SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel eV

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SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel eV
SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel e.V.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
wir laden Sie hiermit herzlich ein zu unserem
27. FORUM
Leben unter Besatzung – Nachrichten aus dem
Flüchtlingslager Balata im besetzten Westjordanland
Vorträge – Meinungsaustausch
SAMSTAG, 30.08.2014 19:00 Uhr
Eine Welt Haus, Großer Saal
Schwanthalerstraße 80 (U4/U5 Theresienwiese)
Eintritt: EURO 3.Unsere beiden Referenten kommen aus Palästina, Sozialarbeiter im Flüchtlingslager Balata der eine, Psychologe und Therapeut der andere. Mit ihrer Arbeit
tragen sie dazu bei, dass die Menschen, mit denen sie zu tun haben, durch die
Belastungen, die ihnen das Leben unter einer unmenschlichen Besatzung aufbürdet, nicht erdrückt werden. Indem sie die Menschen stärken und ihnen
helfen, ihre Potentiale zu entwickeln, leisten sie auf ihre Weise täglich Widerstand und sorgen dafür, dass diese palästinensische Gesellschaft trotz allem eine
Zukunft hat.
Sie werden uns von ihrer Arbeit berichten und uns ein wichtiges Stück der
palästinensichen Wirklichkeit näherbringen.
Mohammad Mussini, im Flüchtlingslager Balata geboren, ist Sozialarbeiter im
dortigen „Yafa Cultural Center“(YCC), das vielfältige Bildungs-und Kreativangebote bereithält und in speziellen „Empowerment“-Programmen Kindern,
Jugendlichen, Frauen und Senioren qualifizierte Unterstützung bei der Bewältigung des Besatzungsalltags zukommen lässt. Das YCC ist Partnerorganisation
der deutschen Organisation Ziviler Friedensdienst (ZFD).
Dr. Mohamed Brigieth, klinischer Psychologe, ist Direktor einer Institution
mit dem sprechenden Namen „Palestinian Center For Growth and Human
Development“ (PCGHD), der es vor allem darum geht, Kinder und Heranwachsende so zu fördern, dass sie später ein selbstbestimmtes Leben führen
und die demokratische Zukunft Palästinas mitgestalten können. Dr. Brigieth
arbeitet auch mit traumatisierten Kindern – auch in Gaza – und bildet
Sozialhelfer für Flüchtlingslager aus.
(Der Anhang 2 informiert genauer über Balata und die Arbeit unserer beiden
Referenten. Zur weiteren Information hier noch zwei Links: www.pcghd.org
und http://librarianswithpalestine.org.s126809.gridserver.com/?pag)
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Im Folgenden skizzieren wir den gedanklichen Zusammenhang, in dem
unsere Veranstaltung steht.
1.Wenn Israel „Sicherheit“ sagt, meint es Sicherung seiner Herrschaft
Wer sich ernsthaft mit dem Palästinakonflikt befasst, bemerkt bald das für das Verständnis
entscheidende Strukturmerkmal: Es geht um Herrschaft. Der Unterdrücker ist bestrebt, seine
Herrschaft auf allen Ebenen, mit allen Mitteln zu sichern: ideologisch, ökonomisch, mit einer
entsprechenden Verfassungsstruktur und „Rechts“-ordnung, mit entsprechenden Gesetzen und
Verwaltungsvorschriften, mit einem „Sicherheits“-apparat und vor allem natürlich mit dem
Einsatz militärischer Mittel, kurz: mit mehr oder weniger offen angewandter Gewalt.
2. Die Blockade tötet – auch ohne Bomben
Was die Anwendung physischer Gewalt im Außen anrichtet, ist zur Zeit auf den Bildern
aus dem Gazastreifen zu sehen: verzweifelnde, verwundete, getötete Menschen, zerstörte
Gebäude, verwüstete Stadtlandschaft. Die seelischen Verletzungen und Zerstörungen entziehen sich der direkten Wahrnehmung, werden durch die Statistik nicht erfasst, bestimmen
aber fortan das Leben der betroffenen Menschen.
Solche Traumatisierung geschieht Palästinensern, die unter Besatzung leben, nicht nur in
Zeiten exzessiver Gewaltanwendung wie gerade im Gazastreifen. Ein Ghetto wie Gaza, in
dem 1,8 Millionen Menschen von dem Unterdrücker gefangen gehalten werden, übt seine
zerstörerische Wirkung auf die Bewohner aus, auch wenn gerade mal keine Bomben fallen.
Physisch sowieso: „Mindestens 57% der Haushalte in Gaza verfügen nicht über ausreichend
Lebensmittel und etwa 80% sind von Hilfslieferungen abhängig. Nahrungsmittelmangel und
zunehmende Armut bedeuten auch, dass die meisten Menschen ihren täglichen
Kalorienbedarf decken können. Gleichzeitig wird über 90% des Wassers als ungeeignet für
den menschlichen Konsum eingestuft. […] Ein großer Teil der Kinder ist von menschengemachter Mangelernährung betroffen, die durch die Blockade verursacht wird. Die Verbreitung von Anämie bei Kindern unter zwei Jahren beträgt 72,8%. Die Verbreitung von
Schwindsucht liegt bei 34,3%, Unterentwicklung (z.B. Zwergwuchs) bei 31,4% und
Untergewicht bei 31,4%.“ (aus dem Gutachten des norwegischen Unfallchirurgen Mads
Gilbert vom Juni 2014, zitiert nach Noam Chomsky, „Ungeheuerlich, empörend“, siehe
Anhang 3)
Psychologen des „Gaza Community Mental Health Project“ berichten von Angststörungen bei
Kindern, von Apathie oder aggressivem Verhalten. Viele Kinder haben die Fähigkeit zu
sprechen verloren und leiden an Inkontinenz. Jugendliche können wegen Konzentrationsschwierigkeiten die Schule nicht besuchen. Häusliche Gewalt hat zugenommen. (nach Karin
Steinbrinker, Die aktuelle Situation im Gazasreifen und Zukunftsperspektiven, Hamburg
2014, Eigenverlag)
3. Die Palästinenser kämpfen für ihre Freiheit
Noam Chomsky fasst die Stimmungslage der Menschen im Gazastreifen in dem Satz zusammen: „Es ist besser, in Würde zu sterben, als langsam vom Folterer stranguliert zu werden.“
(Anhang …) Es ist offenbar einhellige Meinung: Eine Rückkehr zu der Situation vor der jetzigen Invasion darf es nicht geben. Deswegen solidarisieren sich die Menschen nach übereinstimmenden Berichten unvoreingenommener Berichterstatter (die es in unseren Leitmedien –
sobald es um die Hamas geht - leider nicht gibt) mit den Forderungen der Hamas (s. den Text
von Matthias Jochheim, „Leitmedien“, Anhang 5). Der israelische Journalist Noam Sheizaf
berichtet, dass auch Menschen in Gaza, die keine Freunde der Hamas sind, Hamas in ihrem
Kampf gegen die Belagerung unterstützen, denn das ist auch ihr Kampf, ihr „Unabhängigkeitskrieg“, wie er sagt – etwas, was unsere Peter Münchs offenbar nicht verstehen können.
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Israel führt keinen Krieg gegen Hamas, sondern gegen das palästinensische Volk, und dieses
Volk, zu dem auch die Hamas gehört, kämpft – in diesem Fall mit militärischen Mitteln - für
seine Freiheit. Und wir hier haben die moralische Pflicht, diesen Kampf nach Kräften zu
unterstützen, was uns nicht hindern darf, auch die Raketen der Hamas als Verstoß gegen das
Völkerrecht abzulehnen. Jedenfalls sollten wir uns nicht entmutigen lassen von der Verblendung und Ignoranz unserer Politiker und Meinungsmacher.
Dafür nur ein Beispiel: Im Deutschlandfunk-Interview sagt Michael Lüders, ein Ende der
Gewalt werde es erst geben, wenn es eine politische Lösung gebe, wenn die Blockade beendet
werde, wenn die Grenzen geöffnet würden (das sind auch Forderungen der Palästinenser bei
den Gesprächen in Kairo). „Aber dazu ist man auf israelischer Seite nicht bereit“, sagt Lüders.
Und nun die deutsche Rundfunkredakteurin: „Herr Lüders, aber mal im Ernst, würden Sie
Israel denn raten, das zu tun, die Gazablockade aufzuheben angesichts der Aggression aus
Gaza?“ Bei der guten Frau ist offenbar nur die „Aggression aus Gaza“ angekommen. Keine
Idee, dass diese „Aggression“ vielleicht ihre Gründe hat. Und dass es zumindest auch eine
„Aggression aus Israel“ zu bedenken gilt, die sich doch gerade so eindrücklich zu erkennen
gibt. Offenbar nicht eindrücklich genug, um die eingeschliffene Optik zu verändern.
(s. Michael Lüders, „Eine Schande für Deutschland“, Anhang 6)
4. Eine politische Lösung wäre möglich
Übrigens: Wer die Gepflogenheiten der Hamas über all die Jahre hin kennt, weiß, dass ihr
jetziges Angebot eines zehnjährigen Waffenstillstands (Hudna) ein ernstzunehmendes
Friedensangebot ist, und dass Israel gut beraten wäre, darauf einzugehen, wenn ihm wirklich
daran liegt, seine Bürger zu schützen. Aber um Frieden geht es Israel eben nicht, sondern um
Herrschaftssicherung durch Beseitigung jeden Widerstands. (vgl. hierzu den Textauszug aus
Jürgen Jungs „Hörbuch Söldner gegen die Zukunft“, in dem er die Vorgeschichte der
israelischen Gazainvasion von 2008/09 sehr genau darstellt – verblüffend aktuell: das jetzige
Geschehen folgt demselben Muster. Auch damals hatte Israel kein Interesse an einer
politischen Lösung. Anhang 4)
In diesem Zusammenhang: Wenn Sie des Englischen einigermaßen mächtig sind, nehmen Sie
sich doch die Zeit und schauen (und hören) Sie sich das ausführliche Interview mit dem politischen Chef der Hamas, Khaled Meshaal, bei Al-Jazeera an
http://www.aljazeera.com/programmes/talktojazeera/2014/08/khaled-meshaal-not-war-choice201481516939516479.html
Er sagt u.a.:"Dies ist ein Kampf, den wir nicht gewählt haben, er wurde uns aufgezwungen.
Die Aggression ging von der israelischen Besatzungsmacht aus. […] Wir haben uns
verteidigt. […] Wir wollen ernsthafte Verhandlungen, die zu einem Ende der Angriffe auf
Gaza führen und die Erfüllung der palästinensischen Forderungen garantieren. Wir wollen,
dass unsere Menschen in Gaza spüren, dass die Belagerung nach acht Jahren unerträglichen
Leidens tatsächlich aufgehoben worden ist.“
5. Das Leben der Menschen im besetzten Westjordanland, z.B. im Flüchtlingslager Balata bei Nablus
wird nicht weniger durch die vom Besatzer ausgeübte Gewalt geprägt, mit vergleichbaren
Wirkungen besonders auch bei den Kindern und Heranwachsenden.
Hier folgt jetzt noch zur besseren Orientierung eine - weitgehend
unkommentierte – Liste der mitgeschickten Anhänge
1. Das Einladungsschreiben
2. Das Flüchtlingslager Balata und YCC – PCGHD
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3.
4.
5.
6.
7.
Noam Chomsky, Ungeheuerlich, empörend
Jürgen Jung, Zur Vorgeschichte der israelischen Gaza-Invasion 2008/09
Matthias Jochheim, Leitmedien
Michael Lüders, Eine Schande für Deutschland
Amira Hass, Grünes Licht aus Europa für das Morden und die Zerstörung
in Gaza
Eine wunderbar zornige Amira Hass prangert die Mitschuld unserer
Regierung an, stellt vor allem die katastrophale Entscheidung von 2006
heraus, den Wahlsieg der Hamas nicht anzuerkennen und die Palästinenser für ihr Votum kollektiv zu bestrafen. Vernichtendes Urteil über die
Palästinensische Autonomiebehörde (PA).
8. Holocaustüberlebende und ihre Nachkommen verurteilen in einer Anzeige
in der New York Times den Völkermord (!) an den Palästinensern in Gaza
und die fortgesetzte Kolonisierung (!) Palästinas. Sie verwahren sich entschieden gegen den Missbrauch ihrer Leidensgeschichte zur Rechtfertigung der israelischen Verbrechen.
Wenn wir jemanden fänden, der uns das zu finanzieren hilft, könnten wir
diese Anzeige in der SZ veröffentlichen. Wär doch schön.
9. Desmond Tutu, Mein Appell an das Volk Israels: Befreit euch, indem ihr
Palästina befreit! Eine starke Botschaft. Wer bei AVAAZ noch nicht
unterzeichnet hat, rafft sich jetzt vielleicht dazu auf:
https://secure.avaaz.org/de/israel_palestine_this_is_how_it_ends_loc/?copy
Es gibt noch drei wichtige Texte, die wir Ihnen etwas später zukommen lassen
werden. Für heute soll´s genug sein.
Wir freuen uns, wenn Sie den Samstagabend für die Begegnung mit unseren
beiden Referenten freihalten und grüßen Sie herzlich
Angela Krause
Kurt Behrens
Eckhard Lenner
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Das Flüchtlingslager Balata bei Nablus im besetzten
Westjordanland
Bedrückend und bedrängend eng ist es, als wir mit Mohammed und Mustafa zur Hausbesichtigung aufbrechen. Die Gasse ist kein halber Meter breit doch mehr als 100
Meter lang. Man/frau kann sich nicht kreuzen, kein Sonnenstrahl wird je dieses
Halbdunkel erhellen. Und obwohl es schon lange trocken ist, tropft es noch immer von
den 2- bis 4-stöckigen Bauten und ist muffig kalt.
Dann betreten wir das ‘Haus’: eine Mutter mit drei Kindern wohnt hier: Im
Wohnzimmer ein kleiner Laden, wo hauptsächlich Süßigkeiten verkauft werden,
womit die Frau vielleicht etwas verdient, zwei kleinste Schlafzimmer und eine
erbärmliche Küche. So etwa stelle ich mir das Wohnen in einem Slum vor. Und dies
hier besteht seit langen 60 Jahren, dabei ist jeder Tag in diesem Loch ein Tag zuviel.
Das Flüchtlingslager ‘Balata’ ist 1951 als eines der ersten durch die UNWRA (United
Nations Relief and Rehabilitation Administration) eingerichtet worden. (Balata ist das
größte Flüchtlingslager im Westjordanland; es liegt zwischen Nablus und dem
Huwara-Checkpoint, Anm.d.Red.). Es sind am Anfang vor allem PalästinenserInnen
aus Haifa gewesen: Dort wohlhabende, gut ausgebildete Bürger sind hier plötzlich
armselig und arbeitslos notdürftig in Zelten untergebracht worden für zehn lange
Jahre. Anschließend, in den 60er Jahren, wurden die ersten Häuser gebaut: In einem
Zimmer von drei auf drei Metern wurden ganze Familien zusammengepfercht. 7-8000
Personen fanden damals hier Unterkunft.
Heute wohnen in einem einzigen Haus von 120 Quadratmetern zum Teil bis zu 85
Personen. Das Balata-Flüchtlingslager ist eines der kleinsten: Es steht auf nur mal
einem Quadrat-kilometer. Und doch ist es eines der größten: 25 000 Personen wohnen
heute dort, dazu gibt es drei Moscheen, drei Schulen und ganz viele Gemeinschaftshäuser. Da sind einem die Nachbarn viel zu nahe, man hört und sieht alles – täglich
brechen wegen dieser erzwungenen Nähe handfeste Konflikte aus. Doch die Nähe
schweißt auch zusammen: Balata ist stark, war und ist führend im Kampf gegen die
Besatzung. Darum wird das Flüchtlingslager auch überdurchschnittlich oft von der
israelischen Armee heimgesucht. Aus Angst vor Hecken-schützen hat die israelische
Armee bei ihren Einsätzen oft auf die Strasse verzichtet und ist von WohnSchlafzimmer zu Wohn-Schlafzimmer vorgerückt, indem sie einfach die Mauern
durchbrochen hat. Häuserzüge von mehreren 100 Metern Länge sind so von außen
unbeschädigt, innen jedoch weitgehend zerstört worden. Kein Wunder, dass hier über
99 Prozent der Kinder an psychischen Störungen leidet. Und die Erwachsenen auch:
Sie haben sich am Anfang clever eingerichtet. Viele konnten früher in Israel arbeiten,
durch all die Restriktionen heute haben nur noch etwa drei Prozent der BewohnerInnen
eine Arbeit. Eine immense Arbeitslosigkeit!
Arbeitslos ist auch Mahmoud geworden, der mir dies alles berichtet und uns einen
ersten Einblick gibt. Aber nicht im Balata-Lager. Dort ist er aufgewachsen und dann
für zehn Jahre in die USA ausgewandert. So wie viele andere auch: 50-60000 Balata
Einwohner sind aus dem aus allen Nähten platzenden Flüchtlingslager weiter geflohen
oder weiter gezogen. Mahmoud ist es in den USA gut ergangen. Bis zum 11. September – da wurde ihm gekündigt. Er kehrte nach Balata zurück und arbeitet seither in
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einem Projekt, das Kindern kreativ helfen will, ihre Traumata zu verarbeiten.
Eindrücklich, was yafacult.org alles leistet.
Das ist auch bei der ‘Yazour Charitable Society’ so, die wir anschließend besuchen.
Yazour ist ein palästinensisches Dorf, das 1948 schon von den Israeli erobert und
später zerstört wurde. Der Name soll verhindern, dass das Dorf vergessen geht und
erinnert auch an die UNO-Resolution 194, in der das Recht auf Rückkehr oder
Vergütung für palästinensische Flüchtlinge bindend festgelegt worden ist.
Die Organisation betreibt ein medizinisches Ambulatorium - beim Eintreten sitzen vor
allem Frauen im Wartezimmer - und ein ganzheitliches Sozialhilfeprogramm. Im
ersten Stock gehen wir an einer kleinen Schulklasse vorbei, Halbwüchsige lernen in
lockerer doch intensiver Stimmung gerade Französisch.
Also doch Hoffnung? Auch Mahmoud hat davon geredet: Beide Völker sind es doch
schon lange satt, dieses zermürbende, einander fertig machende Leben zu leben, und
wollen ein friedliches Auskommen. Irgendeinmal muss es doch geschehen, ein neuer
Anfang aus diesem unendlichen Gewirr in Israel und Palästina. Und auch wenn alles
noch umgekehrt aussieht - dass es nämlich immer noch schlechter wird: Irgendwann
muss es wenden, irgendetwas Besseres muss einmal kommen. Ganz vage tönt das.
Und doch ist es keine billige Vertröstung. Sondern voller Hoffnung. Hoffnung die den
Mut gibt, dran zu bleiben bei jedem einzelnen Kind und seinen seelischen
Verletzungen.
Seit November 2008 berichten Freiwillige aus dem ökumenischen Begleitprogramm
EAPPI laufend von ihren Erfahrungen als MenschenrechtsbeobachterInnen in
Palästina/Israel im Blog auf fairunterwegs.org. Anfang April konnten von den
geplanten vier SchweizerInnen nur zwei einreisen. Den anderen beiden wurde die
Einreise verweigert.
Autorin dieses Eintrags vom 7.4.2014: Nina Sahdeva, arbeitskreis tourismus &
entwicklung, Basel
Das ‚Yafa Cultural Center‘ im Flüchtlingslager Balata
Das ‚Yafa Cultural Center‘ (Jaffa Kulturzentrum) ist ein gemeinschaftliches Projekt
des Balata Flüchtlingslagers. 1996 durch eine Initiative des Komitees zur Wahrung der
Rechte der Flüchtlinge gegründet, bietet es den Bewohnern eine breite Palette an
Bildungs- und Kreativprogrammen. Die Bewohner von Balata müssen sich zahlreichen
Problemen und Herausforderungen stellen, darunter häuslicher Gewalt, Armut, Drogenkonsum, Arbeitslosigkeit und unzureichender Gesundheitsfürsorge. Die Schulen
des Lagers sind überfüllt, die Analphabetenrate liegt bei 45 Prozent. Zu den mit viel
Engagement von Freiwilligen durchgeführten Programmen zählen Dabke-Tanzgruppen von Jugendlichen, Theatervorführungen und Workshops zur Produktion von
Dokumentarfilmen.
Die Bibliothek für die Kinder des Jaffa Kulturzentrums versorgt Hunderte von
Kindern und Jugendlichen aus Balata. Das Zentrum nahm im April 2014 an der
Nationalen Lesewoche teil, führte Bücherausstellungen, Workshops, Diskussionen und
ein Literaturfestival durch.
Das ‚Palestinian Center For Growth and Human Development‘ – PCGHD 6
(Palästinensisches Zentrum für Wachstum und menschliche Entwicklung)
Das PCGHD versteht sich als unabhängige, gemeinnützige, den Menschenrechten verpflichtete Nichtregierungsorganisation. Es beschäftigt sich in erster Linie mit der
Förderung palästinensischer Kinder im Alter von 5 bis 18 Jahren, um sie zu befähigen,
ihre Zukunft selbst zu gestalten und damit die Zukunft Palästinas.
Das Zentrum bündelt deshalb eine Reihe von Entwicklungsdiensten deren Zielgruppe
diejenigen Kinder sind, die Opfer politischer, familiärer und gesellschaftlicher Gewalt
– einschließlich Gewalt in der Schule – wurden.
Dazu zählen auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen, Kinder die Opfer gesellschaftlicher und geografischer Marginalisierung wurden, aber auch Frauen und Familien
allgemein.
Diese Dienste umfassen psycho-soziale Therapien für die Kinder und ihre Familien,
Bildung und Aufklärung der Kinder über ihre Rechte und die soziale Wiedereingliederung von Kindern, die Schlimmes erlebt haben.
Diese Dienste stehen in engem Kontakt mit den Entscheidungsebenen, damit diese
sich für neue Gesetze zugunsten der Rechte der Kinder einsetzen - und sie auch
umsetzen. Die Achtsamkeit sowohl der Familien als auch der Gesellschaft insgesamt
für diese Kinderrechte soll gesteigert werden.
PCGHD wurde 2002 durch eine Gruppe Freiwilliger, Studierender und Hochschulabsolventen, als Antwort auf die zunehmende Verschlechterung des Menschenrechtsstatus palästinensischer Kinder aller Schichten gegründet.
Der Direktor, Dr. Mohammad Brigieth, sagt dazu:
„Den Zivilisationsgrad einer Gesellschaft kann man nur daran messen, in welchem
Maße sie die Rechte armer und an den Rand gedrängter Gruppen respektiert, sowie
durch die Bereitstellung psycho-sozialer und gesundheitlicher Unterstützung für
Kinder und Frauen, speziell für diejenigen, die ihrer besonders bedürfen, indem man
ihr Recht auf Gesundheit, Bildung, Spiel, normale gesellschaftliche Teilhabe und
allgemeines Wohlbefinden respektiert.“
SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel e.V.
www.salamshalom.ev.de
salamshalom.ak@googlemail.com
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Noam Chomsky
Ungeheuerlich und empörend
1. August 2014
http://de.scribd.com/doc/235726627/Outrage-re-Gaza-by-Noam-Chomsky
Zweierlei Maß
Fast jeder Tag bringt neue Nachrichten von fürchterlichen Verbrechen, aber einige sind
derartig abscheulich, grauenhaft und bösartig, dass sie alles andere in den Schatten stellen.
Einer dieser seltenen Vorfälle ereignete sich am 17. Juli, als Malaysian Airlines MH17 im
Osten der Ukraine abgeschossen und 298 Menschen getötet wurden.
