerade in Vilnius, der Hauptstadt Litauens, zu sprechen, zum einen, weil just hier der Ort ist, an welchem im Jahre 2004 das Staatsoberhaupt im Wege eines Amtsenthebungsverfahrens abgesetzt wurde, und zum zweiten, weil der Fall ´Paksas´ der erste und bislang einzige Fall ist, in welchem ein Amtsenthebungsverfahren bis zu Ende geführt und die Anklage durch das Parlament Erfolg gehabt hat. Ein weiteres Impeachmentverfahren wurde in diesem Jahr in Rumänien gegen Staatspräsident Traian Băsescu durchgeführt. Es wurde zwar ebenfalls abgeschlossen, nämlich am 19. Mai 2007 durch Referendum, endete aber mit einem Votum gegen die Amtsenthebung, also gewissermaßen mit einem Freispruch durch das Volk313. Aus der Sicht des Verfahrens, der an ihm beteiligten Staats- bzw. Verfassungsorgane, der Verfah rensvoraussetzungen und des Ablaufes sind die Vorgänge in Litauen und Rumänien, die knappen Andeutungen zeigen das bereits, sehr unterschiedlich. Überhaupt lässt sich aus Verfassung vergleichender Sicht sagen und feststellen, dass die heute geltenden Regelungen der Amtsenthebungsverfahren, ordnet man sie in ein vom Rechtsstaatsprinzip und vom Demokratieprinzip gebildetes Koordinatensystem ein, eine interessante Abstufung, eine „Skalierung“, erkennen lassen, in welcher Litauen und Rumänien prominente Plätze einnehmen. Das gilt auch für Russland, wo seit dem Inkrafttreten der Föderalverfassung vom 12.12.1993 beinahe die ganzen 90er Jahre hindurch die in der Staatsduma über eine starke Fraktion verfügende Kommunistische Partei der Russländischen Föderation (KPRF) versuchte, Präsident Jelzin auf dem Wege des Impeachmentverfahrens zu stürzen. Ihre Anstrengungen waren vergeblich, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil die Regelung des Amtsenthebungsverfahrens in Russland so kompliziert ist und insgesamt so hohe Hürden 313 Tontsch, Günther: Rumänien: Amtsenthebungsverfahren gegen den Staatspräsidenten gescheitert, in: WGO. Monatshefte für Osteuropäisches Recht 49. Jahrgang (2007), S. 168 – 172. 163 Otto Luchterhandt aufrichtet, dass man geneigt sein könnte, von einem Amtsenthebungsverhinderungsver fahren zu sprechen314. Auf die „osteuropäischen“ Fälle wird später noch einmal zurückkommen. Zunächst ist es aber zweckmäßig, auf den Ursprung, auf das ´klassische´ Vorbild des Amtsenthebungsverfahrens einzugehen, nämlich auf das Impeachmentverfahren der Verfassung der USA mitsamt den darin verkörperten Ideen. II. Der Klassiker: das impeachment-Verfahren der USA Die vorzeitige Entfernung des Staatsoberhauptes ist eine der einschneidendsten Maß nahmen, die zur Friedenszeit in einem Staat getroffen werden kann. Im Prinzip gilt das unabhängig davon, ob das Staatsoberhaupt mit starken, weniger starken oder gar nur mit schwachen Machtbefugnissen bzw. Kompetenzen ausgestattet ist. Das Verfahren ist auch deswegen sehr ernst und schwerwiegend, weil es einem Strafprozess nicht unähnlich ist und der Amtsverlust de facto eine Strafsanktion ist. Der Sturz des Staatsoberhaupts, also derjenigen Amtsperson, die Volk und Staat nach Innen und nach Außen repräsentiert, die der Idee nach wie ein pouvoir neutre über den politischen Parteien schwebt und in Distanz zu ihren Machtkämpfen steht, ist geeignet, das politische System in eine schwere Krise und den Staat an den Rand des inneren Notstandes zu treiben. Das gilt natürlich erst recht, wenn das Präsidentenamt mit mächtigen Kompetenzen ausgestattet ist, insbesondere wenn das Staatsoberhaupt zugleich Chef der Exekutivgewalt ist wie in den USA, in Russland und in den meisten GUS-Staaten. Ein Staatswesen und sein Verfassungssystem müssen über starke Fundamente verfügen und das Volk, seine politischen Eliten, über ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und politischer Reife, wenn es gelingen soll, einen Staatspräsidenten, der zugleich an der Spitze der Exekutive steht, ohne Verfassungs- oder gar Staatskrise aus dem Amt zu entfernen, ihn abzusetzen. Die Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika ist in dieser Hinsicht besonders lehrreich. Es hat in der Geschichte der USA insgesamt drei Fälle gegeben, in denen das impeachment-Verfahren zur Anwendung kam: der erste Fall betraf Präsident Andrew Johnson, der 1865 an die Stelle des ermordeten Abraham Lincoln getreten war und die außerordentlich schwierige Aufgabe zu lösen hatte, nach dem Sezessionskrieg die verfeindeten Nord- und Südstaaten zusammenzuführen und die Union in einer hochgradig instabilen, von Parteikämpfen beherrschten innenpolitischen Lage wieder voll funktionsfähig zu machen315. Johnsons Absetzung scheiterte 1868 daran, dass gegen ihn im Senat die dafür erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit nicht zustande kam. Es fehlte den Gegnern des Präsidenten an einer einzigen Stimme! Man ist sich heute in den USA darin einig, dass die Anklage gegen Johnson juristisch nicht begründet gewesen 314 Hobér, Kaj: Is impeachment an Efficient Control Mechanism? The Case of Yeltsin´s Impeachment, in: The Uppsala Yearbook of East European Law 2004, London 2005, S. 117 – 136. 315 Zu den Vorgängen ausführlich Morison, Samuel E./ Commager, Henry St.: Das Werden der amerikanischen Republik. Geschichte der Vereinigten Staaten von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Band II, Stuttgart 1950, S. 36ff.; 47f. 164 Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip war, vielmehr starke, aus dem Bürgerkrieg nachwirkende politische Leidenschaften damals eine entscheidende Rolle im Kongress gespielt haben. Der zweite Fall betraf Präsident Richard Nixon 1974 wegen seiner Verstrickung in die „Watergate-Affäre“. Er kam seiner Abstimmungsniederlage schon im Repräsentantenhaus durch Erklärung seines Rücktritts zuvor. Denn nachdem der Rechtsausschuss des Repräsentantenhauses empfohlen hatte, Anklage gegen den Präsidenten vor dem Senat zu erheben, sah Nixon ein, dass sein weiterer Kampf um den Verbleib im Amt aussichtslos sein würde, und er gab auf316. Der dritte Fall betraf Bill Clinton 1999. Ihm wurde zur Last gelegt, im Untersuchungsverfahren wegen der Sex-Affäre mit der im Weißen Haus beschäftigen Praktikantin Monica Lewinsky gelogen zu haben („Monicagate“). Obwohl das Repräsentantenhaus entschied, das impeachment-Verfahren einzuleiten und Anklage gegen den Präsidenten vor dem Senat zu erheben, trat Clinton nicht zurück. Er hatte die Lage richtig eingeschätzt, denn nach seiner reumütigen Beichte kam im Senat die für seine Absetzung erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit nicht zustande317. Wie gesagt, sind die USA der erste Staat, der durch seine Verfassung die Amtsenthebung des Staatsoberhauptes eingeführt hat. Welche staatsrechtlichen Vorstellungen, welche politischen Ideen, welche Motive und Überlegungen haben die Gründungsväter der USA zu diesem Schritt bewogen? Man kann die Ideen und Motive für die Einführung des impeachment-Verfahrens in den folgenden Punkten zusammenfassen318: 1. Die Möglichkeit, das Staatsoberhaupt (auch) von Seiten der Volksvertreter zur Verantwortung zu ziehen, ist entschiedener Ausdruck des Bekenntnisses der USA zur Staatsform der Republik. Im Prinzip ebenso wie bei der Besetzung aller Ämter durch Wahl der Bürger liegt in diesem Rechtsinstitut der Verfassung das Gegenbild zu der konstitutionellen Monarchie des englischen Mutterlands und erst recht zu den absoluten Monarchien auf dem Kontinent der damaligen Zeit. Das Amtsenthebungsverfahren war und ist das stärkste Symbol einer republikanischen Verfassungsordnung. 