Im Fokus – Publikationsreihe der Mediadesign Hochschule
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Im Fokus – Publikationsreihe der Mediadesign Hochschule
Im Fokus – Publikationsreihe der Mediadesign Hochschule Ausgabe 2015/16 Inhalt Game Design 78 Nachhaltige Strategien im Modedesign Prof. Nicole Süß 3 Urinstinkt des Designs Henning Janssen, M.Sc. 84 8 Mobile augmented-reality games: Entscheidungshilfe in Krisensituationen durch mobile, situationsbezogene Spiele Prof. Dr. Roland Klemke Bauhaus 2.0 Moderne Gestaltungskonzepte für Designer Prof. Iris Eisenkolb 89 13 Google Deep Mind – One (Game) AI to rule them all? Prof. Dr. Christoph Minnameier Autos und Mode – zwei ungewöhnliche Partner seit vielen Jahrzehnten Prof. Olga Mitterfellner 94 Hoher Besuch aus China bei der MD.H München Prof. Olga Mitterfellner 18 Serious Games – Digitale Spiele bieten neue Chancen für Unternehmen und Kunden!? Prof. Dr. Michael Bhatty Media Design 27 DESIGNER IM H YBRIDRAUM II Prof. Eduard Mittermaier 31 Schriftwahl – ein Annäherungsversuch Prof. Sybille Schmitz 39 Interaktive Räume – Die virtuelle Erweiterung einer bestehenden Ausstellung Prof. Frank Rief 45 Entwickeln von Responsive Web Design – Vorschlag für eine Vorgehensweise Peter Spies Digital Film Design 53 Geheimnis Körpersprache – was haben der Regisseur von „The Minions“, Kyle Bald, der ehemalige FBI-Agent, Joe Navaro und der Zauberkünstler und Entertainer, Thorsten Havener gemeinsam? Prof. Thomas Gronert 58 Denken und nicht denken – Warum uns die besten Ideen dann kommen, wenn wir es am wenigsten erwarten Prof. Sacha Bertram 67 THE ANIMATOR: EVOLUTION OR EXTINCTION? Travis Ramsdale Mode Design 73 SDBI – Eine Stiftung für den Nachwuchs der Mode Prof. Arnold Gevers Medien- und Kommunikationsmanagement 99 Skandale in den Medien – Strategische und ethische Überlegungen der öffentlichen Kommunikation für den Journalismus, die Politik und die Wirtschaft Prof. Dr. Christian Schicha 123 Hast du mich gerade Kleines genannt? Der Liebesfilm – Eine Annäherung an ein unterschätztes Genre Prof. Dr. Helmar Baum 131Verhaltensänderung oder doch lieber alte Gewohnheit? Karin Sölch 138 Stricken zur Primetime – Das Phänomen Slow TV aus Norwegen Prof. Dr. Bert Neumeister 144 Ohne Arme keine Kekse! – Wertewandel (r)evolutioniert Unternehmenskultur und M arkenführung Prof. Carola Anna Elias 156 Steuerliche Abzugsfähigkeit von Kosten für ein Studium – ein Überblick Prof. Dr. Thomas Siegel 161 Memetik: Vom Erklärungsmodell zum Viralen Marketing zum Internet-Mem Prof. Dr. J. Martin 166 #ECGBL 2014: Bericht von der 8. Europäischen Konferenz für Game-Based Learning Prof. Dr. J. Martin 172 Menschenkenntnis für Führungskräfte Prof. Dr. Thomas Meyer Im Fokus: Gamedesign Urinstinkt des Designs Henning Janssen, M.Sc. Dozent Fachbereich Mediadesign Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 4 Urinstinkt des Designers Virtuelle Welten erfordern die Wiederbelebung der Illustration als Gestaltungsmittel. Auch wenn diese hiermit als Bestandteil der modernen Kunst lange noch nicht rehabilitiert ist, so spielt sie doch seit Jahrzehnten eine zunehmend wichtige Rolle in Film und Games. Vergleichbar mit der Industriellen Revolution des neunzehnten Jahrhunderts fordern die digitalen Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte die Menschheit zur Neudefinition ihrer Rolle als Individuum in der Gesellschaft auf. Nicht nur die rasanten Fortschritte bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz, sondern auch Arbeitshilfen wie CAD Programme (Computer Aided Design) erzwingen geradezu die Besinnung auf die grundlegenden Eigenschaften von uns als neueste Variante der Hominiden. Die Welt ist besiedelt, ein neuer virtueller Raum wird erschlossen und unser Erfindergeist stellt uns mit der Entwicklung von Robotern vor die Frage, ob wir uns in Kürze nach etlichen Jahrtausenden nicht selber überflüssig machen. Was macht uns unersetzlich? Wenn die Frage nach unserem Selbstverständnis manchem wie eine Ablehnung unserer neuesten Hilfsmittel klingen mag, so würde diese Interpretation ein Ausweichen vor der unumgänglichen Frage bezüglich unserer Zukunft und Daseinsberechtigung unterstellen, ähnlich dem Entfliehen der Realität in die global vernetzte, digitale Unendlichkeit, die uns eine Vielfalt an Unterhaltungsmedien gegenwärtig bietet. Die Vielzahl an Neuerungen erleichtert Arbeitsprozesse in nahezu allen Gebieten der Produktion, was die dringliche Frage nach dem Wert des Menschen auf die Tagesordnung bringt, doch eben dies lässt uns auch Zeit für Unterhaltung. Immerhin: Im Vergleich zu technischen Entwicklungen der vergangenen Jahrhunderte setzen wir unsere neuen Mittel in einem wesentlich geringeren Maße als zuvor für aggressive Zwecke ein. Damit nähern wir uns thematisch bereits einer der Eigenschaften, die digitale Hilfsmittel uns nicht abnehmen werden: Verantwortung! Der mit Mitteln der digitalen Medien zunehmende Einfluss der Unterhaltungsbranche Medien geht Hand in Hand mit gesellschaftlicher Verantwortung, der auch die Designer der digitalen Film- und Spieleindustrie sich zu stellen haben. Spannungsfelder entstehen zwischen Verrohung und der Ventilwirkung für Gewaltneigungen, Reduktion von Vereinsamung und Suchtverhalten. Die Sucht des Menschen nach Neuem lässt sich ebenfalls nur schwer in künstliche Intelligenzen programmieren, noch weniger die Fähigkeit zu vielfältiger Interpretation. Die schöpferische Rolle des Menschen als Erfinder und Designer gewinnt hiermit an Wichtigkeit. Ebenso wenig wie Lernprozesse sich vereinheitlichen lassen sind Entwurfsprozessen in linearer Weise zu standardisieren, sondern sind von individueller Programmierung und Sinneswahrnehmungen des Designers abhängig. So wie Nutzgegenstände sich nicht auf die Menge des hierbei angewandten Materials reduzieren lassen, beleuchten unterschiedliche Theorien für die Entwurfslehre lediglich Ansätze. Diese mögen zweifellos 5 | Im Fokus Bild 1: Strukturen im Chaos – Megapolis Studie 1 dem das Design entsteht, spielen bis zur Ausfertigung natürlich weitere Aspekte (Stabilität, Organisation, Material usw. aber auch Ästhetik) maßgebliche Rollen. Lassen sich uns die hierfür notwendigen Erfahrungswerte durch digitale Programme abnehmen? Die Hilfestellung (das „Aided“ in der Abkürzung CAD) bietet hier wenig Ersatz für die Lehren aus eigener Observation, die sich nach wie vor am tiefsten im Bewusstsein festigen, wenn sie nicht nur mit dem eigenen Auge durchgründet werden, sondern mit Hilfe des genialen taktilen Körperteils Hand und Stift notiert werden. Das genaue Studium unserer Welt in all seinen Facetten und Teilen, sei es Anatomie, Statik, Textur, Spiel von Licht und Farben hat keine niedrigere Priorität für die Schöpfer virtueller Welten, seien sie nun real, historisch oder völlig fiktiv. Auch wenn sich Parameter dieser Welten von der unseren unterscheiden mögen, bleibt doch ein kohärentes Zusammenwirken von Umwelteinflüssen und Schwerkräften notwendig und auch absurdeste Geschöpfe und Formen verlieren ihre Wirkung, wenn dem Betrachter jegliche Assoziation zu Bekanntem unmöglich gemacht wird. Bild 2: Interpretation von Formen und Gesichtern in Kacheln hilfreich sein, doch einen eindeutigen Weg aus dem kreativen Chaos bieten sie kaum, da, ganz ähnlich der Stammbäume der Evolutionslehre, Entwurfsprozesse fortlaufenden Wechselspielen zwischen Variation und Selektion unterworfen sind. Abhängig vom Gewerbe in Als sei die Liste der Erfahrungen und Prozesse, die ein Designer in seine geistige Bibliothek einordnen muss, nicht bereits lang genug – und ganz sicher ließe sich da noch Vieles ergänzen - so führt gleichzeitig die Summe dieser noch lange nicht zu guten Entwürfen, geschweige denn zu originellen. Man mag Erfahrung haben im Kopieren bekannter Elemente, im besten Falle mit genü- Im Fokus | 6 gend Variation, um die Inspirationsquelle zu verschleiern. Neu oder originell macht dies ein Design noch lange nicht. Manch angehender Designer vertieft sich in Studien oder noch tiefere Meditation, doch hilft dies selten, die meist weiße Leere der Arbeitsfläche zu beleben. Was immer hilft ist Chaos. Nicht jenes Chaos das häufig verwechselt wird mit Unordnung in Ateliers, jedoch liegt im Chaos die Wurzel der Neuschöpfungen. Seit den frühen Tagen der Evolution sind Gehirne programmiert, sowohl Beute als Gefahren zu erkennen durch Interpretation einer unübersichtlichen Umgebung. Es ist das Lesen von Spuren im Chaos das uns den Weg öffnet zu neuen Entwürfen, ob dies die Schäfchen in den Schäfchenwolken sind, Strukturen in unregelmäßigen Texturen in unserer täglichen Umgebung oder ein Gewirr aus Strich und Linie auf Papier, unser Auge beginnt aus dem Zufall Muster zu erkennen und Zusammenhänge zu lesen. Diese Interpretation von nie dagewesenen Formen zu neuen Kreaturen und Welten ist eine gestalterische Grundeigenschaft des Menschen, die sich auch durch fortschrittlichste Programme nicht ersetzen lässt. Henning Janssen Fachbereich Gamedesign, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Gamedesign Mobile augmented-reality games: Entscheidungshilfe in Krisensituationen durch mobile, situationsbezogene Spiele Prof. Dr. Roland Klemke Dozent Fachbereich Gamedesign Mediadesign Hochschule Düsseldorf Im Fokus | 9 Mobile augmented-reality games: Entscheidungshilfe in Krisensituationen durch mobile, situationsbezogene Spiele Herkömmliche Lernverfahren sind gut geeignet Wissen, Verfahren und Fähigkeiten zu vermitteln. Ihnen fehlt jedoch die Möglichkeit, Lernende realitätsnahe Situationen erfahren zu lassen. Spiele hingegen können Spieler so fesseln, dass sie sich vollständig in eine Situation versetzt fühlen und innerhalb dieser Situation agieren. Nichtsdestotrotz werden Spiele zu Lern- und Trainingszwecken bisher überwiegend ebenfalls für die Vermittlung von Fakten verwendet - dabei vergeuden sie ihr Potenzial. Mit der Verfügbarkeit mobiler Internetverbindungen, mit preiswerten mobilen Geräten, die über hohe Rechenleistung und umfangreiche Sensorausstattung verfügen, ist es einfacher als bisher möglich, Spielszenarien mit der aktuellen Umgebung des Spielers zu verknüpfen: Die Übergänge zwischen Virtual reality und augmented reality werden fließend. Gleichzeitig steigt sowohl die Zahl als auch die Akzeptanz mobil spielbarer multi-user Spiele dramatisch an - erfolgreiche Spiele werden von mehreren Millionen Spielern gespielt. Diese neuen Technologien auch für Lern- und Trainingszwecke nutzbar zu machen ist das Ziel von Forschungsprojekten, die am Welten Institut, Research Center for Learning, Teaching and Technology der Open University der Niederlande zusammen mit Partnern durchgeführt werden [1]. Entscheidungstraining für Umstehende im Falle eines Herzstillstandes Herzstillstand ist eine der weltweit häufigsten Todesursachen. Umstehende wissen aber oft nicht was zu tun ist oder trauen sich nicht zu helfen, aus Angst, etwas Falsches zu tun. Schnelle Hilfe ist aber überlebensnotwendig. Mit einem mobilen Entscheidungsspiel sollen Menschen in die Rolle von Helfern versetzt werden, um ihre Hilfsbereitschaft zu erhöhen. Dabei müssen verschiedene Tätigkeiten koordiniert werden: dem Opfer mit Herzmassage helfen, Hilfe holen, Defilibrator finden und anwenden. 1 Klemke, R., Ternier, S., Kalz, M., Schmitz, B., Specht, M. (2014). Immersive Multi-user Decision Training Games with AR-Learn. In Rensing, C., de Freitas, S., Ley, T., Muñoz-Merino, P. (Eds.), Open Learning and Teaching in Educational Communities. Proceedings of the 9th European Conference on Technology Enhanced Learning (EC-TEL), Lecture Notes in Computer Science 8719 (pp. 207-220). Springer International Publishing. http://dx.doi.org/10.1007/9783-319-11200-8_16 10 | Im Fokus Krisenbewältigung in Entführungsfällen Störungen komplexer logistische Prozesse Das Office des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) führt und koordiniert internationale Maßnahmen zum Schutz von Flüchtlingen und löst Flüchtlingsprobleme weltweit. UNHCR-Mitarbeiter arbeiten oft in gefährdeten Bereichen und werden nicht selten Opfer von Entführungen. UNHCR schult deshalb regelmäßig seine Mitarbeiter über den Umgang mit diesen Situationen. Zielsetzung ist dabei, besonnen auf die Krisensituation zu reagieren, schnell ein Krisenteam zusammenzustellen und durch die getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen das Leben des Opfers zu sichern. Komlexe logistische Prozesse in einem großen internationalen Hafen sind extrem störungsabhängig. Kleine Störungen können dabei schnell Schneeballeffekte Auslösung und zu großen wirtschaftlichen Schäden führen, wenn nicht rechtzeitig und angemessen reagiert wird. Ein riesiges Hafengelände erfordert dabei den koordinierten Einsatz mehrerer Personen, um Probleme schnell und sicher zu lösen. Mit rollenbasierten Spielen soll Hafenmitarbeitern und Verantwortlichen beigebracht werden, wie wichtig die richtige Kommunikation gerade in Krisensituationen ist. Wearable-Device Google-Glass Allen drei vorgestellten Fällen ist ein Element gemeinsam: Mehrere Personen müssen koordiniert handeln, um die Krisensituation erfolgreich zu bewältigen. Mobile Mehrbenutzer-Spiele, die rollenabhängige Spielverläufe haben können dabei helfen, die Spielteilnehmer in die entsprechende Situation zu versetzen und die Entscheidungs- und Kommunikationsverläufe zu trainieren, ohne das Risiko echter Konsequenzen einzugehen. Grundlage für die Umsetzung der drei Trainingsszenarien als Spiele ist die am Welten Institut entwickelte Open Source Plattform für mobiles Lernen: ARLearn. [2] Diese Plattform erlaubt es Autoren, situationsbezogene Lernspiele mithilfe eines Autorensystems zu erstellen und auf mobile Geräte zu verteilen. 2 http://portal.ou.nl/web/arlearn Im Fokus | 11 Die Durchführung der Spiele ist dabei jeweils in drei Spielphasen zerlegt: a. Einführungsphase: technische Einrichtung und Einführung in das Spielprinzip b. Spielphase: Hier wird das eigentliche Spiel in Teams und mit individueller Rollenzuordnung gespielt Debriefing-Phase: hier werden die Spielergebnisse analysiert und mit erwarteten Ergebnissen verglichen. Dadurch soll Reflexion ermöglicht werden. Während Experimente mit Teilnehmern zeigen, dass diese Art der Spiele positive Effekte für die Teilnehmer darstellen [1] [2] [3], bedeutet der Einsatz der mobilen Technologie in Kombination mit Tätigkeiten in der realen Welt, dass Teilnehmer regelmäßig zwischen der Wahrnehmung echter und simulierter Sinneseindrücke und Kommunikationsverläufen wechseln müssen. Diese Medienbrüche stellen derzeitig Hindernisse dar. Viel wird daher vom Einsatz sogenannter Wearables 1 Schmitz, B., Ternier, S., Klemke, R., Kalz, M., & Specht, M. (2013). Designing a mobile learning game to investigate the impact of role-playing on helping behavior. In D. Hernández-Leo et al. (Eds.), Scaling up Learning for Sustained Impact. Proceedings of European Conference on Technology Enhanced Learning (EC-TEL), LNCS 8095 (pp. 357–370). Berlin Heidelberg, Germany: Springer-Verlag. 2 Gonsalves, A., Ternier, S., De Vries, F., & Specht, M. (2012). Serious games at the UNHCR with ARLearn, a toolkit for mobile and virtual reality applications. In M. Specht, M. Sharples, & J. Multisilta (Eds.), Proc. of 11th World Conference on Mobile and Con-textual Learning (mLearn 2012) (pp. 244-247). October, 16-18, 2012, Helsinki, Finland. 3 Klemke, R., Kurapati, S., & Kolfschoten, G. (2013, 6 June). Transferring an educational board game to a multi-user mobile learning game to increase shared situational awareness. In P. Rooney (Ed.), Proceedings of the 3rd Irish Symposium on Game Based Learning (pp. 8-9). Dublin, Ireland. erwartet, die wie Google-Glass [4] als permanent verfügbare Geräte getragen werden, aber nicht mit der Hand bedient werden müssen. 4 https://www.google.com/glass/start/ Prof. Dr. Roland Klemke Fachbereich Gamedesign, MD.H Düsseldorf Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Gamedesign Google Deep Mind – One (Game) AI to rule them all? Prof. Dr. Christoph Minnameier Dozent Fachbereich Mediadesign Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 14 Google Deep Mind – One (Game) AI to rule them all? Für Gamer, Technerds und andere fachlich Interessierte dürfte es eine alte News sein: Anfang des Jahres veröffentlichte Google einen Artikel über die KI (Künstliche Intelligenz) ‘Deep Mind’, die in der Lage ist, alte Atari Spieleklassiker selbstständig zu erlernen. Wir stellen uns die Frage, inwiefern dieser Ansatz einer generischen künstlichen Intelligenz dazu geeignet ist, spezifisch für einzelne Spiele programmierte KIs (und damit auch die KI-Programmierer) abzulösen. Die Anfang des Jahres von Google veröffentlichte KI ‘Deep Mind’ ist in der Lage, alte Atari Spiele selbstständig zu erlernen. Als Information dient der KI lediglich ein Stream des Bildschirms (inklusive Punktestand), als Eingabemöglichkeit steht Deep Mind ein virtueller Joystick zur Verfügung: Ein Stick also und 2 Buttons. Genau wie ein menschlicher Spieler kann Deep Mind also einfach einen Joystick bedienen und verfolgt dabei (ebenso wie menschliche Spieler) das Ziel, einen möglichst hohen Punktestand zu erzielen. Um das allerdings zu erreichen, muss Deep Mind ein Spiel zuerst erlernen, und dafür muss die KI verstehen, was auf dem Bildschirm vor sich geht. Hierfür müssen einzelne Objekte identifiziert werden, die auf dem Screen miteinander interagieren. Für diesen ersten Schritt, den der Mensch gerne als selbstverständliche Leistung seines Gehirns und noch nicht als echte ‘Denkarbeit’ ansieht, benutzt die KI Algorithmen, wie z. B. Edge Detection (Kantenerkennung), die auch Robotersysteme verwenden, um Objekte in der echten Welt zu erkennen. Während Roboter sich dabei u. a. mit Licht und Schatten und verschiedenen Perspektiven herumschlagen müssen, hat Deep Mind zwar ein von solchen Faktoren unbeeinflusstes 2D-Bild, aber dafür andere Probleme, z. B. dass animierte Objekte plötzlich andere Umrisse haben können, und dass Objekte in machen Spielen ‘teleportiert’ werden oder sogar ganz verschwinden können. Sobald diese Basis-Aufgabe gelöst ist, liegt Deep Mind eine abstrakte Repräsentation der Welt vor, mit der sie im Gegensatz zum uninterpretierten Pixelhaufen ‘kognitiv arbeiten’ kann. Diese Aufgabe übernimmt ein neuronales Netz, das im Gegensatz zu herkömmlichen neuronalen Netzen um eine Speicherkomponente erweitert wurde, weshalb die Erbauer der KI Deep Mind als neuronale Turing Maschine bezeichnen. Vergleicht man Deep Mind mit seinem Beinahe-Namensvetter Deep Blue, dem Schachcomputer, der 1996 den amtierenden Schachweltmeister Kasparow bezwang, so ist der gravierendste und wichtigste Unterschied, dass Deep Blue niemals in der Lage sein würde, etwas anderes zu tun, als Schach zu spielen, weil die KI speziell dafür programmiert wurde. Das Regelsystem von Schach ist in ihrem Code verankert, und insbesondere ist sie durch das beschränkte Spielfeld und die abwechselnden Züge in der Lage, durch Einsatz von viel Rechenleistung (‘brute force’) sehr weit vorauszuplanen und so den menschlichen Kontrahenten zu schlagen. Deep Mind hingegen wurde nicht dafür programmiert, 15 | Im Fokus Breakout – Eines der Spiele in denen Deep Mind brilliert ein bestimmtes Atari-Spiel zu spielen, das heißt das Verständnis der gespielten Spiele findet sich nicht im KI-Code wieder. Stattdessen bekommt Deep Mind lediglich zwei Schnittstellen (im Fall der Atari Spiele den Bildschirm als Input und den Joystick als Output) und wird am Anfang zufällige Aktionen ausführen und dann versuchen, Ausgaben (also Steuer-Reihenfolgen) zu generieren, für die die Belohnung in Form von Punkten maximal wird. Diese Form von Intelligenz, in der sich die Maschine selbst beibringt zu spielen, wird ‘Reinforcement Learning’ (Bestärkendes Lernen) genannt und das unterscheidet sie von Algorithmen oder Tools, die zwar komplexe Aufgaben lösen, aber niemals in der Lage sein werden, etwas anderes zu tun. Weiter oben haben wir gesagt, Deep Mind wurde nicht dafür programmiert, ein bestimmtes Atari-Spiel zu spielen. Die präzisere (und bedeutendere) Aussage ist: Deep Mind ist auch nicht darauf ausgelegt ‘verschiedene Atari-Spiele’ zu spielen. Tatsächlich könnte die im Prinzip gleiche KI, ausgestattet mit einer Kamera statt einem Bildschirm-Stream und einem Greifarm statt einem Joystick, lernen, Objekte in Kisten zu sortieren. Vorausgesetzt, sie kann das lange genug ausprobieren und bekommt dabei Feedback (in Form von Punkten) für richtige und falsche Handlungen. Diese universelle Lernfähigkeit ist das Alleinstellungsmerkmal von Deep Mind. ‘Wird das bald in allen Games eingesetzt werden?’ fragen sich jetzt viele Gamer, oder ‘Werden wir dann in GTA richtig kluge Bots haben’? Die Frage selbst basiert wohl auf dem nachvollziehbaren Gedankengang: Wenn eine KI eigenständig lernen kann, unterliegt sie ja keiner Beschränkung mehr. Wenn sie lernen kann, Breakout zu spielen, dann kann sie auch lernen, Call of Duty zu spielen. Oder vielleicht ja sogar zu sprechen? Genau das trifft aber nicht zu. Ein Hund kann lernen, einen Stock zu apportieren, aber niemand fragt sich ernsthaft, ob Hunde irgendwann in der Lage sein werden, alle unsere Aufgaben zu übernehmen. So unterliegt auch die Lernfähigkeit von Deep Mind starken Einschränkungen. Das zeigt schon die Auswahl an Atari-Spielen, an denen Deep Mind bisher getestet wurde. Alle diese Spiele aus früherer Zeit basieren auf einem 2-dimensionalen Raum in dem einfache physikalische Gesetze gelten. Damit ist nicht Gravitation gemeint (die spielt z. B. in Breakout keine Rolle), sondern noch einfachere Regeln: etwa der Umstand, dass ein Objekt, das sich momentan an einer Position p im zweidimensionalen Raum befindet und Geschwindigkeit v hat nach Zeit t (ausreichend klein gewählt) vermutlich nahe bei p + t*v sein wird. Ohnehin spielt in diesen Spielen hauptsächlich die Verortung von Objekten im 2-dimensionalen Raum eine Rolle und Interaktion ist meistens auf Kollision beschränkt (mit Gegnern ist sie zu vermeiden, mit Bonus-Items wünschenswert). Zugegeben: Im Falle von Breakout hat auch die zum Zeitpunkt der Kollision rela- Im Fokus | 16 Montezuma’s Revenge – Trotz relativ geringer Komplexität hat Deep Mind hier keinen Erfolg mehr tive Position der Objekte zueinander einen Einfluss auf die Richtungsänderung des Balls. Trotzdem basieren alle diese Spiele auf der eher simplen Topologie von Objekten im zweidimensionalen Raum. Ein wohl noch relevanterer Aspekt ist, dass keines der Spiele eine längerfristige Planung erfordert (wie es z. B. bei Schach der Fall ist). Eine lokal optimale Entscheidung für den Moment (Gegner ausweichen/abschießen) ermöglicht bei diesen Spielen fast immer auch einen global optimalen Ausgang (Highscore). Der kurzfirstige Belohnungseffekt (Punkte für einen Kill) ist für Reinforcement Learning sehr relevant und in vielen komplexeren Spielen nicht gegeben. Ohne also das bahnbrechende Ergebnis kleinzureden: Die Welt der Atari-Spiele, in denen Deep Mind positive Ergebnisse erzielt, ist (samt der darin geltenden Regeln) verhältnismäßig einfach abstrahierbar und Aktion und Reaktion sind darin sehr unmittelbar verknüpft. Sobald die benutzten (2D-)Welten auch nur Hindernisse wie Wände enthalten (wie z. B. bei Pac-Man oder Montezuma’s Revenge) und damit das Wunschziel nicht mehr ‘mittels lokaler Entscheidungen’ zu erreichen ist, sondern ‘globale Überlegungen’ erfordert, stoßen Ansätze wie Deep Mind an ihre Grenzen. Und das liegt wohlgemerkt nicht daran, dass das Finden des Wegs durch ein Labyrinth – in Spielen als Pathfinding (Wegsuche) bezeichnet – eine schwere Aufgabe ist. Denn Pathfinding ist für die meisten Game AIs nur eine Basisfunktionalität, die in den meisten Game Engines bereits integ- riert verfügbar ist. Trotzdem scheitert Deep Mind daran, Pac-Man zu meistern. Dass der Computer hingegen den Menschen bei Breakout und Pinball schlägt, ist (wenn man die Tatsache, dass er die Spiele selbst erlernt hat, außer Acht lässt) wenig überraschend: Denn in diesen Spielen geht es ja vor allem um Präzision und Reaktionsschnelligkeit, zwei Dinge in denen der Computer uns weit voraus ist. Ja, Deep Mind ist bahnbrechend, aber sehr weit davon entfernt, die ‘gute alte KI’, die speziell für ein Computerspiel programmiert wird, abzulösen. Denn die meisten Spiele erfordern taktisches Verständnis und die Fähigkeit, längerfristig zu planen. Und selbst wenn eine Zukunfts-Version von Deep Mind doch in der Lage wäre, komplexere Spiele zu meistern, wäre ein optimal kompetitiver Gegner nicht immer ein guter Gegner im Sinne des Spielers: Denn niemand möchte gegen Bots spielen, die Headshots austeilen, stets die gleiche Winning Strategy ausführen, neben ihrer Flagge campen, oder sogar Exploits verwenden, um den menschlichen Spieler zu besiegen. Prof. Dr. Christoph Minnameier Fachbereich Gamedesign, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Gamedesign Serious Games – Digitale Spiele bieten neue Chancen für Unternehmen und Kunden!? Prof. Dr. Michael Bhatty Dozent Fachbereich Mediadesign Mediadesign Hochschule Düsseldorf Im Fokus | 19 Serious Games – Digitale Spiele bieten neue Chancen für Unternehmen und Kunden!? Eine Welle der Euphorie geht durch Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur. Computerspiele, in der letzten Dekade eher als ‚Amokmedium‘ in den Medien stigmatisiert, sind offenbar nicht nur ein Kulturgut, sondern auch ungemein lukrativ: Games sind ein Wirtschaftsfaktor! Doch sind sie auch mehr, bieten sie uns doch auch die Möglichkeit, interaktiv zu lernen. Ein Grund mehr, einen Blick auf die Potenziale der Serious Games zu werfen. Zunehmend wird festgestellt, dass es eine neue Sparte gibt, die auf verschiedenen Ebenen gewinnversprechend klingt – die Sparte der Serious Games. Hier scheint ein lukrativer Markt zu sein, der noch nicht vollständig bedient wird. Grund genug also, diese digitalen „Lernspiele“ genauer zu betrachten und die Frage zu stellen: Was bringen diese „Spiele“ für Unternehmen und ihre Kunden? Viele Entscheider in Firmen wollen nun entweder partizipierend oder produzierend daran teilhaben, doch ihnen fehlt die Expertise zum Bereich Games. Diese lässt sich natürlich durch externe Consultants hereinholen, wie auch durch externe Produktionsfirmen – und doch kommt am Ende ein lebloses Produkt heraus, welches sich nicht verkauft. Oder die HRS-Manager versuchen sich in einem durch ‚Gamification‘ optimiertes ‚Recruitainment‘ – also die Verbindung aus Recruitment und Entertainment: Aber wie findet man damit einen neuen Mitarbeiter für sein Unternehmen, indem man ihn ‚irgendwie‘ spielen lässt? Und schlimmer noch, die Unternehmen verstehen die Menschen, diese sogenannten ‚Entwickler‘ aus der Games-Branche nicht. Da hört man in Vorstandsgesprächen abfälliges Munkeln wie „Das sind doch nur die Umsetzer!