Fokus 2/2014
Transcription
Fokus 2/2014
© Fotonachweis westfotos.de - Fotolia.com Fokus · Adipositas Adipositas und das Energieproblem Zu viel Zufuhr bei zu wenig Verbrauch? Adipositas ist heute ein schwerwiegendes Problem mit jedoch häufig nur mageren Lösungen. Die entscheidende Ursache für die Adipositas liegt in einer positiven Energiebilanz, d. h., die Energiezufuhr liegt deutlich über dem tatsächlichen Bedarf. D ie meisten Menschen haben keine klaren Vorstellungen über ihren tatsächlichen Bedarf. Der Energiebedarf verteilt sich aus physiologischer Sicht auf den Ruhe-Nüchtern-Umsatz (RNU), die nahrungs(diät)induzierte Thermogenese (DIT) und die Bewegungsaktivität. Der Anteil dieser einzelnen Komponenten am Gesamtenergieumsatz wird dabei häufig unterbzw. überschätzt. Sinkender RNU begünstigt Adipositas Mit zunehmendem Lebensalter nimmt die fettfreie Masse prozentual deutlich ab. Zwischen dem 20. und 60. Lebensjahr sinkt daher der RNU um ca. 300-400 kcal. Bei über die Jahre unveränderter Kalorienzu- 12 D&I · 2/2014 fuhr ist somit die Entstehung von Adipositas vorhersehbar. Der RNU ist auch abhängig von der Schilddrüsenfunktion: Bei Überfunktion steigt er (um bis zu 100 %), bei Unterfunktion sinkt er. Nach chirurgischen Eingriffen kann er um ca. 25 %, bei schwerer Sepsis um ca. 80 % und bei großflächigen Verbrennungen um ca. 130 % steigen. Bei ca. 10-15 % der Bevölkerung liegt der RNU niedriger als der Erwartungswert. Bei normalerweise adäquater Kalorienzufuhr, bezogen auf das Körpergewicht, sind diese Menschen besonders prädestiniert für die Entwicklung einer Adipositas. Bei Verdacht auf einen verminderten RNU sollte dieser, soweit möglich, an entsprechenden Einrichtungen überprüft werden. Fokus · Adipositas Der Körper benötigt Rhythmen Wichtig ist, dass Pausen zwischen den Mahlzeiten sein sollten, wenigsten vier Stunden. Diese Zeit ist mindestens erforderlich, um annähernd wieder in den Nüchternzustand zurückzukehren. Zwischenmahlzeiten sind eher zu vermeiden. Sie führen dazu, dass der Körper zwischen dem Aufwachen und dem Schlafengehen permanent im Speicherzustand ist. Ergebnisse aus der Chronobiologie zeigen, dass der Körper unbedingt Rhythmen benötigt: Zeiten zum Speichern und zum Entspeichern und Zeiten von Spannung und Entspannung. Auch das Essen unter Stress, vor allem von kaloriendichten kohlenhydrat- und fettreichen Mahlzeiten begünstigt die unmittel- bare Speicherung des aufgenommenen Nahrungsfettes im Fettgewebe, wie neuere Untersuchungen zeigen. Ausreichend Schlaf spielt auch eine wichtige Rolle in der Prävention von Adipositas. Kurze Nächte, Schichtarbeit mit oft kurzen Wechseln oder, vor allem auch an den Wochenenden, regelmäßige Umkehrungen des Tag-Nacht-Rhythmus durch ausgedehnte Partybesuche begünstigen wohl in weitaus stärkerem Maße als bisher angenommen die Entstehung von Adipositas. Die Ausschüttung vieler stoffwechselaktiver Hormone wie Insulin, Glucagon, Adiponektin, Corticosteron, Leptin, Ghrelin und Wachstumshormon unterliegt zirkadianen Rhythmen. Werden diese Rhythmen unterbrochen, kommt es zu Imbalancen mit den entsprechend negativen metabolischen (aber auch kardiologischen) Auswirkungen. Der Einfluss sekundärer Pflanzenstoffe auf den Energieumsatz Eine Reihe von sekundären Pflanzeninhaltsstoffen kann die DIT deutlich steigern. Dazu zählen beispielsweise Catechine und Capsai- cin. Diese Substanzen können nicht nur die DIT, sondern auch den postprandialen Fettumsatz steigern. Das macht diese Substanzen interessant für die Industrie. Hier ist man dabei, verschiedene Extrakte beispielsweise aus grünem Tee oder Cayennepfeffer zu gewinnen und diese in Kapselform zu vertreiben. In grünem Tee findet man verschiedene Catechine: ■ Epigallocatechin-3-gallat (EGCG), ■ Epigallocatechin (EGC), ■ Epicatechin-3-gallat (ECG) und ■ Epicatechin (EC), wobei EGCG das biologisch bedeutsamste und wirksamste ist. Allerdings gibt es wohl Unterschiede in der Wirkung, je nachdem ob man EGCG in Kapselform zu sich nimmt oder als Gemisch mit den anderen Catechinen in grünem Tee. Grüner Tee soll sowohl den Energieumsatz als auch die Fettoxidation steigern. EGCG bzw. Catechin-Gemische in Kapselform steigern wohl hauptsächlich die Fettoxidation, insbesondere die der aufgenommenen Fette. Eigene Untersuchungen zeigten, dass eine Dosis von 300 mg EGCG pro Tag (das entspricht ca. 3-5 Tassen grünem Tee, je nach Herkunft und © Paco Ayala - Fotolia.com Die DIT einzelner Nährstoffe unter der Lupe Die DIT ist der Energieaufwand für Verdauung, Resorption, Transport und Speicherung der Nährstoffe. Sie macht ca. 8-12 % des Gesamtenergieumsatzes aus. Vergleicht man die einzelnen Hauptnährstoffe, so liegt die DIT für Fette bei ca. 2-4 %, für Kohlenhydrate bei ca. 4-8 % und für Proteine bei ca. 20-25 %. Die Energie für die DIT kommt vorwiegend aus der Oxidation von Fetten. Darin liegt wohl der Grund, warum von verschiedenen Seiten zurzeit empfohlen wird, den Anteil von Proteinen an der Gesamtenergiezufuhr deutlich von normalerweise ca. 15 % auf über 20 % zu erhöhen. Doch hierzu gibt es noch keine gesicherten und vor allem keine differenzierten Ergebnisse. Die Auswertung von Ernährungsprotokollen zeigt zudem, dass die Fett- und Kohlenhydrataufnahme starken individuellen Schwankungen unterliegt, nicht aber die Proteinaufnahme, die meist um die 15 % beträgt. Es gibt Hinweise, dass bei einer deutlich erhöhten Proteinaufnahme das Risiko für Osteoporose und rheumatische Erkrankungen zunimmt. Zudem ist hier sicherlich auch an ernährungsökologische Auswirkungen zu denken. Zwischen den Mahlzeiten sollten Pausen von mindestens vier Stunden liegen. Zwischenmahlzeiten stören den Rhythmus von Speichern und Entspeichern. D&I · 2/2014 13 Fokus · Adipositas © bernanamoglu - Fotolia.com mäßigen Kaffeetrinkern eine zusätzliche Wirkung von Catechinen kaum zu erwarten ist. Gewarnt wird ausdrücklich vor Produkten aus dem Internet mit unklarer Herkunft bzw. unklarer Zusammensetzung. Oftmals enthalten diese Produkte Schilddrüsenhormone oder Ephedrine bzw. andere den Energieumsatz steigernde Pharmaka, die bei uns nicht oder nicht mehr aufgrund ihrer Nebenwirkungen zugelassen sind, welche langfristig zu Schäden führen können. Adipöse müssen erst wieder lernen, sich mehr zu bewegen. Hier können Schrittzähler hilfreich sein. Zubereitung) offensichtlich optimal ist. Höhere Dosen sind – zumindest metabolisch – eher ineffektiv. Das ist ein wichtiger Punkt für die Praxis: Der Energieumsatz bzw. die DIT lässt sich nicht unbegrenzt steigern. Deshalb sollte man sich auf eine Catechin-Quelle als Nahrungsergänzungsmittel konzentrieren und nicht wahllos alle möglichen Catechin-haltigen Produkte konsumieren. Auch ist zu beachten, dass bei gewohnheits- Der Autor Dr. med. Michael Boschmann Facharzt für Klinische Pharmakologie und für Biochemie Charitè Universitätsmedizin Berlin Franz-Volhard-Centrum für Klinische Forschung am Experimental & Clinical Research Center (ECRC), 13125 Berlin michael.boschmann@charite.de 14 D&I · 2/2014 Alltägliche Bewegungsaktivität steigern Der Energieaufwand für körperliche Aktivität ist wohl am stärksten in den letzten Jahrzehnten gesunken und liegt bei ca. 20-30, mitunter auch 40 % des Gesamtenergieumsatzes, selten (bei schwerer körperlicher Arbeit) darüber. Die Abnahme der körperlichen Aktivität ist wohl hauptsächlich unserer Entwicklung zum Homo microsofticus geschuldet, denn es ist ja nicht so sehr die sportliche, sondern eher die alltägliche Bewegungsaktivität gesunken. Und genau hier ist auch anzusetzen bei der Therapie bzw. Prävention von Adipositas. Oft wird den