2. Im Unterschied zu dem für das parlamentarische Regierungssystem typischen Rechtsinstitut, die Regierung durch Entzug des politischen Vertrauens zu stürzen und aus der Mitte des Parlaments durch eine andere zu ersetzen, soll und will das Amtsenthebungsverfahren der amerikanischen Verfassung nicht eine politische Verantwortung, sondern allein die rechtliche Verantwortlichkeit des Staatsoberhaupts gegenüber Volk und Staat einfordern und durchsetzen. Das geht unmissverständlich aus dem juristischen Inhalt der Tatbestände hervor, für welche sich der Präsident der 316 Bernstein, Carl/ Woodward, Bob: Amerikanischer Alptraum. Das unrühmliche Ende der Ära Nixon, Frankfurt/M 1976; Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Schambeck, Herbert/ Widder, Helmut/ Bergmann, Marcus, 2. Auflage, Berlin 2007, S. 598ff. 317 Isikoff, Michael: Clintongate. Die Geschichte eines Skandals, München/Düsseldorf 1999. 318 Zum folgenden auch Fraenkel, Ernst: Das amerikanische Regierungssystem, 2. Auflage, Köln/ Opladen 1962, S. 244ff; Lösche, Peter: Amerika in der Perspektive. Politik und Gesellschaft der Vereinigten Staaten, Darmstadt 1989, S. 180ff. 165 Otto Luchterhandt USA zu verantworten hat: es sind nicht politische Fehler, sondern Staatsverrat und andere Verbrechen. Die Prüfung und Klärung solcher Vorwürfe ist allein eine juristische Aufgabe319. 3. Die Gründungsväter haben das impeachment-Verfahren eingeführt, obwohl sie sich seiner politischen Schwierigkeiten, Gefahren und Risiken wohl bewusst waren. Hamilton hat sie in den Federalist papers beschrieben und ausführlich erörtert (Artikel 65 – 70)320. 4. Die Gründungsväter verstanden das impeachment-Verfahren in der Sache als ein Gerichtsverfahren, denn es geht darin um eine Anklage wegen „Verrat, Bestechung und andere schwere Verbrechen und Vergehen“ ( treason, bribery, or other high crimes and misdemeanors; Art. II Abschnitt 4 der Verfassung). Zuständig für die Entscheidung hätte daher eigentlich das Oberste Gericht (supreme court) sein müssen. Tatsächlich aber entschied man sich dafür, dass das Repräsentantenhaus zur Erhebung der Anklage (Art. I Abschnitt 2, Abs. 5) und der Senat zur Entscheidung berufen sind (Art. I Abschnitt 3, Abs. 6). Von der Ermächtigung des Obersten Gerichts sah man ab, weil man angesichts der Brisanz der Entscheidung über die Amtsenthebung nicht davon überzeugt war, dass die Autorität des supreme court im Volke und die Kraft und der Mut seiner Richter dazu ausreichen würden, die Entscheidung über die Amtsenthebung wirklich selbständig und frei zu fällen. Dem demokratisch gewählten Senat dagegen traute man kraft seiner institutionellen Autorität und politischen Kraft sowohl die Unabhängigkeit, als auch die Objektivität des Urteils in der Sache zu. 5. Die Gründungsväter haben ferner klar erkannt, dass bei der Prüfung und Entscheidung der Frage, ob das Staatsoberhaupt ein Verbrechen begangen habe, es nicht nur um den Amtsverlust gehen könne, sondern dass dieser staatsrechtlichen Sanktion auch noch die strafgerichtliche Verurteilung des Präsidenten wegen des von ihm begangenen Verbrechens folgen müsse. Die Entscheidung darüber konnte aber, das war selbstverständlich, nur der supreme court treffen. Man hatte aber prinzipielle Bedenken dagegen, beide Fragen vom Obersten Gericht, also von denselben Richtern entscheiden zu lassen. Zu leicht, so argumentierte man, könnte sich ein Fehler im Amtsenthebungsverfahren negativ auf den folgenden Strafprozess auswirken. Dementsprechend beschränkt die US319 Auf dem Kontinent war die politische und rechtliche Unverantwortlichkeit des Staatsoberhauptes in der konstitutionellen Monarchie eine Fortwirkung des absolutistischen Systems und seines Axioms der Unverletzlichkeit und der Unantastbarkeit des Monarchen für das Volk. Sie wurde damit gerechtfertigt, dass der Monarch die Legitimität seines Amtes nicht auf eine Willensäußerung des Volkes gründete, also nicht auf die Volkssouveränität, sondern letztlich allein auf das sog. Gottesgnadentum. Die Unverantwortlichkeit des konstitutionell regierenden Monarchen wurde aber durch die rechtliche Verantwortlichkeit seiner Minister und durch das Rechtsinstitut der Kontrasignatur ausgeglichen. Dadurch, dass der zuständige Minister oder der Ministerpräsident den monarchischen Akt förmlich mit seiner Unterschrift beglaubigte, übernahm er anstelle des Monarchen die Verantwortung für die betreffende Maßnahme. Seine Verantwortlichkeit aber konnte durch das mit der Kontrasignatur verbundene Verfassungsinstitut der Ministeranklage vor den Staatsgerichtshof wegen Verletzung des Rechts mit dem Ziel der Amtsenthebung zur Geltung gebracht werden. 320 Hamilton, Alexander/ Madison. James/ Jay, John: The Federalist Papers, with an introduction by Clinton Rossiter, New York 1961 (Mentor Book, ME 1907); deutsch: Die Federalist-Artikel, hrsg. Von Angela und Willi Paul Adams, Paderborn 1994 (UtB 1788). 166 Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip Verfassung das Oberste Gericht auf die strafgerichtliche Prüfung und Verurteilung des Präsidenten (Art. I Abschnitt 3 Abs. 7). Die Gründungsväter übernahmen damit zumindest im Ansatz das im englischen Mutterland seit dem 18. Jahrhundert voll ausgebildete Modell der Amtsenthebung von Ministern durch das Parlament, nämlich impeachment durch das Unterhaus (House of Commons) und Entscheidung darüber durch das Oberhaus (House of Lords)321. 6. Eine gewisse Verknüpfung des impeachment-Verfahrens mit dem supreme court ließen die Gründungsväter jedoch bestehen, denn man bestimmte, dass die Verhandlung über die Anklage im Senat unter dem Vorsitz des Obersten Richters (chief justice) stattzufinden habe (Art. I Abschnitt 3 Abs. 6). 7. Die Entscheidung für den Senat als Entscheidungsorgan darf nicht in dem Sinne verstanden werden, die Verfassungsväter hätten die demokratische Legitimation zum Leitprinzip für die Ausgestaltung des impeachment-Verfahrens machen wollen oder, anders gesagt, dem Verständnis der Amtsenthebung als Gerichtsverfahren eine Absage erteilt. Nicht auf der höheren demokratischen Legitimität des Senats gegenüber dem supreme court liegt der Akzent, sondern allein darauf, dass nach Meinung der Gründungsväter der Senat wegen seiner institutionellen und politischen Besonderheiten in höherem Maße über die an sich ein Gericht auszeichnenden Eigenschaften , nämlich Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, verfüge. Man muss bei der Diskussion und Würdigung der geschichtlich überkommenen Ausgestaltung des Impeachment-Verfahrens in den USA sich im Übrigen bewusst machen, dass das englische Parliament ursprünglich ein Gerichtshof war, dass der angelsächsische Parlamentarismus sich aus dem gerichtlichen Verfahren entwickelt hat, dass das Gesetzgebungsverfahren in England bis in das 19. Jahrhundert hinein diesen Wurzeln noch mehr oder weniger stark verhaftet war322 und dass schließlich das Oberhaus in London (noch heute) vor allem Funktionen eines (höchsten) Gerichts wahrnimmt323. Man kann abschließend über das US-amerikanische Urbild und Vorbild des Amtsenthebungsverfahrens die Feststellung treffen, dass in seiner Ausgestaltung zum einen das Prinzip der demokratischen Legitimation, repräsentiert vor allem durch den Senat, und zum anderen das Prinzip der rule of law bzw. der Rechtsstaatlichkeit, repräsentiert durch die gerichtliche Struktur des Verfahrens selbst, zu einer Einheit verschmolzen sind. Dass das impeachment-Verfahren bislang funktionstüchtig war, beruht vor allem auf den starken Fundamenten der Gewaltenteilung im amerikanischen Verfassungssystem, 321 Hatschek, Julius: Englische Verfassungsgeschichte (bis zum Regierungsantritt der Königin Victoria), München/ Berlin 1913, S. 402 ff.; 643 ff. Hamilton weist im 65. Artikel des Federalist ausdrücklich darauf sowie auf den Umstand hin, dass zahlreiche Einzelstaaten das Modell des Mutterlandes bereits übernommen hätten. 