“, „Pixelschubser“, meist dicht gefolgt vom „Wer bezahlt, bestimmt!“ Serious Games sind keine Spiele Werfen wir also zunächst einen Blick darauf, was Games überhaupt sind, und im speziellen diese ominösen ‚Serious Games‘ – Ernsthafte Spiele? Lernspiele? Oder Simulationen von ernsthaften (also nicht unterhaltenden) Themen? Die meisten Definitionen, die man im Internet findet, sind nicht ausreichend, oder wahlweise je nach ludologischer oder narratologischer Lehrmeinung gefärbt. Der Versuch, Serious Games als Neuerung zu definieren, weil sie Lerninhalte, Story Telling und Gaming miteinander verbinden, ist leider eher agitatorischer Natur, denn auch Edutainment-Games haben von je her Inhalte vermittelt, aus denen man Systematiken und Themen erlernen kann. Vielmehr ist es die Gewichtung der Lerninhalte, die einen höheren und authentischeren Anteil haben, also präziser und wissenschaftlicher recherchiert werden müssen. Beispielsweise bei einer Schifffahrtssimulation in Verbindung mit Fluids: Die tatsächlichen physikalisch-chaotischen Eigenschaften von Wasser zu simulieren, gehört auch 2014 noch zu den größten technologischen Herausforderungen, arbeiten wir auch hier noch 20 | Im Fokus Prof. Dr. Michael Bhatty, Game Design Dozent an der MD.H in Düsseldorf immer nur mit Näherungsmodellen. Grundsätzlich müssen wir verstehen, dass Games eine eigenständige Medienform sind, mit denen sich jedes Thema verwirklichen lässt – und sich dadurch neue Wege ableiten, was wir wie damit tun können. Plakativ (und agitatorisch) gesagt: „Games sind keine Spiele!“ (Natürlich sind Games Spiele, doch wir müssen erkennen, dass sie oft das Potenzial haben, nicht ‚nur‘ Spiele zu sein). Political Correctness ist keine Lösung! Warum überhaupt die Trennung zwischen Serious Games und Entertainment Games, vielleicht mit dem Begriff Edutainment als weiche Form der Lernspiele dazwischen? Ist es der Wunsch nach Political Correctness, um Begriffe zu vermeiden wie „Shooter“, „Kommerzielle Games“ oder das „Spielen“ im Sinne des „Spielzeugs“ für Kinder? Oder ist es einfach der Wunsch nach greifbaren Kategorien, der Wunsch nach Schubladen, die es dem Fachunkundigen erleichtern, komplexe Systeme durch Analogien und Metaphern zu begreifen? Hierin liegt jedoch eine Gefahr, denn das Schubladendenken zerstört die notwendige Offenheit, die es braucht, um zu sehen, dass die Grenzen fließend sind. Statt gekapselter „Schubladen“ haben wir hier Schnittmengen und Verläufe der verschiedensten Bereiche. Betrachten wir hierzu Unterhaltungsspiele wie die Handels- und Aufbausimulationen wie Port Royale (2002). Hier wird das Warenwirtschaftssystem in der Zeit nach dem Untergang der ‚Spanish Main‘ thematisiert und das Aufstreben der anderen europäischen Nationen im 17. Jahrhundert spielerisch erfahrbar gemacht. Das Szenario dieser Handelssimulation thematisiert keine fiktive Welt, sondern nutzt unsere eigene Geschichte. Mit diesem Fakt im Bewusstsein, wird deutlich, dass ein Fokussieren auf die „Spielmechanik“ allein sehr schädlich für die Art der zu erzählenden (lehrenden) Geschichte ist, denn die Mechanik bildet nur einen strukturellen und motivierenden Rahmen, der der zu erzählenden Geschichte dient – nicht umgekehrt. Betrachten wir Jesse Schells Tetraeder (The Art of Game Design, 2008, S.42f.), so sehen wir das Mechanik und Story gleichwertig sind, ja, sogar einander bedienen. Die Spielmechanik beschreibt also lediglich, was der Spieler wie machen kann, also das konstruierte Regelwerk. Die Gameplay-Erfahrung (wenn wir Gameplay als die Komposition aus allen Aspekten des komplexen Games begreifen) vermittelt dagegen, wie der Spieler die Anwendung der Mechanismen über die Spielzeit erfährt. Bei einer Handels- und Aufbausimulation Port Royale 2 (2004) wird beispielsweise eine Ressource X in eine Siedlung eingeführt; je mehr Ressourcen in die Siedlung kommen, desto schneller wächst diese (der Spieler wird belohnt, indem er mehr und neue Aktionen ausführen kann). Im Fokus | 21 Diese Form der Mechanik ist ein Standard und beim gegebenen Beispiel (vermeintlich) wertfrei. Stellen wir uns jetzt aber vor, unsere Aufbausimulation spielt im 17. Jahrhundert in der Karibik und die Ressource X sind afrikanische Sklaven, die während der Zeit des Dreieckshandels verschleppt wurden, dann haben wir ein narratives Konzept, das zugleich eine ideologische Aussage hat. Wenn wir keine ideologisch fragwürdigen Bilder aufbauen wollen, ist es somit erforderlich, dass diese einfache Mechanik inhaltlich erweitert wird, um die Spielmechanik derart anpassen, dass ethische und historische Aspekte berücksichtigt werden. Die historische Recherche bildet hier den Schlüssel: Farley und Christopher geben in The Black faces beneath black flags (2005) an, dass in der Zeit von 1715 und 1725 schätzungsweise 30% der Sklaven entflohen sind und sich der Piraterie zugewandt haben. Diese Information lässt sich auf ein Game abbilden, indem man das spielmechanische System so erweitert, dass von der Ressource X ein Anteil Y flieht, der zu Piraten wird, um dann wiederum die Sklavenschiffe und Siedlungen zu überfallen. Gleichzeitig können die Schrecken der Zeit ebenso wie historische Fakten durch andere narrative Mechanismen wie Quest-Dialoge, Missionsziele und andere zu erfüllende Aufgaben durch die Interaktion mit den verschiedensten Charakteren (Nichtspielercharaktere und Gegner), Gegenständen (Items und Levelelemente) und Szenarien (Spielwelt) dargestellt werden. Environmental Story Telling kann hier nicht nur die Immersion des Spielers fördern, sondern einen echten Lernzuwachs erzielen, vom tangentialen Lernen des Interesseweckens bis hin zur Vermittlung von belegbaren Fakten. In diesem Balanceakt aus Spielmechanik und Story Telling gilt es nun, Charaktere zu schaffen, die greifbar und nachvollziehbar sind – und gerade hier kranken viele Computerspiele noch immer in der Form des Geschichtenerzählens. Die Jungschen Archetypen nach Christopher Voglers (The Writer’s Journey, 1992) Interpretation von Joseph Campbell (A Hero of a Thousand Faces, 1949) bilden dabei die Grundlage, wobei sich der Games-Bereich oftmals mit der emotionalen Betroffenheit des Spielers schwer tut, wenn der Fokus zu sehr auf dem „Spielspaß“ im Verständnis von „Spaß und Spaß allein“ liegt. Betrachten wir den Begriff „Spaß“ doch einfach als Blackbox für die Immersion mit allen Emotionen; Filme, Theater und Literatur haben uns doch auch die ganze Bandbreite der Emotionen gelehrt und bisher wagen sich noch zu wenige Games an die Vermittlung aller Emotionen heran (dennoch passieren hier Experimente wie Heavy Rain (2010) oder möglicherweise auch Alien: Isolation, welches für 2014 erwartet wird und das Spiel mit Hoffnung und Urängsten wagt. 22 | Im Fokus Spielerisches Lernen Doch warum werden noch immer die ideologischen Implikationen in vielen Produktionen nicht beachtet. Oder sind es gar nicht die Entwickler, die Angst davor haben, solche Themen umzusetzen, sondern auf ‚Political Correctness‘ beharrende Entscheider aus den Bereichen Finanzierung, Marketing und Vertrieb? Vielleicht aus Angst, die definierte Zielgruppe würde ernste Themen ablehnen, eben weil es „ja nur ein Spiel ist“? Der Begriff des „Spiels“ verklärt bei der Medienform der ‚Games‘ (ein gleichfalls unglücklicher Name, ist er doch nur die Übersetzung) die Sichtweise. „Interaktive Erfahrung“, iXP statt UX (User experience) wäre zweifellos besser, da hier die Begriffe wie „Spielen“, „Spielzeug“ und „Spielspaß“ in den Hintergrund treten. Doch Games sind in der Tat gut darin, uns etwas Lernen zu lassen – und das auch noch mit Vergnügen. Die Stärke von Games ist es, Prozesse und Funktionsweisen dynamisch abzubilden und interaktiv erfahrbar werden zu lassen. Bei jedem Game – ganz gleich, ob Serious Games oder Entertainment Game – setzt sich der Spieler bereitwillig Herausforderungen aus, lernt im Idealfall systematisch aus seinen Fehlern und steigert seine Fertigkeiten. Dies trifft auf ein Casual Game wie Bejeweled (2001) ebenso zu, wie auf einen modernen AAA-Titel wie Crysis 3 (2013) oder sogenannte RTS (real time strategy) wie StarCraft 2 (2010). Der menschliche Spieler erkennt Muster im Verhalten, in Raum und Zeit und adaptiert sein Interaktionsverhalten, um Erfolg zu haben. Ein Grund mehr, warum die sogenannte ‚Gamification‘, also das Einbinden von Game-Mechanismen in Non-Game-Szenarien wie dem alltäglichen Arbeitsablauf durchaus vielversprechend sein kann – wenn man es richtig macht. Denn auch wenn wir jedes Thema mit Games umsetzen können – und jedes Thema heißt dann eben auch, dass auch das Leben und Leiden der Anne Frank interaktiv dargestellt werden kann, so wie Literatur, Theater, Film und TV es eben auch tun – müssen wir sensibel mit den Anforderungen des jeweiligen Szenarios umgehen. Das Thema der Nürnberger Prozesse zeigt man eben nicht mit einem Shooter. Die Game-Design-Absolventen Verena Steffens und Gerhard ‚Kira‘ Schmieja haben sich mit diesen Themen 2012 in der Form von produzierbaren Konzepten (Zwischen Bibel und Galgen, 2012) und interaktiv erfahrbaren Prototypen (Anne Frank, 2012) im Rahmen ihrer Bachelorarbeiten auseinandergesetzt. Ein schmaler Grad zwischen Romantisierung und Fakten Junge, gebildete Game Designer sind die neuen Pioniere auf diesem Gebiet. Doch bei jedem Thema gilt es eine feine Line zwischen Romantisierung und tatsächlichen Fakten zu beachten. Wir Menschen lernen aus Ge- Im Fokus | 23 schichten – auch oder gerade aus den interaktiven, bei denen wir die Konsequenzen unserer Taten zu spüren bekommen (oder sollten!). Doch wo kommt Folklore mit ins Spiel? Letztlich überall, wo wir dem Einfluss von Geschichten ausgesetzt sind. Erzählungen am Kinderbett, als wir das erste Mal von Burgen und Prinzessinnen gehört haben, von Rittern und Zauberern – und wir eine ‚Moral von der Geschicht‘ erfahren haben. Wir lernen durch die Bilder, die wir aus Filmen und Büchern mitgenommen haben, bis wir – manchmal desillusionierend – eines Besseren belehrt wurden: Zur Zeit von König Artus gab es eben keine Ritter in vollverchromten Plattenpanzerrüstungen, wie sie in John Boormans Film Excalibur (1981) schillernd durchs Bild reiten. Oder auch der wieder und wieder aufbereitete Freiheitskampf des angelsächsischen Robin Hood gegen die normannischen Besatzer: Wir kennen zahlreiche Interpretationen des Themas, wissen aus historischen Abhandlungen, dass es die historische Persönlichkeit in dieser Form nicht gab, sondern dass sie wohl eher aus verschiedenen Beschreibungen zusammengesetzt wurde. Reine Fiktion also? Oder steckt eine Lehre darin? Und was ist mit Indiana Jones, dem Schatzkammern plündernden Archäologen, der gegen Hitlers Schergen kämpft (Raiders of the Lost Ark, 1981): Können wir etwas daraus lernen? In der Tat, denn auch wenn die Rahmenhandlung reine Fiktion ist, so entspricht doch die Ausstattung, die Bauten, Fahrzeuge und die Kleidung bei Indiana Jones tendenziell denen der Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Wir erhalten also eine tendenzielle Beschreibung der Epoche, können ihr „Look and Feel“ von der Zeit des Kalten Krieges der sechziger Jahre ebenso abgrenzen, wie von der Amerikanisches Bürgerkrieges. Nein, es ist kein fundiertes Wissen von Fakten, welches wir erwerben, sondern ein Eindruck, der den Interessierten dazu bewegt, die tatsächlichen Fakten einer Zeit zu recherchieren, ein Prozess, den wir als „Tangential learning“ kennen. Ein anderes Beispiel: Bei Excalibur lernen wir, dass es im Mittelalter Burgen und Schwerter gab, aber eben keine Flugzeuge und Feuerwaffen. Stildefinitionen erzeugen ein Gefühl für eine Zeitepoche – auch wenn es unpräzise und schwammig sein mag. Trotzdem lernen wir etwas über das jeweilige Zeitalter. Wir wecken Interesse für Themen bei unseren Konsumenten, unseren Zuschauern, Lesern und Spielern! Doch hier liegen auch Gefahren drin, denn die Vermittlung von Werten, von Ideen und subjektiven Ansichten passiert permanent – und nicht jedes Mal gehen wir damit konform. Die Gefahr ist groß, denn das, was ein Entwickler produziert und letztlich an den Kunden verkauft, kann sehr eingeschränkte Problemlösungsstrategien aufweisen, die eine gänzlich unerwünschte Konditionierung der Zielgruppe bewirkt. Wir kennen das Wechselwirkungsprinzip ‚actio et reactio‘, also dass jede Aktion eine Reaktion bewirkt. Wenn aber beispielsweise Gewaltanwendung als primäre Problemlösestrategie eingesetzt wird, doch Gräueltaten konsequenzlos bleiben, weil ‚man dem Spieler ja kein 24 | Im Fokus Unbehagen bereiten will‘, dann begeben sich Games auf einen gefährlichen Bereich, denn hier wird nur Wert auf die Spielmechanik gelegt, um „Spaßmotivationen“ zu erzeugen. Dies funktioniert nicht jedoch mehr, wenn man versucht, ‚ernsthafte‘ Themen zu behandeln. Der Filmbereich ist hier gedanklich weiter. Schindler’s Liste (1993) ist auch kein Popcornfilm, und doch wollen wir uns den Erfahrungen, die Spielberg uns präsentiert, willentlich stellen – eben weil wir unsere Geschichte nicht vergessen wollen. Und in Saving Private Ryan (1998) akzeptieren wir auch die Darstellung von immenser Gewalt – eben weil sie mit dramaturgischen Funktionen inszeniert wurde, um die Schrecken des Krieges darzustellen. Neue Games für neue Zielgruppen Doch vielleicht will ein Unternehmen gar kein historisches Szenario für eine interaktive Erfahrung produzieren, sondern herausfinden, wo sich Serious Games noch einsetzen lassen? Die Antwort ist simpel: Überall! Zum Beispiel im Kundenservice: Spielerisch lassen sich die vermeidbaren Situationen, die eskalieren durch eine Interaktionsschulung der Mitarbeiter vermeiden. Oder bei der Schulung von Polizei, Notarzt und Feuerwehr? Gerade die Egoperspektive der in den Medien verhassten Shooter fördern die Hand-Auge-Koordination und schulen zugleich die Wahrnehmung von Bewegungen im dreidimensionalen Raum. Stellen wir uns den Polizeieinsatz in dunklen Gassen bei der Verfolgung eines bewaffneten Verdächtigen vor. Angst ist bei einer echten Bedrohung ein nicht zu unterschätzender Faktor. Spielerisch lässt sich so beispielsweise erfahren, was die anderen Kollegen sehen, wie der Pilot im Helikopter, der seinen Kollegen am Boden über Funk mehr Sicherheit vermittelt. Und mit den neuen Möglichkeiten der Augmented Reality als Erweiterung unserer eigenen Realität durch digital eingespielte Informationen, ergeben sich hierbei gänzlich neue Situationen. Eine Gefahr in der Produktion ist hierbei jedoch wieder, dass der Versuch, sich seriös (also nicht „Spiel“-bezogen) zu geben, dazu führen kann, dass man die vermeintlich ‚unseriösen‘ dramaturgischen Effekte weglässt oder diese falsch eingesetzt werden, weil ein Auftraggeber für „Serious Games“ sich betont von den Entertainment-Games distanzieren möchte. Warum, müssen wir hier fragen?! Gerade Shooter wie Crysis beherrschen es auf höchstem Niveau, Emotionen wie Angst und Beklemmung durch den Einsatz der haptischen und audiovisuellen Interaktion zu erzeugen und an den Spieler zu vermitteln. Warum also nicht von den Methoden lernen? Klare Zieldefinitionen sind natürlich auch hier wichtig. Zunehmend wollen auch games-branchenfremde Unternehmen in den expandierenden Markt der Games-Entwicklung investieren, jenseits von reinen Fonds, Im Fokus | 25 um ein eigenes Produkt, eine wertige Marke oder um ein Intellectual Property aufzubauen. Die potenziellen Einsatzgebiete für Games sind vielfältig und neue Zielgruppen mannigfaltig vorhanden: hier die Politik, für die Serious Games beispielsweise zur Überprüfung von Sinn und Unsinn neuer Konzepte wie der effizientesten und gesellschaftlich tragbaren Verteilung von Kindergartenplatzregelungen ausprobiert werden können, dort Feuerwehr und Polizei, um durch gespielte Konfliktsimulationen mehr Sicherheit zu erlangen und um Mechanismen in der Koordinierung zu meistern. Architekten und Städtebauer könnten Simulationen einsetzen, um echte Barrierefreiheit für das 21. Jahrhundert zu ermöglichen; die Simulation im 3D-Raum zeigt schnell auf, wie nicht nur Bordsteinkanten als unsichtbare Mauern fungieren. Und natürlich lassen sich Games auch im Schulunterricht einsetzen – zumindest bei unserer jungen und aufgeschlossenen Lehrerschaft, die bereits selbst mit den neuen Medien aufgewachsen ist. Allerdings gehören hier nicht nur adäquatere Ausstattungen dazu, sondern auch von seitens der Game Designer ein größeres Verständnis über Didaktik, Lehrprozesse an Institutionen und letztlich natürlich auch die fachliche Kompetenz. Erste Experimente hierzu existieren und funktionieren; Game-Design-Studenten haben interaktive Räume zu historischen Szenarien erstellt, die auf die 45-Minuten-Unterrichtseinheit abgestimmt sind und in nur 10 Minuten Spielzeit erlernbare Ziele erreichbar machen. Wir sehen also, dass die Realisierung dieser Konzepte möglich ist. Was seit Ende 1969 die TV-Serie Sesame Street zum Bildungsnachteilsausgleich in den USA zu leisten versuchte, können heute Serious Games weltweit leisten, ist doch die heutige Zielgruppe games-sozialisiert. Und wenn wir unsere Vision nach oben skalieren, sind auch große Teams in der Forschung möglich, sei es für Medizin, Schifffahrt, Luft- und Raumfahrt und vielen anderen Bereichen mehr, wie Krisenmanagement und Umweltschutz auf globaler Ebene. Letztlich bedeuten diese neuen Einsatzgebiete für Unternehmen und Kunden, Gesellschaft und Politik: Games – ganz gleich ob Entertainment oder Serious – verändern unsere Denkweisen im 21. Jahrhundert! Prof. Dr. Michael Bhatty Fachbereich Gamedesign, MD.H Düsseldorf Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Media Design DESIGNER IM HYBRIDRAUM II Prof. Eduard Mittermaier Dozent Fachbereich Media Design Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 28 DESIGNER IM HYBRIDRAUM II »Ohne dass wir es merken digitalisiert uns das Netz. Wir lassen uns scannen wie ein Buch und landen als Teil der Datenwolke unsterblich im digitalen Weltnetzwerk.« [1] Sebastian Ibler untersuchte in seiner Bachelor-Thesis seine sozialen und symbolischen Identitäten im virtuell-vernetzten Raum. In einem Doppelbuch mit dem Titel ›Simulakrum‹ stellte er zunächst sein ›ICH (Persona)‹ dem ›ES (Digitaler Fußabdruck)‹, als künstliches Destillat seiner digitalen Entität synchron korrespondierend gegenüber, um die beiden Pole am Ende in einer Hyperrealität verschmelzen zu lassen, in der zwischen authentischen und simulierten Ereignissen nicht mehr unterschieden werden kann. In umfangreichen Recherche Maßnahmen setzte er sich mit thematisch korrespondierenden wissenschaftlichen und literarischen Abhandlungen von Jean Baudrilliard (Simulationstheorie), Rudi Klausnitzer, Rick Smolan, Malte Spitz, Erich Fromm, Dara Halinan, Uwe Jean Heuser, Joe Flower, und Anthony Adams auseinander. Ein weiteres Augenmerk seiner Recherche galt gegenwärtigen Medienkunst Formen, wie Video-, Interactive Art, Generative Art und Performance Art. Er erkundete seine Ich-Struktur, ließ seine DNA vermessen, beobachtete und protokollierte seine Umwelt mit Smart Glasses, erforschte seinen gegenwärtigen digitalen Fußabdruck im Netz und entwickelte parallel dazu eine Medieninstallation, in der die Besucher seines ›Fogscreens‹ ihrem virtuellen Abbild, ihrem ›synthetischem Golem‹ begegneten. Eine Nebelmaschine in einem ›Black Lab‹ erzeugte eine unsichtbare (auch durchschreitbare) Projektionsfläche. Die Bewegungsmuster der Besucher wurden über einen Kinect-Sensor [2] abgetastet und ausgelesen, die ausgewerteten Infrarotsignale der berechneten 3D-Bilder in Graustufen umgewandelt, grob gerastert und per Rückprojektion auf eine Nebelwand projiziert. Die abstrahierte Projektionslösung symbolisierte so den unfertigen, in permanenter Metamorphose befindlichen, digitalen Footprint. Hybrid-, Doppelbuch (Altarfalz), Bachelor Thesis Sebastian Ibler, 2015 2 Hardware zur Steuerung einer Interaktion über Körperbewegungen, in der 1 Christian Grasse: Mein Digitales Ich, Metrolit, 2013, S.121 Kombination von Tiefensensor, Farbkamera, 3D-Mikrofon und Software 29 | Im Fokus Fogscreen-Installation Simulakrum, Bachelor Thesis Sebastian Ibler, 2015 Auf seiner Reise zu seinem erweiterten ›ICH‹ untersuchte Sebastian Ibler Synergien und Disruptionen zunehmend konnektiver Prozesse, in der Fusion von Mensch und Maschine, von Kreativität und Technologie. In seiner Arbeit wird der Wunsch nach sozialer und kultureller Kreativität sichtbar, um mit den Mitteln der visuellen Kommunikation aufzuklären und auf gesellschaftliche Problemzonen hinzuweisen. Im Epilog seines Buches schreibt er: ›Ich begann die Arbeit mit einer naiven Vorstellung der digitalen Welt. […] Natürlich besaß ich eine ungefähre Vorstellung des Internets, dessen was digital bereits möglich ist, doch war mir das Ausmaß […] nicht bewusst. Während der Recherche durchlebte ich ein Wechselbad der Gefühle. Ich taumelte von einer Nachricht zur nächsten, ungläubig, neugierig, euphorisch, manchmal verängstigt, manchmal schockiert.‹ Prof. Eduard Mittermaier Fachbereich Media Design, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Media Design Schriftwahl – ein Annäherungsversuch Prof. Sybille Schmitz Dozentin Fachbereich Media Design Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 32 Schriftwahl – ein Annäherungsversuch Die Helvetica ist allgegenwärtig. Sie ist eine der »Überschriften« der letzten sechs Jahrzehnte. Die vermeintliche »Schrift ohne Eigenschaften« findet vielerorts Anwendung. Das Potpourri diverser Einsatzgebiete erstreckt sich von Gestaltungs- und Architekturbüros über Autofirmen, Banken, Filmplakate, Museen bis hin zu einfachen Handwerksbetrieben. Die Helvetica, die ihren Siegeszug 1957 von der Schweiz aus zunächst als neue Hass Grotesk antrat, ist bekanntlich eine gute, brauchbare Schrift. Dies stellte Eduard Hoffmann, der sich zusammen mit Max Miedinger für die Entwicklung der Helvetica verantwortlich zeichnet, 1957 erstmals fest: »Die Schrift wirkt als solche gut«. [1] Sie hat mittlerweile zahlreiche Nachahmer – die Arial (Monotype 1982), die Nimbus (URW 1983), die Swiss (Bitstream 1982) – gefunden und auch einige Neuauflagen wie etwa in der Neuen Helvetica (Linotype 1983) erlebt. Abb. 1: Eduard Hoffmanns Protokollheft (1956–1965) Eines der wichtigsten Zeugnisse der Enstehung der Helvetica 1 Malsy, Viktor; Müller, Lars (2008): Helvetica Forever. Geschichte einer Schrift. Seite 31. Lars Müller Publishers, Baden, Schweiz Abb. 2: Schriften, die sich an der Helvetica orientieren. 