Streit um Gott

Transcription

Streit um Gott
zum
Thema
STREIT
UM
AUSGABE NR. 1
•
2008
SCHWERPUNKT „ATHEISMUS”
DIE GOTTESFRAGE SEITE 6
DER GOTTESMORD SEITE 8
WAHRHEITSSUCHE SEITE 16
WISSENSCHAFT UND RELIGION SEITE 22
IMPRESSUM SEITE 24
GOTT
Streit um Gott
Anmerkungen zum
Wer regelmäßig Bestsellerlisten studiert oder in Buchläden
die direkt neben den Kassen
aufgetürmten „Verkaufsschlager“ sichtet, wird in den vergangenen Monaten nicht wenige religionskritische bzw.
religionspolemische Schriften
wahrgenommen haben.
„neuen Atheismus“
Atheismus“
Erinnert sei z. B. an Richard Dawkins‘ „Der Gotteswahn“ und Sam
Harris‘ „Das Ende des Glaubens.
Religion, Terror und das Licht der
Vernunft“. Nun sind Religionskri-
tik und antireligiöse Polemik konstante Begleiter der Religionen im
Auf und Ab der Geschichte. In der
Regel wird diese Kritik mit finalem
Gestus vorgetragen, der besagt,
dass die Religion nun endgültig
verabschiedet sei. Trotzdem erweist sich Religion weiterhin als
vital und lebensfähig.
2
0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott
Liebe Leserinnen und Leser!
„Streit um Gott“ – ist das nicht Schnee von gestern oder, besser noch,
von vorgestern? Lockt das Thema noch jemanden hinter dem Ofen hervor? Wenn sich nicht einmal mehr Europa, das christliche Abendland,
darauf verständigen kann, Gott in seine Verfassung aufzunehmen, um
damit auszudrücken, dass es auf Werten gründet, die es sich nicht selbst
hat geben können, erscheint Gott in der Tat passé. Wozu also noch
Streit? Spielt Gott überhaupt noch eine Rolle in unserem Alltagsleben
oder ist er nicht bestenfalls „schmückendes Beiwerk“ an den großen Feiertagen des Jahres wie Ostern und Weihnachten oder an den Zäsuren im
menschlichen Lebenslauf wie Geburt, Taufe, Hochzeit oder Tod? Waren
also jene im Recht, die bereits in den 1980er Jahren vom „Verdunsten
des Glaubens“ sprachen, allen voran die katholischen Bischöfe? Hatten
weltanschauliche Ideologien wie der Nationalsozialismus und der Kommunismus nicht leichtes Spiel, die Religion entweder zu vereinnahmen
bzw. zu missbrauchen oder als „Opium fürs Volk“ kurzerhand überflüssig zu machen? Und wäre die Welt nicht gar besser dran ohne Gott,
wenn man sich vor Augen führt, wie viel Leid Menschen einander zu
allen Zeiten im Namen ihrer Religion, im Namen ihres Gottes angetan
haben und immer noch antun?
Als im Herbst des vergangenen Jahres das Buch „Der Gotteswahn“ in
Deutschland erschien, hatte es zunächst den Anschein, als hätte der Autor, Richard Dawkins, alle guten Argumente auf seiner Seite, um den
religiösen Fanatismus vieler Menschen anzuprangern. Und heftig, ja
geradezu aufgeschreckt waren die Reaktionen: Die „Tagespost“ startete
z. B. sofort eine Serie, betitelt „Der neue Kampf gegen Gott“. Und ein
„Spiegel“-Artikel war überschrieben: „Der Kreuzzug der Atheisten“.
Dabei ist eines auffallend: Die Protagonisten der so genannten 68er
Revolution übten nicht nur elementare Gesellschaftskritik, sondern
stellten neben Institutionen wie Ehe und Familie auch die christlichen
Kirchen radikal in Frage. Unterdrückung der Frau, Zölibat, Papst,
Sexualmoral waren die immer wiederkehrenden Stichworte. Doch mit
den „neuen Atheisten“ gewinnt die Kritik auch eine neue Qualität:
Nicht mehr die Kirchen sollen eliminiert werden, sondern Gott selbst!
„Entlarvten“ die Atheisten des 19. Jahrhunderts Gott noch als Projektion des menschlichen Geistes (Näheres im Beitrag „Zur Geschichte des
Atheismus“), so wird Gott jetzt aus naturwissenschaftlicher, genauer:
evolutionsbiologischer Sicht für „unmöglich“ bzw. nicht existent erklärt. Dass Dawkins dabei alle sonstigen Weisen wissenschaftlichen Erkennens und Verstehens außer Acht lässt, sei nur nebenbei bemerkt.
Martin Buber erzählt die Geschichte, dass ein gelehrter Mann, der seinen Glauben verloren hat, einen Rabbiner besucht, um mit ihm über
die Existenz Gottes zu diskutieren. Doch anstatt ihn wortreich und leidenschaftlich von der Existenz Gottes zu überzeugen, hält dieser ihm
nur entgegen: „Vielleicht ist es aber doch wahr!“ – Eine undogmatische
Haltung, die wenigstens mit der Möglichkeit Gottes rechnet – und den
Gelehrten offenbar erschauern lässt. Spürt er womöglich, dass sich in
seinem Leben Grundlegendes ändern würde, wenn es doch wahr wäre
– dass es Gott gibt?
Eugen Biser, einer der bekanntesten Theologen der vergangenen Jahrzehnte, wurde einmal gefragt: „Im Gottesbegriff muss sich zeigen, dass
sich das Christentum von allen anderen Religionen signifikant unterscheidet‘ – ein Zitat von Ihnen selbst. Herrscht darüber noch keine
Klarheit? War der christliche Gottesbegriff über die Jahrhunderte verdunkelt?“ Und Biser antwortete: „Leider ja. Dieser Gottesbegriff war
durch eine Ambivalenz gekennzeichnet: auf der einen Seite der liebende
Gott, auf der anderen Seite der drohende, strafende Gott. Hier muss
eine Selbstkorrektur stattfinden. Hier muss gezeigt werden, dass es diesen strafenden Gott für ein richtig verstandenes Christentum nicht gibt,
sondern nur den Gott der bedingungslosen Liebe. Dieser bedingungslos
liebende Gott darf und kann nicht gefürchtet werden, denn er nimmt
dem Menschen die tiefste aller Ängste, die Gottesangst, aus der Seele.“
Streiten Sie also um Gott, denn, wie schon gesagt, vielleicht ist es ja
doch wahr!
Ihr Manfred Suermann
In den vielfältigen Erscheinungen
der Religionskritik lassen sich im
Wesentlichen zwei Motivstränge
unterscheiden, die je nach Autor
unterschiedlich gewichtet oder
auch kombiniert werden:
Q moralische Kritik: Die Existenz
eines allmächtigen, den Menschen
wohlgesonnenen Gottes werde
dementiert durch die physischen
und moralischen Übel in der Welt,
d. h. die Leiden, die die Natur den
Menschen zufügt (z. B. Krankheiten, Tod, Erdbeben u. a.), und die
Leiden, die Menschen im Namen
von Institutionen oder sogar im
Namen Gottes einander zufügen.
Q sich „wissenschaftlich“ gebende
Religionskritik: Behauptet wird die
kognitive Sinnlosigkeit religiöser
Überzeugungen, bestritten wird
der Anspruch der Religionen auf
wahrheitsfähige Erkenntnisse über
die Welt und den Menschen.
In der gegenwärtigen Diskussion
liefert ein evolutionärer Naturalismus bzw. Materialismus die
Basisannahmen, den Geltungsanspruch und Wahrheitsgehalt religiöser Bekenntnisse zu bestreiten.
In diesem evolutionären Theorierahmen sind all jene Argumente
präsent, die ein Atheismus benötigt,
der nicht nur behauptet, dass es
keinen Gott gibt, sondern dessen
Existenz auch explizit ablehnt.
„Es ist nicht nur so, dass ich nicht
an Gott glaube und natürlich hoffe, mit meiner Ansicht Recht zu
behalten, sondern eigentlich geht
es um meine Hoffnung, es möge
keinen Gott geben! Ich will, dass
es keinen Gott gibt; ich will nicht,
dass das Universum so beschaffen ist“, bekennt US-Philosoph
Thomas Nagel.
In unserer Kultur sind die Grundannahmen des evolutionären Naturalismus ein weit verbreiteter Wissensbestand, der dem alltäglichen,
in manchen Gesellschaften gar zum
Massenphänomen
gewordenen
Atheismus zu Grunde liegt, den
der amerikanische Schriftsteller
Philip Roth in seinem Roman „Eve-
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
ryman“ („Jedermann“) folgendermaßen beschreibt: „Religion war
eine Lüge, die er schon früh im
Leben durchschaut hatte; er nahm
Anstoß an allen Religionen (...)
Mit Hokuspokus über Tod und
Gott und obsoleten Himmelsphantasien hatte er nichts zu schaffen.
Es gab nur unsere Körper, geboren, um zu leben und zu sterben,
geschaffen von Körpern, die vor
uns gelebt hatten und gestorben
waren.“
Selbst wenn in Rechnung gestellt
wird, dass Religionskritik so alt ist
wie die Religionen selbst, verwundert die Vehemenz der aktuell vor-
getragenen Kritik – und dass diese
ihr Publikum findet. Hatte es doch
den Anschein, als seien in den letzten Jahrzehnten die Konflikt- oder
Trennlinien zwischen christlichem
Glauben und Evolutionstheorie
aufgeweicht oder sogar beseitigt
worden. Kirchliche Stellungnahmen verraten eine zunehmende
Akzeptanz der Evolutionstheorie.
Auf dem Zweiten Vatikanischen
Konzil hat die katholische Kirche
die evolutionäre Sicht der Wirklichkeit bestätigt. „So vollzieht
die Menschheit einen Übergang
von einem mehr statischen Verständnis der Ordnung der Gesamtwirklichkeit zu einem mehr
dynamischen und evolutiven Verständnis.“ (Gaudium et Spes 5).
Warum also erneut die massive
Kritik? Über die Gründe lässt sich
nur spekulieren:
Q wachsende Bedeutung des so
genannten Kreationismus, der
die biblischen Schöpfungsberichte
fundamentalistisch liest, die unmittelbare Erschaffung der Arten
durch Gott behauptet und die Wissenschaftlichkeit der Evolutionstheorie leugnet. In den Vereinigten Staaten ist der Kreationismus
zur Massenbewegung geworden,
in Deutschland ist die Zahl seiner
Anhänger dagegen eher gering.
3
Q Die Säkularisierungsthese behauptet das allmähliche Absterben der Religion; die friedliche
Koexistenz von Wissenschaft und
religiösem Glauben gilt ihr mithin
als temporäre Erscheinung, die
sich quasi von selbst erledigt. Da
aber in globaler Perspektive das
Verschwinden der Religionen nicht
zu erwarten ist, steht die Säkularisierungsthese inzwischen unter
Revisionsdruck.
Q Die Erfahrung religiös motivierter Gewalt hat in den vergangenen Jahren verstärkt religionskritische Reflexe hervorgerufen.
Die evolutionäre
„So
vollzieht die Menschheit
einen Übergang von einem
mehr statischen Verständnis
der Ordnung der
Gesamtwirklichkeit zu einem
mehr dynamischen
und evolutiven Verständnis.“
Beschreibung
des Menschen
Die Evolutionstheorie ist eine naturwissenschaftliche Theorie, die
sich auf weltimmanente, kausal
beschreibbare Prozesse bezieht.
Die zentrale These lautet, dass alle
Lebewesen, alle Populationen von
Organismen sich im Rahmen eines
gesetzmäßigen Kausalprozesses
entwickeln bzw. entwickelt haben.
Die wichtigste kausal wirkende
Kraft ist die natürliche Selektion:
Die Erbanlagen von Mitgliedern
einer Population, die für das Überleben am besten geeignet sind,
reproduzieren sich demnach erfolgreicher als die Erbanlagen anderer Mitglieder dieser Population („survival of the fittest“). Alle
artspezifischen Eigenschaften und
Fähigkeiten von Lebewesen lassen sich mithin auf evolutionäre
Selektionsprozesse zurückführen,
deretwegen sie sich in der Generationenfolge behauptet haben.
Diese Erklärungsstrategie macht
vor uns Menschen nicht halt. Auch
für den Menschen gilt, dass sich
seine Fertigkeiten, Eigenschaften
und Anlagen evolutionstheoretisch herleiten lassen. Mit anderen
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Worten: In der Evolutionstheorie
beschreibt der Mensch sich selbst
als naturhaft determiniertes Wesen, integriert in die Naturgeschichte als einer langen, in ihrem
Verlauf nicht determinierten Entwicklung. Diese Beschreibung hat
ein hohes Maß an Plausibilität und
ist empirisch gut begründet. Ob sie
freilich eine vollständige Beschreibung des Menschen ist, bleibt eine
offene Frage.
Einsprüche:
Vernunft, Moral,
Religion
Menschen sind vernunftbegabt.
Die Evolutionstheorie lehrt, dass
die kognitiven und intellektuellen
Fähigkeiten des Menschen als das
Ergebnis von Selektionsprozessen
zu begreifen seien. Die wissenschaftliche Vernunft, die erklärt,
Selektion sei das die Lebenswirklichkeit bestimmende Kausalprinzip, wird von daher selbst als
Produkt dieser Selektionsprozesse
angesehen.
Die Reflexion der Vernunft auf sich
selbst stößt jedoch auf logische Gesetzmäßigkeiten wie z. B. das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten
(„Eine These ist wahr oder nicht
wahr, ein Drittes gibt es nicht“)
oder den Satz vom Widerspruch
(„Eine These kann nicht wahr und
zugleich unwahr sein“), deren
Geltung evident ist, d. h. jede rationale Argumentation überhaupt
erst ermöglicht. Diese Prinzipien
anzuerkennen ist insofern alternativlos, als der Versuch, sie zu
hinterfragen, sie bereits im Gebrauch hat und der Versuch, sie zu
DAS LEBEN
Schöpfer seiner selbst
Seiner selbst bewusst sich werdend,
erschrak es und erschuf sich
seinen Schöpfer.