Der Tugendwächter im Weißen Haus brandmarkte dies als eine „Gräueltat unvorstellbaren
Ausmaßes“, die er „russischer Unterstützung“ zuschrieb. Seine UN-Botschafterin donnerte:
„Wenn 298 Zivilisten beim entsetzlichen Abschuß eines Verkehrsflugzeugs getötet werden,
dürfen wir uns bei der Suche nach dem Verantwortlichen durch nichts aufhalten lassen und
ihn seiner gerechten Strafe zuführen“. Darüber hinaus forderte sie Putin auf, die schamlosen
Bemühungen zu beenden, seine eindeutige Verantwortung von sich zu weisen.
Wahr ist, dass „der irritierende kleine Mann“ mit dem „rattenhaften Gesicht“ (Timothy
Garton Ash, britischer Historiker) eine unabhängige Untersuchung gefordert hatte, aber dies
natürlich nur wegen der Sanktionen, die die USA verhängt hatten - das einzige Land, das dazu
den Mut gehabt hatte, während die Europäer sich ängstlich wegduckten.
Auf CNN versicherte der frühere Botschafter in der Ukraine, William Taylor, der Welt, dass
der irritierende kleine Mann „eindeutig verantwortlich für den Abschuß dieses Fluzeugs“ sei.
Wochenlang wurde in Titelgeschichten über den Kummer der Familien berichtet, das Leben
der ermordeten Opfer, die internationalen Bemühungen, an die Leichen heranzukommen, die
Wut über das entsetzliche Verbrechen, das „die Welt schockiert“, wie die Medien in
grausigen Details berichteten.
Jedem informierten Menschen, und ganz gewiß jedem Redakteur und Kommentator, fiel
sofort jenes andere Ereignis ein, als ein Flugzeug mit einem vergleichbaren Verlust an Leben
abgeschossen wurde: Iran Air 655 mit 290 Toten, darunter 66 Kinder, die in iranischem
Luftraum auf einer eindeutig identifizierten kommerziellen Flugroute zum Absturz gebracht
wurde. Dieses Verbrechen wurde weder mit „amerikanischer Unterstützung“ begangen, noch
war sein Urheber je ungewiß. Es war der Lenkwaffenkreuzer USS Vincennes, der im
Persischen Golf in iranischen Gewässern operierte.
Der Kapitän eines in der Nähe kreuzenden US-Schiffs, David Carlson, schrieb in „U.S. Naval
Proceedings“, dass er „es kaum glauben konnte“, als „die Vincennes ihre Absicht bekundete“,
ein eindeutig ziviles Flugzeug anzugreifen. Er vermutete, dass der Lenkwaffenkreuzer „Robo Cruiser“, wie die Vincennes wegen ihres aggressiven Verhaltens genannt wurde -, „das
Bedürfnis hatte, die Funktionstüchtigkeit von Aegis (dem hochentwickelten Flugabwehrsystem des Kreuzers) im Persischen Golf zu beweisen und dass sie sich nach einer
Gelegenheit sehnten, ihr Zeug zu demonstrieren“.
Zwei Jahre später wurde dem Kapitän der Vincennes und dem für die Luftabwehr
verantwortlichen Offizier ein Orden [Legion of Merit award] verliehen für „die
außerordentlich verdienstvolle Ausführung eines hervorragenden Dienstes“ [in the
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performance of outstanding service] und für die „besonnene und professionelle Atmosphäre“
bei der Zerstörung des iranischen Airbus, der in der Auszeichnung nicht erwähnt wurde.
Präsident Ronald Reagan beschuldigte die Iraner und verteidigte die Aktion des
Kriegsschiffs, das „bestehende Anordnungen und breit veröffentlichte Verfahrensweisen“
befolgt habe. Sein Nachfolger, Bush I., erklärte: „Ich werde mich niemals für die Vereinigten
Staaten ent-schuldigen – die Fakten sind mir egal....Ich bin kein Entschuldigt-bitte-AmerikaTyp“.
Kein Abstreiten der Verantwortung hier, wie bei den Barbaren im Osten.
Es gab seinerzeit kaum Reaktionen: keine Empörung, keine verzweifelte Suche nach den
Opfern, keine leidenschaftliche Anprangerung der Verantwortlichen, keine eloquenten Klagen
des US-Botschafters bei der UNO über den „unermeßlichen und herzzerreißenden Verlust“,
als das Flugzeug abgeschossen wurde. Iranische Verurteilungen wurden gelegentlich
registriert, aber als „die üblichen Angriffe auf die Vereinigten Staaten“ (Philip Shenon, New
York Times) abgetan.
Kein Wunder also, dass dieses unbedeutende frühere Ereignis den amerikanischen Medien
jetzt nur hie und da eine Erwähnung wert war während des gewaltigen Aufruhrs wegen eines
wirklichen Verbrechens, in das der teuflische Feind möglicherweise indirekt verwickelt war.
Eine Ausnahme gab es in der Londoner Daily Mail, wo Dominick Lawson schrieb, daß obwohl “Putins Apologeten” den Angriff auf das iranische Flugzeug anführen könnten -, der
Vergleich eher unsere hohen moralischen Werte zeige im Gegensatz zu den erbärmlichen
Russen, die ihre Verantwortung für MH 17 zu leugnen versuchen, während Washington sofort
erklärt habe, dass das US-Kriegsschiff das iranische Flugzeug – zu Recht - abgeschossen
habe. Kann es einen überzeugenderen Beweis für unseren Edelmut und ihre Verworfenheit
geben?
Wir wissen, warum Ukrainer und Russen sich in ihren Ländern befinden, aber man könnte
sich die Frage stellen, was genau die Vincennes in iranischen Gewässern verloren hatte. Die
Antwort ist ganz einfach. Sie verteidigte Washingtons engen Freund Saddam Hussain bei
seiner mörderischen Aggression gegen Iran. Für die Opfer war der Abschuß durchaus keine
kleine Angelegenheit. Er war ein wesentlicher Anstoß zur Einsicht der Iraner, dass man nicht
länger kämpfen könne, so der Historiker Dilip Hiro.
Es lohnt sich, an das Ausmaß von Washingtons Zuneigung für Freund Saddam zu erinnern.
Reagan strich ihn von der Terrorliste, so dass ihm Hilfe zuteil werden konnte, um seinen
Angriff auf Iran zu intensivieren, und später leugnete er, Reagan, dessen fürchterliche
Verbrechen an den Kurden, einschließlich des Einsatzes von chemischen Waffen, und
blockierte die Verurteilung durch den Kongreß. Er gewährte Saddam auch ein Privileg, das
ansonsten nur Israel zugestanden wurde: es gab keine ernsthafte Reaktion, als Irak die USS
Stark mit Raketen angriff, wobei 37 Besatzungsmitglieder umkamen, ganz ähnlich wie im
Fall der USS Liberty, die 1967 wiederholt von israelischen Kampfjets angegriffen wurde,
was 34 Opfer zur Folge hatte.
Reagans Nachfolger, George Bush I., setzte die Hilfe für Saddam fort, die dieser nach dem
Krieg gegen Iran, den er angezettelt hatte, dringend benötigte. Bush lud auch irakische AtomIngenieure in die USA ein zur Fortbildung in der Waffenproduktion. Im April 1990 entsandte
Bush eine hochrangige Senatsdelegation, die vom späteren republikanischen Präsidentschafts9
kandidaten Bob Dole geleitet wurde, um seinem Freund Saddam die wärmsten Grüße zu
übermitteln und ihm zu versichern, dass er die unverantwortliche Kritik in der „arroganten
und verwöhnten amerikanischen Presse“ ignorieren solle und dass derartige Übeltäter bei
Voice of America entlassen worden seien. Die Schmeicheleien gegenüber Saddam gingen
weiter, bis er sich einige Monate später in Hitler verwandelte, weil er Befehle missachtete,
oder sie vielleicht missverstand, und in Kuweit einmarschierte – mit aufschlussreichen
Konsequenzen, die nochmals zu bedenken sich lohnt, auf die ich allerdings hier nicht
eingehen kann.
Andere Fälle waren schon längst als bedeutungslos dem Gedächtnis entschwunden. Ein
Beispiel ist das libysche Verkehrsflugzeug, das 1973 in einem Sandsturm verschwand,
nachdem es von israelischen Kampfflugzeugen aus amerikanischer Produktion abgeschossen
worden war, zwei Flugminuten von Kairo entfernt, wohin es unterwegs war. Es waren in
diesem Fall nur 110 Opfer zu verzeichnen. Israel beschuldigte den französischen Piloten und
wurde von der New York Times unterstützt, die hinzufügte, die israelische Tat sei „im
schlimmsten Fall...eine Rücksichtslosigkeit, die noch nicht einmal mit der Barbarei vorheriger
arabischer Untaten gerechtfertigt werden kann“. Der Zwischenfall wurde in den Vereinigten
Staaten ohne sonderliche Kritik rasch in Schweigen gehüllt. Als die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir vier Tage später in den USA empfangen wurde, hatte sie nur wenige
peinliche Fragen zu gewärtigen und kehrte mit dem Geschenk zusätzlicher Militärflugzeuge
nach Hause zurück.
Die Reaktion war weitgehend die gleiche, als - neben anderen Beispielen - Washingtons
bevorzugte angolanische Terrororganisation UNITA etwa zur gleichen Zeit den Abschuß
zweier Zivilflugzeuge meldete.
Wenden wir uns wieder dem eigentlichen und wahrhaftig horrenden Verbrechen zu. Die New
York Times berichtete, daß die amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power „aus der
Fassung geriet, als sie von den Kindern sprach, die beim Absturz des malaysischen Flugzeugs
in der Ukraine umkamen, [und] der holländische Außenminister, Frans Timmermans, kaum
seinen Ärger unterdrücken konnte, als er die Bilder von ‚Strolchen’ in Erinnerung rief, die
Opfern die Eheringe von den Fingern zogen“.
Bei derselben Sitzung [des Sicherheitsrats], fährt der Bericht fort, habe es „eine lange Aufzählung von Namen und Alter palästinensischer Kinder gegeben, die bei der jüngsten israelischen Gaza-Offensive getötet wurden“. Die einzige Reaktion, die erwähnt wurde, war die
des palästinensischen Gesandten Riyad Mansour, der während der Aufzählung „ganz still
wurde“.
Der israelische Angriff auf Gaza im Juli
rief jedoch Empörung in Washington hervor. Präsident Obama „wiederholte seine ‚scharfe
Verurteilung’ von Raketen- und Tunnelangriffen der militanten Gruppe der Hamas auf
Israel“, wie das Weiße Haus verkündete. Obama „brachte auch seine >wachsende Sorge< zum
Ausdruck wegen der steigenden Zahl ziviler palästinensischer Opfer in Gaza“, aber nicht ,
dass er sie verurteilte. Der Senat füllte diese Lücke, indem er das israelische Vorgehen in
Gaza einstimmig unterstützte, und zugleich „die unprovozierten Raketenangriffe [von Hamas]
auf Israel“ verurteilte und „den Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde,
Mahmoud Abbas,“ aufrief, „die Einheitsregierung mit der Hamas aufzulösen und die Angriffe
auf Israel zu verurteilen“.
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Was den Kongress betrifft, sollten wir uns vielleicht den 80 Prozent der [amerikanischen]
Bevölkerung anschließen, die sein Verhalten missbilligen, obwohl das Wort „missbilligen“ in
diesem Fall eher zu schwach ist. Aber zu Obamas Verteidigung: möglicherweise hat er keine
Ahnung, was Israel in Gaza treibt mit den Waffen, die er ihm freundlicherweise liefert.
Schließlich muß er sich auf den amerikanischen Geheimdienst verlassen, der möglicherweise
zu beschäftigt ist mit dem Sammeln von Telefonaten und E-Mail-Nachrichten der Bürger, als
dass er sich groß mit derartigen Marginalien abgibt.
Es könnte daher sinnvoll sein, sich dessen zu vergewissern, was wir alle wissen sollten.
Israels Ziel war lange ein ganz einfaches: „Ruhe für Ruhe“, eine Rückkehr zur Normalität
(obwohl es jetzt möglicherweise noch mehr verlangt). Was aber ist die Normalität?
Die Normalität im Westjordanland
besteht darin, dass Israel seinen illegalen Bau von Siedlungen und Infrastruktur fortsetzt, um
sich, was immer ihm wertvoll erscheint, einzuverleiben, während es den Palästinensern nicht
lebensfähige Kantone zuweist und sie einer intensiven Unterdrückung und Gewalt unterwirft.
Seit 14 Jahren ist es Normalität, dass Israel jede Woche zwei palästinensische Kinder tötet.
Der jüngste israelische Amoklauf wurde durch den brutalen Mord an drei israelischen Jungen
aus einer Siedlergemeinde im Westjordanland ausgelöst. Einen Monat zuvor waren zwei
palästinensische Jungen im Westjordanland erschossen worden. Dies rief keine Aufmerksamkeit hervor, was verständlich ist, weil es [Besatzungs-]Alltag ist. „Die institutionalisierte
Missachtung des palästinensischen Lebens im Westen hilft, nicht nur den Rückgriff der
Palästinenser auf Gewalt zu begreifen“, berichtet der geachtete Nahost-Analytiker Mouin
Rabbani, „sondern auch Israels jüngsten Angriff auf den Gazastreifen“.
„Ruhe für Ruhe“ hat Israel auch ermöglicht, sein Programm der Trennung Gazas vom
Westjordanland umzusetzen. Dieses Programm ist rigoros vorangetrieben worden, immer mit
amerikanischer Hilfe, seit die USA und Israel die Oslo-Vereinbarungen akzeptierten, in denen
die zwei Landesteile zu einer untrennbaren territorialen Einheit erklärt wurden.
Ein Blick auf die Karte erklärt das Grundprinzip. Gaza stellt Palästinas einzigen Zugang zur
Außenwelt dar. Sind die zwei Teile also getrennt, würde jede Form der Autonomie, die Israel
den Palästinensern im Westjordanland zugestehen könnte, sie effektiv einsperren zwischen
feindlichen Staaten: Israel und Jordanien. Die Einsperrung wird umso schlimmer, als Israel
sein Programm der systematischen Vertreibung der Palästinenser aus dem Jordan-Tal und des
Baus von israelischen Siedlungen dort fortsetzt, während es sich der „Ruhe für Ruhe“ erfreut.
Die Normalität in Gaza
wurde detailliert vom heroischen norwegischen Unfallchirurgen Mads Gilbert beschrieben,
der [in früheren Jahren] während Israels grausamster Verbrechen in Gazas Haupt-Krankenhaus gearbeitet hatte und anlässlich des gegenwärtigen Gemetzels zurückkehrte. Im Juni 2014
übermittelte er einen Bericht über den Gaza-Gesundheitssektor an UNWRA, die UNOOrganisation, die sich ohne nennenswerte Finanzmittel verzweifelt um die Flüchtlinge
kümmert.
„Mindestens 57% der Haushalte in Gaza verfügen nicht über ausreichend Lebensmittel und
etwa 80% sind von Hilfslieferungen abhängig“, so Gilbert. „Nahrungsmittelmangel und
zunehmende Armut bedeuten auch, dass die meisten Menschen nicht ihren täglichen
Kalorienbedarf decken können. Gleichzeitig wird über 90% des Wassers als ungeeignet für
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den menschlichen Konsum eingestuft“, eine Situation, die sich noch verschlimmert, weil
Israel wieder die Wasser- und Abwassersysteme angreift, was für über eine Million Menschen
noch gravierendere Störungen der grundlegenden Lebensvoraussetzungen zur Folge hat.
Gilbert berichtet, dass „palästinensische Kinder fürchterlich leiden. Ein großer Teil von ihnen
ist von menschengemachter Mangelernährung betroffen, die durch Israels Blockade verursacht wird. Die Verbreitung von Anämie bei Kindern unter 2 Jahren beträgt 72,8 Prozent,
während die Verbreitung von Schwindsucht, Unterentwicklung, Untergewicht bei 34,3, 31,4
und 31,45 Prozent liegt.“ Und der Bericht wird fortschreitend immer schlimmer.
Der angesehene Menschenrechtsanwalt Raji Sourani, der seit Jahren brutalen israelischen
Terrors in Gaza ausharrt, berichtet: „Der übliche Satz, den ich zu hören bekam, wenn die
Leute über eine Waffenruhe sprachen, lautet: Es ist für uns alle besser zu sterben, als zu der
Situation zurückzukehren, die wir vor diesem Krieg hatten. Das wollen wir nicht wieder. Wir
haben keine Würde, keinen Stolz; wir sind bloß „weiche Ziele“ und wertlos. Entweder
verbessert sich diese Situation wirklich, oder es ist besser, einfach zu sterben. Ich spreche von
Intellektuellen, Akademikern, von normalen Leuten: alle sagen das.“
Dieser Gedanken ist in Gaza allgemein zu hören: es ist besser, würdevoll zu sterben, als
langsam vom Folterer stranguliert zu werden.
Rückzug aus dem Gazastreifen 2005
Die Pläne für diese Normalität in Gaza wurden unumwunden von Dov Weissglass, einem
Vertrauten von Ariel Sharon erläutert, der den Rückzug israelischer Siedler aus dem Gazastreifen 2005 verhandelte. Dieser Rückzug, der in Israel und von seinen Anhängern und
Irregeleiteten anderswo als großzügige Geste bejubelt wurde, war in Wirklichkeit ein sorgfältig inszeniertes „nationales Trauma“, das von informierten israelischen Kommentatoren
entsprechend lächerlich gemacht wurde, unter ihnen der führende, mittlerweile verstorbene
israelische Soziologe Baruch Kimmerling.
Tatsächlich erkannten israelische Falken, angeführt von Sharon, dass es durchaus Sinn machte, die völkerrechtswidrigen Siedler aus ihren subventionierten Gemeinden im zugrunde gerichteten Gazastreifen, wo sie zu ausufernden Kosten ausgehalten wurden, in subventionierte
Siedlungen in den anderen besetzten Gebieten, die Israel zu behalten gedenkt, zu transferieren. Aber anstatt sie einfach umzusiedeln, was leicht zu bewältigen gewesen wäre, machte es
ganz klar mehr Sinn, der Welt Bilder von kleinen Kindern zu präsentieren, die Soldaten
anflehten, nicht ihre Häuser zu zerstören, inmitten von „Nie-wieder“-Rufen, mit der
unvermeidlichen [Holocaust-]Assoziation. Was diese Farce noch durchschaubarer machte,
war die Wiederholung des inszenierten Traumas von 1982, als Israel den ägyptischen Sinai
räumen musste. Aber sie war sehr wirkungsvoll für das anvisierte Publikum zu Hause und im
Ausland.
Weissglass lieferte seine eigene Sicht des Siedlertransfers: „Mit den Amerikanern habe ich
mich klipp und klar darauf geeinigt, dass über die größeren Siedlungsblöcke des Westjordanlandes überhaupt nicht verhandelt wird, und über den Rest wird verhandelt, wenn die
Palästinenser zu Finnen geworden sind“ – aber zu einer speziellen Sorte von Finnen, die die
Herrschaft einer fremden Macht hinnehmen würde. „Die Bedeutung [dieser Vereinbarung]
besteht im Einfrieren des politischen Prozesses“, fuhr Weisglass fort. „Und solange er
eingefroren ist, kommt es nicht zur Bildung eines palästinensischen Staates und auch nicht zu
einer Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Kurz, das ganze Paket
namens „Palästinensischer Staat“ - mit allem was dazugehört - ist für unbegrenzte Zeit von
der Tagesordnung. Und all dies mit der Autorität und der Erlaubnis des amerikanischen
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Präsidenten [George W. Bush] und der Absegnung durch beide Häuser des [amerikanischen]
Kongresses.“
Weissglass erläuterte weiter, dass die Gaza-Bewohner „auf Diät“ bleiben sollten, „aber so,
dass sie nicht Hungers sterben müssen“ – was Israels verblassender Reputation nicht helfen
würde. Mit ihrer vielgepriesenen technischen Effizienz bestimmten israelische Experten ganz
genau, wie viele Kalorien pro Tag die Menschen in Gaza zum nackten Überleben benötigen.
Gleichzeitig wurden ihnen Arznei- und andere Mittel für ein anständiges Leben vorenthalten.
Das israelische Militär sperrte sie – so ganz richtig der britische Premierminister David
Cameron – in ein Gefangenenlager, das von Land, Luft und See her verschlossen ist. Der
israelische Rückzug ließ Israel die totale Kontrolle über Gaza, folglich bleibt Israel gemäß
Völkerrecht Besatzungsmacht. Und um die Gefängnismauern noch undurchdringlicher zu
machen, versperrte Israel den Palästinensern einen breiten Streifen längs der Grenze, der ein
Drittel des knappen nutzbaren Bodens umfasst. Die Rechtfertigung dafür ist Israels Sicherheit,
die genauso erreicht werden könnte durch die Errichtung dieser Sicherheitszone auf der
israelischen Seite der Grenze, oder noch besser: durch die Beendigung der barbarischen
Besatzung und anderer Strafmaßnahmen.
Die offizielle Version lautet, dass die Palästinenser, nachdem Israel ihnen huldvoll Gaza übergeben habe, in der Hoffnung, dass sie ein blühendes Gemeinwesen errichten würden, ihre
wahre Natur zeigten, indem sie Israel unaufhörlichen Raketenangriffen aussetzten und die
eingesperrte Bevölkerung zwangen, Märtyrer zu werden, nur um Israel in ein schlechtes Licht
zu rücken.
Die Wirklichkeit sieht allerdings ziemlich anders aus.
Wahlsieg der Hamas in den besetzten Gebieten 2006
Wenige Wochen nach dem Truppenrückzug, der – wie gesagt - die Besatzung keineswegs
beendete, begingen die Palästinenser ein schweres Verbrechen. Im Januar 2006 wählten sie
bei einer sorgfältig überwachten Wahl „falsch“ und bescherten der Hamas die Mehrheit im
Parlament. Die Medien werden nicht müde zu betonen, dass die Hamas sich zum Ziel gesetzt
hat, Israel zu zerstören. In Wirklichkeit haben ihre Führer wiederholt und explizit klargestellt,
dass Hamas eine Zwei-Staaten-Lösung gemäß dem internationalen Konsens akzeptiert, der
seit 40 Jahren von den USA und Israel unterlaufen wird. Im Gegensatz dazu hat Israel – abgesehen von gelegentlichen bedeutungslosen Worten - sich zum Ziel gesetzt, Palästina zu
zerstören, und dieses Ziel verfolgt es beharrlich.
Es ist wahr, Israel hat die von Präsident Bush initiierte Road Map akzeptiert, die zur ZweiStaaten-Lösung führen sollte. Sie wurde vom [Nahost-]Quartett - USA, EU, UNO und Rußland – übernommen, das die Aufsicht über ihre Realisierung übernahm. Aber bei der Annahme der Road Map fügte Premierminister Sharon ihr 14 Einschränkungen hinzu, die sie praktisch aufhoben. Diese Fakten waren Aktivisten bekannt, aber einer breiteren Öffentlichkeit
wurden sie erst durch Jimmy Carters Buch „Palästina: Frieden, nicht Apartheid“ enthüllt. In
Medien-Bericht-erstattung und Kommentaren werden sie weitgehend totgeschwiegen.
Das seit 1999 unveränderte Programm von Israels regierender Partei, Netanyahus Likud,
„lehnt die Errichtung eines palästinensischen arabischen Staates westlich des Jordans
entschieden ab“. Und für diejenigen, die zwanghaft auf bedeutungslosen Chartas herumreiten:
der Kern des Likud, Menahem Begins Cherut-Partei, muß sich immer noch von ihrer
Gründungsdoktrin verabschieden, nämlich dass das Territorium auf beiden Seiten [!] des
Jordans Teil des Landes Israel ist.