33 | Im Fokus Die Helvetica, zweifellos zeitlos schön, setzt Grafikarbeiten von Gunter Rambow, Wolfgang Schmidt und Josef Müller-Brockmann trefflich ins rechte Licht, im Umfeld hoher Literatur jedoch oder auch auf einer Kondolenzkarte mag sie Manchem zu profan wirken. »Wiederum begegnen wir hier dem Phänomen, dass Schriften – unabhängig von ihrer optischen Lesbarkeit – durch ihre Formsprache beim Leser bestimmte Gefühle auslösen und positiv oder negativ wirken können. [2] Jost Hochuli, Schweizer Buchgestalter und Typograf spielt dabei auf eine weitere wichtige Funktion jeder Schriftart an, nämlich den Inhalt allein durch ihre spezielle Ausformung zu interpretieren. Schrift vermittelt Atmosphäre. Es ist also nicht egal wer – soll heißen: welche Schrift – etwas sagt. Für einen Laien mag dies zunächst schwer vorstellbar erscheinen. Einem Bild oder einem Gemälde wird niemand einen gewissen Deutungsrahmen absprechen wollen. Dem typografischen Material, lediglich 26 Zeichen, die es in großer und kleiner Ausformung gibt, komplettiert mit diakritischen Zeichen, Punkturen und Ziffern, werden dies hingegen nur Wenige zugestehen. Woran liegt es, dass der Schrift, ihrer Auswahl und Anwendung heutzutage so wenig Bedeutung beigemessen wird? Liegt es an den vergleichsweise zahlreichen Ausformungen einer Schriftklasse, den vielen kaum mehr einzuordnenden Namen und Varianten tausender Schriften, dass die Orientierung fehlt? Oder ist Schrift einfach überholt in einer schnelllebigen, hochtechnisierten, sprachgesteuerten Welt im Stile von Apples Siri? Sicher nicht. »Des Daseins eigentlichen Anfang macht Abb. 3: Josef Müller-Brockmann (1970): Plakatgestaltung »musica viva« für die Zürcher Tonhalle-Gesellschaft 2 Hochuli, Jost (2011): Das Detail in der Typografie. Seite 38. Niggli Verlag,Sulgen, Schweiz Im Fokus | 34 Abb. 4: DB Sans (2005), Eric Spiekermann, Christian Schwartz Abb. 5: Lenbach Grotesk (2013), Jakob Runge die Schrift« [3] sagte schon Heraklit und meinte damit den Beginn der Gesellschaftsysteme, der eng an die Fähigkeit des Schreibens gebunden war. Schriftsysteme haben sich über Jahrhunderte entwickelt. Sie sind wichtigtes Kulturgut – Ausdruck von Stil und Zeitgeist. So darf es uns auch nicht verwundern, dass in einer offenen, vielschichtigen Gesellschaft auch viele unterschiedliche Schrifttypen vorhanden sind. Schrift ist heute mehr denn je visuelles Transportmittel. Viele namhafte Firmen geben eigene, exklusiv auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Schriften in Auftrag. Um einige Beispiele zu nennen: Die Deutsche Bahn gab 2005 die Helvetica zugunsten der DB Sans von Eric Spiekermann und Christian Schwartz (http://www.edenspiekermann.com) auf. Das Lenbachhaus in München verfügt über die Lenbach Grotesk (Jakob Runge 2013), eine museal anmutende Sans Serif. Die Süddeutsche Zeitung implementierte 2012 die SZ-Schriften (Henning Skibbe und Nils Thomsen) und sieht sich mit diesen, auf optische Traditionen der Zeitung aufbauenden Schriftformen, endlich im 21. Jahrhundert angekommen. 3 Heraklit, aus Kapr, Albert (1971): Schriftkunst. Geschichte, Anatomie und Schönheit der Lateinischen Buchstaben. Seite 13. K. G. Saur. München – New York – London – Paris Abb. 6: Vergleich der Excelsior mit der SZ-Text (2012), Henning Skibbe und Nils Thomsen Unabhängig von den Interessen großer Firmen gibt es auch für den normalen Anwender die Schrift für jede Tonart. Und so gibt es eben heute beispielsweise eine Archer als kaltwarme Neuinterpretation einer Slabserif, eine elitäre Narziss, eine urbane Gotham, eine einladende Genath sowie eine krakelige CC Wildwords. Egal welche der vielen Schriften wir anwenden, eines muss unbestritten bleiben: Schrift interpretiert den Text, gibt ihm Glaubwürdigkeit oder macht ihn fragwürdig – und dies bereits unabhängig von der gewählten Satzart. »Tut sie dies falsch, so stimmt das, was ausgesagt wird, nicht mit dem überein, wer es sagt. « [4] Der Frage, wie man eine Schrift ihrer Haltung entspre chend inszenieren kann, spürten die Media Design Studierenden der MD1012 und MD1013 gleichermaßen nach. 4 Angelehnt an Luidl, Philipp (1996): Basiswissen Typografie. Seite 37 ff, Deutscher Drucker. 35 | Im Fokus Abb. 8: Schaukasten zur Schrift Trump Mediäval Abb. 9: Schaukasten zur Schrift Trump Mediäval Abb. 7: Schaukasten zur Schrift Gotham Ivan Babic, Daniel Krategl und Alex Reinicke inszenierten die Schrift Gotham, in ihrem ursprünglichen, urbanen Stil amerikanischer Großstädte. Die Gotham, die Tobias Frere Jones 2000 zunächst exklusiv für das Männermagazin GQ entwarf, orientiert sich an der Gestaltung amerikanischer Schildermalerei. 2008 wurde sie durch die Kampagne im Rahmen der Präsidentschaftswahl von Barack Obama weltbekannt. Die Trump Mediäval lädt den Leser mit wohltemperierter, einnehmender Stimme ein – charaktervoll, gleichwohl charmant, ohne dabei aufdringlich zu werden. Natalie Kennepohl, Hanna Rasper, Laura Ostermaier und Sonja Schröder (MD1012) inszenieren die Schrift gekonnt in ihrem Schaukasten: Zurückhaltende Gestaltung, ein Typoteppich in klarem eleganten weiß, kombiniert mit dem für Trumps Schrift so signifikanten et-Zeichen, das in ihrer Arbeit dimensional in einladendem Gelb hervortritt. Im Fokus | 36 Abb. 11: Fotokonzept, Buchinszenierung der Schriftanalyse der Palatino Abb. 13: Fotokonzept für die Schriftanalyse der CC Wildwords Die Melior ist eine statische Antiqua, die ebenso wie die dynamische Palatino der Feder von Hermann Zapf entsprungen ist. Besser will sie sein, darauf weist schon ihr Name hin. Und das vor Allem beim Mengentext im Zeitungssatz. Sie bietet klare Lesbarkeit, ohne dabei arrogant zu sein. Nun ziert sie sogar das Erscheinungsbild des deutschen Bundestages – vornehm elegant wie die Gestaltung der Studentinnen – mit reflektierendem Spiegel. Abb. 10: Fotokonzept, Schrift Futura Klar und schnörkellos sind die Grundklänge der Futura – die Schrift selbst eine konstruierte Grotesk, die seit 90 Jahren nichts von ihrer Beliebtheit eingebüßt hat. Sie kommt ohne Umschweife auf den Punkt. In einem funktionalen Zweckbau mittels Projektion sehen Sophie Schillo, Jenifer Lutz und Julian Schöll (MD1013) den Geist der Schrift treffend gespiegelt. Eine dynamische Schrift für viele Einsatzzwecke, zeitlos modern und doch traditionsverbunden, mild, unaufdringlich und angenehm, das ist die Palatino. Für viele Anwendungsbereiche nutzbar – in Bewegung. Feyza Demirören, Paulina Meider, Veronika Disl, Sara Markieton und Stefanie Dehler wählten die Langzeitbelichtung eines Wendebuches zur Charakterisierung ihrer Schrift. Abb. 12: Fotokonzept für die Schrift Melior Natalie Krönauer, Joelle Lenz, Julia Nitzsche Dass man einem Laien keine Comic-Schrift normal erklären kann, ist das Credo von Max und Felix Kaiser (MD1013). Der eigens entwickelte »kleine Comic-Kaiser« rückt die auf Anforderungen des Letterings ausgerichtete Schrift ins rechte Licht. Er zeigt und verdeutlicht Wirkmechanismen. Lebendig, manchmal auch unakkurat. Charmant, im Comicstil. Schlichtweg passend. 37 | Im Fokus Bildquellen: Abb. 1: Eduard Hoffmanns Protokollheft (1956–1965) Eines der wichtigsten zeugnisse der Enstehung der Helvetica. Malsy, Viktor; Müller, Lars (2008): Helvetica Forever. Geschichte einer Schrift. Seite 71. Lars Müller Publishers, Baden, Schweiz Abb. 2: Schriften, die sich an der Helvetica orientieren Malsy, Viktor; Müller, Lars (2008): Helvetica Forever. Geschichte einer Schrift. Seite 124. Lars Müller Publishers, Baden, Schweiz Abb. 3: Josef Müller-Brockmann (1970): Plakatgestaltung » musica viva« für die Zürcher Tonhalle-Gesellschaft http://www.modern-theory.com/directories/mullerbrockmann-josef/ Zugriff am 15. 10. 2014 Abb. 4: DB-Sans, 2005 http://www.edenspiekermann.com/projects/deutsche-bahn/ Zugriff am 7. 10. 2014 Abb. 5: Lenbach Grotesk, 2013 http://jakob-runge.de/typedesign/lenbach-grotesk/ Zugriff am 7. 10. 2014, Abb. 6: Vergleich der Excelsior mit der SZ-Text (2012),Henning Skibbe und Nils Thomsen http://www.fontshop.de/fontblog/suddeutsche-mit-neuer-typografie/ Zugriff am 7. 10. 2014 Abb. 7: Schaukasten zur Schrift Gotham (MD1012), Ivan Babic, Daniel Krategl, Alex Reinicke Foto: Lars Reiners Abb. 8, 9: Schaukasten für die Schrift Trump Mediäval (MD1012), Natalie Kennepohl, Hanna Rasper, Laura Ostermaier und Sonja Schröder Fotos: Lars Reiners Abb. 10: Fotokonzept für die Schrift Futura (MD1013), Sophie Schillo, Jenifer Lutz und Julian Schöll Abb. 11: Fotokonzept für die Schrift Palatino (MD1013),Feyza Demirören, Paulina Meider, Veronika Disl, Sara Markieton und Stefanie Dehler Abb. 12: Fotokonzept für die Schrift Melior (MD1013),Natalie Krönauer, Joelle Lenz, Julia Nitzsche Abb. 13: Fotokonzept für die Schrift CC Wildwords Max und Felix Kaiser (MD1013) Prof. Sybille Schmitz Fachbereich Media Design, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Media Design Interaktive Räume – Die virtuelle Erweiterung einer bestehenden Ausstellung Prof. Frank Rief Dozent Fachbereich Media Design Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 40 Interaktive Räume – Die virtuelle Erweiterung einer bestehenden Ausstellung »Das Architekturmuseum Pinakothek der Moderne zeigte 2011/12 die vielbesprochene Ausstellung “Bauen mit Holz – Wege in die Zukunft”. Aufgrund der hohen Resonanz wurde die Ausstellung anschließend in ein kompaktes mobiles Format adaptiert. Seitdem gastiert sie als Wanderausstellung in ganz Deutschland. Präsentationsraum ist ein Holzcontainer von 3×12 Metern. Im Laufe der Zeit entstand die Idee, die mobile Ausstellung durch virtuelle Inhalte und Technologien zu erweitern und somit zusätzliche Informationsebenen zu schaffen. Vier Studenten der MD.H München nahmen sich dieses Themas an. Ressourcen und die Beachtung ökologischer Grundsätze hat auch im Bauwesen ein neues Denken herbeigeführt. [1] In der Wanderausstellung „schauholz“ wird ein Destillat der ursprünglichen Ausstellung präsentiert – unter anderem besondere Holzbauprojekte sowie Informationen, Grafiken und Bilder zum regenerativen Rohstoff Holz. PROJEKTENTWICKLUNG Durch die begrenzte Fläche des „schauholz“-Containers können die Inhalte nicht mehr in der Informationsdichte wie in der Pinakothek der Moderne präsentiert werden. Deshalb wurde versucht, bestimmte Sachverhalte über interaktive, animierte und kontextsensitive Medien und Technologien besser, einfacher und umfangreicher zu vermitteln. Die Studenten Fabian Gross, Jochen Klaus, Thu Nga Nguyen und Bianca Ramljak entwickelten auf dieser Grundlage vier verschiedene Ansätze. Abb. 1: Wanderausstellung “schauholz” HINTERGRUND Die Ausstellung „Bauen mit Holz – Wege in die Zukunft“ widmete sich der wachsenden Bedeutung von Holz als Baumaterial. Das sich seit den 1970er Jahren entwickelnde globale Bewusstsein für eine Schonung der Augmented Reality Die Besucher der Ausstellung können durch bereitgestellte Tablets zusätzliche Inhalte abrufen. Maßgebend hierfür ist die nahtlose Verzahnung von statischen und 1 www.proholz-bayern.de/wege-in-die-zukunft.html Zitat aus dem Buch: Bauen mit Holz – Wege in die Zukunft: Hermann Kaufmann, Fachgebiet Holzbau, TU München und Winfried Nerdinger, Architekturmuseum der TU München 41 | Im Fokus virtuellen Inhalten. Um dies zu ermöglichen, wird die sogenannte „Augmented Reality“-Technologie (AR) verwendet – die Realitätswahrnehmung wird computergestützt erweitert. Hält man zum Beispiel das Tablet über einen Architekturplan, so entspringt dem Plan auf dem Tablet eine dreidimensionale Ansicht des Gebäudes. Der Betrachter kann sich mit dem Tablet um das Gebäude herum bewegen und sogar hineinzoomen. Dadurch ist es möglich, die ausgestellten Objekte plastisch, realitätsnah und emotional zu erfassen. Außerdem lassen sich statische Wandgrafiken animieren und erweitern. Letztendlich können die vorhandenen Inhalte durch die AR-Erweiterung beliebig ausgebaut und komplexer dargestellt werden. Dynamische Infografik Abb. 2: Montage – Einsatz von Augmented Reality im schauholz Abb. 3: Monatege – dynamische Infografik vor dem schauholz (links), Die drei Themenkomplexe „Holzvorkommen“, „Holzverwertung“ und „CO2-Bindung“ werden anhand der dynamischen Infografik verständlich in Relation zueinander gesetzt. Durch den kombinierten Einsatz von Bild, Text und Animation kann der Besucher die Inhalte leicht und anschaulich erfassen. Dies wird durch einen „Live-Ticker“ noch zusätzlich vereinfacht: In Echtzeit sieht und erlebt der Betrachter zum Beispiel, wie viel Holz aktuell nachwächst, welches Volumen an CO2-Emission alleine durch den nachwachsenden Wald gebunden wird oder in welchem Zeitraum das Holz für ein Einfamilienhaus wächst. grafische Studie zur Animation und Darstellung (rechts) Im Fokus | 42 Abb. 5: Screenshots interaktiver Holzkreislauf App „stadtHolz“ Interaktiver Holzkreislauf Die Anwendung „stadtHolz“ präsentiert herausragende und nachhaltige Holzbauobjekte im urbanen Raum. Dem User werden diese Objekte in einem bestimmten Umkreis zu seinem Standort angezeigt. Informationen und Daten können direkt abgerufen werden. Mittels GPS wird eine Route angezeigt. Eine Animation stellt die komplexen Zusammenhänge des Holzkreislaufs dar. Kernelemente sind die Forstwirtschaft, die Holzernte, der stoffliche und energetische Nutzen von Holz sowie die Wiederverwertung und Rückführung. Dabei wird einerseits die sehr gute Ökobilanz von Holz als CO2-Speicher und Substitutionsbaustoff beleuchtet, andererseits die wichtige Rolle von Forstwirtschaft und Holzverwendung bei der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen gezeigt. Am Objekt selbst werden durch Augmented Reality weitere Inhalte dargestellt. Somit erhält das Objekt eine virtuelle Informationsebene – Zusammenhänge werden aktuell und transparent vermittelt. Die Idee hinter der App war, die Umgebung und die Exponate live in das Ausstellungskonzept einzubeziehen. Die einzelnen Stationen sind durch animierte Illustrationen und Piktogramme dargestellt. Der sukzessive Aufbau erklärt Schritt für Schritt die Zusammenhänge und die Bedeutung des Kreislaufs. Durch Touch-Interaktion lassen sich weitere Informationen abrufen oder einzelne Passagen wiederholen. FAZIT Abb. 4: Screenshorts App “stadtHolz” (links: Kartenansicht, rechts: Augmented Reality) Die Arbeit zeigt in vielerlei Hinsicht gute Möglichkeiten, den realen Raum durch virtuelle Inhalte zu erweitern. Dadurch eröffnen sich innovative Wege der Präsentation und Vermittlung von Wissen. Der Einsatz der beschriebenen Medien und Technologien erhöht zudem die Qualität des Erlebens und der Wahrnehmung der Ausstellungsinhalte (Steigerung der User Experience). Die verschiedenen Ideen zeigen vielschichtige Ansätze, wie der moderne Mediadesigner durch neue Werkzeuge und Mittel unser Umfeld informativer, erlebnisreicher und transparenter gestaltet. 43 | Im Fokus Bildnachweis: Abb 1: www.proholz-bayern.de/nachlese.html Abb. 2-5: Studienarbeit „Interactive Environments“, MD.H München, F. Gross, J. Klaus, T. N. Nguyen und B. Ramljak Prof. Frank Rief Fachbereich Media Design, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Media Design Entwickeln von Responsive Web Design – Vorschlag für eine Vorgehensweise Peter Spies Dozent Fachbereich Media Design Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 46 Entwickeln von Responsive Web Design – Vorschlag für eine Vorgehensweise Dieser Artikel wendet sich an P ersonen, die immerhin HTML- von CSS-Code unterscheiden können. Also fast an alle. Hier sollen möglichst allgemeingültige Methoden gezeigt werden, aber nicht ein bestimmtes Layout oder ein bestimmter Gestaltungsvorschlag. Da andererseits theoretische Überlegungen nur an praktischen Besipielen aussagekräftig dargestellt werden können, muss doch ein konkretes Layout verwendet werden. Damit es sich nicht in den Vordergrund drängt, ist es bewusst schlicht gehalten. Anders gesagt: Es geht hier nicht um das Aussehen der einzelnen Elemente der Testseite, sondern um die Art, wie sie sich zueinander verhalten. Ein aktueller Leitsatz beim Entwickeln von Responsive Web Design lautet ‘mobile first’! Wir richten also zunächst das Aussehen der Webseite ein für das Display eines hochkant gehaltenen Smartphones (orientation: portrait). Aber was bedeutet das? Selbst eine oberflächliche Recherche zeigt uns: Es gibt eine Vielzahl von Displaygrößen, egal ob in Millimeter, Zoll oder Pixel angegeben. Dieselbe Recherche verrät uns auch: Die jeweils verwendeten Bildpunkte liegen bei verschiedenen Geräten unterschiedlich dicht gepackt, und das heißt, sind unterschiedlich groß. Deswegen verwenden führende Hersteller von Betriebssystemen für Smartphones unterschiedliche Umrechnungsfaktoren von (aus dem Ursprungsmaterial) vorgegebenen Bildpunkten zu den tatsächlichen Punkten des verwendeten Schirms. Aus all dem ergibt sich die Folgerung: Hier sind Angaben in px fehl am Platz! Vorgegeben waren für eine Prüfung der IHK: • • • ein Logo mit einem bestimmten Seitenverhältnis ein Menü mit fünf Hauptpunkten für die Navigation die Anweisung, dass eine Sprachauswahl für die Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch von Anfang an sichtbar integriert werden sollte • ferner Texte und Fotos Drei Layouts für vorgegebene Bildschirmgrößen sollten entwickelt werden. (Ein wenig realistischer Ansatz, aber davon später.) Welche Maßeinheit nehmen wir dann? Uns bleiben Prozentangaben (fürs Grobe) und für die Feinheiten die M-Einheit (em). Sie bezieht sich auf den Platzbedarf des Großbuchstabens M der im jeweiligen Browser verwendeten Schrift und Schriftgröße. Das befreit uns vom Zwang, tatsächliche Größen Dutzender von Displays und Browsern, die wir nicht kennen können, ‘erraten’ zu müssen. 47 | Im Fokus Außerdem verwenden wir: <meta name=”viewport” content=”width=device-width, initial-scale=1.0”> Damit gewöhnen wir Smartphone-Browsern ab, ‘vorsorglich’ unsere Webseite auf ihr Lieblingsformat zu skalieren. Was wollen wir erreichen? Es muss zu schaffen sein, vier Links für die Sprachauswahl nebeneinander anzubieten. Von der Sprachauswahl sind die restlichen Inhalte abhängig. Folglich gehört die Sprachauswahl auch ganz nach oben. Lediglich das Logo hätte da ‘ein Wörtchen mitzureden’. Aber ein gutes Logo macht auf sich selbst aufmerksam, kann also den Platz an der Spitze großzügig abgeben. Da es als hochkant stehendes Rechteck vorgegeben war, bietet sich an, die Einträge des Hauptmenüs senkrecht untereinander daneben zu stellen. Der Rest (einspaltig natürlich) mag darunter folgen. So sieht das aus (screenshot eines Smartphonedisplay-Simulators): Im Fokus | 48 Und so ist es gecodet - in HTML5: (Das Logo ist als Link zur Startseite ins Menü integriert.) <div id=“rahmen“> <nav> <ul id=“sprach“> <li><a href=“#“>deutsch</a></li> <li><a href=“#“>english</a></li> <li><a href=“#“>français</a></li> <li><a href=“#“>español</a></li> </ul> <ul> <li id=“logo“><a href=“index.html“><img src=“logo_f_kl.gif“ alt=“Logo der Firma“></a></li> <li><a href=“#“>Touren</a></li> <li><a href=“#“>Buchen</a></li> <li id=“lang“><a href=“#“>Wissenswertes</ a></li> <li><a href=“#“>Kontakt</a></li> <li><a href=“#“>Impressum</a></li> </ul> </nav> und in CSS3: * { margin: 0; padding: 0; } #rahmen { width: 97.5%; margin: .0625em auto; padding: .125em; background: #565656; border-radius: .25em; } nav auto; } { width: 100%; max-width: 34em; margin: 0 nav ul { list-style: none; } nav #sprach { height: 1.125em; width: 100%; maxwidth: 28em; margin: 0 0 0 auto; padding-top: .25em; background: #999; } nav li { float: left; width: 7em; margin: .25em 0 0; margin-right: 1em; } nav #sprach li { width: 25%; margin: 0; margin-top: -.25em; text-align: center; } #logo } { width: 6em; margin: 0; margin-right: 1em; #lang { width: 9em; } nav a { text-decoration: none; font-weight: bold; font-size: 1.125em; color: rgb(97%, 97%, 97%); } nav #sprach a { font-size: .875em; } #logo a { font-size: .001em; line-height: 1%; } 49 | Im Fokus Diese Raumaufteilung funktioniert (im echten Gerät getestet, nicht im Simulator) ab einer Displaybreite von 320 dargestellten Punkten. (In der Titel-Leiste und -Lasche des Browsers erkennen wir die Außen- und Innenabmessungen des Browserfensters.) Haben wir mehr Platz, rücken die vier Sprachlinks einfach immer weiter auseinander. Am Hauptmenü ändert sich zunächst nichts – und irgendwann sieht es ‘verloren’ aus, wenn es weiterhin an seinem Logo klebt. Wenn wir die Eigenheit der deutschen Sprache, sehr unterschiedlich lange Wörter (Element #lang) zu enthalten, schon nicht ändern können, sollten wie sie uns zunutzemachen. In den anderen Sprachversionen empfiehlt sich daher vielleicht eine andere Anordnung. In einer ersten ‘Ausbaustufe’ könnten wir die Einträge des Hauptmenüs anordnen, wie folgt: In den CSS-Code ist nach der Zeile mit #lang { width: 9em; } einzufügen: @media screen and (min-width: 24em) { nav li { width: 8em; } #lang { width: 14em; } } Irgendwann wirkt auch das seltsam und wir können übergehen zu der Form, wie sie unser erstes Display auch hätten zeigen können, hätten wir es waagrecht gehalten (orientation: landscape): Im Fokus | 50 Nach der Zeile für nav a … sind nun folgende Zeilen einzufügen: @media screen and (min-width: 32em) { nav li { width: 11%; margin-right: 1.5%; } #lang { width: 21%; } #logo { margin-right: .5em; } nav a { font-size: .9375em; } } wachsender Monitorgröße immer mehr auftut, nützen wir, um von einspaltiger zu zweispaltiger zu dreispaltiger Darstellung überzugehen und gegebenenfalls auch die Spalten zu verbreitern, aber nur soweit die Zeilen darin lesbar bleiben. Was manchen Lesern vielleicht beim ersten Einschub schon aufgefallen ist: Auch für die Abfrage an das darstellende Gerät (media query), wie breit (z. B.) sein Bildschirm sei, an den sogenannten break points, verwenden wir die em-Einheit und nicht etwa Pixel. Wer sagt uns denn, dass Displaygrößen, die sich nun einmal in Pixeln bemessen, der einzige begrenzende Faktor der Darstellungsbreite sei? Was, wenn ein nicht mehr so gut Sehender mit den Möglichkeiten seines Browsers die Schrift generell vergrößert – und alles Andere wahrscheinlich auch? Haben wir unsere Abfrage in em gestellt, wird unser Layout auch darauf reagieren. Weniger oder anzeigbare M-Einheiten: ‘schmaleres’ Layout! Hat unser Menüsystem seine optimale Breite erreicht, lassen wir es nicht weiter anwachsen. Wir sorgen nur dafür, dass es immer schön in der Mitte bleibt. Das stört niemand. Den weiten Raum darunter, der sich mit Alles schön und gut. Aber was für Layouts entwerfen wir also? Wonach richten wir uns? Wir entwerfen Raumaufteilungen – nicht nach einer festen Bildschirmbreite, sondern nach unseren Vorstellungen für ein zugehöriges Platzangebot: Einspaltig sehr 51 | Im Fokus schmal, einspaltig breiter (eventuell), einspaltig optimal, zweispaltig optimal, dreispaltig optimal. Und wie finden wir die break points? Nicht nach bestimmten uns bekannten Monitorgrößen jedenfalls. Sondern wir nehmen die Umsetzung in Code einer optimalen Raumaufteilung und quetschen sie zusammen, indem wir das Browserfenster schmaler ziehen. Irgendwann ‘bricht’ unser geplantes Layout ‘unter diesem Druck zusammen’. Die Breite, die der Schirm dann hatte, halten wir fest. Den break point, der aus dem schmaleren Layout das breitere macht (Nicht vergessen: der endgültige Code beginnt mit dem Normalen, Schmalen!), setzen wir dann mit ausreichendem Sicherheitsabstand in den Raum hinein, von dem wir wissen, dass er für unsere großzügigere Raumaufteilung ausreicht. Und eben nach Möglichkeit gar nicht ‘in die Nähe’ bekannter Bildschirmgrößen (800, 1024, 1280 usw.). Selbst dann nicht, wenn wir Pixel verwenden wollten! Aber wir nehmen ja ohnehin em. Und damit das am Ende des Artikels nicht etwa in Vergessenheit gerate: Hier sollten Methoden gezeigt werden und nicht eine bestimmte Gestaltung. Es ging hier nicht um das Aussehen der Testseite, sondern um die Art, wie sich deren Elemente zueinander verhalten können und wie das im Code veranlasst wird. Peter Spies Fachbereich Media Design, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Digital Film Design – Animation/VFX Geheimnis Körpersprache – was h aben der Regisseur von „The Minions“, Kyle Bald, der ehemalige FBI-Agent, Joe Navaro und der Z auberkünstler und Entertainer, Thorsten Havener gemeinsam? Prof. Thomas Gronert Dozent Fachbereich Digital Film Design – Animation/VFX Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 54 Geheimnis Körpersprache – was haben der Regisseur von „The Minions“, Kyle Bald, der ehemalige FBI-Agent, Joe Navaro und der Zauberkünstler und Entertainer, Thorsten Havener gemeinsam? Seit dem Erfolg der TV-Serie „Lie to me“ oder dem Buch „Ohne Worte. Was andere über mich denken“ von Thorsten Havener, rückt die Deutung der Körpersprache immer stärker in den öffentlichen Fokus und entwickelt sich zum Thema für allgemeine Unterhaltung und Entertainment. „Das Interesse am Verstehen der menschlichen Körpersprache“ – lautet die Antwort auf die Frage, was der Regisseur von „The Minions“, Kyle Bald, der ehemalige FBI-Agent Joe Navaro und der Zauberkünstler und Entertainer, Thorsten Havener, gemeinsam haben. In diesem Artikel werden einige Grundlagen, Trends und interessante Quellen zum Thema Körpersprache (nonverbale Kommunikation) vorgestellt. Die Entschlüsselung und die Deutung der menschlichen Körpersprache war für die Zeichner von Walt Disney und die Animatoren von Pixar und anderen großen Studios schon immer die Grundlage ihrer täglichen Arbeit. Nur wenn ein Animator weiß, wie sich der Körper und die Mimik verhalten, wenn man z. B. traurig ist oder sich freut, kann eine Figur glaubhaft für das Kinopublikum animiert werden. Der ehemalige Pixar Animator und Regisseur von „The Minions“, Kyle Balda und sein Team, haben es geschafft, die kleinen g elben Minions Figuren über eine für den Zuschauer klar erkennbare Körpersprache zu den weltweit beliebten Sympathieträgern zu machen, die sie sind. In einem Animations Workshop, welchen ich mit Kyle Balda im Oktober 2015 in Berlin veranstalten werde, spielt die Körpersprache eine zentrale Rolle. „Through the examination of various clips, a deep exploration of story beats will take place to clearly communicate what characters are thinking and feeling. We will discuss the positive and negative reversals characters go through in the story telling process and how animators can show these changes to progress the story.” (Auszug aus der Workshopbeschreibung mit Kyle Balda am 17. Oktober 2015 in Berlin) Auch in der Kriminalpsychologie ist das Verstehen der nonverbalen Kommunikation ein zentraler und oft lebensrettender Punkt. Vor allem beim Verhören und Befragen von Verdächtigen hängt die Erfolgsquote der ermittelnden Beamten stark mit dem Talent der Beamten, die nonverbalen Signale und die Mikroexpressionen der Mimik richtig zu deuten, zusammen. Seit vielen Jahrzehnten wird hier intensiv auf diesem Gebiet geforscht. Der ehemalige FBI-Agent Joe Navaro schreibt in seinem Buch „Menschen lesen“ „Der Körper verrät uns alles, was eine Person eigentlich nicht sagen möchte. Man muss ihn nur verstehen können.