Reiner Kunze: Lindennacht. Gedichte
negieren, unweigerlich auf einen
Selbstwiderspruch hinausläuft. Die
Geltung logischer Prinzipien kann
sich also nicht erst einer etwaigen
biologischen Abkünftigkeit aus
Selektionsprozessen verdanken.
Sie muss auch im Irrealis einer jeden möglichen Welt, auch einer
solchen, die den Menschen nicht
zufällig selektiv hervorgebracht
hätte, Bestand haben. In diesem
Sinne schreibt Thomas Nagel, dass
die von uns „angewandten Grundmethoden rationalen Denkens
nicht bloß menschlicher Art sind,
sondern einer allgemeineren Kategorie von Geist angehören“. Das
Vertrauen in das Vermögen der
Vernunft wird unterminiert durch
die Evolutionstheorie, die das
Wesen des Menschen auf kontingente, dem Zufall preisgegebene
Selektionsprozesse zurückführt.
Menschen sind moralfähig.
Wir leben immer schon in einer
Kultur, die unsere moralischen
Maßstäbe, Werte und Ideale determiniert und festlegt, auf welche
Weise wir ethisch urteilen und uns
dem angemessen verhalten. Diese Kultur enthält eine Vorstellung
davon, was uns zusteht und was
wir anderen Menschen schulden.
Sie enthält Aussagen, die zu moralischem Handeln auffordern bzw.
verpflichten wollen. Zum Beispiel:
Du sollst nicht gegen Gesetze verstoßen. Du sollst die Folgen deines
Handelns bedenken und für sie
einstehen. Du sollst nicht stehlen.
Moralische Urteile formulieren
mithin Verhaltensmaxime und
Festlegungen, welche Handlungen
geboten und welche zu unterlassen sind. Da moralische Urteile
Geltung beanspruchen, bedürfen
selbstverständlich auch sie einer
Rechtfertigung.
Die sachgerechte Beschreibung
moralischen Verhaltens beinhaltet neben dem Phänomen verpflichtenden Sollens auch die
menschliche Entscheidungs- und
Handlungsfreiheit. Entscheidungsfreiheit meint Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Optionen,
Handlungsfreiheit bedeutet das
Vermögen bzw. die Fähigkeit,
Entscheidungen
auszuführen,
setzt also die Abwesenheit von
Zwang und Behinderung durch
andere Menschen voraus. Diese
Dimensionen moralisch relevanter
Freiheit erlauben es, Menschen
Handlungen zuzurechnen und sie
als für ihr Handeln verantwortlich
anzusehen.
Die funktionale Erklärung der
Moral lautet, sie sei evolutionär
nützlich für die Erhaltung und Reproduktion der Menschheit. Diese
Auffassung mag zutreffen, bringt
aber kein einziges Kriterium bei,
zu beurteilen, welches Handeln
in welcher Situation moralisch geboten ist und wie dieser Geltungsanspruch gerechtfertigt werden
kann. Der Beitrag der Evolutionstheorie zu den Fragen moralischen
Handelns erscheint nahezu belanglos.
Wir müssen u. a. entscheiden,
ob Truppen der Bundeswehr im
Süden Afghanistans eingesetzt
werden sollen, wie die Stammzellenforschung zu gestalten ist
oder ob von Terroristen entführte
Flugzeuge, in denen unschuldige
Passagiere sitzen, abgeschossen
werden dürfen. Entscheidungen
in diesen Fragen müssen gerechtfertigt werden – politisch, juristisch und ethisch. Diesbezügliche
Urteile enthalten immer ein normatives Sollen, das nicht aus bloß
deskriptiven Sätzen, wie sie z. B.
in der Evolutionstheorie Verwendung finden („Menschen sind interessiert an Selbsterhaltung und
Reproduktion“), abgeleitet oder
gar gerechtfertigt werden kann.
Sicherlich wird man der Evolutionstheorie eine gewisse Bedeutung für die Moral nicht völlig absprechen können, etwa um einen
ethischen Idealismus zu kritisieren,
der die naturhaften Voraussetzungen menschlichen Handelns
übersieht und deshalb zu Einseitigkeiten neigt. Freilich gilt auch:
Wenn wir Selbsterhaltung und
Reproduktion als naturgesetzliche Antriebe menschlichen Han-
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
delns auffassen, ist zugleich die
moralische Frage nach dem Wie
der humanen Gestaltung dieser
Naturgesetzlichkeiten aufgeworfen. Welche Regeln, Normen und
Haltungen sollen unserer Selbsterhaltungs- und Reproduktionspraxis Orientierung geben? Die Evolutionstheorie hat darauf keine
Antwort. Die praktische Vernunft
hingegen dient dem humanen
Projekt eines „guten Lebens“, das
zu führen mehr einschließt als
Selbsterhaltung.
Menschen sind religionsfähig.
Man kann Reiner Kunzes Gedicht
(siehe S. 4) als lyrisches Bekenntnis
zu einem evolutionären Naturalismus interpretieren, verfehlt dabei
aber seine philosophische Aussage:
Leben, das seiner selbst bewusst
ist, stellt sich die Frage nach Gott
als die nach dem unbedingten
Grund seines kontingenten und
von Zerstörung bedrohten Lebens.
Die Gottesfrage setzt seiner selbst
bewusstes Leben voraus und ist
zugleich konstitutives Merkmal
von Selbstbewusstsein. Im evolutionstheoretischen Bezugsrahmen
wird Religiösität als Selektionsvorteil interpretiert, etwa indem sie
wechselseitigen Altruismus fördere. Die Gottesfrage hingegen, die
im Selbstbewusstsein anwesend
ist, wird nicht thematisiert.
Alle Menschen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die
über Selbstbewusstsein verfügen,
setzten und setzen sich im Laufe
ihres Lebens mit der Frage nach
Gott auseinander. Selbst noch die
staatlich verordnete Erziehung
zum Atheismus steht im Bann
der Unausweichlichkeit der Gottes-
frage. Die Auseinandersetzung mit
der Frage nach dem Unbedingten
führt indes nicht zwingend zu religiösen, näherhin theistischen
Überzeugungen. Manchen ist die
Frage nach Gott die Frage ihres
Lebens schlechthin, andere weisen
sie mit einem lässigen Schulterzucken von sich. Die Auseinandersetzung mit der Gottesfrage steht
immer in einem kulturellen Horizont, der geprägt ist von Rationalitäts- und Wissenschaftskonzepten
sowie den Gottesvorstellungen
der Religionen. Religiöse Überzeugungen, die sich auf ein sinnstiftendes Unbedingtes beziehen, lassen sich nicht erzwingen. Es gehört
deshalb zum Selbstverständnis der
großen monotheistischen Religionen, dass religiöser Glaube jeglichen Zwang ausschließt. (Die Geschichte belehrt uns nachdrücklich
darüber, dass Menschen, Staaten,
aber auch religiöse Institutionen
andere Menschen für das Haben
oder Nichthaben bestimmter religiöser Überzeugungen straften.
Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit will Menschen vor Sanktionen und Strafen schützen, es
bezieht seine Rechtfertigung aber
nicht aus der Nichterzwingbarkeit
religiöser Überzeugungen.)
Das mit der Vielfalt religiöser
Überzeugungen korrespondierende Freiheitsbewusstsein entzieht
sich naturalistischen Erklärungsversuchen. Verweise auf mutmaßliche Gene, die Religiosität bzw.
Areligiosität erklären, sind lediglich dem Systemzwang zu einer
allumfassenden naturalistischen
Erklärung sämtlicher Phänomene
geschuldet.
Schöpfungsglaube
und Evolution
Das Bekenntnis zum Schöpfergott
zu Beginn des christlichen Glaubensbekenntnisses ist ein zentrales
religiöses Moment nicht nur des
Christentums, sondern auch der
anderen großen monotheistischen
Religionen.
Im Bedeutungsgehalt des Schöpfungsbegriffes liegt keine Aussage über das Wie des Werdens und
Vergehens von Lebensformen verborgen. Das ist vielmehr das Thema
der Evolutionstheorie. Die Schöpfungsidee befragt die Faktizität
der Welt in der Perspektive des
metaphysischen Grundproblems,
warum etwas ist und nicht vielmehr nichts. Schöpfung meint deshalb kein in Raum und Zeit oder
als Beginn von Raum und Zeit lokalisierbares Ereignis, sondern eine
Aussage über die Welt als Ganzes,
die ohne Beziehung auf Gott, der
selbst nicht Teil der Weltwirklichkeit ist, grundlos wäre.
Die theistische Annahme eines
Schöpfergottes steht deshalb
nicht in Konkurrenz zu evolutionstheoretischen Erklärungen, die
gänzlich unfähig sind, die Frage,
warum überhaupt etwas ist, zu
beantworten. Es ist dies keine zeitweilige Unfähigkeit, vielmehr eine
methodisch bedingte: Naturwissenschaftliche Erklärungen beziehen sich ausschließlich auf kausal
beschreibbare Prozesse. Auf das
metaphysische Problem der Existenz der Welt kann es also keine
naturwissenschaftliche
Antwort
geben. Zur Frage nach dem Grund
der Welt muss jede methodisch auf-
5
geklärte Wissenschaft schweigen.
Freilich tun dies viele Wissenschaftler nicht, gerade wenn sie Religionskritik üben. Einige präsentieren
stolz den Zufall als Antwort auf die
Frage, warum überhaupt etwas ist.
Allerdings ist der Satz „Die Existenz
der Welt verdankt sich dem Zufall“
gar keine naturwissenschaftliche
Aussage, sondern selbst wiederum
eine metaphysische, freilich in einer Schwundform. Dass zudem der
Zufall eine höhere Erklärungsplausibilität für die Existenz der Welt
haben soll als die theistische Annahme einer Schöpfung, ist nicht
plausibel.
Bisweilen wird die Forderung erhoben, nur solche Fragen als sinnvoll zuzulassen, die wissenschaftlich beantwortet werden können.
Freilich hat es den Anschein, dass
seiner selbst bewusstes rationales
Leben Fragen hervorbringt, die
sich dem Anspruch der Wissenschaft, zu beurteilen, ob sie überhaupt sinnvoll sind, nicht fügen
und so oder so auf Antworten
dringen: „Wir fühlen, dass, selbst
wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet
wären, unsere Lebensprobleme
noch gar nicht berührt sind.“
(Ludwig Wittgenstein)
LB
Zum Weiterlesen
Medard Kehl:
Und Gott sah, dass es gut war.
Eine Theologie der Schöpfung.
Freiburg i. Br. 2006
Armin Kreiner:
Das wahre Antlitz Gottes
– oder was wir meinen, wenn
wir Gott sagen.
Freiburg i. Br. 2006
6
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Die Gottesfrage oder:
„Wie hältst du’s mit der Religion?“, fragt Gretchen in Goethes „Faust“ ihren Heinrich und
fügt gleich die Mutmaßung an:
„Ich glaub’, du hältst nicht viel
davon.“ Faust erwidert, die
Frage sei zu hoch, als dass man
über Gott sagen könne: „Ich
glaub’ ihn“ oder „Ich glaub’
ihn nicht“.
An der „Gretchenfrage“ scheiden
sich die Geister. Johann Wolfgang
von Goethe nannte den Konflikt
des Glaubens mit dem Unglauben das eigentliche Thema der
Weltgeschichte. Aber nicht nur
auf der Bühne der Weltgeschichte wird dieser Konflikt zwischen
dem Glauben an Gott und der
Leugnung Gottes ausgetragen.
Die Frage nach der Existenz Gottes
begegnet uns auch in unserem Alltag. Dabei geht es nicht in erster
Linie um ein konfessionelles Bekenntnis, das mit der kirchlichen
Praxis einhergeht, sondern um
eine Grundfrage menschlichen
Lebens. Es geht um die Frage, ob
der Mensch autonom aus sich heraus lebt oder ob er sich verbunden
bzw. „rück-gebunden“ mit einem
höheren Wesen, einem Gott, weiß.
Dieses sich an Gott „rück-gebunden“ wissen, bedeutet religiös
(lat.: religere) zu sein.
Gott auf dem
Prüfstand
Spätestens ab der Aufklärung
steht Gott auf dem Prüfstand. Die
damaligen Philosophen sahen es
als naturgegeben an, dass es einen
göttlichen Schöpfer gibt, als dessen
Geschöpf der Mensch anzusehen
ist. Das historische Ergebnis der
Aufklärung war die Französische
Revolution, in deren Gefolge nicht
nur das „Ancien régime“, sondern auch die menschliche Gott-
Vom
„Sein oder Nichtsein“
Gottes
bezogenheit fiel. Es kam sogar so
weit, dass Gott selbst kurzzeitig
für abgeschafft erklärt wurde.
Robespierre setzte sich dafür ein,
den Gott christlicher Prägung
durch ein „höchstes Wesen“ zu
ersetzen. So lautete die Kompromissformel, auf die man sich
schließlich nach radikalen atheistischen Ausuferungen einigen
konnte. Gott war damit zwar nicht
vollends abgeschafft, wurde aber
zu einem statischen Wesen ohne
Verbindung zu den Menschen degradiert. Die Gottesfrage wurde
per Mehrheitsbeschluss im Nationalkonvent entschieden: Nichts
mehr galt als gottgegeben.
Die Infragestellung der Existenz
Gottes wurde in der Philosophie
und der Literatur des 19. Jahrhunderts offen erörtert. Die Gottesfrage gipfelte in Goethes „Faust“
in der erwähnten Gretchenfrage.
Karl Marx spricht von der „Religion als Opium für das Volk“.
In der Philosophie kennt jeder die
Religionskritik Nietzsches, die in
der Aussage „Gott ist tot“ gipfelt.
Doch Gott ist nicht totzukriegen
– oder vielleicht doch?
Vor allem in der Geschichte des 20.