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Das „Verbrechen“ der Palästinenser vom Januar 2006 wurde sofort bestraft. Die USA und
Israel, Europa schändlicherweise im Schlepptau, verhängten harte Sanktionen gegen die
irregeleitete Bevölkerung, und Israel verschärfte seine Gewaltpolitik. Bis zum Juni [2006], als
die Angriffe eskalierten, hatte Israel bereits mehr als 7700 (155 mm) Granaten auf den
Norden des Gazastreifens abgeschossen.
Geplanter Militärputsch gegen die gewählte Hamas 2007
Die USA und Israel entwickelten rasch Pläne für einen Militärputsch, um die gewählte Regierung zu stürzen. Als die Hamas die Frechheit besaß, diese Pläne zu vereiteln, wurden die israelischen Angriffe und die Belagerung erheblich intensiviert. Gerechtfertigt wurde dies mit der
Behauptung, dass Hamas den Gazastreifen gewaltsam übernommen habe – was nicht gänzlich
falsch ist. Allerdings wird dabei die entscheidende Tatsache [des geplanten Putsches]
unterschlagen.
Es erübrigt sich wohl, die schauerliche Bilanz der Ereignisse noch einmal Revue passieren zu
lassen. Die erbarmungslose Belagerung und die barbarischen Angriffe werden unterbrochen
durch Phasen des „Rasenmähens“, um Israels neckischen Ausdruck für seine periodischen
Übungen im „Fische-imTeich-Schießen“ zu verwenden, während des von ihm so genannten
„Verteidigungskriegs“. Sobald der Rasen gemäht ist und die verzweifelte Bevölkerung sich
irgendwie von der Verwüstung und den Morden zu erholen versucht, gibt es einen Waffenstillstand. Solche Waffenstillstände wurden, wie Israel selber zugibt, von der Hamas
regelmäßig eingehalten, bis Israel sie mit erneuter Gewalt verletzte.
Der jüngste Waffenstillstand
wurde nach Israels Angriff im November 2012 geschlossen. Obwohl die Besatzungsmacht
ihre verheerende Belagerung aufrecht erhielt, hielt sich Hamas an die vereinbarte Waffenruhe,
wie israelische Offizielle zugeben. Die Situation änderte sich im Juni, als Fatah und Hamas
ein Einheitsabkommen beschlossen, das zur Bildung einer neuen Regierung von
Technokraten ohne [personelle] Beteiligung von Hamas führte und sämtlichen Forderungen
des Nahost-Quartetts nachkam. [1] Israel war natürlich erbost, um so mehr, als sogar die USA
ihre Zustimmung signalisierten. Das Einheitsabkommen unterlief nicht nur Israels
Behauptung, es könne nicht mit einem gespaltenen Palästina verhandeln, sondern stellte auch
Israels langfristiges Ziel in Frage, Gaza vom Westjordanland zu trennen und seine destruktive
Politik in beiden Regionen fortzusetzen.
Israels achtzehntägiger Amoklauf im Westjordanland
Irgendwas musste geschehen, und eine Gelegenheit dazu bot sich kurz darauf, als die drei
israelischen „Jungen“ im Westjordanland umgebracht wurden. Die Netanyahu-Regierung
wusste zwar sofort, dass sie tot waren, gab dies aber nicht zu, was Anlaß für einen Amoklauf
lieferte, der auf Hamas abzielte. Netanyahu behauptete, über sicheres Wissen zu verfügen,
dass Hamas verantwortlich sei. Auch dies war eine Lüge, die schon frühzeitig als solche
erkannt wurde. Es gab nicht einmal die Vortäuschung eines Beweises. Einer von Israels
führenden Hamas-Experten, Shlomi Eldar, berichtete fast sofort, dass die Mörder vermutlich
einem dissidenten Clan in Hebron entstammen, der lange schon ein Stachel im Fleisch der
Hamas ist. Eldar fügte hinzu: „Ich bin mir sicher, dass sie kein grünes Licht von der Führung
der Hamas bekommen haben. Sie dachten halt, dass die Zeit zu handeln gekommen sei.“ Die
israelische Polizei sucht seither nach zwei Mitgliedern des Clans, und behauptet immer noch ohne Beweis -, es seien „Hamas-Terroristen“.
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Mit dem 18-tägigen Amoklauf gelang es indes, die gefürchtete Einheitsregierung zu unterminieren und die israelische Repression zu verschärfen. Nach Angaben des israelischen
Militärs nahmen israelische Soldaten 419 Palästinenser fest, darunter 335 Hamas-Angehörige,
und töteten sechs Palästinenser. Darüber hinaus durchsuchten sie Tausende Objekte und
konfiszierten Bargeld und Eigentum im Werte von 3 Millionen Dollar [2]. In Gaza wurden
Dutzende Angriffe durchgeführt, wobei allein am 7. Juli 5 Hamas-Mitglieder ermordet
wurden.
Der Angriff auf den Gaza-Streifen: Operation “Protective Edge”
Schließlich reagierte Hamas mit den ersten Raketen seit 19 Monaten - so offizielle israelische
Stellen -, die Israel den Vorwand lieferten für Operation Protective Edge [etwa „Schützende
Front“] am 8. Juli.
Es gab Berichte im Überfluß von den Heldentaten der selbsternannten „moralischsten Armee
der Welt“, die - so der israelische Botschafter in den USA - den Friedensnobelpreis verdient
hätte. Bis Ende Juli waren etwa 1500 Palästinenser umgebracht worden, was die Opferzahl
der „Geschmolzenes Blei“-Verbrechen [2008/9] überstieg. 70 % davon waren Zivilisten,
darunter Hunder-te Frauen und Kinder. Und 3 Zivilisten in Israel. Weite Bereiche des
Gazastreifens liegen in Trümmern. Während kurzer Bombardierungspausen suchen
Angehörige verzweifelt zerfetzte Leichen oder Haushaltsgegenstände in den Ruinen ihrer
Häuser. Das Hauptkraftwerk wurde angegriffen – nicht zum ersten Mal, das ist eine
israelische Spezialität -, was die ohnehin eingeschränkte Stromzufuhr radikal drosselte und,
schlimmer noch, die minimale Verfügbarkeit von Trinkwasser noch einmal verringerte. Ein
weiteres Kriegsverbrechen. Währenddessen wurden Rettungsmannschaften und Krankenwagen wiederholt angegriffen. Obwohl die Gräueltaten überall im Gazastreifen zunahmen,
behauptete Israel, sein Ziel sei die Zerstörung der Tunnel an der Grenze.
Vier Krankenhäuser wurden angegriffen, jeweils ein weiteres Kriegsverbrechen. Das erste
war das Al-Wafa-Rehabilitationszentrum in Gaza-Stadt, das am Tag, als die Bodentruppen in
das Gefängnis Gaza eindrangen, attackiert wurde. Ein paar Zeilen in der New York Times, in
einer Reportage über den Beginn der Bodenoffensive, berichteten, „dass die meisten, aber
nicht alle 17 Patienten und Ärzte und Pflegekräfte evakuiert wurden, bevor der Strom ausfiel
und schwere Bombardierungen das Gebäude weitgehend zerstörten. Ärzte erzählten: „Wir
haben sie unter Beschuß evakuiert.“ Und Dr. Ali Abu Ryala, ein Krankenhaussprecher:
„Krankenschwestern und Ärzte mussten die Patienten auf ihrem Rücken hinaustragen, einige
fielen die Treppen hinunter. Es herrschte eine beispiellose Panik im Krankenhaus.“
Dann wurden drei Krankenhäuser, die noch in Betrieb waren, angegriffen, Patienten und
Personal waren bei der Flucht sich selbst überlassen. Ein israelisches Verbrechen wurde
allgemein verurteilt: der Angriff auf eine UNO-Schule, die 3300 verängstigte Flüchtlinge
aufgenommen hatte, die auf Befehl der israelischen Armee den Ruinen ihrer Wohnviertel
entflohen waren. Der empörte UNWRA-General-Kommissar Pierre Kraehenbuehl meinte:
„Ich verurteile diese schwere Verletzung des Völkerrechts durch israelische Streitkräfte auf
das Schärfste....Die Welt steht heute beschämt da.“ Es gab mindestens drei Angriffe auf den
UN-Schutzraum, der den Israelis wohlbekannt war. „Die präzise Lokalisierung der JabaliaGrundschule für Mädchen und die Tatsache, dass Tausende Flüchtlinge dort Unterschlupf
gefunden hatten, waren der israelischen Armee 17 mal übermittelt worden, um ihren Schutz
sicherzustellen “, sagte Kraehenbuehl, „das letzte Mal um 10 vor 9 gestern Nacht, nur wenige
Stunden vor dem tödlichen Beschuß.“
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Der Angriff wurde auch „in den schärfstmöglichen Worten“ vom üblicherweise eher zurückhaltenden UNO-Generalsekretär, Ban Ki-moon, verurteilt: „Nichts ist schändlicher, als
schlafende Kinder anzugreifen.“ Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die US-Botschafterin bei
der UNO diesmal „aus der Fassung geriet, als sie von den Kindern sprach, die [bei dem
israelischen Angriff] umkamen“ – oder überhaupt beim Angriff auf den Gazastreifen.
Aber die Sprecherin des Weißen Hauses reagierte tatsächlich: „Wir sind extrem besorgt, dass
Tausende von Flüchtlingen, die vom israelischen Militär aufgerufen worden waren, ihre
Häuser zu verlassen, in den von der UNO ausgewiesenen Schutzräumen nicht sicher sind. Wir
verurteilen auch jene, die dafür verantwortlich sind, dass Waffen in UN-Anlagen versteckt
wurden“, fügte sie hinzu, wobei sie zu erwähnen vergaß, dass diese Anlagen leer waren und
die Waffen vom UNWRA-Personal gefunden wurden, die diejenigen verurteilten, die sie dort
versteckt hatten.
Später stimmte die [amerikanische] Regierung ein in schärfere Verurteilungen dieses
besonderen Verbrechens – während sie gleichzeitig weitere Waffenlieferungen an Israel
freigab. Dabei meinte Pentagon-Sprecher Steve Warren jedoch gegenüber Reportern: „Es ist
klar, dass die Israelis mehr tun müssen, um ihren hohen Maßstäben zum Schutz von Zivilisten
gerecht zu werden – den hohen Maßstäben, die sie während vieler Jahre beim Einsatz von
amerikanischen Waffen immer an den Tag gelegt haben, so wie auch heute wieder.“
Angriffe auf UN-Einrichtungen, die Flüchtlinge beherbergen, ist eine weitere israelische
Spezialität. Ein berüchtigter Fall ist die israelische Bombardierung des eindeutig identifizierten UN-Flüchtlingslagers in Qana [1996] während der mörderischen „Grapes-of-Wrath“
[Früchte des Zorns]-Kampagne der Simon Peres-Regierung, bei der 118 libanesische Zivilisten getötet wurden, die dort Zuflucht gesucht hatten, unter ihnen 52 Kinder. Selbstverständlich ist Israel nicht allein mit dieser Praxis. Zwanzig Jahr zuvor hatte sein südafrikanischer Alliierter einen Luftschlag tief nach Angola hinein auf Cassinga verübt, ein Flüchtlingslager, das von der namibischen Widerstandsbewegung SWAPO betrieben wurde.
Israelische Regierungsvertreter rühmen die Humanität ihrer Armee, die so weit gehe, dass
Bewohner vorher informiert werden, wenn ihr Haus zerbombt wird. Diese Praxis sei „scheinheilig als Barmherzigkeit verkleideter Sadismus“, so die israelische Journalistin Amira Hass.
„Eine aufgezeichnete Botschaft, die Hunderttausende Menschen auffordert, ihre bereits ins
Fadenkreuz geratenen Häuser zu verlassen für einen anderen, 10 Kilometer entfernten,
gleichermaßen gefährlichen Ort.“ Tatsächlich gibt es [in Gaza] keinen vor Israels Sadismus
geschützten Ort.
Für manche Menschen ist es schwierig, aus Israels Fürsorglichkeit Nutzen zu ziehen. Ein
Appell an die Welt von der Katholischen Kirche Gazas zitiert einen Priester, der die
verzweifelte Lage der im „Haus Christi“ lebenden Insassen schildert, einem Pflegeheim für
behinderte Kinder. Weil die Gegend zum Zielobjekt der israelischen Armee wurde, quartierte
man sie um in die „Kirche der Heiligen Familie“. Aber jetzt, schreibt er, habe „die Kirche
Gazas einen Evakuierungsbefehl bekommen. Sie werden die Zeitun-Gegend bombardieren,
und die Menschen fliehen bereits. Das Problem ist, dass Bruder George und die drei Nonnen
des Mutter-Teresa-Ordens 29 behinderte Kinder und neun alte Damen, die sich nicht bewegen
können, in ihrer Obhut haben. Wie sollen sie es schaffen zu fliehen? Wenn irgendjemand
einen Menschen mit Einfluß kennt, soll er bitte etwas unternehmen.“
Das sollte in der Tat nicht so schwer sein. Israel hat dem Wafa-Rehabilitationszentrum die
entsprechende Anweisung schon zukommen lassen, und glücklicherweise intervenieren
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zumindest einige Staaten bereits, so gut sie können. Fünf lateinamerikanische Länder –
Brasilien, Chile, Ecuador, El Salvador und Peru – haben ihre Botschafter aus Israel zurückgerufen. Sie folgten dem Kurs Boliviens und Venezuelas, die als Reaktion auf vorhergehende
Verbrechen Israels die Beziehungen zu ihm abgebrochen haben. Dieses prinzipientreue
Verhalten ist ein weiteres Zeichen des bemerkenswerten Wandels in den internationalen
Beziehungen, da ein Großteil der Länder Lateinamerikas sich von der westlichen
Vorherrschaft zu befreien beginnt und dabei denen gegenüber zuweilen ein Vorbild
zivilisierten Verhaltens abgibt, die sie 500 Jahre lang unter Kontrolle hielten.
Die erwähnten hässlichen Enthüllungen riefen allerdings beim „moralischsten Präsidenten der
Welt“ eine andere Reaktion hervor, die übliche: große Sympathie für die Israelis, scharfe
Verurteilung der Hamas und Aufrufe zur Mäßigung an beide Seiten. In seiner Pressekonferenz vom 1. August brachte er tatsächlich seine Sorge um die Palästinenser zum Ausdruck,
„die ins Kreuzfeuer geraten sind“ (wo bitte?), während er wiederum das Recht Israels vehement unterstützte, sich zu verteidigen – so wie jeder andere Staat auch. Allerdings nicht jeder
– die Palästinenser natürlich nicht. Sie haben kein Recht, sich zu verteidigen. Allemal nicht,
wenn Israel sich gut benimmt und sich an den Grundsatz „Ruhe für Ruhe“ hält und ihnen ihr
Land raubt, sie aus ihren Häusern vertreibt, einer barbarischen Belagerung unterwirft und sie
regelmäßig mit den vom Schutzherrn gelieferten Waffen angreift.
Die Palästinenser sind, so wie die Schwarzafrikaner, die namibischen Flüchtlinge im
Cassinga-Lager zum Beispiel, alles Terroristen, für die das Selbstverteidigungsrecht nicht gilt.
Ein 72-stündiger Waffenstillstand sollte am 1. August in Kraft treten. Kaum hatte er begonnen, brach er schon zusammen. Während ich dies schreibe, wenige Stunden später, gibt es
widersprüchliche Berichte, und einiges bleibt unklar. Nach einer Pressemitteilung des Al
Mezan-Zentrums für Menschenrechte in Gaza, das für seine Zuverlässigkeit bekannt ist, hörte
einer seiner Mitarbeiter in Rafah, an der ägyptischen Grenze, um 8.05 Uhr israelisches
Artilleriefeuer. Nach Berichten, dass ein israelischer Soldat in Gefangenschaft geraten sei,
begann gegen 9.30 Uhr ein schweres Luft- und Artilleriebombardement Rafahs mit
wahrscheinlich Dutzenden von Toten und Hunderten Verletzten, die nach Hause
zurückgekehrt waren, nachdem der Waffenstillstand in Kraft getreten war; bisher liegen
allerdings keine bestätigten Zahlen vor.
Am Tag zuvor, am 31. Juli, hatte das Coastal Water Utility, das einzige Wasserwerk im
Gazastreifen, verkündet, dass es wegen Treibstoffmangels und häufiger Angriffe auf sein
Personal kein Wasser oder sanitäre Dienste mehr zur Verfügung stellen könne.
Al Mezan berichtet, dass „fast sämtliche Gesundheitsdienste eingestellt wurden wegen
Mangels an Wasser, an Müllbeseitigung und Umweltschutzmaßnahmen. Auch die UNWRA
hat vor der Gefahr unmittelbar bevorstehender Verbreitung von Krankheiten aufgrund des
Wassermangels und des Zusammenbruchs des Abwassersystems gewarnt“. In der Zwischenzeit töteten und verwundeten israelische Flugzeug-Raketen am Vorabend des Waffenstillstands überall im Gazastreifen immer mehr Menschen.
Und wie weiter?
Israel hofft, wenn die gegenwärtige Phase des Sadismus schließlich beendet ist - wann auch
immer das sein wird -, seine kriminelle Politik in den besetzten Gebieten ohne
Beeinträchtigung fortsetzen zu können, und dies mit amerikanischer Unterstützung, derer es
sich in der Vergangenheit stets erfreute: in militärischer, ökonomischer, diplomatischer und
auch in ideologischer Hinsicht, weil sich amerikanische und israelische Interpretation der
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Kernfragen decken. Die Menschen im Gazastreifen werden in ihrem von Israel betriebenen
Gefängnis zur „Normalität“ zurückkehren dürfen, während sie im „friedlichen“
Westjordanland zuschauen können, wie Israel langsam zerstört, was von ihrem Besitz noch
übrig geblieben ist.
Das ist das wahrscheinliche Ergebnis, falls die USA ihre entscheidende und wahrlich einseitige Unterstützung für Israels Verbrechen sowie ihre Zurückweisung des seit langem
bestehenden internationalen Konsenses für eine diplomatische Regelung des Konflikts
aufrechterhalten.
Ganz anders allerdings wird die Zukunft aussehen, wenn die USA diese Unterstützung
zurückziehen. In diesem Fall wäre es tatsächlich möglich, zu einer „nachhaltigen Lösung“ für
Gaza zu kommen, zu der Außenminister Kerry aufrief, was auf hysterische Ablehnung in
Israel stieß, denn diese Formulierung könnte als Aufruf zur Beendigung der israelischen
Belagerung Gazas und der regelmäßigen Angriffe interpretiert werden. Und sie könnte – was
für eine Horrorvorstellung! – verstanden werden als Aufruf zur Respektierung des
Völkerrechts in den besetzten Gebieten.
Nun ist es keineswegs so, dass Israels Sicherheit durch Beachtung des Völkerrechts bedroht
würde. Sie würde höchstwahrscheinlich sogar erhöht. Aber wie vor 40 Jahren der israelische
General Ezer Weizman, der spätere Präsident, erklärte, könnte Israel dann nicht mehr „mit
den hohen Werten, dem Geist und der Qualität, für die es jetzt steht, weiterexistieren“.
Es gab ähnliche Fälle in der jüngeren Geschichte. Indonesische Generäle schworen, dass sie
niemals aufgeben würden, was der australische Außenminister Gareth Evans „die
indonesische Provinz Ost-Timor“ nannte, während er ein Geschäft zum Diebstahl
timoresischen Öls abschloß. Und solange die indonesischen Generäle auf die jahrzehntelange
amerikanische Unterstützung zählen konnten, war ihr Ziel durchaus realistisch. Schließlich
aber bedeutete Präsident Clinton ihnen, unter beträchtlichem innenpolitischen und
internationalem Druck, sang- und klanglos, dass das Spiel vorbei sei, und sie zogen sich
umgehend zurück – während Evans sich seiner neuen Karriere als lautstarker Apostel der
„Schutzverantwortung“ [„Responsibility to protect“] zuwandte, die selbstverständlich so
konzipiert wurde, dass sie den westlichen Rückgriff auf Gewalt nach Belieben erlaubt.
Ein weiterer relevanter Fall in diesem Zusammenhang ist Südafrika. 1958 teilte der
südafrikanische Außenminister den USA mit, solange die amerikanische Unterstützung
andauere, habe es nichts weiter zu bedeuten, daß sein Land zu einem Paria-Staat geworden
sei. Seine Einschätzung erwies sich als ziemlich zutreffend. 30 Jahre später war Ronald
Reagan der letzte bedeutende Realitätsverweigerer, der das Apartheid-Regime unterstützte,
das immer noch durchhielt. Innerhalb weniger Jahre schloß sich Washington dann allerdings
der übrigen Welt an, und das Regime brach zusammen – natürlich nicht aus diesem Grund
allein. Ein entscheidender Faktor war die bemerkenswerte Rolle, die Kuba bei der Befreiung
Afrikas spielte, was im Westen allgemein ignoriert wird, nicht allerdings in Afrika.
Vor 40 Jahren fällte Israel die verhängnisvolle Entscheidung, die Expansion der Sicherheit
vorzuziehen, indem es den umfassenden Friedensvertrag zurückwies, den Ägyptens
Präsident Sadat für den Rückzug vom Sinai angeboten hatte, wo Israel intensive Siedlungsund Entwicklungsprojekte begonnen hatte. Es hält bis heute an dieser Politik fest, auf der
Basis derselben Einschätzung wie Südafrika 1958.
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Im Falle Israels wären die Auswirkungen, wenn die USA sich dem Rest der Welt anschlössen,
bedeutend größer. Im Zweifel setzt sich das tatsächliche Machtverhältnis durch, was sich
immer wieder zeigte, wenn Washington von Israel verlangte, langgehegte Zielvorstellungen
aufzugeben. Darüber hinaus kann Israel gegenwärtig auf wenig zurückgreifen, nachdem es
sich einer Politik verschrieben hat, die es von einem höchst bewunderten zu einem
gefürchteten und verachteten Land gemacht hat, ein Kurs, den es heute mit blinder
Zielstrebigkeit verfolgt, auf dem entschlossenen Marsch zu moralischem Verfall und
letztendlich möglichem Untergang.
Könnte die Politik der USA sich ändern?
Unmöglich ist das nicht. Die öffentliche Meinung hat sich in den letzten Jahren erheblich
gewandelt, besonders unter den jungen Menschen, und das kann nicht völlig ignoriert werden.
Seit einigen Jahren gibt es eine solide Basis für die öffentliche Forderung, dass Washington
seine eigenen Gesetze einhalten und die Militärhilfe für Israel aussetzen solle. Das US-Gesetz
verlangt, dass „keinem Land Sicherheitsbeistand geleist wird, dessen Regierung einem
durchgängigen Muster grober Verletzungen international anerkannter Menschenrechte folgt“.
Israel macht sich dieser Verletzungen zweifelsfrei und seit langen Jahren schuldig. Deshalb
hat Amnesty International während Israels mörderischer Operation „Geschmolzenes Blei“
[„Cast Lead“] in Gaza zu einem Waffenembargo gegen Israel (und Hamas) aufgerufen.
Senator Patrick Leahy, Autor dieser gesetzlichen Bestimmung, hat ihre mögliche
Anwendbarkeit auf Israel in bestimmten Fällen thematisiert, und mit gut geführten,
organisierten und aktivistischen aufklärerischen Anstrengungen ließen sich solche Initiativen
erfolgreich realisieren. Dies könnte eine sehr bedeutsame Wirkung in sich selbst haben und
gleichzeitig ein Sprungbrett für weitere Aktionen nicht nur zur Bestrafung Israels für sein
verbrecherisches Verhalten sein, sondern auch Washington nötigen, selbst Teil „der
internationalen Gemeinschaft“ zu werden und das Völkerrecht sowie menschlichen Anstand
und moralische Prinzipien zu beachten.
Nichts könnte den tragischen palästinensischen Opfern so vieler Jahre der Gewalt und der
Unterdrückung gerechter werden.