Adipösen pauschal einfach mehr sportliche Aktivität empfohlen. Viele Adipöse sind dazu jedoch gar nicht in der Lage. Sie müssen zuerst wieder lernen, sich mehr zu bewegen. Untersuchungen zeigen, dass durch erhöhte Bewegungsaktivität, vor allem auch häufige Positionswechsel (vom Stuhl aufstehen und kurze Wege gehen, beispielsweise beim Telefonieren), bis zu 400 kcal zusätzlich umgesetzt werden können. Ein weiterer Vorteil von Bewegung ist, dass hierbei hauptsächlich Fette mobilisiert und abgebaut werden. Häufig taucht hier die Frage auf, wie viel Bewegung es denn sein sollte. Empfohlen werden derzeit etwa 10.000 Schritte pro Tag. Das sind bei einer mittleren Schrittlänge von 0,5 m ca. 5 km. Die Schrittzahl kann einfach mit Schrittzählern kontrolliert werden. Moderne Schrittzähler können Schrittzahlen über mehrere Tage bis Wochen speichern, können Angaben über die Intensität der Bewegung machen und die dabei verbrauchte Energie gut abschätzen. Erfahrungen aus einigen Hausarztpraxen zeigen, dass solche Schrittzähler tatsächlich viele Adipöse dazu motivieren, sich mehr zu bewegen. Sind die Adipösen erst einmal wieder in Bewegung gekommen, erhöht sich oft auch die kardiorespiratorische Fitness. Dann kann man auch zu sportlicher Aktivität übergehen. Das führt dann längerfristig zu Muskelaufbau. Oft kommt hier der Hinweis, dass mit dem Muskelaufbau auch der RNU ansteigt. Das stimmt prinzipiell, jedoch ist der Zuwachs eher gering: Bei einem Muskelzuwachs von 1 kg steigt der RNU um ca. 20 kcal. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Adipöse nicht nur eine genaue Ernährungsanamnese benötigen, sondern auch detaillierte und individuelle Informationen, wie sie ihren Energieverbrauch positiv beeinflussen können. Anzeige Leber entfetten – Insulinresistenz durchbrechen: Die Revolution in der Diabetes-Therapie? Immer mehr Veröffentlichungen belegen die Gesundheitsgefahr, die von einer nichtalkoholischen Fettlebererkrankung (Non-Alcoholic Fatty Liver Disease, NAFLD) ausgeht. Ein direkter Zusammenhang zwischen einer NAFLD und Krankheiten wie Arteriosklerose, Typ2-Diabetes und Krebs gilt als belegt.1 „Ohne Fettleber gibt es keinen Typ-2-Diabetes“, sagt Prof. Dr. Hans-Ulrich Häring, einer der weltweit führenden Forscher auf diesem Gebiet.2 Da schon heute rund 20 Millionen Deutsche (70 Prozent der Übergewichtigen und bis zu 90 Prozent der Diabetiker) an einer Leberverfettung leiden, sprechen Fachleute bereits von der „nächsten globalen Epidemie“. 3 Nach neuesten Erkenntnissen spielt die Entfettung der Leber eine Schlüsselrolle bei der Verbesserung bzw. Wiederherstellung der endokrinen und metabolischen Funktionen und einer erfolgreichen Blutzuckerkontrolle – gerade bei Typ-2-Diabetikern. Eine etablierte medikamentöse Therapie gibt es bislang nicht. Die einfachste und effektivste Maßnahme ist eine kurzfristige drastische Reduktion der Energiezufuhr. Leber gestoppt. Der Effekt: bessere Blutzuckerregulation, verbesserte Blutfettwerte und ein vermindertes kardiovaskuläres Risiko. Diabetikern bietet die Therapie die Möglichkeit, ihre Blutzuckerwerte unabhängig von einer Medikamenteneinnahme zu senken und eine bessere Blutzuckerkontrolle zu erreichen. Eine Untersuchung der Ernährungswissenschaftlerin Melanie Teutsch5 mit 15 Typ-2-Diabetikern bestätigt die positiven Stoffwechseleffekte. So wurden die Antidiabetika der Probanden zu Beginn der Intervention reduziert oder abgesetzt. Dennoch sanken der Nüchternblutzucker um 19 % und das HbA1c um 5 %. Diabetiker sollten das Leberfasten daher stets unter Aufsicht eines Arztes durchführen. „Die Untersuchung bestätigt“, so Teutsch, „dass sich Leberfasten nach Dr. Worm® als risikoarme, effektive und alltagstaugliche Therapieoption bewährt. Als derzeit einzige erfolgreich evaluierte Therapie gegen NAFLD ist sie damit aus wissenschaftlicher Perspektive die erste Wahl.