Jahrhunderts, dessen erste Hälfte
von menschlichem Größenwahn,
weltumspannenden Kriegen, Diktaturen und einer ideologisch verordneten Gottlosigkeit geprägt
war, wurde der Glaube an einen
menschenfreundlichen Gott in der
Ära des Nationalsozialismus durch
den Glauben an den sich selbst
vergottenden
Herrenmenschen
ersetzt. Der Mensch, mit seinem
machbaren Diesseits beschäftigt,
sei auf keinen Gott angewiesen. Gottgläubigkeit wurde als
menschliche Schwäche und als hinderlich für den Fortschritt ausgelegt. Ganze Staaten verordneten
Gottlosigkeit. Die Auswirkungen
dieser Politik, dass Gott nicht mehr
zum Alltag eines jeden Menschen
gehöre, sind bis heute zu spüren.
So war es im Atheismus sozialistischer Prägung möglich, ein Menschenbild zu entwerfen, in dem der
Einzelne nichts, die Masse alles war.
Die Einzigartigkeit jedes Einzelnen
ging im Zwangskollektiv unter.
Das christliche Menschenbild, das
sich aus der Gottbezogenheit der
Menschen speist, war in den Augen der Machthaber sozialistischer
Staaten höchst gefährlich. Infolge
der jahrzehntelang verordneten
Verdrängung Gottes haben viele
Menschen Gott auch nach 1989
schlicht und einfach vergessen.
Die Gottvergessenheit macht sich
besonders in Ostdeutschland bemerkbar. So kann man den Eindruck bekommen, dass Gott in einigen Landstrichen Deutschlands
aus den Köpfen der Menschen
gelöscht ist. Bemerkenswert ist zugleich, dass sich niemand dadurch
bedroht sieht oder seelisch verarmt und unglücklich fühlt. Frei
nach dem Motto „Jeder soll nach
seiner Façon selig werden“ wird
fast alles toleriert. Die Konsequenzen der Gottlosigkeit für die
Gesellschaft werden erst in der
Zukunft spürbar werden.
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
7
Die Kehrseite
der Medaille:
Gott als religiöser
und politischer
Machtfaktor
Unreflektierter, religiöser Fanatismus gilt heute als größte Gefahr
im Zusammenleben der Menschheitsfamilie. Gott als letzte Instanz
wird für Gewalt, Krieg und Terror
missbraucht. Nicht nur im Islamismus, sondern auch im christlichen
Fundamentalismus wird die Gottesfrage nicht mehr gestellt. „Gott
mit uns“ gilt als Schutzschild und
Motor, die „Ungläubigen“ Mores
zu lehren.
„Gott ist nicht tot –
solange wir über
seine Existenz streiten“
Dass Richard Dawkins, der Autor
des Buches „Der Gotteswahn“,
unter dem Eindruck des religiösen
Fanatismus und Fundamentalismus zu dem Schluss kommt, das
Heil der Menschen in religiöser
Abstinenz zu suchen, ist aus Sicht
eines aufgeklärten Menschen
wenig verwunderlich.
Religiöser Fanatismus und Fundamentalismus kann die Gottesfrage
jedenfalls nicht gottgefällig („pro
deo“) beantworten.
Der Schlüssel
zur Gottesfrage:
Religionsfreiheit
In Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention wird die
Religionsfreiheit als Menschenrecht mit universaler Geltung so
formuliert: „Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit; dieses Recht
umfasst die Freiheit des Einzelnen
zum Wechsel der Religion oder
Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder
privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung und
Beachtung religiöser Gebräuche
auszuüben.“
Religionsfreiheit bedeutet nicht
nur freie Ausübung von Religion,
sondern auch die Möglichkeit,
frei von Religion bzw. von Gott zu
sein. Hierbei müssen aus Respekt
vor der persönlich zu treffenden
Pro-oder-Kontra-Entscheidung die
„Freiheit der Religion“ und die
„Freiheit von Religion“ im Gleichgewicht bleiben. Besteht dieses
Gleichgewicht, liegt es an uns, die
Gottesfrage nicht nur zu stellen,
sondern sie auch zu leben.
Frei nach Goethes Faust: „Wie
hältst du’s mit der Religion? Ich
glaub’ ihn‚ oder ich glaub’ ihn
nicht.“ So bleibt Gott immer im
Gespräch und die Frage nach Gott
lebendig. Gott ist nicht tot – solange
wir über seine Existenz streiten.
FPB
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Nietzsches „toller“Mensch
und der „Gottesmord“
Die Argumente sind ausgetauscht,
so schien es jedenfalls im Hinblick
auf die Debatten darüber, ob es
Gott gibt oder nicht. Doch verblüfft die Frische, mit der neuerdings einige Autoren wieder an
diese Frage herangehen. Sicher,
so viel scheint festzustehen, der
Mensch ist von Natur aus religiös.
So ungefähr formulierte es bereits
vor über 1800 Jahren der Theologe Tertullian („anima naturaliter religiosa“). Wenn in gewissen
zeitlichen Abständen immer wieder eine „neue“ oder „neu entdeckte“ Religiosität ausgerufen
wird, fragen sich nachdenklichere
Menschen daher: Was soll das für
eine neue Religiosität sein? Wofür
steht sie? Gern übersehen wird
auch, dass selbst der Atheismus ein
Glaubensbekenntnis darstellt, nur
mit umgekehrten Vorzeichen. Und
so wenig man hinter einmal gemachte naturwissenschaftliche Erkenntnisse zurück kann, so wenig
lassen sich einmal aufgeworfene
Frage- bzw. Problemstellungen
der Geisteswissenschaften einfach
übergehen. Auch wenn manche
Zeitgenossen eine solche Ignoranz
an den Tag legen, sind die Fragen
weder erledigt noch überholt.
Wenn es um Atheismus und um
die Frage geht, ob Gott existiert,
wird gern der „poetische Philosoph“ oder „philosophische Poet“
Friedrich Nietzsche (1844-1900),
Pfarrerssohn aus Röcken/SachsenAnhalt, mit seinem bekannten
Ausspruch „Gott ist tot“ zitiert.
Allerdings ist nur wenigen der
Kontext geläufig, aus dem dieses
Zitat isoliert wurde. Es findet sich
in Nietzsches „Fröhlicher Wissen-
schaft“ (2. Auflage 1887), und
zwar in der gleichnishaften Anekdote „Der tolle Mensch“. Zum
besseren Verständnis dieses Textes
ist vorauszuschicken, dass Nietzsche den Begriff „toll“ in seiner
ursprünglichen Bedeutung verwendet, wie er bis heute im Wort
„Tollhaus“ anzutreffen ist. Jedoch
nimmt Nietzsche mit dem Attribut
„toll“ keine Abwertung vor, im
Gegenteil. Dieser „tolle“ Mensch
nun ist an einem hellen Vormittag mit einer Laterne unterwegs
wie der griechische Philosoph Diogenes von Sinope (ca. 391-323 v.
Chr.) und sucht Gott. Diese Suche
erregt bei den umherstehenden
Menschen „ein großes Gelächter“, da sie selbst „nicht an Gott
glaubten“, bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In dieses
Gelächter, teilweise sogar Geschrei
hinein richtet der „tolle“ Mensch
ein Fragestakkato: „Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?
Wer gab uns den Schwamm, um
den ganzen Horizont wegzuwischen? … Wohin bewegen wir uns?
… Stürzen wir nicht fortwährend?
… Gibt es noch ein Oben und ein
Unten? Irren wir nicht wie durch
ein unendliches Nichts? Haucht
uns nicht der leere Raum an? Ist es
nicht kälter geworden?“
Am Ende dieser hier in Auswahl
zitierten Fragen spricht der „tolle“ Mensch jene berühmt-berüchtigten Sätze: „Gott ist tot! Gott
bleibt tot!“ Das liest sich im weiteren Textzusammenhang aber
nicht stolz, erleichtert oder gar
befriedigt, sondern vielmehr erschreckt, geradezu wie im Innersten verletzt, so, als habe der „toll“
gewordene Mensch urplötzlich
realisiert, dass von nun an nichts
mehr so sein kann wie zuvor. Eine
solche Einsicht hängt nicht davon
ab, wie viele ihr zustimmen oder
widersprechen.
Beachtenswert
ist bei Nietzsche, dass auch die
Gewohnheitsatheisten über den
Befund des „tollen“ Menschen“ irritiert und erschreckt zu sein scheinen. Denn selbst ihnen, die von
sich ja behaupten, dass sie „nicht
an Gott glaubten“, ist anscheinend
noch gar nicht bewusst geworden,
was dieses Bekenntnis in letzter
Konsequenz bedeutet. Durchschnittsatheisten scheinen für die
„Erkenntnis“, dass Gott „tot“ ist,
noch nicht reif zu sein.
Auf die Frage, warum Gott „tot“
sei, posaunt Nietzsches „toller“
Mensch ungeschminkt hinaus:
„Wir haben ihn getötet!“ Und
dieses „Wir“ bezieht offenkundig
auch jene ein, die das gar nicht
wahrhaben wollen. Denn diese
Tat, der Gottesmord, „ist ihnen
immer noch ferner als die fernsten
Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!“
An dieser Stelle dämmert es dem
aufmerksamen Leser, dass es sich
hier um einen Gott handelt, den
man sich selbst zurechtgebastelt
hat, der für alles und jedes herhalten muss, von dem man sogar
weiß, was seine Gedanken sind
und wie seine Entscheidungen
ausfallen werden. Kurzum um einen Gott, über den man voll im
Bilde ist. Von einem solchen Gott
kann man wirklich nichts mehr
erwarten. In der Tat, dieser Gott
ist schon Ende des 19. Jahrhunderts tot, und dieser Gott bleibt
auch im 21. Jahrhundert tot, auch
wenn sich das vielleicht aus unterschiedlichen Gründen noch nicht
überall herumgesprochen haben
mag. Doch diese Erkenntnis ist so
neu nicht. Bereits beim Propheten
Jesaja ist sie in die Worte gefasst:
„Meine Gedanken sind nicht eure
Gedanken; und eure Wege sind
nicht meine Wege – Spruch des
HERRN. So hoch wie der Himmel
über der Erde ist, so hoch erhaben
sind meine Wege über eure Wege
und meine Gedanken über eure
Gedanken“ (Jes 55,8f).
Nietzsches Frage „Wer gab uns
den Schwamm, um den ganzen
Horizont wegzuwischen?“ lässt
sich zudem auch so stellen: Haben
wir Christen durch unser zwar gut
gemeintes, aber plattes Reden
über den „lieben Gott“ vielleicht
selbst dazu beigetragen, dass Gott
für viele nachdenkliche und ernstzunehmende Zeitgenossen tot ist?
Spiegelt unser Verhalten im Alltag grundsätzlich das, was unser
Reden über Gott erwarten lässt?
Haben nicht die Weltkriege des
20. Jahrhunderts, in denen immer
mehr Menschen mit Taufschein
als Atheisten einander das Leben
zur Hölle gemacht haben, so etwas wie einen Atheismusschub
bewirkt?
Wie gesagt, diese Fragen sind nicht
neu, die Argumente sind ausgetauscht. Von daher kann man sich
einerseits zwar mehr Gelassenheit
und Unaufgeregtheit im Umgang
mit den neuen Atheismusdebatten wünschen, anderseits wäre
es ein Trugschluss, zu meinen,
dass sich bereits alle Fragen erledigt hätten, die Nietzsches „toller“ Mensch stellt. Bekanntlich ist
es ja mit der Wahrnehmung des
Splitters im Auge des Bruders so,
dass man dabei den eigenen Balken nicht sieht. Anders gewendet:
Lebe ich so, dass auch ich vielleicht
mit dazu beitrage, dass Gott in
mir und bei anderen tot ist und
tot bleibt?
TRE
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
9
Der Gott der Heiligen Schrift oder:
Biblisches Reden von Gott
Wie will der Blinde
von der Farbe reden?
Bei der Lektüre von Richard
Dawkins’ Buch „Der Gotteswahn“
drängt sich die Frage auf: Von
welchem Gott spricht der Autor
eigentlich, welchen Gott meint
er bloß? Oder geht es ihm – wie
so manch anderem so genannten
Gott beschrieben und bezeugt haben. Die Menschen der Bibel haben
Gott lebensgeschichtlich erfahren
– und das meint sowohl die Lebensgeschichte des Einzelnen wie
die des ganzen Volkes. Sie haben
das Wirken Gottes ereignishaft erlebt. Eines der herausragendsten
Beispiele ist sicherlich der Exodus,
also am eigenen Leibe unter Inkaufnahme zahlreicher Entbehrungen erfahren zu haben, dass es
mit Gottes Hilfe und unter seiner
Jahwes“. Gott erschließt sich also
selbst durch sein Handeln und Tun
in der Geschichte des Menschen,
und Glaube ist dann nichts anderes
als gläubiges Anerkennen und Bekennen der mannigfaltigen Gotteserfahrungen in dieser Geschichte.
Gott ist für die Menschen der Bibel
keine abstrakte Größe, sondern
für sie ist Gott der Lebendige, der
Nahe, der in ihrem Leben Gegenwärtige und der in ihre Geschichte
Eingreifende. Gott abstrakt zu den-
oretisch gesprochen und dementsprechend gibt es in der jüdischen
Theologie auch keine Dogmatik;
vielmehr wird in Geschichten von
Gott erzählt. In ihnen spiegelt sich
das Suchen der Menschen nach
Gott, das Kreisen um Gott, das vorsichtige Herantasten an Gott, aber
auch die lebendige Nähe Gottes
zu den Menschen, die Herausforderung, die von ihm an die Menschen ausgeht (vgl. die von Martin
Buber gesammelten chassidischen
Der Auszug der Israeliten aus Ägypten,
Szene aus dem Stummfilm „Die zehn Gebote“ (1923; Regie: Cecil B DeMiller)
neuen Atheisten – nur darum, die
Gräuel aufzuzeigen, die Menschen
anderen Menschen „im Namen
der Religion“ antun?
„Streit um Gott“ verlangt zu allererst Klarheit darüber: Wer ist dieser Gott, der da in Frage gestellt,
für irrelevant erklärt oder gar geleugnet wird?