Anmerkungen:
[1] 1. Anerkennung Israels 2. Gewaltverzicht 3. Anerkennung geschlossener Verträge
[2] http://www.inamo.de/index.php/israel-palaestina-beitrag-lesen/items/israelisches-militaer-stiehlt-3-mio-usdollar-und-eigentum-von-palaestinensern-in-der-westbank.html
Quelle: http://de.scribd.com/doc/235726627/Outrage-re-Gaza-by-Noam-Chomsky
Übersetzung: Jürgen Jung
Redaktion: Eckhard Lenner
SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel e.V.
www.salamshalom-ev.de
salamshalom.ak@gmail.com
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Textauszug zur Gaza-Problematik
aus dem Hörbuch von Jürgen Jung:
„Söldner gegen die Zukunft“
Hörbild zum Zionismus
[Anmerkung des Autors:
Da es sich um den Text aus einem Hörbuch handelt, finden sich hier keine
Anmerkungen und Quellenangaben. Der Leser darf versichert sein, dass all das hier
Zusammengestellte sorgfältig recherchiert und zitiert wurde.]
Der 1994 verstorbene Naturwissenschaftler und Religionsphilosoph Yeshayahu
Leibowitz - der israelische Staatspräsident Ezer Weizman nannte ihn „eine der
größten Gestalten im Leben des jüdischen Volkes und des Staates Israel in den
letzten Generationen.“
Leibowitz fasste die israelische Politik gegenüber den Arabern im November 1973
folgendermaßen zusammen. Seit der Staatsgründung...
“Seit 25 Jahren haben wir uns nicht um Frieden bemüht – alle dahingehenden
Erklärungen waren nie mehr als blumige Behauptungen oder bewusste Lügen.... Es
muss .... betont werden, dass wir nicht nur keine Versuche unternommen haben,
Frieden zu erreichen, sondern bewusst und vorsätzlich jede Möglichkeit dazu
sabotiert haben.... Die Richtschnur unserer Politik war immer die Vorstellung, dass
eine permanente Situation des Nicht-Friedens und ein latenter Krieg für uns das
Beste ist, und dass dies unter allen Umständen so bleiben muß.... Wir werden Jahr
für Jahr stärker in dieser Situation des drohenden Krieges, in der es immer möglich
ist, dass von Zeit zu Zeit Kämpfe ausbrechen.
Solche Kriege werden normalerweise kurz sein und das Ergebnis wird von
vornherein feststehen, da die Lücke zwischen uns und den Arabern sich ständig
vergrößert. Auf diese Weise schreiten wir voran von Besetzung zu Besetzung ...
Diese kriminelle und bösartige Politik hat uns in die Krise geführt, in der wir jetzt
stecken.“
Yeshayahu Leibowitz - 1973!
20 Jahre später sagte er – in einem Spiegel-Interview -, dass die Gewalt das
Bewußtsein und die Gesellschaft Israels korrumpiere. Insofern seien Israels
demokratische Fundamente in Gefahr:
(Seit unserem Sieg im Sechstagekrieg 1967) –
- den er an anderer Stelle als historische Katastrophe für Israel bezeichnet hatte –
Seit 1967 halten wir Millionen Palästinenser in unserer Gewalt, denen alle
bürgerlichen und politischen Rechte geraubt worden sind. Ist das Demokratie? Dann
war Südafrika in der Vergangenheit auch eine Demokratie - schließlich gab es für die
fünf Millionen Weißen dort freie Wahlen.“
Zur in Israel gängigen Infragestellung der Palästinenser als Volk meinte er:
„Der Slogan: Es gibt kein palästinensisches Volk, - so etwa die israelische
Ministerpräsidentin Golda Meir - „...dieser Slogan bedeutet Völkermord! Nicht im
20
Sinne einer physischen Vernichtung des palästinensischen Volkes, sondern im Sinne
der Vernichtung einer nationalen oder politischen Einheit.“
Im übrigen:
“Israel ist kein Staat, der eine Armee unterhält, es ist eine Armee, die einen Staat
besitzt.“
Das Kernproblem formulierte er in einer Auseinandersetzung mit Ben-Gurion so:
“Ben-Gurion war sehr zornig auf mich, als ich ihm erklärte, seine Betonung der
Staatlichkeit werde zwangsläufig zum Faschismus ausarten...Er verstand nicht, dass
man auf einen Hitler, wenigstens aber auf einen Mussolini zusteuert, wenn man den
Staat zum höchsten Wert erklärt.“
Soweit Yeshayahu Leibowitz.
Schon 1961 hatte Martin Buber in einem Aufsatz für die hebräische Zeitschrift Ner
(= die Kerze) gleich mehrere zionistisch-israelische Mythen radikal in Frage gestellt:
„Nur eine innere Revolution kann die Kraft haben, unser Volk von seiner
mörderischen Krankheit grundlosen Hasses zu heilen....Dann erst werden die Alten
wie die Jungen in unserem Land erkennen, wie groß ihre Verantwortung für das
Elend der arabischen Flüchtlinge ist, in deren Städten wir Juden angesiedelt haben,
die von weit her gebracht wurden; deren Häuser wir geerbt haben, auf deren Feldern
wir jetzt säen und ernten; deren Früchte aus Gärten und von Weinbergen wir
einsammeln; und in deren Städten, die wir geraubt haben, wir Häuser der Erziehung,
wohltätiger Einrichtungen und des Gebets errichten, während wir herumfaseln, dass
wir „das Volk des Buches“ und „das Licht für die Völker“ seien.“
ERICH FRIED: DAS BITTERE
Du willst mich nicht hören
denn du willst dir nicht rauben lassen
das von dem ich dir sage
es ist ein Unrecht.
Glaubst du ich sage es leichthin
und ohne Zögern?
Glaubst du es macht mir Spaß
gegen Menschen zu sprechen
von denen viele nur
durch Verfolgung und durch Verzweiflung
auf den Irrweg getrieben wurden
auf dem sie verrannt sind?
Glaubst du es ist sehr leicht
zu rufen in alle vier Winde
daß einige meiner Verwandten
die der SS entgingen
das Tun ihrer Mörder
zu ihrem Vorbild nahmen?
Ich sage das fast so ungern
wie du es hörst
21
Die Frühgeschichte des israelischen Staates wurde hier [im Hörbuch!]
einigermaßen ausführlich thematisiert, weil die damals auf der Basis einer
exklusionistischen und expansiven Ideologie vorgenommenen Entscheidungen und
Festlegungen nach wie vor die Politik des Landes dominieren.
Diese These soll im Folgenden vor allem am Beispiel des Gaza-Massakers von
2008/2009 und des 2010 erfolgten Piratenaktes gegen die „Free Gaza“-Flotte
plausibel gemacht werden.
Der gängige Diskurs über den sog. Gaza-„Krieg“ besagt, er sei in Folge des
Raketenbeschusses der Hamas unvermeidlich gewesen und außerdem habe diese
ihn ja durch die Aufkündigung des Waffenstillstandes, der am 19. Juni 2008 in Kraft
getreten war, selbst provoziert.
Die Bundesregierung richtete an die Hamas die Aufforderung, den Beschuss von
israelischen Siedlungen mit Raketen «sofort und dauerhaft» einzustellen. Zugleich
äußerte sie sich davon überzeugt, dass Israel alles unternehme, um bei seinen
Luftangriffen auf den Gazastreifen zivile Opfer zu vermeiden.
Diese Überzeugung teilte die Bundesregierung offensichtlich mit Ehud Barak, dem
israelischen Verteidigungsminister, der nicht müde wird zu betonen, dass die
israelische Armee „die moralischste Armee der Welt“ ist.“
dass sie „chirurgisch“ operiere,
dass die Zerstörung Gazas selbstverständlich „auf humane Weise“ vor sich gehe.
Resultat dieses humanen Vorgehens:
Gaza war ein Trümmerhaufen, als wäre es einem schweren Erdbeben zum Opfer
gefallen.
Aber das Ziel der Bombardierungen war, so heißt es, ausschließlich die
Terrorgruppe der Hamas, deren Raketenbeschuß ein für alle mal unterbunden
werden müsse.
Kein Staat auf der Welt kann sich sowas schließlich bieten lassen.
Die Ausschaltung des militärischen Potentials der HAMAS also – so geht diese Logik
- sei eine Voraussetzung für den Frieden in der Region. Alle anderen Behauptungen,
wie die, dass die HAMAS bewusst Zivilisten als menschlichen Schild benutze, dass
sie den Tod von Zivilisten bewusst einkalkuliere, erscheinen dann ganz logisch als
Konsequenz ihrer Friedensunwilligkeit und fanatischen Militanz.
Dabei wird systematisch Israels Anteil an dem Konflikt ausgeblendet:
Dazu unmittelbar nach dem Krieg die Politikwissenschaftlerin Ivesa Lübben:
Der Raketenbeschuss israelischer Siedlungen hat strukturelle Gründe. Er ist das
Ergebnis der über 40 Jahre währenden Besatzung und der fortgesetzten Blockade
des Gazastreifens und nicht das Resultat der politischen Option einzelner Gruppen.
Das bedeutet aber auch, dass sich eine Befriedung Südisraels nicht durch die
Ausschaltung der HAMAS lösen lässt, sondern nur durch die Behebung der
22
strukturellen Ursachen, die der Gewalt zugrunde liegen. Auch ohne HAMAS wird sich
der Widerstand immer wieder neu formieren. Es ist im Gegenteil zu befürchten, dass
eine Nicht-Behebung der strukturellen Krise zu immer radikaleren Formen des
Widerstandes..... führen wird.
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass zwei Drittel der Menschen im
Gazastreifen Flüchtlinge aus dem heutigen Südisrael sind, die seit ihrer Vertreibung
1947/48 - von der Weltöffentlichkeit vergessen - in einer “closed zone”, einer
„geschlossenen Zone“ leben. Ivesa Lübben:
Ohne positive Lebensperspektiven und die Wiederherstellung von Gerechtigkeit für
die Menschen in Gaza wird das historisch an ihnen begangene Unrecht der
Vertreibung - gerade wegen der großen Nähe zu ihrer ehemaligen Heimat - ständig
im kollektiven Gedächtnis reproduziert werden und neuen Hass und neue
Gewaltbereitschaft hervorrufen.
Rückblende:
25. 1. 2006:
Die Hamas gewinnt - gegen alle Vorhersagen – in den besetzten Gebieten die
absolute Mehrheit bei den Wahlen zum palästinensischen Parlament.
Israel, USA und EU erkennen das Ergebnis der Wahl nicht an – die Hamas sei
schließlich eine Terrororganisation!
Demokratie schon, ja, ja, aber nur solange die richtigen Leute gewählt werden.
Diese Politik der gespaltenen Zunge dürfte der Idee der Demokratie im Nahen Osten
nicht gerade förderlich sein.
Der große alte Mann der israelischen Friedensbewegung, Uri Avnery, mittlerweile
88 Jahre alt, u. a. Träger des Alternativen Friedensnobelpreises und des Aachener
Friedenspreises, stellt die gebetsmühlenartig von der Hamas verlangte
Anerkennung Israels grundsätzlich in Frage. In einem Beitrag vom 1. März 2008 –
also lange vor Ausbruch des Krieges, schrieb er:
Die Sache mit der Anerkennung ist Unsinn, ein Vorwand, um Gespräche zu
vermeiden. Wir brauchen von niemandem „anerkannt“ zu werden. Als die USA
Verhandlungen mit Vietnam begannen, forderten sie auch nicht, als
angelsächsischer, christlicher... Staat anerkannt zu werden. Wenn A mit B einen
Vertrag unterschreibt, heißt das, A erkennt B an. Alles andere ist Firlefanz
Die Charta der Hamas erinnert an die damalige Charta der PLO. Ein ziemlich
unwichtiges Dokument, das von unseren Repräsentanten jahrelang dazu benützt
wurde, Gespräche mit der PLO zu verweigern. Himmel und Erde wurden bewegt, um
die PLO dazu zu bringen, die Charta zu annullieren. Wer erinnert sich heute noch
daran? Wichtig sind die Taten von heute und morgen, nicht Papiere von gestern.
Hegt Uri Avnery etwa Sympathien für die sog. „radikal-islamische“ Hamas?
Überhaupt nicht. Ich bin ein säkularer Mensch. Ich bin gegen jede Ideologie, die
Politik und Religion vermengt – sei sie jüdisch, islamisch oder christlich, in der
arabischen Welt wie in Amerika.
23
Das hat mich aber nicht gehindert, mit Hamas-Leuten zu sprechen, wie ich auch mit
anderen Leuten gesprochen habe, mit deren Meinung ich nicht übereinstimme. Es
hat mich nicht gehindert, in ihrem Hause zu Gast zu sein, Meinungen
auszutauschen, zu versuchen, sie zu verstehen.
Im übrigen weist Avnery darauf hin, daß Israel erheblich zur Entstehung der Hamas
beigetragen hat.
In den ersten zwanzig Jahren der Besatzung sah die israelische Regierung in der
PLO ihren Hauptfeind. Deshalb unterstützte sie palästinensische Organisationen, die
die PLO unterminieren konnten....
Sie glaubte, die Gründung einer islamischen Körperschaft würde die säkulare PLO
schwächen... Die Ironie des Schicksals bringt es mit sich, dass die israelische
Führung jetzt die PLO unterstützt, um Hamas zu untergraben. Es gibt wohl kein
deutlicheres Zeichen für die Dummheit unserer „Fachmänner“ in allen arabischen
Angelegenheiten, eine Dummheit, die ihren Ursprung hat in Überheblichkeit und
Verachtung....
Der Grund für den Wahlsieg der Hamas 2006 war – so Uri Avnery:
die wachsende Überzeugung bei den Palästinensern, dass sie auf gewaltlosem
Wege bei den Israelis nie etwas erreichen würden.... Außerdem: Die Korruption, die
sich in den Führungskreisen der Fatah breit gemacht hatte, erreichte Dimensionen,
die die Mehrheit der Palästinenser empörte.... Hamas dagegen galt als sauber, ihre
Führer wurden als nicht korrupt eingeschätzt.“
Um den Wahlsieg der Islamisten zu verhindern, hätte eine israelische Regierung, die
wirklich am Frieden interessiert ist “...der Fatah-Führung weitreichende
Konzessionen machen müssen: Ende der Besatzung, Unterzeichnung eines
Friedensvertrages, die Gründung eines palästinensischen Staates, Rückzug hinter
die Grenzen von 1967, eine vernünftige Lösung des Flüchtlingsproblems, Entlassung
der Gefangenen. Das hätte der Hamas sicher Einhalt geboten.
Aber.... Abbas wurde nicht die geringste politische Errungenschaft zugestanden. Die
Verhandlungen wurden – unter amerikanischer Schirmherrschaft – zum Witz... und
Hamas errang einen überwältigenden Sieg bei den palästinensischen Wahlen – den
demokratischsten Wahlen, die je in der arabischen Welt abgehalten worden waren.“
Uri Avnery sieht als Konsequenz der Gaza-Invasion:
ag für Tag, Nacht für Nacht sendet der arabische Aljazeera-Kanal die
grauenhaftesten Bilder: Berge von verstümmelten Leichen, weinende Verwandte, die
unter den Dutzenden von Leichen, die neben einander liegen, nach ihren Lieben
suchen. Eine Frau zieht unter den Trümmern ihre junge Tochter hervor, Ärzte
versuchen, ohne Medikamente das Leben der Verletzten zu retten...Millionen sehen
diese schrecklichen Bilder.....Tag für Tag. Diese Bilder werden sich ihnen auf immer
ins Gedächtnis einbrennen: schreckliches Israel, abscheuliches Israel,
unmenschliches Israel. Eine ganze Generation von Hassenden wird heranwachsen.
Das ist der schreckliche Preis, den wir werden zahlen müssen, wenn längst alle
anderen Folgen des Krieges in Israel vergessen sind.
Erich Fried: Das Bittere
Glaubst du es läßt mich kalt
24
einen Brief zu bekommen
von einer alten Mutter
deren drei Söhne
in Auschwitz vergast worden sind
und die mich fragt
wie könne ich sprechen
gegen meine eigenen Leute
da schon soviel vergossen wurde
von unserem Blut?
Zwar weiß ich daß ich nicht wirklich
gegen die Juden spreche
sondern nur gegen den Irrweg
jener Juden
die glauben auf Verbrechen
gegen die Palästinenser
läßt sich ein Land
und eine Zukunft bauen
Zwar weiß ich daß ich versuche
die Juden in Israel und
ihre Kinder retten zu helfen
indem ich beizeiten
Klage erhebe
gegen jene Verbrechen
begangen in ihrem Namen
die sonst ihr Untergang werden
Doch vor dem Brief
der Frau mit den toten Söhnen
ist es kein Trost
daß ich es besser weiß
Nach dem Wahlsieg der Hamas im Januar 2006 versuchten Israel und die USA, ihr
das Regieren - u. a. durch einen Finanzboykott - unmöglich zu machen, indem etwa
Israel die Gelder, die der Autonomiebehörde aus den Zolleinnahmen zustehen, nicht
mehr überwies und USA und EU, die größten internationalen Geldgeber, ihre
Zahlungen einstellten.
Die abgewählte Fatah des Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde
Mahmud Abbas dagegen wurde von Israel und den USA mit Geld und Waffen
ausgestattet und zu einem Putsch gegen die Hamas ermuntert.
Es war also mitnichten die Hamas, die – wie es in unseren Medien immer heißt –
durch einen Putsch im Gazastreifen die Macht an sich riss, sondern sie kam dem
geplanten und schon vorbereiteten Militärschlag der abgewählten Fatah zuvor und
übernahm die ihr durch die gewonnene Wahl zustehende Regierungsgewalt.
25
Daraufhin verschärfte Israel die seit Juni 2006 – also bereits ein Jahr vor der
Machtübernahme der HAMAS in Gaza – verhängte Blockade, und die
Staatengemeinschaft stellte alle Kontakte und Überweisungen ein.
Seither leben die Menschen dort unter einem unvorstellbaren israelischen
Staatsterror:
Schutzlos in einem riesigen Freiluftgefängnis eingesperrt, aus dem es kein Entrinnen
gibt, gänzlich abhängig von der hochgerüsteten Militärmacht Israel, die Wasser,
Elektrizität, Lebensmittel, Medikamente nach Belieben in dieses Ghetto „Gaza“
hineinlässt oder auch nicht.
Darüber hinaus hat Israel ein Drittel der frei gewählten palästinensischen
Parlamentsabgeordneten der Hamas verhaftet, wenn nicht ermordet.
Dazu muß man wissen, dass ohnehin - sage und schreibe – an die 10 000
Palästinenser, zu einem erheblichen Teil ohne Prozeß, in israelischen Gefängnissen
und Lagern sitzen.
Die Menschenrechtsverletzungen, für die die ganze Welt die USA empört angeklagt
hat – Stichwort Guantanamo und Abu Ghraib –, praktiziert Israel schon seit
Jahrzehnten – straflos.
Der ehemalige amerikanische Präsident und Friedensnobelpreisträger Jimmy Carter
bezeichnete diese vom Westen unterstützte Politik als ein schweres Verbrechen am
palästinensischen Volk.
Ist es angesichts all dessen verwunderlich, daß Hamas Raketen nach Israel
hineinschießt?
Die Hamas-Führer von Gaza machten geltend - so Jimmy Carter: „dass die Raketen
nur eine Methode seien, um auf ihr Eingesperrtsein zu reagieren und auf die
humanitäre Not aufmerksam zu machen.“
Haben die Palästinenser nicht jedes – übrigens auch völkerrechtlich legitimierte Recht auf Widerstand?
Im Juni 2008 kommt auf Vermittlung von Jimmy Carter - der selbstverständlich auch
die „verfemte“ Hamas in seine Gespräche einbezog - ein halbjähriger
Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas zustande.
Obwohl die Hamas nachweisbar alles tut, um ihn aufrecht zu erhalten - sogar
Mitglieder der anderen, etwa 10 Widerstandsgruppen, die noch vereinzelt Raketen
auf Israel schießen, festnimmt und ins Gefängnis wirft -, weigert sich Israel, die
Blockade des Gazastreifens, wie vereinbart, aufzuheben.
Darüber hinaus kommt es fast täglich zu israelischen Übergriffen:
Beschuss von Fischern unter Verletzung der palästinensischen Hoheitsgewässer,
Beschuss von Bauern und Schäfern, deren Felder und Häuser hinter dem Grenzzaun
liegen,
Verletzung des Luftraums,
Militärpatrouillen, die in den Gazastreifen eindringen.
Und dennoch hält die Hamas den Waffenstillstand weiter ein. Von Juni bis zum 5.
November, also annähernd 5 Monate lang, wird so gut wie keine Rakete mehr
26
abgeschossen – was übrigens zunächst sogar auf der Website des israelischen
Verteidigungsministeriums dokumentiert wird.
Der Raketenbeschuss Israels ließ sich also sehr wohl ohne einen Krieg abstellen.
Am 4. November aber - in der Nacht, in der die Aufmerksamkeit der Welt auf die
amerikanische Präsidentenwahl gerichtet war – kommt es zu einem größeren
israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen während der Waffenruhe, unter dem
Vorwand, man habe einen Tunnel entdeckt, der zerstört werden müsse.
Dreizehn Palästinenser werden bei den darauf folgenden Gefechten getötet.
Daraufhin erst – das betont auch Jimmy Carter in einem Beitrag für die Washington
Post vom 8. Januar 2009 mit dem bezeichnenden Titel „An Unnecessary War“ ( Ein
unnötiger Krieg ) – daraufhin erst nimmt auch die Hamas den Raketenbeschuß
wieder auf.
Bleibt festzuhalten: Es war eindeutig und nachweislich Israel, das den
Waffenstillstand gebrochen hat.
Aber unsere Medien wiederholen stereotyp die israelische Behauptung, es sei die
Hamas, die den Waffenstillstand gebrochen habe.
Dennoch war sie bereit - wie wir durch Carter wissen –, mit Israel über eine
Verlängerung des Waffenstillstands zu verhandeln.
Carter macht ganz unzweideutig klar, daß der Hauptgrund für die NichtVerlängerung des Waffenstillstands Israels Weigerung war, die Blockade des
Gazastreifens aufzuheben, also endlich wieder die normale Versorgung der
ausgehungerten Bevölkerung zuzulassen. Sein Fazit: „Ich weiß aufgrund meiner
persönlichen Beteiligung, dass die verheerende Invasion von Gaza durch Israel leicht
hätte vermieden werden können.“
Am 26. Dezember 2008 stellt die israelische Regierung der Hamas ein 48-stündiges
Ultimatum, aber schon am folgenden Tag beginnt die groß-flächige Bombardierung.
D.h.: man hat der Hamas und der Bevölkerung des Gazastreifens eine Falle gestellt,
was auch die vielen Toten der ersten Angriffswelle erklärt.
Ein zentraler Vorwurf Israels an die Adresse der Hamas lautet, dass die
„fundamentalistischen Chaoten“, nachdem Ariel Sharon im Jahr 2005 - friedenswillig
und großzügig! - die israelischen Siedlungen in Gaza aufgegeben hatte, den Streifen
– statt ihn in einen blühenden Landstrich zu verwandeln - zu einer Abschussrampe
für Raketenangriffe auf die israelische Zivilbevölkerung gemacht habe.
Dazu Henry Siegman, früherer Direktor des American Jewish Congress, eine der
einflussreichen jüdischen Stimmen in den USA, gegenwärtig Gast-Professor an der
Universität von London und Leiter des US Middle East Project in New York:
„(Dieser) Vorwurf ist eine doppelte Lüge. Erstens hat die Hamas …in Gaza für
Gesetz und Ordnung gesorgt in einem Maße, das in den vorange-gangenen Jahren
unbekannt war...Nicht-praktizierende Muslime, Christen und andere Minderheiten
hatten mehr religiöse Freiheit unter der Hamas-Regierung, als sie beispielsweise in
27
Saudi-Arabien oder unter vielen anderen mit uns verbündeten arabischen
Regierungen haben.