“ (Navaro, J./Karlins, M. 2011, Buchrückseite) Interessanterweise hat die Unterhaltungsindustrie das Thema Körpersprache seit einigen Jahren für sich als Stoff und Quelle für TV-Serien und Bühnenshows entdeckt. In der US-amerikanischen Fernsehserie „Lie to me“, die 2009 in den USA ihre Erstausstrahlung hatte, 55 | Im Fokus Professor Dipl. Inf (FH) Thomas Gronert, Dekan und Fachbereichsleiter Mediadesign Hochschule München für den Studiengang Digital Film Design – Animation/VFX gibt es mittlerweile drei Staffeln mit insgesamt 48 Folgen, die in zahlreiche Länder verkauft wurden. Das Herausfinden der Wahrheit ist das Ziel jeder einzelnen Folge. Der Protagonist, Dr. Cal Lithman, ist ein Spezialist für Körpersprache und Mikroausdrücke in der Gesichtsmimik. Er und sein Team werden von verschiedensten Organisationen und Personen beauftragt, um in heiklen und tragischen Fällen die Wahrheit ans Licht zu bringen. Zum Ziel, und damit der Wahrheit auf die Spur, kommen er und sein Team immer durch das Befragen und Verhören der involvierten Personen und der „richtigen“ Deutung der jeweiligen Körpersprachen. Einer der Erfolgsfaktoren der Serie liegt sicher darin, dass der Zuschauer in jeder Folge anhand der detaillierten Verhaltensanalysen des Teams um Dr. Lithman, selber etwas über Körpersprache lernt. 2010 hat die BBC mit der Produktion von „Sherlock“ die besondere Beobachtungsgabe als Erfolgsgarant für sich entdeckt. Mit dem grandiosen Schauspieler Benedict Cumberbatch wurde die Figur des „Sherlock“ genial besetzt. Die Kriminalfälle werden allesamt durch die außergwöhnlich detaillierte Beobachtungsgabe von Sherlock und die richtige Deutung der Körpersprache der in die Fälle involvierten Personen gelöst. Obwohl es sich bei den TV-Serien „Lie to me“ und „Sherlock“ um rein fiktionale Stoffe handelt, sind diese spannend und lehrreich zugleich. In Deutschland schreibt seit einigen Jahren der Buchautor, Zauberkünstler und Entertainer Thorsten Havener seine Erfolgsgeschichte. Sein aktuelles Buch „Ohne Worte. Was andere von dir denken“ wurde 2014 veröffentlicht und aktuell in der 11. Auflage verkauft. Das Buch steht seit Monaten auf der Spiegel Bestseller Liste. Seine aktuelle Bühnenshow „Der Körpersprache-Code“ ist restlos ausverkauft und wird sogar im Fernsehen übertragen. In den Shows und vor allem seinen Büchern kann man sehr viel über Körpersprache lernen. Für alle Fans der Körpersprache ist das ein absolutes Muss. Nebenbei ist Thorsten Havener auch noch ein sehr sympathischer und angenehmer Gesprächspartner. Wer hätte gedacht, dass das Referieren über die Körpersprache und deren Bedeutung in Fernsehserien, in Fachbüchern und in Unterhaltungsshows auf ein so großes öffentliches Interesse stößt. Neben dem Interesse an der richtigen Deutung der Körpersprache haben Kyle Bald, Thorsten Havener und Joe Navaro noch eine wichtige Gemeinsamkeit. Alle drei haben sich ausführlich mit den Studien und Forschungsergebnissen des weltweit renommierten US-amerikanischen Anthropologen und Psychologen, Paul Ekman, beschäftigt. Dieser veröffentlichte bereits 1978 mit seinem Kollegen Wallace Friesen das heute noch weltweit verbreitete FACS, welches als Abkürzung für Facial Action Coding System steht. FACS ist eine Technik zur Mimikdeutung und Emotionserkennung. Im Fokus | 56 Quelle: Bildzitat von http://www.wedernoch.de/mimik/facs.html Die beiden Forscher fanden über das Vergleichen von tausenden Bildern von Gesichtern unterschiedlicher Nationalitäten heraus, dass es für starke Emotionen einen genetisch in uns verankerten Code geben muss. So sind die Gesichtsausdrücke, also die Mimik, bei den starken Emotionen Überraschung, Traurigkeit, Fröhlichkeit, Glück, Verachtung, Ekel, Wut und Furcht bei allen Menschen gleich. Wer jetzt Lust hat, tiefer in das Thema einzusteigen, sollte sich definitiv die Bücher von Paul Ekman zu Gemüte führen. Auf seiner Website http://www.paulekman.com/ gibt es zusätzlich noch verschiedene Online Trainings, mit deren Hilfe man sich bequem weiterbilden kann. Fazit Die Fähigkeit Emotionen und Gefühlszustände anhand der Körpersprache zu deuten, kann in allen Lebenslagen eine große Hilfe sein. Schon alleine aus diesem Grund sollten wir uns alle mit diesem Thema beschäftigen. Die Steigerung der sozialen Kompetenz führt zu einem besseren Miteinander im privaten und gesellschaftlichen Umfeld, wodurch die Gesellschaft als Ganzes profitieren kann. Literatur Havener, T. (2015, 11. Auflage): Ohne Worte. Was andere über mich denken. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg. Navaro, J./Karlins, M. (2011, 5. Auflage): Menschen lesen. Ein FBI-Agent erklärt, wie man Körpersprache entschlüsselt, mvgverlag, München Prof. Thomas Gronert Fachbereich Digital Film Design – Animation/VFX, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign-fh.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Digital Film Design – Animation/VFX Denken und nicht denken – Warum uns die besten Ideen dann kommen, wenn wir es am wenigsten erwarten Prof. Sacha Bertram Dozent Fachbereich Digital Film Design Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 59 Denken und nicht denken – Warum uns die besten Ideen dann kommen, wenn wir es am wenigsten erwarten „Es erscheint uns überaus logisch, dass wir nachdenken müssen, um eine Idee oder die Lösung zu einer kreativen Herausforderung zu finden. Und doch ist es so, dass wir oft die besten Ideen haben, wenn wir gar nicht nachdenken. Zum Beispiel unter der Dusche oder beim Spazieren gehen. Wenn uns der Name eines Schauspielers oder der Titel eines Buches zwar auf der Zunge liegt, er uns aber partout gerade nicht einfällt, wissen wir, dass es meistens nichts bringt, noch intensiver darüber nachzudenken. Wir wissen eigentlich, dass er uns schon in den nächsten Minuten oder Stunden wieder einfallen wird — nämlich dann, wenn wir schon gar nicht mehr daran denken. Warum ist das so? — Die Information scheint ja in unserem Gehirn vorhanden zu sein, sonst fiele es uns ja später auch nicht ein. In der Tat: Die Information ist da. Sie ist irgendwo in den Tiefen unseres Gehirns gespeichert, in Nervenzellen und deren Verbindungen (Synapsen). Wo genau und wie genau das Gehirn Informationen speichert, weiß man eigentlich gar nicht so genau. Doch wieso können wir Wissen manchmal — und vor allem leider oft in Situationen, wo es darauf ankäme — nicht abrufen? Warum fällt uns eine kreative Lösung manchmal einfach nicht ein, auch wenn sie im Nachhinein betrachtet — nämlich wenn die Inspiration dann unter der Dusche zugeschlagen hat — gerade durch ihre Einfachheit besticht? Warum stehen wir manchmal auf dem Schlauch? Bibliotheken und Bibliothekare Stellen wir uns das Gehirn als Bibliothek vor. Wir fragen den Bibliothekar nach einer Information und er blättert in seinem Zettelkasten nach einem Stichwort, doch er findet nichts. Der Zettel ist nämlich verschwunden oder wurde falsch einsortiert. Das Buch steht dort irgendwo im Regal, unabhängig davon, ob es im Zettelkasten verzeichnet ist. Doch in diesem Augenblick weiß niemand, wo es zu finden ist. Also setzen wir uns enttäuscht irgendwo hin und blättern vielleicht in einem anderen Buch oder lesen eine Zeitschrift, wenn wir schon mal da sind. Und irgendwann, wenn wir schon alle Hoffnung aufgegeben haben, steht plötzlich der Bibliothekar neben uns mit dem Buch in der Hand. Übertragen auf das Gehirn bedeutet das: Die Information ist zwar in irgendeinem Bereich des Gehirns gespeichert, doch das reicht noch nicht. Das Gehirn muss auch eine Verbindung zu diesem Wissen herstellen können, um die Information ins Bewusstsein zu laden. Bei Informationen, die wir ständig benötigen, ist die Verbindung fest verdrahtet und kann schnell aktiviert werden. Hier hat das Gehirn sich verändert und hat Verbindungswege wachsen lassen. Wenn wir uns erstmal in der Bibliothek auskennen und immer wieder dasselbe Buch suchen, finden wir es auch ohne den Zettelkasten wieder und irgendwann ist der Teppich der Bibliothek sogar schon etwas ausgetreten, weil wir den Weg dorthin schon so häufig gegangen sind. 60 | Im Fokus Bei Informationen, die wir nicht so häufig benötigen, sind wir auf den Zettelkasten der Bibliothek angewiesen und darauf, dass das Buch tatsächlich dort steht, wo der Zettel uns hin verweist: Die Verbindung zu dem Buch muss eben hergestellt werden. Im Gehirn geschieht das über Nervenzellen, die Signale über andere Nervenzellen schicken, die wiederum ein ganzes Netzwerk aus Nervenzellen aktivieren. Ist die Verbindung unterbrochen — zum Beispiel, wenn das Gehirn verletzt wurde — kann das Wissen nicht abgerufen werden. Ein Teil des Zettelkastens wurde zerstört. Doch auch hier gibt es den fleißigen Bibliothekar, der nach der Information sucht, die wir so dringend benötigen und die verlorenen Teile des Zettelkastens wieder anlegt: Das Gehirn bildet neue Verbindungen und baut so eine Umleitung um den verletzten Bereich, so dass — wenn alles gut läuft — die Information irgendwann wieder abrufbar ist. Im Falle einer Verletzung des Gehirns kann dies aber Monate oder Jahre dauern, obwohl Gehirnzellen bis zu 1mm pro Tag wachsen können! Doch auch wenn unser Gehirn unverletzt ist, kommt die Verknüpfung trotzdem manchmal einfach nicht zustande. Aber warum? Inhibition Stellen wir uns einen Moment lang vor, unser Gehirn würde zu jeder Zeit jede Verknüpfung zulassen. Was würde passieren? — Es wäre furchtbar für uns: Auf jeden Reiz aus unserer Umwelt würde das komplette Wissen abgefeuert. Es wäre in etwa so, als gingen wir in die Bibliothek, um eine Information zu suchen; erst fliegt uns der Zettelkasten um die Ohren, dann fliegen sämtliche Bücher aus den Regalen und erschlagen uns in einer riesigen Welle an Wissen. Das Gehirn funktioniert deshalb so gut, weil es nicht nur Verknüpfungen herstellt, sondern hauptsächlich Verknüpfungen verhindert. Denn wenn wir in der Arbeit eine Präsentation halten, bleiben wir ja in der Regel thematisch bei unseren Schaubildern und Diagrammen und erzählen nicht von unseren frühkindlichen Erfahrungen beim Spielen mit Bauklötzen, nur um anschließend von unserer Oma zu berichten oder von unserer ersten Tanzstunde. Wir sind fokussiert und fallen nicht aus der Rolle. Das Gehirn blockiert den überwiegenden Teil unseres Wissens und unserer Erinnerungen und lässt nur die Verknüpfungen zu, die in diesem Moment notwendig sind. Alles, was das Gehirn in diesem Moment als nicht notwendig betrachtet, wird ausgeblendet. Man spricht von Inhibition (Hemmung). Der Bibliothekar ignoriert bei seiner Suche im Zettelkasten alle Stichwörter, zu denen ich in dem Moment keine Informationen suche. Wenn ich meine Meinung ändere und den Bibliothekar bitte, doch nach etwas anderem zu suchen, schaltet er um. Er blendet alles andere aus und sucht nach dem neuen Stichwort. Und dieser Mechanismus klemmt einfach manchmal. Das Gehirn hat seine Inhibition für diese Bereiche noch nicht abgeschaltet und eine Verknüpfung kann in diesem Moment in diesem Gehirnbereich nicht zustande kommen. An den Verbindungen der hemmenden Nervenzellen ist die Konzentration der chemischen Im Fokus | 61 Botenstoffe noch zu hoch, so dass die aktivierenden Nervenzellen keine Chance haben. Die Lösung: erstmal abwarten. Denn nach einiger Zeit sind die Botenstoffe hier abgebaut und wir haben die Möglichkeit, eine Verbindung herzustellen. Kreativität ist Verknüpfung Was hat das nun mit Kreativität zu tun? – Sehr viel! Alles! Denn Kreativität ist genau genommen nichts anderes als die Fähigkeit des Gehirns, Wissen miteinander so zu verknüpfen, so dass eine neue Idee entsteht. Fällt uns nichts ein, dann liegt das an der Inhibition: Das Gehirn lässt die Verbindung nicht zu. Manchmal, weil der Mechanismus klemmt, manchmal aber auch, weil das Gehirn den Sinn der Verknüpfung nicht erkennt, denn es ist darauf trainiert worden, nur „sinnvolle“ Verknüpfungen zuzulassen. Erscheint die Verknüpfung unsinnig, weil wir gelernt haben, dass diese beiden Dinge nichts miteinander zu tun haben, wird die Verbindung gehemmt. Dabei ist es ja manchmal so, dass auch auf den ersten Blick unsinnige Ideen ihren Charme haben können oder zu einer Reihe weiterer Ideen führen, die gar nicht so unsinnig sind. Doch je mehr wir über unsere kreative Aufgabe nachdenken und je mehr Ideen wir schon im Anfangsstadium als unsinnig bewerten, desto mehr werden die Inhibitoren aktiv und zensieren unser Denken. Mit dem Effekt, dass uns bald gar nichts mehr einfällt. Schriftsteller sprechen hier oft von einer „Schreibblockade”. Man kann das Gehirn darauf trainieren, auch diese scheinbar unsinnigen Verknüpfungen erstmal zuzulassen und damit zu spielen. Doch wie bei gymnastischen Dehnübungen kann man hier keine schnellen Erfolge erwarten: Das dauert seine Zeit und erfordert einiges an Training. Kaskaden Eine Idee kann zu einer ganzen Kaskade weiterer Ideen führen, wenn wir es zulassen: Eine kleine Gruppe Nervenzellen aktiviert ein ganzes Bündel an Nervenzellen, diese wiederum einen ganzen Bereich im Gehirn. Bewerten wir die erste Idee sofort, kommt die Kaskade nicht ins Rollen. Die kleine Gruppe Nervenzellen hemmt das Bündel an Nervenzellen dahinter, das seinerseits wiederum einen ganzen Bereich im Gehirn hemmt. Geschieht das öfter, hemmen wir viele große Bereiche in unserem Gehirn, die uns für das Finden einer Lösung nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine Art Inhibitions-Kaskade. Wie kann man dies aber nun verhindern? Erstens können wir es gar nicht so weit kommen lassen, indem wir die Bewertung von Ideen auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Dazu müssen wir an unserer Haltung arbeiten und uns Freiraum schaffen, auch das auf den ersten Blick Unsinnige zu denken. So können wir unser Gehirn trainieren, mehr zu aktivieren und weniger zu hemmen. 62 | Im Fokus Zweitens können wir — wenn wir merken, dass wir durch intensives Nachdenken nicht weiter kommen — unser Gehirn einfach mal entspannen. Dadurch werden die Botenstoffe, die für die Hemmung zuständig sind, abgebaut und neue, aktivierende Verbindungen können wieder zustande kommen. Wir haben unserem Unterbewusstsein — unserem Bibliothekar — den Auftrag gegeben, eine bestimmte Information zu finden. Und irgendwann wird er mit dem Buch in der Hand neben uns stehen und sagen, dass er es jetzt doch noch gefunden hat. Das mit der Entspannung ist aber so eine Sache, denn wir haben ja eine Aufgabe zu lösen und zwar schnell. Da können wir ja schlecht einfach mal eine Stunde in den Park gehen und unser Gehirn entspannen und darauf warten, dass der Bibliothekar eventuell irgendwann mal auftaucht. Denn manchmal kommt er ja auch gar nicht und wenn doch, wer weiß, wann er kommt? Und was sagt wohl mein Chef dazu, dass ich im Park „faulenze“? Nicht-Denken Außerdem ist es ja so: Unser Gehirn kann nicht nicht denken. Es ist uns ganz und gar unmöglich, an gar nichts zu denken. Und je mehr wir uns selbst verbieten, an unsere Aufgabe zu denken, desto schlechter funktioniert das mit dem Nicht-Denken. Aber wir können uns ablenken, unseren Fokus woanders hin legen. Wir könnten also erst einmal etwas anderes tun, das unsere volle Aufmerksamkeit verlangt und so einen Moment andere Bereiche unseres Gehirns aktivieren, bis die blockierten Bereiche vom Gehirn wieder freigegeben wurden. Sport könnte so etwas sein, doch sollte es eine Sportart sein, die Ihre Aufmerksamkeit voll und ganz bindet. Leichtes Joggen hilft hier meist nicht so gut, da der Kopf hier noch genügend Zeit hat, nachzudenken. Beim Fußball sieht das schon anders aus. Wer Sport nicht mag, kann Rätsel lösen, Sudoku oder Kreuzworträtsel, mit zwei oder drei Bällen jonglieren oder andere Geschicklichkeitsspiele machen. Wenn ich merke, dass meine Studenten bei ihrer Ideenfindung blockiert sind, gehe ich mit der Gruppe nach draußen und mache ein einfaches Assoziationsspiel, das aus dem Improvisationstheater kommt. Beim Improvisationstheater geht es darum, spontan und ohne Theaterstück, ohne Requisiten oder Kostüme eine Szene auf der Bühne zu spielen, die das Publikum vorgibt. Das verlangt schnelle Assoziationsfähigkeit und ein hohes Maß an Kreativität und Vorstellungsvermögen. Es gibt eine Reihe von Übungen, die Impro-Spieler vor dem Auftritt zum Aufwärmen und Aktivieren oder als Gehirntraining machen. Eines dieser Spiele heißt „DaDuDa„ und ich spiele gerne eine leicht abgewandelte Form davon mit kreativen Teams. DaDuDa Die Teilnehmer stellen sich im Kreis auf, gehen auf der Stelle im Takt und einer sagt ein Wort, zum Beispiel Im Fokus | 63 „Salz” und deutet dabei auf einen beliebigen Teilnehmer in der Gruppe. Dieser assoziiert nun ein zweites Wort, das zu dem ersten passt, beispielsweise „Streuer”. Anschließend sagt die ganze Gruppe im Takt: „Salz-Streuer DaDuDa!” Nun ist Teilnehmer zwei an der Reihe. Er sagt wieder ein Wort: „Dach” und deutet dabei auf einen beliebigen dritten Teilnehmer. Der assoziiert vielleicht „Pappe”, anschließend sagen alle gemeinsam im Takt: „Dach-Pappe DaDuDa!” und so weiter. Dabei ist es wichtig, dass die Teilnehmer im Takt bleiben, so dass keine Zeit bleibt, nachzudenken. Wer aus dem Takt kommt, muss eine Runde um den Kreis rennen und der Teilnehmer rechts von ihm macht weiter. Das mag wie ein Spiel klingen, das wir von den Pausenhöfen unserer Grundschulzeit kennen, doch es ist alles andere als einfach! Es erfordert höchste Konzentration, denn man muss im Takt bleiben, auf der Stelle gehen, man könnte jederzeit dran kommen, muss dann ein Wort parat haben, es mit der Gruppe wiederholen und gleichzeitig das nächste Wort suchen. Grundsätzlich ist es bei dieser Übung – wie bei allen Kreativitätsübungen – verboten, die Assoziationen der anderen Teilnehmer zu bewerten (außer natürlich, die Bewertung ist positiv). Es ist eine KreativitätsÜBUNG, im Gegensatz zu einer KreativitätsTECHNIK, mit der sich zu einer konkreten Aufgabe Ideen finden lassen und Leute, die sich für Kreativitätsseminare anmelden, haben oft die Erwartung, einfach nur eine neue Kreativitätstechnik zu lernen, die sie bei der nächsten Ideenfindung anwenden können. Doch je mehr man Kreativität mit Übungen trainiert hat, desto besser funktionieren dann schließlich auch Kreativitätstechniken. Effekte Die Übung hat mehrere Effekte: • • • • Erstens wird durch die Bewegung der Kreislauf angeregt und die Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff aktiviert. Zweitens hat kein Teilnehmer bei diesem Spiel auch nur den Ansatz einer Chance, über die Idee nachzudenken, so dass das Unterbewusstsein die Möglichkeit hat, ungestört zu arbeiten, denn das passiert im Hintergrund, während wir unser Bewusstsein auf andere Dinge fokussieren. Drittens wird das Gehirn in einen Modus versetzt, in dem es sinnige und unsinnige Kombinationen, bzw. Assoziationen zulässt (z. B. „Pfeffer-Hase” oder „Früh-Vogel”). Man trainiert damit auch seine Fähigkeit, „um die Ecke zu denken”. Viertens werden durch das ständige Herstellen von Assoziationen eine Vielzahl an Bereichen im Gehirn aktiviert, so dass sie bei der anschließenden Ideenfindung zur Verfügung stehen. Zugegeben ist die Übung für Erwachsene etwas gewöhnungsbedürftig und man zieht definitiv die Blicke anderer Leute auf sich, denn dass Erwachsene „spielen” 64 | Im Fokus ist doch recht ungewöhnlich. Erfahrungsgemäß klappt die Übung auch beim ersten Mal noch nicht so gut, da die Teilnehmer noch zu viel nachdenken und – vor allem Kreative – nach möglichst originellen Assoziationen suchen, was aber gar nicht Ziel der Übung ist und die Teilnehmer eher blockiert. Es hilft enorm, sich die Worte bildhaft vorzustellen, um ein anderes Wort darauf zu assoziieren und für den Anfang rate ich zu einem langsamen Takt, der sich im Laufe der Zeit steigern kann. Macht man die Übung öfter, so wird sie mit der Zeit einfacher und irgendwann können die Teilnehmer diesen schnellen Assoziationsmodus auch bei der Ideenfindung außerhalb des Spiels aktivieren. Nach meinen Erfahrungen ist die Ideenfindung nach einer solchen Übung wesentlich produktiver, es entstehen mehr Ideen innerhalb einer vorgegebenen Zeit als ohne und es reicht eine Ablenkung von 15 bis 20 Minuten, um einen Effekt zu erzielen. Fazit Kreativität funktioniert am besten dann, wenn wir nicht denken. Da das Gehirn aber nicht nicht denken kann, müssen wir unser Gehirn ablenken. Mit Übungen oder Tätigkeiten, die unsere volle Aufmerksamkeit benötigen, schaffen wir unserem Unterbewusstsein den Freiraum, über unsere Aufgabe nachzudenken, ohne ständig von unserem Bewusstsein bewertet oder in die Schranken verwiesen zu werden. So entstehen anschließend schneller mehr und meistens bessere Ideen. Nehmen Sie sich doch einfach mal die Zeit, nicht zu denken, denn Sie werden sehen, dass Sie dadurch anschließend besser denken. Sacha Bertram arbeitet seit 1999 im Bereich Computergrafik und Film und war bei zahlreichen Spiel-, Dokumentar- und Werbefilmen verantwortlich für die digitalen Spezialeffekte und Animationen. Seit 2012 beschäftigt sich Sacha Bertram mit App-Design und -Entwicklung. Als angestellter Dozent an der Mediadesign Hochschule für Design und Informatik lehrt Sacha Bertram im Fachbereich ‚Digital Film Design‘ und betreut Studenten bei zahlreichen studentischen Projekten und Abschlussarbeiten und erforscht neue Möglichkeiten, die sich mit modernen Aufnahmeverfahren und innovativen Techno logien wie Augmented Reality und Virtual Reality für das Erzählen von Geschichten, sowie die Vermittlung von Informationen ergeben. Ob mit Studenten oder in professionellen Projekt-Teams beim Film oder in der Ent wicklung von Apps: Kreativität ist immer gefragt. Im Fokus | 65 Dipl.