Fragen nach Gott und nach dem
Glauben an ihn zu beantworten,
ist die Bibel immer noch die beste
Hilfe, weil in der Heiligen Schrift
Menschen ihre Erfahrungen mit
Führung gelungen ist, aus Ägypten
zu fliehen, damit dem Sklavendasein zu entkommen und den Weg
durch die Wüste ins verheißene
Gelobte Land zu überstehen. Gott
ist der Rettende, der aus Not Herausführende. Die Erfahrung seines
Eingreifens überwältigt die Israeliten so sehr, dass sie ihrer bis heute
gedenken, sowohl jeden Sabbat als
auch an einem der höchsten Feiertage des Judentums, dem PessachFest. Umgekehrt macht die Zugehörigkeit zu diesem Gott sie erst
zu einer Gemeinschaft, zum „Volk
ken bzw. an einen abstrakten Gott
zu glauben, käme den Menschen
der Bibel nicht in den Sinn. Gott
ist nicht der unbewegte Beweger,
sondern der „Ich bin der Ich-Bin“
(so lautet die Selbstoffenbarung
Gottes gegenüber Mose bei der
Wanderung durch die Wüste), d.
h. Gott ist der Daseiende, im Hier
und Jetzt Präsente. Gott ist das,
was er für die Menschen und ihre
Umwelt ist und wirkt. Im Zentrum
der biblischen Rede von Gott steht
also diese lebendige Glaubenserfahrung. Von Gott wird nicht the-
Erzählungen). Das bedeutet zugleich: Von Gott kann nicht anders als in Geschichten gesprochen
werden. Denn Gott begegnet uns
Menschen immer wieder neu, er
ist „mal so und mal so“. Damit
wird – analog zum Verbot, sich von
Gott ein Bildnis zu machen – auch
ein Riegel vorgeschoben, Wesen
und Wirken Gottes theoretisch zu
fixieren. Gott ist nicht festlegbar,
sondern der stets Überraschende,
der Unberechenbare. Sicher, es
gibt auch Konstanten im Glaubensinhalt „Gott“: ER ist, ER ist der
10
0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott
Einzige, ER ist der Schöpfer der
Welt, ER ist allmächtig und gerecht, ER ist als Vater auch Herr
über das menschliche Zusammenleben.
Es haftet also dem biblischen Gottesbild etwas ganz Lebendiges an.
Dazu kommt: Jahwe ist der nahe,
aber zugleich auch der ferne Gott
(siehe Deuteronomium 4, 7 oder
Jeremia 23, 23). Immanenz und
Transzendenz sind untrennbar
verknüpft. Gott ist nahe, indem er
„Gott mit uns“ ist (Jesaja 7, 14). Als
mitgehender und geleitender Gott
ist er Hirte seiner Herde (Psalm 23,
4). Gottes Sein ist gnädiges Mitsein
(Exodus 3, 14), denn er ist „Jahwe,
der gnädige und barmherzige
Gott, langmütig und reich an Huld
und Treue“ (Exodus 34,6). Er ist
aber immer auch der ferne und
verborgene Gott, der von seinem
überweltlichen Wohnsitz (Jesaja
40, 22) „herabsteigen“ muss, um
sich dem Menschen zuzuneigen.
Man kann Gott nicht sehen, ohne
zu sterben (Exodus 33, 20). Als der
Heilige schlechthin (Jesaja 6, 3),
d. h. als der von allem Nichtgöttlichen Getrennte (Hosea 11, 9),
verbirgt er sein Angesicht vor dem
sündigen Volk (Deuteronomium
31, 16-18). Er ist der Verborgene
schlechthin (Jesaja 45, 15), und sein
Tun bleibt Geheimnis (Jesaja 25, 1).
Wird so auch verhindert, dass Gott
„verfügbar“ werden, dass man ihn
vereinnahmen könnte?
Noch etwas kommt hinzu: Jahwe
ist ein Gott, der das Heil will. In
immer neuen Reflexionen zeichnet Israel, gedrängt vom Auf und
Ab seiner Geschichte, diesen Zug
seines Gottes. In der Blütezeit der
beginnenden Monarchie wird der
unangefochtene Glaube an die
göttliche Führung und Fügung
zum Leitmotiv, die Geschichte wird
als Heilsplan Gottes gedeutet.
Allerdings führt das Erlebnis von
nationalem Unheil, z. B. der Untergang des Nord- und Südreichs, zu
einer wichtigen Differenzierung:
Der Gott des Heils ist zugleich der
Gott des Gerichts. Die Propheten
vor allem waren es, die dem Volk
Israel das Gericht ankündigten
oder androhten, und zwar immer
dann, wenn das Volk sich dem Willen seines Gottes widersetzte. Dem
Menschen, von Gott als freies Wesen geschaffen, war freigestellt,
wonach er seinen Willen und sein
Handeln ausrichten wollte.
Jesus war Jude, er gehörte zum
„Volk Jahwes“. Sein Bild von Gott
entsprach – zunächst – dem Gottesbild des Alten Testaments. Doch
dabei blieb er nicht stehen. Durch
seine Verkündigung will Jesus den
Menschen mit Gott konfrontieren.
Er beansprucht, in seinem Handeln
Gottes Handeln zu repräsentieren,
zu vergegenwärtigen, also zu zeigen: „So, wie ich handle, so würde
auch Gott handeln. Mein Kommen
ist der endgültige Anbruch von
Gottes Herrschaft und Reich.“
Die Urgemeinde bekennt Gott als
den Urheber des durch Jesus gewirkten Heils (Apostelgeschichte
3, 26). Dem Apostel Paulus zufolge
wird hauptsächlich an Kreuzestod
und Auferstehung Jesu sichtbar,
wer Gott ist und was er für die
Menschen tut, denn Jesus ist „das
getreue Abbild Gottes“ (2. Brief
des Apostels Paulus an die Korinther 4, 4). Laut dem Evangelisten
Johannes ist es Jesu Sendung,
Gottes Namen und Wesen kundzutun (Johannesevangelium 1, 18
oder 17, 4); niemand hat Gott je
gesehen (Johannes 1, 18), nur Jesus kennt ihn, denn er ist von ihm
(Johannes 7, 29). Wer Jesus sieht,
sieht deshalb Gott (Johannes 14,
9). Anders ausgedrückt: Gott ist
durch, mit und in Jesus. „Ich und
der Vater sind eins“, sagt Jesus.
Eine zweite Weiterführung besagt:
Gott ist Vater. Für Jesus gehört das
Vatersein zum Wesen Gottes. Jesus
betet zu Gott in der vertrauten
Anrede „Abba“ („lieber Vater“)
und lehrt seine Jünger, es ihm
gleichzutun. Jesu besondere Stellung zu Gott kommt in seiner konsequenten Rede von „meinem“
und „eurem“ Vater zum Ausdruck.
Gott ist Vater, weil er in Jesus Christus einen göttlichen Sohn hat (Johannes 1, 18), der eines Wesens mit
ihm ist (Johannes 10, 29). Zugleich
dürfen auch jene, denen Gott den
Geist seines Sohnes ins Herz sendet, zu Gott „Abba“, also „Vater“
sagen (Brief des Apostels Paulus an
die Römer 8, 15f. bzw. an die Galater 4, 6). Und schließlich: Gott ist
Liebe. Die Botschaft von der Fürsorge Gottes (Matthäus 5, 45) fort-
JHWH oder YHWH,
ausgeschrieben meist Jahwe oder Jehovah, ist der Eigenname Gottes im Tanach, der Hebräischen Bibel.
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
„Jahwe
ist der nahe,
aber zugleich auch
der ferne Gott“
führend, bezeichnen insbesondere
Paulus und Johannes Gottes innerstes Wesen als Liebe. In Christus ist
die Liebe Gottes erschienen (Brief
des Apostels Paulus an Titus 2, 11).
Diese Liebe, die Gott selbst ist (1.
Johannesbrief 4, 8), will nur unser
Heil (Johannes 3, 16); deshalb teilt
sie sich den Menschen mit, damit
diese in der Liebesgemeinschaft
mit Gott und ihresgleichen leben
(1. Johannesbrief 4, 7-16). Auch
richtet Liebe nicht; vielmehr richtet sich das Lieblose, d. h. das der
Liebe nicht Entsprechende, selbst
im Angesicht der Liebe.
Es sollte deutlich geworden sein,
dass das Gottesbild des Alten Testaments seine Fortsetzung im Neuen
Testament in der Verkündigung
und im Wirken Jesu gefunden hat.
Mehr noch: Es findet seine Verdichtung, seine Konzentration, seinen
Kulminationspunkt in der Person
Jesu Christi. War Gott dort bereits
der Lebendige, der Nahe, der daseiende und mitseiende Gott, so ist
er hier der leibhaftig Gegenwärtige, Heilende. Wird Gott dort in
der (Lebens)geschichte erfahren,
so erfahren die Menschen ihn nun
durch Jesus ganz direkt, unmittelbar und aktuell. Erzählt dort das
Volk Israel von Gott in Geschichten,
so verwendet Jesus Gleichnisse,
um den Menschen zu zeigen, wie
es sich mit dem Himmelreich verhält, und vergegenwärtigt dieses
zugleich dadurch. Ist Gott dort
der Barmherzige, der aus Not Errettende, der Hirte, so ist er hier
Liebe „pur“, der kreativ Liebende
und damit der die Menschen Herausfordernde, Provozierende, sie
auf Wahrheit Verweisende.
Der bekannte Theologe Eugen Biser meinte einmal: „Dieser bedingungslos liebende Gott darf und
kann nicht gefürchtet werden,
denn er nimmt dem Menschen die
tiefste aller Ängste, die Gottesangst, aus der Seele.“ Geht es aber
beim „Streit um Gott“ um eben
diesen wirklichen, lebendigen
Gott? Zweifel erscheinen angebracht!
MS
Das Gottesbild
des Alexis Sorbas
„Gibt es einen Gott oder nicht? Was sagst du dazu, Chef? Und wenn
es einen gibt – alles ist möglich! –, wie stellst du ihn dir vor?“
Ich hob die Schultern, ohne zu antworten.
„Ich – aber lache nicht! – stelle mir Gott vor genau wie mich. Nur
größer, kräftiger, verrückter. Und unsterblich. Er sitzt bequem auf
weichen Schafsfellen und seine Baracke ist der Himmel. Nicht aus
Benzinkanistern wie unsere, sondern aus Wolken. In seiner Rechten hat er weder Schwert noch Waage – damit gehen Mörder und
Krämer um. Gott hält vielmehr einen großen Schwamm voll Wasser
in der Hand, wie eine Regenwolke. Rechts von ihm ist das Paradies,
links die Hölle. Da kommt denn die arme Seele, splitterfasernackt,
sie hat ja ihren Körper verloren, und zittert vor Kälte. Gott blickt
sie an und lacht verschmitzt; dabei macht er den strengen Richter.
‚Komm her!‘, sagt er zu ihr mit lauter Stimme. ,Komm her, du Verdammte!‘
Dann beginnt das Verhör. Die Seele fällt Gott zu Füßen. ‚Wehe‘,
ruft sie, ich habe gesündigt!‘, und fängt an, ihre Sünden herunterzuleiern. Eine Litanei, die kein Ende nimmt. Gott hat bald die Nase
voll, er gähnt. Nun hör doch auf‘, sagt er zu ihr, du schreist mir die
Ohren voll!‘ – und schwupp! fährt er mit dem Schwamm durch die
Luft und löscht alle Sünden aus. Verschwinde, ins Paradies!‘, sagt er.
‚Petrus! Lass die hier auch hinein, die Bedauernswerte!‘
Denn das musst du wissen, Chef: Gott ist ein wahrer Edelmann, und
der wahre Adel liegt im Verzeihen!“
An jenem Abend, als Sorbas mir all dies erzählte, musste ich lachen.
In meiner Brust aber nistete sich dieser mitleidige, freigebige und
allmächtige „Adel“ Gottes ein.
(Aus dem Roman „Alexis Sorbas“ von Nikos Kazantzakis)
11
12
0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott
Zur Geschichte des Atheismus
der Gott des Meeres, angesichts
einer bevorstehenden Schiffsreise
um Schutz angefleht. Aphrodite
war für die Liebesdinge zuständig,
und die Göttin Demeter sorgte für
die Fruchtbarkeit des Bodens. Den
Göttern geweihte Tempel bezeugen entsprechende Kulte.
Auch in allen anderen Kulturen der
alten Welt herrschten viele Götter.
Ihre Existenz zu leugnen und ihren
lebensbestimmenden Einfluss zu
bestreiten, wäre als völlig abwegig, als Zeichen geistiger Blindheit
gewertet worden. Es entsprach
der mythischen Weltsicht bzw. des
mythischen Daseinsverständnisses,
dass z. B. Vorgänge in der Natur,
aber auch in der menschlichen
Seele (man denke beispielsweise an den nicht erst seit Freuds
Psychoanalyse populären ÖdipusMythos) deifiziert bzw. personifiziert und in Geschichten gekleidet
wurden. Damit sind Mythen aber
keineswegs Fantasiegeschichten,
wie es fälschlicherweise oft heißt,
sondern sie offenbaren in einem
tieferen Sinne die vielschichtige
Realität.
Auf dem Weg zur
„Befreiung“ von Gott?
Schon ein flüchtiger Blick in die
Geschichte kann ziemlich nachdenklich machen: Haben nicht
sowohl die Aufklärung – also das
Zeitalter der Emanzipation und
Selbstbestimmung – als auch der
Atheismus – also die Leugnung
der Existenz Gottes – ein und
dieselbe Geburtsstunde, das 18.
Jahrhundert nämlich, und denselben Geburtsort, das europäische
Abendland? Gehören womöglich
beide Geisteshaltungen zusammen wie zwei Seiten einer Medaille? Gott als lästiges Hemmnis auf
dem Weg des Menschen heraus
aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant), als endlich
entlarvte Illusion, als entthronter
Tyrann und Sklavenhalter? Musste der Mensch Gott loswerden,
um ein freier Mensch sein zu können, oder wollte er Gott absetzen,
um selbst unumschränkter Herrscher auf dieser Welt zu werden?
Fragen wie diese lassen sich nur
beantworten, wenn sich der Blick
auf die (Vor)geschichte des Atheismus und seine Ursprünge richtet
– und wenn zur Kenntnis genommen wird, dass er zur Geschichte
des Menschen von Anbeginn dazugehört.
