Streit um Gott
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Streit um Gott
zum Thema STREIT UM AUSGABE NR. 1 • 2008 SCHWERPUNKT „ATHEISMUS” DIE GOTTESFRAGE SEITE 6 DER GOTTESMORD SEITE 8 WAHRHEITSSUCHE SEITE 16 WISSENSCHAFT UND RELIGION SEITE 22 IMPRESSUM SEITE 24 GOTT Streit um Gott Anmerkungen zum Wer regelmäßig Bestsellerlisten studiert oder in Buchläden die direkt neben den Kassen aufgetürmten „Verkaufsschlager“ sichtet, wird in den vergangenen Monaten nicht wenige religionskritische bzw. religionspolemische Schriften wahrgenommen haben. „neuen Atheismus“ Atheismus“ Erinnert sei z. B. an Richard Dawkins‘ „Der Gotteswahn“ und Sam Harris‘ „Das Ende des Glaubens. Religion, Terror und das Licht der Vernunft“. Nun sind Religionskri- tik und antireligiöse Polemik konstante Begleiter der Religionen im Auf und Ab der Geschichte. In der Regel wird diese Kritik mit finalem Gestus vorgetragen, der besagt, dass die Religion nun endgültig verabschiedet sei. Trotzdem erweist sich Religion weiterhin als vital und lebensfähig. 2 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Liebe Leserinnen und Leser! „Streit um Gott“ – ist das nicht Schnee von gestern oder, besser noch, von vorgestern? Lockt das Thema noch jemanden hinter dem Ofen hervor? Wenn sich nicht einmal mehr Europa, das christliche Abendland, darauf verständigen kann, Gott in seine Verfassung aufzunehmen, um damit auszudrücken, dass es auf Werten gründet, die es sich nicht selbst hat geben können, erscheint Gott in der Tat passé. Wozu also noch Streit? Spielt Gott überhaupt noch eine Rolle in unserem Alltagsleben oder ist er nicht bestenfalls „schmückendes Beiwerk“ an den großen Feiertagen des Jahres wie Ostern und Weihnachten oder an den Zäsuren im menschlichen Lebenslauf wie Geburt, Taufe, Hochzeit oder Tod? Waren also jene im Recht, die bereits in den 1980er Jahren vom „Verdunsten des Glaubens“ sprachen, allen voran die katholischen Bischöfe? Hatten weltanschauliche Ideologien wie der Nationalsozialismus und der Kommunismus nicht leichtes Spiel, die Religion entweder zu vereinnahmen bzw. zu missbrauchen oder als „Opium fürs Volk“ kurzerhand überflüssig zu machen? Und wäre die Welt nicht gar besser dran ohne Gott, wenn man sich vor Augen führt, wie viel Leid Menschen einander zu allen Zeiten im Namen ihrer Religion, im Namen ihres Gottes angetan haben und immer noch antun? Als im Herbst des vergangenen Jahres das Buch „Der Gotteswahn“ in Deutschland erschien, hatte es zunächst den Anschein, als hätte der Autor, Richard Dawkins, alle guten Argumente auf seiner Seite, um den religiösen Fanatismus vieler Menschen anzuprangern. Und heftig, ja geradezu aufgeschreckt waren die Reaktionen: Die „Tagespost“ startete z. B. sofort eine Serie, betitelt „Der neue Kampf gegen Gott“. Und ein „Spiegel“-Artikel war überschrieben: „Der Kreuzzug der Atheisten“. Dabei ist eines auffallend: Die Protagonisten der so genannten 68er Revolution übten nicht nur elementare Gesellschaftskritik, sondern stellten neben Institutionen wie Ehe und Familie auch die christlichen Kirchen radikal in Frage. Unterdrückung der Frau, Zölibat, Papst, Sexualmoral waren die immer wiederkehrenden Stichworte. Doch mit den „neuen Atheisten“ gewinnt die Kritik auch eine neue Qualität: Nicht mehr die Kirchen sollen eliminiert werden, sondern Gott selbst! „Entlarvten“ die Atheisten des 19. Jahrhunderts Gott noch als Projektion des menschlichen Geistes (Näheres im Beitrag „Zur Geschichte des Atheismus“), so wird Gott jetzt aus naturwissenschaftlicher, genauer: evolutionsbiologischer Sicht für „unmöglich“ bzw. nicht existent erklärt. Dass Dawkins dabei alle sonstigen Weisen wissenschaftlichen Erkennens und Verstehens außer Acht lässt, sei nur nebenbei bemerkt. Martin Buber erzählt die Geschichte, dass ein gelehrter Mann, der seinen Glauben verloren hat, einen Rabbiner besucht, um mit ihm über die Existenz Gottes zu diskutieren. Doch anstatt ihn wortreich und leidenschaftlich von der Existenz Gottes zu überzeugen, hält dieser ihm nur entgegen: „Vielleicht ist es aber doch wahr!“ – Eine undogmatische Haltung, die wenigstens mit der Möglichkeit Gottes rechnet – und den Gelehrten offenbar erschauern lässt. Spürt er womöglich, dass sich in seinem Leben Grundlegendes ändern würde, wenn es doch wahr wäre – dass es Gott gibt? Eugen Biser, einer der bekanntesten Theologen der vergangenen Jahrzehnte, wurde einmal gefragt: „Im Gottesbegriff muss sich zeigen, dass sich das Christentum von allen anderen Religionen signifikant unterscheidet‘ – ein Zitat von Ihnen selbst. Herrscht darüber noch keine Klarheit? War der christliche Gottesbegriff über die Jahrhunderte verdunkelt?“ Und Biser antwortete: „Leider ja. Dieser Gottesbegriff war durch eine Ambivalenz gekennzeichnet: auf der einen Seite der liebende Gott, auf der anderen Seite der drohende, strafende Gott. Hier muss eine Selbstkorrektur stattfinden. Hier muss gezeigt werden, dass es diesen strafenden Gott für ein richtig verstandenes Christentum nicht gibt, sondern nur den Gott der bedingungslosen Liebe. Dieser bedingungslos liebende Gott darf und kann nicht gefürchtet werden, denn er nimmt dem Menschen die tiefste aller Ängste, die Gottesangst, aus der Seele.“ Streiten Sie also um Gott, denn, wie schon gesagt, vielleicht ist es ja doch wahr! Ihr Manfred Suermann In den vielfältigen Erscheinungen der Religionskritik lassen sich im Wesentlichen zwei Motivstränge unterscheiden, die je nach Autor unterschiedlich gewichtet oder auch kombiniert werden: Q moralische Kritik: Die Existenz eines allmächtigen, den Menschen wohlgesonnenen Gottes werde dementiert durch die physischen und moralischen Übel in der Welt, d. h. die Leiden, die die Natur den Menschen zufügt (z. B. Krankheiten, Tod, Erdbeben u. a.), und die Leiden, die Menschen im Namen von Institutionen oder sogar im Namen Gottes einander zufügen. Q sich „wissenschaftlich“ gebende Religionskritik: Behauptet wird die kognitive Sinnlosigkeit religiöser Überzeugungen, bestritten wird der Anspruch der Religionen auf wahrheitsfähige Erkenntnisse über die Welt und den Menschen. In der gegenwärtigen Diskussion liefert ein evolutionärer Naturalismus bzw. Materialismus die Basisannahmen, den Geltungsanspruch und Wahrheitsgehalt religiöser Bekenntnisse zu bestreiten. In diesem evolutionären Theorierahmen sind all jene Argumente präsent, die ein Atheismus benötigt, der nicht nur behauptet, dass es keinen Gott gibt, sondern dessen Existenz auch explizit ablehnt. „Es ist nicht nur so, dass ich nicht an Gott glaube und natürlich hoffe, mit meiner Ansicht Recht zu behalten, sondern eigentlich geht es um meine Hoffnung, es möge keinen Gott geben! Ich will, dass es keinen Gott gibt; ich will nicht, dass das Universum so beschaffen ist“, bekennt US-Philosoph Thomas Nagel. In unserer Kultur sind die Grundannahmen des evolutionären Naturalismus ein weit verbreiteter Wissensbestand, der dem alltäglichen, in manchen Gesellschaften gar zum Massenphänomen gewordenen Atheismus zu Grunde liegt, den der amerikanische Schriftsteller Philip Roth in seinem Roman „Eve- zum Thema Streit um Gott • 01/2008 ryman“ („Jedermann“) folgendermaßen beschreibt: „Religion war eine Lüge, die er schon früh im Leben durchschaut hatte; er nahm Anstoß an allen Religionen (...) Mit Hokuspokus über Tod und Gott und obsoleten Himmelsphantasien hatte er nichts zu schaffen. Es gab nur unsere Körper, geboren, um zu leben und zu sterben, geschaffen von Körpern, die vor uns gelebt hatten und gestorben waren.“ Selbst wenn in Rechnung gestellt wird, dass Religionskritik so alt ist wie die Religionen selbst, verwundert die Vehemenz der aktuell vor- getragenen Kritik – und dass diese ihr Publikum findet. Hatte es doch den Anschein, als seien in den letzten Jahrzehnten die Konflikt- oder Trennlinien zwischen christlichem Glauben und Evolutionstheorie aufgeweicht oder sogar beseitigt worden. Kirchliche Stellungnahmen verraten eine zunehmende Akzeptanz der Evolutionstheorie. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die katholische Kirche die evolutionäre Sicht der Wirklichkeit bestätigt. „So vollzieht die Menschheit einen Übergang von einem mehr statischen Verständnis der Ordnung der Gesamtwirklichkeit zu einem mehr dynamischen und evolutiven Verständnis.“ (Gaudium et Spes 5). Warum also erneut die massive Kritik? Über die Gründe lässt sich nur spekulieren: Q wachsende Bedeutung des so genannten Kreationismus, der die biblischen Schöpfungsberichte fundamentalistisch liest, die unmittelbare Erschaffung der Arten durch Gott behauptet und die Wissenschaftlichkeit der Evolutionstheorie leugnet. In den Vereinigten Staaten ist der Kreationismus zur Massenbewegung geworden, in Deutschland ist die Zahl seiner Anhänger dagegen eher gering. 3 Q Die Säkularisierungsthese behauptet das allmähliche Absterben der Religion; die friedliche Koexistenz von Wissenschaft und religiösem Glauben gilt ihr mithin als temporäre Erscheinung, die sich quasi von selbst erledigt. Da aber in globaler Perspektive das Verschwinden der Religionen nicht zu erwarten ist, steht die Säkularisierungsthese inzwischen unter Revisionsdruck. Q Die Erfahrung religiös motivierter Gewalt hat in den vergangenen Jahren verstärkt religionskritische Reflexe hervorgerufen. Die evolutionäre „So vollzieht die Menschheit einen Übergang von einem mehr statischen Verständnis der Ordnung der Gesamtwirklichkeit zu einem mehr dynamischen und evolutiven Verständnis.“ Beschreibung des Menschen Die Evolutionstheorie ist eine naturwissenschaftliche Theorie, die sich auf weltimmanente, kausal beschreibbare Prozesse bezieht. Die zentrale These lautet, dass alle Lebewesen, alle Populationen von Organismen sich im Rahmen eines gesetzmäßigen Kausalprozesses entwickeln bzw. entwickelt haben. Die wichtigste kausal wirkende Kraft ist die natürliche Selektion: Die Erbanlagen von Mitgliedern einer Population, die für das Überleben am besten geeignet sind, reproduzieren sich demnach erfolgreicher als die Erbanlagen anderer Mitglieder dieser Population („survival of the fittest“). Alle artspezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten von Lebewesen lassen sich mithin auf evolutionäre Selektionsprozesse zurückführen, deretwegen sie sich in der Generationenfolge behauptet haben. Diese Erklärungsstrategie macht vor uns Menschen nicht halt. Auch für den Menschen gilt, dass sich seine Fertigkeiten, Eigenschaften und Anlagen evolutionstheoretisch herleiten lassen. Mit anderen 4 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Worten: In der Evolutionstheorie beschreibt der Mensch sich selbst als naturhaft determiniertes Wesen, integriert in die Naturgeschichte als einer langen, in ihrem Verlauf nicht determinierten Entwicklung. Diese Beschreibung hat ein hohes Maß an Plausibilität und ist empirisch gut begründet. Ob sie freilich eine vollständige Beschreibung des Menschen ist, bleibt eine offene Frage. Einsprüche: Vernunft, Moral, Religion Menschen sind vernunftbegabt. Die Evolutionstheorie lehrt, dass die kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen als das Ergebnis von Selektionsprozessen zu begreifen seien. Die wissenschaftliche Vernunft, die erklärt, Selektion sei das die Lebenswirklichkeit bestimmende Kausalprinzip, wird von daher selbst als Produkt dieser Selektionsprozesse angesehen. Die Reflexion der Vernunft auf sich selbst stößt jedoch auf logische Gesetzmäßigkeiten wie z. B. das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten („Eine These ist wahr oder nicht wahr, ein Drittes gibt es nicht“) oder den Satz vom Widerspruch („Eine These kann nicht wahr und zugleich unwahr sein“), deren Geltung evident ist, d. h. jede rationale Argumentation überhaupt erst ermöglicht. Diese Prinzipien anzuerkennen ist insofern