“ Fettabbau verbessert wichtige Stoffwechselparameter Auch die Studie von Dr. Christine Becker mit 99 Teilnehmern6 bestätigt die Wirksamkeit. „Die Daten zeigen eine erfolgreiche Gewichtsreduktion, die in erster Linie über den Abbau von Körperfett erfolgte“, so die Studienleiterin. Profitiert haben die Probanden vor allem im Hinblick auf ihre kritischen leberspezifischen Parameter, die für eine Untergruppe erfasst wurden. So wurde vor der Fastenkur bei 27 Teilnehmern ein FLI (Fatty Liver Index)7 ≥ 60 und damit ein erhöhtes Risiko für das Vorliegen einer Fettleber festgestellt, nach 14 Tagen nur noch bei 22 Teilnehmern (-18,5 Prozent). Mehr Informationen unter www.leberfasten.com Lernen Sie Leberfasten nach Dr. Worm® jetzt kennen: Einfach zum Intensivseminar anmelden unter www.leberfasten.com (Mitglieder des VDD zahlen Euro 75,00 statt Euro 95,00 Seminargebühr). Termine: Köln – 17. Mai 2014, Fulda – 13. September 2014, Hamburg – 22. November 2014. Bitte Code AK7003 / Seminargebühr Euro 75,00 angeben. Reine Kalorienreduktion reicht nicht aus Allerdings: Nur weniger essen hilft nicht, die richtige Nährstoffzusammensetzung ist entscheidend. Aktuelle Studiendaten haben nämlich gezeigt, dass Lebertriglyzeride und Insulinresistenz mit einer kalorienreduzierten Kost mit begrenztem Kohlenhydratanteil deutlich schneller abgebaut werden als mit fettarmen, kohlenhydratbetonten Reduktionsdiäten.4 Das vom Ökotrophologen Prof. Dr. Nicolai Worm und dem Internisten und Ernährungsmediziner Dr. med. Hardy Walle entwickelte Konzept Leberfasten nach Dr. Worm® ist eine solche LowCalorie-Diet (LCD). Bessere Blutzuckerkontrolle ohne Medikamente Durch die 14-tägige Fastenkur (800 bis 1.000 kcal) wird in kurzer Zeit Leberfett abgebaut und die unkontrollierte Glucoseabgabe durch die 1 Armstrong MJ, Adams LA, Canbay A, Syn WK. Extra-hepatic complications of nonalcoholic fatty liver disease. Hepatology. 2013 Sep 3. doi: 10.1002/hep.26717. [Epub ahead of print] sowie Stefan N et al. Circulating fetuin-A and free fatty acids to predict insulin resistance in humans. Nature Medicine, 2013; 19: 394–395. 2 AdipositasSpektrum; Ausgabe 32012, 8. Jahrgang, Seite 11. 3 Loomba R, Sanyal AJ: The global NAFLD epidemic. Nature Reviews Gastroenterology and Hepatology 2013; 10: 686-90. 4 Browning JD, Baker JA, Rogers T, Davis J, Satapati S, Burgess SC. Short-term weight loss and hepatic triglyceride reduction: evidence of a metabolic advantage with dietary carbohydrate restriction. Am J Clin Nutr 2011; 93(5): 1048-52. 5 Teutsch M.: Therapieeffekte einer kohlenhydratarmen, proteinbetonten LCD-Intervention bei nicht-insulinpflichtigen Typ-2-Diabetikern mit einer nicht-alkoholischen Fettlebererkrankung NAFLD. Master-Thesis zur Erlangung des Grades Master of Arts. Eingereicht an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG), Saarbrücken, 2013. 6 Becker C.: Leberfasten – Erste Ergebnisse einer modernen Form der klassischen Hafertage. Adipositas 2013; 7: A28, A29. 7 Algorithmus aus Triglyceriden, BMI, Bauchumfang und Gamma-GT. Ab einem FLI > 60 liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Leberverfettung vor (Bedogni et al. BMC Gastroenterology 2006). © micha_h - Fotolia.com Fokus · Adipositas Adipositasmanagement in der Praxis Die 5 As im Beratungsgespräch Die Therapie adipöser Menschen stellt in der Beratungspraxis häufig eine besondere Herausforderung dar. Der Schwerpunkt sollte nicht in der reinen Wissensvermittlung, sondern in der Begleitung zur Umsetzung im Alltag liegen. Das vorgestellte Modell eignet sich als Praxisinstrument, um den Erfolg der Therapie zu erhöhen. D as Canadian Obesity Network bietet als Praxisinstrument die 5 As des Adipositasmanagements an. In fünf Schritten