-Ing. Sacha Bertram, Dozent im Fachbereich Digital Film Design – Animation/VFX (B.A.) Über den Autoren: Als junger Student arbeitete Sacha Bertram 1997 am Institut für Biomedizinische Technik in Stuttgart als studentische Hilfskraft an einem Forschungsprojekt, das sich mit der medizinischen Bildgebung am Gehirn beschäftigte. Seitdem lässt ihn die Faszination für dieses Organ nicht mehr los. Daher befasst sich Sacha Bertram seit vielen Jahren schon intensiv mit dem Gehirn und dem Thema der Kreativität, wie man sie lernen und lehren kann und seit 2015 ist er als Kreativitätstrainer und Kreativitätscoach tätig, gibt Seminare und berät Firmen und ihre Mitarbeiter zur Steigerung ihrer Kreativität. Prof. Sacha Bertram Fachbereich Digital Film Design – Animation/VFX, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Digital Film Design – Animation/VFX THE ANIMATOR: EVOLUTION OR EXTINCTION? Travis Ramsdale Dozent Fachbereich Digital Film Design – Animation/VFX Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 68 THE ANIMATOR: EVOLUTION OR EXTINCTION? Technology, as in every facet of our society, has had a profound effect on animation over the years. Traditionally, it is an art form that requires patience and the investment of countless hours, literally creating a film one frame at a time. The integration and assistance of computers in various parts of the production process however, has not only changed the way animators work, but also altered the perception of animation as an art form and the role that it plays. You would be hard pressed nowadays to find a part of animation that isn´t touched by a computer in some way. Even traditional hand-drawn animation can be drawn via the use of a tablet directly into the computer, removing the need to manually scan, ink and paint each individual drawing. But even though technology like this has helped speed up the animator’s workflow, and in many cases completely change it, the scientists and tech heads are still yet to create a piece of technology that can replicate the skills of a great animator. It is a common gripe of both myself and colleagues in the industry who are all too familiar with the comments that come from friends and strangers alike when the subject of work arises. Comments like “Isn´t that all done with computers these days?” or even better, “In a few years we won´t even need animators will we?” Sadly these comments aren´t said with jest and industry pros have all heard statements like these so often that it has become a bit of an industry inside joke. So what does an animator do? An animator´s job is to bring inanimate objects life. Whether it be a series of drawings, a figurine or a 3D computer model, the role of the animator is not just to create the illusion of movement in a film or video game, but to bring the characters to life using principles and techniques that have been around for over a century. It requires incredible patience as well as an eye for mechanics, physics and perhaps most importantly, acting, emotion and the human condition. It is an art form that has continued to evolve over the decades but has now reached a point where advancements in technology have such a major influence that the traditional craft is getting lost and is sometimes perceived as a dying art. The technology that has had the biggest impact on the animation industry in recent times is the advent of motion-capture within film, television and video game productions. As the name suggests, it is the process of capturing or recording the motions of people and objects usually with the help of special suits and cameras. This motion can then be the saved and applied to a computer generated (CG) character within a film or video game. The great advantage of motion capture technology is the realistic results that it delivers and the speed at which it can deliver them. Animation that would have previously taken days or sometimes weeks can now be captured within minutes and to a quality that was virtually impossible beforehand. Depending on the production, facial expressions can also captured with the use of tiny head-mounted cameras that pick up every little facial 69 | Im Fokus tick and movement the actor makes. Performance Capture technology is now used so often in productions that it is becoming increasingly difficult for the general public to tell the difference between reality and it´s virtual counterpart. Due to the introduction of virtual characters in films such The Lord of the Rings (2001), King Kong (2005), Avatar (2009) and Dawn of the Planet of the Apes (2014), the words motion capture have moved from a somewhat specialist term into the average movie goers lexicon, and the technology utilized to make the big blockbusters is often used as a selling point during the marketing of the films. But while being very impressive technology, the truth is usually distorted by studios with all credit going to directors or actors with little reference to the many animators working tirelessly behind the scenes. The illusion is built that with the nothing more than a funny looking suit and a few cameras, the actor’s performance is captured and applied to a computer model with nothing more than the click of a button. Andy Serkis, famous for his roles as Gollum, Caesar and King Kong angered many animators in recent times, describing the role of the animator as “painting digital makeup onto actors”. While the quote from Serkis seemed to be taken out of context and generally misinterpreted by many, it received a lot of media attention and once again put the emphasis on the technology behind the films and not the individuals making them. “..they (Weta) have now schooled their animators to honor the performances that are given by the actors on set. And the teams of people who understand that way of working now are established. And that’s something that has really changed. It’s a given that they absolutely copy [the performance] to the letter, to the point in effect what they are doing is painting digital makeup onto actors’ performances.” - Andy Serkis (Slashfilm, 2014) It is the combination of art and technology that bring these amazing characters to the screen and not technology alone. Motion capture, although sounding like a magic solution, needs to be processed and cleaned, and when working with CG characters, the less they resemble the actor, the more work needs to be done to ensure the digital character’s movements appear natural. On many projects, it is also not uncommon that an animator makes changes to an actor’s performance or enhance it in some way. This can be to improve the acting, blend it seamlessly with the action of a stuntman or sometimes create something completely new by hand that cannot be created using motion capture technology. So although the old handmade stop-motion figurines of Jason and the Argonauts (1963) are no longer present in most current day film productions, large teams of animators are still working hard, applying their skills digitally using the computer as the middleman to get their craft on the screen. Im Fokus | 70 Mutig. Felsenspringer in Acapulco, Mexiko (eigenes Foto) As in the film industry, the growth of motion capture technology within the video games industry has had a major impact and has increased productivity and helped take animation quality to a whole new level. It is a massive time saver and although it may seem to remove the need of a large animation team, the new technology has also increased the expectations of both consumers and developers with animation fidelity and variety constantly needing to be pushed to greater heights. A current generation third-person action game like Assassins Creed 3 (2012) or Ryse: Son of Rome (2013) for example, requires somewhere in the range of 8,000 animations for the player character alone. To produce this amount of animations to a high quality, with or without the use of motion capture, requires a large team of animators trained to ensure that the animation not only looks great but also feels fluid and natural for the player. “It’s something you have to consider when making a big game. You know not to do unique animations for every single character.” - Jonathon Cooper (Polygon 2014) While we have these big titles that rely on realism and require the need for motion capture we are also seeing huge success with titles such as World of Warcraft, Dota 2, Team Fortress 2 and League of Legends that are moving away from a realistic style and therefore relying on the pure skill of the animators to bring the characters to life. Video games audiences have also changed over the years with teenage boys no longer seen as the only consumers. The introduction of smart phones and tablets over the last ten years has brought about a more casual consumer who not only plays games on their computer at home but more on the train on the way home from a hard day at the office. Major game developers such as Electronic Arts, Valve, Ubisoft and Blizzard still dominate the industry with their large scale projects, but now we are seeing a far greater number of independent developers producing different types of projects for these casual gamers. From an animation perspective, this allows animators to work on projects of different styles where they can utilise their skills to create fun, new and exciting motion that doesn’t necessarily fit within a realistic world. We have also noticed an interesting shift in the animation industry over the years within film and television and due to hit shows like the Simpsons, South Park and Family Guy, the current generation no longer views animation as just a child’s medium. This opens up the possibilities of new shows and themes that may not have been previously tackled. 71 | Im Fokus “There’s a sophisticated audience out there, which is exciting. People are less attuned to it just being a cartoon, as cartoons traditionally were for a younger audience, and suddenly you’ve got animation simply as a format much like live action or anything it’s just a way to reinforce what is your storytelling, and that’s a big opportunity.” - Alex Bulkley (Business Insider, 2014) So we have seen big developments in animation over the years and there is no doubt that it will continue to evolve artistically, technologically and culturally. Technological advancements, while powering forward and altering the way we work, has not yet replaced the need for the animator as we know it. The medium continues to expand from a child’s entertainment medium to an art form used for a variety of purposes both in and outside of the entertainment world. It is a fascinating art form with more and more children wanting to work in this exciting yet very scary world. And just as photography did not replace the painting, motion capture and other similar technology will not remove the need for animators, but simply enhance the art of animation and hopefully push it into new and exciting directions. And when the question of our importance comes up in the future, then it is up to the animators themselves to decide if they want to evolve with the times or stay stuck in the mud and wait for extinction. References SLASHFILM (2014) Matt Reeves Defends Andy Serkis’ “Digital Make-up” Comments. [Online] Available from: http://www.slashfilm.com/andy-serkis-digital-make-up/ [Accessed: 1 May 2015] POLYGON (2014) Animating women should take ‘days,’ says Assassin’s Creed 3 animation director. [Online] Available from: http://www.polygon. com/2014/6/11/5800466/assassins-creed-unity-women-animation [Accessed: 1 May 2015] BUSINESS INSIDER (2014) We’re In The Middle Of An Exciting Shift In The Animation Industry. [Online] Available from: http://www.businessinsider.com/animation-industry-booming-2014-10?IR=T [Accessed: 1 May 2015] Travis Ramsdale Fachbereich Digital Film Design – Animation/VFX, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Modedesign SDBI – Eine Stiftung für den Nachwuchs der Mode Prof. Arnold Gevers Dozent Fachbereich Modedesign Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 74 SDBI – Eine Stiftung für den Nachwuchs der Mode Dynamisch klingt sie schon mal die Abkürzung –SDBI – die dem vollen Namen der Stiftung der Deutschen Bekleidungsindustrie ein bisschen den Staub von der Schulter klopft. Und auch der European Fashion Award FASH, der Preis den sie einmal jährlich ausschreibt, wendet sich an junge Gestalter mit zukunftsweisenden Ideen. So versucht die Stiftung, ursprünglich gestiftet 1978 durch den Unternehmer Klaus Steilmann, seit 2004 unter dem wachenden Auge von Joachim Schirrmacher „ die Ausbildung von Nachwuchskräften in der Modebranche“ zu fördern und sich dabei den Herausforderungen einer immer globaler, schneller und komplexer werdenden Modewelt zustellen und dem Nachwuchs den Berufseinstieg in die Modeindustrie zu erleichtern. Das Selbstverständnis der Stiftung orientiert sich auch noch 36 Jahre nach ihrer Gründung sehr stark an den gemeinnützigen Idealen ihres Stifters Prof. Dr. Ing h.c. Klaus Steilmann, der sein eigenes Preisgeld aus der Verleihung des Modepreises der Stadt München im Jahr 1977dazu verwendete die Stiftung ins Leben zu rufen. Klaus Steilmann hat als Unternehmer selbst eine zentrale Rolle in der deutschen Modeindustrie gespielt und war bspw. Mitte der 1980er Jahre mit seinem Unternehmen, der Steilmann-Gruppe, der größte Bekleidungshersteller in Europa. Das Motto Mode für Millionen, nicht für Millionäre, zeigt dabei seinen Ansatz, sich stark an den Bedürfnissen seiner Kunden zu orientieren und Produkte zu entwickeln, die gesellschaftliche Relevanz haben. Zudem begann er auch schon 1989 Nachhaltigkeit als Gedanken zur Reduktion von Umweltbelastungen in die Herstellungsprozesse seines Unternehmens einfließen zu lassen und wurde so neben Heinz Hess und Dr. Michael Otto ein Pionier für nachhaltiges Wirtschaften. Ihm waren bspw. die Entwicklung ökologischer Qualitätsstandards wichtig, die Etablierung eines Umweltmanagementkonzeptes, die Verwendung von Materialien wie pestizidfreier Schurwolle, chlorfreier Viskose und Hanf, und dies mündete unter anderem in einer umweltverträglichen Kollektion mit dem Namen Britta Steilmann – it’s one world. Joachim Schirrmacher lenkt die Stiftung seit 2004 maßgeblich in neue Richtungen, um damit den komplexeren Anforderungen der heutigen Modeindustrie zu begegnen. Nachdem die Stiftung zunächst ihren Standort in München behalten hat und z. B. auch die Preisverleihung sowie die Präsentation der ausgezeichneten Arbeiten auf der ISPO München stattfand, folgt sie einem gesamtdeutschen Trend und orientiert sich seit jüngster Vergangenheit nach Berlin. Seit diesem Jahr gibt es eine eigene Modenschau während der Berliner Fashionweek im Januar, auf der die Preise verliehen werden. Das weckt natürlich noch mehr öffentliches Interesse und bietet die Möglichkeit, die Arbeiten der Finalisten einem breiteren Publikum vorzustellen. Es steht dabei weiterhin das ehrliche Interesse an den Studenten/Absolventen und ihren Arbeiten im Vordergrund, bei der natürlich auch die Ergebnisse zählen, aber 75 | Im Fokus Klaus Steilmann, Stiftungsgründer der SDBI) besonderes Augenmerk auf einen konzeptionellen Hintergrund gelegt wird. Um zur Auswahl der Finalisten zu gehören, bedarf es der Einreichung einer Arbeit, der die Reflektion von wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen Prozessen zu Grunde liegt. Der Fokus liegt auf einer Mode, die nicht nur saisonal Bestand haben soll, sondern gesellschaftlich relevant ist. Der Nachwuchs steht im Mittelpunkt und wird in strikt fachlicher Ausrichtung von einer internationalen Jury im Geiste des Gründers bewertet. Es werden jedes Jahr Preisgelder vergeben, aber daneben steht besonders die Öffentlichkeitsarbeit und die Vernetzung mit Medien, Handel und Unternehmen im Vordergrund. Besonders das Networking kann den Absolventen von Modehochschulen den Einstieg in ein professionelles Leben erleichtern und den Anfang für eine stabile professionelle Karriere darstellen. Die Finalisten jedes Jahrgangs verbindet die gemeinsame Erfahrung der öffentlichen Wertschätzung der eigenen Arbeit, die noch jahrelang weitergetragen wird und zusammenschweißt. Auch das Portfolio der Referenzen der SDBI Alumni und der beruflichen Werdegänge ehemaliger Preisträger gibt der Jury Recht. Die Preisträger arbeiten heute bei renommierten Unternehmen wie Adidas, Akris, Craft, Esprit, John Galliano, Girbaud, Hugo Boss, Quicksilver, Puma, Schumacher oder Strenesse und darüber hinaus für Designer wie Lala Berlin, Vivienne Westwood oder Bernhard Willhelm. Das Geschick und sichere Händchen, qualitativ hochwertige Arbeiten zu prämieren, kommt natürlich nicht von ungefähr und somit zeichnet auch die Menschen hinter den Kulissen ein jeweils starker Werdegang in der Modeindustrie aus. Die Mitarbeiter der Stiftung leisten selbst ausgezeichnete Beiträge zur Kultur der Mode. Der Beirat besteht neben Joachim Schirrmacher, der seit langem als Modejournalist für verschiedene Fachmedien schreibt und unter anderem Experte in der Initiative Kultur & Kreativwirtschaft der Bundesregierung Deutschland ist, aus Margareta van den Bosch, Creative Advisor bei H&M in Stockholm, Dr. Adelheid Rasche, der Leiterin der Sammlung Modebild der Lipperheideschen Kostümbibliothek in Berlin, Robb Young, Modejournalist aus London und Michael Sontag, selbst Designer aus Berlin. Damit steht eine hochkarätige Mannschaft parat, die den Studierenden ein gutes Beispiel in Modeindustrie sein können und ihnen die Hand reichen um selbst mitzuspielen. Für den FASH 2015 konnte zudem der selbst mehrfach ausgezeichnete, international renommierte Modefotograf Frank Tettamanti gewonnen werden, der die Jury in der Auswahl der Finalisten unterstützt. Er wird außerdem die prämierten Arbeiten fotografieren und den jungen Designern damit sicherlich wertvolles Material für ihr Portfolio liefern. Außerdem wird Torsten Hochstetter, der als GlobalCreative Director tätig ist, Teil der Jury sein. Das Wettbewerbsthema 2015 ist Freedom – Freiheit und damit handelt es sich um eine Betrachtung der sich verändernden Werte und Normen dieses Begriffes. In der Ausschreibung heißt es: Im Fokus | 76 Kindheit, Bewegung, Mode, Philosophie oder Politik – Freiheit hat viele Dimensionen. Sie ist eine Grundlage der Humanität und Kern des Bürgertums, ob französische Revolution oder die Montagsdemonstrationen unter dem Motto „Wir sind das Volk“ in der DDR. Und doch unterliegt die Freiheit der sich wandelnden Werte und Normen. Auf der einen Seite darf man heute fast alles, die Vielfalt des Lebens steigt durch die Globalisierung überall spürbar. Auf der anderen Seite werden viele Errungenschaften einer offenen Gesellschaft und Grundrechte wie die Privatsphäre neu diskutiert. Eine besondere Herausforderung ist die Digitalisierung, denn ihre Techniken entwickeln sich schneller als unsere Kultur. Sie ermöglicht zwar mehr Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Sicherheit. Aber sie hat oft auch ein mehr an Überwachung, Uniformität und vorwegnehmenden Gehorsam zur Folge. Eine besondere Rolle spielt Freiheit in Berlin, der neuen Heimat der Stiftung der Deutschen Bekleidungsindustrie, kurz SDBI. Berlin war die Stadt des Nazi- und SED-Regimes, des Eisernen Vorhangs aber auch des Mauerfalls und vieler sozialer und künstlerischer Experimente. Zum Thema „Freiheit“ sucht der European Fashion Award FASH 2015 Mode als Ausdruck einer Haltung: ob gesellschaftliche Utopie, poetisches Symbol des Protests oder den Ausbruch aus dem Alltag. SDBI – Fash 2015 Als Verlängerung der Bemühungen des Karriereservice der MD.H sollten die Studierenden die Chancen nutzen, die sich aus Wettbewerben wie bspw. dem FASH ergeben und die Möglichkeit nutzen, ihre Arbeiten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sich somit den Einstieg in die Berufswelt zu erleichtern. Prof. Arnold Gevers Fachbereich Modedesign, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Modedesign Nachhaltige Strategien im Modedesign Prof. Nicole Süß Dozentin Fachbereich Modedesign Mediadesign Hochschule Düsseldorf Im Fokus | 79 Nachhaltige Strategien im Modedesign Immer stärker steht das Konsumverhalten im Bereich Mode und Textil in der Öffentlichkeit. Zuletzt in der ARD-Dokumentation zu Primark, in der die gesamte Wertschöpfungskette und der Gebrauch der Textilien kritisch hinterfragt wurden. Längst ist klar, dass gerade in der textilen Produktion andere Konzepte erforderlich sind, um einen nachhaltigen Umgang mit Kleidung zu erreichen. Am Anfang der textilen Wertschöpfungskette steht eines der stärksten Glieder, um der gesamten Branche eine neue und innovative Richtung zu geben – die Designer! So formuliert die Allianz Deutscher Designer (AGD) zu Recht in ihrer Charta für nachhaltiges Design: „Design verbraucht Ressourcen – manchmal mehr, manchmal weniger. Dem nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen, mit der Umwelt und mit den Menschen, die noch über Generationen in dieser Welt leben können sollen, muss Design gerecht werden.“ Es gibt sie also schon länger, die Vordenker und Idealisten unter den Designern, die die Zeichen der Zeit erkannt haben. Dies zeigte sich auch bei der Konferenz von FEMNET zum Thema „Slow Fashion – Fast Fashion“, wo verschiedene nachhaltige Designstrategien vorgestellt und kontrovers diskutiert wurden. Wo liegt nun die Herausforderung für uns Designer, die sich aus den nachhaltigen Konzepten und gesellschaftlichen Erfordernissen ergeben? Der gravierendste Unterschied zur konventionellen Kollektionsentwicklung liegt darin, bereits weit vor dem eigentlichen Designprozess mit der nachhaltigen Strategie zu beginnen. Der Designer muss sich vorab Fragen zu nachhaltigen Ressourcen, Materialquellen und Kreislaufsystemen stellen und nicht erst während oder nach dem Designprozess. Dafür sind Designstrategien nötig, die aus der Problematik der Einschränkung bei den nutzbaren Rohstoffen eine Tugend machen, indem sie dies als erste Herausforderung für ihre Kollektionsentwicklung ansehen. Auch hierzu ist schon umfangreich entwickelt und vorgedacht worden. Es gibt bereits erfolgreiche Designer und Konzepte, die eine nachhaltige Strategie realisiert haben, auch wenn in diesem Feld noch viel Arbeit und weitere Ideen von Nöten sind. Nachfolgend werden einige nachhaltige Strategien aus dem Textilbereich aufgelistet, die zeigen, dass ein Anfang gemacht ist und nachhaltiger Konsum sowie eine nachhaltige Wertschöpfung keine Visionen mehr sind. Gerade Studierende sollen dadurch ermutigt werden schon in ihren universitären Projekten nachhaltige Strategien aufzunehmen und weiter zu entwickeln. Einsatz nachhaltiger Materialien Es gibt bereits eine Bandbreite an ökologischen, zertifizierten Materialien von verschiedenen Herstellern, die Bio-Baumwolle, Bio-Wolle, Hanf, Bio-Seide, Wildseide, 80 | Im Fokus Peace-Silk, Soja, Bambus, Lyocell/Tencel, Fasern auf Algenbasis (SeaCell™) sowie Milchfasern (QMILK®) anbieten. Und da die Nachfrage weiter ansteigt, können wir in den nächsten Jahren mit einer noch größeren Auswahl an nachhaltigen Materialien rechnen. Anfang der 90er Jahre in der Schweiz entworfen und produziert, gibt es mittlerweile unzählige Nachahmer und Weiterentwickler. Auch Zirkeltraining hat mit seiner Accessoire-Kollektion, gefertigt aus ausrangierten Turnmatten und Sportgeräte-Leder, den Nerv der Zeit getroffen – und upgecycelt!! Recycling/Upcycling Im Bereich Re- und Upcyling haben sich über viele Jahre nachhaltige Konzepte in der Textilindustrie etabliert. Vorreiter war hier eindeutig die Outdoorindustrie. So hatte Patagonia bereits 1980 erste Synchilla (Polyester) Fleecepullis aus recycelten PET-Flaschen hergestellt. Dies ist ein Paradebeispiel dafür, dass sich innovative Ideen durchsetzen, denn heute bieten die meisten Hersteller wie Fjällraven, VAUDE oder Mammut ähnliche Produkte an. Haglöfs strebt für 2015 sogar einen Recyclinganteil bei Bekleidung, Schuhen und Rucksäcken von 40-50% an. Ein weiteres innovatives Beispiel ist die Firma Salmo Leather. Das süddeutsche Unternehmen hat es geschafft aus einem Abfallprodukt der Fischindustrie – nämlich den Häuten der Lachse – Lachsleder zu entwickeln. Dieses wird mittlerweile im Highfashion Bereich zu Schuhen, Taschen und Bekleidung verarbeitet. Auch die Accessoire-Designer haben sich intensiv dem Thema Recycling/Upcycling angenommen. Wer kennt sie nicht, die Taschen aus ausrangierten LKW-Planen von FREITAG. Ursprünglich von den Brüdern Freitag Abb. 1: Lachsleder Nanai © Salmo Leather Im Fokus | 81 Zero Waste Technische Innovationen Die Intension der Zero-Waste-Designer zielt darauf, bei der Produktion der Kollektion keine Abfälle entstehen zu lassen. Dies wurde erst durch eine komplett neu entwickelte Schnittkonstruktion und -optimierung möglich. Vorreiter HessNatur wird im Frühjahr 2015 seine erste „Zero-Waste-Capsule-Kollektion“ vorstellen. 