Die zweite und größere Lüge: Sharons Rückzug aus Gaza sei gedacht gewesen als
erster Schritt zu weiteren Rückzügen und zu einem Friedensvertrag.“
Siegman zitiert hier Dov Weisglass, wichtigster Berater des damaligen israelischen
Ministerpräsidenten Ariel Sharon und zugleich sein Chef-Unterhändler für
Vereinbarungen mit den Amerikanern, der sich (über den Rückzug aus Gaza) in
einem Interview mit Ha’aretz schon im August 2004 folgendermaßen äußerte:
“Mit den Amerikanern habe ich mich klipp und klar darauf geeinigt, dass über die
größeren Siedlungsblöcke der Westbank überhaupt nicht verhandelt wird … Die
Bedeutung (dieser Vereinbarung) besteht im Einfrieren des politischen Prozesses.
Und solange er eingefroren ist, kommt es nicht zur Bildung eines palästinensischen
Staates und auch nicht zu einer Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und
Jerusalem. Kurz, das ganze Paket namens Palästinensischer Staat - mit allem was
dazugehört - ist für unbegrenzte Zeit von der Tagesordnung. Und dies mit der
Absegnung durch… beide Häuser des (amerikanischen) Kongresses.“
Daran knüpft Henry Siegman die Frage:
„Glauben die Israelis und die Amerikaner, dass die Palästinenser keine israelischen
Zeitungen lesen?..... Es ist zu einfach, Hamas lediglich als eine „TerrorOrganisation“ zu beschreiben.... Zwar fordert die offizielle Ideologie der Hamas, den
palästinensischen Staat auf den Ruinen des Staates Israel zu errichten. Dies ist für
die tagtägliche Politik von Hamas jedoch ebenso wenig maßgebend, wie es die
gleichlautende Erklärung in der PLO-Charta für die tatsächliche Politik der Fatah
(unter Yassir Arafat) war.“
Die Charta hat übrigens auch Itzhak Rabin nicht daran gehindert, mit Arafat in
Verhandlungen einzutreten.
Die Siegman’schen Schlussfolgerungen sind nicht etwa die eines HamasApologeten. Auch Ephraim Halevy, der frühere Mossad-Chef und nationale
Sicherheitsberater von Ariel Sharon, schrieb in Yedioth Ahronoth, die HamasFührung habe sich „direkt vor unseren Augen“ verwandelt. Sie hat zur Kenntnis
nehmen müssen,...dass ihr ideologisches Ziel unerreichbar ist und für alle absehbare
Zukunft bleiben wird. Sie ist nun bereit und willens, einen palästinensischen Staat in
den … Grenzen von 1967 zu akzeptieren…..“
In einem früheren Artikel hatte Halevy dargelegt, dass es absurd sei, Hamas mit alQaida in Verbindung zu bringen, daß Israel also nicht nur für seine eigene
Verteidigung sorge, sondern zugleich Teil nehme am Kampf der westlichen
Demokratien gegen den Terrorismus. Halevy: „In den Augen von al-Qaida sind die
Hamas-Mitglieder Häretiker, Abtrünnige, seit sie (zumindest indirekt) an
Verständigungs- oder Vereinbarungs-Verhandlungen mit Israel beteiligt zu werden
wünschen.“
Halevy bezieht sich u. a. auf eine Erklärung von Khaled Mashal, dem Chef des
Politbüros von Hamas, der im März 2008 in einem Interview feststellte: „Die meisten
palästinensischen Kräfte, auch Hamas, akzeptieren einen Staat Israel in den
Grenzen von 1967… Auch die arabischen Länder stimmen zu; dies ist eine
einmalige historische Situation.....“
Eine Chance, die Israel und die USA aber ungenutzt verstreichen ließen.
28
Palästina
Ein Gedicht von Gerhard Schönberner:
Der Publizist und Schriftsteller Gerhard Schoenberner ist u. a. Gründungsdirektor der
Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin.
Palästina
Wenn du in mein Haus trittst
dich ungebeten hinsetzt
und mir freundlich erklärst
ab heute wohntest du hier
und ich müsste gehen
ist das völlig in Ordnung
Wenn ich laut werde
und mich zur Wehr setze
wenn ich mich weigere
mein Feld herzugeben
mache ich mich
der Aggression schuldig
das ist eindeutig.
Wenn ich im Gefängnis sitze
und du in meinem Haus.
wirst du den Vorübergehenden
die nach mir fragen, erklären:
Ich musste mich verteidigen
er ist ein Gewalttäter
So ist das.
Beide Parteien, sagt man uns
hätten Fehler gemacht
und müssten jetzt
Frieden schließen
Ein Kompromiss wäre:
Ich werde entlassen
Dafür verzichte ich
auf meine Felder
Das wäre ein Zeichen
von Einsicht und gutem Willen
auf beiden Seiten
Er bleibt in meinem Haus
Ich erhalte eine Kammer
und werde sein Diener
Eine gerechte Lösung
von salomonischer Weisheit
Das lässt sich nicht leugnen
Die Frage bleibt natürlich, warum?
29
Warum hat Israel den Gaza-Krieg begonnen, wenn er – wie Jimmy Carter meinte doch so leicht vermeidbar gewesen wäre?
Eine weiter ausholende Antwort auf die Frage nach den Kriegszielen gibt der
amerikanische Politologe Norman Finkelstein in einem Aufsatz vom 19. Januar
2009: „Ausschlaggebend für den jüngsten israelischen Angriff auf Gaza (ist)
zum einen, den Glauben an Israels Abschreckungsfähigkeit wiederherzustellen; zum
andern, die Drohung einer neuen palästinensischen Friedensoffensive
abzuwehren,...die Drohung einer neuen palästinensischen Friedensoffensive
abzuwehren.“
Die Abschreckungsfähigkeit zu erhalten, hat immer eine vorrangige Rolle in der
israelischen Strategie-Doktrin gespielt. In diesem Sinne warnte schon 1967 kurz vor
dem 6-Tage-Krieg ein gewisser Ariel Sharon, damals Divisions-Kommandeur, jene
Mitglieder des israelischen Kabinetts, die zögerten, einen Erstschlag gutzuheißen:
„Israel ist im Begriff, seine Abschreckungsfähigkeit zu verlieren – unsere wichtigste
Waffe – die Furcht vor uns.“
Also brach Israel den Krieg von 1967 vom Zaun - so der israelische StrategieAnalytiker Zeev Maoz im Jahr 2006 - „um die Glaubwürdigkeit der israelischen
Abschreckung wiederherzustellen.“
Die Vertreibung der israelischen Armee aus dem Libanon durch die Hisbollah im Mai
2000, nach 18 Jahren Besatzung, stellte Israels Abschreckungskraft aufs Neue in
Frage.
Norman Finkelstein:
„ Die Tatsache, dass Israel eine demütigende Niederlage erlitten hatte, die in der
gesamten arabischen Welt gefeiert wurde, machte einen weiteren Krieg so gut wie
unausweichlich. Israel bereitete sich sogleich auf einen neuen Waffengang vor. Im
Sommer 2006 fand es den Vorwand dafür. Hisbollah hatte zwei israelische Soldaten
gefangen genommen (einige weitere waren in dem Gefecht getötet worden) und
verlangte zum Austausch die Freilassung von libanesischen Gefangenen in
israelischer Hand. Obgleich Israel die Furie seiner Luftwaffe losließ und seine
Bodentruppen in Marsch setzte, erlitt es abermals eine schmähliche Niederlage....
Daraufhin sank der Glaube an die Fähigkeit Israels, Terror auszuüben, weiter ab.
Höchste Zeit, ein nicht verteidigungsfähiges Zielobjekt zum Vernichten zu finden. So
kommt Gaza, Israels Lieblings-Schießbude, ins Visier. Dort hatte die islamische
Bewegung Hamas, schwach bewaffnet wie sie war, dem Diktat Israels getrotzt und (
es ) im Juni 2008 sogar gezwungen, einem Waffenstillstand zuzustimmen.
Während des Libanon-Kriegs 2006 hatte Israel einen südlichen Vorort von Beirut,
Dahiya, wo die Hisbollah großen Rückhalt in der Bevölkerung hatte, dem Erdboden
gleichgemacht. In der Folgezeit sprachen israelische Offiziere von der „DahiyaStrategie“:
Ein Oberst der Reserve am Israelischen Institut für Nationale Sicherheitsstudien
erläuterte: „Im Fall von Feindseligkeiten muß Israel sofort, entscheidend und mit
einer Kampfkraft außerhalb jeder Proportion reagieren… Eine solche Antwort zielt
darauf ab, Schaden zu verursachen und Strafe auszuteilen in einem Ausmaß, das
einen lang andauernden und kostspieligen Wiederaufbau erfordert.“
Gaza sollte das erste Ziel für diese Blitzkrieg-und Blutbad-Strategie sein.
30
Während Israel auf Schulen, Moscheen, Krankenhäuser, Krankenwagen und UNSchutzgebäude schoß, während es Gazas wehrlose Zivilbevölkerung abschlachtete
und verbrannte, schrieben israelische Kommentatoren, etwa in Ha’aretz, „dass
Gaza sich zum Libanon verhält wie ein zweiter Examenstermin zum ersten – eine
zweite Chance, es richtig zu machen....Israel hat seine Abschreckungskraft
wiedergewonnen, weil der Krieg in Gaza die Mängel des zweiten Libanonkriegs
ausgebügelt hat. … Kein einziger Araber kann nun noch behaupten, dass Israel
schwach sei“
Über die Wiederherstellung des israelischen Abschreckungspotentials hinaus war
das zweite ausschlaggebende Motiv für den Gaza-Krieg - so Norman Finkelstein die Abwehr der drohenden palästinensischen Friedens- bzw.
Verhandlungsbereitschaft . Er schreibt:
„Während der letzten drei Dekaden hatte die internationale Gemeinschaft immer
wieder für eine Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf der Basis
von zwei Staaten, einem vollständigen Rückzug der israelischen Truppen auf die
Grenzen von 1967 und einer „gerechten Lösung“ des Flüchtlingsproblems auf der
Basis von Rückkehrrecht und Entschädigung plädiert....In jüngster Zeit hat die
Hamas mehrmals ihre Zustimmung zu einer solchen Lösung signalisiert.........Für
Israel bedeutete diese Entwicklung eine richtiggehende Katastrophe. Es konnte nicht
länger rechtfertigen, die Hamas zu ignorieren, und es war nur eine Frage der Zeit, bis
internationaler Druck zu verhandeln ausgeübt werden würde... (Also mußte) Israel
die Palästinenser ... radikalisieren oder zerstören, um sie als legitimen
Verhandlungspartner auszuschalten.
Anfang Dezember 2008 stellte Außenministerin Tzipi Livni klar, dass Israel lediglich
eine begrenzte Zeit der Ruhe mit Hamas anstrebe; ein länger andauernder
Waffenstillstand würde – Zitat -„Israels strategischen Zielen schaden, die Hamas
aufwerten und den Eindruck erwecken, dass Israel die Bewegung anerkennt“.
Finkelstein: „Im Klartext: eine längere Feuerpause würde die Glaubwürdigkeit von
Hamas stärken und Israels strategisches Ziel, die Kontrolle über das Westjordanland
zu behalten, unterminieren. Bereits im März 2007 hatte Israel sich entschlossen, die
Hamas anzugreifen. Den Waffenstillstand handelte es nur deshalb aus, weil...
So konnte man in Ha’aretz am 8. Januar 2009 lesen: „weil die israelische Armee
Vorbereitungszeit brauchte. Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, bedurfte
Israel nur noch eines Vorwands.“
Und diesen Vorwand lieferte am 4. November besagter Tunnel, der just in der Nacht
der amerikanischen Präsidentenwahl angeblich einen militärischen Einfall in den
Gazastreifen notwendig machte und 13 Palästinenser das Leben kostete.
Finkelstein: „Es war Israel vollkommen klar, dass diese Operation einen
Gegenschlag provozieren würde. Der Tunnel, schrieb Ha’aretz Mitte November,
stellte keine unmittelbare Gefahr dar. Sein Vorhandensein war die ganze Zeit
bekannt. Seine Benutzung hätte auf der israelischen Seite leicht verhindert oder
zumindest hätten die dort stationierten Soldaten aus der Gefahrenzone entfernt
werden können....
Aber nachdem die Hamas, wie vorauszusehen, ihre Raketenangriffe zur Vergeltung
wiederaufgenommen hatte, konnte Israel wieder einmal eine mörderische Invasion
vom Stapel lassen mit dem Ziel, eine weitere palästinensische Friedensoffensive zu
vereiteln.“
31
Erich Fried
Ihr habt die überlebt
die zu euch grausam waren
Lebt ihre Grausamkeit
in euch jetzt weiter?
Eure Sehnsucht war so zu werden
wie die Völker Europas
die euch mordeten
Nun seid ihr geworden wie sie
Ich sage das nicht für die
die euch immer schon Feinde waren
und nur neue Vorwände suchen
für ihren alten Haß
auch nicht für die unter euch
die lernten von ihren Hassern
sich selbst zu hassen
Doch ich sage das gegen die
die sich heute erschaffen wollen
nach dem Ebenbild ihrer Vernichter
um selbst Vernichter zu werden
denn wenn die euch beherrschen
vernichten sie trotz ihrer Siege
zuletzt sich selbst
wie das eure Vernichter taten
Im Herbst 2009 wurde der sog. Goldstone-Bericht der UNO veröffentlicht, benannt
nach dem aus Südafrika stammenden Juden Richard Goldstone - hochangesehener
Jurist und Völkerrechtler, u. a. Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für
das ehemalige Jugoslawien und Ruanda. Im Auftrag des Menschenrechtsrats der
Vereinten Nationen untersuchte die nach Goldstone benannte Kommission mögliche
Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen aller Parteien während der
Militäroperation im Gazastreifen. Natürlich wurde der Bericht von Israel sofort mit den
absurdesten Begründungen, u. a. der Jude und bekennende Zionist Goldstone sei
ein Antisemit, zurückgewiesen.
Die fürchterlichen Einzelheiten, die der äußerst akribische, 800 Seiten starke Bericht
präzise auflistet, können hier nicht dargestellt werden, dafür aber ein fiktives
Interview, zusammengestellt aus Veröffentlichungen von und Interviews mit Richard
Goldstone. Dieses „Gespräch“ macht deutlich, was Goldstone bewog, den Auftrag
der UNO-Menschenrechtskommission anzunehmen und worum es ihm bei der GazaMission ging.
Herr Goldstone, mich interessiert zuerst die Frage nach Ihrer Motivation: was hat
Sie als Jude - der Israel, wie Sie geschrieben haben, sein ganzes Leben lang
unterstützt hat -, bewogen, den Gaza-Auftrag zu übernehmen.
32
Nun, das war eine Gewissensfrage...Ich habe schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen untersucht in meinem Heimatland Südafrika während der
Apartheid, später auf dem Balkan, in Ruanda, und ich wurde übrigens stets massiv
angefeindet....Jude zu sein kann doch kein Grund sein, Israel anders zu behandeln
als die genannten Länder oder zu sagen, weil ich Jude bin, untersuche ich all diese
Länder, Israel aber nicht.
Sie bezeichnen sich als Zionisten. Was meinen Sie damit?
Daß ich Israels Existenzrecht voll unterstütze.
In ihrem Bericht wird Israel beschuldigt, Krieg gegen ein ganzes Volk geführt zu
haben. Das ist eine scharfe Verurteilung Israels.
In der Tat, denn beispielsweise die Zerstörung der Infrastruktur in Gaza war meiner
Ansicht nach in keiner Weise zu rechtfertigen.
Haben Sie persönlich das Resultat dieser Zerstörung gesehen?
Ja, ich habe die einzige Getreide-Fabrik in Gaza gesehen, ein Trümmerhaufen. Ich
habe die Felder gesehen, die von israelischen Panzern umgepflügt worden waren,
die Hühner-Farmen zur Eier-Produktion, total zerstört, Zehntausende von Hühnern –
alle tot. Ich habe Familien getroffen, die ihre Angehörigen in Häusern verloren haben,
in denen sie Schutz vor den israelischen Bodentruppen gesucht hatten. Ich habe
emotional aufwühlende Gespräche mit Vätern geführt, deren kleine Töchter
umgebracht wurden......21 Angehörige einer einzigen Familie waren durch israelische
Granaten umgekommen.
Es war eine sehr schwierige Untersuchung. Ich werde für den Rest meines Lebens
Albträume haben.
Im Krieg passieren immer schreckliche Dinge. Was genau macht diese Aktionen zu
Kriegsverbrechen?
Nun, der Kern des humanitären Völkerrechts ist das „Prinzip der Unterscheidung“.
Es verlangt von allen am Krieg Beteiligten die Unterscheidung zwischen
unschuldigen Zivilisten und Kombattanten. Und darüber hinaus stellt sich die Frage
der Verhältnismäßigkeit. Sog. Kollateralschäden müssen in einem angemessenen
Verhältnis zum militärischen Ziel stehen... Da gibt es natürlich Ermessensspielräume,
es werden Fehler gemacht. Letztendlich ist es eine Frage der Absicht und der
Sorgfalt, mit der vorgegangen wird.
Haben Sie Beweise für absichtliches Fehlverhalten gefunden?
Nun ja, es gibt immerhin Äußerungen von politischen und militärischen Führern, die
ganz offen von unverhältnismäßigen Angriffen gesprochen haben. „Falls der
Raketenbeschuß nicht aufhört, werden wir unverhältnismäßig zurückschlagen. Wir
werden euch dafür bestrafen.“ Und so etwas ist durchs Kriegsrecht selbstverständlich
in keiner Weise gedeckt.“
Und dann wurde tatsächlich genau das gemacht, was angekündigt worden war?
33
Ja, und die israelische ist eine der fähigsten Armeen der Welt. Wenn sie eine
Moschee oder eine Fabrik angreifen – und es wurden über 200 Fabriken bombardiert
! -, dann lässt sich das nicht auf einen Irrtum zurückführen. Das ist eindeutig mit
voller Absicht geschehen....Auch die Bombardierung des Legislativrats, also des
Parlaments, ist illegal. Es stellt kein militärisches Ziel dar.
Aber es ist doch nicht immer möglich, zwischen Zivilisten und Kämpfenden zu
unterscheiden. Vor allem wenn sich die Kämpfer der Hamas in Häusern, in
Krankenhäusern, Schulen in dicht besiedelten Gegenden verschanzen. Was soll die
israelische Armee da tun?
Nun, zum Beispiel mit Hilfe von Kommandounternehmen die Militanten angreifen und
nicht die Zivilisten. Um die Raketenangriffe zu unterbinden, musste man nicht das
ganze Land zerstören.....Die landwirtschaftlichen Flächen, die wahllos verwüstet
wurden, gehörten ja schließlich nicht der Hamas, oder die Wasserwerke, das
Abwassersystem, die Kanalisation von Gaza-Stadt, deren Bombardierung übrigens
zu einer Überflutung einer Fläche von mehr als einem Quadratkilometer mit
Abwässern und Fäkalien führte.
Aber könnte dies nicht in der Folge von Angriffen gegen Militante passiert sein?
Es ist gänzlich ausgeschlossen, dass die Hamas die erwähnten 200 Fabriken
betrieb. Der Besitzer der schon erwähnten Getreidefabrik etwa besaß sogar eines
jener seltenen israelischen Dokumente, das ihm die Einreise nach Israel ermöglichte.
Er machte Geschäfte mit seinen israelischen Partnern. Interessanterweise erhielt er
eine telephonische Bombenwarnung: er solle sein Haus verlassen. Also evakuierte er
seine Belegschaft. Aber nichts geschah. Sie kehrten zurück, und er holte in Israel
Erkundigungen mit Hilfe eines Freundes ein, der beim Militär nachfragte und ihn
dann beruhigte: „Keine Sorge, sie werden deine Fabrik nicht bombardieren.“ Ein
paar Tage später kriegt er wieder einen Anruf mit der Aufforderung zu evakuieren.
Wieder verlassen sie das Gelände. Erneute Erkundigungen: „Keine Sorge, wir
bombardieren nicht.“ Also gehen sie wieder zurück. Schließlich kommt eine dritte
Warnung, und dann wird tatsächlich bombardiert. Die Israelis wussten genau, mit
wem sie es zu tun hatten, schließlich besaß er ja jenes Dokument.
Es ist dieses Verhalten, das auf die Absicht schließen lässt, die Zivilisten in Gaza,
also im Prinzip alle für das zu bestrafen, was einige wenige getan haben.
Stellen Sie sich vor, die USA würden beim Kampf gegen die Taliban die komplette
Nahrungsinfrastruktur der Menschen bombardieren, die dort leben, wo sich die
Taliban aufhalten, indem sie Felder verwüsten, Nahrungsmittelfabriken bombardieren
usw. Ich glaube nicht, dass das amerikanische Volk dies als legitim akzeptieren
würde.
Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie sich in erster Linie mit dem Verhalten Israels
auseinandersetzen, dass Sie Israel die größere Verantwortung anlasten.
Es ist schwierig, einen Staat mit einer hochgerüsteten Armee, mit Marine und
Luftwaffe einerseits und andererseits die Hamas mit ihren improvisierten, unpräzisen
Waffen gleichzusetzen. Das bedeutet aber nicht, dass man beider Handlungen nicht
genau untersuchen muss.
Sie als Zionist werden von vielen Israelis beschuldigt, ihr Volk verraten zu haben.
34
Nun ja, das ist Ausdruck derselben Krankheit wie in Südafrika....Es handelt sich hier
um eine Form des Rassismus. Warum sollte mich mein Judesein daran hindern,
Israel zu untersuchen? Das kann ich nicht nachvollziehen....Ich denke, wahre
Freunde kritisieren ihre Freunde, wenn sie etwas Falsches machen.
Ihr Bericht empfiehlt beiden Seiten, eigene Untersuchungen vorzunehmen und falls
Kriegsverbrechen nachgewiesen würden, die Verantwortlichen ... in ihren Ländern zu
bestrafen.
Das ist ja der Ausweg für Israel und die Hamas – wenn sie eine ehrliche
Untersuchung durchführen, bedeutet dies das Ende jeglicher Untersuchung auf
internationaler Ebene, denn der Internationale Strafgerichtshof etwa ist ja nur die
letzte Instanz, die über keine Jurisdiktion verfügt, wenn die Parteien selbst tätig
werden
Warum brauchen wir eigentlich einen internationalen Strafgerichtshof?
Bis 1993 gab es keine Möglichkeit, Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Zuhause
mussten sie keine Ahndung fürchten, galten sie doch normalerweise als Kriegshelden...Das hat sich geändert. Heute haben Kriegsverbrecher Schwierigkeiten, in so
manches Land zu reisen. Und das ist auch die Sorge der israelischen Regierung,
dass sie nämlich mit Untersuchungen in einigen europäischen und afrikanischen
Ländern rechnen muss, falls sie keine eigene Untersuchung anstellt. Diese liegt also
in ihrem ureigenen Interesse.
Israel erwartet ja von den USA, dass sie im Sicherheitsrat wie üblich ihr Veto
einlegen werden, um jedes rechtliche Vorgehen gegen Israel zu verhindern. Und das
US- Außenministerium hat Ihre Untersuchungsergebnisse sofort als unfair gegenüber
Israel bezeichnet.
Ich fordere die US- Regierung auf, mir mitzuteilen, inwiefern der Bericht fehlerhaft
oder unausgewogen ist. Bisher ist noch niemand auf den Inhalt unserer Darlegungen
eingegangen, auf den konkreten einzelnen Fall. Und falls wir Fehler gemacht haben
sollten, wäre ich der erste, der dies zugeben würde.