Die antike Lebenswelt war geprägt von dem Glauben an eine
Vielzahl von Göttern. Die griechischen Mythen etwa erzählen
auf oft ebenso unterhaltsame wie
spannende Weise vom Leben und
Treiben der Götter. Sie waren für
bestimmte Lebens- und Erfahrungsbereiche des Menschen zuständig. So wurde etwa Poseidon,
Israel nun ist das erste und einzige Volk der antiken Welt, das
dem Glauben an die vielen Götter
abschwor und allein Jahwe, dem
einen Gott, huldigte, an dessen
Dasein es keinen Zweifel ließ: „Ein
Tor wird der genannt, der meine, es gebe keinen Gott“ (Psalm
14). Das immer wieder erfahrene
Wirken dieses lebendigen Gottes,
durch den dieses Volk seine „Heilsgeschichte“ erlebte, widerlegte
alle Zweifler.
Einen Fall von „Atheismus“ gab
es in der Antike allerdings doch:
Sokrates musste aus dem Giftbecher trinken, weil er die Jugend
verderbe und an die – athenischen
– Götter nicht glaube. Nicht dass
Sokrates Göttliches generell geleugnet hätte, den Staatskult in
Athen aber lehnte er ab.
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
Später im Römischen Reich weigerten sich die ersten Christen,
am Staatskult teilzunehmen und
den römischen Kaiser als göttliches Wesen zu verehren, weil sie
allein Jesus Christus als ihren Herrn
anerkannten. Als „Atheisten“ gebrandmarkt und zu Staatsfeinden
erklärt, mussten sie Verfolgungen
und
Hinrichtungen
erleiden.
– „Atheismus“ hieß damals also
alles, was die staatliche Ordnung,
die sich immer auch religiös begründete, in Frage stellte.
Die Sonne ist nur
noch ein Symbol
Die Anfänge des neuzeitlichen theoretischen Atheismus liegen in der
Auflösung der mittelalterlichen
Einheit von Glaube, Wissenschaft,
Recht und Staat. Die Welt wurde
nun ohne die „Hypothese Gott“
wissenschaftlich erklärbar. Der Gedanke, dass Gott gar nicht sei, dass
er im Leben des Menschen keine
Rolle spiele und alles auch ohne
ihn erklärt werden könne, brach
sich Bahn, beruhte historisch aber
auf einer Entwicklung, die schon
viel früher eingesetzt hatte:
In der antiken, mythischen Welt
wurde die Natur noch als von
göttlichen Wesen bevölkert und
durchdrungen angesehen. Wer
auf einer Schiffsreise ein aufgewühltes Meer erlebte, sah sich
einem aufgebrachten Poseidon
gegenüber, der durch Opfer/Gebete besänftigt werden musste.
Und wollte ein Bauer seinen Acker
bestellen, waren zuvor die Götter
des Bodens um Verzeihung dafür
zu bitten, dass man sie mit dem
Pflug traktieren müsse. Natur war
immer auch heiliger Ort, Begegnungsstätte mit den Göttern, denen man auf Gedeih und Verderb
ausgeliefert war. Israel hatte – auf
dem Boden seines Ein-Gott-Glaubens – mit dieser Weltanschau-
ung bereits gebrochen. Die Sonne
etwa war nicht mehr Gott selbst,
sondern Symbol für Gott, Zeichen
seiner Macht und Herrlichkeit.
Welt und Natur waren „bloß“ Geschöpfe des einen Schöpfers – und
damit entgöttlicht. Diese für die
mythische Weltbetrachtung unerhörte Entheiligung der Welt, die
sich im Christentum fortsetzte,
befreite andererseits diese Welt
zu sich selbst und schuf damit die
Voraussetzung zu einer vorher
unausdenkbaren Weltbemächtigung durch neuzeitliche Wissenschaft und Technik. Erst auf dieser
Grundlage konnte die Existenz
Gottes dann pauschal negiert werden, weil die Wissenschaft sie nicht
bestätigen konnte und ohnehin
glaubte, ohne Gott auskommen
zu können. Allerdings bereitete
sich dieser Atheismus erst langsam
vor.
In der Renaissance entwickelte
sich eine neue Selbstständigkeit
des Denkens. War im Mittelalter
der Mensch noch ganz auf Gott
ausgerichtet
(„theozentriert“)
und begriff sich als – unselbstständiger – Teil des kosmischen
Ganzen, beginnt der Mensch in
der Renaissance nach sich selbst zu
fragen, sich selbst in den Blick zu
nehmen. Descartes‘ „Cogito ergo
sum“ ist Ausdruck dieser neuen
Subjektivität, woraufhin die Natur dem Menschen als Objekt gegenübertritt, von ihm verdinglicht
wird. Vorbereitet wurde dieses
Mittelpunktsein des Menschen
(„Anthropozentrik“) nicht zuletzt
durch die Auflösung des mittelalterlichen Ständestaates in den
durch Handel reich gewordenen
italienischen Städten. Staatliche
Macht und politische Ordnung
ließen sich nun nicht mehr religiös begründen. Emporkömmlinge,
„Neureiche“ gewannen die Überhand. Eine neue Gesellschaft entstand und konnte sich nur durch
– mitunter skrupelloses – ökonomisches Kalkül behaupten.
13
Machiavelli proklamierte den
rücksichtslosen Willen zur Macht
jenseits aller Religion und Moral.
Statistenrolle zu. Der Atheismus
wurde zur selbstverständlichen
„Religion“ der Befreiung.
In der Spätrenaissance wurde
dann eine neue mathematische
Naturwissenschaft geboren. Die
erfolgreiche Ausarbeitung der
Mechanik zu einem für Himmel
und Erde gleichermaßen gültigen
System von Gesetzen brachte das
mittelalterliche Weltgebäude zum
Einsturz und machte dessen himmlischen Gott obdachlos.
Den bisher radikalsten Einschnitt
in der Geschichte des neuzeitlichen
Atheismus markiert die Religionstheorie Ludwig Feuerbachs. In seinen Schriften kehrte er den christlichen Schöpfungsglauben in sein
Gegenteil um: Nicht Gott habe den
Menschen erschaffen, sondern der
Mensch Gott „nach seinem Bilde“.
Theologie, also die Lehre von Gott,
wird zur Anthropologie, zur Lehre vom Menschen. „Der Mensch
glaubt an Götter, weil er den Trieb
hat, glücklich zu sein. Er glaubt ein
seliges Wesen, weil er selig sein
will; er glaubt ein vollkommenes
Wesen, weil er selbst vollkommen
zu sein wünscht; er glaubt ein unsterbliches Wesen, weil er selbst
nicht sterben will. Was er selbst
nicht ist, aber zu sein wünscht, das
stellt er sich in seinen Göttern als
seiend vor. Die Götter sind die in
wirkliche Wesen verwandelten
Wünsche des Menschen“, heißt es
bei Feuerbach.
„Vernunft“ wird
wichtiger als Gott
Das Band zwischen Schöpferglaube und Wissenschaft reißt.
Ein gottloser Materialismus wird
zur Denkbasis damaliger Naturforscher; sie lehnen den überlieferten Weltenlenker ab, weil
sich alles von selber regle. Der
Glaube an die Vernunft triumphiert über den Glauben an Gott.
Der Boden ist bereitet für die Epoche der Aufklärung, begriffen als
Zeitalter der Vernunft und des
Fortschritts, als Auftakt zu einer
neu beginnenden Freiheitsgeschichte der Menschheit. Die Aufklärer richten ihre Kritik gegen
alle Autoritäten und Traditionen,
gegen Dogmen und Institutionen,
die als Inbegriff von Unterdrückung, Abhängigkeit und vorenthaltener Selbstbestimmung aufgefasst werden. „Alles sollte seine
Existenz vor dem Richterstuhl der
Vernunft rechtfertigen – oder auf
seine Existenz verzichten“, resümierte später Karl Marx. Die Idee
des mündigen, selbstbestimmten,
selbstverantwortlichen
Bürgers
faszinierte, elektrisierte. Gott
kommt in dieser Befreiungsbewegung nicht einmal mehr eine
Das Anliegen, die Gottesvorstellung reduktionistisch auf das
menschliche Bewusstsein zurückzuführen, wurde in der weiteren
Entwicklung des Atheismus stets
beibehalten. Aus Feuerbachs psychologischer Erklärung wird bei
Marx eine soziologische Theorie
der Entstehung religiöser Anschauungen. Demnach ist die Wirklichkeit des Menschen sozial und ökonomisch determiniert. Weil das
gesellschaftliche Sein das Bewusstsein des Menschen bestimme, sei
Religiosität selbst ein gesellschaftliches Produkt. Religion, das Bedürfnis nach einer Gottesvorstellung, sei „ideologischer Überbau“
der als objektiven Realität anzusprechenden Basis, nämlich der
gesellschaftlichen
Verhältnisse.
Dieser Überbau sei notwendig,
um gesellschaftliche Missstände
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0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott
„Der Mensch glaubt an Götter,
weil er den Trieb hat, glücklich zu sein.
Er glaubt ein seliges Wesen,
weil er selig sein will;
er glaubt ein vollkommenes Wesen,
weil er selbst vollkommen zu sein wünscht;
er glaubt ein unsterbliches Wesen,
weil er selbst nicht sterben will ...“
LUDWIG FEUERBACH
„Die Existenz
geht der Essenz
voraus“
JEAN-PAUL SARTRE
zu kaschieren, daher sei Religion
„Opium des Volkes“. Sobald aber
der Mensch die Gestaltung seiner
Welt selbst in die Hand nehme
und die wahre menschliche Gemeinschaft, den Sozialismus, verwirkliche, werde dieses „Opium“
überflüssig – die Religion werde
absterben.
Ohne Gott ist es
„kälter geworden“
Friedrich Nietzsche, der Künder
vom „Übermenschen“, diagnostizierte schlichtweg den „Tod Gottes“: „Habt ihr nicht von jenem
tollen Menschen gehört, der am
hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und
unaufhörlich schrie: ,Ich suche
Gott! Ich suche Gott!‘ – Da dort
gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott
glaubten, so erregte er ein großes
Gelächter. ,Ist er denn verlorengegangen?‘, sagte der eine. ,Hat
er sich verlaufen wie ein Kind?‘,
sagte der andere. ,Oder hält er
sich versteckt? Fürchtet er sich vor
uns? Ist er zu Schiff gegangen,
ausgewandert?‘, so schrien und
lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie
und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ,Wohin ist Gott?‘, rief er, ,ich
will es euch sagen! Wir haben ihn
getötet – ihr und ich. Wir alle sind
seine Mörder.‘“
Aber Nietzsche war auch – wie
kaum ein anderer – ein Seismograph, der künftige Katastrophen
vorausahnte: „Wer gab uns den
Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten
wir, als wir diese Erde von ihrer
Sonne losketteten? Wohin bewegt
sie sich nun? Wohin bewegen wir
uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? ... Irren
wir nicht durch ein unendliches
Nichts? Haucht uns nicht der leere
Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die
Nacht und mehr Nacht?“
Charles Darwin beschrieb die „Entstehung der Arten“ (1859) als eine
plausible Evolutionsmechanik der
Organismen und machte damit
jeglichen Schöpfergott vermeintlich überflüssig.
Sigmund Freud sah die Religion als
eine in den Bereich der Triebsphäre
fallende, kulturell vermittelte Illusion. Religiöse Vorstellungen seien
nicht Niederschläge der Erfahrung
oder Endresultate des Denkens,
sondern Erfüllungen der ältesten,
stärksten, dringendsten Wünsche
der Menschheit, wobei die Stärke
jener Vorstellungen von der Stärke
dieser Wünsche abhänge. Religion
also Ausdruck infantiler Hilflosigkeit, Gott das kindliche Wunschbild vom übermächtigen Vater ...
„Wo ein Kind leidet,
kann es Gott
nicht geben“
Gott kann es nicht geben, folgert
Jean-Paul Sartre in seiner Existenzphilosophie, weil der Mensch ein
zur Freiheit bestimmtes, ja zur Freiheit verurteiltes Wesen sei, das sich
zwar als Existenz vorfindet, aber
noch zu sich selbst kommen muss,
indem es sich selbst bestimmt und
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
dadurch erst wesenhaft konstituiert („Die Existenz geht der Essenz
voraus“). Albert Camus lehnt Gott
vor allem aus Protest gegen das
Leiden ab. „Wo ein Kind unschuldig leidet, kann es keinen Gott
geben“, sagt der Arzt Rieux in
dem Roman „Die Pest“ und leistet
dennoch – die Absurdität der Welt
aushaltend – Widerstand gegen
das Böse. Allerdings stand Camus
bei dieser Daseinsauslegung nicht
Hiob, sondern Sisyphus Pate.
Als dann nach dem Zweiten Weltkrieg Theodor W. Adorno die Frage stellte, wie man nach Auschwitz denn noch an Gott glauben
könne, schien der Atheismus ein
für allemal die Oberhand gewonnen zu haben.
Der Streifzug durch die Geschich-
te des Atheismus – der manches
unberührt lassen musste – sei damit beendet. Unser anfängliches
Fragen, provoziert durch die Gottesleugner, richtet sich nun an diese selbst: Hat der Atheismus, der
ausdrücklich mit dem Anspruch
antrat, die Menschheit zu befreien, sein Versprechen eigentlich
einlösen können?
Oder hatte nicht doch Nietzsche
recht, der wie kein anderer die
negativen Konsequenzen einer
Subjektkonstitution ohne Gott
erkannte und eine „lange Folge
von Zerstörung, Untergang, Umsturz, die ungeheure Logik von
Schrecken, welche Europa alsbald
entwickeln muss“, voraussah? Die
Geschichte des 20. Jahrhunderts
liefert dafür Belege in Hülle und
Welcher Gott ist da eigentlich
für „nicht existent“
oder für „tot“ erklärt worden?
Der Gott des Wissens,
der Philosophen,
Gott als Spitze des Seins,
als unbewegter Beweger,
als erste Ursache der Weltentwicklung
– oder der Gott Abrahams,
Isaaks und Jakobs,
der Gott Jesu?