3D-Printing ist mittlerweile in aller Munde. Als Pionierin des 3D-Drucks in der Mode gilt die niederländische Designerin Iris van Herpen. Sie schlug 2011 mit ihren atemberaubenden Kleidern die Brücke zwischen Technik und Mode und verfolgt diese Entwicklung seither konsequent weiter. Im Jahr darauf folgten bereits Van Herpens Schuhmodelle aus dem 3D-Drucker, die sie im Zuge der Herpen’s Couture Show „Wilderness Embodied” auf der Paris Fashion Week zeigte. Auch Sportartikelhersteller wie Nike und Adidas nutzen diese neue Technik und entwickeln damit diverse Sportschuhserien. Eine weitere Zero-Waste-Methode gibt es bei Strickartikeln, die sich dem alt hergebrachten und hochwertigen „fully fashioned“-Prinzip bedient. Dabei werden Strickwaren (z. B. Strümpfe oder Pullover) von vornherein auf Maß und Form gestrickt und somit jeglicher Abfall vermieden. Das Konzept bietet darüber hinaus sogar ökonomische Vorteile, da die Produktionskosten sinken. Abb. 2: HessNatur, Zero Waste Capsule Collection © Hess Natur Abb. 3, Iris van Herpen, 3D-Dress © Iris van Herpen 82 | Im Fokus Abb. 3, Iris van Herpen, 3D-Dress © Iris van Herpen Cradle to Cradle – C2C Cradle to Cradle (C2C) lautet wörtlich übersetzt „von der Wiege zur Wiege“. Auf die Wertschöpfungskette bezogen bedeutet dies, dass es nur noch Materialkreisläufe und keinen Abfall mehr gibt. Das C2C-Design-Konzept sieht dementsprechend vor, dass die abgetragenen Kleidungsstücke am Ende durch Kompostierung wieder zu Nährstoffen werden – der Kreislauf ist damit geschlossen. Trigema war eines der ersten Textilunternehmen, das C2C T-Shirts auf den Markt gebracht hat. Kurz darauf folgte bei Trigema schon die erste voll kompostierbare „Change“-Kollektion. Auch Puma hat sich dem C2C-Konzept verschrieben und zeigte im April 2013 seine erste C2C-Kollektion „InCycle“. Prof. Nicole Süß Fachbereich Modedesign, MD.H Düsseldorf Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Modedesign Bauhaus 2.0 Moderne Gestaltungskonzepte für Designer Prof. Iris Eisenkolb Dozentin Fachbereich Modedesign Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 85 Bauhaus 2.0 Moderne Gestaltungskonzepte für Designer Knapp 100 Jahre nach der Gründung des Bauhauses prägt das damals reformpädagogische Konzept bis heute unsere Ausbildungsstätten in den Bereichen Kunst und Gestaltung und ist mit seiner klaren Ästhetik - nach wie vor - hoch modern. Die Idee Walter Gropius Kunst und Technik zu einer neuen Einheit zu verbinden, ist auch im digitalen Zeitalter von Bedeutung und wirkt in unserer modernen Gestaltungslehre fort. Die Vision des Bauhausgründers das Kunsthandwerk und die Bildenden Künste unter einem Dach zu vereinen, wurde mit der Eröffnung des Bauhauses 1919 wahr. Hier sollte eine ganzheitliche Lehre angeboten werden, die Menschen ausbildet, welche sowohl künstlerisches, als auch handwerkliches Können zu verbinden lernen, um der Industriegesellschaft moderne und sinnvolle Lebensräume zu gestalten. Modulare Systeme wurden entwickelt, Reduktion aufs Wesentliche konzipiert und eine moderne Gestaltungslehre vermittelt. All das, um dem modernen Menschen ein komfortables, stilvolles Leben einzurichten, welches ökonomisch und ökologisch sinnvoll ist. “La ligne Bauhaus” fotografiert von Laurent Humbert für Madame Rietveld-Schröder-Hauses von 1924 © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Figaro Frankreich Foto © Kim Zwarts 86 | Im Fokus Die aufkommende Massenproduktion sollte nicht negiert, sondern sinnvoll genutzt werden. Die Wahl des Materials sowie der klaren Formsprache stand bei den Bauhäuslern im Mittelpunkt. Eine bewusste und umweltschonende Nutzung der Rohstoffe war der Ausgangspunkt, um klare Linien, geometrische Formen und lichtdurchflutete Kuben mit der umgebenden Natur in Einklang zu bringen. Die funktionale Formgebung wurde von zentraler Bedeutung für den modernen Menschen. Diese klare Nüchternheit spiegelte sich auch in einer modernen Geisteshaltung wider. Der Verzicht auf alles ornamental- und dekorativ- Schmückende verweist auch auf die Nüchternheit und Klarheit im Denken und trägt den Geist der Moderne. Gestaltung findet heute gerne modern und zukunftsorientiert statt und zitiert dabei immer wieder traditionelle Bauhausgedanken. Dabei wird oft nur auf die Gestaltungsästhetik, nicht aber auf ökologische Aspekte eingegangen. In der Gestaltung von Mode zeigt sich diese Problematik am deutlichsten, denn Mode ist unter allen angewandten Künsten die schnelllebigste und am stärksten konsumierte Disziplin der Gestaltung. Mode lebt durch seinen schnellen Wechsel und dem Spiel der verschiedensten Stile. Was heute in ist - ist morgen out, das widerspricht jeglichem Gedanken von Nachhaltigkeit. 100 Jahre später hat die Massenproduktion und die Ausbeutung der Rohstoffe ihren scheinbaren Höhepunkt erreicht. Gerade in der Produktion von Bekleidung findet eine maßlose Überproduktion statt, die zwar sehr offensichtlich, aber noch längst nicht zu stoppen ist. Nachhaltigkeit und Fair Trade Konzepte werden viel diskutiert und von einigen wenigen auch umgesetzt. Die schonungslose Massenproduktion bleibt davon allerdings nahezu unberührt. Die Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts hat sich in eine Konsumgesellschaft des 21. Jahrhunderts (weiter)entwickelt, doch leider mit wenig Verantwortungsbewusstsein für ihre Umwelt. Der Konsum hat den Geist auf die Oberfläche und nicht auf das Wesentliche gelenkt. Valentino Mantel FW 2014s Im Fokus | 87 Dies ist die Herausforderung, welcher sich Designer in den kommenden Jahren stellen müssen. Ökologisch interessante und innovative Konzepte gilt es zu entwickeln oder auszubauen und in den Designprozess von Anfang an zu integrieren. Sonia Delaunay, Mantel für Gloria Swanson, 1923-24, National Design Museum; Foto © Wolfgang Woessner Ganz in der Tradition der Bauhaus-Philosophie, Handwerk und Kunst in einer Einheit zu verbinden, kann auch die Mode und ihr Handwerk gesehen werden. Auch die ästhetischen Aspekte der Reduktion spielen in der Mode immer wieder eine wichtige Rolle. Minimalismus und Dekonstruktivismus sind gängige Stilmittel, um Mode nicht nur dekorativ, sondern auch avantgardistisch zu gestalten. Wie gelingt es uns nicht nur formal, sondern auch inhaltlich, im Bereich Mode, der im Bauhaus indizierten Idee von Gestaltung und Langlebigkeit gerecht zu werden und trotzdem die Lust an der stetigen Veränderung nicht zu verlieren? Prof. Iris Eisenkolb Fachbereich Modedesign, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Mode management Autos und Mode – zwei ungewöhnliche Partner seit vielen Jahrzehnten Prof. Olga Mitterfellner Dozentin Fachbereich Modemanagement Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 90 Autos und Mode – zwei ungewöhnliche Partner seit vielen Jahrzehnten Im Laufe des Moduls Markenentwicklung und -führung besuchte die MOM 1012 Klasse das BMW Museum und die temporäre MINI-Ausstellung in München, um zu erörtern, was die Mode und Autoindustrie verbindet. Es stellte sich heraus, dass dies zwei Partner sind, die sich seit langer Zeit gegenseitig beeinflussen. Die Autohersteller möchten gerne modisch erscheinen und sind synonym mit Modewochen, während Trendsetter seit den 60er Jahren den Mini zum Kultobjekt machen und Designer zeigen, welche Schuhe man beim Fahren tragen sollte. de Markenslipper. Er wurde gleichzeitig mit dem Automobil (und Rennwagen) in Italien vermarktet und sollte dem Fuß besseren Halt auf den Pedalen geben. Ausdrücke wie das “Handschuhfach” stammen aus einer Zeit, als Autofahrer tatsächlich Handschuhe brauchten, die sie mit einer besonders warmen Jacke trugen, welche im englischsprachigen Raum als “Car Coat” bekannt war. Im Juni 2015 hatte die MOM 1012 Klasse ein etwas ungewöhnliches Thema im Modul Markenentwicklung und -führung durchgenommen: Autos und Mode. Diese zwei Felder scheinen auf den ersten Blick an zwei gegenüberliegenden Enden des Marketingspektrums zu liegen. Schließlich gehören Automobile zu technischen Transportmitteln und Mode zu fantasievoller Kleidung. In Wirklichkeit haben sich diese zwei Partner schon seit vielen Jahrzehnten gegenseitig positiv beeinflusst. “Was können nun Autos und Mode an Gemeinsamkeiten haben?” – das fragten wir uns während einer Vorlesung. Nun, zuerst einmal gibt es die “Autokultur”, ein Phänomen, welches – wenn man es ganz kurz fast – den kulturellen Einfluss des Automobils auf die Gesellschaft beschreibt, als Autos für die Massen zugänglich wurden. Dies wurde in Film, Fernsehen, Werbung, Musik und Literatur verewigt. In den 60er Jahren wurde der “Original Car Shoe” entworfen, der heutzutage zu Prada gehören- Original Car Shoe – Quelle: http://lorien.me/2012/car-shoe/ Im Film sah man die perfekt gestylten Schauspielerinnen, die im schicken Kopftuch sich ans Steuer eines Cabrios setzten. Dann in den 60ern, als der Mini in England zum Kultauto wurde, entwickelte er sich auch zum Synonym von “The Swinging Sixties” und Twiggy, den Beatles sowie der revolutionären britischen Mode dieser Zeit, beispielsweise dem Minirock. Auf der Suche nach der aktuellen Beziehung von Autos und Mode begab sich die MOM 1012 zum BMW Museum hier in München, um sich während einer Führung die Marken genauer anzuschauen. 91 | Im Fokus Original Car Shoe – Quelle: http://lorien.me/2012/car-shoe/ BMW Museum – Quelle: Eigenes Foto Zuvor hatte BMW 2014 für die Modeausstellung “The Glamour of Italian Fashion 1945-2014“ im Londoner Victoria and Albert Museum die 7er Serie zur Beförderung von VIP Gästen eingesetzt, damit das glamouröse Image auch in Europa weiterhin im Gedächtnis bleibt. Original Car Shoe – Quelle: http://lorien.me/2012/car-shoe/ Die Seminargruppe lernte, dass Autohersteller gerne mit der Modewelt in Verbindung gebracht werden möchten. Alle kennen die Modewochen, die von Mercedes Benz gesponsort werden. Und das ist Absicht: Die Adjektive cool, modisch, avantgardistisch, glamourös usw. werden hauptsächlich in Großstädten angetroffen, wo Modeschöpfer, Celebrities und Influencer leben. Wichtig ist hier für die Marketingstrategen, dass Autos sich genau dort aufhalten und von der Modeszene akzeptiert werden. Auch BMW versucht sich in der Modewelt und sponsort beispielsweise die Indian Bridal Fashion Week. Indien? – Nun das liegt daran, dass die Automärkte in USA und Europa fast komplett gesättigt sind, während sie stetig in den Schwellenländern wie China oder Indien wachsen. Seit BMW die Marke MINI übernommen hat, gab es hier zahlreiche Modelle, die von bekannten Persönlichkeiten der Modewelt überarbeitet wurden und im Museum zu sehen waren. Darunter auch eine bunt-gestreifte Version von Paul Smith und eine lila-geblümte Kreation von Franca Sozzani. Sozzani ist übrigens die Gründerin des Mailänder Concept Stores 10 Corso Como und Schwester von der Redakteurin der italienischen Vogue. Weitere Beispiele von modisch-affinen Automobilen sind das Chanel Fiole Concept Car, der von Gucci überarbeitete Fiat 500 und die Kreation von Zalando in Form eines fahrenden Einkaufsgehilfen. Zahlreiche ähnliche Exemplare findet man natürlich auch im Internet oder auf Automobilmessen. Wenn jemandem dieses Thema interessant erscheint, dem könnte auch das aktuelle Buch vom Marketing-Experten Dr. Anders Parment: “Auto Brand: Building Successful Car Brands for the Future” sowie ein Buch über das sozial-kulturelle Phänomen des Autos: “Autopia: Cars and Culture” von Peter Wollen und Joe Kerr gefallen. (Beide auf Englisch). Im Fokus | 92 MINI x Paul Smith –Quelle: Eigenes Foto BMW Museum – MINI & Swinging Sixties – Quelle: Eigenes Foto Gucci Fiat 500 – A – Quelle: http://www.buymedesign.com/blog/ Gucci Fiat 500 – B – Quelle: http://www.buymedesign.com/blog/ fiat-500-by-gucci/ fiat-500-by-gucci/ Zalando Car – Quelle: http://www.autodeclics.com/article/47957- Original Car Shoe – Quelle: http://lorien.me/2012/car-shoe/ zalando_fashion_car.html Prof. Olga Mitterfellner Fachbereich Modemanagement, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Mode management Hoher Besuch aus China bei der MD.H München Prof. Olga Mitterfellner Dozentin Fachbereich Modemanagement Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 95 Hoher Besuch aus China bei der MD.H München Nur 24 Stunden verbrachte eine hochrangige Delegati on aus der chinesischen Stadt Yancheng in München, und teilte ihre Zeit zwischen dem Bayerischen Hof und der MD.H. Denn Design aus dem Westen ist hochge schätzt in China. Am 29. Mai 2015, wurden morgens einige Studenten und eine Dozentin in den Bayerischen Hof eingeladen, um im Ballsaal dem 2015 Yancheng China Munich Symposium beizuwohnen, dass, nach Aussage einer MD.H Studentin “einer Sitzung von UN-Abgeordneten ähnelte”. Tatsächlich war dies eine extreme formelle Veranstaltung, bei der die Stadt Yancheng für sich PR machte. Ziel war es, mit deutschen und insbesondere bayerischen Unternehmen, wirtschaftliche Kooperati onen einzugehen. Der Generalkonsul Zhu Wanjin des chinesischen Konsulats in München hieß alle willkom men, während hunderte von internationalen Gästen gespannt da saßen, und mit Kopfhörern den Simultan dolmetschern zuhörten. So erfuhr man, dass ein deutscher Garnproduzent na mens Amann & Söhne nun in Yancheng seinen Standort hat und, dass Triumph auch von dort aus für ganz China produziert. Der Höhepunkt der Veranstaltung war die feierliche Unterzeichnung und Eröffnung des European Economy and Trade Office Yancheng. Doch China ist nicht nur an industriellen deutschen Un ternehmen interessiert, die das Wachstum des Landes beschleunigen sollen, sondern auch an westlichem Knowhow. Besonders in der kreativen Branche, also Design jeglicher Art, wird unser westliches Denken sehr hoch geschätzt. Denn die asiatische kreative Branche denkt anders und möchte wissbegierig den westlichen Designprozess erlernen. Westliche Designer werden oft und gerne nach China eingeladen und dürfen dort ihr Wissen einsetzen. In diesem Zusammenhang wollte die Delegation auch gerne die MD.H besuchen, um ein Gespräch für mög liche Kooperationen in der Zukunft zu eröffnen. Rund 15 hochrangige Abgeordnete und der Parteichef von Yancheng erschienen also am Nachmittag mit einer professionellen Filmkamera und einem Profi-Fotografen und begannen ihre persönliche Tour im Audimax. Dazu kamen etwa 5 Personen vom Chemie-Cluster Bayern, die den Kontakt zwischen der Delegation und der MD.H initiiert hatten. Die Besucher waren: • • • • • • Zhu Kejiang, Secretary of CPC Yancheng Municipal Committee Zhou Shaoquan, Vice Mayor of Yancheng Municipal People’s Government Wang Lianchun, President of Jiangsu Yueda Group and President of KIA China Dai Weiyang, Vice Secretary General of CPC Yan cheng Municipal Committee Office Yang Xuefeng Director of Yancheng Municipal Plan ning and Reforming Committee Wang Ya Director of Yancheng Municipal Bureau of Commerce 96 | Im Fokus • • • • • • • Liu Guangqiu Director of Yancheng Municipal For eign Afairs Office Ji Weibing General Manager of Triumph China Com pany Chen Rong General Manager of Jiangsu Yueda Textile Company Ma Haibing Chairman of Jiangsu Aviation Industrial Zone Dai Tongbing Chairman of Jiangsu Yancheng Natio nal Investment Group Chen Yongqiang Chairman of China PR Group Co.,Ltd. Ma Junjian Secretary of CPC CommitteeYancheng Economic and Technology Development Zone Begleitet von Rektor Hartmut Bode, Maren Müller-Bier baum, Arnold Gevers, Martina Weiß, Bernhard Haufe, Thomas Mayrhofer und Olga Mitterfellner, wurde die Delegation durch die einzelnen Stockwerke der MD.H geführt. Da weder wir Chinesisch sprechen, noch die Delegation auf Englisch kommunizieren konnte, wurden alle Konversationen von einer professionellen Dolmet scherin mühelos übersetzt. Besonders lebhaft wurde die Führung im 3. Stock, als der Parteichef genauer wissen wollte, was den Unter schied von “komischer Mode” und der marktüblichen Mode machte. Hier sah man deutlich, wie die Vorstellung von Design sich unterscheiden kann: Während man an einer kreativen Hochschule von den Studenten auch manchmal fordert, über seinen eigenen gestalterischen Horizont hinaus zu gehen und die Weiten des konzeptu ellen Modedesigns zu erforschen, so ist es für die produ zierenden Unternehmen viel wichtiger, industriegängige und kundenfreundliche Designexemplare zu schaffen. Amüsiert wanderte die Delegation von Schneiderbüsten zu Schneiderbüsten und bewunderte die Kreationen der Studenten. Durch die Vielfalt der Designs wurde ihnen jedoch schnell klar, dass unsere Studenten alles können: kreativ denken, industriekonform sein und Trends richtig aufgreifen und kommerziell verarbeiten. Auch das Thema Modemanagement blieb nicht uner wähnt, als alle Beteiligten sich schließlich zur Diskussion zusammensetzten. Ein interessantes Gespräch entstand über den relativ neuen Studiengang, der extrem wichtig für die Mode- und Textilindustrie ist. Hier waren sich zwei Welten einig: Mode ist ein Business und braucht entsprechende Manager, die den gesamten Prozess verstehen und leiten können. Bei dem hausinternen “Summit” war es offensichtlich, wie wichtig die Internati onalisierung der Branche ist. Beendet wurde der Besuch recht feierlich mit einer Übergabe von gegenseitigen Geschenken und ab schließenden Fotos. Bevor die chinesischen Besucher sich zum Flughafen begeben mussten, betonten sie die deutsch-chinesische Freundschaft mit den Worten: “Sie sind sehr herzlich willkommen, bei uns in Yancheng” und ich bin mir sicher, dass nicht jede Hochschule in Deutschland mit solch einer hochrangigen und interkul turellen Freundschaft werben kann. Im Fokus | 97 2015 Yancheng China Munich Symposium Olga Mitterfellner zu Gast bei dem Yancheng China Munich Symposium im Bayrischen Hof Delegation aus China zu Gast an der MD.H Delegation aus China zu Gast an der MD.H Delegation aus China zu Gast an der MD.H Delegation aus China zu Gast an der MD.H Prof. Olga Mitterfellner Fachbereich Modemanagement, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Medien- und Kommunikationsmanagement Skandale in den Medien – Strategische und ethische Überlegungen der öffentlichen Kommunikation für den Journalismus, die Politik und die Wirtschaft Prof. Dr. Christian Schicha Dozent Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement Mediadesign Hochschule Düsseldorf Im Fokus | 100 Skandale in den Medien – Strategische und ethische Überlegungen der öffentlichen Kommunikation für den Journalismus, die Politik und die Wirtschaft Die Herstellung von Öffentlichkeit über gesellschaftlich relevante Sachverhalte in Demokratien vom Typ der Bundesrepublik Deutschland gehört traditionell zu den zentralen Aufgaben von Medien. Sie sollen die Mächtigen kontrollieren und Missstände aufdecken. In dem nachfolgenden Beitrag geht es um eine Reflexion und Einordnung von Skandalen, über die in Medien berichtet worden ist. Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass inzwischen nicht mehr nur die dafür ausgebildeten Journalisten Skandale recherchieren und aufdecken, sondern dass eine Vielzahl weiterer Akteure sich an derartigen Diskursen z. T. auch anonym über die Neuen Medien beteiligen. Durch diese Entwicklung wächst das Risiko von ungeprüften und falschen Verdächtigungen, aus denen ein öffentlicher Shitstorm entstehen kann, der für die Reputation einzelner Akteure ebenso wie für Institutionen fatale Folgen haben kann. Insofern sollen Handlungsempfehlungen gegeben werden, wie mit einer derartigen Skandalberichterstattung konstruktiv umgegangen werden kann und welche normativen Rahmenbedingungen notwendig sind, um Fehlentwicklungen zu vermeiden. Öffentlichkeiten Öffentlichkeit wird als Kommunikationssystem interpretiert, in dem Informationen und Meinungen artikuliert und ausgetauscht werden. Zentral ist vor allem der offene Zugang zu Informationen ohne Blockaden. Die Herstellung von Öffentlichkeit im Verständnis einer Kon- troll- und Kritikfunktion über die Medien dient der Transparenz über gesellschaftlich relevante Entwicklungen, informiert über die Ziele von Interessensgemeinschaften und ist grundgesetzlich durch die Meinungs-, Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit geschützt. Öffentlichkeit wird als der zentrale Bereich moderner Gesellschaften klassifiziert, da sich eine Gesellschaft als solche erkennt und konstituiert. Damit ist aber kein spezifischer Ort im Verständnis eines räumlichen Forums gemeint, sondern die Option, in verschiedenen Kontexten und Formen öffentliche Austauschprozesse zu bewerkstelligen. Öffentlichkeit als gesellschaftliches Phänomen ist demzufolge dezentral. Neben der raum-zeitlichen Abgrenzung fungiert Öffentlichkeit auch als Prozess. Sie wird immer neu manifestiert und ist niemals abgeschlossen. In diesem Verständnis ist sie auch offen für neue Einflüsse und Akteure. Insgesamt kann von einer gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften vom Typ der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr ausgegangen werden. Sie wird vielmehr durch eine Vielzahl von Gruppen- und Spezialöffentlichkeiten ersetzt, die sich über die unterschiedlichsten Kanäle artikulieren. Es kann also die eine Öffentlichkeit in einer komplexen und ausdifferenzierten Gesellschaft nicht geben. Sie bildet sich vielmehr auf verschiedenen Ebenen heraus. Medien bilden den weitestgehenden Zusammenhang der Öffentlichkeit, der in ausdifferenzierten Gesellschaften überhaupt möglich ist (vgl. Schicha 2010). 101 | Im Fokus Medienöffentlichkeiten Reichweiten Mit dem Entstehen der Massenmedien haben sich die Öffentlichkeitsformen verändert, denn aus den realen Formen der Face-to-face-Öffentlichkeit (u. a. Marktplatz, Straße) haben sich zunächst weitergehende Versammlungsöffentlichkeiten herausgebildet (u. a. Theater, Zirkus), die durch massenmediale Medienöffentlichkeiten ergänzt worden sind, die nicht mehr an einen raum-zeitlichen Ort gebunden sind und auch virtuelle Orte des Austausches durch das Internet umfassen und potenziell weltweit wahrgenommen und aktiv mitgestaltet werden können. Durch die Handynutzung im öffentlichen Raum fallen Schranken weg, die durch Einrichtungen wie Telefonzellen gegeben waren. Dort wurden einstmals in geschlossen Räumen Informationen ausgetauscht, die nur die Adressaten erreichten. Heute werden die Menschen im öffentlichen Raum auch unfreiwillig Zeugen von den Bekenntnissen ihrer Mitbürger, die auf der Straße, in Lokalen oder öffentlichen Verkehrsmitteln ausgetauscht werden (vgl. Klimek 2013). Publizität als Norm Medienöffentlichkeiten bilden eine Pluralität, die sich aus unterschiedlichen Techniken (u. a. Print und Rundfunk) sowie öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Organisationsformen und Trägern zusammensetzen. Ihre Inhalte werden durch spezifische Medienstrategien (u. a. Orientierung an Auswahlkriterien der Verkürzung, Vereinfachung, Personalisierung und Unterhaltungszentrierung) im Rahmen der konkreten Programmausgestaltung geprägt, um Interesse beim Publikum zu erzeugen. Sie informieren über Entwicklungen, die über den individuellen Erfahrungshorizont hinausgehen und bilden somit ein frei zugängliches Podium, das Wissen verfügbar macht und einordnet. Verständigung, Urteilsvermögen, Sachkenntnis und Integrationsfähigkeit sollen nach diesem idealtypischen Verständnis durch die Berichterstattung über die massenmedialen Kanäle bedient werden. Die Massenmedien verfügen einerseits über einen integrierenden und festigenden Charakter, andererseits kommt ihnen aber auch eine innovative Funktion zu, indem sie über Ereignisse, Neuigkeiten und Tendenzen für Veränderungen berichten und Wertewandlungsprozesse dokumentieren. Die aus der Fülle von Ereignissen selektierten Themen stellen Aufmerksamkeitsregeln zur Sicherung der Anschlussfähigkeit von Kommunikation im Hinblick auf die öffentliche Meinung dar, wodurch unterschiedliche Positionen sichtbar werden (vgl. Schicha 2010). Orientierung an Nachrichtenfaktoren Die Vermittlungsprozesse in den Medien unterliegen einer Reihe von Selektions-, Gewichtungs- und Darstellungskriterien. Durch die zeitlich und räumlich vorherrschenden Begrenzungen bei der Informationsvermittlung ergeben sich Verzerrungen durch die Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion. Die Orientierung an Nachrichtenfaktoren führt zudem dazu, dass Im Fokus | 102 nicht immer zwingend Relevantes, sondern vermeintlich Interessantes berichtet wird. „Massenmedien organisieren Öffentlichkeit, insofern sie selektieren und präzisieren, kontextualisieren und illustrieren, weiter entwickeln, prognostizieren, kommentieren und isolisieren und all das ihrem Publikum zur Kenntnis bringen“ (Krotz 2002: 47). Insofern findet zumindest über die klassischen Massenmedien keine symmetrische Dialogorientierung statt, bei der die rationale Prüfung von Geltungsansprüchen im Mittelpunkt steht. Die uneingeschränkte Information und Chancengleichheit findet ebenso wenig statt wie die Möglichkeit zur Interaktion. Es handelt sich primär um Prozesse der einseitigen Informationsaufnahme, die jedoch Anschlussdiskurse zulassen. Die Onlinekommunikation liefert hier jedoch bessere Möglichkeiten. Durch die diskursive Dialogstruktur ist ein Austausch von Argumenten möglich. Die technische Infrastruktur ermöglicht eine Feedbackorientierung, die ein zielgruppenorientiertes Beziehungsmanagement ermöglicht. Neue Diskursteilnehmer durch Neue Medien Während Journalisten und Öffentlichkeitsarbeiter lange die Inszenierungsdominanz bei der Vermittlung und Einordnung von Themen und Meldungen innehatten, beteiligen sich durch neue Medien an derartigen Debatten nun auch Bürger ohne einen journalistischen Hin- tergrund. Es wird getwittert und gebloggt. Über soziale Netzwerke werden Informationen und Fotos z. T. anonym geschaltet. Ein Impressum ist teilweise nicht mehr vorhanden. Jeder, der über die technische Infrastruktur und ein entsprechendes Wissen verfügt, kann sich an Debatten beteiligen (vgl. Pentzold/Katzenbach/Fraas 2014). Insgesamt werden an die Online-Kommunikation die gleichen normativen Ansprüche für die Herstellung von Öffentlichkeit zu relevanten Themen und Ereignissen gestellt, die auch über die klassischen Medienkanäle vermittelt werden sollten. Im Web 2.0 existiert zusätzlich eine diskursive Dialogstruktur, die den Austausch von Interaktionen und Argumenten und daraus resultierend die öffentliche Meinungs- und Willensbildung ideal typischerweise fördern kann, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen aufzubauen (vgl. Zerfaß/Pleil 2012). Häufig geht es aber nur um Unterhaltung und Selbstdarstellung. Sogenannte „You Tube-Berühmtheiten“ präsentieren im Internet selbst produzierte Videos und suchen Anerkennung durch eine möglichst hohe Klickrate und positive Kommentare (vgl. Schuegraf 2013). In Social-Media-Foren wie Facebook werden Rezipienten zu Produzenten (Prosumer), indem sie Beiträge einstellen und bewerten und somit zu einer neuen Gemeinschaftsund Identitätsbildung beitragen (vgl. Keller 2013). 