kann somit eine individuelle Strategie des Gewichtsmanagements bestimmt werden. Hierbei sollte nicht die Gewichtsreduktion per se, sondern die Gesundheit und das Wohlbefinden im Vordergrund stehen. In den folgenden Abschnitten werden die 5 As – ASK, ASSESS, ADVISE, AGREE und ASSIST – für die praktische Anwendung in der diättherapeutischen Beratung modifiziert dargestellt. ASK – Fragen Sie nach Mit einem kurzen Gespräch beginnend, wird die Motivation des Patienten für eine Veränderung erforscht. Ist der Patient v. a. extrinsisch motiviert (z. B. durch den Arzt oder Partner) oder hat er schon viele Enttäuschungen mit anderen Verfahren erlebt, dann gilt es, durch konkrete Fragen seine Bereitschaft zur Mitarbeit zu stärken: 16 D&I · 2/2014 „Wie wichtig ist es für Sie, Ihr Gewicht zu verändern?“, „Sind Sie bereit, an Ihrem Gewicht zu arbeiten? Darf ich Sie dabei unterstützen?“. Adipositas berührt viele Lebensbereiche. Der Patient sollte erkennen, dass für eine langfristige Gewichtsreduktion eine starke Veränderung in meist mehreren Bereichen seines Lebens notwendig ist und er diese Veränderung nur schaffen kann, wenn er sie selbst möchte und entsprechend verantwortlich umsetzt. Jedoch gilt es auch, ihm zu zeigen, dass ihn der Berater auf diesem Weg begleitet. Dem Patienten seine Verantwortlichkeit auf der einen Seite zu verdeutlichen und ihn dennoch zu ermutigen ist ein schmaler Grat. Diese Art der Motivation ist dennoch das A und O für den weiteren Prozess, und gerade diese Ehrlichkeit schafft zusätzlich eine Vertrauensbasis zwischen Berater und Patient. Eine geeignete Gesprächsmethode hierfür ist die motivierende Gesprächsführung (Motivational Interviewing). Fokus · Adipositas ASSESS – Erfassen Sie alle relevanten Daten Ziel jeder Anamnese ist es, sich ein möglichst genaues Bild vom Patienten zu verschaffen, um ihn dann in seiner individuellen Situation beraten zu können. Die klassische Anamnese bei Adipositas erhebt neben allen relevanten medizinischen Daten wie Blutbild, Diagnose(n) und Komorbiditäten auch anthropometrische Parameter wie BMI, Taillen- und Hüft- oder Bauchumfang sowie Körperzusammensetzung. Das Führen eines Ernährungsprotokolls gibt Einblicke in die individuelle Lebensmittelauswahl, Portionsgrößen, bestimmte Essverhaltensweisen sowie nahrungsbedingte Beschwerden. Da Adipositas lebensbereichsübergreifend ist, müssen auch Lebensumstände, Aktivitätslevel und sozialer Hintergrund abgefragt, sowie das Vorwissen des Patienten ermittelt werden. Nur so kann der Patient dort abgeholt werden, wo er steht. Mit einem zusätzlichen kurzen Check seiner gesundheitlichen Risiken können dann Prioritäten für die Beratung festgesetzt werden. Ein Schwerpunkt in der Anamnese sollte auch die Erfassung der Ursachen für die Gewichtszunahme sein, denn nur, wenn diese behoben sind, kann sich eine nachhaltige Veränderung einstellen. Ein gutes Schema bietet hier die Differentialdiagnostik von Sharma & Padwal (2009), jedoch sollte die Frage nach der Ursache auch an den Patienten gerichtet werden, da der Patient selbst bester Experte für sich und sein Essverhalten ist. ADVICE – Fassen Sie Ihre Empfehlung zusammen Im nächsten Schritt werden die aus der Anamnese gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst und dem Patienten Möglichkeiten aufgezeigt, wie er mit Hilfe der Diättherapie/Ernährungsberatung Veränderungen erzielen kann. Ziel ist es, ihm darzulegen, welche Maßnahmen aus therapeutischer Sicht notwendig wären, um langfristig das Gewicht zu reduzieren und die Gesundheit zu fördern. Dies alles sollte rein faktisch geschehen, ohne bereits Einfluss auf das Verhalten des Patienten zu nehmen. Der Patient erhält dadurch eine professionelle ernährungstherapeutische Analyse seiner momentanen Situation. Da das Thema Adipositas