alternativlos, als der Versuch, sie zu hinterfragen, sie bereits im Gebrauch hat und der Versuch, sie zu DAS LEBEN Schöpfer seiner selbst Seiner selbst bewusst sich werdend, erschrak es und erschuf sich seinen Schöpfer. Reiner Kunze: Lindennacht. Gedichte negieren, unweigerlich auf einen Selbstwiderspruch hinausläuft. Die Geltung logischer Prinzipien kann sich also nicht erst einer etwaigen biologischen Abkünftigkeit aus Selektionsprozessen verdanken. Sie muss auch im Irrealis einer jeden möglichen Welt, auch einer solchen, die den Menschen nicht zufällig selektiv hervorgebracht hätte, Bestand haben. In diesem Sinne schreibt Thomas Nagel, dass die von uns „angewandten Grundmethoden rationalen Denkens nicht bloß menschlicher Art sind, sondern einer allgemeineren Kategorie von Geist angehören“. Das Vertrauen in das Vermögen der Vernunft wird unterminiert durch die Evolutionstheorie, die das Wesen des Menschen auf kontingente, dem Zufall preisgegebene Selektionsprozesse zurückführt. Menschen sind moralfähig. Wir leben immer schon in einer Kultur, die unsere moralischen Maßstäbe, Werte und Ideale determiniert und festlegt, auf welche Weise wir ethisch urteilen und uns dem angemessen verhalten. Diese Kultur enthält eine Vorstellung davon, was uns zusteht und was wir anderen Menschen schulden. Sie enthält Aussagen, die zu moralischem Handeln auffordern bzw. verpflichten wollen. Zum Beispiel: Du sollst nicht gegen Gesetze verstoßen. Du sollst die Folgen deines Handelns bedenken und für sie einstehen. Du sollst nicht stehlen. Moralische Urteile formulieren mithin Verhaltensmaxime und Festlegungen, welche Handlungen geboten und welche zu unterlassen sind. Da moralische Urteile Geltung beanspruchen, bedürfen selbstverständlich auch sie einer Rechtfertigung. Die sachgerechte Beschreibung moralischen Verhaltens beinhaltet neben dem Phänomen verpflichtenden Sollens auch die menschliche Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Entscheidungsfreiheit meint Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Optionen, Handlungsfreiheit bedeutet das Vermögen bzw. die Fähigkeit, Entscheidungen auszuführen, setzt also die Abwesenheit von Zwang und Behinderung durch andere Menschen voraus. Diese Dimensionen moralisch relevanter Freiheit erlauben es, Menschen Handlungen zuzurechnen und sie als für ihr Handeln verantwortlich anzusehen. Die funktionale Erklärung der Moral lautet, sie sei evolutionär nützlich für die Erhaltung und Reproduktion der Menschheit. Diese Auffassung mag zutreffen, bringt aber kein einziges Kriterium bei, zu beurteilen, welches Handeln in welcher Situation moralisch geboten ist und wie dieser Geltungsanspruch gerechtfertigt werden kann. Der Beitrag der Evolutionstheorie zu den Fragen moralischen Handelns erscheint nahezu belanglos. Wir müssen u. a. entscheiden, ob Truppen der Bundeswehr im Süden Afghanistans eingesetzt werden sollen, wie die Stammzellenforschung zu gestalten ist oder ob von Terroristen entführte Flugzeuge, in denen unschuldige Passagiere sitzen, abgeschossen werden dürfen. Entscheidungen in diesen Fragen müssen gerechtfertigt werden – politisch, juristisch und ethisch. Diesbezügliche Urteile enthalten immer ein normatives Sollen, das nicht aus bloß deskriptiven Sätzen, wie sie z. B. in der Evolutionstheorie Verwendung finden („Menschen sind interessiert an Selbsterhaltung und Reproduktion“), abgeleitet oder gar gerechtfertigt werden kann. Sicherlich wird man der Evolutionstheorie eine gewisse Bedeutung für die Moral nicht völlig absprechen können, etwa um einen ethischen Idealismus zu kritisieren, der die naturhaften Voraussetzungen menschlichen Handelns übersieht und deshalb zu Einseitigkeiten neigt. Freilich gilt auch: Wenn wir Selbsterhaltung und Reproduktion als naturgesetzliche Antriebe menschlichen Han- zum Thema Streit um Gott • 01/2008 delns auffassen, ist zugleich die moralische Frage nach dem Wie der humanen Gestaltung dieser Naturgesetzlichkeiten aufgeworfen. Welche Regeln, Normen und Haltungen sollen unserer Selbsterhaltungs- und Reproduktionspraxis Orientierung geben? Die Evolutionstheorie hat darauf keine Antwort. Die praktische Vernunft hingegen dient dem humanen Projekt eines „guten Lebens“, das zu führen mehr einschließt als Selbsterhaltung. Menschen sind religionsfähig. Man kann Reiner Kunzes Gedicht (siehe S. 4) als lyrisches Bekenntnis zu einem evolutionären Naturalismus interpretieren, verfehlt dabei aber seine philosophische Aussage: Leben, das seiner selbst bewusst ist, stellt sich die Frage nach Gott als die nach dem unbedingten Grund seines kontingenten und von Zerstörung bedrohten Lebens. Die Gottesfrage setzt seiner selbst bewusstes Leben voraus und ist zugleich konstitutives Merkmal von Selbstbewusstsein. Im evolutionstheoretischen Bezugsrahmen wird Religiösität als Selektionsvorteil interpretiert, etwa indem sie wechselseitigen Altruismus fördere. Die Gottesfrage hingegen, die im Selbstbewusstsein anwesend ist, wird nicht thematisiert. Alle Menschen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die über Selbstbewusstsein verfügen, setzten und setzen sich im Laufe ihres Lebens mit der Frage nach Gott auseinander. Selbst noch die staatlich verordnete Erziehung zum Atheismus steht im Bann der Unausweichlichkeit der Gottes- frage. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Unbedingten führt indes nicht zwingend zu religiösen, näherhin theistischen Überzeugungen. Manchen ist die Frage nach Gott die Frage ihres Lebens schlechthin, andere weisen sie mit einem lässigen Schulterzucken von sich. Die Auseinandersetzung mit der Gottesfrage steht immer in einem kulturellen Horizont, der geprägt ist von Rationalitäts- und Wissenschaftskonzepten sowie den Gottesvorstellungen der Religionen. Religiöse Überzeugungen, die sich auf ein sinnstiftendes Unbedingtes beziehen, lassen sich nicht erzwingen. Es gehört deshalb zum Selbstverständnis der großen monotheistischen Religionen, dass religiöser Glaube jeglichen Zwang ausschließt. (Die Geschichte belehrt uns nachdrücklich darüber, dass Menschen, Staaten, aber auch religiöse Institutionen andere Menschen für das Haben oder Nichthaben bestimmter religiöser Überzeugungen straften. Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit will Menschen vor Sanktionen und Strafen schützen, es bezieht seine Rechtfertigung aber nicht aus der Nichterzwingbarkeit religiöser Überzeugungen.) Das mit der Vielfalt religiöser Überzeugungen korrespondierende Freiheitsbewusstsein entzieht sich naturalistischen Erklärungsversuchen. Verweise auf mutmaßliche Gene, die Religiosität bzw. Areligiosität erklären, sind lediglich dem Systemzwang zu einer allumfassenden naturalistischen Erklärung sämtlicher Phänomene geschuldet. Schöpfungsglaube und Evolution Das Bekenntnis zum Schöpfergott zu Beginn des christlichen Glaubensbekenntnisses ist ein zentrales religiöses Moment nicht nur des Christentums, sondern auch der anderen großen monotheistischen Religionen. Im Bedeutungsgehalt des Schöpfungsbegriffes liegt keine Aussage über das Wie des Werdens und Vergehens von Lebensformen verborgen. Das ist vielmehr das Thema der Evolutionstheorie. Die Schöpfungsidee befragt die Faktizität der Welt in der Perspektive des metaphysischen Grundproblems, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts. Schöpfung meint deshalb kein in Raum und Zeit oder als Beginn von Raum und Zeit lokalisierbares Ereignis, sondern eine Aussage über die Welt als Ganzes, die ohne Beziehung auf Gott, der selbst nicht Teil der Weltwirklichkeit ist, grundlos wäre. Die theistische Annahme eines Schöpfergottes steht deshalb nicht in Konkurrenz zu evolutionstheoretischen Erklärungen, die gänzlich unfähig sind, die Frage, warum überhaupt etwas ist, zu beantworten. Es ist dies keine zeitweilige Unfähigkeit, vielmehr eine methodisch bedingte: Naturwissenschaftliche Erklärungen beziehen sich ausschließlich auf kausal beschreibbare Prozesse. Auf das metaphysische Problem der Existenz der Welt kann es also keine naturwissenschaftliche Antwort geben. Zur Frage nach dem Grund der Welt muss jede methodisch auf- 5 geklärte Wissenschaft schweigen. Freilich tun dies viele Wissenschaftler nicht, gerade wenn sie Religionskritik üben. Einige präsentieren stolz den Zufall als Antwort auf die Frage, warum überhaupt etwas ist. Allerdings ist der Satz „Die Existenz der Welt verdankt sich dem Zufall“ gar keine naturwissenschaftliche Aussage, sondern selbst wiederum eine metaphysische, freilich in einer Schwundform. Dass zudem der Zufall eine höhere Erklärungsplausibilität für die Existenz der Welt haben soll als die theistische Annahme einer Schöpfung, ist nicht plausibel. Bisweilen wird die Forderung erhoben, nur solche Fragen als sinnvoll zuzulassen, die wissenschaftlich beantwortet werden können. Freilich hat es den Anschein, dass seiner selbst bewusstes rationales Leben Fragen hervorbringt, die sich dem Anspruch der Wissenschaft, zu beurteilen, ob sie überhaupt sinnvoll sind, nicht fügen und so oder so auf Antworten dringen: „Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet wären, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ (Ludwig Wittgenstein) LB Zum Weiterlesen Medard Kehl: Und Gott sah, dass es gut war. Eine Theologie der Schöpfung. Freiburg i. Br. 2006 Armin Kreiner: Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen. Freiburg i. Br. 2006 6 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Die Gottesfrage oder: „Wie hältst du’s mit der Religion?“, fragt Gretchen in Goethes „Faust“ ihren Heinrich und fügt gleich die Mutmaßung an: „Ich glaub’, du hältst nicht viel davon.“ Faust erwidert, die Frage sei zu hoch, als dass man über Gott sagen könne: „Ich glaub’ ihn“ oder „Ich glaub’ ihn nicht“. An der „Gretchenfrage“ scheiden sich die Geister. Johann Wolfgang von Goethe nannte den Konflikt des Glaubens mit dem Unglauben das eigentliche Thema der Weltgeschichte. Aber nicht nur auf der Bühne der Weltgeschichte wird dieser Konflikt zwischen dem Glauben an Gott und der Leugnung Gottes ausgetragen. Die Frage nach der Existenz Gottes begegnet uns auch in unserem Alltag. Dabei geht es nicht in erster Linie um ein konfessionelles Bekenntnis, das mit der kirchlichen Praxis einhergeht, sondern um eine Grundfrage menschlichen Lebens. Es geht um die Frage, ob der Mensch autonom aus sich heraus lebt oder ob er sich verbunden bzw. „rück-gebunden“ mit einem höheren Wesen, einem Gott, weiß. Dieses sich an Gott „rück-gebunden“ wissen, bedeutet religiös (lat.: religere) zu sein. Gott auf dem Prüfstand Spätestens ab der Aufklärung steht Gott auf dem Prüfstand. Die damaligen Philosophen sahen es als naturgegeben an, dass es einen göttlichen Schöpfer gibt, als dessen Geschöpf der Mensch anzusehen ist. Das historische Ergebnis der Aufklärung war die Französische Revolution, in deren Gefolge nicht nur das „Ancien régime“, sondern auch die menschliche Gott- Vom „Sein oder Nichtsein“ Gottes bezogenheit fiel. Es kam sogar so weit, dass Gott selbst kurzzeitig für abgeschafft erklärt wurde. Robespierre setzte sich dafür ein, den Gott christlicher Prägung durch ein „höchstes Wesen“ zu ersetzen. So lautete die Kompromissformel, auf die man sich schließlich nach radikalen atheistischen Ausuferungen einigen konnte. Gott war damit zwar nicht vollends abgeschafft, wurde aber zu einem statischen Wesen ohne Verbindung zu den Menschen degradiert. Die Gottesfrage wurde per Mehrheitsbeschluss im Nationalkonvent entschieden: Nichts mehr galt als gottgegeben. Die Infragestellung der Existenz Gottes wurde in der Philosophie und der Literatur des 19. Jahrhunderts offen erörtert. Die Gottesfrage gipfelte in Goethes „Faust“ in der erwähnten Gretchenfrage. Karl Marx spricht von der „Religion als Opium für das Volk“. In der