Fülle. Und wie steht es mit Nietzsches „Herrenmenschen“, der in
Hitlers Tausendjährigem Reich als
„Herrenrasse“ in Europa und darüber hinaus wütete und Blutbäder
anrichtete? Einer muss ja schließlich – nach dem „Tode Gottes“
– der „Herr“ sein ...
Und welcher Gott ist da eigentlich
für „nicht existent“ oder für „tot“
erklärt worden? Der Gott des Wissens, der Philosophen, Gott als
Spitze des Seins, als unbewegter
Beweger, als erste Ursache der
Weltentwicklung – oder der Gott
Abrahams, Isaaks und Jakobs, der
Gott Jesu?
Der Atheismus hatte allerdings
auch ein Gutes: Er hat mit falschen
Gottesbildern aufgeräumt, mit
dem Gott der Herrschenden und
15
Mächtigen oder mit dem Gott
der Erzieher, die ihn vor allem
für das Strafen zuständig machten. Gewiss, dieser Gott wurde
auch von der Kanzel verkündet,
aber Gott wäre nicht Gott, wenn
er nicht Wege fände, sich dem
zu entziehen – und sei es über
den (Um)weg des Atheismus.
Die Geschichte des Atheismus
ist die Geschichte des Menschen
„ohne Gott“. Doch sie ist, wie gezeigt, auch eine Geschichte Gottes
mit dem Menschen.
MS
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0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott
Wahrheitssuche
oder Marktgeschrei?
Während des wohl bekanntesten
Gerichtsprozesses der Menschheitsgeschichte vor bald 2000 Jahren stellt der römische Statthalter
Pontius Pilatus die Frage: „Was ist
Wahrheit?“ (Johannes 18, 38) Er
stellt sie Jesus von Nazareth, der
behauptet: „Ich bin dazu geboren
und dazu in die Welt gekommen,
dass ich für die Wahrheit Zeugnis
ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.“
(Johannes 18, 37) Dieses Beispiel
zeugt beredt davon, wie von alters
her die Frage nach Wahrheit die
Menschen zutiefst bewegt. Neben
„Lust“ oder „Neugier“ sind Wahrheits- und Erkenntnisstreben wohl
als in uns vernunftbegabten Wesen tief verankerte Grundtriebe
anzusehen, die unablässig nach
Befriedigung suchen. Von daher
hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte auch die so genannte
Wissenschaftskultur herausgebildet, die maßgeblich das Denken
der – westlichen – Gesellschaften
prägt.
Bei manchen Menschen sind die
Verstandesanlagen besonders gut
ausgeprägt und ihr starkes Wahrheitsbedürfnis lässt sie den Beruf
des Wissenschaftlers einschlagen:
„Die wichtigste Motivation der
Menschen, die in die Wissenschaft
gehen, war ursprünglich und ist
wohl auch heute die Suche nach
der Wahrheit.“ (Carl Friedrich von
Weizsäcker: Einheit) Nun tut sich
in letzter Zeit eine neue skeptische
Generation in den Reihen der professionellen
„Wahrheitssucher“
hervor. Diese Skeptiker haben
das erklärte Ziel, die Welt vom
religiösen Glauben, also von ver-
meintlichen Unwahrheiten zu befreien – zumindest stellen sie sich
mit missionarischem Eifer einem
Wiederaufleben der Religionen
aktiv in den Weg. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins ist einer
der derzeit wohl prominentesten
Vertreter der so genannten neuen
Atheisten.
In Johannes B. Kerners Talkshow
musste sich Dawkins am 15. November 2007 den Vorwurf gefallen lassen, dass er mit naturwissenschaftlichen Methoden etwas zu
beweisen versucht, das auf diese
Weise ganz offensichtlich gar nicht
bewiesen werden kann. In diesem
Zusammenhang wurde dem Naturwissenschaftler vom Moderator
der Sendung die Frage gestellt:
„Warum ist Ihnen dieser Beweis
bzw. der Gegenbeweis von der
Nichtexistenz Gottes so wichtig?
Könnten Sie nicht auch ganz gut
ohne diese Erkenntnis leben?“
Dawkins gab darauf zur Antwort:
„Ich glaube, die Frage, ob es einen
Gott gibt, ganz unten irgendwo
im Universum, ist natürlich eine
der wichtigsten wissenschaftlichen
Fragen überhaupt. Ein Universum
mit einem Gott, ein Universum,
das von einem Schöpfer geschaffen wurde, wäre wissenschaftlich
gesehen ein ganz anderes Universum als ein Universum ohne Gott.
Ich kann mir gar keine wichtigere
wissenschaftliche
Fragestellung
vorstellen. Wie könnte sich ein
Wissenschaftler nicht für die Frage
interessieren: Gibt es in der Tat ei-
„Ich gehe in den Boden und
dort werde ich verfaulen.“
Richard Dawkins
nen Gott? Eine faszinierende wissenschaftliche Frage! Ganz klar! …
Man kann dies nicht widerlegen
oder als falsch beweisen – aber
ich glaube, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass es einen Gott
gibt. Man kann es nicht als zu 100
Prozent falsch beweisen, aber …
es ist sehr unwahrscheinlich.“
Die Frage nach Gott bringt zwar
das Anliegen der Wahrheitssuche
auf den Punkt, kehrt aber zugleich
auch das ganze Problem dieses Bemühens nach außen: Wie radikale
Kreationisten (Menschen also, die
glauben, dass sich die Entstehung
des Lebens und der Welt tatsächlich so abgespielt habe, wie die
Bibel sie im Schöpfungsbericht
schildert) die Naturwissenschaft
missbrauchen, um Gott zu beweisen, so missbraucht letzten Endes
Dawkins die Naturwissenschaft,
um damit den Gegenbeweis zu
führen. Für Kreationisten muss
es auf Grund der naturwissenschaftlichen Beweislage einen intelligenten Designer geben. Für
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
die neuen Atheisten gibt es dagegen mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit keinen Gott
– eben auf Grund naturwissenschaftlicher Beweislage. Naturwissenschaftliche Methoden werden
hier auf fragwürdige Weise instrumentalisiert.
Neben diesen extremen Vertretern
so genannter beweisbarer Wahrheit gibt es jedoch viele moderate
Gottgläubige und auch Nichtgläubige, die noch vernünftig zwischen
Glauben und Wissen vermitteln.
Allerdings bekommt dieses „Schauspiel des Glaubens“, das in unserer
globalisierten Welt immer öfter
über die Bildschirme flimmert, unwillkürlich etwas Absurdes, denn
gerade Extrempositionen haben
in den Massenmedien ja einen hohen Unterhaltungswert. Faktisch
ist es ja weder „Gott“ noch „NichtGott“, sondern letzten Endes der
„Mammon“, der bestimmt, welcher Unterhaltungswert der medialen Aufbereitung des „Streits um
Gott“ zugemessen wird.
Den Menschen von heute ist bei
dem ganzen Unterfangen mit Namen „Wahrheitsfindung“ längst
die kindliche Unschuld abhanden
gekommen. Dennoch trifft gerade auf die mediale Streitkultur das
spitzfindige Wort Jesu zu: „Mit
wem soll ich diese Generation vergleichen? Sie gleicht Kindern, die
auf dem Marktplatz sitzen und anderen Kindern zurufen, Wir haben
für euch auf der Flöte (Hochzeitslieder) gespielt, und ihr habt nicht
getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt euch nicht an
die Brust geschlagen!“ (Matthäus
11, 15-17)
Die Wahrheitsvertreter beschallen sich auf dem Marktplatz der
Massenmedien und des Internets
gegenseitig mit Liedern der Wahrheit von Liebe und Tod. Aber keiner der Kontrahenten im Studio
oder vor den Bildschirmen ist wirklich bereit, sich selbst an die Brust
zu schlagen. Geht es ihnen letzten
Endes nicht um ganz etwas anderes als darum, Wahrheit zu finden?
Geht es nicht vor allem um Show
und Unterhaltung, um Einschaltquoten, um Popularität und den
Verkauf von Büchern? Raum für
die ernsthafte Diskussion der Fragen nach dem wahren Leben des
Menschen, zutiefst von Fragen
nach Liebe und Würde durchwoben und von daher untrennbar
mit Scham und Schuld verbunden,
bleibt meist nicht. Die Wahrheit
gerät bei diesen Shows schnell ins
Universum schuldet Ihnen keinen
Trost oder keinen Komfort, kein
Wohlergehen. Vielleicht sind Sie
ein Produkt des Zufalls oder wir
sind ein Produkt der darwinschen
Evolution. Was viel schöner ist.
Aber selbst wenn wir ein Zufallsprodukt wären und selbst wenn
wir uns dann sehr klein und sehr
traurig finden würden – es ist einfach so.“
Kerner: „Herr Dawkins, Sie haben
gesagt, Sie werden, wenn Sie nicht
mehr sind, unter der Erde sein und
verrotten – wenn ich das richtig
verstanden habe.“
17
wer mich da empfängt! Aber wenn
Sie mich fragen, was ich da sagen
würde – ich würde Bertrand Russell zitieren: ‚Nicht genug Beweise,
Gott, nicht genug Beweise!‘“
Von alters her gibt es einen Stein
der Weisen. Dieser Stein führt seit
jeher die Menschen zur Wahrheit
im Leben: Es ist der Grabstein!
Nicht ohne tieferen Grund thematisiert von daher auch jede Religion Leid, Sterben und Tod, versucht den Menschen (tröstende)
Antworten auf das Unbegreifbare
zu geben. Für Dawkins ist jedoch
„Vielleicht ist es Zeus oder Wotan,
oder was weiß ich, wer mich da empfängt!
Aber wenn Sie mich fragen,
was ich da sagen würde –
ich würde Bertrand Russell zitieren:
,Nicht genug Beweise, Gott, nicht genug Beweise!’ “
Hintertreffen. Hören wir deshalb
noch kurz das enthemmte „Lied“
vom Tod, wie es Dawkins und der
Moderator am Schluss der oben
genannten Gottes-Streit-Runde im
ZDF anstimmten:
Kerner: „Was passiert nach Ihrem
Tod mit Ihnen?“
Dawkins: „Ich gehe in den Boden
und dort werde ich verfaulen. …
Natürlich kann man sagen, mit Religion hat man Sinn, einen Zweck
im Leben, fühlt sich wohl – und übrigens, wir sind kein Produkt des
Zufalls, wir sind ein Produkt der
natürlichen Auslese, das ist etwas
ganz anderes. Und selbst wenn die
nichtreligiöse Sicht der Welt nicht
zufriedenstellend wäre, wenn die
Welt leer und trostlos wäre, wäre
dies nicht unbedingt falsch. Das
Dawkins: „Absolut. Das habe ich
gesagt.“
Kerner: „Schöner Gedanke?“
Dawkins: „Natürlich ist das kein
schöner Gedanke. Aber die Wahrheit ist nicht immer schön.“
Kerner: „Wäre es schöner, den
Glauben zu haben an etwas anderes? Vielleicht ist da ja noch etwas?“
Dawkins: „Natürlich wäre es schöner. Aber es ist deswegen nicht unbedingt wahr.“
Kerner: „Für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass nach Ihrem
Tod doch so was vor Ihnen steht
wie der liebe Gott und Sie vor dem
Jüngsten Gericht sind – haben Sie
so etwas wie einen Notfallplan?“
Dawkins: „Vielleicht ist es Zeus
oder Wotan, oder was weiß ich,
Religion nichts als eine riesige Verschwendung von Zeit und Menschenleben und ein Witz mit kosmischen Ausmaß, der letztlich zu
rein gar nichts gut ist.
Was ist also Wahrheit, wenn man
in hochmütiger Verblendung seine Grenzen nicht mehr kennt und
leichten Sinnes mit wissenschaftlichem Anspruch über das einzig
wahre „Denkmal“ unseres Lebens,
das Grab, hinwegsteigt? Verkommt da die Rede von der Wahrheit nicht schnell zum ko(s)mischen
Marktgeschrei?
FE
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0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott
Mensch werden –
ohne oder mit
Gott?
Der „neue Atheimus“ ist in aller Munde. Dawkins, Hitchens, in
Frankreich Onfray und in Deutschland Schmidt-Salomon mit der
Giordano-Bruno-Stiftung gelten als seine Vertreter. Was aber ist
nun wirklich „neu“ an diesem Atheismus? Eigentlich nicht besonders viel, denn den sattsam bekannten Argumenten gegen
religiösen Glauben wird zu Verkaufszwecken nur ein neues Etikett aufgeklebt.
Allerdings erfasst das Thema anscheinend sehr gut die seelischen
Vibrationen vieler Zeitgenossen,
die während ihrer Auseinandersetzung mit „Sternenstaub“ in einen
existentiellen Ausnahmezustand
gleiten und sich dabei sehr hoch
„angeschlossen“ fühlen. Diesen
staubig schwingenden Zeitgeist
vertont beispielsweise vortrefflich
die Band „Ich&Ich“ in ihrem Hit
„Vom selben Stern“. Da heißt es
für den Zuhörer fast beschwörend:
„Ich nehm den Schmerz von dir.
Ich nehm den Schmerz von dir.“
In künstlerischer Freiheit wird im
Refrain des Liedes dafür eine Begründung gegeben: „Wir alle sind
aus Sternenstaub. In unsren Augen war mal Glanz. Wir sind noch
immer nicht zerbrochen – wir sind
ganz. Du bist vom selben Stern. Ich
kann deinen Herzschlag hörn. Du
bist vom selben Stern wie ich. Weil
dich die gleiche Stimme lenkt und
du am gleichen Faden hängst. Weil
du dasselbe denkst wie ich.“
Der Sänger Bushido dagegen fragt
in seinem Song „SternenStaub“
wesentlich kritischer nach: „Ist
es Traurigkeit, die mir Tränen in
die Augen treibt? Ist es Liebe,
ist es Hass? Ist es Sternenstaub?