322 Hatschek, a. a. O. S. 636 ff. („Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war selbst das gesetzgeberische Verfahren bei öffentlichen Akten, also den sog. public acts, durchaus eine Art von Prozeßverfahren.“ usw.) Zum Ganzen aus verfassungstheoretischer Sicht auch Kriele, Martin: Einführung in die Staatslehre, 1. Auflage, Reinbek 1975, S. 196 ff. („Parlamentarische Demokratie ist geschichtlich und theoretisch zu begreifen aus der Übertragung des Gedankens des gerichtlichen Prozesses auf den politischen Prozeß der Gesetzgebung.“) 323 Mc Cleary, George F.: Die englische Rechtsprechung, 2. Auflage, Köln usw. 1985. 167 Otto Luchterhandt auf dem ausgeprägten Selbstbewusstsein des Kongresses und insbesondere des Senats und nicht zuletzt auch auf der Lebendigkeit der Rechts- und Verfassungstraditionen in Staat und Gesellschaft der USA, der Wachsamkeit einer freien Presse und einer starken öffentlichen Meinung. Die Übertragbarkeit einer solchen Institution wie das impeachment-Verfahren auf andere Nationen, Staaten, Verfassungsräume und Rechtsordnungen mit ihren eigenen und ganz anderen Schicksalen, Erfahrungen und Traditionen ist daher, wie immer bei der Rezeption von Recht, problematisch und ein Experiment. Auch wenn das Experiment glückt, bekommt das zunächst fremde, übernommene Rechts- oder Verfassungsinstitut im Prozess seiner rechtskulturellen Einwurzelung, Einfügung und Anpassung ein eigenes Profil im neuen Umfeld. Dies lässt sich in vielfältiger Weise auch in den noch jungen Verfassungsentwicklungen im postkommunistischen Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa, in ihren neuen, verfassungsstaatlichen Ordnungen beobachten. Dabei zeigt sich, dass in den jeweiligen nationalen Regelungen des Amtsenthebungsverfahrens die Hauptideen des US-amerikanischen Vorbildes zwar lebendig sind, dass sich jenseits elementarer Gemeinsamkeiten aber Elemente des Demokratieprinzips und solche des Rechtsstaatsprinzips teilweise in sehr unterschiedlicher Weise miteinander verbunden haben. Darauf ist nun näher einzugehen. III. Amtsenthebungsverfahren im Koordinatenkreuz von Demokratieund Rechtsstaatsprinzip Aus institutioneller, idealtypisch vereinfachter Sicht kann man das Demokratieprinzip mit der Volksvertretung, gegebenenfalls in der Form zweier Kammern, das Rechtsstaatsprinzip hingegen mit dem Gericht gleichsetzen. Indem nun das Amtsenthebungsverfahren ursprünglich auf dem Grundsatz der juristischen Verantwortlichkeit des Staatsoberhauptes beruht, drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass das Verfahren wie beim Strafprozess in Händen von Justizorganen, also von Staatsanwaltschaft und Gericht, liegen, mithin allein nach dem Rechtsstaatsprinzip geordnet sein müsste und folglich die Volksvertretung und mit ihr das Demokratieprinzip eigentlich keine Rolle spielen dürfte. Diese Konsequenz ist freilich nirgendwo gezogen worden. Im Gegenteil! Ein die Verfassungen vergleichender Überblick über die europäischen Staaten zeigt vielmehr, dass das Parlament bzw. seine beiden Kammern eine mehr oder weniger große Rolle im Amtsenthebungsverfahren spielen und nicht selten, wie hier in Litauen, auch die abschließende Entscheidung treffen. In solchen Fällen dominiert also die Orientierung nicht am Rechtsstaatsprinzip, sondern am Demokratieprinzip. Das ist bemerkenswert! Immerhin kann man aber feststellen, dass ein tragender Grundsatz des, jedes Gerichtsund insbesondere des Strafprozesses, nämlich die Verschiedenheit des plädierenden und die Anklage vertretenden Subjekts einerseits und des die Entscheidung über die Amtsenthebung fällenden Subjekts andererseits praktisch ohne Ausnahme befolgt wird. Bevor ich mich der Frage zuwende, mit welchen Gründen sich die Berücksichtigung auch des Demokratieprinzips bei der Ausgestaltung des Amtsenthebungsverfahrens recht168 Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip fertigen lässt, möchte ich in einem knappen, systematisch angelegten Vergleich die verschiedenen Regelungen der Amtsenthebung des Staatsoberhauptes aus dem Blickwinkel der Beteiligung von Parlament und Justiz an dem Verfahren auf einer gedachten Skala theoretisch-praktischer Möglichkeiten und Varianten darstellen. Die Skala beginnt an ihrem einen Ende oder Pol mit dem Fall, dass das Verfahren in reiner Verwirklichung des Demokratieprinzips ausschließlich in der Regie des Parlaments liegt, und endet an dem anderen Pol mit dem Fall, dass das Verfahren im Sinne des Rechtsstaatsprinzips ausschließlich von der Justiz betrieben wird. Man kann auf der imaginären Skala sechs Haupttypen der Regelung von Amtsenthebungsverfahren unterscheiden, denen sich teilweise „Untertypen“ zuordnen lassen: 1. Theoretisch ist es denkbar, dass im Falle eines Ein-Kammer-Parlaments ein bestimmter Teil, sei es eine qualifizierte Minderheit oder die relative oder die absolute Mehrheit der Abgeordneten die Anklage im Parlament erhebt und eine qualifizierte, eine 2/3-, 3/4- oder gar 4/5-Mehrheit der Abgeordneten über die Amtsenthebung entscheidet. Einen solchen Fall habe ich zwar nicht gefunden, aber seine Existenz will ich nicht ausschließen. 2. Der zweite Typ ist das Verfahren im Zwei-Kammer-Parlament: die Anklageerhebung erfolgt mit einfacher Mehrheit durch das Unterhaus, die Entscheidung durch das Oberhaus mit qualifizierter, etwa 2/3-Mehrheit. Das ist der Fall der US-Verfassung. Sie weist, wie bemerkt, nur die Besonderheit und gewissermaßen das Zugeständnis an das Rechtsstaatsprinzip auf, dass bei diesem Verfahren nicht der Vizepräsident, wie gewöhnlich, sondern der Vorsitzende (chief justice) des supreme court dem Senat präsidiert (Art. I Abschnitt 3, Abs. 6). 3. Der dritte Typ begegnet uns u. a. in Russland (Art. 93 der föderalen Verfassung): Die Anklageerhebung liegt bei der Staatsduma mit mindestens 1/3 (aus der gesetzlichen Zahl) der Abgeordneten, d.h. mindestens 150 von 450, die Entscheidung hingegen bedarf der 2/3-Mehrheit sowohl der Staatsduma als auch des Föderationsrates. Insoweit stimmt die russische Lösung im Prinzip mit dem US-Modell überein. Sie unterscheidet sich jedoch wesentlich durch die Einschaltung der Justiz in das Verfahren: vor der Entscheidung über die Absetzung des Präsidenten hat nämlich erstens das Oberste Gericht Russlands zu prüfen, ob der Präsident die Straftat(en) wirklich begangen hat, und zweitens das föderale Verfassungsgericht festzustellen, ob die Vorschriften über den Verfahrensablauf eingehalten wurden. Die Frage der Bindungswirkung bzw. Verbindlichkeit der beiden Gerichtsgutachten beantwortet das Gesetz differenziert: die Anklageerhebung durch die Duma setzt die förmliche Feststellung der Straftat durch das Oberste Gericht Russlands voraus; andernfalls endet das Verfahren. Die Anklage geht dann dem Föderationsrat zu, der nun das Gutachten des Verfassungsgerichts einholt. Stellt das Verfassungsgericht eine Verfahrensverletzung fest, beendet es das Verfahren324. Andernfalls kommt es zur abschließenden Entscheidung im Föderationsrat. Dieser ist an die Gutachten nicht 324 Art. 110 VerfGG Russlands. 