Philosophie kennt jeder die Religionskritik Nietzsches, die in der Aussage „Gott ist tot“ gipfelt. Doch Gott ist nicht totzukriegen – oder vielleicht doch? Vor allem in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dessen erste Hälfte von menschlichem Größenwahn, weltumspannenden Kriegen, Diktaturen und einer ideologisch verordneten Gottlosigkeit geprägt war, wurde der Glaube an einen menschenfreundlichen Gott in der Ära des Nationalsozialismus durch den Glauben an den sich selbst vergottenden Herrenmenschen ersetzt. Der Mensch, mit seinem machbaren Diesseits beschäftigt, sei auf keinen Gott angewiesen. Gottgläubigkeit wurde als menschliche Schwäche und als hinderlich für den Fortschritt ausgelegt. Ganze Staaten verordneten Gottlosigkeit. Die Auswirkungen dieser Politik, dass Gott nicht mehr zum Alltag eines jeden Menschen gehöre, sind bis heute zu spüren. So war es im Atheismus sozialistischer Prägung möglich, ein Menschenbild zu entwerfen, in dem der Einzelne nichts, die Masse alles war. Die Einzigartigkeit jedes Einzelnen ging im Zwangskollektiv unter. Das christliche Menschenbild, das sich aus der Gottbezogenheit der Menschen speist, war in den Augen der Machthaber sozialistischer Staaten höchst gefährlich. Infolge der jahrzehntelang verordneten Verdrängung Gottes haben viele Menschen Gott auch nach 1989 schlicht und einfach vergessen. Die Gottvergessenheit macht sich besonders in Ostdeutschland bemerkbar. So kann man den Eindruck bekommen, dass Gott in einigen Landstrichen Deutschlands aus den Köpfen der Menschen gelöscht ist. Bemerkenswert ist zugleich, dass sich niemand dadurch bedroht sieht oder seelisch verarmt und unglücklich fühlt. Frei nach dem Motto „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ wird fast alles toleriert. Die Konsequenzen der Gottlosigkeit für die Gesellschaft werden erst in der Zukunft spürbar werden. zum Thema Streit um Gott • 01/2008 7 Die Kehrseite der Medaille: Gott als religiöser und politischer Machtfaktor Unreflektierter, religiöser Fanatismus gilt heute als größte Gefahr im Zusammenleben der Menschheitsfamilie. Gott als letzte Instanz wird für Gewalt, Krieg und Terror missbraucht. Nicht nur im Islamismus, sondern auch im christlichen Fundamentalismus wird die Gottesfrage nicht mehr gestellt. „Gott mit uns“ gilt als Schutzschild und Motor, die „Ungläubigen“ Mores zu lehren. „Gott ist nicht tot – solange wir über seine Existenz streiten“ Dass Richard Dawkins, der Autor des Buches „Der Gotteswahn“, unter dem Eindruck des religiösen Fanatismus und Fundamentalismus zu dem Schluss kommt, das Heil der Menschen in religiöser Abstinenz zu suchen, ist aus Sicht eines aufgeklärten Menschen wenig verwunderlich. Religiöser Fanatismus und Fundamentalismus kann die Gottesfrage jedenfalls nicht gottgefällig („pro deo“) beantworten. Der Schlüssel zur Gottesfrage: Religionsfreiheit In Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention wird die Religionsfreiheit als Menschenrecht mit universaler Geltung so formuliert: „Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel der Religion oder Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben.“ Religionsfreiheit bedeutet nicht nur freie Ausübung von Religion, sondern auch die Möglichkeit, frei von Religion bzw. von Gott zu sein. Hierbei müssen aus Respekt vor der persönlich zu treffenden Pro-oder-Kontra-Entscheidung die „Freiheit der Religion“ und die „Freiheit von Religion“ im Gleichgewicht bleiben. Besteht dieses Gleichgewicht, liegt es an uns, die Gottesfrage nicht nur zu stellen, sondern sie auch zu leben. Frei nach Goethes Faust: „Wie hältst du’s mit der Religion? Ich glaub’ ihn‚ oder ich glaub’ ihn nicht.“ So bleibt Gott immer im Gespräch und die Frage nach Gott lebendig. Gott ist nicht tot – solange wir über seine Existenz streiten. FPB 8 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Nietzsches „toller“Mensch und der „Gottesmord“ Die Argumente sind ausgetauscht, so schien es jedenfalls im Hinblick auf die Debatten darüber, ob es Gott gibt oder nicht. Doch verblüfft die Frische, mit der neuerdings einige Autoren wieder an diese Frage herangehen. Sicher, so viel scheint festzustehen, der Mensch ist von Natur aus religiös. So ungefähr formulierte es bereits vor über 1800 Jahren der Theologe Tertullian („anima naturaliter religiosa“). Wenn in gewissen zeitlichen Abständen immer wieder eine „neue“ oder „neu entdeckte“ Religiosität ausgerufen wird, fragen sich nachdenklichere Menschen daher: Was soll das für eine neue Religiosität sein? Wofür steht sie? Gern übersehen wird auch, dass selbst der Atheismus ein Glaubensbekenntnis darstellt, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Und so wenig man hinter einmal gemachte naturwissenschaftliche Erkenntnisse zurück kann, so wenig lassen sich einmal aufgeworfene Frage- bzw. Problemstellungen der Geisteswissenschaften einfach übergehen. Auch wenn manche Zeitgenossen eine solche Ignoranz an den Tag legen, sind die Fragen weder erledigt noch überholt. Wenn es um Atheismus und um die Frage geht, ob Gott existiert, wird gern der „poetische Philosoph“ oder „philosophische Poet“ Friedrich Nietzsche (1844-1900), Pfarrerssohn aus Röcken/SachsenAnhalt, mit seinem bekannten Ausspruch „Gott ist tot“ zitiert. Allerdings ist nur wenigen der Kontext geläufig, aus dem dieses Zitat isoliert wurde. Es findet sich in Nietzsches „Fröhlicher Wissen- schaft“ (2. Auflage 1887), und zwar in der gleichnishaften Anekdote „Der tolle Mensch“. Zum besseren Verständnis dieses Textes ist vorauszuschicken, dass Nietzsche den Begriff „toll“ in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet, wie er bis heute im Wort „Tollhaus“ anzutreffen ist. Jedoch nimmt Nietzsche mit dem Attribut „toll“ keine Abwertung vor, im Gegenteil. Dieser „tolle“ Mensch nun ist an einem hellen Vormittag mit einer Laterne unterwegs wie der griechische Philosoph Diogenes von Sinope (ca. 391-323 v. Chr.) und sucht Gott. Diese Suche erregt bei den umherstehenden Menschen „ein großes Gelächter“, da sie selbst „nicht an Gott glaubten“, bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In dieses Gelächter, teilweise sogar Geschrei hinein richtet der „tolle“ Mensch ein Fragestakkato: „Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? … Wohin bewegen wir uns? … Stürzen wir nicht fortwährend? … Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?“ Am Ende dieser hier in Auswahl zitierten Fragen spricht der „tolle“ Mensch jene berühmt-berüchtigten Sätze: „Gott ist tot! Gott bleibt tot!“ Das liest sich im weiteren Textzusammenhang aber nicht stolz, erleichtert oder gar befriedigt, sondern vielmehr erschreckt, geradezu wie im Innersten verletzt, so, als habe der „toll“ gewordene Mensch urplötzlich realisiert, dass von nun an nichts mehr so sein kann wie zuvor. Eine solche Einsicht hängt nicht davon ab, wie viele ihr zustimmen oder widersprechen. Beachtenswert ist bei Nietzsche, dass auch die Gewohnheitsatheisten über den Befund des „tollen“ Menschen“ irritiert und erschreckt zu sein scheinen. Denn selbst ihnen, die von sich ja behaupten, dass sie „nicht an Gott glaubten“, ist anscheinend noch gar nicht bewusst geworden, was dieses Bekenntnis in letzter Konsequenz bedeutet. Durchschnittsatheisten scheinen für die „Erkenntnis“, dass Gott „tot“ ist, noch nicht reif zu sein. Auf die Frage, warum Gott „tot“ sei, posaunt Nietzsches „toller“ Mensch ungeschminkt hinaus: „Wir haben ihn getötet!“ Und dieses „Wir“ bezieht offenkundig auch jene ein, die das gar nicht wahrhaben wollen. Denn diese Tat, der Gottesmord, „ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!“ An dieser Stelle dämmert es dem aufmerksamen Leser, dass es sich hier um einen Gott handelt, den man sich selbst zurechtgebastelt hat, der für alles und jedes herhalten muss, von dem man sogar weiß, was seine Gedanken sind und wie seine Entscheidungen ausfallen werden. Kurzum um einen Gott, über den man voll im Bilde ist. Von einem solchen Gott kann man wirklich nichts mehr erwarten. In der Tat, dieser Gott ist schon Ende des 19. Jahrhunderts tot, und dieser Gott bleibt auch im 21. Jahrhundert tot, auch wenn sich das vielleicht aus unterschiedlichen Gründen noch nicht überall herumgesprochen haben mag. Doch diese Erkenntnis ist so neu nicht. Bereits beim Propheten Jesaja ist sie in die Worte gefasst: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken; und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des HERRN. So hoch wie der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken“ (Jes 55,8f). Nietzsches Frage „Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen?“ lässt sich zudem auch so stellen: Haben wir Christen durch unser zwar gut gemeintes, aber plattes Reden über den „lieben Gott“ vielleicht selbst dazu beigetragen, dass Gott für viele nachdenkliche und ernstzunehmende Zeitgenossen tot ist? Spiegelt unser Verhalten im Alltag grundsätzlich das, was unser Reden über Gott erwarten lässt? Haben nicht die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, in denen immer mehr Menschen mit Taufschein als Atheisten einander das Leben zur Hölle gemacht haben, so etwas wie einen Atheismusschub bewirkt? Wie gesagt, diese Fragen sind nicht neu, die Argumente sind ausgetauscht. Von daher kann man sich einerseits zwar mehr Gelassenheit und Unaufgeregtheit im Umgang mit den neuen Atheismusdebatten wünschen, anderseits wäre es ein Trugschluss, zu meinen, dass sich bereits alle Fragen erledigt hätten, die Nietzsches „toller“ Mensch stellt. Bekanntlich ist es ja mit der Wahrnehmung des Splitters im Auge des Bruders so, dass man dabei den eigenen Balken nicht sieht. Anders gewendet: Lebe ich so, dass auch ich vielleicht mit dazu beitrage, dass Gott in mir und bei anderen tot ist und tot bleibt? TRE zum Thema Streit um Gott • 01/2008 9 Der Gott der Heiligen Schrift oder: Biblisches Reden von Gott Wie will der Blinde von der Farbe reden? Bei der Lektüre von Richard Dawkins’ Buch „Der Gotteswahn“ drängt sich die Frage auf: Von welchem Gott spricht der Autor eigentlich, welchen Gott meint er bloß? Oder geht es ihm – wie so manch anderem so genannten Gott beschrieben und bezeugt haben. Die Menschen der Bibel haben Gott lebensgeschichtlich erfahren – und das meint sowohl die Lebensgeschichte des Einzelnen wie die des ganzen Volkes. Sie haben das Wirken Gottes ereignishaft erlebt. Eines der herausragendsten Beispiele ist sicherlich der Exodus, also am eigenen Leibe unter Inkaufnahme zahlreicher Entbehrungen erfahren zu haben, dass es mit Gottes Hilfe und unter seiner Jahwes“. Gott erschließt sich also selbst durch sein Handeln und Tun in der Geschichte des Menschen, und Glaube ist dann nichts anderes als gläubiges Anerkennen und Bekennen der mannigfaltigen Gotteserfahrungen in dieser Geschichte. Gott ist für die Menschen der Bibel keine abstrakte Größe, sondern für sie ist Gott der Lebendige, der Nahe, der in ihrem Leben Gegenwärtige und der in ihre Geschichte Eingreifende. Gott abstrakt zu den- oretisch gesprochen und dementsprechend gibt es in der jüdischen Theologie auch keine Dogmatik; vielmehr wird in Geschichten von Gott erzählt. In ihnen spiegelt sich das Suchen der Menschen nach Gott, das Kreisen um Gott, das vorsichtige Herantasten an Gott, aber auch die lebendige Nähe Gottes zu den Menschen, die Herausforderung, die von ihm an die Menschen ausgeht (vgl. die von Martin Buber gesammelten chassidischen Der Auszug der Israeliten aus Ägypten, Szene aus dem Stummfilm „Die zehn Gebote“ (1923; Regie: Cecil B DeMiller) neuen Atheisten – nur darum, die Gräuel aufzuzeigen, die Menschen anderen Menschen „im Namen der Religion“ antun? „Streit um Gott“ verlangt zu allererst Klarheit darüber: Wer ist dieser Gott, der da in Frage gestellt, für irrelevant erklärt oder gar geleugnet