Ist es wahr, dass dir am Ende nur
der Glaube bleibt? Wenn der
Glaube bleibt, bitte was ist dann
Sternenstaub?“
Für diejenigen Zeitgenossen, die
sich mit dem Begriff„Sternenstaub“
noch etwas schwertun, gibt‘s eine
eingängige Erklärung gleich mitgeliefert: „Es ist alles, was du nicht
erklären kannst. Weißt du, wenn
du irgendwas mal die Schuld geben willst, dann schieb‘s auf
deinen Sternenstaub.“
Anders ausgedrückt: Sternenstaub
erklärt und entschuldigt alles!
Auch die manchmal vielleicht etwas umständlichen und langatmigen Ausführungen der so genannten neuen Atheisten! Diese
machen letzten Endes ja auch
nichts anderes, als im Sternenstaub
zu wühlen, natürlich mit der Hoffnung, so etwas wie ein Körnchen
Wahrheit zu finden. Der Staub
der Sterne schluckt ohne weiteres
– das mag vielleicht an den galaktischen Dimensionen liegen – sogar das berühmte Wort „Gott ist
tot“, das meist dem Philosophen
Nietzsche zugesprochen wird.
Nietzsche war allerdings nicht der
Erste, der den „Tod Gottes“ verkündete. Schon Hegel sprach von
dem „unendlichen Schmerz“ als
einem Gefühl, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – eben
dem Gefühl, Gott selbst sei tot.
Ja, Sternenstaub erklärt einfach
alles und schluckt nun auch ohne
großes Aufsehen den tiefsten
Schmerz der Menschheit, der da
heißt: Es gibt keinen Gott. Wem‘s
trotzdem noch weh tut, dem flüstert nun tröstend Sternenstaub ins
Ohr: „Ich nehm den Schmerz von
dir.“ Aber ist dieses große Gefühl
von Einheit jenseits der Schmerz-
grenze, das sich so gut vermarkten
lässt, auch schon die ganze abgestaubte Wahrheit, die uns Dawkins
& Co verklickern wollen?
Der Evolutionsbiologe Dawkins
hofft sehr, dass Religion irgendwann einmal der Vergangenheit
angehört. Für ihn ist dies keine
ganz unrealistische Hoffnung,
denn es gibt Hinweise darauf, dass
Menschen mit höherer Bildung
seltener religiös sind. Für Dawkins
reichen schon die gegenwärtigen
Auswüchse des Glaubens im fundamentalistischen Islam, um zu
dem Schluss zu kommen, dass wir
ohne Gott wesentlich besser dran
wären. „Es gibt einen logischen
Weg vom Glauben an ein höheres
Wesen zum Töten eines anderen
Menschen“, verbreitet Dawkins.
„Du kannst sagen: Es ist meine heilige Pflicht, den anderen zu töten
und mich in die Luft zu sprengen.
Du könntest nie sagen: Weil ich
Atheist bin, ist es meine Pflicht, andere umzubringen. Da gibt es keine logische Verbindung.“ Und die
Amokläufer? Und all die anderen
Massenmörder, Mr. Dawkins?
Lassen wir uns gedanklich einmal auf Dawkins‘ Vision ein, dass
die Welt ohne Religion angeblich
eine bessere wäre. Nehmen wir
also an, dass die Menschheit sich
als „Sternenstaub“ versteht, gottlos ist und ausschließlich durch
(natur)wissenschaftliche Erkenntnisse zum Besseren voranschreitet.
Es gäbe also keine guten und bösen Geister oder Dämonen mehr,
keinen Krishna, keinen Wotan und
keinen Zeus, keinen Jahwe, keinen
Jesus Christus, keinen Allah und
auch keinen Buddha, keine Tempel und Kirchen, keine Altäre, keine Gebete, keine Gottesdienste,
keine Heiligen Bücher, keine Zehn
Gebote, keine Offenbarungen und
Prophezeiungen, keine Wunder,
keine Priester und Bischöfe, keine
Gurus, keine Heiligen, keine Frommen, keine Christen, keine Juden,
keine Muslime und damit auch
keine Taliban und somit auch kei-
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
19
Ein paar Gedanken zur Suche nach Wahrheit im „Sternenstaub“
ne Ungläubigen und keine Ketzer.
Es gäbe keine Stammesreligionen,
keinen Ahnenkult, keine Gräber.
Es gäbe weder den Glauben an
Reinkarnation noch den Glauben
an Auferstehung. Die Antwort auf
den Tod hieße in Zukunft sowohl
in Benares als auch in Jerusalem:
Du bist Sternenstaub – nicht mehr
und nicht weniger.
Was die künftige Entgötterung
der Natur durch weitere kausale
naturwissenschaftliche Einsichten
betrifft, so können wir uns – um
unnötigen Ängsten beispielsweise
hinsichtlich der Stammzellenforschung vorzubeugen – ganz auf
die Feststellung von Konrad Lorenz verlassen: „Noch nie hat [die
Natur], nach natürlicher Erklärung
eines ihrer wunderbaren Vorgänge, als ein entlarvter JahrmarktsScharlatan dagestanden, der den
Ruf des Zaubernkönnens verloren
hat, stets waren die natürlichen ursächlichen Zusammenhänge großartiger und tiefer ehrfurchtgebietend als selbst die schönste
mythische Deutung“.
Seien wir also getrost, dass der Sternenstaub noch so einiges an faszinierenden Überraschungen für
uns bereithält, wenn wir erst einmal die wesentlichen Hindernisse
aus dem Weg geräumt haben und
zu den wahren Tiefen der geheimnisvollen Natur vorgedrungen sind.
Dazu gehören auch die Religionen, die ja nur eine bedauerliche
Fehlleistung der Evolution sind.
Nach Ansicht der neuen Atheisten
handelt es sich bei der Religion in
der Menschheitsanatomie nur um
eine Art von überdimensional entzündetem Blinddarm. Diesen gefährlichen Wurmfortsatz gilt es zu
entfernen. Die (Natur)wissenschaft
vermag diese Operation vorzunehmen, denn früher oder später wird
sie die letzten Geheimnisse des (biologischen) Lebens aufklären und
wir können mittels Nano-, Bio- und
Gentechnologie uns eines Tages
all das selbst erschaffen, was wir
Menschen so brauchen, und noch
vieles mehr. Die ganze Entwick-
lung findet natürlich innerhalb der
durch die Evolution vorgegebenen
Zuchtwahl statt. Darwin zitierend
meint Dawkins, dass „die natürliche Zuchtwahl täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt [ist], eine jede, auch geringste
Abänderung zu prüfen, sie zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie
zu erhalten und zu vermehren,
wenn sie gut ist.“ Wenn wir uns
dann endgültig von der Krankheit
die Menschheit nicht bereits so etwas wie Auschwitz? Ist nun auch
der Holocaust nur Sternenstaub?
Die Frage nach der Selektion von
Menschen, von dem Werden und
Vernichten von Menschen, ist
die Frage nach der Menschheit
schlechthin. Menschwerdung mit
Gott dagegen geht untrennbar mit
Liebe und Würde einher. Ist „Liebe“ nur ein überwältigendes Gefühl, das vom Belohnungssystem
„Ist es Traurigkeit,
die mir Tränen in die Augen treibt?
Ist es Liebe, ist es Hass? Ist es Sternenstaub?
Ist es wahr, dass dir am Ende nur der Glaube bleibt?
Wenn der Glaube bleibt,
bitte was ist dann Sternenstaub?“
„Religion“ und ihren hinderlichen
Werten verabschiedet haben, werden wir schnell feststellen, dass
eines weiterhin gilt: Am meisten
brauchen wir Menschen ja uns
selbst! Und darum ist es nur sehr
nahe liegend, dass wir auch alles
daransetzen werden, möglichst
bald den vollkommenen Menschen
zu schaffen. Die Technologien und
Forschungsfreiheit dazu haben wir
dann ja. Aber ist der vollkommene
Mensch nun ein Mann? Oder ist er
doch eher eine Frau? Oder ist der
vollkommene Mensch weder Frau
noch Mann? Ist er gar geschlechtslos? Ja, an was werden wir uns
im Sternenstaub letztlich bei der
Menschwerdung ohne Gott wohl
orientieren? Wird uns die Naturwissenschaft eine Antwort darauf
geben? Welcher Wissenschaftler
wird die Wahrheit von Menschwerdung im gottlosen Sternenstaub
jenseits von Mann und Frau definieren?
Wir haben angenommen, dass
die Menschheit sich als „Sternenstaub“ versteht, gottlos ist
und durch naturwissenschaftliche
Erkenntnisse voranschreitet. Aber
reicht das schon? Wird die Welt
dadurch wirklich besser? Kennt
des Organismus für unsere Mühen
im Kampf um Fortpflanzung produziert wird? Ist „Liebe“, dieses
ganze Glück des Menschen, letztlich nur ein alles durchdringender
Lebensaufheller oder gar nur ein
„Boogie-Woogie der Hormone“,
wie einst der berühmt-berüchtigte
Schriftsteller Henry Miller meinte?
„Liebe“ ein großes Gefühl im Sternenstaub, wenn auch ein ziemlich
rätselhaftes? Oder sind Lieben und
Geliebtwerden nicht die Wahrheit
des Lebens schlechthin?
Trägt Sternenstaub das moralische
Gesetz von der Heiligkeit des Lebens in sich? Sind im Zuge moralischen Fortschritts der Menschheit
sich ändernde Sitten und Bräuche
nur ein Produkt der Evolution?
Hilft nicht gerade richtig verstandene religiöse Rückbindung dem
Menschen dabei, moralische Konventionen um der Würde des Mitmenschen willen immer neu auf
den Prüfstand zu stellen und Rechtfertigungsdruck auszusetzen? Gerade auf Grund von christlicher
Ethik – sozusagen als moralischer
Restlichtverstärker – vermag dann
das gebildete Gewissen auch in
Zeiten sittlicher Umnachtung klar
zu erkennen, welches Handeln der
Würde des Menschen entspricht
und welches nicht. All diese Fragen
nach Liebe und Würde weisen unmissverständlich darauf hin, dass
wohl nur eine Menschwerdung
in Gott uns die wahren Dimensionen menschlichen Lebens eröffnet. Von daher sollten sich Christen nicht auf die vermeintliche
Wahrheitsfrage: „Gibt es Gott? Ja
oder nein?“ einlassen – ist ja doch
nur sinnlose Zeitverschwendung
–, sondern vielmehr bewusst Erkenntnisse, die sich aus den folgenden Glaubenssätzen ergeben,
wie reinigenden Regen auf den
derzeit so hitzig aufgewirbelten
Sternenstaub hinabrieseln lassen:
„Gott schuf also den Menschen
als sein Abbild; als Abbild Gottes
schuf er ihn. Als Mann und Frau
schuf er sie.“ (Genesis 1, 27) – Die
(Glaubens)frage nach dem vollkommenen Menschen als Mann
und als Frau.
„Seh ich den Himmel, das Werk
deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt: Was ist der
Mensch, dass du an ihn denkst, des
Menschen Kind, dass du dich seiner
annimmst?“ (Psalm 8, 4-5) – Die
(Glaubens)frage nach Liebe und
Würde, die Frage nach Menschheit
in unserer Person.
„Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht
hineinkommen.“ (Markus 10, 15;
Lukas 18, 17) – Die (Glaubens)frage
nach der Menschwerdung mit
Gott, die bedeutet: Wir sind eben
nicht nur Sternenstaub, sondern
wir Menschen sind alle Kinder des
einen Gottes – ein Gott, der jeden von uns liebevoll mit DU anspricht!
Stellen wir uns also erneut die
Frage, diesmal aber ganz bewusst
als Gottes geliebtes Kind, das den
Staub des „Wissenschafts-Wahns“
abgeschüttelt hat: „Wenn der
Glaube bleibt, bitte was ist dann
Sternenstaub?“ (Bushido)
FE
20
0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott
Geschichten,
Der Rechenfehler
die nachdenklich machen
Oft sind es unscheinbar wirkende Kurzgeschichten, die eine Sache treffend auf den
Punkt bringen und deren Weisheit uns – nicht selten gnadenlos – herausfordert.
So auch die folgenden Erzählungen:
Rabbi Baruchs Enkel, der Knabe Jechiel, spielte einst
mit einem anderen Knaben Verstecken. Er verbarg
sich gut und wartete, dass ihn sein Gefährte suche.
Als er lange gewartet hatte, kam er aus dem Versteck, aber der andere war nirgends zu sehen. Nun
merkte Jechiel, dass jener ihn von Anfang an nicht
gesucht hatte. Darüber musste er weinen, kam unter Tränen in die Stube seines Großvaters gelaufen
und beklagte sich über den bösen Spielgenossen.
Da flossen Rabbi Baruch die Augen über, und er
sagte: „So spricht Gott auch: ,Ich verberge mich,
aber keiner will mich suchen.‘“
Kardinal Faulhaber kam bei einem
Festessen neben Professor Einstein zu sitzen. Einstein meinte:
„Eminenz, was würden Sie sagen,
wenn wir Mathematiker Ihnen
rechnerisch einwandfrei beweisen
würden, dass es keinen Gott
gibt? “Darauf der große Kardinal:
„Ich würde in Geduld warten, bis
Sie Ihren Rechenfehler gefunden
haben.“
Was anfangs als Kinderspiel beginnt, entpuppt sich am Ende als Ernst: Sind vielleicht
auch wir gar nicht auf der Suche nach Gott? Haben wir Gott etwa ad acta gelegt oder
IHN, fein säuberlich zusammengefaltet, in eine Schublade weggeräumt? Oder ist ER
uns – vielleicht unbemerkt – verloren gegangen ... und wir vermissen ihn eigentlich
auch nicht?
Es gibt noch Menschen, die Gott suchen:
Unbekannt verzogen
Sie suchen Gott?
Der wohnt hier schon lange nicht mehr. Unbekannt
verzogen. Wir haben ihn ja sowieso nicht mehr kennen
gelernt. Muss ein komischer Typ sein. War wohl früher
mal ganz beliebt hier, bei den Nachbarn. Sehr hilfsbereit und freundlich. Aber wohl doch ein ziemlich kauziger Typ, mit verschrobenen, etwas unzeitgemäßen
Ansichten. Heute würde er in diese Gegend sicher nicht
mehr reinpassen. Alles solide Leute hier. Gehobenes
Einkommen, dezente Umgangsformen, wohlerzogene
Kinder, gepflegte Anwesen.