169 Otto Luchterhandt gebunden. Er kann sich über die rechtlichen Gesichtspunkte hinwegsetzen und eine rein politische Entscheidung treffen325. Im Unterschied zu Russland hat die Ukraine nur ein Ein-Kammer-Parlament, die Verchovna Rada. Das Recht zur Erhebung der Anklage steht einer absoluten Mehrheit, ausgehend von der gesetzlichen Mitgliederzahl der Abgeordneten, zu. Vorbereitet wird die Anklageschrift von einer Spezialkommission der Rada, der ein Sonderstaatsanwalt und ein Sonderermittler angehören müssen. Danach sind im Prinzip wie in Russland das Verfassungsgericht zur Feststellung der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens und das Oberste Gericht zur Feststellung der Begründetheit des Strafvorwurfs einzuschalten. Die Entscheidung über die Amtsenthebung trifft schließlich die Verchovna Rada mit einer 3/4 – Mehrheit aller Parlamentsabgeordneten (Art. 111 Verfassung). Die Regelung in Litauen, wo ebenfalls ein Ein-Kammer-Parlament, der 141 Abgeordnete zählende Sejmas, besteht, bildet einen weiteren Untertyp des in der Regie des Parlaments liegenden Amtsenthebungsverfahrens. Dessen Einleitung kann, breiter als in Russland, mit dem Vorwurf begründet werden, „die Verfassung schwerwiegend verletzt oder den Amtseid gebrochen oder ein Verbrechen begangen zu haben“ (Art. 74 I i. V. m. Art. 86 II). Die Erhebung der Anklage bedarf gemäß Art. 230 der Geschäftsordnung des Sejmas der Unterstützung eines Viertels aller Abgeordneten, also von mindestens 36 aus 141. Danach prüft eine vom Sejmas eingesetzte „Sonderuntersuchungskommission“326 die erhobenen Vorwürfe. Stimmt der Sejmas mit absoluter Mehrheit ihrem Ergebnis zu, dann stellt er, wie von der Verfassung vorgesehen (Art. 105 III Nr. 4, Art. 107 Abs. 3), beim Verfassungsgericht den Antrag zu prüfen, ob der Staatspräsident die Verfassung schwerwiegend verletzt hat. Das Gutachten darüber hat für den Sejmas bei der anschließenden Entscheidung über die Absetzung des Staatspräsidenten, soweit es um die Tatsachen und ihre rechtliche Bewertung geht, Feststellungswirkung, ist insofern also für das Parlament verbindlich. Die abschließende Entscheidung des Sejmas über die Amtsenthebung – ja oder nein – ist eine rein politische327. Über die Amtsenthebung entscheidet der Sejmas schließlich mit einer 3/5-Mehrheit (Art. 74 i. V. m. Art. 107 Abs. 3 Verfassung). Im Falle ´Paksas´ war bereits die Erhebung der Anklage von einer 3/5-Mehrheit, nämlich von 86 Abgeordneten, unterstützt worden. Ihre Zahl erhöhte sich später, bei der Abstimmung über die Amtsenthebung nicht. Die für die Absetzung Präsident Paksas´ erfor325 Lazarev, V.V. (Red.): Naučno-praktičeskij kommentarij k Konstitucii Rossijskoj Federacii, 2. Auflage, Moskau 2001, S. 469, Art. 93 – M. A. Krasnov). 326 Gemäß Art. 232 besteht sie in der Regel aus 12 Mitgliedern, die nach Fraktionsproporz bestimmt werden (Art. 71 GO). Im Amtsenthebungsverfahren gegen Staatspräsident Paksas 2003/ 2004 war sie gemäß Art. 236 a. F. der Sejmas-Geschäftsordnung paritätisch teils aus Abgeordneten, teils aus Juristen der Justiz gebildet worden. Vgl. Šileikis, Egidijus: Das Anklageverfahren gegen den Staatspräsidenten Litauens Rolandas Paksas, in: WGO. Monatshefte für Osteuropäisches Recht 46. Jg. (2004), S. 266- 278 (270 Anm. 14); Statkevičius, Mindaugas: Das erste Amtsenthebungsverfahren in Litauen, in: Osteuropa-Recht 50. Jg. (2004), S. 352 – 362 (355 ff). 327 Dies hat das Verfassungsgericht Litauens in seinem Gutachten im Paksas-Verfahren durch eine entsprechende Auslegung der Geschäftsordnung des Sejmas klargestellt. Ausführlich dazu Šileikis, Das Anklageverfahren (Anm. 326), S. 276 f. 170 Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip derliche Mehrheit von 85 Abgeordneten stand also von Anfang an fest, wurde aber letztlich nur knapp erreicht bzw. bestätigt, obwohl das Verfassungsgericht Paksas in einer Reihe von Anklagepunkten für schuldig befunden hatte. Eine stabile Minderheit von zwei Fünfteln der Abgeordneten hat das Ergebnis der gerichtlichen Prüfung also nicht zu beeindrucken vermocht und bei ihnen zu keinem Sinneswandel geführt. Man wird das als ein sicheres Indiz dafür ansehen können, dass die Frage der Absetzung des Präsidenten von Seiten der Parlamentsfraktionen letztlich ausschlaggebend von ihren politischen Standpunkten und Interessen behandelt und entschieden wurde. Hätten rechtliche, juristische Gesichtspunkte die ihnen im Amtsenthebungsverfahren eigentlich zukommende Bedeutung besessen, dann hätte es zu Veränderungen in den Abstimmungsergebnissen kommen müssen. Dadurch allerdings, dass schon bei der Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens klar war, dass im Sejmas die erforderliche Mehrheit auch für die Absetzung selbst vorlag, sind von Anfang an jene Kräfte im weiteren Verfahrensablauf politisch und psychologisch gestärkt worden, denen es um eine seriöse und faire Prüfung der gegen den Präsidenten erhobenen Vorwürfe ging. Zweifellos hat das vor allem dem Verfassungsgericht geholfen, seine delikate, schwierige und für seine Stellung im Verfassungsgefüge des Landes nicht ungefährliche Aufgabe zu erfüllen und seiner verfassungsmäßigen Funktion im Amtsenthebungsverfahren gerecht zu werden. 4. Die Grundstruktur des Amtsenthebungsverfahrens in Rumänien (Art. 95 der Verfassung), wo ebenfalls ein Zwei-Kammer-Parlament besteht, gleicht zwar dem Verfahren in Russland, aber die abschließende Entscheidung trifft in seinem Fall das Volk durch Referendum. Diese gravierende Besonderheit macht Rumänien zu einem eigenen Verfahrenstyp. Im Einzelnen sieht die rumänische Regelung folgendermaßen aus: Die Anklage, dass der Staatspräsident „schwerwiegende Handlungen begangen hat, durch welche er die Bestimmungen der Verfassung verletzt (hat)“, kann von 1/3 der Mitglieder der Abgeordnetenkammer oder des Senats zusammen mit dem Antrag erhoben werden, den Präsidenten vom Amt zu suspendieren. In einem weiteren Verfahrensschritt prüft das Verfassungsgericht, ob der Vorwurf gegen den Präsidenten berechtigt ist. Die Feststellungen seines Gutachtens sind nicht verbindlich. Darauf entscheidet das Parlament in einer gemeinsamen Sitzung beider Kammern mit absoluter Mehrheit aller Stimmen über die Suspendierung. Kommt die Entscheidung zustande, ist binnen 30 Tagen ein Referendum über die endgültige Amtsenthebung des Präsidenten durchzuführen. Das Volk entscheidet mit der einfachen Mehrheit der am Referendum teilnehmenden Wahlbzw. Abstimmungsberechtigten. Das Amtsenthebungsverfahren gegen Staatspräsident Băsescu im Frühjahr 2007 war voller politischer Dramatik, aber auch in juristischer Hinsicht sehr interessant. Hervorgehoben zu werden verdient, dass das Verfassungsgericht in seinem Gutachten vom 5. April die 19 Anklagepunkte teils für unbewiesene, teils für nicht schwerwiegende Verstöße gegen die Verfassung einstufte und damit der Anklage die rechtliche Grundlage entzog. Gleichwohl hat das Parlament in gemeinsamer Sitzung ihrer 465 Abgeordneten und Senatoren mit der großen Mehrheit von 322 gegen 108 bei 10 Enthaltungen für die 171 Otto Luchterhandt Suspendierung des Staatspräsidenten gestimmt. Das Referendum hingegen ging mit 74.48 zu 24.75 % zugunsten Băsescus aus328. 