103 | Im Fokus Risiken durch offene Strukturen im I nternet Die Kommunikation im Internet ist mit erheblichen Risiken verbunden. Sie stellt eine ideale Plattform für Verschwörungstheorien, Gerüchte, Lügen, falsche Anschuldigungen und Skandalisierungen dar. Dort besteht die Möglichkeit, anonyme Einträge einzustellen. Es werden negative Bewertungen vorgenommen, die auch dann kaum zu entfernen sind, selbst wenn sie sich als unangemessen und haltlos herausstellen. Vertreter neuer sozialer Bewegungen, wie auch „normale“ Bürger, können ihrem Ärger über Blogs im Internet Raum geben, sich mit Gleichgesinnten via Twitter vernetzen und damit eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit erreichen, die dazu führen kann, dass der Reputation des Beschuldigten ungerechtfertigter Schaden zugeführt werden kann. Im Gegensatz zu den klassischen Medien zeichnet sich die Online-Kommunikation durch einen höheren Beschleunigungsgrad aus. Es ist technisch kein Problem, Mitteilungen in Echtzeit an ein breites Publikum kostenlos zu verschicken, welches direkt darauf reagieren kann. Somit ist ein rasches Feedback möglich. Statusmeldungen werden bei Facebook gepostet. Die Selbstdarstellung findet sich bei Xing wieder. Wikipedia-Einträge dienen der Wissensvermittlung und Eigenwerbung. Online-Communities bieten als Beziehungsnetzwerke einen konstruktiven Raum für Diskussionen, können aber aus kommerziellen Gründen auch zur Datenverwertung genutzt werden (vgl. Deutschlandradio 2013). Insofern lassen sich konstruktive Entwicklungen aufzeigen, die unter dem Stichwort „Schwarmintelligenz“ subsumiert werden können. Gleichwohl lassen sich aber auch destruktive Entwicklungen benennen, die Personen oder Gruppen massiv schaden können. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich durch die Neuen Medien die Geschwindigkeit der Informationsübertragung rasant erhöht hat, was dazu führen kann, dass die Maxime Gründlichkeit vor Schnelligkeit z. B. im Journalismus eine höhere Priorität erlangt. In diesem Fall werden dann Informationen ohne ausreichende Recherche weitergegeben. Die Anzahl der Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und Beschimpfungen gegenüber Personen, Organisationen und Institutionen nimmt schon aufgrund des quantitativ wachsenden Anteils an Diskursteilnehmern stetig zu. Veränderungen der Kommunikation Mit 40 Millionen Nutzerinnen und Nutzern sind rund die Hälfte aller Bundesbürger Mitglied in mindestens einem sozialen Netzwerk. Dies sind etwa 75 % aller Internetnutzer (vgl. Grimm/Zöllner 2012). Faktisch haben sich soziale Netzwerke zu lukrativen Geschäftsmodellen entwickelt. Aufgrund der Reichweite und der Folgen derartiger Aktivitäten hat die öffentliche Debatte um die Veränderung von Privatheit durch die auf Werbeeinnahmen angewiesenen sozialen Netzwerke wie Facebook in den letzten Jahren rasant zugenommen. Jugendliche Nutzer sind der aktuellen JIM-Studie zufolge in der Regel drei Stunden am Tag in sozialen Netzwerken Im Fokus | 104 aktiv (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest 2013). Sie geben ihre Daten bisweilen sorglos an die virtuelle Öffentlichkeit weiter, ohne sich über die daraus resultierenden langfristigen Konsequenzen im Klaren zu sein. Einstmals geschützte Kommunikationsräume werden geöffnet. Daten können somit weltweit abgerufen und verbreitet werden: „Aufzeichnungsmedien wie Handys, Digitalkameras, leistungsstarke Computer, Verbreitungsmedien im Social Web, also Netzwerk- und Multimediaplattformen wie Facebook, Twitter oder YouTube, persönliche Websites und Wikis sind die neuartigen Instrumente solcher Skandalisierungsprozesse. Sie liegen heute potenziell in den Händen aller“ (Detel 2013: 57). Grundsätzlich sind Daten im Internet weltweit für jeden abrufbar und dauerhaft verfügbar. Theoretisch kann jeder beobachtet werden und wird selbst zum Beobachter und damit zum Erzeuger oder Objekt eines Skandals (vgl. Pörksen/Detel 2012). So werden z. B. enorme Datenmengen mit skandalösem Inhalt durch Organisationen wie Wikileaks oder ehemalige Geheimdienstmitarbeiter wie Edward Snowden auch mit Unterstützung von internationalen Qualitätsmedien ins Netz gestellt, die Skandale und Missstände deutlich machen und so für die breite Öffentlichkeit sichtbar sind (vgl. Schicha 2012, Schrader 2014). Faktisch gilt, dass einmal ins Netz gestellte Daten schwer oder gar nicht zu löschen sind. Private Daten sind daher gegen Missbrauch zu schützen (vgl. Heuer 2013). Faktisch nutzen kommerzielle Anbieter die Möglichkeit, Kundendaten zu sammeln, um Kaufprofile zu erstellen (vgl. Marquardt 2012). Doch es gibt auch Formen der freiwilligen Offenbarung, wenn Personen private Informationen ins Netz stellen. Sie artikulieren ihre politische Meinung, berichten über ihre Krankengeschichte und haben keine Hemmungen, „sich online zu entblößen“ (Tönnesmann 2013: 47). Debatin (2012) weist darauf hin, dass im Netz häufig Sachverhalte geäußert werden, die im realen Dialog so nicht artikuliert werden. Die Hemmschwelle scheint geringer zu sein, weniger überlegte Statements zu artikulieren. Es darf aber nicht übersehen werden, dass derartige Bemerkungen in sozialen Netzwerken theoretisch die ganze Internetgemeinschaft erreichen können. Übergriffe und Pöbeleien durch diffamierende Texte und Bilder (Cyberbulling, -mobbing, -stalking) verstoßen gegen die Menschenwürde. Diese kann dann auch durch Schmähkritik in sozialen Netzwerken, über Blogs und Kommentare auf Internetseiten erfolgen. Durch Handy-Videos, Twitter-Botschaften, SMS-Nachrichten können Informationen und Dokumente rasent schnell an eine Vielzahl von Nutzern verbreitet werden. Grundsätzlich ist zu differenzieren zwischen gerechtfertigter Kritik an Personen oder Institutionen und Statements, die nur das Ziel haben, destruktiv zu agieren, um 105 | Im Fokus Einzelnen oder Gruppen zu schaden. Besonders problematisch für die Reputation einzelner oder Gruppen ist ein virtueller Shitstorm, der wie folgt definiert wird: „Der Begriff steht für einen online aufflackernden, sich rasend steigernden Sturm der Empörung, der sich gegen Einzelne, aber auch gegen Gruppen oder Unternehmen richten kann“ (Pörksen/Detel 2012: 114). In derartigen Fällen können auch Skandalvorwürfe erfolgen, die dann gerechtfertigt sein können, wenn die entsprechenden Anschuldigungen den Tatsachen entsprechen. Wenn Vorwürfe berechtigt sind, sollte darauf offen, transparent und ggf. mit einer Entschuldigung und dem einzuhaltenden Versprechen einer Fehlerkorrektur reagiert werden, um Schadensbegrenzung zu betreiben (vgl. o. V. 2014). Vielfach handelt es sich aber um ungerechtfertigte Kritik, die sich bei gründlicher Prüfung nicht belegen lässt. Es ist wichtig, die Merkmale, Bereiche und einschlägigen Falltypen herauszuarbeiten, die im Rahmen der Skandalisierung relevant sind, um Bewertungsmaßstäbe für ihre Einschätzung und Beurteilung zu erhalten. Bedeutung und Reichweite von Skandalen Obwohl jeder Skandal einzigartig ist, besitzen alle Skandale gemeinsame Merkmale. Es erfolgt ein Verstoß gegen die herrschende Ordnung oder das geltende Recht, aus dem ein Schaden resultiert, der einem oder mehre- ren Tätern, aber auch Vereinen, Parteien und Unternehmen zugeschrieben werden kann (vgl. Kepplinger 2012). An einem Skandal sind stets verschiedene Akteure beteiligt. Es gibt einen Skandalierten, der einer relevanten Verfehlung bezichtigt wird. Dann existieren ein Skandali sierer, der diese Verfehlung öffentlich macht, und Medien, die darüber berichten (vgl. Bulkow/Petersen 2011). Darüber hinaus gibt es öffentliche Reaktionen, die Anschlussdiskurse und -berichte erzeugen können. Jeder Skandal umfasst bestimmte Zyklen, die sich in die Latenz-, Aufschwungs-, Etablierungs- und Abschwungphase einteilen lassen können. In der Latenzphase befinden sich die Handlungen, die den später anzuprangernden Skandal ausmachen. Die eigentliche Enthüllung durch die Medien wird in der Aufschwungphase angesiedelt. Die Etablierungsphase umfasst den Zeitraum der öffentlichen Debatte und Bewertung des Skandals, die bereits negative Konsequenzen für den Skandalisierten haben kann. In der Abschwungphase lassen das öffentliche Interesse und die Berichterstattung nach (vgl. Burkhardt 2006). „Da wo Scandalum ist, ist Ärger.“ Auf diese kurze Formel bringt Burkhardt (2006: 71) die Debatte um die negative Konnotation von Skandalen. Es geht um Streit und Auseinandersetzungen, um Eifersucht, Neid und Schmach. Der Skandal stellt einen Bruch von Normen und Konventionen dar und avanciert zu einer moralischen Kategorie. Die Entrüstung über skandalträchtige Im Fokus | 106 Ereignisse führt zur Aufregung. Durch die Überschreitung moralischer Grenzen wird ein Missstand diagnostiziert, der Anstoß erregt. Soziale Werte, Normen oder moralische Codes werden verletzt. Die Reputation der Skandalverursacher ist nachhaltig beeinträchtigt und kann zu einem massiven Vertrauensbruch führen. Demzufolge sollen Skandale aus Sicht der Verursacher möglichst nicht an das Licht der Öffentlichkeit gelangen, damit eine Rufschädigung vermieden wird. Skandalöses Verhalten findet sich in der Wirtschaft, der Politik, der Kunst, dem Sport, den Medien und der Verwaltung. Moralische Verfehlungen von Personen und Personengruppen können – je nach Tragweite – als Skandale klassifiziert werden, sofern allgemein anerkannte Maßstäbe verletzt werden und damit in Unordnung geraten. Die Voraussetzung für die Skandalisierung ist ein persönlicher Vorsatz des Beschuldigten, sofern z. B. der Vorwurf der Korruption, Bestechung oder persönlicher Vorteilsnahme aus niederen Motiven erfolgt (vgl. Imhof 2002). Insgesamt umfasst der Skandal im Gegensatz zum Gerücht die drei Komponenten Verfehlung, Enthüllung und Entrüstung (vgl. Hondrich 2002). Dabei findet zunächst eine moralische oder justitiable Verfehlung einer Person oder Institution statt. Im Anschluss daran wird die Verfehlung enthüllt. Schließlich ist eine öffentlich breit geteilte Empörung über das Geschehen zu beobachten. Wer einen Skandal auslöst, stellt die bestehende Ordnung in Frage und provoziert den Eklat. Bestehende Schamgrenzen und Anstandsregeln werden verletzt. Insgesamt verfügen Skandale über eine große Anziehungskraft, da sie ein hohes Unterhaltungspotenzial besitzen. Entrüstung und Betroffenheit verschaffen den Rezipienten einen Erlebniswert. Darüber hinaus lassen sich zahlreiche Nachrichtenfaktoren wie Überraschung, Prominenz, Negativität und Konflikt mit Skandalen in Verbindung bringen. Skandale erzeugen öffentliche Empörung und Anschlussdiskurse. Wenn darüber berichtet wird, ist das öffentliche Interesse groß. Skandalmeldungen erreichen ein breites Publikum, was sich positiv auf Einschaltquoten, den Verkauf von Printprodukten oder Klickraten im Internet auswirkt. Eine große Wirkung wird vor allem dann entfaltet, wenn es sich bei den Skandalvorwürfen um prominente Personen, Parteien oder Wirtschaftsunternehmen handelt. Besonders interessant ist ein durch die Medien aufgedecktes skandalöses Verhalten dann, wenn bestimmte moralische Erwartungen an eine Person erschüttert werden, die aufgrund ihrer Position oder eigener moralischer Ansprüche an das Verhalten anderer eine besonders hohe Reputation besitzen sollte. Dann geht es z. B. um Fälle, in denen Akteure Bescheidenheit und soziales Engagement fordern und dann bei der Steuerhinterziehung ertappt werden. Eine große öffentliche Empörung lösen auch Personen mit einer besonderen Verantwortung für andere – wie z. B. Politi- 107 | Im Fokus ker, Lehrer oder Priester aus, sofern ihnen ein Verhalten nachgewiesen werden kann, was anderen geschadet hat. Normen und Werte Inhaltlich geht es bei Skandalen immer um die Überschreitung von gesellschaftlich vorgegebenen Normen und Werten, die sich im Laufe der Zeit wandeln können. So ist z. B. die Homosexualität eines Politikers oder gar die Ehescheidung inzwischen in Deutschland kein Skandal mehr (vgl. Bulkow/Petersen 2011). Skandale gelten als Verstöße, die sich gegen wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Normen und Werte richten und daher geächtet werden können (vgl. Mork 2007). Im Mittelpunkt stehen stets menschliche Handlungen oder Unterlassungen. Ein skandalöses Unterlassungsdelikt kann z. B. stattfinden, wenn Hilfe in konkreten Notsituationen unterlassen wird. In der Regel geht es bei der Bewertung des potenziellen Skandals primär um die Verletzung von konkreten Werten auf ganz unterschiedliche Ebenen, zu denen u. a. Treue, Nächstenliebe und Freiheit gehören. Von besonderem öffentlichem Interesse sind „Normüberschreitungen im besonders anschaulichen Zusammenhang Liebe, Sexualität, Finanzen und politische Macht“ (vgl. Bulkow/ Peterson 2011: 15). Es geht stets auch um die Kategorien Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Sofern es Normverletzungen gibt, werden die beschuldigten Akteure an den (medialen) Pranger gestellt. Der Skandal geht mit dem Verlust an Reputation und Ehre einher. Dann ist von Sündern und Schande die Rede, da der praktizierte oder angenommene Normbruch zu einer allgemeinen Empörung führt, die entsprechend negativ konnotiert wird. Es wird vom Beschuldigten sogar eine Beichte erwartet. Im Falle eines großflächigen Skandals ist auch von Sumpf oder Seuche die Rede. Vorurteile Skandale lassen sich zwar anhand von bestimmten Maßstäben konkret beurteilen, gleichwohl hängt die Bewertung des Empörungsgrades über bestimmte Verfehlungen auch von individuellen und kollektiven Sichtweisen, Erfahrungen und normativen Einstellungen ab. „Sind Schemata einmal etabliert, erscheinen alle Fakten und Interpretationen, die ihnen widersprechen, als faktisch oder irreführend, als Übertreibung oder Untertreibung. Dagegen wird alles, was die Schemata zu bestätigen scheint, bereitwillig akzeptiert und notfalls stimmig gemacht. Geglaubt wird nur noch, was zum Schema passt. Die eigene Sichtweise erscheint dabei nicht als subjektive Meinung, sondern als objektive Einsicht in die Natur der Sache“ (Kepplinger 2012: 25). Es fällt häufig schwer, eigene Vorurteile zu revidieren, konträre Meinungen zu akzeptieren und sich selbst in seiner Einschätzung zu korrigieren. Wenn Journalisten beispielsweise einen Wirtschaftsskandal aufdecken Im Fokus | 108 möchten, von dessen Existenz sie überzeugt sind, dann fällt es nicht leicht zu akzeptieren, dass nach näherer Prüfung an den erhobenen Vorwürfen ggf. nichts dran ist. Dies dokumentiert dann auch die eigene Fehleinschätzung, die nur ungern zugegeben wird. Zudem ist ja auch der Druck da, eine Geschichte zu publizieren. Dies kann dann auch dazu führen, dass nur geringe Verfehlungen zu einem Skandal aufgebauscht werden. Zudem neigen Journalisten dazu, Themen aufzugreifen, die von anderen Kollegen bereits bearbeitet werden. Eine kollektive Skandalberichterstattung erzeugt „Trittbrettfahrer“ (Kepplinger 2009: 185), die sich an den Skandalisierungstrend zu einem bestimmten Thema beteiligen, auch wenn ggf. gar keine Substanz und Relevanz vorhanden ist. Die Skandalauswahl und -bewertung folgt Trends und Zyklen. Der eigentliche Umfang und die Schwere des Vergehens sind hierbei nicht zwingend ausschlaggebend. „Trotzdem glaubt auch bei Skandalen jeder, er urteile unabhängig von den anderen – sozusagen aus eigener Einsicht. Jeder betrachtet sich fälschlicherweise als autonome Person: Was sie für ein individuelles Urteil halten, ist einer sich selbst bestärkenden Glaubensgemeinschaft.“ (Kepplinger 2012, S. 28). Menschen neigen dazu, sich bestimmten (Vor-)Urteilen anzuschließen und den neutralen und unabhängigen Blick gerade dann zu verlieren, wenn eine emotionale Empörungswelle die öffentliche Debatte prägt. Möglichkeiten der Analyse Es gibt unterschiedliche Zugänge, um Skandale zu untersuchen. So bietet es sich zunächst an, die Geschichte und Veränderungen von Normen im Lichte der Öffentlichkeit zu untersuchen, die Skandalbewertungen nach sich gezogen haben. Des Weiteren kann aufgezeigt werden, wie unterschiedliche Mediengattungen wie der Boulevard- und Qualitätsjournalismus Skandalisierungen publizistisch erörtern. Sofern der Verlauf einzelner Skandale rekonstruiert wird, kann herausgearbeitet werden, ob die Kritik an die vermeintlichen oder tatsächlichen Skandalverursacher berechtigt ist oder nicht. Darüber hinaus ist es auch möglich, die Rolle von Personen oder Organisationen zu untersuchen, die an Skandalen beteiligt sind. Dazu gehören auch die Medien, die Skandale öffentlich machen und die Reaktionen des Publikums. Weiterhin besteht die Option, die grundlegenden Mechanismen von Skandalen aufzuzeigen. Hier werden z. B. Verläufe systematisch herausgearbeitet, die im Rahmen der Skandalisierung beobachtet werden können, um charakteristische Merkmale erkennen und bewerten zu können (vgl. Kepplinger 2012). Medienskandale Medien als Wirtschaftsunternehmen Einige Journalisten orientieren sich weniger an der Unschuldsvermutung oder der Beachtung des Persönlichkeitsschutzes, sondern primär daran, möglichst 109 | Im Fokus schnell entsprechende Meldungen und Berichte zu veröffentlichen, um damit Geld zu verdienen. Medien, die zugleich ein Wirtschafts- und Kulturgut sind, arbeiten in der Regel profitorientiert, müssen rentabel wirtschaften und stehen in Konkurrenz zu ihren Mitbewerbern. Sie funktionieren nach dem Marktmodell, sofern von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland einmal abgesehen wird. Letztere finanzieren sich zum Großteil über die Gebühren der Zuschauer und besitzen einen Programmauftrag im Sinne eines Integrationsmodells, um auch ihrer Informationspflicht über gesellschaftlich relevante Sachverhalte nachzukommen. Die meisten Medienbetriebe sind hingegen wirtschaftlich abhängig von der Resonanz der Rezipienten, die sich je nach Medium von Internet-Klicks, Rundfunk-Einschaltquoten oder dem Verkauf von Printprodukten messen lässt. Die Quote und die Auflage bestimmen die Werbepreise, die für die Existenz von Medienbetrieben unverzichtbar sind, sofern keine Subventionierung oder Gebührenfinanzierung erfolgt (vgl. Friedrichsen/Gertler 2011). Insofern ist die Skandalisierung ein beliebtes Instrument, um die Aufmerksamkeit zu wecken, die ökonomisch erfolgsversprechend sein kann. Stand der Forschung Beim Blick auf die einschlägige „Medienskandalliteratur“ fällt auf, dass der Blick primär auf einschlägige Fallbeispiele gelegt wird. Hingewiesen sei hier exemplarisch auf die Publikation von Stephan Lamprecht (2013). Er liefert einen Überblick über Lügen, Skandale und Intrigen. Das Spektrum reicht von Medizinskandalen über Sportskandale, politische Skandale, Drogenskandale und Medienskandale bis hin zu Sexskandalen. Ein primär theoretischer Zugang zum Phänomen der Medienskandale aus einer wissenssoziologischen Perspektive wird von Burkhardt (2006) vorgenommen. Der Autor greift unter Rekurs auf konkrete Fälle auf Konzepte des Konstruktivismus sowie der Diskurs-, Narrations- und Systemtheorie zurück, um die Funktionen von Medienskandalen für das kollektive Differenz- und Identitätsmanagement der Gesellschaft aufzuzeigen.Die Monografie von Kepplinger (2005) setzt sich der Frage auseinander, wie aus einem Missstand ein Skandal wird, in welcher Form Täter zu Opfer avancieren und inwiefern sich bei einem zunächst desinteressierten Publikum Empörung einstellt. Gleich zwei Publikationen beschäftigen sich systematisch mit skandalösem Kampagnenjournalismus. Scherz und Schuler (2007) dokumentieren in ihrem Sammelband ausgewählte Fälle, bei denen Prominente und Nicht-Prominente sich willkürlichen medialen Angriffen u. a. in Boulevardzeitungen wie BILD ausgesetzt sahen. Gmür (2007) greift in seiner Monografie Rufmordfälle auf, deren typische Muster aufgezeigt, eingeordnet und bewertet werden. Beide Bücher liefern zentrale Analysekategorien, die wertvolle Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen liefern. Konstruktiv werden konkrete Kriterien benannt, um Verfehlungen und Missstände zu reduzieren. Im Fokus | 110 Der Interviewband von Bergmann und Pörksen (2009) schließlich widmet sich Journalisten, die Skandale aufgedeckt haben oder in anderen Fällen selbst in Medienskandale involviert waren. Bulkow und Petersen (2011) kümmern sich in Ihrem Sammelband um die „Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung“ von Skandalen anhand von konkreten Fallanalysen in der Politik, in den Medien und in der Kunst aus einer interdisziplinären Perspektive mit unterschiedlichen methodischen Zugängen. Dass der Kampf um die Aufmerksamkeit und Schlagzeilen unter Konkurrenzbedingungen auch zu journalistischen Fehleinschätzungen und einer unangemessenen Skandalisierung führen kann, dokumentiert der Band von Zimmermann (2011), der sich mit Verfehlungen innerhalb der Schweizer Medienlandschaft beschäftigt hat. Wie Medien Skandale „machen“ Skandale werden von den Medien nicht nur aufgegriffen, sondern anhand spezifischer Produktionsbedingungen, sowie Verarbeitungs- und Präsentationslogiken konstruiert, die sich auch am Nachrichtenwert orientieren. „Die Medien decken keine Skandale auf. Skandale sind keine vorgegebenen Sachverhalte, die man aufdecken und berichten kann, sondern die Folge öffentlicher Kommunikation über Missstände“ (Kepplinger 2012: 77). Medien machen Missstände zu Skandalen, indem sie von ihnen angeprangert werden. Sie haben im Rahmen ihrer Kontroll- und Kritikfunktion die Aufgabe, gesellschaftlich relevante Skandale aufzudecken und öffentlich zu machen. Der investigative Journalismus hat hier wichtige Arbeit geleistet. So wurde u. a. die Watergate-Affäre 1973–1974 in den USA durch die Recherche der Washington-Post-Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein ans Licht gebracht, die dazu geführt hat, dass der damalige amerikanische Präsident Richard Nixon zurücktreten musste. Neben Umwelt-, Wirtschaftsund Sportskandalen standen auch in Deutschland in den letzten Jahren zahlreiche politischen Skandale im Mittelpunkt des Interesses, die von investigativen Journalisten ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden konnten (vgl. Kamps 2007). Das Aufspüren von derartigen Missständen ist für freie Gemeinschaften von zentraler Bedeutung. Nur in den Gesellschaften, in denen Pressefreiheit herrscht und wo Journalisten die Möglichkeit besitzen, frei und ohne politischen Druck zu recherchieren, um Missstände und Skandale transparent zu machen, kann eine Demokratie funktionieren. Gleichwohl sind Skandale „keine vorgegebenen Sachverhalte, die man aufdecken und berichten kann, sondern die Folge der öffentlichen Kommunikation über Missstände“ (vgl. Kepplinger 2005: 63) Der Maßstab zur Beurteilung von Skandalen wandelt sich im Laufe der Zeit und ist stets von den gängigen Norm- und Wertmaßstäben der entsprechenden Gemeinschaft abhängig. 111 | Im Fokus Es wird allgemein davon ausgegangen, dass Massen medien Skandale aufdecken. Kepplinger (2009) zufolge werden jedoch Missstände von Journalisten als empörend klassifiziert. Es hängt also auch von der Einschätzung der Berichterstatter ab, ob ein Missstand oder Fehlverhalten als skandalös bewertet wird oder nicht. Bei der Bewertung werden implizit oder explizit eine Reihe von Grundsatzfragen gestellt, um den potenziellen Grad der Skandalisierung durch die Verursacher zu eruieren (vgl. Kepplinger/Ehmig/Hartung 2002): • • • • • • Wird die Existenz eines behaupteten Vorwurfes zugegeben oder bestritten? Ist der Vorwurf einer einzelnen Person zuzuschreiben oder sind widrige strukturelle Ursachen dafür verantwortlich? Waren die Folgen des Fehlverhaltens bekannt oder nicht? Hätte es die Möglichkeit gegeben, negative Konsequenzen ggf. rechtzeitig abzuwehren? Sind konkrete Personen geschädigt worden? Ist Druck auf den Verursacher ausgeübt worden, das ein Fehlverhalten erklären oder sogar legitimieren kann? Neben der notwendigen Aufklärung neigen Medien aber auch zu unangemessenen Dramatisierungen. Zwar müssen komplexe Sachverhalte sich im Rahmen der Berichterstattung zumindest durch die Überschrift – die auf die Meldungen aufmerksam machen sollen – auf wenige Schlagworte reduzieren. Schlagzeilen, die spe- ziell in den Boulevardmedien mit Begriffen wie Desaster, Störfall, Bedrohung, Gift oder Lebensgefährdung operieren, wecken zwar öffentliches Interesse, sind aber häufig übertrieben. Kepplinger (2012: 50 f.) differenziert hier zwischen unterschiedlichen Typen, die als Skandale klassifiziert werden: • • Horror-Etiketten (z. B. Waldsterben, Giftregen, Killerbakterien), Katastrophen-Suggestionen (z. B. Vogelgrippe, Schweinegrippe, Super-GAU), Katastrophen-Collagen (z. B. Aidsviren, Rinderwahnsinn, Schweinepest). Hierbei wird auch mit dramatisierenden Bildern gearbeitet, um den Ernst der Situation zu dokumentieren. Wenn Ärzte und Pfleger einen Schutzanzug und Mundschutz tragen, wird das Bedrohungspotenzial, z. B. von ansteckenden Krankheiten zusätzlich visuell unterstrichen. Darüber hinaus kann auch durch optische Mittel wie den Einsatz von Zeitlupen, Schwarz-Weiß-Aufnahmen, Texteinblendungen oder Vergrößerungen gearbeitet werden. Wenn dann auch noch emotionalisierende Trauermusik eingespielt wird, ist die Dramaturgie perfekt, die Ängste, Empörung und Wut erzeugen kann. Durch derartige Inszenierungsstrategien kann es zu unangemessenen Übertreibungen kommen, die dem faktischen Skandalisierungsgrad u. U. konträr gegenüberstehen. Im Fokus | 112 Neben der konstruktiven Skandalaufdeckung können Medienberichterstatter jedoch auch selbst in Skandale verwickelt sein, wie die nachfolgenden Beispiele dokumentieren (vgl. Schicha 2013). Der Journalist Tom Kummer arbeitete ab 1993 als Hollywood-Korrespondent u. a. für die Süddeutsche Zeitung (SZ). Zahlreiche seiner gefälschten Interviews mit prominenten Filmstars wurden im Magazin der SZ abgedruckt (vgl. Kummer 2009). Journalistische Skandale Vor mehr als 30 Jahren erschütterte die Veröffentlichung der gefälschten Hitlertagebücher die Glaubwürdigkeit des STERN. 