interdisziplinär angegangen werden muss, bietet sich der Verweis bzw. eine Kooperation mit anderen Fachdisziplinen wie z. B. Physio- und Psychotherapie an. AGREE – Erarbeiten Sie einen gemeinsamen Plan Nachdem mit dem Patienten seine Motivation und erste mögliche Hindernisse geklärt wurden, geht es in die Umsetzungsplanung. Dazu gehört auch, über das Wunschgewicht des Patienten zu sprechen. Um ihn im Laufe der Gewichtsreduktion nicht zu demotivieren, sollte das Zielgewicht von ihm realistisch angesetzt sein. So konnten Foster et al. (2001) zeigen, dass die Erwartungen von Patienten oft 2- bis 3-fach über dem liegen, was als realistisch eingeschätzt werden kann. Für Patienten mit Adipositas Grad 1 war ein Gewichtsverlust von ca. 31 % traumhaft, hingegen ein Verlust von „nur“ 11 % enttäuschend. Mit zunehmendem BMI (BMI > 40) wurden die Erwartungen immer unrealistischer. Ein Gewichtsverlust von über 22 % wurde immer noch als enttäuschend angesehen. Nach aktueller Leitlinie der Deutschen Adipositas-Gesellschaft gilt ein Gewichtsverlust von 5-10 % des Ausgangsgewichtes als Therapieerfolg. Für einige Patienten kann es aber durchaus schon erfolgreich sein, das derzeitige Gewicht zu stabilisieren und nicht weiter zuzunehmen. Ist die Gewichtsfrage geklärt, können konkrete Schritte zur Zielerreichung vereinbart werden. Der Fokus liegt auf einer nachhaltigen Verhaltensänderung und gesundheitlichen Verbesserung, z. B. mehr Bewegung, weniger Energieaufnahme durch geregelte Mahlzeiten, Senkung des Blutdrucks etc. © sunabesyou - Fotolia.com Die motivierende Gesprächsführung ■ ist definiert als eine klientenzentrierte, direktive Methode zur Verbesserung der intrinsischen Motivation für Veränderungen durch Aufdecken und Auflösen von Ambivalenzen. ■ ist eine Hilfestellung zur Exploration der Gründe für Veränderungen. ■ beinhaltet die Auseinandersetzung mit vier psychologischen Hauptelementen: ▶ Nachteile der aktuellen Situation (Status quo) ▶ Vorteile der Änderung ▶ Optimismus für eine Veränderung ▶ Absicht zur Änderung Geeignete Gesprächstechniken sind: Stellen offener Fragen, Zusammenfassen des Gesagten, Reflektieren sowie Paraphrasieren. Im Gespräch können konkrete Schritte zur Zielerreichung vereinbart und festgehalten werden. D&I · 2/2014 17 Fokus · Adipositas ASSIST – Unterstützen Sie Ihren Patienten in der Umsetzung Sind die Ziele gesteckt, gilt es bei relevanten Themen, Wissen zu vermitteln und Ressourcen zu fördern. Er- stellung und Unterstützung bei der Anpassung von Veränderungsplänen sowie das Erkennen und Bearbeiten von Barrieren und Hürden bei der Umsetzung sind nun die Aufgabe. Auch ist die erste gewählte Strategie nicht immer die zielführende; so wie viele Wege nach Rom führen, gilt es zu testen, welcher der richtige Weg für den Patienten ist. Hier können gezielte Fragen hilfreich sein, wie: „Gibt es Gründe, die Sie momentan von Ihrem Ziel abhalten oder im Wege stehen?“ oder „Wer kann Sie hierbei unterstützen?“. Abschließend sollte mit dem Patienten die Nachsorge geklärt werden. © Kletr - Fotolia.com Folgende Fragen zur Zielsetzung können den Beratungsverlauf unterstützen: „Was möchten Sie ab der nächsten Woche ändern?“, „Welche Veränderungen sind für Sie am leichtesten umsetzbar?“ oder „Wie können Sie das kontrollieren?