wird? Fragen nach Gott und nach dem Glauben an ihn zu beantworten, ist die Bibel immer noch die beste Hilfe, weil in der Heiligen Schrift Menschen ihre Erfahrungen mit Führung gelungen ist, aus Ägypten zu fliehen, damit dem Sklavendasein zu entkommen und den Weg durch die Wüste ins verheißene Gelobte Land zu überstehen. Gott ist der Rettende, der aus Not Herausführende. Die Erfahrung seines Eingreifens überwältigt die Israeliten so sehr, dass sie ihrer bis heute gedenken, sowohl jeden Sabbat als auch an einem der höchsten Feiertage des Judentums, dem PessachFest. Umgekehrt macht die Zugehörigkeit zu diesem Gott sie erst zu einer Gemeinschaft, zum „Volk ken bzw. an einen abstrakten Gott zu glauben, käme den Menschen der Bibel nicht in den Sinn. Gott ist nicht der unbewegte Beweger, sondern der „Ich bin der Ich-Bin“ (so lautet die Selbstoffenbarung Gottes gegenüber Mose bei der Wanderung durch die Wüste), d. h. Gott ist der Daseiende, im Hier und Jetzt Präsente. Gott ist das, was er für die Menschen und ihre Umwelt ist und wirkt. Im Zentrum der biblischen Rede von Gott steht also diese lebendige Glaubenserfahrung. Von Gott wird nicht the- Erzählungen). Das bedeutet zugleich: Von Gott kann nicht anders als in Geschichten gesprochen werden. Denn Gott begegnet uns Menschen immer wieder neu, er ist „mal so und mal so“. Damit wird – analog zum Verbot, sich von Gott ein Bildnis zu machen – auch ein Riegel vorgeschoben, Wesen und Wirken Gottes theoretisch zu fixieren. Gott ist nicht festlegbar, sondern der stets Überraschende, der Unberechenbare. Sicher, es gibt auch Konstanten im Glaubensinhalt „Gott“: ER ist, ER ist der 10 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Einzige, ER ist der Schöpfer der Welt, ER ist allmächtig und gerecht, ER ist als Vater auch Herr über das menschliche Zusammenleben. Es haftet also dem biblischen Gottesbild etwas ganz Lebendiges an. Dazu kommt: Jahwe ist der nahe, aber zugleich auch der ferne Gott (siehe Deuteronomium 4, 7 oder Jeremia 23, 23). Immanenz und Transzendenz sind untrennbar verknüpft. Gott ist nahe, indem er „Gott mit uns“ ist (Jesaja 7, 14). Als mitgehender und geleitender Gott ist er Hirte seiner Herde (Psalm 23, 4). Gottes Sein ist gnädiges Mitsein (Exodus 3, 14), denn er ist „Jahwe, der gnädige und barmherzige Gott, langmütig und reich an Huld und Treue“ (Exodus 34,6). Er ist aber immer auch der ferne und verborgene Gott, der von seinem überweltlichen Wohnsitz (Jesaja 40, 22) „herabsteigen“ muss, um sich dem Menschen zuzuneigen. Man kann Gott nicht sehen, ohne zu sterben (Exodus 33, 20). Als der Heilige schlechthin (Jesaja 6, 3), d. h. als der von allem Nichtgöttlichen Getrennte (Hosea 11, 9), verbirgt er sein Angesicht vor dem sündigen Volk (Deuteronomium 31, 16-18). Er ist der Verborgene schlechthin (Jesaja 45, 15), und sein Tun bleibt Geheimnis (Jesaja 25, 1). Wird so auch verhindert, dass Gott „verfügbar“ werden, dass man ihn vereinnahmen könnte? Noch etwas kommt hinzu: Jahwe ist ein Gott, der das Heil will. In immer neuen Reflexionen zeichnet Israel, gedrängt vom Auf und Ab seiner Geschichte, diesen Zug seines Gottes. In der Blütezeit der beginnenden Monarchie wird der unangefochtene Glaube an die göttliche Führung und Fügung zum Leitmotiv, die Geschichte wird als Heilsplan Gottes gedeutet. Allerdings führt das Erlebnis von nationalem Unheil, z. B. der Untergang des Nord- und Südreichs, zu einer wichtigen Differenzierung: Der Gott des Heils ist zugleich der Gott des Gerichts. Die Propheten vor allem waren es, die dem Volk Israel das Gericht ankündigten oder androhten, und zwar immer dann, wenn das Volk sich dem Willen seines Gottes widersetzte. Dem Menschen, von Gott als freies Wesen geschaffen, war freigestellt, wonach er seinen Willen und sein Handeln ausrichten wollte. Jesus war Jude, er gehörte zum „Volk Jahwes“. Sein Bild von Gott entsprach – zunächst – dem Gottesbild des Alten Testaments. Doch dabei blieb er nicht stehen. Durch seine Verkündigung will Jesus den Menschen mit Gott konfrontieren. Er beansprucht, in seinem Handeln Gottes Handeln zu repräsentieren, zu vergegenwärtigen, also zu zeigen: „So, wie ich handle, so würde auch Gott handeln. Mein Kommen ist der endgültige Anbruch von Gottes Herrschaft und Reich.“ Die Urgemeinde bekennt Gott als den Urheber des durch Jesus gewirkten Heils (Apostelgeschichte 3, 26). Dem Apostel Paulus zufolge wird hauptsächlich an Kreuzestod und Auferstehung Jesu sichtbar, wer Gott ist und was er für die Menschen tut, denn Jesus ist „das getreue Abbild Gottes“ (2. Brief des Apostels Paulus an die Korinther 4, 4). Laut dem Evangelisten Johannes ist es Jesu Sendung, Gottes Namen und Wesen kundzutun (Johannesevangelium 1, 18 oder 17, 4); niemand hat Gott je gesehen (Johannes 1, 18), nur Jesus kennt ihn, denn er ist von ihm (Johannes 7, 29). Wer Jesus sieht, sieht deshalb Gott (Johannes 14, 9). Anders ausgedrückt: Gott ist durch, mit und in Jesus. „Ich und der Vater sind eins“, sagt Jesus. Eine zweite Weiterführung besagt: Gott ist Vater. Für Jesus gehört das Vatersein zum Wesen Gottes. Jesus betet zu Gott in der vertrauten Anrede „Abba“ („lieber Vater“) und lehrt seine Jünger, es ihm gleichzutun. Jesu besondere Stellung zu Gott kommt in seiner konsequenten Rede von „meinem“ und „eurem“ Vater zum Ausdruck. Gott ist Vater, weil er in Jesus Christus einen göttlichen Sohn hat (Johannes 1, 18), der eines Wesens mit ihm ist (Johannes 10, 29). Zugleich dürfen auch jene, denen Gott den Geist seines Sohnes ins Herz sendet, zu Gott „Abba“, also „Vater“ sagen (Brief des Apostels Paulus an die Römer 8, 15f. bzw. an die Galater 4, 6). Und schließlich: Gott ist Liebe. Die Botschaft von der Fürsorge Gottes (Matthäus 5, 45) fort- JHWH oder YHWH, ausgeschrieben meist Jahwe oder Jehovah, ist der Eigenname Gottes im Tanach, der Hebräischen Bibel. zum Thema Streit um Gott • 01/2008 „Jahwe ist der nahe, aber zugleich auch der ferne Gott“ führend, bezeichnen insbesondere Paulus und Johannes Gottes innerstes Wesen als Liebe. In Christus ist die Liebe Gottes erschienen (Brief des Apostels Paulus an Titus 2, 11). Diese Liebe, die Gott selbst ist (1. Johannesbrief 4, 8), will nur unser Heil (Johannes 3, 16); deshalb teilt sie sich den Menschen mit, damit diese in der Liebesgemeinschaft mit Gott und ihresgleichen leben (1. Johannesbrief 4, 7-16). Auch richtet Liebe nicht; vielmehr richtet sich das Lieblose, d. h. das der Liebe nicht Entsprechende, selbst im Angesicht der Liebe. Es sollte deutlich geworden sein, dass das Gottesbild des Alten Testaments seine Fortsetzung im Neuen Testament in der Verkündigung und im Wirken Jesu gefunden hat. Mehr noch: Es findet seine Verdichtung, seine Konzentration, seinen Kulminationspunkt in der Person Jesu Christi. War Gott dort bereits der Lebendige, der Nahe, der daseiende und mitseiende Gott, so ist er hier der leibhaftig Gegenwärtige, Heilende. Wird Gott dort in der (Lebens)geschichte erfahren, so erfahren die Menschen ihn nun durch Jesus ganz direkt, unmittelbar und aktuell. Erzählt dort das Volk Israel von Gott in Geschichten, so verwendet Jesus Gleichnisse, um den Menschen zu zeigen, wie es sich mit dem Himmelreich verhält, und vergegenwärtigt dieses zugleich dadurch. Ist Gott dort der Barmherzige, der aus Not Errettende, der Hirte, so ist er hier Liebe „pur“, der kreativ Liebende und damit der die Menschen Herausfordernde, Provozierende, sie auf Wahrheit Verweisende. Der bekannte Theologe Eugen Biser meinte einmal: „Dieser bedingungslos liebende Gott darf und kann nicht gefürchtet werden, denn er nimmt dem Menschen die tiefste aller Ängste, die Gottesangst, aus der Seele.“ Geht es aber beim „Streit um Gott“ um eben diesen wirklichen, lebendigen Gott? Zweifel erscheinen angebracht! MS Das Gottesbild des Alexis Sorbas „Gibt es einen Gott oder nicht? Was sagst du dazu, Chef? Und wenn es einen gibt – alles ist möglich! –, wie stellst du ihn dir vor?“ Ich hob die Schultern, ohne zu antworten. „Ich – aber lache nicht! – stelle mir Gott vor genau wie mich. Nur größer, kräftiger, verrückter. Und unsterblich. Er sitzt bequem auf weichen Schafsfellen und seine Baracke ist der Himmel. Nicht aus Benzinkanistern wie unsere, sondern aus Wolken. In seiner Rechten hat er weder Schwert noch Waage – damit gehen Mörder und Krämer um. Gott hält vielmehr einen großen Schwamm voll Wasser in der Hand, wie eine Regenwolke. Rechts von ihm ist das Paradies, links die Hölle. Da kommt denn die arme Seele, splitterfasernackt, sie hat ja ihren Körper verloren, und zittert vor Kälte. Gott blickt sie an und lacht verschmitzt; dabei macht er den strengen Richter. ‚Komm her!‘, sagt er zu ihr mit lauter Stimme. ,Komm her, du Verdammte!‘ Dann beginnt das Verhör. Die Seele fällt Gott zu Füßen. ‚Wehe‘, ruft sie, ich habe gesündigt!‘, und fängt an, ihre Sünden herunterzuleiern. Eine Litanei, die kein Ende nimmt. Gott hat bald die Nase voll, er gähnt. Nun hör doch auf‘, sagt er zu ihr, du schreist mir die Ohren voll!‘ – und schwupp! fährt er mit dem Schwamm durch die Luft und löscht alle Sünden aus. Verschwinde, ins Paradies!‘, sagt er. ‚Petrus! Lass die hier auch hinein, die Bedauernswerte!‘ Denn das musst du wissen, Chef: Gott ist ein wahrer Edelmann, und der wahre Adel liegt im Verzeihen!“ An jenem Abend, als Sorbas mir all dies erzählte, musste ich lachen. In meiner Brust aber nistete sich dieser mitleidige, freigebige und allmächtige „Adel“ Gottes ein. (Aus dem Roman „Alexis Sorbas“ von Nikos Kazantzakis) 11 12 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Zur Geschichte des Atheismus der Gott des Meeres, angesichts einer bevorstehenden Schiffsreise um Schutz angefleht. Aphrodite war für die Liebesdinge zuständig, und die Göttin Demeter sorgte für die Fruchtbarkeit des Bodens. Den Göttern geweihte Tempel bezeugen entsprechende Kulte. Auch in allen anderen Kulturen der alten Welt herrschten viele Götter. Ihre Existenz zu leugnen und ihren lebensbestimmenden Einfluss zu bestreiten, wäre als völlig abwegig, als Zeichen geistiger Blindheit gewertet worden. Es entsprach der mythischen Weltsicht bzw. des mythischen Daseinsverständnisses, dass z. B. Vorgänge in der Natur, aber auch in der menschlichen Seele (man denke beispielsweise an den nicht erst seit Freuds Psychoanalyse populären ÖdipusMythos) deifiziert bzw. personifiziert und in Geschichten gekleidet wurden. Damit sind Mythen aber keineswegs Fantasiegeschichten, wie es fälschlicherweise oft heißt, sondern sie offenbaren in einem tieferen Sinne die vielschichtige Realität. Auf dem Weg zur „Befreiung“ von Gott? Schon ein flüchtiger Blick in die Geschichte kann ziemlich nachdenklich machen: Haben nicht sowohl die Aufklärung – also das Zeitalter der Emanzipation und Selbstbestimmung – als auch der Atheismus – also die Leugnung der Existenz Gottes – ein und dieselbe Geburtsstunde, das 18. Jahrhundert nämlich, und denselben Geburtsort, das europäische Abendland? Gehören womöglich beide Geisteshaltungen zusammen wie zwei Seiten einer Medaille? Gott als lästiges Hemmnis auf dem Weg des Menschen heraus aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant), als endlich entlarvte Illusion, als entthronter Tyrann und Sklavenhalter? Musste der Mensch Gott loswerden, um ein freier Mensch sein zu können, oder wollte er Gott absetzen, um selbst unumschränkter Herrscher auf dieser Welt zu werden? Fragen wie diese lassen sich nur beantworten, wenn sich der Blick auf die (Vor)geschichte des Atheismus und seine Ursprünge richtet – und wenn zur Kenntnis genommen wird, dass er zur Geschichte des Menschen von Anbeginn dazugehört. Die antike Lebenswelt war geprägt von dem Glauben an eine Vielzahl von Göttern. Die griechischen Mythen etwa erzählen auf oft ebenso unterhaltsame wie spannende Weise vom Leben und Treiben