5. Der fünfte Typ ist charakterisiert durch die Übertragung der Entscheidung über die Absetzung des Staatsoberhauptes auf ein Gericht – entweder auf einen besonderen Staatsgerichtshof für Anklagen gegen hochgestellte staatliche Amtsträger (so in Finnland329, Frankreich330, Polen331, Griechenland332) oder auf das Verfassungsgericht (so u. a. in Deutschland333, Österreich334 , Slowakei335, Tschechien336, Italien337, Portugal338 Ungarn339). Die Anklage wird vom Parlament in der Regel mit einer hohen, meist 2/3-Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments oder – wie in Finnland340 – gar mit einer 4/5-Mehrheit des Reichstages erhoben341. In Deutschland reicht die Zwei-Drittel-Mehrheit entweder der Mitglieder des Bundestages oder der Stimmen des Bundesrates für die Anklageerhebung aus342. 6. Beim sechsten Typ ist die Dominanz der Justiz noch stärker. Ihm kann man Estland (§ 85 Verfassung) und wohl auch Lettland (Art. 54 Verfassung) zuordnen. In Estland liegt das Recht, das Amtsenthebungsverfahren zu initiieren, allein bei dem mit richter328 Teilgenommen hatten 44,45% der 18.301309 Stimmberechtigten, d.h. 8.135.272 Personen. 329 § 113 Verfassung. 330 Art. 67. 331 Art. 198-201. 332 Art. 49, 86. 333 Art. 61 Grundgesetz (GG) i. V. m. §§ 13 Nr. 4, 49 ff Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). 334 Art. 68 i. V. m. Art. 142, 143 Bundesverfassungs-Gesetz. 335 Art. 106, 107 Verfassung. 336 Art. 65 Verfassung. 337 Art. 90 i. V. m. Art. 134 Abs. 3 Verfassung. 338 Art. 130, 223 Verfassung. 339 §§ 31, 32 Verfassung. 340 § 113 Verfassung. 341 In Italien und Frankreich reicht die absolute Mehrheit in beiden Parlamentskammern aus. 342 Art. 61 Abs. 1 GG. In der Weimarer Reichsverfassung (Art. 59) war, obwohl sie ein Verfassungsgericht nicht geschaffen hatte, das Verfahren im Prinzip ähnlich. Anklageberechtigt war allerdings nur der Reichstag auf Initiative von mindestens 100 Abgeordneten. Damit die Anklage auch zustande kam, bedurften sie der Zustimmung der für Verfassungsänderungen vorgesehenen, d. h. einer Zwei-Drittel-Mehrheit (Art. 76 WRV) bei einer Mindestanwesenheit von 2/3 des Reichstages. 4/9 der gesetzlichen Zahl der Reichstagsmitglieder reichten infolgedessen für die Anklage aus. Sie war bei dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich zu erheben. Als Vorwurf der Anklage reichte – erstaunlicherweise – schon eine „schuldhafte Verletzung der Reichsverfassung oder eines Reichsgesetzes“ aus. Zu einer Anwendung der Vorschrift kam es allerdings nicht. Vgl. Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Kommentar, 11. Auflage, Berlin 1929 (Art. 59). 172 Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip licher Unabhängigkeit ausgestatteten Justizkanzler. Sein Vorschlag, Anklage gegen den Staatspräsidenten wegen eines Verbrechens zu erheben, bedarf der Zustimmung des Parlaments. Erteilt es seine Zustimmung, entscheidet der Staatsgerichtshof im strafprozessualen Verfahren über die Anklage. Während für die Zustimmung des Parlaments in Estland die absolute Mehrheit ausreicht, ist in Lettland eine 2/3-Mehrheit erforderlich. Da der Staatspräsident in beiden Ländern vom Parlament gewählt wird, ähnelt die Erteilung der Zustimmung zur Anklage im Amtsenthebungsverfahren durch das Parlament der Aufhebung der Immunität des Präsidenten und damit seiner Auslieferung an die Strafverfolgung. IV. Kritische Bewertung der Amtsenthebungsverfahren aus der Sicht ihrer Prinzipiengerechtigkeit Die Regelungen der Amtsenthebung auf dem europäischen Kontinent sehen ausnahmslos die Einschaltung der Gerichte in das Verfahren vor. Man ist also nirgendwo dem USamerikanischen Modell gefolgt, das Verfahren ausschließlich in die Regie des Parlaments zu legen. Da allerdings, wie oben dargelegt, bei der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung in den Neuenglandstaaten das Bewusstsein einer Nähe zwischen Parlament und Gerichtshof noch sehr lebendig war, könnte man die für die Verfassungs- und Rechtsverhältnisse auf dem Kontinent heute typische förmliche Einbeziehung der Justiz und der höchsten Gerichte in das Amtsenthebungsverfahren gewissermaßen als Kompensation einer solchen hier fehlenden Tradition deuten. Allerdings stellt sich die Frage, ob die untergeordnete Rolle, die die Gerichte in den Amtsenthebungsverfahren Russlands und der Ukraine, aber auch Litauens und Rumäniens spielen, eine überzeugende Lösung darstellt. Wenn die Verantwortlichkeit des Staatspräsidenten als eine rein juristische konzipiert ist und sein Amtsverlust nur damit begründet werden kann, dass der Präsident nachweislich bestimmte Vorschriften der Verfassung und/oder des Strafgesetzbuches, d. h. Rechtsvorschriften, verletzt hat, dann liegt es in der Natur der Sache, dass der Nachweis der Verfassungs- und Gesetzesverletzung in einem strengen, fairen Prozess erbracht wird. Das dafür geeignete Organ ist aber nicht das Parlament, sei es in Gestalt zweier Kammern oder des Plenums, sondern ein Gericht. Denn die Prüfung von Gesetzesverletzungen ist keine politische Entscheidung, sondern ein Akt juristischer Erkenntnis. Sie ist ihrem Wesen nach Rechtsprechung und sollte deswegen nach deren Prinzipien und Maximen erfolgen. Aus diesem Grunde darf, ja muss man es im Ansatz für einen institutionellen Fehlgriff des Verfassungsgebers halten, wenn er die Kompetenz zur Entscheidung über die Absetzung des Präsidenten dem Parlament eingeräumt hat. Überzeugender ist es, die Kompetenz einem Gericht zu übertragen, wie es viele, ja wohl die meisten Staaten in Europa tatsächlich auch getan haben. Man kann darüber streiten, ob man die Entscheidung einem besonderen Staatsgerichtshof, einem Strafgerichtshof oder aber dem Verfassungsgericht überlassen soll. Ich halte die Übertragung der Kompetenz auf das Verfassungsgericht ratione materiae für die überzeugendste Lösung, weil der Staatspräsident ein Verfassungsorgan ist, dessen Amtstätigkeit 173 Otto Luchterhandt sich im Horizont der Verfassung und in der Interaktion mit anderen Verfassungs- und Staatsorganen sowie mit auswärtigen Staaten vollzieht. Gerade das Verfassungsgericht aber ist dazu qualifiziert und legitimiert, die Tätigkeit anderer Verfassungsorgane vom Standpunkte des Rechts aus zu bewerten. Missglückt ist meines Erachtens der rumänische Typ des Amtsenthebungsverfahrens. Seiner Regelung dürfte ein Missverständnis zugrunde liegen. Man kann es auf die Formel bringen: der Staatspräsident darf nur von demjenigen Organ seines Amtes enthoben werden, das den Präsidenten gewählt hat, also vom Volk (Art. 80 der Verfassung Rumäniens). Die Formel klingt gut und man möchte ihr spontan zustimmen. Der ihr zugrunde liegende Gedanke ist aber – jedenfalls im Rechtsstaat – falsch, denn die Autoren dieser Regelung haben den grundsätzlichen Unterschied zwischen der politischen und der juristischen Verantwortlichkeit des Staatsoberhaupts übersehen. Das Volk fällt im Referendum über die Frage der Amtsenthebung nämlich kein Rechtsurteil – dazu wäre es gar nicht fähig, sondern die Abstimmenden treffen aus ihrer Sicht eine rein politische Entscheidung, nämlich ob sie den populären oder unpopulären, erfolgreichen oder erfolglosen, sympathischen oder unsympathischen Präsidenten weiter im Amt sehen wollen oder nicht. Auch das Parlament hat zuvor eine politische Entscheidung getroffen. Die von der Verfassung dafür vorgeschriebenen hohen Mehrheiten erhöhen zwar die