Israel sagt, der Bericht sei ein Hindernis für den Frieden, Sie sagen, er sei die
Voraussetzung für den Frieden. Inwiefern?
In der Folge ernsthafter Verletzungen der Menschenrechte lässt sich kein Frieden
erreichen, wenn man Groll und Rachegefühlen in der Opferbevölkerung nicht
begegnet. Was die Opfer brauchen, ist Anerkennung, die offizielle Anerkennung
ihrer Opferrolle. Das heißt, die Wahrheit ist eine wesentliche Brücke zu einem
dauerhaften Frieden.
Am 1. April 2011, also etwa anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung des UNReports, stellte Richard Goldstone in einem Gastbeitrag für die Washington Post
überraschenderweise seinen eigenen Bericht zumindest in einem Punkt in Frage.
'Wenn ich gewusst hätte, was ich heute weiß, wäre der Goldstone-Report ein
35
anderes Dokument geworden.... Neuere Untersuchungen lassen erkennen, dass
Zivilisten nicht absichtlich zum Ziel israelischer Angriffe gemacht worden sind.“
Und er lobt Israel dafür, dass mittlerweile mehr als 400 Fälle von möglichen
Vergehen der Armee intern untersucht worden seien. Dabei beruft er sich auf eine
seinem Report nachfolgende Untersuchung der UNO unter Vorsitz der ehemaligen
New Yorker Richterin Mary McGowan Davis, die allerdings zu dem Ergebnis kommt,
dass diese 400 Untersuchungen zu gerade einmal zwei Verurteilungen geführt
hätten:
Eine zu sieben Monaten Haft wegen Diebstahls einer Kreditkarte, die andere zu einer
Bewährungsstrafe, weil ein palästinensisches Kind als menschlicher Schutzschild
missbraucht wurde.
Im übrigen gebe es - so wörtlich: „... keinerlei Hinweise darauf, dass Israel
Untersuchungen begonnen hätte bezüglich der Handlungen derjenigen, die die
Operation „Gegossenes Blei“ konzipiert, geplant, angeordnet und geleitet haben. Die
Opfer beider Seiten können keine echte Verantwortlichkeit und keine Gerechtigkeit
erwarten.“
Selbst der juristische Laie fragt sich, was für einen Wert überhaupt Untersuchungen
haben sollen, die von der beschuldigten Partei in eigener Sache durchgeführt
werden?
Was immer Richard Goldstone gesagt oder später revidiert hat, ändert allerdings kein
Jota an der Faktenlage des Massakers. Die umfangreichen Untersuchungsergebnisse der Goldstone-Kommission bestätigen die Darstellungen israelischer und
internationaler Menschenrechtsorganisationen wie B’Tselem, Amnesty International,
Human Rights Watch und Medico International ebenso wie Zeugenaussagen
beteiligter israelischer Soldaten, die im April 2009 von der Zeitung Ha’aretz
veröffentlicht wurden.
Israels Ministerpräsident Netanjahu nahm Goldstones Stellungnahme zum Anlaß,
vom UN-Menschenrechtsrat die Annullierung des Berichts von 2009 zu verlangen,
was ein Sprecher der Vereinten Nationen mit dem Argument zurückwies, die private
Äußerung eines Kommissionsmitglieds könne nicht zur Revision eines zuvor offiziell
erstellten Berichts führen. Auch Goldstone selbst hat Aussagen des israelischen
Innenministers Eli Jischai zurückgewiesen, laut denen er den UN-Bericht
zurücknehmen wolle.
Die drei anderen hochgeachteten Mitglieder der Kommission haben sich übrigens
klar von Goldstones Sinneswandel distanziert.
Bleibt die Frage nach seinem Motiv?
Seit der Veröffentlichung des Reports wurde eine schier unglaubliche Schmutzkampagne gegen den bekennenden Zionisten losgetreten. Er sah sich als
angeblicher Antisemit und selbsthassender Jude regelrecht an den Pranger gestellt.
Man wollte ihm, dem Verräter, sogar die Teilnahme an der Bar Mitzwa seines Enkels
verwehren!
36
Und für Netanyahu gehörte er - neben der iranischen Atombombe und den Raketen
der Hamas - zu den „drei strategischen Herausforderungen“, mit denen Israel sich
konfrontiert sehe.
Angesichts dieser üblen Rufmordkampagne ist es kaum verwunderlich, wenn Roger
Cohen am 7. 4. 2011 in der New York Times vermutet, Goldstone sei „gebrochen“
worden.
Erich Fried: Widerstand
Immer noch suchend
wo Gegenwehr
möglich ist
(möglich bleibt oder wird)
nicht nur als Geste
oder zumindest
als Geste die etwas lebendig
unabgestumpft erhalten hilft
wenn das vielleicht auch
zuerst nur der eigene Abscheu ist Angst
die sich weigert
sich zu ducken vor dem
was so mächtig scheint
allmächtig bis auf die Hoffnung
daß diesen Abscheu
diese Angst diese Weigerung sich zu ducken
andere teilen
John Ging, der Leiter der UN-Hilfsorganisation für Gaza, in einem Interview vom
28. Mai 2010, also annähernd anderthalb Jahre nach dem Gaza-Massaker:
„Die Lage in Gaza ist gekennzeichnet von menschlichem Elend. Die Menschenwürde
wird mit Füßen getreten, und die einfachen Menschen kämpfen Tag für Tag ums
Überleben.
Israel hat das glatt abgestritten. Angesichts der Tatsache, dass 80 Prozent der
Menschen In Gaza von Nahrungsmittelhilfe abhängen, lässt sich dies nur als
Zynismus bezeichnen. John Ging:
Ursache der Tragödie ist, dass es der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen
ist, die Einhaltung von Grundrechten sicherzustellen.... Die Blockade des
Gazastreifens ist eine Art Sippenhaft für ein ganzes Volk – ein Verstoß gegen
internationales Recht.... Die internationale Gemeinschaft muß ihre Verantwortung
übernehmen und nach praktischen Wegen suchen, die Blockade zu
durchbrechen...Wir empfehlen der Welt, Schiffe nach Gaza zu schicken, und wir
glauben, dass Israel diese Schiffe nicht aufhalten würde, denn das Meer ist (rechtlich
gesehen) frei.
37
Nun, da hat er sich getäuscht, denn am 31. Mai 2010 nimmt eine israelische
Marineeinheit die sechs Schiffe der Free-Gaza-Flotte in internationalen Gewässern
unter ihre Kontrolle, wobei auf der türkischen Mavi Marmara neun Friedensaktivisten
getötet werden.
Der emeritierte Professor des Völkerrechts, Norman Paech, selbst an Bord eines der
Schiffe des Hilfskonvois, weist in einer längeren Analyse, erschienen kurz nach dem
Zwischenfall, darauf hin, dass „dieser Angriff, die Besetzung der Schiffe, die Tötung
von mindestens neun und Verletzung von über 20 Passagieren, die Fesselung aller
Besatzungsmitglieder und Passagiere sowie Entführung in den Hafen von Aschdod
ein schwerer Verstoß gegen geltendes Völkerrecht ist. Es war schlicht ein Akt der
Piraterie. ...Man kann nicht ein Schiff angreifen und sich dann auf Notwehr berufen,
wenn sich Besatzung und Passagiere wehren.“
Israel hat ja sogar behauptet, dass seine Soldaten sich gegen eine drohende
Lynchung durch die angeblichen „Terroristenfreunde verteidigen“ musste. Dazu Ken
O’Keefe, früherer US-Marineinfanterist und Golfkriegsveteran, der sich an Bord der
„Mavi Marmara“ befand:
Obwohl ich davon überzeugt bin, dass Gewaltlosigkeit immer die erste Option sein
sollte... schloss ich mich selbstverständlich der Verteidigung der Marmara an.
...Am Morgen des Angriffs war ich direkt an der Entwaffnung von zwei israelischen
Soldaten beteiligt. Dies war eine zwangsweise Entwaffnung von Soldaten, die bereits
zwei meiner Brüder ermordet hatten, die ich noch kurz zuvor gesehen hatte. Der
eine hatte eine Kugel mitten in die Stirn bekommen – das war eine Exekution..
Es war mir klar, die Soldaten hatten einen Mordauftrag, und ich nahm dem einen
eine 9mm-Pistole weg. Ich hatte das Ding in meiner Hand, und als ehemaliger
Marinesoldat mit Training im Gebrauch von Waffen, wäre es mir durchaus möglich
gewesen, die Waffe gegen den Soldaten zu richten, der womöglich der Mörder einer
meiner Brüder gewesen war. Aber das genau war es, was weder ich noch ein
anderer der Verteidiger des Schiffes tat. Im Gegenteil, ich nahm die Kugeln aus der
Pistole raus und versteckte die Waffe. Ich tat dies in der Hoffnung, dass wir den
Angriff abwehren und diese Waffe dann in einem Strafverfahren gegen die
israelischen Behörden als Beweis ... vorlegen könnten. Ich half auch mit, einem
weiteren Soldaten sein Sturmgewehr zu entreißen, das ein anderer dann wohl ins
Meer geworfen hat.
Ich und mit mir Hunderte andere kennen die Wahrheit, die das ‚tapfere und
moralische israelische Militär’ zum Gespött macht. Wir hatten drei völlig entwaffnete
und hilflose Soldaten in unserer Gewalt. Diese Jungs waren uns auf Gedeih und
Verderb ausgeliefert. Sie waren außer Reichweite ihrer Mordgesellen mitten im Schiff
und von Hundert oder mehr Männern umgeben. Ich sah in die Augen der drei Jungs,
und sie hatten Todesangst. Sie schauten uns an, als wären wir so wie sie, und ich
zweifle nicht daran, dass sie glaubten, diesen Tag nicht zu überleben …. Aber sie
standen nicht einem Feind gegenüber, der so unbarmherzig wie sie war. Im
Gegenteil, die Frauen leisteten erste Hilfe, und schließlich wurden sie entlassen,
verletzt, aber lebendig. Sie erlebten den nächsten Tag.... anders als die, die sie
umgebracht hatten. Obwohl wir über den Verlust unserer Brüder verzweifelt waren
und eine Stinkwut auf diese Burschen hatten ..., wir ließen sie gehen.
Während wir in israelischer Haft waren … wurden wir in jeder nur möglichen Weise
misshandelt. Ich wurde geschlagen und gewürgt bis zur Bewusstlosigkeit … Bei all
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dem begriff ich, dass sie Feiglinge sind – und doch sah ich in ihnen meine Brüder.
Egal wie abscheulich und falsch die Israelis sich verhalten… , sie sind doch meine
Brüder und Schwestern. Ich habe Mitleid mit ihnen, weil sie das Kostbarste, was
Menschen besitzen, aufgegeben haben - ihre Menschlichkeit.“
Prof. Norman Paech betont: die gemeinsame Basis des von der amerikanischbritischen „Free Gaza“-Organisation betriebenen Unternehmens war und ist
„der Aufruf an die Weltgemeinschaft zur gewaltfreien Beendigung der Blockade und
Hilfe für die Bevölkerung durch Auslieferung von Hilfsgütern... Die Verteilung sollte
durch Nichtregierungsorganisationen in Gaza vorgenommen werden. Gleichgültig, ob
Christen, Muslime, Buddhisten oder Atheisten, es waren Menschen aus über 30
Staaten auf den Schiffen, die einigen wenigen gemeinsamen Grundprinzipien
verpflichtet waren: weder parteipolitische Ziele noch Missionierung, absolute
Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit, Verzicht auf jegliche Waffen an Bord und
Toleranz untereinander. Es gibt keine Anzeichen, daß diese Grundprinzipien nicht
eingehalten wurden.“
Ergänzend dazu der Augenzeugenbericht des kanadischen Lehrers und ehemaligen
Zivilingenieurs des Verteidigungsministeriums, Kevin Neish, der sich gleichfalls auf
der Mavi Marmara befand:
„Als ich an Bord ging, wurde ich gründlich abgetastet, und mein Gepäck wurde auf
Waffen hin untersucht. Als Ingenieur hatte ich natürlich ein Taschenmesser bei mir.
Das nahmen sie mir ab und warfen es ins Meer. Keiner durfte irgendwelche Waffen
mit sich führen. Darauf wurde ganz sorgfältig geachtet....Während der ganzen Zeit
an Bord habe ich bis zum Schluss nie eine Waffe in den Händen der Mannschaft
oder der Friedensaktivisten gesehen....
Während der Auseinandersetzungen sah ich, wie sie einen der Soldaten
herunterbrachten. Er sah sehr verängstigt aus, als wenn er dachte, er würde
umgebracht. Aber als ein kräftiger Türke, der gerade schwer verletzte Passagiere
gesehen hatte, die von den Soldaten angeschossen worden waren, versuchte, sich
auf ihn zu stürzen, drängten ihn die anderen türkischen Entwicklungshelfer zurück
und hielten ihn an der Wand fest. Sie schützten diesen israelischen Soldaten.
Als das israelische Kommando die Mavi Marmara übernommen hatte, mussten sich
Frauen und Männer getrennt auf den Boden setzen und ihre Hände wurden so
streng mit Plastikbindern gefesselt, dass sie ganz schnell stark anschwollen. An den
Nachwirkungen hat Kevin Neish noch lange gelitten.
Sie wiesen uns an, still zu sein. Aber da erhob sich dieser türkische Imam und
begann, einen Gebetsaufruf zu singen. Alles wurde totenstill – selbst die Israelis.
Aber nach vielleicht 10 Sekunden stürmte ein israelischer Offizier durch die Reihen
der am Boden Sitzenden, zückte seine Pistole, richtete sie auf den Kopf des Imams
und schrie: „Shut up!“ Der Imam schaute ihm direkt in die Augen - und sang einfach
weiter. Ich dachte, um Gottes Willen, er wird ihn töten. Dann dachte ich, nun, dafür
bin ich wohl hier und stand auch auf. Der Offizier wirbelte herum und zielte mit seiner
Waffe auf meinen Kopf. Der Imam beendete sein Lied, setzte sich ruhig hin, und
auch ich setzte mich wieder.“
Die Vorgänge bei der Kaperung der sechs Schiffe sind inzwischen weitgehend
bekannt und werden durch weitere Zeugen immer detaillierter ergänzt. In zwei
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Dingen stimmen sie alle überein: Es gab auf keinem Schiff Waffen, außer den stets
in den Medien präsentierten Stöcken, Eisenstangen und Messern.
Keine Bilder gibt es von dem Waffenarsenal der israelischen Armee und ihrem
tödlichen Einsatz: Blendschockgranaten, Maschinengewehre, Pistolen, PaintbulletPumpguns und Elektroschockwaffen. Kaum Bilder der toten oder verwundeten
Passagiere, alle Film- und Fotoapparate der Mitfahrenden wurden konfisziert, ihr
Filmmaterial befindet sich im Besitz der israelischen Streitkräfte.
Zu sehen waren nur Bilder von verletzten israelischen Soldaten mit Netanyahu an
ihrer Seite – deutlicher kann man in diesem Konflikt kaum Partei ergreifen. Die
Medien, mit sehr wenigen Ausnahmen, haben allein durch ihre Bildauswahl das
Verhältnis von Angreifer und Verteidiger umgekehrt. Die Medien haben sich - so
Norman Paech
„vollständig der Bilderhoheit der israelischen Armee unterworfen... . Mit der
schwindenden Überzeugungskraft des Bildmaterials, mit welchem die israelische
Regierung alle internationalen Medien versorgt, beginnt nunmehr der Abwehrkampf
an der ideologischen Front. Er wird von vielen Medien bereitwillig aufgenommen und
als ...Entlastungsangriff gegen »Free Gaza« und ihre Schiffe geführt. Es geht zum
einen darum, die »Free Gaza«-Bewegung zu delegitimieren und zum anderen wird
bezweckt, die israelische Aktion als »Selbstverteidigung« zu rechtfertigen.
Ansatzpunkt für die Delegitimierung des »Free Gaza«-Unternehmens ist die
Beteiligung der IHH, der »Stiftung für Menschenrechte und Freiheit« mit Sitz in
Istanbul; sie organisierte als einer der zahlreichen Koalitionspartner von »Free Gaza«
die »Mavi Marmara«. Der Vorwurf lautet, es handele sich um eine Ansammlung
radikaler Islamisten, Antisemiten und Faschisten,
„Eine wohlorganisierte, islamistische Kadergruppe« - o die Frankfurter Allgemeine
vom 11.6. Tatsache ist, daß die IHH eine von weltweit 3000 Nichtregierungsorganisationen ist, die beim UN-Wirtschafts- und Sozialrat beratenden Status haben.
Die IHH steht auf keiner der berüchtigten Terrorlisten. Norman Paech:
“Sie ist mit ähnlichen Entwicklungsprojekten tätig, wie wir sie von Misereor, der
evangelischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe, Medico International oder dem
Deutschen Entwicklungsdienst kennen. Seit der vollständigen Abriegelung des
Gazastreifens durch Israel im Juli 2007 arbeitet die IHH auch in Gaza und sendet
Hilfskonvois über ( das ägyptische ) Rafah. Daß sie dabei mit der Hamas kooperiert,
ist selbstverständlich und nur noch bei den verbohrtesten Köpfen ein Stein des
Anstoßes – schließlich fordert selbst Avi Primor, der ehemalige israelische
Botschafter in der BRD, öffentlich Gespräche mit der Hamas.“
Die unterstellte Verbindung zu Al-Qaida oder dem Dschihad erwies sich als eine
bloße Verdächtigung, die allein dem Zweck diente, das ganze Unternehmen »Free
Gaza« in Misskredit zu bringen.
Die zweite Strategie zielt auf die völkerrechtliche Legitimierung des israelischen
Angriffs. Ihr Grundtenor lautet: Selbstverteidigung, da man sich mit Gaza im Krieg
befinde.
Aber auch außerhalb Israels erheben sich Stimmen, die den israelischen
Streitkräften ein Recht zur Seeblockade zugestehen wollen. Norman Paech:
„Die in Gaza leider üblichen gegenseitigen Gewaltmaßnahmen – vereinzelte Raketen
auf die Grenzgebiete Israels und gezielte israelische Tötungen durch Drohnen und
40
Artillerie im Gazastreifen – erfüllen nicht die Kriterien eines Krieges oder bewaffneten
Konflikts. Die Militärintervention der israelischen Streitkräfte im Dezember 2008 bis
Januar 2009 war ein Krieg....jetzt ist es ein Wirtschaftskrieg, den Israel gegen den
Gazastreifen führt – eine Seeblockade außerhalb der eigenen Hoheitsgewässer
und der selbsterklärten militärischen Sperrzone ist (daher) völkerrechtlich
nicht zu legitimieren.
Die israelische Regierung selbst vertritt den Standpunkt, daß Gaza nach dem
Rückzug 2005 nicht mehr zu ihrem Besatzungsgebiet im Sinne des Kriegsvölkerrechts gehöre, sie also auch keine Hoheitsrechte in diesem Gebiet mehr habe. Wenn
das so ist, dann hat sie damit logischerweise auch nicht das Recht, Gaza vom Meer
abzuschneiden und den Hafen für ausländische Schiffe zu sperren.
Da sich die Schiffe aber in internationalen Gewässern befanden, gilt für sie das
Jahrhunderte alte Prinzip der »Freiheit der Meere«. Norman Paech weiter:
“Ist also Kriegsrecht nicht anwendbar, so reduziert sich die Möglichkeit der
israelischen Marine, Schiffe auf hoher See zu kontrollieren und zu durchsuchen, auf
jene Ausnahmefälle, in denen ein begründeter Verdacht besteht, das Schiff verfolge
illegale Ziele und Aktivitäten, wie Schmuggel, Piraterie oder Menschenhandel. Die
Güter unserer Flottille waren aber öffentlich verladen und durch die Hafenbehörden
kontrolliert worden, es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Waffen
geschmuggelt werden sollten.
Die Israelis haben ja auch keine vorweisen können, was sie sicher gern getan hätten.
Selbst wenn man den israelischen Streitkräften angesichts der immer wieder
aufflammenden Gewalttätigkeiten ein Selbstverteidigungsrecht oder ein Kontrollrecht
der Schiffe einräumen würde, - so Norman Paech „war diese Art Kontrolle - mit
Waffengewalt, mit Toten und Verletzten -vollkommen unverhältnismäßig und schon
deshalb rechtswidrig. Das internationale Seerecht fordert, das solche
Durchsuchungen mit der größten Zurückhaltung vorgenommen werden, denn es
handelt sich für gewöhnlich um einen Eingriff in fremde Souveränitätsrechte.
Da ein Angriff auf ein Schiff wie ein Angriff auf das Territorium des Heimatstaates zu
werten ist, hätte dieser Vorfall sogar zu einer dramatischen Konfrontation mit der
Türkei führen können. Denn die Türkei hätte ihrem Schiff militärisch zu Hilfe eilen
können.... Wir können froh sein, daß es dazu nicht gekommen ist.
Norman Paechs Fazit:
Wie man es auch dreht und wendet, ob wir die israelische Position akzeptieren, dass
Gaza ein hoheitsfreies Territorium ist und damit Friedensrecht gilt, oder Gaza erneut
besetzt ist und sich im Krieg mit Israel befindet und deshalb Kriegsvölkerrecht
anzuwenden ist: Die Blockade ist in jedem Fall rechtswidrig. Sie wirkt wie eine
Kollektivbestrafung, die nach internationalem Recht verboten ist. Ja, es wäre zu
prüfen, ob sie nicht den Tatbestand eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit
erfüllt, wie es (im) Römischen Statut von 1998 als...“Angriff gegen die
Zivilbevölkerung« definiert wird. Dieser Vorwurf trifft nicht allein Israel, sondern
die USA und die EU-Staaten gleichermaßen, da sie in voller Kenntnis des
Elends und der Zerstörungen diese Blockade unterstützen.
Eine vom UN-Menschenrechtsrat berufene Untersuchungskommission kam im
September 2010 gleichfalls zu dem Ergebnis, dass Israel bei der Erstürmung der
Hilfsflotte internationales Recht gebrochen habe, und die israelische Blockade des
41
Gazastreifens ungesetzlich sei. Der Menschenrechsausschuss hatte den Angriff auf
unschuldige Zivilisten bereits im Juni zuvor mit großer Mehrheit scharf verurteilt.
Laut UN-Bericht haben die israelischen Soldaten ein "nicht zu akzeptierendes Maß
an Brutalität" gezeigt. Sie hätten sich während und nach dem Einsatz schwerer
Rechtsbrüche wie vorsätzlicher Tötung und Folter schuldig gemacht.
Israel lehnte die Untersuchungsmission des Menschenrechtsrats als partei-isch ab
und verweigerte jede Zusammenarbeit.
Dagegen unterstützte es eine von UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon eingesetzte
Kommission, die den offiziellen Auftrag hatte, die wegen der Tötung der türkischen
Friedensaktivisten zerrütteten Beziehungen zwischen der Türkei und Israel positiv zu
beeinflussen. Anders als bei der Kommission des UN-Menschenrechtsrats war
Grundlage dieser Untersuchung nicht etwa das Geschehen selbst, sondern nur die
Berichte der Türken und der Israelis.
Der unparteiische und sorgfältige, auf einer „fact-finding-mission“ beruhende Report
des UN-Menschenrechtsrats fand dabei keine Berücksichtigung. Es verwundert
daher kaum, dass die israelische Seeblockade des Gazastreifens als "rechtmäßig
und angemessen", der israelische Einsatz allerdings als "exzessiv" und
"unverhältnismäßig" bezeichnet wurde.
Juristisch ist das Ergebnis jedenfalls nach Einschätzung von Experten des
Völkerrechts ein Fehlgriff, was – so Norman Paech: „so oft geschieht, wenn die
Diplomatie Vorrang hat“.