der Götter. Sie waren für bestimmte Lebens- und Erfahrungsbereiche des Menschen zuständig. So wurde etwa Poseidon, Israel nun ist das erste und einzige Volk der antiken Welt, das dem Glauben an die vielen Götter abschwor und allein Jahwe, dem einen Gott, huldigte, an dessen Dasein es keinen Zweifel ließ: „Ein Tor wird der genannt, der meine, es gebe keinen Gott“ (Psalm 14). Das immer wieder erfahrene Wirken dieses lebendigen Gottes, durch den dieses Volk seine „Heilsgeschichte“ erlebte, widerlegte alle Zweifler. Einen Fall von „Atheismus“ gab es in der Antike allerdings doch: Sokrates musste aus dem Giftbecher trinken, weil er die Jugend verderbe und an die – athenischen – Götter nicht glaube. Nicht dass Sokrates Göttliches generell geleugnet hätte, den Staatskult in Athen aber lehnte er ab. zum Thema Streit um Gott • 01/2008 Später im Römischen Reich weigerten sich die ersten Christen, am Staatskult teilzunehmen und den römischen Kaiser als göttliches Wesen zu verehren, weil sie allein Jesus Christus als ihren Herrn anerkannten. Als „Atheisten“ gebrandmarkt und zu Staatsfeinden erklärt, mussten sie Verfolgungen und Hinrichtungen erleiden. – „Atheismus“ hieß damals also alles, was die staatliche Ordnung, die sich immer auch religiös begründete, in Frage stellte. Die Sonne ist nur noch ein Symbol Die Anfänge des neuzeitlichen theoretischen Atheismus liegen in der Auflösung der mittelalterlichen Einheit von Glaube, Wissenschaft, Recht und Staat. Die Welt wurde nun ohne die „Hypothese Gott“ wissenschaftlich erklärbar. Der Gedanke, dass Gott gar nicht sei, dass er im Leben des Menschen keine Rolle spiele und alles auch ohne ihn erklärt werden könne, brach sich Bahn, beruhte historisch aber auf einer Entwicklung, die schon viel früher eingesetzt hatte: In der antiken, mythischen Welt wurde die Natur noch als von göttlichen Wesen bevölkert und durchdrungen angesehen. Wer auf einer Schiffsreise ein aufgewühltes Meer erlebte, sah sich einem aufgebrachten Poseidon gegenüber, der durch Opfer/Gebete besänftigt werden musste. Und wollte ein Bauer seinen Acker bestellen, waren zuvor die Götter des Bodens um Verzeihung dafür zu bitten, dass man sie mit dem Pflug traktieren müsse. Natur war immer auch heiliger Ort, Begegnungsstätte mit den Göttern, denen man auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Israel hatte – auf dem Boden seines Ein-Gott-Glaubens – mit dieser Weltanschau- ung bereits gebrochen. Die Sonne etwa war nicht mehr Gott selbst, sondern Symbol für Gott, Zeichen seiner Macht und Herrlichkeit. Welt und Natur waren „bloß“ Geschöpfe des einen Schöpfers – und damit entgöttlicht. Diese für die mythische Weltbetrachtung unerhörte Entheiligung der Welt, die sich im Christentum fortsetzte, befreite andererseits diese Welt zu sich selbst und schuf damit die Voraussetzung zu einer vorher unausdenkbaren Weltbemächtigung durch neuzeitliche Wissenschaft und Technik. Erst auf dieser Grundlage konnte die Existenz Gottes dann pauschal negiert werden, weil die Wissenschaft sie nicht bestätigen konnte und ohnehin glaubte, ohne Gott auskommen zu können. Allerdings bereitete sich dieser Atheismus erst langsam vor. In der Renaissance entwickelte sich eine neue Selbstständigkeit des Denkens. War im Mittelalter der Mensch noch ganz auf Gott ausgerichtet („theozentriert“) und begriff sich als – unselbstständiger – Teil des kosmischen Ganzen, beginnt der Mensch in der Renaissance nach sich selbst zu fragen, sich selbst in den Blick zu nehmen. Descartes‘ „Cogito ergo sum“ ist Ausdruck dieser neuen Subjektivität, woraufhin die Natur dem Menschen als Objekt gegenübertritt, von ihm verdinglicht wird. Vorbereitet wurde dieses Mittelpunktsein des Menschen („Anthropozentrik“) nicht zuletzt durch die Auflösung des mittelalterlichen Ständestaates in den durch Handel reich gewordenen italienischen Städten. Staatliche Macht und politische Ordnung ließen sich nun nicht mehr religiös begründen. Emporkömmlinge, „Neureiche“ gewannen die Überhand. Eine neue Gesellschaft entstand und konnte sich nur durch – mitunter skrupelloses – ökonomisches Kalkül behaupten. 13 Machiavelli proklamierte den rücksichtslosen Willen zur Macht jenseits aller Religion und Moral. Statistenrolle zu. Der Atheismus wurde zur selbstverständlichen „Religion“ der Befreiung. In der Spätrenaissance wurde dann eine neue mathematische Naturwissenschaft geboren. Die erfolgreiche Ausarbeitung der Mechanik zu einem für Himmel und Erde gleichermaßen gültigen System von Gesetzen brachte das mittelalterliche Weltgebäude zum Einsturz und machte dessen himmlischen Gott obdachlos. Den bisher radikalsten Einschnitt in der Geschichte des neuzeitlichen Atheismus markiert die Religionstheorie Ludwig Feuerbachs. In seinen Schriften kehrte er den christlichen Schöpfungsglauben in sein Gegenteil um: Nicht Gott habe den Menschen erschaffen, sondern der Mensch Gott „nach seinem Bilde“. Theologie, also die Lehre von Gott, wird zur Anthropologie, zur Lehre vom Menschen. „Der Mensch glaubt an Götter, weil er den Trieb hat, glücklich zu sein. Er glaubt ein seliges Wesen, weil er selig sein will; er glaubt ein vollkommenes Wesen, weil er selbst vollkommen zu sein wünscht; er glaubt ein unsterbliches Wesen, weil er selbst nicht sterben will. Was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern als seiend vor. Die Götter sind die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen“, heißt es bei Feuerbach. „Vernunft“ wird wichtiger als Gott Das Band zwischen Schöpferglaube und Wissenschaft reißt. Ein gottloser Materialismus wird zur Denkbasis damaliger Naturforscher; sie lehnen den überlieferten Weltenlenker ab, weil sich alles von selber regle. Der Glaube an die Vernunft triumphiert über den Glauben an Gott. Der Boden ist bereitet für die Epoche der Aufklärung, begriffen als Zeitalter der Vernunft und des Fortschritts, als Auftakt zu einer neu beginnenden Freiheitsgeschichte der Menschheit. Die Aufklärer richten ihre Kritik gegen alle Autoritäten und Traditionen, gegen Dogmen und Institutionen, die als Inbegriff von Unterdrückung, Abhängigkeit und vorenthaltener Selbstbestimmung aufgefasst werden. „Alles sollte seine Existenz vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen – oder auf seine Existenz verzichten“, resümierte später Karl Marx. Die Idee des mündigen, selbstbestimmten, selbstverantwortlichen Bürgers faszinierte, elektrisierte. Gott kommt in dieser Befreiungsbewegung nicht einmal mehr eine Das Anliegen, die Gottesvorstellung reduktionistisch auf das menschliche Bewusstsein zurückzuführen, wurde in der weiteren Entwicklung des Atheismus stets beibehalten. Aus Feuerbachs psychologischer Erklärung wird bei Marx eine soziologische Theorie der Entstehung religiöser Anschauungen. Demnach ist die Wirklichkeit des Menschen sozial und ökonomisch determiniert. Weil das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein des Menschen bestimme, sei Religiosität selbst ein gesellschaftliches Produkt. Religion, das Bedürfnis nach einer Gottesvorstellung, sei „ideologischer Überbau“ der als objektiven Realität anzusprechenden Basis, nämlich der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dieser Überbau sei notwendig, um gesellschaftliche Missstände 14 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott „Der Mensch glaubt an Götter, weil er den Trieb hat, glücklich zu sein. Er glaubt ein seliges Wesen, weil er selig sein will; er glaubt ein vollkommenes Wesen, weil er selbst vollkommen zu sein wünscht; er glaubt ein unsterbliches Wesen, weil er selbst nicht sterben will ...“ LUDWIG FEUERBACH „Die Existenz geht der Essenz voraus“ JEAN-PAUL SARTRE zu kaschieren, daher sei Religion „Opium des Volkes“. Sobald aber der Mensch die Gestaltung seiner Welt selbst in die Hand nehme und die wahre menschliche Gemeinschaft, den Sozialismus, verwirkliche, werde dieses „Opium“ überflüssig – die Religion werde absterben. Ohne Gott ist es „kälter geworden“ Friedrich Nietzsche, der Künder vom „Übermenschen“, diagnostizierte schlichtweg den „Tod Gottes“: „Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ,Ich suche Gott! Ich suche Gott!‘ – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. ,Ist er denn verlorengegangen?‘, sagte der eine. ,Hat er sich verlaufen wie ein Kind?‘, sagte der andere. ,Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen, ausgewandert?‘, so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ,Wohin ist Gott?‘, rief er, ,ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich. Wir alle sind seine Mörder.‘“ Aber Nietzsche war auch – wie kaum ein anderer – ein Seismograph, der künftige Katastrophen vorausahnte: „Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? ... Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ Charles Darwin beschrieb die „Entstehung der Arten“ (1859) als eine plausible Evolutionsmechanik der Organismen und machte damit jeglichen Schöpfergott vermeintlich überflüssig. Sigmund Freud sah die Religion als eine in den Bereich der Triebsphäre fallende, kulturell vermittelte Illusion. Religiöse Vorstellungen seien nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, sondern Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit, wobei die Stärke jener Vorstellungen von der Stärke dieser Wünsche abhänge. Religion also Ausdruck infantiler Hilflosigkeit, Gott das kindliche Wunschbild vom übermächtigen Vater ... „Wo ein Kind leidet, kann es Gott nicht geben“ Gott kann es nicht geben, folgert Jean-Paul Sartre in seiner Existenzphilosophie, weil der Mensch ein zur Freiheit bestimmtes, ja zur Freiheit verurteiltes Wesen sei, das sich zwar als Existenz vorfindet, aber noch zu sich selbst kommen muss, indem es sich selbst bestimmt und zum Thema Streit um Gott • 01/2008 dadurch erst wesenhaft konstituiert („Die Existenz geht der Essenz voraus“). Albert Camus lehnt Gott vor allem aus Protest gegen das Leiden ab. „Wo ein Kind unschuldig leidet, kann es keinen Gott geben“, sagt der Arzt Rieux in dem Roman „Die Pest“ und leistet dennoch – die Absurdität der Welt aushaltend – Widerstand gegen das Böse. Allerdings stand Camus bei dieser Daseinsauslegung nicht Hiob, sondern Sisyphus Pate. Als dann nach dem Zweiten Weltkrieg Theodor W. Adorno die Frage stellte, wie man nach Auschwitz denn noch an Gott glauben könne, schien der Atheismus ein für allemal die Oberhand gewonnen zu haben. Der Streifzug durch die Geschich- te des Atheismus – der manches unberührt lassen musste – sei damit beendet. Unser anfängliches Fragen, provoziert durch die Gottesleugner, richtet sich nun an diese selbst: Hat der Atheismus, der ausdrücklich mit dem Anspruch antrat, die Menschheit zu befreien, sein Versprechen eigentlich einlösen können? Oder hatte nicht doch Nietzsche recht, der wie kein anderer die negativen Konsequenzen einer Subjektkonstitution ohne Gott erkannte und eine „lange Folge von Zerstörung, Untergang, Umsturz, die ungeheure Logik von Schrecken, welche Europa alsbald entwickeln muss“, voraussah? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts liefert dafür Belege in Hülle und Welcher Gott ist da eigentlich für „nicht existent“ oder für „tot“ erklärt worden? Der Gott des Wissens, der Philosophen, Gott als Spitze des Seins, als unbewegter Beweger, als erste Ursache der Weltentwicklung – oder der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott Jesu? Fülle. Und wie steht es mit Nietzsches „Herrenmenschen“, der in Hitlers Tausendjährigem Reich als „Herrenrasse“ in Europa und darüber hinaus wütete und Blutbäder anrichtete? Einer muss ja schließlich – nach dem „Tode Gottes“ – der „Herr“ sein ... Und welcher Gott ist da eigentlich für „nicht existent“ oder für „tot“ erklärt worden? Der Gott des Wissens, der Philosophen, Gott als Spitze des Seins, als unbewegter Beweger, als erste Ursache der Weltentwicklung – oder der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott Jesu? Der Atheismus hatte allerdings auch ein Gutes: Er hat mit falschen Gottesbildern aufgeräumt, mit dem Gott der Herrschenden und 15 Mächtigen oder mit dem Gott der Erzieher, die ihn vor allem für das Strafen zuständig machten. Gewiss, dieser Gott wurde auch von der Kanzel verkündet, aber Gott wäre nicht Gott, wenn er nicht Wege fände, sich dem zu entziehen – und sei es über den (Um)weg des Atheismus. Die Geschichte des Atheismus ist die Geschichte des Menschen „ohne Gott“. Doch sie ist, wie gezeigt, auch eine Geschichte Gottes mit dem Menschen. MS 16 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Wahrheitssuche oder Marktgeschrei? Während des wohl bekanntesten Gerichtsprozesses der Menschheitsgeschichte vor bald 2000 Jahren stellt der römische Statthalter Pontius Pilatus die Frage: „Was ist Wahrheit?“ (Johannes 18, 38) Er stellt sie Jesus von Nazareth, der behauptet: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.“ (Johannes 18, 37) Dieses Beispiel zeugt beredt davon, wie von alters her die Frage nach Wahrheit die Menschen zutiefst bewegt. Neben „Lust“ oder „Neugier“ sind Wahrheits- und Erkenntnisstreben wohl als in uns vernunftbegabten Wesen tief verankerte Grundtriebe anzusehen, die unablässig nach Befriedigung suchen. Von daher hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte auch die so genannte Wissenschaftskultur herausgebildet, die maßgeblich das Denken der – westlichen – Gesellschaften prägt. Bei manchen Menschen sind die Verstandesanlagen besonders gut ausgeprägt und ihr starkes Wahrheitsbedürfnis lässt sie den Beruf des Wissenschaftlers einschlagen: „Die wichtigste Motivation der Menschen, die in die Wissenschaft gehen, war ursprünglich und ist wohl auch heute die Suche nach der Wahrheit.“ (Carl Friedrich von Weizsäcker: Einheit) Nun tut sich in letzter Zeit eine neue skeptische Generation in den Reihen der professionellen „Wahrheitssucher“ hervor. Diese Skeptiker haben das erklärte Ziel, die Welt vom religiösen Glauben, also von ver- meintlichen Unwahrheiten zu befreien – zumindest stellen sie sich mit missionarischem Eifer einem Wiederaufleben der Religionen aktiv in den Weg. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins ist einer der derzeit wohl prominentesten Vertreter der so genannten neuen Atheisten. In Johannes B. Kerners Talkshow musste sich Dawkins am 15. November 2007 den Vorwurf gefallen lassen, dass er mit naturwissenschaftlichen Methoden etwas zu beweisen versucht, das auf diese Weise ganz offensichtlich gar nicht bewiesen werden kann. In diesem Zusammenhang wurde dem Naturwissenschaftler vom Moderator der Sendung die Frage gestellt: „Warum ist Ihnen dieser Beweis bzw. der Gegenbeweis von der Nichtexistenz Gottes so wichtig? Könnten Sie nicht auch ganz gut ohne diese Erkenntnis leben?“ Dawkins gab darauf zur Antwort: „Ich glaube, die Frage, ob es einen Gott gibt, ganz unten irgendwo im Universum, ist natürlich eine der wichtigsten wissenschaftlichen Fragen überhaupt. Ein Universum mit einem Gott, ein Universum, das von einem Schöpfer geschaffen wurde, wäre wissenschaftlich gesehen ein ganz anderes Universum als ein Universum ohne Gott. Ich kann mir gar keine wichtigere wissenschaftliche Fragestellung vorstellen. Wie könnte sich ein Wissenschaftler nicht für die Frage interessieren: Gibt es in der Tat ei- „Ich gehe in den Boden und dort werde ich verfaulen.“ Richard Dawkins nen Gott? Eine faszinierende wissenschaftliche Frage! Ganz klar! … Man kann dies nicht widerlegen oder als falsch beweisen – aber ich glaube, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass es einen Gott gibt. Man kann es nicht als zu 100 Prozent falsch beweisen, aber … es ist sehr unwahrscheinlich.“ Die Frage nach Gott bringt zwar das Anliegen der Wahrheitssuche auf den Punkt, kehrt aber zugleich auch das ganze Problem dieses Bemühens nach außen: Wie radikale Kreationisten (Menschen also, die glauben, dass sich die Entstehung des Lebens und der Welt tatsächlich so abgespielt habe, wie die Bibel sie im Schöpfungsbericht schildert) die Naturwissenschaft missbrauchen, um Gott zu beweisen, so missbraucht letzten Endes Dawkins die Naturwissenschaft, um damit den Gegenbeweis zu führen. Für Kreationisten muss es auf Grund der naturwissenschaftlichen Beweislage einen intelligenten Designer geben. Für zum Thema Streit um Gott • 01/2008 die neuen Atheisten gibt es dagegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Gott – eben auf Grund naturwissenschaftlicher Beweislage. Naturwissenschaftliche Methoden werden hier auf fragwürdige Weise instrumentalisiert. Neben diesen extremen Vertretern so genannter beweisbarer Wahrheit gibt es jedoch viele moderate Gottgläubige und auch Nichtgläubige, die noch vernünftig zwischen Glauben und Wissen vermitteln. Allerdings bekommt dieses „Schauspiel des Glaubens“, das in unserer globalisierten Welt immer öfter über die Bildschirme flimmert, unwillkürlich etwas Absurdes, denn gerade Extrempositionen haben in den Massenmedien ja einen hohen Unterhaltungswert. Faktisch ist es ja weder „Gott“ noch „NichtGott“, sondern letzten Endes der „Mammon“, der bestimmt, welcher Unterhaltungswert der medialen Aufbereitung des „Streits um Gott“ zugemessen wird. Den Menschen von heute ist bei dem ganzen Unterfangen mit Namen „Wahrheitsfindung“ längst die kindliche Unschuld abhanden gekommen. Dennoch trifft gerade auf die mediale Streitkultur das spitzfindige Wort Jesu zu: „Mit wem soll ich diese Generation vergleichen? Sie gleicht Kindern, die auf dem Marktplatz sitzen und anderen Kindern zurufen, Wir haben für euch auf der Flöte (Hochzeitslieder) gespielt, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt euch nicht an die Brust geschlagen!“ (Matthäus 11, 15-17) Die Wahrheitsvertreter beschallen sich auf dem Marktplatz der Massenmedien und des Internets gegenseitig mit Liedern der Wahrheit von Liebe und Tod. Aber keiner der Kontrahenten im Studio oder vor den Bildschirmen ist wirklich bereit, sich selbst an die Brust zu schlagen. Geht es ihnen letzten Endes nicht um ganz etwas anderes als darum, Wahrheit zu finden? Geht es nicht vor allem um Show und Unterhaltung, um Einschaltquoten, um Popularität und den Verkauf von Büchern? Raum für die ernsthafte Diskussion der Fragen nach dem wahren Leben des Menschen, zutiefst von Fragen nach Liebe und Würde durchwoben und von daher untrennbar mit Scham und Schuld verbunden, bleibt meist nicht. Die Wahrheit gerät bei diesen Shows schnell ins Universum schuldet Ihnen keinen Trost oder keinen Komfort, kein Wohlergehen. Vielleicht sind Sie ein Produkt des Zufalls oder wir sind ein Produkt der darwinschen Evolution. Was viel schöner ist. Aber selbst wenn wir ein Zufallsprodukt wären und selbst wenn wir uns dann sehr klein und sehr traurig finden würden – es ist einfach so.“ Kerner: „Herr Dawkins, Sie haben gesagt, Sie werden, wenn Sie nicht mehr sind, unter der Erde sein und verrotten – wenn ich das richtig verstanden habe.“ 17 wer mich da empfängt! Aber wenn Sie mich fragen, was ich da sagen würde – ich würde Bertrand Russell zitieren: ‚Nicht genug Beweise, Gott, nicht genug Beweise!‘“ Von alters her gibt es einen Stein der Weisen. Dieser Stein führt seit jeher die Menschen zur Wahrheit im Leben: Es ist der Grabstein! Nicht ohne tieferen Grund thematisiert von daher auch jede Religion Leid, Sterben und Tod, versucht den Menschen (tröstende) Antworten auf das Unbegreifbare zu geben. Für Dawkins ist jedoch „Vielleicht ist es Zeus oder Wotan, oder was weiß ich, wer mich da empfängt! Aber wenn Sie mich fragen, was ich da sagen würde – ich würde Bertrand Russell zitieren: ,Nicht genug Beweise, Gott, nicht genug Beweise!’ “ Hintertreffen. Hören wir deshalb noch kurz das enthemmte „Lied“ vom Tod, wie es Dawkins und der Moderator am Schluss der oben genannten Gottes-Streit-Runde im ZDF anstimmten: Kerner: „Was passiert nach Ihrem Tod mit Ihnen?“ Dawkins: „Ich gehe in den Boden und dort werde ich verfaulen. … Natürlich kann man sagen, mit Religion hat man Sinn, einen Zweck im Leben, fühlt sich wohl – und übrigens, wir sind kein Produkt des Zufalls, wir sind ein Produkt der natürlichen Auslese, das ist etwas ganz anderes. Und selbst wenn die nichtreligiöse Sicht der Welt nicht zufriedenstellend wäre, wenn die Welt leer und trostlos wäre, wäre dies nicht unbedingt falsch. Das Dawkins: „Absolut. Das habe ich gesagt.“ Kerner: „Schöner Gedanke?“ Dawkins: „Natürlich ist das kein schöner Gedanke. Aber die Wahrheit ist nicht immer schön.“ Kerner: „Wäre es schöner, den Glauben zu haben an etwas anderes? Vielleicht ist da ja noch etwas?“ Dawkins: „Natürlich wäre es schöner. Aber es ist deswegen nicht unbedingt wahr.“ Kerner: „Für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass nach Ihrem Tod doch so was vor Ihnen steht wie der liebe Gott und Sie vor dem Jüngsten Gericht sind – haben Sie so etwas wie einen Notfallplan?“ Dawkins: „Vielleicht ist es Zeus oder Wotan, oder was weiß ich, Religion nichts als eine riesige Verschwendung von Zeit und Menschenleben und ein Witz mit kosmischen Ausmaß, der letztlich zu rein gar nichts gut ist. Was ist also Wahrheit, wenn man in hochmütiger Verblendung seine Grenzen nicht mehr kennt und leichten Sinnes mit wissenschaftlichem Anspruch über das einzig wahre „Denkmal“ unseres Lebens, das Grab, hinwegsteigt? Verkommt da die Rede von der Wahrheit nicht schnell zum ko(s)mischen Marktgeschrei? FE 18 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Mensch werden – ohne oder mit Gott? Der „neue Atheimus“ ist in aller Munde. Dawkins, Hitchens, in Frankreich Onfray und in Deutschland Schmidt-Salomon mit der Giordano-Bruno-Stiftung gelten als seine Vertreter. Was aber ist nun wirklich „neu“ an diesem Atheismus? Eigentlich nicht besonders viel, denn den sattsam bekannten Argumenten gegen religiösen Glauben wird zu Verkaufszwecken nur ein neues Etikett aufgeklebt. Allerdings erfasst das Thema anscheinend sehr gut die seelischen Vibrationen vieler Zeitgenossen, die während ihrer Auseinandersetzung mit „Sternenstaub“ in einen existentiellen Ausnahmezustand gleiten und sich dabei sehr hoch „angeschlossen“ fühlen. Diesen staubig schwingenden Zeitgeist vertont beispielsweise vortrefflich die Band „Ich&Ich“ in ihrem Hit „Vom selben Stern“. Da heißt es für den Zuhörer fast beschwörend: „Ich nehm den Schmerz von dir. Ich nehm den Schmerz von dir.“ In künstlerischer Freiheit wird im Refrain des Liedes dafür eine Begründung gegeben: „Wir alle sind aus Sternenstaub. In unsren Augen war mal Glanz. Wir sind noch immer nicht zerbrochen – wir sind ganz. Du bist vom selben Stern. Ich kann deinen Herzschlag hörn. Du bist vom selben Stern wie ich. Weil dich die gleiche Stimme lenkt und du am gleichen Faden hängst. Weil du dasselbe denkst wie ich.“ Der Sänger Bushido dagegen fragt in seinem Song „SternenStaub“ wesentlich kritischer nach: „Ist es Traurigkeit, die mir Tränen in die Augen treibt? Ist es Liebe, ist es Hass? Ist es Sternenstaub? Ist es wahr, dass dir am Ende nur der Glaube bleibt? Wenn der Glaube bleibt, bitte was ist dann Sternenstaub?“ Für diejenigen Zeitgenossen, die sich mit dem Begriff„Sternenstaub“ noch etwas schwertun, gibt‘s eine eingängige Erklärung gleich mitgeliefert: „Es ist alles, was du nicht erklären kannst. Weißt du, wenn du irgendwas mal die Schuld geben willst, dann schieb‘s auf deinen Sternenstaub.