“ Damit die Ziele motivieren und umgesetzt werden können, sollten diese auf die Verhaltensänderung fokussieren und die Kriterien der SMARTFormel erfüllen: Specific – spezifisch; Measurable – messbar; Acievable – ausführbar; Rewarding – realistisch; Timely – terminiert. „Ich möchte 5x pro Woche zum Frühstück ein Stück Obst essen“, „Ich frühstücke an 4 Tagen pro Woche“ oder „Ich gehe 2x pro Woche nach der Arbeit spazieren“. Um die selbstgesteckten Ziele zu erreichen und zu kontrollieren, sollten Instrumente des Selbstmonitorings wie Mahlzeiten- oder Bewegungsprotokoll eingesetzt werden. Zu beachten ist hierbei, dass der Patient sich kleine, leicht umsetzbare Ziele setzt, die flexibel kontrolliert werden können. Zu viele und zu hoch gegriffene Ziele, die noch dazu starre Regeln enthalten, führen häufig zu Misserfolgen und demotivieren. Literatur Deutsche Adipositas-Gesellschaft (2007). Evidenzbasierte Leitlinie: Prävention und Therapie der Adipositas. Hrsg.: Deutsche AdipositasGesellschaft, Deutsche Diabetes Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin Foster, G. D. Et el. (2001). Obese Patient‘s Perceptions of Treatment Outcomes and the Factors That Influence Them. Arch Intern Med.; 161:2133-2139 Sharma, A. M. & Freedhoff, Y. (2012). Best Weight – Ein Leitfaden für das Adipositasmanagement in der Praxis. Aus dem Englischen von Mario Hellbardt, Birgit Schilling-Maßmann & Patricia Haberl. Lengerich: Pabst Publisher Sharma, A. M. & Padwal, R. (2009). Obesity is a sign – over-eating is a symptom: an aetiological framework for the assessment and management of obesity. Obes Rev, 11, 362-370 Die Autorinnen 18 Jana Kaminski, Diätassistentin, Ernährungsberaterin/DGE Sandra Winkler Lehrkraft der BfS Diätetik München Universität Potsdam Exzellenzbereich Kognitionswissenschaften Department Psychologie Beratungspsychologie 14476 Potsdam-Golm Selbstständige Diätassistentin Psychotherapeutin (Heilpraktikergesetz) 80689 München jana.kaminski@uni-potsdam.de info@sandra-winkler.com D&I · 2/2014 Fokus · Adipositas Der „b.m.i.-Zirkel“ geht an den Start Neues Schulungsprogramm für bariatrische Patienten Das bariatrische multimodale Informationsprogramm – der „b.m.i.-Zirkel“ – wurde als Kooperationsprojekt von BDEM und VDD für Patienten entwickelt, die vor einer chirurgischen Therapie der Adipositas stehen. Durch Wissensvermittlung und aktives Training der Patienten soll langfristig der postoperative Verlauf stabilisiert und verbessert werden. Ü bergewicht und Adipositas haben in den letzten Jahrzehnten in Deutschland deutlich zugenommen. Die Prävalenz der Adipositas Grad 2 und 3 (BMI von ≥ 35 bzw. ≥ 40 kg/m2) stieg im Zeitraum von 1985 bis 2002 in der Altersgruppe der 25- bis 69-Jährigen bei Männern um 3,7 % und um 3,0 % bei den Frauen an [1]. Die Ergebnisse der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS) belegen eine tendenzielle Zunahme der Prävalenz von Adipositas, wobei der Anteil der übergewichtigen Bevölkerung insgesamt stabil geblieben ist. Demnach weisen 5,2 % der deutschen Bevölkerung eine Adipositas Grad 2 und 2,8 % eine Adipositas Grad 3 auf [2]. Mit zunehmender Häufigkeit werden nicht nur in Deutschland Eingriffe zur Gewichtsreduktion durchgeführt. Weltweit wurden im Jahr 2011 340.768 adipositaschirurgische Operationen durchgeführt. Im Vergleich dazu lag 2003 die Zahl bei 146.301 Eingriffen [3]. Ausgehend von den Daten der deutschen Qualitätssicherungsstudie für operative Therapie der Adipositas wurden seit 2005 ca. 13.879 Personen (26,3 % männlich, 73,7 % weiblich) adipositaschirurgisch behandelt. Eine deutliche Zunahme der Eingriffe ist auch in Deutschland zu verzeichnen [4]. Prä- und postoperative Betreuung ist notwendig Ein chirurgischer Eingriff zur Gewichtsreduktion allein ist jedoch keine Lösung für die komplexe Krankheit Adipositas. Vielmehr ist die Bereitschaft der Patienten erforderlich, sich sowohl prä- als auch postoperativ in eine interdisziplinäre Betreuung zu begeben. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass Patienten mit einem Magenband, die häufiger präoperative Termine haben ausfallen lassen, einen geringeren Excess Weight Loss aufwiesen [5]. Neues modulares Schulungsprogramm Um Patienten optimal auf die Zeit mit einem Magen-Bypass, Schlauchmagen oder Magenband vorzubereiten, wurde in einem Kooperationsprojekt zwischen den Berufsverbänden des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM e. V.) und des VDD für Patienten, die vor einer chirurgischen Therapie der Adipositas stehen, der b.m.i.