demokratische Legitimität der Entscheidung, lassen aber ihre rechtsstaatliche, juristische Qualität unberührt. Auf diese Qualität kommt es aber im Amtsenthebungsverfahren primär an, nicht auf den Grad der demokratischen Legitimität der Entscheidung. Nun könnte man zur Verteidigung der Dominanz des Parlaments im Amtsenthebungs verfahren einwenden, dass dem juridischen Charakter der Präsidentenanklage dadurch hinreichend Rechnung getragen werde, dass in den Verfahrensablauf im Parlament selbst prozessrechtliche Vorschriften und Maximen eingebaut seien und dadurch auch dem Rechtsstaatsprinzip Genüge getan werde. In der Tat sehen die parlamentarischen Geschäftsordnungen für die Prüfung der Vorwürfe und die Vorbereitung der Anklageschrift in aller Regel die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vor, dessen Regularien sich an der Strafprozessordnung orientieren. Litauen ist dafür wegen der großen Ausführlichkeit der einschlägigen Bestimmungen343 ein sehr gutes, ja eindrucksvolles Beispiel. Die Durchführung dieser Verfahren und die Arbeit der Untersuchungsausschüsse orientieren sich jedoch nicht an strikter juridischer Objektivität und können es auch nicht, weil sie von den Parteiungen im Parlament, von Fraktionen und Gruppen, beherrscht werden, die sich selbstverständlich primär von ihren politischen Interessen und Zielen leiten lassen. Gerade die Behandlung des ´Paksas´- Falles im litauischen Parlament, insbesondere die Unverrückbarkeit seiner politischen Fronten in der Sache während des Verfahrens, liefert dafür einen schlagenden Beweis. Das kann und soll natürlich nicht heißen, die Übernahme von am gerichtlichen Verfahren ausgerichteten Bestimmungen in das parlamentarische Prozedere beim Amtsenthebungsverfahren sei sinnlos oder überflüssig. Sie sind es selbst dann nicht, wenn das nationale Recht die förmliche, gutachterliche Einschaltung eines oder mehrerer hoher Gerichte wie etwa in Russland oder in der 343 Kapitel XXXVIII und XXXIX (Art. 227–243). 174 Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip Ukraine vorsieht. Solche Regelungen können aber den besagten grundsätzlichen Nachteil der vorrangigen Stellung des Parlaments im Amtsenthebungsverfahren nicht wirklich ausgleichen. Umgekehrt halte ich es für richtig und wünschenswert, dass das Parlament und mit ihm das demokratische Prinzip bei der Ausgestaltung des Amtsenthebungsverfahrens durchaus Berücksichtigung findet, allerdings nur an zweiter Stelle, im Range nach dem Rechtsstaatsprinzip mit der für das Prinzip typischen Institution des Gerichts. Das Hauptargument, das dafür spricht, ist der Umstand, dass der Staatspräsident ein Verfassungsorgan ist, dass er den Staat an höchster Stelle repräsentiert, dass er ferner in einem hochpolitischen, von den Parteien dominierten Umfeld agiert und deswegen der Gefahr vorgebeugt werden muss, dass das Amtsenthebungsverfahren leichtfertig und willkürlich, aufgrund von politischen Intrigen oder persönlichen Motiven kleiner, aber mächtiger Gruppen eingeleitet wird. Wer das Staatsoberhaupt stürzen will, muss – das muss ein fester Grundsatz sein – vor eine hohe Hürde gestellt werden. Nun besteht aber kein Zweifel, dass es ein hohes Hindernis darstellt, wenn die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens nicht von irgendeinem „wild gewordenen Staatsanwalt“ abhängt, sondern von der Entscheidung einer qualifizierten Minderheit des Parlaments oder erst recht einer Mehrheit seiner Abgeordneten. Die Wahrscheinlichkeit und Gefahr, dass das Verfahren missbraucht wird, würde natürlich stark vermindert, wenn es zunächst erforderlich wäre, eine große Zahl von Abgeordneten davon zu überzeugen, dass die Einleitung des Verfahrens gerechtfertigt sei. Auch wenn es allein oder überwiegend gewichtige juristische Gründe und Argumente gibt, die für ein Vorgehen gegen des Staatsoberhaupts sprechen, dann ist es niemals nur eine rein rechtliche, sondern immer auch eine politische Frage, ob man zu dem scharfen, spektakulären und unter Umständen gefährlichen Instrument des impeachment –Verfahrens greifen oder aber andere Wege gehen soll, um das Staatsoberhaupt auf den „Pfad der Tugend“ zurückzuführen. Ein anderer Weg könnte unter Umständen das Organstreitverfahren vor dem Verfassungsgericht sein, was die Handhabung des Konflikts mit dem Staatsoberhaupt in politischer Hinsicht erleichtern würde, weil diesem Verfahrenstyp die für das Amtsenthebungsverfahren typische und höchst delikate Assoziation mit dem Strafprozess fehlt. Die starken politischen Implikationen der Präsidentenanklage sprechen jedenfalls unbedingt dafür, die Entscheidung über deren förmliche Erhebung dem Parlament vorzubehalten. Um der Möglichkeit des politischen Missbrauchs vorzubeugen, vermögen diejenigen Regelungen am stärksten zu überzeugen, die dafür eine deutliche parlamentarische Mehrheit verlangen. Von ihrer Entscheidung für die Anklageerhebung geht für das betroffene Staatsoberhaupt ein klares sowohl politisches also auch juristisches Signal aus: das Parlament und damit das Organ der ersten, der gesetzgebenden Gewalt stellt sich in einem schweren Verfassungskonflikt nach eingehender Prüfung und Beratung gegen das der vollziehenden Gewalt zuzuordnende Staatsoberhaupt. Die Konstellation entspricht also strukturell dem Strafprozess. Im Gegeneinander zwischen Organen der ersten und der zweiten Gewalt kann das Gericht seine klassische, allein der Wahrung des Rechts verpflichtete Schiedsrichterfunktion zwischen den Organen bzw. Gewalten erfüllen und 175 Otto Luchterhandt den Streit durch seine autoritative Entscheidung als Organ der dritten Gewalt – so oder so – beenden. Die in der Anklageerhebung manifest gewordene Position des Parlaments ist geeignet, dem Gericht bei der Entscheidung über die Amtsenthebung im Blick auf die davon ausgelösten Folgen diejenige institutionell-politische Stütze zu geben, deren das Gericht bedarf, um wirklich unabhängig die Entscheidung treffen zu können. V. Vorrang für das Parlament im Amtsenthebungsverfahren im Falle von Transformationsstaaten? Der Fall ´Paksas´ könnte allerdings als Beleg für die Richtigkeit des USamerikanischen Ansatzes betrachtet werden, dem Parlament die entscheidende Rolle im Amtsenthebungsverfahren zuzuweisen, aus der Erwägung und mit der Begründung, dass das Verfassungsgericht allein – institutionell und politisch – vermutlich zu schwach gewesen wäre, sich im Konflikt mit einem um sein Amt kämpfenden Staatspräsidenten durchzusetzen, und dass in Litauen nur die Macht des Parlaments letztlich bewirkt und gewährleistet habe, dass die Amtsenthebung möglich wurde und die Entscheidung keine Staatskrise ausgelöst hat. Ähnlich könnte man wohl auch im Falle des rumänischen Staatspräsidenten Băsescu argumentieren. Natürlich ist eine solche Einschätzung der Amtsenthebungsvorgänge in den beiden Ländern nicht ausgeschlossen, wenngleich es immer problematisch ist, mögliche Erfolgschancen von aus rechtlichen Gründen von vornherein gar nicht zur Verfügung stehenden Alternativen zu verneinen, weil naturgemäß weder die Verifizierung noch die Falsifizierung derartiger Behauptungen möglich ist. Bedenkt man indes, dass der demokratische Verfassungsstaat mit seinen Institutionen in den postkommunistischen Transformationsstaaten Osteuropas noch immer auf ziemlich schwachen Füßen steht und insbesondere die Rechtsstaatlichkeit noch nicht so tief und so fest verankert ist, dass