“ Anders ausgedrückt: Sternenstaub erklärt und entschuldigt alles! Auch die manchmal vielleicht etwas umständlichen und langatmigen Ausführungen der so genannten neuen Atheisten! Diese machen letzten Endes ja auch nichts anderes, als im Sternenstaub zu wühlen, natürlich mit der Hoffnung, so etwas wie ein Körnchen Wahrheit zu finden. Der Staub der Sterne schluckt ohne weiteres – das mag vielleicht an den galaktischen Dimensionen liegen – sogar das berühmte Wort „Gott ist tot“, das meist dem Philosophen Nietzsche zugesprochen wird. Nietzsche war allerdings nicht der Erste, der den „Tod Gottes“ verkündete. Schon Hegel sprach von dem „unendlichen Schmerz“ als einem Gefühl, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – eben dem Gefühl, Gott selbst sei tot. Ja, Sternenstaub erklärt einfach alles und schluckt nun auch ohne großes Aufsehen den tiefsten Schmerz der Menschheit, der da heißt: Es gibt keinen Gott. Wem‘s trotzdem noch weh tut, dem flüstert nun tröstend Sternenstaub ins Ohr: „Ich nehm den Schmerz von dir.“ Aber ist dieses große Gefühl von Einheit jenseits der Schmerz- grenze, das sich so gut vermarkten lässt, auch schon die ganze abgestaubte Wahrheit, die uns Dawkins & Co verklickern wollen? Der Evolutionsbiologe Dawkins hofft sehr, dass Religion irgendwann einmal der Vergangenheit angehört. Für ihn ist dies keine ganz unrealistische Hoffnung, denn es gibt Hinweise darauf, dass Menschen mit höherer Bildung seltener religiös sind. Für Dawkins reichen schon die gegenwärtigen Auswüchse des Glaubens im fundamentalistischen Islam, um zu dem Schluss zu kommen, dass wir ohne Gott wesentlich besser dran wären. „Es gibt einen logischen Weg vom Glauben an ein höheres Wesen zum Töten eines anderen Menschen“, verbreitet Dawkins. „Du kannst sagen: Es ist meine heilige Pflicht, den anderen zu töten und mich in die Luft zu sprengen. Du könntest nie sagen: Weil ich Atheist bin, ist es meine Pflicht, andere umzubringen. Da gibt es keine logische Verbindung.“ Und die Amokläufer? Und all die anderen Massenmörder, Mr. Dawkins? Lassen wir uns gedanklich einmal auf Dawkins‘ Vision ein, dass die Welt ohne Religion angeblich eine bessere wäre. Nehmen wir also an, dass die Menschheit sich als „Sternenstaub“ versteht, gottlos ist und ausschließlich durch (natur)wissenschaftliche Erkenntnisse zum Besseren voranschreitet. Es gäbe also keine guten und bösen Geister oder Dämonen mehr, keinen Krishna, keinen Wotan und keinen Zeus, keinen Jahwe, keinen Jesus Christus, keinen Allah und auch keinen Buddha, keine Tempel und Kirchen, keine Altäre, keine Gebete, keine Gottesdienste, keine Heiligen Bücher, keine Zehn Gebote, keine Offenbarungen und Prophezeiungen, keine Wunder, keine Priester und Bischöfe, keine Gurus, keine Heiligen, keine Frommen, keine Christen, keine Juden, keine Muslime und damit auch keine Taliban und somit auch kei- zum Thema Streit um Gott • 01/2008 19 Ein paar Gedanken zur Suche nach Wahrheit im „Sternenstaub“ ne Ungläubigen und keine Ketzer. Es gäbe keine Stammesreligionen, keinen Ahnenkult, keine Gräber. Es gäbe weder den Glauben an Reinkarnation noch den Glauben an Auferstehung. Die Antwort auf den Tod hieße in Zukunft sowohl in Benares als auch in Jerusalem: Du bist Sternenstaub – nicht mehr und nicht weniger. Was die künftige Entgötterung der Natur durch weitere kausale naturwissenschaftliche Einsichten betrifft, so können wir uns – um unnötigen Ängsten beispielsweise hinsichtlich der Stammzellenforschung vorzubeugen – ganz auf die Feststellung von Konrad Lorenz verlassen: „Noch nie hat [die Natur], nach natürlicher Erklärung eines ihrer wunderbaren Vorgänge, als ein entlarvter JahrmarktsScharlatan dagestanden, der den Ruf des Zaubernkönnens verloren hat, stets waren die natürlichen ursächlichen Zusammenhänge großartiger und tiefer ehrfurchtgebietend als selbst die schönste mythische Deutung“. Seien wir also getrost, dass der Sternenstaub noch so einiges an faszinierenden Überraschungen für uns bereithält, wenn wir erst einmal die wesentlichen Hindernisse aus dem Weg geräumt haben und zu den wahren Tiefen der geheimnisvollen Natur vorgedrungen sind. Dazu gehören auch die Religionen, die ja nur eine bedauerliche Fehlleistung der Evolution sind. Nach Ansicht der neuen Atheisten handelt es sich bei der Religion in der Menschheitsanatomie nur um eine Art von überdimensional entzündetem Blinddarm. Diesen gefährlichen Wurmfortsatz gilt es zu entfernen. Die (Natur)wissenschaft vermag diese Operation vorzunehmen, denn früher oder später wird sie die letzten Geheimnisse des (biologischen) Lebens aufklären und wir können mittels Nano-, Bio- und Gentechnologie uns eines Tages all das selbst erschaffen, was wir Menschen so brauchen, und noch vieles mehr. Die ganze Entwick- lung findet natürlich innerhalb der durch die Evolution vorgegebenen Zuchtwahl statt. Darwin zitierend meint Dawkins, dass „die natürliche Zuchtwahl täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt [ist], eine jede, auch geringste Abänderung zu prüfen, sie zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu vermehren, wenn sie gut ist.“ Wenn wir uns dann endgültig von der Krankheit die Menschheit nicht bereits so etwas wie Auschwitz? Ist nun auch der Holocaust nur Sternenstaub? Die Frage nach der Selektion von Menschen, von dem Werden und Vernichten von Menschen, ist die Frage nach der Menschheit schlechthin. Menschwerdung mit Gott dagegen geht untrennbar mit Liebe und Würde einher. Ist „Liebe“ nur ein überwältigendes Gefühl, das vom Belohnungssystem „Ist es Traurigkeit, die mir Tränen in die Augen treibt? Ist es Liebe, ist es Hass? Ist es Sternenstaub? Ist es wahr, dass dir am Ende nur der Glaube bleibt? Wenn der Glaube bleibt, bitte was ist dann Sternenstaub?“ „Religion“ und ihren hinderlichen Werten verabschiedet haben, werden wir schnell feststellen, dass eines weiterhin gilt: Am meisten brauchen wir Menschen ja uns selbst! Und darum ist es nur sehr nahe liegend, dass wir auch alles daransetzen werden, möglichst bald den vollkommenen Menschen zu schaffen. Die Technologien und Forschungsfreiheit dazu haben wir dann ja. Aber ist der vollkommene Mensch nun ein Mann? Oder ist er doch eher eine Frau? Oder ist der vollkommene Mensch weder Frau noch Mann? Ist er gar geschlechtslos? Ja, an was werden wir uns im Sternenstaub letztlich bei der Menschwerdung ohne Gott wohl orientieren? Wird uns die Naturwissenschaft eine Antwort darauf geben? Welcher Wissenschaftler wird die Wahrheit von Menschwerdung im gottlosen Sternenstaub jenseits von Mann und Frau definieren? Wir haben angenommen, dass die Menschheit sich als „Sternenstaub“ versteht, gottlos ist und durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse voranschreitet. Aber reicht das schon? Wird die Welt dadurch wirklich besser? Kennt des Organismus für unsere Mühen im Kampf um Fortpflanzung produziert wird? Ist „Liebe“, dieses ganze Glück des Menschen, letztlich nur ein alles durchdringender Lebensaufheller oder gar nur ein „Boogie-Woogie der Hormone“, wie einst der berühmt-berüchtigte Schriftsteller Henry Miller meinte? „Liebe“ ein großes Gefühl im Sternenstaub, wenn auch ein ziemlich rätselhaftes? Oder sind Lieben und Geliebtwerden nicht die Wahrheit des Lebens schlechthin? Trägt Sternenstaub das moralische Gesetz von der Heiligkeit des Lebens in sich? Sind im Zuge moralischen Fortschritts der Menschheit sich ändernde Sitten und Bräuche nur ein Produkt der Evolution? Hilft nicht gerade richtig verstandene religiöse Rückbindung dem Menschen dabei, moralische Konventionen um der Würde des Mitmenschen willen immer neu auf den Prüfstand zu stellen und Rechtfertigungsdruck auszusetzen? Gerade auf Grund von christlicher Ethik – sozusagen als moralischer Restlichtverstärker – vermag dann das gebildete Gewissen auch in Zeiten sittlicher Umnachtung klar zu erkennen, welches Handeln der Würde des Menschen entspricht und welches nicht. All diese Fragen nach Liebe und Würde weisen unmissverständlich darauf hin, dass wohl nur eine Menschwerdung in Gott uns die wahren Dimensionen menschlichen Lebens eröffnet. Von daher sollten sich Christen nicht auf die vermeintliche Wahrheitsfrage: „Gibt es Gott? Ja oder nein?“ einlassen – ist ja doch nur sinnlose Zeitverschwendung –, sondern vielmehr bewusst Erkenntnisse, die sich aus den folgenden Glaubenssätzen ergeben, wie reinigenden Regen auf den derzeit so hitzig aufgewirbelten Sternenstaub hinabrieseln lassen: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ (Genesis 1, 27) – Die (Glaubens)frage nach dem vollkommenen Menschen als Mann und als Frau. „Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt: Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Psalm 8, 4-5) – Die (Glaubens)frage nach Liebe und Würde, die Frage nach Menschheit in unserer Person. „Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ (Markus 10, 15; Lukas 18, 17) – Die (Glaubens)frage nach der Menschwerdung mit Gott, die bedeutet: Wir sind eben nicht nur Sternenstaub, sondern wir Menschen sind alle Kinder des einen Gottes – ein Gott, der jeden von uns liebevoll mit DU anspricht! Stellen wir uns also erneut die Frage, diesmal aber ganz bewusst als Gottes geliebtes Kind, das den Staub des „Wissenschafts-Wahns“ abgeschüttelt hat: „Wenn der Glaube bleibt, bitte was ist dann Sternenstaub?“ (Bushido) FE 20 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Geschichten, Der Rechenfehler die nachdenklich machen Oft sind es unscheinbar wirkende Kurzgeschichten, die eine Sache treffend auf den Punkt bringen und deren Weisheit uns – nicht selten gnadenlos – herausfordert. So auch die folgenden Erzählungen: Rabbi Baruchs Enkel, der Knabe Jechiel, spielte einst mit einem anderen Knaben Verstecken. Er verbarg sich gut und wartete, dass ihn sein Gefährte suche. Als er lange gewartet hatte, kam er aus dem Versteck, aber der andere war nirgends zu sehen. Nun merkte Jechiel, dass jener ihn von Anfang an nicht gesucht hatte. Darüber musste er weinen, kam unter Tränen in die Stube seines Großvaters gelaufen und beklagte sich über den bösen Spielgenossen. Da flossen Rabbi Baruch die Augen über, und er sagte: „So spricht Gott auch: ,Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen.‘“ Kardinal Faulhaber kam bei einem Festessen neben Professor Einstein zu sitzen. Einstein meinte: „Eminenz, was würden Sie sagen, wenn wir Mathematiker Ihnen rechnerisch einwandfrei beweisen würden, dass es keinen Gott gibt? “Darauf der große Kardinal: „Ich würde in Geduld warten, bis Sie Ihren Rechenfehler gefunden haben.“ Was anfangs als Kinderspiel beginnt, entpuppt sich am Ende als Ernst: Sind vielleicht auch wir gar nicht auf der Suche nach Gott? Haben wir Gott etwa ad acta gelegt oder IHN, fein säuberlich zusammengefaltet, in eine Schublade weggeräumt? Oder ist ER uns – vielleicht unbemerkt – verloren gegangen ... und wir vermissen ihn eigentlich auch nicht? Es gibt noch Menschen, die Gott suchen: Unbekannt verzogen Sie suchen Gott? Der wohnt hier schon lange nicht mehr. Unbekannt verzogen. Wir haben ihn ja sowieso nicht mehr kennen gelernt. Muss ein komischer Typ sein. War wohl früher mal ganz beliebt hier, bei den Nachbarn. Sehr hilfsbereit und freundlich. Aber wohl doch ein ziemlich kauziger Typ, mit verschrobenen, etwas unzeitgemäßen Ansichten. Heute würde er in diese Gegend sicher nicht mehr reinpassen. Alles solide Leute hier. Gehobenes Einkommen, dezente Umgangsformen, wohlerzogene Kinder, gepflegte Anwesen. Dieser Gott soll wohl mal in der Uniklinik gesehen worden sein, in der Psychiatrie. Vielleicht hat er ja auch nur ein paar Freunde besucht. Und der Schreber-Klockow von gegenüber hat ihn auch mal gesehen. Beim letzten Pokalspiel stand er in der Fankurve. Soll ziemlich betrunken gewesen sein. Tja, wie gesagt, wir haben ihn gar nicht mehr kennen gelernt. Vielleicht wär‘s ganz interessant gewesen. Ist ja doch ein bisschen ruhig hier in der Gegend. Menschen kennen IHN nur noch vom Hörensagen; sie sind darauf angewiesen, was andere über IHN erzählen. Eigene Erfahrungen liegen schon nicht mehr vor. Bei dem Thema „Streit um Gott“ sollte man bedenken: An Gott kann man sich letztlich nur fragend herantasten. Gott kann man nicht „haben“, schön eingerahmt wie ein Foto. Immer schon – trotz aller Glaubensstärke – war Gott für die Menschheit immer auch ein großes Fragezeichen. Doch was genau stellen wir uns unter Gott vor? Und was hat ER mit unserem Leben zu tun? „Gott sei Dank gibt es nicht, was 60 bis 80 Prozent der Zeitgenossen sich unter Gott vorstellen.