-Zirkel, das bariatrische multimodale Informationsprogramm, entwickelt. Ziel ist es, durch Wissensvermittlung und aktives Training der Patienten langfristig den postoperativen Verlauf zu stabilisieren und zu verbessern. In insgesamt sieben Modulen werden alle wichtigen Themen um den bariatrischen Eingriff in voneinander unabhängigen Sitzungsmodulen aufgegriffen. Das Programm dient als Vorbereitung auf einen bereits geplanten Eingriff und richtet sich ausschließlich an Patienten, bei denen die leitliniengerechte Indikation zur chirurgischen Therapie bereits besteht und ein Termin für den Eingriff in Planung ist. Das Schulungsprogramm b.m.iZirkel ist jedoch kein Ersatz oder eine Alternative einer multimodalen konservativen Adipositastherapie. Jedes Modul steht unter der Leitung einer anerkannten Fachkraft (Diätassistent/Oecotrophologe, Psychologe, Arzt/Chirurg). Die Zusammensetzung der Schulungs-Gruppe kann aufgrund der voneinander unabhängigen Module von Sitzung zu Sitzung variieren, idealerweise mit D&I · 2/2014 19 Fokus · Adipositas acht bis zehn Teilnehmern. In den sieben interaktiven Modulen des b.m.i-Zirkels werden Themen der Ernährung und des Verhaltens besprochen sowie chirurgische und medizinische Inhalte vermittelt. Die Stärkung der Selbstverantwortung, Einbeziehung des Patienten in seine Therapie sowie die Bündelung und Strukturierung notwendiger Informationen stehen im Mittelpunkt der Schulung. Das Schulungsprogramm b.m.i-Zirkel soll von Schulungsteams angewendet werden, die aus entsprechend qualifizierten Fachkräften der Bereiche Diättherapie und Ernährungsberatung, Verhaltenstherapie, bariatrische Chirurgie und Ernährungsmedizin bestehen. Im Modul 6 „Wir sind nicht allein“ wird zudem ein Vertreter der regional tätigen Selbsthilfegruppe (SHG) eingeladen, seine Erfahrungen einzubringen. Präsentation des Schulungsprogramms Die detaillierten Inhalte des Programms werden in diesem Jahr auf verschiedenen Tagungen dem interessierten Fachpublikum vorgestellt. Dem Schulungsteam wird das Programm mittels einer Online-Schulung von Weitere Auskünfte zum Schulungsprogramm erteilt die Geschäftsstelle des BDEM e. V. (www.bdem.de). Literatur [1] Helmert U., Strube H. (2004): Die Entwicklung der Adipositas in Deutschland im Zeitraum von 1985 bis 2002. Gesundheitswesen 66: 409–415 [2] Mensink G. B. M., Schienkiewitz A., Haftenberger M et al. (2013): Übergewicht und Adipositas in Deutschland. Bundesgesundheitsbl. 56: 786–794 [3] Buchwald H., Oien D. M. (2013) Metabolic/ bariatric surgery worldwide 2011. Obes Surg 23: 427–436 Der Autor Mario Hellbardt B.Sc. Vizepräsident des VDD Diätassistent, MEB/VDD, Gesundheitswissenschaftler Universitätsmedizin Leipzig Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen 04103 Leipzig Mario.Hellbardt@medizin.uni-leipzig.de 20 ca. 90 Minuten Dauer erläutert. Anschließend kann das Team die entsprechenden Schulungsmaterialien (Programm-CD mit Präsentationsfolien aller Module, umfassende Schulungscurricula, zusätzliche Schulungsmaterialien) erwerben. Für die teilnehmenden Patienten wird ein Schulungshandbuch erstellt; dieses kann in gedruckter Form zum Selbstkostenpreis erworben werden. D&I · 2/2014 [4] Stroh C., Weiner R., Horbach T. et al. (2012): Aktuelle Daten der Qualitätssicherungsstudie für operative Therapie der Adipositas in Deutschland. Zentralbl. Chir., DOI: 10.1055/s-0031-1283889 [5] El Chaar M., McDeavitt K., Richardson S. et al. (2011): Does patient compliance with preoperative bariatric office visits affect postoperative excess weight loss? Surg Obes Relat Dis 7(6): 743–748