die Einschätzung und Prognose erlaubt wäre, ihre Institutionen könnten schweren innenpolitischen Erschütterungen sicher standhalten, dann liegt der Gedanke nahe, das Amtsenthebungsverfahren primär in die Regie des Parlaments zu legen und nicht dem Rechtsstaatsprinzip, sondern dem demokratischen Prinzip den Vorrang zu geben. Die Vertreter einer solchen Position könnten sich sogar auf die Gründerväter der US-Verfassung berufen, die, wie oben bemerkt, die Entscheidung über die Amtsenthebung dem Senat übertrugen, weil sie das Oberste Gericht für diese Aktion gegenüber dem Präsidenten als dem mächtigen Haupt der föderalen Exekutive für zu schwach gehalten haben. Der Vergleich mit den USA trägt aber nur dann, wenn wir es tatsächlich mit einer Verfassungsordnung zu tun haben, in welcher der Präsident entweder förmlich Chef der Exekutive ist, also einer Präsidialdemokratie, oder mit einer Verfassungsordnung, in welcher der Präsident zumindest über starke Prärogativen als Staatsoberhaupt verfügt. Eine der Macht des amerikanischen Präsidenten vergleichbare Stellung besteht in den postkommunistischen Verfassungsordnungen Osteuropas lediglich in den GUS-Staaten, 176 Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip neuerdings nur noch teilweise344. In Ostmitteleuropa und Südosteuropa bestehen dagegen inzwischen durchweg parlamentarische Regierungssysteme345. Ihre Präsidenten haben als Staatsoberhäupter teilweise zwar starke Kompetenzen im Bereich der Auswärtigen Gewalt, verfügen insgesamt jedoch über eine wesentlich geringere Kompetenzmacht als der (nur) dem Parlament verantwortliche Premierminister bzw. Ministerpräsident. Dort, wo der Staatspräsident direkt vom Volk gewählt wird wie etwa in Rumänien oder Litauen und infolgedessen formell über eine stärkere demokratische Legitimation verfügt als der Regierungschef, hat er in der Verfassungspraxis seine Machtposition allerdings ausbauen können, besonders dann, wenn er außerdem noch Chef einer mehr oder weniger starken Parlamentspartei ist. Man wird daher differenzieren müssen: dort, wo der Staatspräsident förmlich oder de facto Chef der Exekutive ist wie – noch immer – in den meisten GUS-Staaten, erscheint es aus den dargelegten Gründen, im Prinzip wie in den USA, sinnvoll, die Befugnis zur Amtsenthebung dem Parlament zu übertragen und die Gerichtsbarkeit in mehr oder weniger wirkungsvoller Weise am Verfahren nur zu beteiligen. Die in Russland formell geltende Regelung des Amtsenthebungsverfahrens entspricht dem in vollkommener Weise. Die völlige Entmachtung beider Kammern des Parlaments („Föderalversammlung“) während der Ära ´Putin´ (2000 – 2008) und ihre Unterordnung unter eine allmächtig gewordene Präsidialexekutive hat dem Verfassungs- bzw. Rechtsinstitut der Präsidentenanklage allerdings de facto den politischen Boden entzogen346. Es kann, so zeigt sich, überhaupt nur zur Wirkung gelangen, wenn das Prinzip der Gewaltenteilung nicht nur auf dem Papier steht. In den Transformationsstaaten Ostmittel- und Südosteuropas besteht diese Voraussetzung. Bei ihnen ist denn auch die Lage im Vergleich etwa mit Russland eine qualitativ völlig andere. Es ist daher auch kein Zufall, vielmehr durchaus folgerichtig, dass sie bei der Regelung des Amtsenthebungsverfahrens, wie oben gezeigt, die Entscheidung ganz überwiegend einem Gericht, und zwar zumeist dem Verfassungsgericht, übertragen und damit dem Rechtsstaatsprinzip den Vorrang eingeräumt haben. Das Demokratieprinzip ist ebenfalls, aber nur nachrangig, berücksichtigt, indem dem Parlament die Initiative und Befugnis zur Anklageerhebung eingeräumt ist. Da die Regierung in jenen Verfassungordnungen nicht vom Vertrauen des Staatspräsidenten, sondern allein von der Unterstützung durch die Parlamentsmehrheit abhängig ist, steht sie bei einem Streit mit dem Präsidenten in aller Regel auf Seiten des Parlaments. In dieser für das parlamentarische Regierungssystem typischen Konstellation sind alle verfassungspolitischen Voraussetzungen dafür erfüllt, dass ein Staatsgerichtshof oder das Verfassungsgericht als Institution der dritten Gewalt 344 Die Ukraine ist durch die Verfassungsänderungen vom 8.12. 2004 im Zuge der „orangenen Revolution“ zu einem parlamentarischen Regierungssystem mit einem starken Präsidenten übergegangen. Ebenso die Republik Armenien mit der Verfassungsrevision vom 27.11.2005. Vgl. dazu im Übrigen den Überblick bei Luchterhandt, Otto: Präsidentialismus in den GUS-Staaten, in: derselbe (Hrsg.): Neue Regierungssysteme in Osteuropa und der GUS. Probleme der Ausbildung stabiler Machtinstitutionen, 2. Auflage, Berlin 2002, S. 255 – 371. 345 Ismayr, Wolfgang: Die politischen Systeme Osteuropas, 2. Auflage, Opladen 2006. 346 Dazu zuletzt im Überblick Mommsen, Margareta/ Nussberger, Angelika: Das System Putin, München 2007. 177 Otto Luchterhandt und Schiedsrichter zwischen Parlament und Präsident allein nach rechtlichen Maßstäben die Entscheidung über die Amtsenthebung des Staatspräsidenten trifft und den Streit beendet. Das Risiko des betreffenden Gerichts, zwischen die politischen Fronten zu geraten und sich dabei „die Finger zu verbrennen“, ist unter solchen Umständen und insbesondere wegen der begrenzten Macht des Staatspräsidenten eher als gering einzuschätzen. Die generelle Entwicklung der Verfassungsgerichte vor allem in Ostmitteleuropa, ihr Aufstieg zu starken, selbstbewussten rechtsstaatlichen Institutionen in den neuen demokratischen Verfassungsordnungen, spricht für diese Einschätzung347. Vor diesem Hintergrund vermögen die Regelungen des Amtsenthebungsverfahrens in Litauen und in Rumänien, der für sie typische Vorrang des Demokratieprinzips vor dem Rechtsstaatsprinzip, letztlich nicht zu überzeugen. Denn weder in der einen noch in der anderen Verfassungsordnung ist die Machtstellung des Staatspräsidenten oder des Parlaments so stark, dass eine Einschüchterung etwa des Verfassungsgerichts bei einer Entscheidung über die Amtsenthebung ernstlich zu befürchten wäre. Im Gegenteil, eine Übertragung der Entscheidung über die Absetzung des Staatspräsidenten würden Autorität und Gewicht der Verfassungsgerichte der beiden Länder in der Staatsordnung stärken, damit das Profil der Gerichte als dritte Gewalt nach ihrem jahrzehntelangen Schattendasein unter dem kommunistischen Regime schärfen und insgesamt die Gewaltenteilung im Verfassungssystem festigen. Die vom Verfassungsgericht im Fall ´Paksas´ an den Tag gelegte mutige, auf Verfassung und Gesetz konzentrierte Haltung, sein differenzierter Umgang mit dem komplizierten Tatsachenmaterial der Anklage, die von ihm letztlich getroffene gutachterliche Entscheidung und sein danach gesteuerter Rechtsprechungskurs haben der breiten Öffentlichkeit des Landes überzeugend gezeigt, dass es fähig und stark genug ist, anstelle des Parlaments die Letztentscheidung im Amtsenthebungsverfahren zu treffen348. Die dem Sejmas nach geltendem Recht offen stehende, aber in einem Wertungswiderspruch zu den Prinzipien des Verfassungsstaates stehende Möglichkeit, trotz festgestellter schwerer Verfassungsverletzungen von der Amtsenthebung aus rein politischen Motiven abzusehen, sollte daher abgeschafft werden. Im Ergebnis würde das sowohl eine Stärkung des Rechtsstaats- als auch des Demokratieprinzips in der Verfassungsordnung Litauens bedeuten. VI. Schlussbetrachtung Das Rechtsinstitut der Präsidentenanklage gilt in Deutschland als ein aus der Geschichte des deutschen Konstitutionalismus seit der Zeit vor der März-Revolution von 1848 („Vormärz“) stammender normativer Traditionsbestand, als ein verfassungsrechtliches 347 Weniger allerdings in Südosteuropa und so gut wie gar nicht in der GUS! Dazu Luchterhandt, Otto: Generalbericht: Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, in: Luchterhandt, Otto/ Starck, Christian/ Weber, Alb recht (Hrsg.): Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa. Teilband I: Berichte, Baden-Baden 2007, S. 295–356 (350 ff). 