So geriet der Versuch, den Streit zwischen den beiden Ländern auf diplomatischem
Wege zu entschärfen, zu einem kompletten Misserfolg.
Angesichts der widersprüchlichen Rechtslage wird die türkische Regierung den Fall
dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vorlegen, wo er letztlich auch
hingehört. Sie wies zudem den israelischen Botschafter aus und kündigte die
militärische sowie die umfangreiche rüstungstechnische Zusammenarbeit auf.
Darüber hinaus erwog der türkische Ministerpräsident Erdogan als erster amtierender
Regierungschef, dem Gaza-Streifen einen offiziellen Besuch abzustatten, »um die
Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf die Zustände in Gaza zu lenken und die
Internationale Gemeinschaft dazu zu bringen, das von Israel durchgesetzte illegale
Embargo zu beenden«.
Die Organisatoren der zweiten „Freedom Flotilla“, die im Sommer 2011 einen
weiteren Anlauf unternahmen, die israelische Blockade des Gazastreifens zu
durchbrechen, sind an den machtpolitischen Realitäten in den internationalen
Beziehungen formal zwar gescheitert - da das bankrotte und von den USA und der
EU total abhängige Griechenland wohl einen Wink erhielt, die Schiffe der
Friedensaktivisten nicht aus seinen Häfen auslaufen zu lassen -, doch in der
Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit war es nur ein weiterer Pyrrhussieg des
„grenzenlosen“ Israels.
ERICH FRIED
Frage an den Sieger
42
Nach deiner Landnahme
als das Blut schrie von der Erde
und als man dich fragte
„Wo ist dein Bruder im Land?“
da sagtest du
„Ich weiß nicht“
und du fragtest
„Soll ich der Hüter meines Bruders sein?“
Nun sagst du
man muß dich vor der Rache
der Sippe deines Bruders von dem du nichts weißt
beschützen
Und du trägst ein Zeichen das sagt
wer dich totschlägt an dem soll
siebenfach Rache genommen werden ( kurze Pause! )
Wer bist du?
Dies ist wohlgemerkt nur ein Text-Auszug aus dem vom Bayerischen
Rundfunk zum „Hörbuch der Woche“ gekürten „Hörbild zum Zionismus“.
Bei Interesse: Es kostet € 15.- (einschließlich Versand) und ist zu
beziehen direkt über den Autor.
Jürgen Jung
T. 08441-860855
H. 0179-2950442
juejung@online.de
SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel e.V.
www.salamshalom-ev.de
salamshalom.ak@gmail.com
43
Matthias Jochheim
Leitmedien
13.8.14
Eine mit modernsten Zerstörungsmitteln ausgerüstete Armee überfällt zu Wasser, zu Lande
und zur Luft eine dicht besiedelte, abgeriegelte und durch jahrelange Handels- und
Reiseblockaden ausgepowerte Enklave, tötet rund 1900 Menschen - zu mindestens zwei
Dritteln unbewaffnete Zivilisten, darunter rund 400 Kinder – und erklärt dies zu einer
Operation gegen den Terror.
Begründet wird dies mit dem Abschuss vorsintflutlicher, ungesteuerter Raketen, ausgelöst
durch eine von israelischen Militärs im Gazastreifen durchgeführte extralegale Hinrichtung
von Hamas-Militanten und Zivilisten. Diese palästinensischen Geschosse töten drei
israelische Zivilisten und richten geringfügigen Sachschaden in Israel an, stören über einige
Tage außerdem den zivilen Luftverkehr nach Israel beträchtlich. (In Gaza gibt es nach der
kompletten Zerstörung des dort mit EU-Mitteln gebauten Flughafens durch Israel keinerlei
Flugverkehr, abgesehen von den häufigen Angriffen durch israelische Bombenflugzeuge und
Drohnen).
Wie spiegelt sich dies in deutschen „Qualitätsmedien“ wie der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung (FAZ) und der Süddeutschen Zeitung (SZ)?
Mit erstaunlicher Uniformität kommentieren „pes.“ (FAZ) und Peter Münch (SZ) in den
Zeitungen vom 9.8. (Samstag) diese Vorgänge: verantwortlich ist in erster Linie Hamas, die
„endlich einsehen muß, „dass sie ihr Volk nicht weiter der krass überlegenen Kriegsmaschine
ausliefern darf.“(!) Das angebliche „Kalkül: Es müssen noch mehr Menschen sterben und
noch mehr Lebensgrundlagen zerstört werden, bis am Ende das weltweite Entsetzen so groß
ist, dass es den Israelis Einhalt gebietet.“ „Es ist also völlig logisch, dass in Gaza zwei blinde
Offensiven aufeinandertreffen. Es ist logisch, dass dies von außen keiner verhindern kann –
und jeder vernünftige Mensch muß daran verzweifeln.“ (SZ Kolumne auf S.4)
Na – wenn ohnehin nichts daran zu ändern ist, kann die deutsche und erst recht die USRegierung ja ruhig weiter Waffen und Finanzsubventionen an ihre israelischen
Regierungsfreunde senden, da muß sich der SZ-Leser nicht mehr darüber Sorgen machen!
Die Struktur des FAZ-Kommentars ist ganz ähnlich, da scheint es funktionierende
Kommunikationstunnel zwischen Frankfurt und München zu geben: „Hat es im Gazakrieg
noch nicht genug Tote gegeben? Wenn man sieht, mit welcher Strategie die Hamas bei den
Verhandlungen vorgegangen ist, könnte man auf den Gedanken kommen. Die
Palästinenserorganisation hat offenbar munter auf ihren Maximalforderungen beharrt“ (die
vorsichtshalber im Text nicht benannt werden). „Aber man darf von einer Regierung nicht
erwarten, dass sie die Hände in den Schoß legt, wenn Leib und Leben ihrer Bürger gefährdet
sind“ – sondern hat als abgeklärter FAZ-Journalist Verständnis dafür, dass dann eben
tausende unbewaffneter palästinensischer Zivilisten getötet und verletzt werden müssen.
Abschließend: „Und es stimmt einfach nicht, dass immer Israel an allem schuld ist.“ (!) FAZ
= Frankfurter Allgemeiner Zynismus.
Die Situation in Gaza wird mit einiger Berechtigung immer wieder mit einem Ghetto
verglichen: 1,8 Millionen sind von der Außenwelt abgeriegelt, für ein normales Leben
notwendige Versorgungsgüter werden ihnen durch eine Blockade ganz unzureichend
geliefert, der Seeweg ebenso wie jeder Flugverkehr ist abgeschnitten.
Der Aufstand in diesem Ghetto, gegen die uneingeschränkt überlegene Besatzungs- und
Belagerungsmacht, erhebt folgende einfache Forderungen, vom israelischen Journalisten
Gideon Levy (Ha’aretz) als faire Grundlage für eine Verständigung eingeschätzt:
• Die israelische Armee soll aus dem Gaza-Streifen abziehen und
• Den palästinensischen Bauern erlauben, ihr Land bis an den Grenzzaun zu Israel zu nutzen.
• Die Palästinenser sollen wieder freigelassen werden, die erst im Austausch für den
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israelischen Soldaten Gilat Schalit freikamen und dann bald danach wieder inhaftiert wurden.
• Die Belagerung muss beendet und die Grenze wieder geöffnet werden; ebenso der Hafen
und der internationale Flughafen unter UN-Kontrolle.
• Die Fischereizone muss erweitert, der Grenzübergang in Rafah international überwacht
werden.
• Israel soll eine zehnjährige Waffenruhe zusagen und eine Schließung des Luftraums über
dem Gaza-Streifen für israelische Flugzeuge akzeptieren.
• Einwohner des Gaza-Streifens erhalten die Erlaubnis, nach Jerusalem zu reisen, um dort an
der Al-Aksa-Moschee zu beten.
• Israel möge sich nicht in die palästinensische Innenpolitik einmischen, zumal mit Blick auf
die Einheitsregierung von Hamas und Fatah.
• Und zu guter Letzt soll Gazas Industriezone eröffnet werden.
Levy resümiert: „Die Hamas und der Islamische Dschihad fordern Freiheit für den
Gaza-Streifen. Es gibt wohl keine Forderung, die verständlicher und berechtigter ist. Wenn
wir das nicht akzeptieren, werden wir nicht den gegenwärtigen Zyklus der Gewalt
durchbrechen, und in einigen Monaten wird alles so weitergehen wie bisher.“
Es ist schade, dass wir in unseren sogenannten Qualitätsmedien einen so abgewogenen
Beitrag zur Meinungsbildung nur mühsam auffinden können.
Matthias Jochheim, IPPNW
SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel e.V.
www.salamshalom-ev,de
salamshalom.ak@gmail.com
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Michael Lüders im Interview
„Eine Schande für Deutschland“
Angesichts der gescheiterten Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern
in Kairo hat der Nahost-Experte Michael Lüders den Westen aufgefordert, mehr Druck
auf die israelische Regierung auszuüben. Im Deutschlandfunk appellierte er vor allem
an die Bundesregierung, ihre Politik gegenüber Israel zu überdenken.
Der Nahost-Konflikt werde noch weiter schwelen, er werde immer brutaler, grausamer, sagte
Michael Lüders im Deutschlandfunk. Nach Angaben der Vereinten Nationen werde der Gazastreifen im Jahr 2020 nicht mehr bewohnbar sein, weil es dort eine ökologische Katastrophe
geben wird. Man könne nicht mehr nur einfach zuschauen. Zur deutschen Staatsräson gehöre
auch, dass man den Freunden Israels sage: "Bestimmte Dinge gehen nicht". Die Bundesregierung sei in der Lage, klare Kante zu zeigen, auch gegenüber den Freunden Israels (vielleicht
ist „dem befreundeten Israel“ gemeint ?), aber sie habe nicht den Mut, dieses zu tun und das
sei bedauerlich.
Lüders sieht im Moment nicht die Bereitschaft in der deutschen Politik, eine Neuorientierung
vorzunehmen. Es sei ja nicht einmal der Mut vorhanden, einen Ausdruck des Bedauerns
darüber zu tätigen, dass so viele Zivilisten getötet worden seien im Gazastreifen. Das sei eine
Schande für ein Land wie Deutschland.
Das Interview in voller Länge:
Christine Heuer: Israel und die Hamas schießen wieder aufeinander, noch vor Ablauf der
letzten Waffenruhe, auf die beide Seiten sich geeinigt hatten, wurden Raketen aus dem
Gazastreifen abgefeuert, das israelische Militär fliegt wieder Angriffe und konzentriert sich
dabei gegenwärtig offenbar auf die Zerstörung bestimmter Wohnhäuser. Gestern Abend
nahmen die Israelis das Haus von Mohammed Deif ins Visier, der Hamas-Militärchef gilt
Israel als Staatsfeind Nummer eins.
Am Telefon ist Michael Lüders, Nahostexperte, selbstständiger Publizist – guten Tag, Herr
Lüders!
Michael Lüders: Schönen guten Tag, hallo!
Heuer: Der Krieg geht also weiter. War etwas anderes überhaupt jemals zu erwarten?
Lüders: Nicht, solange es keine politische Lösung gibt für diesen Konflikt. Und das, was die
Hamas verlangt, und mit ihr auch gemäßigte Palästinenser im Westjordanland, das ist ein
Ende der Blockade des Gazastreifens, ist die Öffnung der Grenze, ist eine Wiederannäherung
der Volkswirtschaften im Westjordanland mit dem Gazastreifen. Aber dazu ist man auf
israelischer Seite nicht bereit, solche Zugeständnisse zu geben. Man hat gerade einmal den
Fischern im Gazastreifen zugestanden, über eine halbe Meile weiter hinaus ins Mittelmeer zu
fahren, mehr nicht. Das reicht der Hamas nicht. Und solange es hier keine Lösung gibt, wird
dieser Krieg auch weitergehen.
Heuer: Herr Lüders, aber mal im Ernst, würden Sie Israel denn raten, das zu tun, die GazaBlockade aufzuheben angesichts der Aggression aus Gaza?
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Israel kann die Hamas nicht besiegen
Lüders: Ein Konflikt wie dieser ist komplex, und es gibt natürlich mehr als nur einen
Verantwortlichen. Aber man muss doch klar sagen, dass die Feuerpause zwischen der Hamas
und Israel gehalten hat seit der letzten Vereinbarung im Dezember 2012 bis jetzt in den
letzten Monat hinein, Juli 2014, nachdem die israelische Armee einen Führer der Hamas, so
wie es jetzt gerade wieder geschehen ist, im Norden des Gazastreifens getötet hatte. Zuvor
waren drei israelische Jugendliche entführt und ermordet worden, dafür hat man die Hamas
verantwortlich gemacht. Erst von dem Moment an begann die Hamas wieder, Israel zu
beschießen.[1] Vorher gab es Monate des Friedens, aber man hat sie nicht genutzt, um eine
Lösung zu finden, und jetzt hat sich der Konflikt wieder entladen. Wer sollte jetzt den ersten
Schritt machen, der eine auf den anderen zugehen, der andere auf den einen? – klar ist, von
alleine wird es keine Bewegung geben. Die westliche Politik wäre gefordert, reagiert aber
nicht.
Heuer: Sie haben das Bombardement des Hauses vom Hamas-Militärchef Deif erwähnt. Ist
das eine neue Eskalation? Wird das die Dinge weiter hochschrauben?
Lüders: Als Ende Juli die israelische Luftwaffe einen anderen Hamas-Führer getötet hatte,
war das der letzte Funken, der das Pulverfass zur Explosion gebracht hat. Von dem Moment
an begann das Bombardement Israels, und ich nehme an, dass die israelischen Militärs diese
Tat, diesen versuchten Mord, wie es die israelische Zeitung "Haaretz" nennt, veranlasst
haben, wissen, dass sie damit die Chancen auf eine diplomatische Lösung nicht gerade
erhöhen. Und das Dilemma ist, dass die israelische Seite glaubt, sie könne die Hamas
militärisch besiegen. Das kann sie aber nicht.
Heuer: Kann sie nicht – warum nicht?
Lüders: Das kann sie deswegen nicht, weil sie zu stark geworden ist. Sie ist, nicht zuletzt
aufgrund der über 2.000 Toten, die es gegeben hat, davon die allermeisten Zivilisten,
mittlerweile die einzige Institution, mit der sich die Menschen im Gazastreifen identifizieren
können. Sie ist nicht geschwächt, sondern gestärkt worden. Und vergessen wir nicht, seit 1987
im Zuge der ersten Intifada die Hamas entstand, damals aktiv unterstützt von der israelischen
Seite, um die PLO und die Fatah unter der damaligen Führung zu schwächen, Jassir Arafat, da
hat man geglaubt, man könnte die Hamas kontrollieren auf Dauer. Das ist aber nicht
gelungen. Sie ist immer stärker geworden. Und es bedarf einer politischen Lösung, die wird es
aber nicht geben, und es ist unklug, mit ihr nicht reden zu wollen, auch von europäischer Seite
nicht mit der Hamas reden zu wollen. Es ist eine Organisation, die man wahrhaftig nicht
schätzen muss. Sie hat eine fragwürdige Ideologie, ein sehr fragwürdiges Verständnis von
Theologie, aber die Menschen in ihrer Ausweglosigkeit orientieren sich an der Hamas. Das
kann man durch Bomben nicht lösen.
Heuer: Also die Hamas gewinnt jeden Krieg, und sei es auch nur psychologisch, da verstehe
ich Sie richtig. Aber was raten Sie denn nun Israel in dieser Situation?
Relaunch der eigenen Politik empfohlen
Lüders: Tja, im Grunde genommen einen kompletten Relaunch der eigenen Politik. Es gab ja
Friedensgespräche über Jahre hinweg. Die sind alle in einer Sackgasse gemündet, zuletzt im
April hat John Kerry, der amerikanische Außenminister, die Friedensgespräche für gescheitert
erklärt. Bei diesen Friedensgesprächen wurde der Gazastreifen nicht einmal behandelt. Es
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ging nur um das Westjordanland. Die sind gescheitert, die Verhandlungen, weil, so John
Kerry, die Siedlungspolitik kein Thema sei für die israelische Politik. Es gibt in Israel
mittlerweile eine starke Dominanz in der Politik und in der Gesellschaft, die glaubt, man
könne mit den Palästinensern nicht reden, keine Kompromisse schließen, man müsse eine
Politik der militärischen Härte führen. Aber was soll geschehen mit den sechseinhalb
Millionen Palästinensern, die unter israelischer Besatzung leben? Diese Frage beantwortet
kein israelischer Politiker. Das geht nicht mit militärischer Gewalt. Man kann ein anderes
Volk nicht dauerhaft kujonieren. Nur diese Einsicht ist der israelischen Politik nicht gegeben,
und da es keinen Druck gibt von westlicher Seite, hat die israelische Regierung auch keinen
Anlass, ihre Strategie zu überdenken.
Heuer: Herr Lüders, jetzt sprechen Sie das dritte Mal das Ausland an, mögliche Vermittler,
Staaten, die möglicherweise Druck ausüben können. An wen richten sich Ihre Appelle da vor
allen Dingen? An die USA? Sie haben die Europäer erwähnt – was sollen die Europäer da
ausrichten? Spielen die überhaupt eine Rolle?
Lüders: Die Europäer könnten eine Rolle spielen, könnten sich auch lösen von der zu engen
Verflechtung amerikanischer Politik und israelischer Politik. Sie sind aber dazu nicht geneigt.
Die Europäer folgen der amerikanischen Linie, und das ist nicht nachvollziehbar. Denken wir
nur an die Milliardeninvestitionen, die mit Steuergeldern der Europäischen Union auch von
uns Deutschen im Gazastreifen geleistet worden sind. Unter anderem ist dort ein Flughafen
gebaut worden – alles komplett zertrümmert von der israelischen Armee. Es ist vielen
Beobachtern ein Rätsel, warum die Europäische Union nicht dieses jemals der israelischen
Regierung in Rechnung gestellt hat. Stattdessen hat die Bundesregierung gerade beschlossen,
drei weitere U-Boote nach Israel zu liefern, die atomar bestückt werden können. Das kostet
den hiesigen Steuerzahler 400 Millionen Euro. 400 Millionen an Subventionen – muss das
sein, in einer solchen Situation, wo wir doch offiziell keine Waffen in Kriegsgebiete
exportieren.
Heuer: Da würde Ihnen jetzt die Bundesregierung mit der Staatsräson Deutschlands
antworten. Aber ich würde Sie gerne noch mal fragen, wer, Herr Lüders, soll es denn richten?
Oder reden wir einfach noch Jahrzehnte immer wieder über diesen unauflösbaren,
offensichtlich unauflösbaren Konflikt?
Der Konflikt ist lösbar
Lüders: Er ist lösbar, dieser Konflikt, und jeder weiß, wie er zu lösen wäre: indem es einen
palästinensischen Staat gibt an der Seite Israels. Nachfolgende israelische Regierungen haben
aber alles dafür getan, dass es diesen Staat nicht geben wird. Und da die Europäer und die
Amerikaner die israelische Regierung in dieser Frage nicht in die Pflicht nehmen, keinerlei
Druck auf die israelische Regierung ausüben, hat die Regierung Netanjahu keine
Veranlassung, ihren Kurs zu ändern. Dieser Konflikt wird noch weiter schwelen, er wird
immer brutaler, immer grausamer werden. Die Menschen werden einen hohen Preis bezahlen.
Die Vereinten Nationen sagen, dass im Jahr 2020 der Gazastreifen nicht mehr bewohnbar sein
wird, weil es dort eine ökologische Katastrophe geben wird. Kein Wasser mehr trinkbar,
keine landwirtschaftlichen Flächen mehr zu bebauen. Wir können nicht mehr nur einfach
zuschauen und zur Staatsräson, der deutschen Staatsräson gehört sicherlich auch, dass man
den Freunden Israels (dem befreundeten Israel?) in aller Freundschaft sagt, bestimmte Dinge
gehen nicht. Internationale Rechtsnormen gelten auch für euch. Die Bundesregierung ist in
der Lage, klare Kante zu zeigen, auch gegenüber den Freunden Israels (dem befreundeten
Israel?), aber sie hat nicht den Mut, dieses zu tun, und das ist bedauerlich, denn es kann nicht
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sein, dass wir auf eine zu einseitige Art und Weise eine Politik in Israel unterstützen, die auch
den gemäßigten Kräften in Israel in den Rücken fällt. Es ist ja mittlerweile für linksliberale
Journalisten beispielsweise geradezu gefährlich geworden, offen Kritik an dieser israelischen
Politik zu üben. Gideon Levy von "Haaretz" ist dafür das prominenteste Beispiel.
Heuer: Herr Lüders, wie optimistisch sind Sie, dass jemand diesem Appell, der ja nicht nur
von Ihnen, aber jetzt eben gerade aktuell von Ihnen kommt, Folge leisten wird?
Lüders: Politik ist eigentlich nur dann lernfähig, wenn Druck da ist, sich so sehr aufbaut, dass
Veränderungen erzwungen werden. Ich sehe im Moment nicht die Bereitschaft in der
deutschen Politik eine Neuorientierung vorzunehmen. Es ist ja nicht einmal der Mut
vorhanden, einen Ausdruck des Bedauerns darüber zu tätigen, dass so viele Zivilisten getötet
worden sind im Gazastreifen. Nicht einmal dazu reicht der Mut. Das ist eine Schande für ein
Land wie Deutschland. Das heißt ja nicht, dass man mit Israel bricht, dass man Israel nun auf
unangemessene Art und Weise kritisiert. Aber Schweigen im Angesicht dieser Tragödie, die
die Palästinenser im Gazastreifen durchleben, das kann man nicht. Und es ist auch zu einfach,
nur die Hamas verantwortlich zu machen und zu sagen, sie haben diesen Konflikt allein
herbeigeführt. Es gehören immer zwei zum Tango, und die israelische Seite hat auch ihre
Verantwortung zu tragen.
Heuer: Der Nahostexperte Michael Lüders. Ich danke Ihnen für das Interview!
Lüders: Vielen Dank!
Quelle: Deutschlandfunk, 20.8.2014
Anmerkung
[1] An dieser Stelle drückt sich Lüders missverständlich aus, Die Hamas beendete die im
November vereinbarte Waffenruhe nicht im Zusammenhang mit der Entführung und Ermordung der drei jüdischen Jugendlichen. Im Gegenteil, sie hielt sich weiter an die Vereinbarung,
auch als die israelische Armee – unter dem Vorwand, nach den entführten Jugendlichen zu
suchen - in einer gewaltigen Militäraktion 18 Tage lang im Westjordanland gegen Personen
und Einrichtungen vor allem der Hamas wütete. Erst als die Armee am 7. Juli im Gazastreifen
5 Hamaskämpfer getötet hatte (oder nach der von Lüders vertretenen Version: einen Hamasführer), flogen die ersten Hamas-Raketen, die 19 Monate lang nicht geflogen waren. Im
nächsten Absatz sagt Lüders das auch so.
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Amira Hass
Grünes Licht aus Europa für das Morden
und für die Zerstörung und Pulverisierung
Gazas
Wenn die Sicherheit der Juden im Nahen Osten von wirklichem Interesse für
europäische Länder wie Deutschland und Österreich wäre, würden sie nicht
fortfahren, die israelische Besatzung zu subventionieren.
Mit seinem fortgesetzten Schweigen kollaboriert das offizielle Deutschland mit Israel auf
dessen gegen das palästinensische Volk in Gaza gerichteten Reise von Zerstörung und Tod.
Deutschland ist nicht allein - Österreichs Schweigen ist ebenfalls ohrenbetäubend.