Dieser Gott soll wohl mal in der Uniklinik gesehen worden sein, in der Psychiatrie. Vielleicht hat er ja auch nur
ein paar Freunde besucht. Und der Schreber-Klockow
von gegenüber hat ihn auch mal gesehen. Beim letzten
Pokalspiel stand er in der Fankurve. Soll ziemlich betrunken gewesen sein. Tja, wie gesagt, wir haben ihn
gar nicht mehr kennen gelernt. Vielleicht wär‘s ganz
interessant gewesen. Ist ja doch ein bisschen ruhig hier
in der Gegend.
Menschen kennen IHN nur noch
vom Hörensagen; sie sind darauf
angewiesen, was andere über IHN
erzählen. Eigene Erfahrungen liegen schon nicht mehr vor.
Bei dem Thema „Streit um Gott“
sollte man bedenken: An Gott
kann man sich letztlich nur fragend herantasten. Gott kann man
nicht „haben“, schön eingerahmt
wie ein Foto. Immer schon – trotz
aller Glaubensstärke – war Gott
für die Menschheit immer auch ein
großes Fragezeichen.
Doch was genau stellen wir uns
unter Gott vor? Und was hat ER
mit unserem Leben zu tun?
„Gott sei Dank gibt es
nicht, was 60 bis 80 Prozent der Zeitgenossen sich
unter Gott vorstellen.“
(Karl Rahner)
Einer fragte Herrn K., ob es einen
Gott gäbe. Herr K. sagte: „Ich rate
dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Art der Antwort
auf diese Frage sich ändern würde.
Würde es sich nicht ändern, dann
können wir die Frage fallenlassen.
Würde es sich ändern, dann kann
ich dir wenigstens noch so weit
behilflich sein, dass ich dir sage,
du hast dich schon entschieden:
Du brauchst einen Gott.“
(Bertolt Brecht)
Nein, eine klare Antwort erhalten
wir nicht auf die eigentlich alles
entscheidende Frage, „ob es einen
Gott gäbe“. Für Brecht ist klar: Ein
aufgeklärter, mündiger Bürger bestimmt selbst über sein Verhalten
und ist autark in seinen Entscheidungen; er braucht keinen Gott.
Doch man kann es auch anders
sehen: Brauchen wir Gott nicht
doch – nicht, weil wir noch unmündig wären, sondern weil wir
nun einmal Menschen sind und als
Menschen ohne Gott unmenschlich werden können?
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
Gibt es Gott?
Darüber lässt sich auch auf folgende Weise trefflich streiten:
Die Blumen und der Gärtner
Zwei Männer wanderten durch den
Wald. Nach einiger Zeit erreichten
sie eine Lichtung. Dort blühten
wunderschöne Blumen in prächtigen Farben. Beide waren von der
Schönheit dieses Anblicks beeindruckt. Der eine Mann sagte: „Das
muss ein guter Gärtner sein, der
diesen Garten pflegt.“ „Du irrst“,
sprach der andere. „Hier gibt es
keinen Gärtner. Die Blumen wachsen wild.“ „Das glaube ich nicht.
Es gibt bestimmt einen Gärtner.
Lass uns warten, bis er kommt.“
Da sie gute Freunde waren, ließ
sich der Skeptiker darauf ein. Am
Abend war der Gärtner noch nicht
erschienen. „Bist du jetzt überzeugt, dass es hier keinen Gärtner
gibt?“ „Nein. Vielleicht kommt er
nachts.“ Nach einer durchwachten
Nacht hatten sie noch immer keinen Gärtner gesehen. „Vielleicht
ist er unsichtbar.“
Sie installierten eine elektronische
Anlage, die bei Berührung Alarm
schlägt. Aber der Alarm blieb aus.
„Trotzdem bin ich überzeugt, dass
es einen Gärtner gibt, der sich um
diese Blumen kümmert. Vielleicht
ist er nicht nur unsichtbar, sondern
auch körperlos. Dann ist er mit keiner Alarmanlage zu erwischen.“
Da verlor der Skeptiker langsam
die Geduld: „Was soll denn das
für ein Gärtner sein, der unsichtbar und körperlos ist?! Ein solcher
Gärtner existiert nicht. Du willst ja
nur nicht zugeben, dass ich recht
habe: Es gibt keinen Gärtner.“
Man kommt nur
schwer von ihm los
„Gott sei Dank“, sagt die Bäuerin, „es kommt Regen.“„Aber
Genossin“, antwortet der Leiter der Kolchose, „du weißt
doch, einen Gott gibt es, Gott
sei Dank, nicht.“
„Sicher, Genosse, aber wenn es
nun, was Gott verhüten möge,
doch einen gibt?“
Ein Schüler kam zu einem Rabbi und fragte: „Früher gab es Menschen, die Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen haben. Warum gibt es die heute nicht mehr?“ Darauf antwortete der Rabbi:
„Weil sich niemand mehr so tief bücken will.“
Vielleicht!
Hand auf und ab. Er schien
den Ankömmling nicht einmal
gesehen zu haben. Aber auf
einmal blieb er stehen, warf
einen flüchtigen Blick auf den
Professor, der da zu ihm gekommen war, und murmelte
vor sich hin: „Vielleicht ist es
aber doch wahr!“ Den gelehrten Mann durchfuhr es. Er
hatte keine Antwort parat auf
eine so einfache Aussage. Als
er nun in das Gesicht dieses
„Solange ich Gott nicht sehe,
leugne ich seine Existenz“,
tönte ein junger Mann.
„Und ich“, erwiderte ein
Priester, „leugne aus dem
gleichen Grunde Ihren Verstand.“
Vom Bücken
Das wiederholte „Vielleicht“ konnte dem Skeptiker nichts
anhaben, zu sehr war er wohl in seine eigene
Sichtweise verstrickt.
Anders der gelehrte Mann in der folgenden Geschichte:
Eines Tages kam ein gelehrter
Mann, der von einem frommen
Rabbi gehört hatte, und wollte
mit ihm über die Existenz Gottes diskutieren. Er war zwar
Kind gläubiger Juden, konnte
aber seit geraumer Zeit mit
dem Gott seiner Eltern nichts
mehr anfangen.
Wie er nun in die Stube des
Rabbiners trat, ging der gerade, tief in Gedanken versunken, mit einem Buch in der
Unsichtbar
Frommen sah, schlotterten ihm
die Knie. „Mein Sohn“, sagte
der Rabbi nun, sich dem Gast
voll zuwendend, „die Theologen haben dir Gott und sein
Reich nicht auf den Tisch legen
können, und ich kann es auch
nicht. Aber bedenke: Vielleicht
ist es wahr!“ Diesem furchtbaren „Vielleicht“ konnte der
Gelehrte nichts entgegenhalten.
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0 1 / 2 0 0 8 • zum Thema Streit um Gott
Naturwissenschaft und Religion
Am 11. September (!) 2007
erschien das Buch „Der Gotteswahn“ aus der Feder des
britischen Evolutionsbiologen
Richard Dawkins. Ein Versuch,
sämtliche Religionen als sinnlose Hirngespinste abzuweisen
und im Gegenzug die Evolutionslehre zur zentralen Theorie
zu erheben, mit der allein die
Entstehung des Lebens in all
seinen Erscheinungsformen erklärt werden könne.
Dawkins facht damit eine Debatte erneut an, die seit einem Beitrag des Wiener Kardinals Christoph Schönborn in der „New York
Times“ 2005 erregt geführt wird:
Sind Evolutionslehre und christlicher Glaube vereinbar? Oder widerlegt gar die Evolutionslehre
von Charles Darwin den christlichen Glauben?
Sind Evolutionslehre und christlicher Glaube vereinbar?
Oder widerlegt gar die Evolutionslehre
von Charles Darwin den christlichen Glauben?
Die heutigen Naturwissenschaften
befassen sich in vielfältiger Weise
mit dem Menschen und werfen
dabei Fragen grundsätzlicher Art
auf, meist ohne dabei die Theologie und die Philosophie zu berücksichtigen oder auch nur zur Kenntnis zu nehmen.
Wichtige Stichworte, die in letzter
Zeit öffentlich diskutiert wurden
und die Brisanz des Themas anzeigen, sind: Evolution, Schöpfung,
Tier – Mensch, Geist – Hirn, Willensfreiheit, Lebensbeginn, Lebensende, Denken, Biomedizin, Gentechnik, Neurotheologie usw.
Doch sind naturwissenschaftliche
und religiöse Erkenntnisse bzw.
Perspektiven prinzipiell unvereinbar, wie allenthalben glauben gemacht wird?
Religion und Wissenschaft, Gott
und Vernunft, Glauben und Wissen,
das scheinen in der Tat verschie-
zum Thema Streit um Gott • 01/2008
dene Welten zu sein. Der Kampf,
der zwischen diesen Fronten ausgetragen wird, ist nicht irgendeiner, sondern in gewisser Weise
der Kampf um Sein oder Nichtsein.
Der Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion, Glauben und
Wissen, beruht nicht auf geschichtlichen Zufällen. Er war vielmehr
von Geburt der Wissenschaft an
nicht zu vermeiden.
Die Naturreligionen, die Stammesreligionen, aber auch noch der
antike Götterglaube sahen die
ganze Welt mythisch, geheimnisvoll, durchdrungen von furchterregenden Geistern oder göttlichen
Kräften. Die Religion war das Mittel, diese Kräfte durch ein bestimmtes Verhalten bändigen zu können.
Im völligen Gegensatz dazu stand
die Haltung der Wissenschaft: Ihr
ging es darum, die Welt und die
Natur ganz nüchtern und sachlich
als Gegenstand zu betrachten, der
kraft der menschlichen Vernunft
verstehbar und vor allem berechenbar wird. Dieses Objekt kann
der Mensch in den Griff bekommen. Erfolgreich ist dieser Versuch
allerdings bis heute nicht ...
Das Christentum war es, das zum
ersten Male eine Verbindung zwischen Glauben und Wissen zuließ,
nämlich indem es den systematischen begrifflichen und technischen Zugriff auf diese Welt
zuließ, ja sogar förderte. Albert
der Große (1200-1280), der Lehrer eines anderen großen Heiligen
und Denkers, Thomas von Aquin,
gilt als erster Naturwissenschaftler in unserem „modernen“ Sinn.
Der Gott der Wissenschaftler des
Mittelalters war eindeutig der
christliche Gott, und sie sahen keinen Widerspruch zwischen ihrer
wissenschaftlichen Tätigkeit und
ihrem Glauben.
In der Renaissance waren die
geistigen Helden die Künstler. Sie
dachten sich die Welt nicht bloß,
sondern versuchten sie zu sehen,
wie sie wirklich war. Leonardo da
„Warum macht sich
die Schöpfung die Mühe
zu existieren?“
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hauptet hatte, die Erde sei rund,
habe man ihn gefoltert, verurteilt
und verbannt. Welch ein historischer Unsinn! Galilei scheiterte
an sich selbst, seiner Überheblichkeit und Selbstüberschätzung
und an einer gnadenlos dummen
Inquisitionsbehörde.
Der Bruch der Wissenschaft mit
der Religion vollzieht sich im Gefolge der Aufklärung. „Gott? Ich
brauche diese Hypothese nicht
mehr!“, ruft der Gelehrte Laplace
nach der Französischen Revolution seinem Kaiser Napoleon zu.
Charles Darwin stellt im 19. Jahrhundert seine Evolutionstheorie auf, die als Widerlegung der
biblischen Schöpfung interpretiert
wird. Die Bibel aber beschreibt
nicht die Welt, sie deutet sie.
Darwin beschreibt die Welt und
ihre Entwicklung. Aufmerksame
Leser erkennen auf Anhieb den
Unterschied!
Einer der klügsten Menschen unserer Zeit, der britische Astrophysiker Stephen Hawking, schreibt
in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit“, dass die Urknalltheorie natürlich nicht mit dem
christlichen
Schöpfungsgedanken übereinstimme. Gleichzeitig
stellt er die Frage: „Warum macht
sich die Schöpfung die Mühe zu
existieren?“ Wie eng liegen hier
Wissen und Glauben beisammen!
Vinci war solch ein Künstler: universal gelehrt und universal interessiert. Aber die Welt hatte sich
verändert: Während der Krise des
Christentums um das Jahr 1500
und mit der Wiederkunft des antiken Heidentums blieb unklar, was
eigentlich „Religion“ noch sein
sollte. Und die sich erst herausbildende Wissenschaft war in Gefahr,
sich ohne Unterschied mit ernsthaften Forschungen und mit abergläubischem Unsinn zu befassen.
Kopernikus sah anstelle der Erde
die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems. Luther nannte ihn
einen Narren, Papst Paul III. war
über die Erkenntnis von Kopernikus erfreut. Christoph Kolumbus
entdeckte Amerika; er und Magellan waren auf ihren Seereisen
nicht über den Rand der „Weltscheibe“ gefallen.1572 wurde der
julianische Kalender auf Geheiß
des Papstes Gregor XIII. abgeschafft. Es entstand der bis heute
gültige gregorianische Kalender
auf der Basis des kopernikanischen
Weltbildes.
Fragen nach dem Sinn des Lebens
und nach der Existenz Gottes bleiben der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis verborgen. Die Naturwissenschaften erkennen lediglich falsifizierbare Wahrscheinlichkeiten, keine absoluten Wahrheiten. Der Glaube beschreibt eine
Wahrheit jenseits aller Vernunft:
die Wahrheit der Existenz Gottes.
RS
Der Fall Galileo Galilei wird bis
heute fälschlicherweise als Kriegserklärung der Kirche an die Wissenschaft gesehen. Weil Galilei be-
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die Schwerpunkte:
02 / 2008 Ethos der Weltreligionen – Weltethos
03 / 2008 Mit Schuld leben
04 / 2008 Menschenwürde – Menschenrechte
Ende 2. Quartal 2008
Ende 3. Quartal 2008
Ende 4. Quartal 2008