“ (Karl Rahner) Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: „Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Art der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.“ (Bertolt Brecht) Nein, eine klare Antwort erhalten wir nicht auf die eigentlich alles entscheidende Frage, „ob es einen Gott gäbe“. Für Brecht ist klar: Ein aufgeklärter, mündiger Bürger bestimmt selbst über sein Verhalten und ist autark in seinen Entscheidungen; er braucht keinen Gott. Doch man kann es auch anders sehen: Brauchen wir Gott nicht doch – nicht, weil wir noch unmündig wären, sondern weil wir nun einmal Menschen sind und als Menschen ohne Gott unmenschlich werden können? zum Thema Streit um Gott • 01/2008 Gibt es Gott? Darüber lässt sich auch auf folgende Weise trefflich streiten: Die Blumen und der Gärtner Zwei Männer wanderten durch den Wald. Nach einiger Zeit erreichten sie eine Lichtung. Dort blühten wunderschöne Blumen in prächtigen Farben. Beide waren von der Schönheit dieses Anblicks beeindruckt. Der eine Mann sagte: „Das muss ein guter Gärtner sein, der diesen Garten pflegt.“ „Du irrst“, sprach der andere. „Hier gibt es keinen Gärtner. Die Blumen wachsen wild.“ „Das glaube ich nicht. Es gibt bestimmt einen Gärtner. Lass uns warten, bis er kommt.“ Da sie gute Freunde waren, ließ sich der Skeptiker darauf ein. Am Abend war der Gärtner noch nicht erschienen. „Bist du jetzt überzeugt, dass es hier keinen Gärtner gibt?“ „Nein. Vielleicht kommt er nachts.“ Nach einer durchwachten Nacht hatten sie noch immer keinen Gärtner gesehen. „Vielleicht ist er unsichtbar.“ Sie installierten eine elektronische Anlage, die bei Berührung Alarm schlägt. Aber der Alarm blieb aus. „Trotzdem bin ich überzeugt, dass es einen Gärtner gibt, der sich um diese Blumen kümmert. Vielleicht ist er nicht nur unsichtbar, sondern auch körperlos. Dann ist er mit keiner Alarmanlage zu erwischen.“ Da verlor der Skeptiker langsam die Geduld: „Was soll denn das für ein Gärtner sein, der unsichtbar und körperlos ist?! Ein solcher Gärtner existiert nicht. Du willst ja nur nicht zugeben, dass ich recht habe: Es gibt keinen Gärtner.“ Man kommt nur schwer von ihm los „Gott sei Dank“, sagt die Bäuerin, „es kommt Regen.“„Aber Genossin“, antwortet der Leiter der Kolchose, „du weißt doch, einen Gott gibt es, Gott sei Dank, nicht.“ „Sicher, Genosse, aber wenn es nun, was Gott verhüten möge, doch einen gibt?“ Ein Schüler kam zu einem Rabbi und fragte: „Früher gab es Menschen, die Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen haben. Warum gibt es die heute nicht mehr?“ Darauf antwortete der Rabbi: „Weil sich niemand mehr so tief bücken will.“ Vielleicht! Hand auf und ab. Er schien den Ankömmling nicht einmal gesehen zu haben. Aber auf einmal blieb er stehen, warf einen flüchtigen Blick auf den Professor, der da zu ihm gekommen war, und murmelte vor sich hin: „Vielleicht ist es aber doch wahr!“ Den gelehrten Mann durchfuhr es. Er hatte keine Antwort parat auf eine so einfache Aussage. Als er nun in das Gesicht dieses „Solange ich Gott nicht sehe, leugne ich seine Existenz“, tönte ein junger Mann. „Und ich“, erwiderte ein Priester, „leugne aus dem gleichen Grunde Ihren Verstand.“ Vom Bücken Das wiederholte „Vielleicht“ konnte dem Skeptiker nichts anhaben, zu sehr war er wohl in seine eigene Sichtweise verstrickt. Anders der gelehrte Mann in der folgenden Geschichte: Eines Tages kam ein gelehrter Mann, der von einem frommen Rabbi gehört hatte, und wollte mit ihm über die Existenz Gottes diskutieren. Er war zwar Kind gläubiger Juden, konnte aber seit geraumer Zeit mit dem Gott seiner Eltern nichts mehr anfangen. Wie er nun in die Stube des Rabbiners trat, ging der gerade, tief in Gedanken versunken, mit einem Buch in der Unsichtbar Frommen sah, schlotterten ihm die Knie. „Mein Sohn“, sagte der Rabbi nun, sich dem Gast voll zuwendend, „die Theologen haben dir Gott und sein Reich nicht auf den Tisch legen können, und ich kann es auch nicht. Aber bedenke: Vielleicht ist es wahr!“ Diesem furchtbaren „Vielleicht“ konnte der Gelehrte nichts entgegenhalten. 21 22 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Naturwissenschaft und Religion Am 11. September (!) 2007 erschien das Buch „Der Gotteswahn“ aus der Feder des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins. Ein Versuch, sämtliche Religionen als sinnlose Hirngespinste abzuweisen und im Gegenzug die Evolutionslehre zur zentralen Theorie zu erheben, mit der allein die Entstehung des Lebens in all seinen Erscheinungsformen erklärt werden könne. Dawkins facht damit eine Debatte erneut an, die seit einem Beitrag des Wiener Kardinals Christoph Schönborn in der „New York Times“ 2005 erregt geführt wird: Sind Evolutionslehre und christlicher Glaube vereinbar? Oder widerlegt gar die Evolutionslehre von Charles Darwin den christlichen Glauben? Sind Evolutionslehre und christlicher Glaube vereinbar? Oder widerlegt gar die Evolutionslehre von Charles Darwin den christlichen Glauben? Die heutigen Naturwissenschaften befassen sich in vielfältiger Weise mit dem Menschen und werfen dabei Fragen grundsätzlicher Art auf, meist ohne dabei die Theologie und die Philosophie zu berücksichtigen oder auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Wichtige Stichworte, die in letzter Zeit öffentlich diskutiert wurden und die Brisanz des Themas anzeigen, sind: Evolution, Schöpfung, Tier – Mensch, Geist – Hirn, Willensfreiheit, Lebensbeginn, Lebensende, Denken, Biomedizin, Gentechnik, Neurotheologie usw. Doch sind naturwissenschaftliche und religiöse Erkenntnisse bzw. Perspektiven prinzipiell unvereinbar, wie allenthalben glauben gemacht wird? Religion und Wissenschaft, Gott und Vernunft, Glauben und Wissen, das scheinen in der Tat verschie- zum Thema Streit um Gott • 01/2008 dene Welten zu sein. Der Kampf, der zwischen diesen Fronten ausgetragen wird, ist nicht irgendeiner, sondern in gewisser Weise der Kampf um Sein oder Nichtsein. Der Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion, Glauben und Wissen, beruht nicht auf geschichtlichen Zufällen. Er war vielmehr von Geburt der Wissenschaft an nicht zu vermeiden. Die Naturreligionen, die Stammesreligionen, aber auch noch der antike Götterglaube sahen die ganze Welt mythisch, geheimnisvoll, durchdrungen von furchterregenden Geistern oder göttlichen Kräften. Die Religion war das Mittel, diese Kräfte durch ein bestimmtes Verhalten bändigen zu können. Im völligen Gegensatz dazu stand die Haltung der Wissenschaft: Ihr ging es darum, die Welt und die Natur ganz nüchtern und sachlich als Gegenstand zu betrachten, der kraft der menschlichen Vernunft verstehbar und vor allem berechenbar wird. Dieses Objekt kann der Mensch in den Griff bekommen. Erfolgreich ist dieser Versuch allerdings bis heute nicht ... Das Christentum war es, das zum ersten Male eine Verbindung zwischen Glauben und Wissen zuließ, nämlich indem es den systematischen begrifflichen und technischen Zugriff auf diese Welt zuließ, ja sogar förderte. Albert der Große (1200-1280), der Lehrer eines anderen großen Heiligen und Denkers, Thomas von Aquin, gilt als erster Naturwissenschaftler in unserem „modernen“ Sinn. Der Gott der Wissenschaftler des Mittelalters war eindeutig der christliche Gott, und sie sahen keinen Widerspruch zwischen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit und ihrem Glauben. In der Renaissance waren die geistigen Helden die Künstler. Sie dachten sich die Welt nicht bloß, sondern versuchten sie zu sehen, wie sie wirklich war. Leonardo da „Warum macht sich die Schöpfung die Mühe zu existieren?“ 23 hauptet hatte, die Erde sei rund, habe man ihn gefoltert, verurteilt und verbannt. Welch ein historischer Unsinn! Galilei scheiterte an sich selbst, seiner Überheblichkeit und Selbstüberschätzung und an einer gnadenlos dummen Inquisitionsbehörde. Der Bruch der Wissenschaft mit der Religion vollzieht sich im Gefolge der Aufklärung. „Gott? Ich brauche diese Hypothese nicht mehr!“, ruft der Gelehrte Laplace nach der Französischen Revolution seinem Kaiser Napoleon zu. Charles Darwin stellt im 19. Jahrhundert seine Evolutionstheorie auf, die als Widerlegung der biblischen Schöpfung interpretiert wird. Die Bibel aber beschreibt nicht die Welt, sie deutet sie. Darwin beschreibt die Welt und ihre Entwicklung. Aufmerksame Leser erkennen auf Anhieb den Unterschied! Einer der klügsten Menschen unserer Zeit, der britische Astrophysiker Stephen Hawking, schreibt in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit“, dass die Urknalltheorie natürlich nicht mit dem christlichen Schöpfungsgedanken übereinstimme. Gleichzeitig stellt er die Frage: „Warum macht sich die Schöpfung die Mühe zu existieren?“ Wie eng liegen hier Wissen und Glauben beisammen! Vinci war solch ein Künstler: universal gelehrt und universal interessiert. Aber die Welt hatte sich verändert: Während der Krise des Christentums um das Jahr 1500 und mit der Wiederkunft des antiken Heidentums blieb unklar, was eigentlich „Religion“ noch sein sollte. Und die sich erst herausbildende Wissenschaft war in Gefahr, sich ohne Unterschied mit ernsthaften Forschungen und mit abergläubischem Unsinn zu befassen. Kopernikus sah anstelle der Erde die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems. Luther nannte ihn einen Narren, Papst Paul III. war über die Erkenntnis von Kopernikus erfreut. Christoph Kolumbus entdeckte Amerika; er und Magellan waren auf ihren Seereisen nicht über den Rand der „Weltscheibe“ gefallen.1572 wurde der julianische Kalender auf Geheiß des Papstes Gregor XIII. abgeschafft. Es entstand der bis heute gültige gregorianische Kalender auf der Basis des kopernikanischen Weltbildes. Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach der Existenz Gottes bleiben der naturwissenschaftlichen Erkenntnis verborgen. Die Naturwissenschaften erkennen lediglich falsifizierbare Wahrscheinlichkeiten, keine absoluten Wahrheiten. Der Glaube beschreibt eine Wahrheit jenseits aller Vernunft: die Wahrheit der Existenz Gottes. RS Der Fall Galileo Galilei wird bis heute fälschlicherweise als Kriegserklärung der Kirche an die Wissenschaft gesehen. Weil Galilei be- 24 0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott Impressum SUDOKU So geht's: Füllen Sie die leeren Felder des Sudokus mit Zahlen. Dabei müssen in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem der quadratischen Neun-Blocks aus 3 x 3 Kästchen alle Zahlen von 1 bis 9 stehen. Keine Zahl darf also in einer Zeile, Spalte oder einem Block doppelt vorkommen. Viel Spaß beim Lösen! zum Thema – Themenheft für Soldatinnen und Soldaten zum Lebenskundlichen Unterricht Herausgeber: Katholisches Militärbischofsamt Am Weidendamm 2, D-10117 Berlin Fon: 030/20617-112 Fax: 030/20617-113 Internet: www.katholischemilitaerseelsorge.de E-Mail: kmba@bundeswehr.org Verlag: MEDIKOM Gesellschaft für Medien Infotainment Kommunikation mbH Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Fon: (0221) 990 33-0 Fax: (0221) 990 33-299 E-Mail: verlag@medikom.de Internet: www.MEDIKOM.de Auflösung aus dem letzten Heft: Redaktionsleitung: Cornelia Teigelkamp E-Mail: teigelkamp@medikom.de Autoren/Textzusammenstellung: Frank-Peter Bitter (FPB) Franz Eisend (FE) Dr. Thomas R. Elßner (TRE) Lothar Bendel (LB) Msgr. 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