348 Siehe dazu die ausführlichen Darstellungen des Falles von Šileikis und Statkevičius (Anm. 326). 178 Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten im Spannungsfeld von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip Instrument aus früheren Verfassungszuständen, das in der heutigen deutschen „Kanzlerdemokratie“ seine reale, politische Bedeutung verloren habe349. Die Möglichkeit der Anklage des Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 61 GG könnte ebenso gut fehlen, ohne dass der Verfassungsordnung Deutschlands daraus eine Gefahr erwachsen würde oder gar ein Schaden entstünde, ist die allgemeine Meinung. Die staatsrechtliche Sanktion der Enthebung von einem Amt, welches kaum Macht verleiht und dessen Bedeutung sich weitgehend auf symbolische Formen der Repräsentation beschränkt, wird in der Tat im heutigen Verfassungsleben Deutschlands nicht wirklich gebraucht; sie ist „toter Buchstabe“. Auch in anderen Staaten West- und Mitteleuropas, die allerdings zu einem beträchtlichen Teil nicht Republiken, sondern parlamentarische Erbmonarchien sind, scheint das Verfassungsinstitut der Amtsenthebung bedeutungslos zu sein; jedenfalls ist es auch hier noch nicht zur Anwendung gekommen. Im postkommunistischen Osteuropa ist das jedoch anders. Die beiden hier geschilderten, verhältnismäßig kurze Zeit hintereinander in Litauen (2003/2004) und in Rumänien (2007) durchgeführten Amtsenthebungsverfahren liefern dafür den klaren Beweis! Die Vorgänge signalisieren zugleich hohe Grade innenpolitischer Instabilität. Sie fügen sich damit in ein Bild, das in den letzten Jahren für die meisten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas typisch war, – paradoxerweise gerade nach dem Vollzug des EU-Beitritts 2004, der eigentlich etwas anderes vermuten lassen konnte350. Ob Tschechien, Polen, Ungarn, die Slowakei, Serbien oder auch Bulgarien – allenthalben haben sich die Kämpfe meist zwischen zwei etwa gleich starken großen politischen Lagern dramatisch verschärft, die Konsensbildung im Parlament und daher auch die Regierungsbildung erheblich erschwert, teilweise auch blockiert. Das Präsidentenamt, obwohl mit relativ schwachen Kompetenzen ausgestattet, ist regelmäßig in die Konfliktszenerie involviert und mehr oder weniger stark in den Parteienstreit hineingezogen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass sich Vorgänge wie in Litauen und Rumänien auch in anderen postkommunistischen Ländern ereignen werden. Welches sind die tieferen Ursachen und Gründe für diese so offensichtlichen Unterschiede zu den Verhältnissen in den alten EU-Staaten Mittel- und Westeuropas? Phasen innenpolitischer Instabilität etwa auf Grund unklarer Mehrheitsverhältnisse nach Parlamentswahlen sind auch in diesen auf starken, stabilen demokratischen Fundamenten stehenden Ländern nichts Ungewöhnliches, und es gibt unter Umständen auch hier wie gegenwärtig (November 2007) in Belgien wegen vor allem fiskalpolitischer Streitigkeiten zwischen den Hauptsprachgruppen des Landes, den Vlamen und Wallonen, sogar eine Verfassungs- und Anzeichen einer Staatskrise. Aber die Ursachen der Instabilitäten im postkommunistischen Ostmittel-, Südost- und Osteuropa liegen 349 Kommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Band 2 (Art. 21 – 146), Neuwied/ Darmstadt 1984, Art. 61 – Bearbeiter: Jürgen Jekewitz (S. 521 ff.). 350 Beichelt, Timm: Die große Ernüchterung? Politische Entwicklungen in den neuen Mitgliedsstaaten seit dem Beitritt zur Europäischen Union, in: Vietor, Marcel/ Böhmer, Jule (Hrsg.): Osteuropa heute. Entwicklungen. Gemeinsamkeiten. Unterschiede, Hamburg 2007, S. 45 – 75; Grotz, Florian: Stabile Regierungsbündnisse? Determinanten der Koalitionspolitik in Ostmitteleuropa, in: Osteuropa 57. Jg. (2007), Heft 4, S. 108 – 122 (jeweils mit weiteren Nachweisen). 179 Otto Luchterhandt tiefer; sie sind „Geburtswehen“ im Entwicklungsprozess der noch jungen Rechts- und Verfassungsstaaten und bei der Herausbildung von politischen Kulturen, die dieser anspruchsvollsten Erscheinungsform des modernen Staates gemäß sind. Ungeschriebene Prinzipen und Normen der politischen Kultur eines demokratischen Verfassungsstaates sind hier noch nicht zur Selbstverständlichkeit verinnerlicht worden: Respektierung der anderen Verfassungsorgane, Achtung ihrer institutionellen Würde, pfleglicher, vorsichtiger, eher kooperations- und konsensorientierter Umgang mit ihnen oder, anders gesagt, Verzicht auf eine forsche oder gar aggressive, rücksichtslose, bis an die Grenze des offenen Konflikts gehende Ausübung der Organkompetenzen und Amtsbefugnisse, Mäßigung öffentlicher Sprache. Im praktischen Verhalten und weithin auch im Selbstverständnis der politischen Akteure in den postkommunistischen Staaten ist – dem gerade entgegen gesetzt – die Neigung weit verbreitet, eine Machtposition anzustreben und sie dann, wenn man in ihren Besitz gelangt ist, in den Vordergrund zu stellen und nach Kräften auszuweiten. Die natürliche Folge sind sich häufende Kollisionen und Konflikte. Das Prinzip der Gewaltenteilung, das eigentlich zur Mäßigung der Staatsgewalt im Interesse der Bürgerfreiheit ersonnen wurde, wird nicht mit dem Ansatz einer ausgewogenen Mischung aus Abgrenzung, Kooperation und Konsens praktiziert, sondern als Kampf um Kompetenzen, Ressourcen und öffentliche Geltung. Man wird darin eine Fortwirkung von Prägungen der Menschen während der kommunistischen Epoche sehen dürfen, welche durch exzessive Machtorientierung gekennzeichnet war, einer langen geschichtlichen Epoche, in welcher der Macht der Partei im Verhältnis zum Staat und ihrer beider Macht im Verhältnis zum Bürger keine konstitutionellen Grenzen gezogen waren und die für den Verfassungsstaat typische Tugend der Mäßigung keine Grundlage im System hatte. Nationale politische Kulturen wandeln sich weitaus langsamer als ihre formalverfassungsrechtlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen mitsamt den – geschriebenen und ungeschriebenen – Prinzipien und Maximen des demokratischen Verfassungsstaates. In dem Maße, wie letztere den Völkern in Fleisch und Blut übergehen, wird sich auch der Umgang zwischen den Verfassungs- und Staatorganen nachhaltig wandeln. Siehe Anhang, Tabelle Nr. 1 (beachtenswerte Regelung Nr. 9), Tabelle Nr. 4 (unterschiedliche Regelung Nr. 20) und Tabelle Nr. 9 (möglicherweise inspirierte Regelung Nr. 7) – Hrsg. Prof. dr. Otto Luchterhandt Hamburgo universitetas Valstybės prezidento pašalinimas iš pareigų teisinės valstybės ir demokratijos principų santykio požiūriu Santrauka Pasirinkta tema ypač patraukli kaip tik Vilniuje, Lietuvos sostinėje, kadangi čia, viena vertus, valstybės vadovas buvo atstatydintas pašalinimo iš pareigų proceso tvarka, kita vertus, vadinamasis Pakso atvejis yra pirmasis ir iki šiol vienintelis, kai pašalinimo iš pareigų procesas atliktas iki galo ir apkalta parlamente buvo sėkminga. 180