Aber warum sollten wir diese beiden Länder aussondern? Am zweiten oder dritten Tag des
Krieges, war Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht die einzige, die erklärte, dass sie auf
Seiten Israels stand. Die gesamte Europäische Union unterstützte Israel und sein Recht auf
"Selbstverteidigung".
Ja, Frankreich und Großbritannien haben sich letzte Woche etwas gewunden und machten ein
paar schwache Geräusche des Protests. Aber die ursprüngliche Haltung der EU vom 22. Juli
hallt noch nach. Sie warf derjenigen Seite, die unter einer langanhaltenden Belagerung durch
Israel steht, vor, die Eskalation herbeigeführt zu haben. Es ist die Seite, die sich trotz aller
europäischen Erklärungen über deren Recht auf Selbstbestimmung und einen unabhängigen
Staat in der Westbank und im Gazastreifen noch immer unter israelischer Besatzung befindet,
nach 47 Jahren.
Die EU-Mitgliedstaaten und offensichtlich auch die Vereinigten Staaten gaben Israel grünes
Licht, zu töten, zu zerstören und zu pulverisieren. Sie bürdeten die Hauptlast an der Schuld
den Menschen auf, die Raketen starten, den Palästinensern. Die Raketen stören die "Ordnung"
und die "Ruhe", sie gefährden die Sicherheit Israels, welches so schwach und verletzlich ist
und stets ohne jeglichen Grund angegriffen wird.
Im Grunde befürworten die Vereinigten Staaten und Europa den Status quo, unter welchem
der Gazastreifen von der Westbank abgeschnitten wird. Die israelische Belagerung des
Gazastreifens und die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank
sind Israels Ruhe, Ordnung und Sicherheit. Wer immer es wagt diese zu verletzen, muss
bestraft werden. In ihren leidenschaftlichen Deklarationen zu Israels Recht auf
Selbstverteidigung verabsäumen es die EU-Beamten, das Recht der Palästinenser auf
Sicherheit oder Schutz vor der israelischen Armee zu erwähnen.
Europa und die Vereinigten Staaten gaben Israel jenes grüne Licht zur Eskalation - zu
zerstören, zu töten und Leid in nie gekanntem Ausmaß zu verursachen – keineswegs erst bei
Ausbruch der gegenwärtigen Feindseligkeiten. Sie gaben es ihm bereits im Jahr 2006, als sie
sich an die Spitze des Boykott gegen die Hamas-Regierung, die in einer demokratischen
Wahlen gewählt worden war, stellten.
Selbst damals entschieden sie sich dafür, die gesamte besetzte palästinensische Bevölkerung
kollektiv zu bestrafen, und zugleich den Hauptgrund, dafür, dass diese Organisation eine
Mehrheit gewonnen hatte, zu ignorieren: Das palästinensische Schoßtier-Regime, das Europa
hochgepäppelt hatte – die Palästinensische Autonomiebehörde. Dieses Regime bleibt von
zwei Übeln getrübt – Korruption und das Versagen seiner diplomatischen Taktiken, die
Unabhängigkeit zu erreichen.
Das Verhalten der PA hat zu einer Situation geführt, in der Verhandlungen, die Bereitschaft
ein Friedensabkommen mit Israel zu erreichen und sogar die Opposition gegen den
bewaffneten Kampf, aus moralischen und praktischen Gründen, zu einem Synonym für die
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Bereicherung einer kleinen Gruppe geworden ist – neben seiner zynischen Missachtung der
Rechte und Bedingungen eines Großteil der Bevölkerung.
Weder Ruhe noch Ordnung
Man kann verstehen, dass die israelischen Sicherheitsexperten wiederholt die offenen und
verborgenen Strömungen, die die palästinensische Gesellschaft durchziehen und die immer
und immer wieder die „Ruhe“ stören, missinterpretieren. Diese Expertenhirne sind nicht
darauf programmiert, zu begreifen, dass die Ruhe und Ordnung. die sie bewahren sollen,
weder ruhig noch in Ordnung sind.
Vor zwei Wochen sagte Jacob Perry, der Publikumsliebling und eine Schlüsselfigur in dem
Dokumentarfilm "The Gatekeepers", er hoffe, dass der Sicherheitsapparat in der Lage wäre,
die neueste Welle von Demonstrationen in der Westbank einzudämmen.
"Diese Demonstrationen sind schlecht für sie und für uns", sagte der ehemalige Leiter des
Shin Bet-Sicherheitsdienstes in einer typisch paternalistischen Weise. Tatsächlich fährt die
Armee, die seinen Ratschlag nicht erst abwartete, damit fort, Demonstranten zu töten, die
keine Soldatenleben gefährden. Sie tun dies jede Woche und verwunden Dutzende andere
(zwei weitere wurden an diesem Wochenende getötet). Selbst nach 47 Jahren haben die
Sicherheitsbeamten nicht begriffen, dass die Unterdrückung nicht zu einer Unterwerfung
führt. Sie schiebt höchstens eine weit blutigere Konfrontation auf - wie es jetzt in Gaza
geschieht.
Aber was ist mit den europäischen Experten, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen,
Diplomaten und zivilen und militärischen Beratern, und was mit all den Lehren, die sich in
den vielen Jahren des Kolonialismus angesammelt haben? Man hätte meinen können, dass all
diese Menschen und Ereignisse Europa davon abgehalten hätten, einen solch ungeheuerlichen
Fehler im Jahr 2006 zu begehen, aus dem all die Eskalationen entstanden sind, die in
palästinensischem Blut getränkt sind.
Der Boykott der Hamas, welcher in Wirklichkeit ein politischer Boykott der palästinensischen
Bevölkerung in den besetzten Gebieten war, ermutigte Fatah und den PA-Präsidenten
Mahmoud Abbas, die Wahlergebnisse mittels undemokratischer Mittel über den Haufen zu
werfen. Der Boykott und die westliche Verachtung für das Wahlergebnis haben Hamas
lediglich in extremes und verzweifeltes Fahrwasser getrieben, und sie in einen Märtyrer und
in der öffentlichen Meinung in eine respektable Alternative verwandelt.
In der Tat war dies nicht ein "Fehler", sondern eine bewusste Entscheidung. Europäische
Länder und die Vereinigten Staaten sind bereit, Milliarden von Dollars in den
palästinensischen Gebieten für den Wiederaufbau jener Trümmer zu investieren, die erst
durch den Gebrauch amerikanischer und wahrscheinlich europäischer Waffen geschaffen
wurden. Diese Dollars sind bestimmt für humanitäre Katastrophen, die durch die israelische
Besatzung verursacht wurden.
Europa und die Vereinigten Staaten sind bereit, Zelte, Nahrung und Wasser zu finanzieren,
um eine Führung zu domestizieren, die durch diese Spenden gefangen gehalten wird. Diese
Führer versprechen deshalb, die Ruhe und Ordnung nicht zu stören. Was der Westen schätzt
und liebt, sind nicht Gerechtigkeit und die Rechte der Palästinenser, sondern es ist die
Aufrechterhaltung der "Stabilität".
Deutschland und Österreich sind besonders bemerkenswert. Nur ihretwegen entsteht der
Eindruck, dass die Europäische Union Israel so unterstütze aufgrund von Schuldgefühlen über
die Ermordung der europäischen Juden unter der deutschen Besatzung und aufgrund einer
moralischen Verpflichtung gegenüber dem direkten Ableger dieses geschichtlichen Kapitels,
dem Staate Israel.
Vom Holocaust beschirmt besteht keine Notwendigkeit, die westlichen Interessen, ob
amerikanische oder europäische, zu diskutieren. Zu diesen gehören die weitere Kontrolle –
durch vertrauenswürdige Mittler – von Öl-und Gasvorkommen, der Schutz der Märkte und
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die Sicherung der "Sicherheit" Israels als einer westlichen Macht und als eines stabilen
Gebildes, das die Veränderungen in der Region eindämmen und dagegen vorgehen kann.
Wenn die Sicherheit der Juden im Nahen Osten für die europäischen Länder von wirklichem
Interesse wäre, vor allem für Deutschland und Österreich, dann würden sie nicht fortfahren,
die israelische Besatzung zu subventionieren. Sie würden Israel nicht permanent grünes Licht
zum Töten und Zerstören geben.
Übersetzung: Clemens Messerschmid
Ha’aretz, 11. August 2014
http://www.haaretz.com/news/diplomacy-defense/.premium-1.609866
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Anzeige in der New York Times
Überlebende Juden und Nachkommen von Überlebenden
und Opfern des Nazi-Völkermordes verurteilen unmissverständlich das Massaker an Palästinensern in Gaza
Diese Anzeige wurde als offener Brief von 327 überlebenden Juden und
ihren Nachkommen (vorwiegend aus Europa und USA) unterschrieben
Als überlebende Juden und Nachkommen von Überlebenden und Opfern des
Nazi-Völkermordes verurteilen wir unmissverständlich das Massaker an
Palästinensern in Gaza und die andauernde Besatzung und Kolonisierung des
historischen Palästina. Darüber hinaus verurteilen wir die Vereinigten Staaten
für die finanzielle Unterstützung der israelischen Aggression, allgemeiner die
Staaten des Westens, die ihre diplomatische Macht einsetzen, um Israel vor
Verurteilung zu schützen. Völkermord beginnt mit dem Schweigen der Welt.
Wir sind alarmiert durch die extreme rassistische Entmenschlichung der
Palästinenser in der israelischen Gesellschaft, die einen erschreckenden
Höhepunkt erreicht hat. In Israel haben Politiker und angesehene Experten in der
Times of Israel und der Jerusalem Post offen zum Völkermord an den
Palästinensern aufgerufen, und rechtsgerichtete Israels bedienen sich der
Symbole von Neo-Nazis.
Darüber hinaus sind wir angewidert und empört, wie Elie Wiesel in dieser
Zeitung unsere Geschichte missbraucht zur Rechtfertigung dessen, was nicht zu
rechtfertigen ist: Israels umfassender Versuch, Gaza zu zerstören und der Mord
an mehr als 2000 Palästinensern, einschließlich Hunderter von Kindern. Nichts
kann die Bombardierung von UN-Schutzräumen, Wohnhäusern,
Krankenhäusern und Universitäten rechtfertigen. Nichts kann rechtfertigen, dass
man den Menschen Strom und Wasser vorenthält.
Wir müssen gemeinsam unsere Stimme erheben und gemeinsam all unsere
Kräfte einsetzen, um allen Formen des Rassismus ein Ende zu bereiten,
einschließlich des fortgesetzten Völkermords am palästinensischen Volk. Wir
rufen auf zu einer sofortigen Beendigung der Belagerung und der Blockade des
Gazastreifens. Wir rufen auf zu einem vollständigen wirtschaftlichen,
kulturellen und akademischen Boykott Israels. „Nie wieder“ kann nur bedeuten:
NIE WIEDER, AN KEINEM ORT DER WELT!
Übersetzung: Jürgen Jung und Eckhard Lenner
http://ijsn.net/gaza/survivors-and-descendants-letter/
http://www.spiegel.de/politik/ausland/israel-luftangriff-bringt-hohes-wohnhaus-zum-einsturz-a-987750.html
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Desmond Tutu
Mein Appell an das Volk Israels: Befreit
euch, indem ihr Palästina befreit 14.8.2014
Erzbischof Emeritus Desmond Tutu ruft in einem exklusiven Artikel für
Haaretz zu einem globalen Boykott Israels auf und drängt Israelis und
Palästinenser, jenseits ihrer Staatsführer nach einer nachhaltigen
Lösung der Krise im Heiligen Land zu suchen.
In den vergangenen Wochen erlebten wir beispiellose Handlungen durch Mitglieder der
Zivilgesellschaft rund um den Globus gegen die Ungerechtigkeit von Israels unverhältnismäßig brutaler Reaktion auf die Raketenabschüsse aus Palästina.
Zählt man alle Menschen zusammen, die sich am vergangenen Wochenende versammelt
haben, um Gerechtigkeit in Israel und Palästina zu fordern – in Kapstadt, Washington D.C.,
New York, Neu-Delhi, London, Dublin und Sydney, und all den anderen Städten – so war
dies sicherlich der größte öffentliche Aufschrei für ein einzelnes Anliegen in der Geschichte
der Menschheit.
Vor einem Vierteljahrhundert nahm ich an einigen gut besuchten Demonstrationen gegen die
Apartheid teil. Ich hätte mir nie vorstellen können, wieder Demonstrationen dieser Größe zu
sehen. Aber die Teilnehmerzahl am letzten Samstag in Kapstadt war genauso groß, wenn
nicht größer als damals. Unter den Teilnehmern waren Junge und Alte, Muslime, Christen,
Juden, Hindus, Buddhisten, Agnostiker, Atheisten, Schwarze, Weiße, Rote und Grüne
vertreten ... wie man es von einer dynamischen, toleranten, multikulturellen Nation erwarten
würde .
Ich bat die Menge, mit mir zu skandieren: “Wir sind gegen die Ungerechtigkeit der illegalen
Besetzung von Palästina. Wir sind gegen das willkürliche Morden im Gazastreifen. Wir sind
gegen die Erniedrigung von Palästinensern an Kontrollpunkten und Straßensperren. Wir sind
gegen die von allen Beteiligten begangenen Gewalttaten. Aber wir sind nicht gegen Juden.”
Anfang der Woche forderte ich den Ausschluss Israels aus der Internationalen Architektenvereinigung, die in Südafrika tagte.
Ich bat die israelischen Schwestern und Brüder, die auf dieser Konferenz anwesend waren,
darum, sich persönlich und auch in ihren beruflichen Aktivitäten, aktiv von dem Entwurf und
der Konstruktion der Infrastruktur zu distanzieren, durch die das Unrecht aufrechterhalten
wird. Dazu zählen sowohl die Trennmauer, die Sicherheitsstationen und die Kontrollpunkte,
als auch die Siedlungen, die auf besetzten Gebieten der Palästinenser errichtet wurden.
“Ich bitte Sie, diese Botschaft mit auf den Weg zu nehmen: Bitte wenden Sie das Blatt gegen
Gewalt und Hass, indem Sie sich der gewaltlosen Bewegung für Gerechtigkeit für alle
Menschen in der Region anschließen” sagte ich.
In den vergangenen Wochen sind mehr als 1,6 Millionen Menschen weltweit dieser
Bewegung beigetreten, indem sie eine Avaaz-Kampagne unterzeichnet haben, die Firmen, die
von der israelischen Besetzung profitieren und/oder an der Misshandlung und Unterdrückung
54
von Palästinensern beteiligt sind, auffordert, sich zurückzuziehen. Die Kampagne richtet sich
insbesondere gegen den niederländischen Rentenfonds ABP, Barclays Bank, den Anbieter
von Sicherheitssystemen G4S, das französische Transportunternehmen Veolia, den
Computerhersteller Hewlett-Packard und den Bulldozerhersteller Caterpillar.
Letzten Monat haben 17 EU-Regierungen ihre Bürger gedrängt, keine Geschäfte mit oder
Investitionen in illegale israelische Siedlungen zu tätigen.
Wir wurden kürzlich auch Zeugen des Abzugs zweistelliger Millionenbeträge aus israelischen
Banken durch den niederländischen Rentenfonds PGGM, des Kapitalabzugs aus G4S durch
die Bill and Melinda Gates Foundation und des Abzugs geschätzter 21 Millionen Dollar aus
HP, Motorola Solutions und Caterpillar durch die presbyterianische Kirche der USA.
Es ist eine Bewegung, die an Fahrt gewinnt.
Gewalt erzeugt Gegengewalt und Hass, was wiederum mehr Gewalt und Hass erzeugt.
Uns Südafrikanern sind Gewalt und Hass nicht fremd. Wir kennen den Schmerz, die
Außenseiter der Welt zu sein; wenn es scheint, als verstünde niemand unsere Perspektive oder
wäre auch nur willens, zuzuhören. Das sind unsere Wurzeln.
Wir wissen auch um die Vorteile, die uns der Dialog zwischen unseren Staatsführern
schließlich gebracht hat; als das Verbot angeblich “terroristischer” Organisationen
aufgehoben und ihre Anführer, darunter Nelson Mandela, aus Haft, Verbannung und Exil
entlassen wurden.
Wir wissen, dass sich die Beweggründe für die Gewalt, die unsere Gesellschaft zerstört hatte,
auflösten und verschwanden, als unsere politischen Führungskräfte miteinander zu sprechen
begannen. Terrorakte, die nach Beginn der Gespräche begangen wurden – wie zum Beispiel
Angriffe auf eine Kirche und eine Kneipe – wurden fast einhellig verurteilt und der Partei, die
man dafür verantwortlich machte, wurde an der Wahlurne die kalte Schulter gezeigt.
Das Hochgefühl, das unserer ersten gemeinsamen Wahl folgte, war nicht allein den
schwarzen Südafrikanern vorbehalten. Der wahre Triumph unserer friedlichen Einigung war,
dass sich alle einbezogen fühlten. Und später, als wir eine Verfassung vorstellten, die so
tolerant, mitfühlend und integrativ ist, dass sie Gott stolz machen würde, fühlten wir uns alle
befreit.
Natürlich war es hilfreich, dass wir einen Kader herausragender Führungspersönlichkeiten
hatten.
Was diese Führungspersönlichkeiten jedoch letztlich zusammen an den Verhandlungstisch
zwang, war die Mischung aus überzeugenden, gewaltfreien Mitteln, die damals eingesetzt
worden waren, um Südafrika wirtschaftlich, akademisch, kulturell und psychologisch zu
isolieren.
Ab einem gewissen Zeitpunkt – dem Wendepunkt – realisierte die damalige Regierung, dass
die Kosten für die Aufrechterhaltung der Apartheid den Nutzen eindeutig überstiegen.
Der Rückzug verantwortungsbewusster multinationaler Konzerne aus dem Handel mit
Südafrika in den 1980ern war schließlich einer der entscheidenden Hebel, der den
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Apartheidstaat – ohne Blutvergießen – in die Knie zwang. Diese Unternehmen sahen ein, dass
sie zur Aufrechterhaltung eines ungerechten Status Quo beitrugen, indem sie zur Wirtschaft
Südafrikas beitrugen.
Diejenigen, die weiter mit Israel Handel treiben, die zu einem Gefühl der “Normalität” in der
israelischen Gesellschaft beitragen, tun den Menschen in Israel und Palästina damit keinen
Gefallen. Sie tragen damit nur zum Fortbestehen eines zutiefst ungerechten Status quo bei.
Diejenigen aber, die dazu beitragen, Israel für eine gewisse Zeit zu isolieren, sagen damit,
dass Israelis und Palästinenser ein gleichwertiges Recht auf Würde und Frieden haben.
Letztlich werden die Ereignisse der vergangenen Monate im Gazastreifen testen, wer an den
Wert der Menschen glaubt.
Es wird immer deutlicher, dass Politiker und Diplomaten einfach keine Anworten finden und
dass die Verantwortung, eine nachhaltige Lösung für die Krise im Heiligen Land zu
erarbeiten, bei der Zivilgesellschaft und den Bewohnern Israels und Palästinas selber liegt.
Abgesehen von der jüngsten Verwüstung im Gazastreifen sind anständige Menschen überall –
darunter auch viele in Israel – zutiefst verstört von der Tatsache, dass täglich die
Menschenwürde und die Bewegungsfreiheit der Palästinenser an Kontrollpunkten und
Straßensperren verletzt wird. Und die Tatsache, dass Israel die illegale Besetzung und die
Errichtung von Pufferzonen-Siedlungen auf besetztem Land vorantreibt, verschärft die
Problematik, eine zukünftige Einigung zu erarbeiten, die für alle akzeptabel ist.
Der Staat Israel verhält sich, als gäbe es kein Morgen. Seine Bewohner werden nicht das
friedliche und sichere Leben haben, nach dem sie sich sehnen – und auf das sie Anrecht haben
– so lange seine Führung Bedingungen aufrechterhält, die den Konflikt am Leben erhalten.
Ich habe diejenigen verurteilt, die in Palästina für das Abfeuern von Geschossen und Raketen
auf Israel verantwortlich waren. Sie schüren die Flammen des Hasses. Ich bin gegen alle
Manifestationen der Gewalt.
Aber wir müssen uns absolut darüber im Klaren sein, dass die Palästinenser jedes Recht
haben, für ihre Würde und Freiheit zu kämpfen. Es ist ein Kampf, der von vielen Menschen
auf der Welt unterstützt wird.
Kein von Menschen geschaffenes Problem ist unlösbar, wenn die Menschen sich mit der
ernsthaften Absicht zusammensetzen, es zu überwinden. Frieden ist immer möglich, wenn die
Menschen entschlossen sind, ihn zu erreichen.
Frieden erfordert von den Menschen in Israel und Palästina, sich selbst und den anderen als
menschliche Wesen anzuerkennen, um ihre wechselseitige Abhängigkeit zu verstehen.
Raketen, Bomben und ungehobelte Schmähungen sind nicht Teil der Lösung. Es gibt keine
militärische Lösung.
Die Lösung könnte wohl eher in dem gewaltlosen Instrumentarium liegen, das wir in den
1980ern in Südafrika entwickelt haben, um die Regierung von der Notwendigkeit zu
überzeugen, ihre Politik zu ändern.
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Der Grund dafür, dass dieses Instrumentarium – Boykott, Sanktionen und Kapitalabzug – sich
letztendlich als effektiv erwiesen hat, war, dass es eine kritische Masse an Unterstützung
erhielt, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes. Die Art von Unterstützung, die wir
in den vergangenen Wochen auf der ganzen Welt in Bezug auf Palästina beobachtet haben.
Mein Appell an die Menschen in Israel ist es, über den Augenblick hinauszuschauen, über die
Wut der andauernden Belagerung hinauszuschauen, und vielmehr eine Welt zu sehen, in der
Israel und Palästina koexistieren können – eine Welt, in der gegenseitige Würde und Respekt
herrschen.
Es erfordert ein Umdenken. Ein Umdenken mit der Erkenntnis, dass jeder Versuch, den
gegenwärtigen Status quo aufrechtzuerhalten, künftige Generationen zu Gewalt und Angst
verdammt. Ein Umdenken, das damit bricht, legitime Kritik an der Politik eines Staates als
Angriff auf das Judentum zu verstehen. Ein Umdenken, das zu Hause beginnt und sich über
Gemeinschaften und Länder und Regionen ausbreitet – bis hin zur Diaspora, die über die
Welt, die wir teilen, verstreut ist. Die einzige Welt, die wir teilen.
Menschen, die sich im Streben nach einem gerechten Anliegen zusammentun, sind nicht
aufzuhalten. Gott mischt sich nicht in die Belange der Menschen ein. Er hofft, dass wir
wachsen und lernen, indem wir unsere Schwierigkeiten und Differenzen selber lösen. Aber
Gott schläft nicht. Die jüdischen Schriften sagen uns, dass Gott vorzüglich auf der Seite der
Schwachen und der Vertriebenen steht, der Witwe, des Waisen und des Fremden, der Sklaven
freiließ, damit sie auszogen in ein gelobtes Land. Es war der Prophet Amos, der sagte wir
sollen Gerechtigkeit wie einen Strom fließen lassen.
Am Ende setzt sich das Gute durch. Das Streben danach, die Menschen in Palästina von der
Demütigung und Verfolgung durch die Politik Israels zu befreien, ist ein gerechtes Anliegen.
Die Menschen in Israel sollten dieses Anliegen unterstützen.
Von Nelson Mandela stammt der berühmte Ausspruch, die Südafrikaner würden sich nicht
frei fühlen, bis auch die Palästinenser frei sind.
Er hätte ebenfalls hinzufügen können, dass die Befreiung Palästinas auch Israel befreien wird.
Ursprünglich auf http://www.haaretz.com/opinion/1.610687 erschienen. Übersetzung erfolgte
durch die Avaaz-Gemeinschaft.
SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel e.V.
www.salamshalom-ev.de
salamshalom.ak@gmail.com
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