1983 gab es die legendäre Pressekonferenz, bei der der Journalist Gerd Heidemann die angeblichen 62 Hitler-Tagebücher präsentierte, die er für mehr als neun Milliarden DM beim Fälscher Konrad Kujau erwarb. Es stellte sich jedoch heraus, dass hier die Kontrollmechanismen beim STERN massiv versagt hatten. Das Papier, auf dem Hitler angeblich seine Aufzeichnungen aufgeschrieben haben soll, wurde mit den Weißmachern versetzt, die erst nach 1950 in der Papierherstellung zum Einsatz gekommen sind. Teile der Bücher wurden aus historischen Dokumenten abgeschrieben (vgl. Heidemann 2009, Seufert 2008). Die solide Recherche unter Berücksichtigung mindestens zweier Quellen gilt als Basis jeder seriösen Berichterstattung. Dennoch werden frei erfundene Berichte immer wieder ausgestrahlt oder gedruckt. Dies dokumentiert das eklatante Versagen der journalistischen Sorgfaltspflicht. Skandale, an denen Journalisten selbst beteiligt waren, sind ebenfalls publizistisch aufgearbeitet worden (vgl. Schicha 2013) Die Berichterstattung im „Fall Sebnitz“ über ein angeblich von Skinheads ertränktes Kind mit Migrationshintergrund stellte sich als falsch heraus, da der Junge bei einem Badeunfall ohne Fremdeinwirkung ertrunken war. Die Falschmeldung wurde von mehreren Zeitungen publiziert, die offensichtlich ohne eigene Recherche voneinander abgeschrieben hatten (vgl. Jogschies 2001). Der Fernsehproduzent Michael Born hatte 1996 insgesamt 23 Fernsehbeiträge gefälscht und mit Erfolg an privat-kommerzielle und öffentlich-rechtliche Politikmagazine verkauft, die die z. T. völlig absurden Geschichten von Katzenjägern über Krötendrogen bis hin zu angeblichen Auftritten des Ku-Klux-Klan in Deutschland ausgestrahlt haben (vgl. Born 1997, Gerhards/Borg/Lambert 2005, Pritzl 2006). Die Beispiele dokumentieren die Gier nach einer interessanten und lukrativen Geschichte, die unter Missachtung journalistischer Standards zu einem Skandal werden kann. Dies ist dann besonders verwerflich, wenn Unschuldige zu Unrecht skandalisiert werden und die Medien als Plattform genutzt werden, um falsche Verdächtigungen und Lügen zu verbreiten, wie die nachfolgende Beispiele zeigen. Wenn prominente Persönlichkeiten beschuldigt werden, andere Personen sexuell missbraucht zu haben, 113 | Im Fokus dominiert dieser Verdacht große Teile der Medienberichterstattung. Die öffentliche Empörung ist groß und sogenannte Experten äußern medienwirksam ihre Beurteilung, noch bevor der juristische Prozess überhaupt zu einem Urteil gelangt ist. Im Fall des Wettermoderators Jörg Kachelmann, der einer Vergewaltigung beschuldigt und schlussendlich freigesprochen wurde, ging eine lange Mediendebatte voraus. Während die Wochenzeitung DIE ZEIT und der SPIEGEL den Angeklagten publizistisch unterstützten, wurden in der BUNTE und in der BILD-Zeitung erhebliche Vorwürfe ihm gegenüber artikuliert (vgl. Kepplinger 2012). Dass Medien auch psychische Gewalt auf Opfer der Berichterstattung ausüben können, dokumentieren zahlreiche Beispiele, bei denen die BILD-Zeitung eine negative Rolle gespielt hat. Dieses Blatt steht nach wie vor für einen gezielten Kampagnenjournalismus und sorgt dafür, dass Personen systematisch persönlich diffamiert und diskreditiert werden (vgl. Boenisch 2007, Kepplinger 2012). Provokation und Tabuverletzung stellen dabei zentrale Strategien dar, um die Aufmerksamkeit der Leser zu erreichen. Normale Ereignisse werden zu Skandalen hochstilisiert. Dabei kann die Grenze zur Lüge, Fälschung und Manipulation durchaus überschritten werden. Symbolische Zuspitzungen dienen der Komplexitätsreduktion und Vereinfachung. Es erfolgt eine klare, aber nicht zwingend berechtigte Zuordnung von Gut und Böse. Inhalte werden übertrieben und aufgebauscht. Dabei kommen persuasive und manipulative Mittel und Methoden zum Einsatz, die Lügen und Verleumdungen enthalten können. Artikel über die Studentenbewegung in BILD kamen zu dem Ergebnis, dass demonstrierende Studierende pauschal als „Rabauken“, „Akademische Gammler“, „Eiterbeulen“, „Schreihälse“, „Geistige Halbstarke“, „Politische Spinner“ und „Krawall-Studenten“ bezeichnet worden sind. Mehrfach wurden grüne Politiker Opfer von BILD-Kampagnen. Die Veränderung eines Bildausschnitts etwa vermittelte den falschen Eindruck, dass der ehemalige Minister Jürgen Trittin bei einer Gewalt-Demo dabei gewesen sei. Doch nicht nur Politiker, sondern auch Medienschaffende wurden regelmäßig Opfer der BILD-Berichterstattung. Durch die Streuung ehrverletzender Gerüchte wurden Prominente diffamiert. So sah sich der Moderator Andreas Türk dem Vorwurf der Vergewaltigung ausgesetzt. BILD startete eine Kampagne gegen ihn. Überschriften wie „Die Sex-Akte Türck“ und „Hier steht Andreas Türck ein letztes Mal im Licht“ trugen dazu bei, dass der zu Unrecht erhobene Vergewaltigungsvorwurf publizistisch ausgeschlachtet wurde. Da sich die Vorwürfe nicht erhärtet haben, wurde Türck freigesprochen. Dennoch war seine TV-Karriere dadurch für Jahre zerstört (vgl. Schertz/Schuler 2007). Politische Skandale Politiker stehen unter einer permanenten Medienbeobachtung. Sie brauchen die Medien, um ihre Positionen darzulegen. Ihre Karriere hängt von den Wahlentscheidungen der Bevölkerung ab. Deshalb ist es zentral, Im Fokus | 114 einen möglichst positiven Eindruck beim Wahlvolk zu hinterlassen. Ein Fehler in der Öffentlichkeit oder ein durch die Medien öffentlich gemachtes Fehlverhalten kann einen derartig großen öffentlichen Druck erzeugen, dass es zu einem Karriereknick oder gar zu einem Karriereende kommt. Eine missglückte Rede über die Rolle der Juden im Dritten Reich führte z. B. 1988 zum Rücktritt des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger. Besonders sensibel werden persönliche Bereicherungen von Politikern wahrgenommen. So flog der damalige Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) 1991 auf Kosten der Industrie. 2002 wurden dienstlich erworbene Bonus-Flugmeilen von den Politikern Gregor Gysi (DIE LINKE) und Cem Özdemir (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN) privat genutzt. Im selben Jahr erhielt der ehemalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) Zuwendungen einer PR-Agentur (vgl. Kepplinger 2012). Der damalige Bundespräsident Christian Wulf musste 2012 aufgrund der zahlreichen Vorwürfe einer persönlichen Bereicherung zurücktreten, auch wenn diese Beschuldigungen durch ein juristisches Verfahren später entkräftet wurden. Skandalöses Verhalten von Politikern aufzudecken ist inzwischen nicht nur eine journalistische Aufgabe, sondern sie wird auch durch Bürgerinnen und Bürger mit Hilfe der Neuen Medien wahrgenommen. Dass die zahlreichen Plagiatsfälle der Doktorarbeiten von Politikern inzwischen nachgewiesen werden konnten, ist Rechercheuren aus der Zivilgesellschaft zu verdanken, die ihre Fundstellen öffentlich gemacht haben und damit dazu beitragen konnten, dass unsauberes wissenschaftliches Arbeiten nachgewiesen werden konnte. Dank diverser Internetforen wie Guttenplag und Vroniplag sind neben der Dissertation von Karl Theodor zu Guttenberg die Arbeiten verschiedener Politiker einer systematischen Prüfung unterzogen worden. Insgesamt haben zu Beginn nicht die klassischen Massenmedien, sondern die aktiven Internetnutzer dazu beigetragen, die Plagiatsaffaire aufzudecken. Der ehemalige Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) ist zurückgetreten, nachdem ihm eine Täuschung nachgewiesen werden konnte (vgl. Schicha 2011). Er hatte versäumt, rechtzeitigt seine Fehler zuzugeben, die berechtigten Vorwürfe wiederholt bestritten und wurde durch immer neue Plagitasfunde überführt (vgl. Kepplinger 2012). Die damalige Bundesforschungsministern Annette Schawan (CDU) übte im Rahmen seiner Plagiatsaffäre heftige Kritik am Verhalten des Ministers von zu Guttenberg. Die Prüfung ihrer eigenen Promotion führte jedoch ebenfalls zu einer Aberkennung ihres Doktortitels und einem Rücktritt. Inzwischen wurde weiteren Politikern der Doktortitel nach der Aufdeckung der Plagiatfinder durch die nachfolgende Prüfung der jeweils zuständigen Fakultäten an den Universitäten aberkannt. 115 | Im Fokus Wirtschaftsskandale Ebenso wie Politiker spielen auch Entscheidungsträger in den Wirtschaftsbetrieben im Rahmen von Skandalvorwürfen eine besondere Rolle. Die hohen Managergehälter werden a priori als Skandal klassifiziert. Ein grundlegendes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Profitorientierung von Unternehmen führt dazu, dass eine hohe Transparenz der Aktivitäten gegenüber der Öffentlichkeit erwartet wird. Dies gilt vor allem für die Branchen, die über ein erhebliches Risikopotenzial wie z. B. Chemieunternehmen oder die Atomindustrie verfügen. Als besonders dramatisch werden Störfälle, Unfälle und Katastrophen wahrgenommen, die die ökologische Umwelt und die Gesundheit von Mensch und Tier nachhaltig belasten. Äußerst sensibel reagieren Verbraucher auch auf Lebensmittelskandale, da hier eine unmittelbare Betroffenheit der Bürger zu konstatieren ist. Gerade in derartigen Fällen berichten nicht nur die traditionellen Medien über die Skandale, sondern auch Verbraucherschützer und Umweltverbände, die den Skandal neben der notwendigen Aufklärung auch dazu nutzen, die eigene Reputation zu stärken (vgl. Geffken 2005). Fazit „Skandalisierungen […] verweisen auf die Grenzlinien zwischen dem Öffentlichen und dem Geheimen. […] Sie indizieren Umbruchs perioden im sozialen Wandel, sie verweisen auf Moralisierungswellen und damit fundamente Prozesse des Norm- und Medienwandels […], und sie spiegeln die Ausdifferenzierung des Mediensystems […] und die damit verbundenen neuen Selektions- und Interpretationslogiken in der medienvermittelten Kommunikation“ (Imhof 2002: 94). Die medienethische Relevanz von Medienskandalen ist offenkundig, da diese moralische Fehlentwicklungen innerhalb der Berichterstattung öffentlich machen. Gleichwohl sollten derartige Entwicklungen nicht isoliert betrachtet werden. Der Skandal ist immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und sollte daher in einen entsprechenden Bewertungszusammenhang eingeordnet werden. An der Aufdeckung von Missständen besteht zu Recht ein großes öffentliches Interesse. Die Herstellung von Öffentlichkeit bei Missständen ist schließlich ein Zeichen einer funktionierenden Demokratie. Skandale besitzen eine erhebliche Anziehungskraft. Emotionen werden geschürt. Es erfolgt eine klare Einteilung in Gut und Böse bzw. Opfer und Täter. Schließlich geht es stets darum, die knappe Ressource der öffentlichen Aufmerksamkeit zu erreichen. Was nicht wahrgenommen wird, existiert Im Fokus | 116 nicht. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass Skandale mediale Anschlussdiskurse zur Folge haben. Der Skandal liegt hierbei nicht zwingend am provozierenden Verhalten der Protagonisten, sondern ggf. vielmehr darin, dass ihnen zuvor eine Bühne gegeben wird, um sich skandalträchtig medial in Szene zu setzen. Neben den inszenierten Skandalen, bei denen es in erster Linie darauf ankommt, öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten, gibt es die ebenfalls primär kommerziell motivierte Berichterstattung, wo weniger die Wahrhaftigkeit der Journalisten, sondern ihre ökonomischen Interessen im Mittelpunkt stehen. Medienethisch relevant sind besonders die Fälle, in denen unter dem Etikett des glaubwürdigen Journalismus plumpe Fälschungen präsentiert werden, die das Vertrauen in die Berichterstattung nachhaltig erschüttern. So dokumentieren die frei erfundenen Berichte von Born und Kummer, dass die Kontrollmechanismen der betroffenen Redaktionen kläglich versagt haben. Die Skandalisierung ist immer dann ungerechtfertigt, wenn Menschen oder Institutionen geschädigt werden und die Vorwürfe haltlos sind. Dies ist beim Paparazzi-Journalismus ebenso der Fall wie bei den Rufmord-Kampagnen der BILD-Zeitung. Als grundlegender Handlungsbedarf bleibt festzuhalten, dass journalistische Arbeitsbedingungen erforderlich sind, die den Berichterstattern trotz Zeit- und Konkurrenzdruck ermöglichen, gründlich zu recherchieren, um Qualität zu liefern. Zudem sind Journalisten, aber auch Blogger und alle anderen Diskursteilnehmer gefordert, grundsätzlich sensibel und zurückhaltend mit skandalisierenden Vorwürfen gegenüber Personen und Gruppen zu sein, wenn diese nicht bewiesen sind. Jeder, der mit nichtzutreffenden Behauptungen in die Öffentlichkeit tritt, löst damit weitreichende öffentliche Reaktionen auch über die Neuen Medien aus, die sich dann rasant verbreiten können. Eine unangemessene Skandalisierung kann dramatische Folgen für die Betroffenen haben. Die Verbreitung falscher Verdächtigungen und üble Nachrede sind zudem justiziabel und können neben Schadenersatzforderungen auch die Reputation desjenigen beschädigen, der einen unangemessenen Skandalisierungsverdacht ohne die notwendige Prüfung des Wahrheitsgehaltes vorschnell verbreitet hat. Die Herstellung von Öffentlichkeit ist im Rahmen der Skandalberichterstattung mit Chancen und Risiken verbunden. Journalisten haben einen öffentlichen Auftrag und sind verpflichtet, der Öffentlichkeit gegenüber gesellschaftlich relevante Informationen zur Verfügung zu stellen, indem sie über Skandale von öffentlichem Interesse berichten. Es existieren zwar spezifische Strukturen und Sachzwänge, die verhindern, dass die Ansprüche an eine angemessene und informative Berichterstattung immer eingelöst werden können. Berichterstatter stehen in einem Spannungsverhältnis zu den faktischen Gegebenheiten der journalistischen Praxis, die durch Konkurrenzdruck, kommerzielle Interessen und Zeitdruck geprägt sind. Der Zwang zur 117 | Im Fokus Aktualität schränkt strukturell die Möglichkeit zur umfassenden Recherche, zur Überprüfung und zur Hintergrundinformation ein. Dennoch sollte versucht werden, eine Annäherung an ideale Leitbilder bei der Herstellung von Öffentlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren, um medienethische Standards auch im Rahmen der Skandalberichterstattung zu gewährleisten. Hierbei sind folgende Regeln zu beachten: Bei Beachtung dieser Leitlinien kann es sicher eher gelingen, die Öffentlichkeit über real existierende Skandale angemessen aufzuklären, ohne Unschuldige zu diskreditieren. Eine unzulässige Skandalisierung beschädigt nicht nur die Reputation des Opfers, sondern auch die desjenigen, der dafür verantwortlich ist. • Bergmann, J./Pörksen, B. (Hrsg.) (2009): Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung, Köln. • • • • Die Privat- und Intimsphäre von Personen ist grundsätzlich auch dann zu respektieren, wenn ein öffentliches Interesse an der Berichterstattung besteht. Die Aufklärung von Missständen ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Gleichwohl sollte darauf geachtet werden, dass Informanten und Unbeteiligte dadurch nicht zu Schaden kommen. Eine sauber recherchierte Netzkritik kann nur dann moralisch angemessen sein, wenn der Verfasser seine eigene Identität Preis gibt und somit haftbar gemacht werden kann, falls er gegen Regeln verstößt. Grundlegende ethische Standards wie die Wahrheitspflicht und die Beachtung der Menschenwürde sind grundsätzlich einzuhalten. Die möglichen negativen Folgen der Skandalberichterstattung sollten vor der Veröffentlichung reflektiert werden und ggf. dazu führen, dass entsprechende Meldungen unterlassen werden, sofern ein unkalkulierbarer Schaden zu erwarten ist, der nicht verantwortet werden kann. Literatur Boenisch, V. (2007): Strategie: Stimmungsmache. Wie man Kampagnenjournalismus definiert, analysiert – und wie ihn die BILD-Zeitung betreibt, Köln. Born, M. (1997): Wer einmal fälscht. Die Geschichte eines Fernsehjournalisten, Köln. Bulkow, K./Petersen, C. (2011): Skandalforschung: Ein methodologische Einführung. In: Bulkow, K./Petersen, C. (2011): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung, Wiesbaden: 9–28. Burkhardt, S. (2006): Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln. Debatin, B. (2012): Soziale Online-Netzwerke aus medienethischer Perspektive. In: Grimm, P./Zöllner, O. (Hrsg.): Schöne neue Kommunikationswelt oder Ende der Privatheit? Die Veröffentlichung des Privaten in Social Media und populären Medienformaten, Stuttgart: 83–96. Im Fokus | 118 Detel, H. (2013): Das Ende der Kontrolle? Über die Zukunft der Reputation in der Ära von Smartphone und Internet. In: Das Archiv, 3/2013: 54–61. Hondrich, K. O. 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Strategien – Wissen – Lösungen, 5.8.1., S. 1-35 121 | Im Fokus Prof. Dr. Christian Schicha Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Düsseldorf Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Medien- und Kommunikationsmanagement Hast du mich gerade Kleines genannt? Der Liebesfilm – Eine Annäherung an ein unterschätztes Genre Prof. Dr. Helmar Baum Dekan Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement Mediadesign Hochschule Berlin Im Fokus | 124 Hast du mich gerade Kleines genannt?– Eine Annäherung an ein unterschätztes Genre Auch wenn sie heute nicht mehr Humphrey Bogart und Charles Boyer, sondern Richard Gere und George Clooney heißen – das Phänomen, das die verzweifelte Minnie Moore ihrer Freundin Florence zu erklären versucht, kennen viele Frauen: Auf der Leinwand scheint die Liebe größer und dramatischer, als alles was das wahre L(i)eben zu bieten hat. [1] “You know I think that Movies are a conspiracy? I mean it. I mean they are an actually conspiracy because they set you up for it. They set you up from the time you are a kid, they set you up to believe in everything, they set you up to believe in ideals and strength and good guys and romance and of course love. Love for instance. So you believe it, right? You go out, you start looking. It doesn‘t happen, you keep looking. You get a job, […], you spend a lot of time fixing your apartment and […] then you learn how to be feminine… you know quotes „feminine“, learn how to cook...there is no Charles Boyer in my life […]. You know, I‘ve never even met a Charles Boyer. I never met Clark Gable, I never met Humphrey Bogart, I never met anyone, you know. They don‘t exist […], that‘s the truth. But the movies set you up, you know? They set you up and no matter how bright you are, you believe it.“ [2] Wie kaum eine andere Mediengattung ist die Romance [3] in ihrer Rezeption weiblich dominiert. Bereits vor 70 Jahren waren Liebesfilme die bei Frauen beliebteste und bei Männern gleichzeitig unbeliebteste Filmgattung; heute liegt das Geschlechterverhältnis in den Kinosälen bei etwa 70:30. [4] Damit ist sie besonders geeignet, kulturell geprägte Weiblichkeitsbilder erfolgreich zu manifestieren oder in Frage zu stellen. Mit steigender Mediatisierung des Alltags generieren Heranwachsende ihre Vorbilder nicht mehr nur aus dem direkten sozialen Umfeld, sondern auch aus teils fiktiven medialen Werken. Ob Luise Miller, Elizabeth Bennet oder Hermine Granger: Mediale Vorbilder können Mädchen und Frauen das eigene Selbst neu überdenken lassen und so (hypothetisch) gesellschaftliche Veränderungen auf der Makro- wie auch auf der Mikroebene mittragen. Romance – Der Versuch einer Definition Als weiblich besetztes Genre wird der Romance gesellschaftlich wie auch filmwissenschaftlich geringere Bedeutung beigemessen als männlich assoziierten, wie dem Thriller oder dem Western. Diese Vernachlässigung romantisch geprägter Filme führt zu einer bisher unsauberen Genreabgrenzung. Anette Kaufmann weist 1 Der folgende Artikel reflektiert ausgewählte Ergebnisse der Bachelorarbeit „Hast Du mich gerade Kleines genannt – Eine empirische Untersuchung der historischen Entwicklung des Frauenbilds in romantischen Hollywood-Filmen“ von Anja Stahr, Berlin, 2014 3 Im Folgenden wird der im amerikanischen Diskurs gebräuchliche und von Anette Kaufmann im Deutschen eingeführte Begriff der „Romance“ als Genreklassifikation übernommen (Vgl. Kaufmann 2007) 2 Wörtlich entnommen aus Minnie und Moskowitz. R: John Cassvetes. 1971 4 Vgl. Kaufmann 2007: 45 125 | Im Fokus Prof. Dr. Helmar Baum, Fachbereichsleiter Medien- und Kommunikationsmanagement darauf hin, dass in der Genreforschung „lediglich in zwei Publikationen […] der rote Faden der […] Filmauswahl der Liebes-Aspekt“ [5] sei. In sämtlichen übrigen Studien seien Filme mit dominierender Liebes-Handlung jeweils entweder als Komödie oder als Melodrama geführt [6]. Dass eine Genredefinition doch komplizierter ist als vielleicht vermutet, zeigt eine Studie von Bordwell/Staiger/ Thompson: „Of the one hundred films […] ninety-five involved romance at least one line of action, while eighty-five made that the principle line of action.“ [7] Obwohl die Autoren sich auf Produktionen bis zum Jahr 1960 beziehen, kann man ähnliche Verhältnisse auch im heutigen Kino beobachten. 85% aller Filme in einem Genre zusammenzufassen scheint weder aus Kritiker- oder Produzenten- noch aus Zuschauersicht zielführend. Umso mehr, da ein Großteil der genannten romantischen Handlungsstränge für die entsprechenden Filme und deren eigentliches Erzählziel irrelevant sind. [8] 5 Ebd: 29 6 Neben diesen beiden Kategorien hat lediglich die Romantic Comedy, oft auch als RomCom abgekürzt, als Subgenre einen Platz im kollektiven Kulturbewusstsein. Obwohl immer noch sehr grob gefasst, kommt Caweltis Definition dem Kern der Romance deutlich näher: “The crucial defining characteristic of romance is […] that its organizing action is the development of a love relationship, usually between a man and a woman.” [9] Die betonte handlungsorganisierende Funktion der erzählten Liebesgeschichte grenzt einen Großteil der 85% aus. Gleichzeitig lässt Caweltis genug Platz innerhalb der Genregrenzen für Filme, die nicht nur die Neu-sondern auch die Weiterentwicklung einer (potenziellen) Beziehung erzählen. Die angesprochene Heterosexualität des Paares ist, obwohl nach wie vor mehrheitlich vertreten, heute nicht mehr als so selbstverständlich zu betrachten wie noch 1976. Romance – Ein historischer Überblick Die Zeitspanne von den 1950ern bis heute weist in Bezug auf die Romance drei charakteristische Perioden auf, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. 7 Bordwell et al. 1985: 16 8 Insbesondere in auf ein männliches Publikum zugeschnittenen Filmen dienen weibliche Love Interests vorrangig als „Fräulein in Not“ und/oder als sexuelle Trophäe nach erfolgreicher Missionsbewältigung. In den vergangenen Jahren, in denen maskulin dominierte Genres auch vermehrt weibliche Zuschauer anziehen konnten, werden romantische Nebenerzählstränge auch zur Zuschauervermehrung durch die Attraktion eben jener neuentdeckten Zielgruppe genutzt. 9 Cawelti 1976: 41 Im Fokus | 126 Das Ende des klassischen Hollywood Mit der Erfindung des Tonfilms begannen die „Goldenen Jahre“ Hollywoods, in denen fünf (vertikal komplett integrierte) Major- und drei Minorstudios das amerikanische Filmgeschäft oligopolistisch untereinander aufteilten. [10] Diese Ära, geprägt von einem teilweise bis heute anhaltenden Starkult [11], war 1954 bereits dem Ende geweiht. Ein verschärftes Kartellrecht und der Einzug des Fernsehens in die amerikanischen Haushalte ließen die Umsätze erstmals in der Geschichte sinken. [12] Zumindest die Idole glorreicherer Zeiten blieben dem Kino erhalten und färbten mit ihrem Glanz auf vergleichsweise neue Gesichter wie Marilyn Monroe, Audrey Hepburn und Shirley MacLaine ab. Die Romance wurde in dieser Phase gleich von mehreren stilbildenden Regisseuren geprägt. Billy Wilder wechselte spielend zwischen abstrusen Komödien und ernsten Dramen [13] dem Melodrama drückte der deutsche intellektuelle Douglas Sirk seinen Stempel auf, wie kaum ein zweiter. [14] Die Romantic Comedy erlebte zwischen 1954 und 1964 eine Blütezeit. Viele Filme dieser Ära zählen heute als zeitlose Klassiker, darunter Frühstück bei Tiffany, Bettgeflüster und Manche mögen‘s heiß. Mit Audrey Hepburn, Doris Day und Marilyn Monroe sind diese mit den größten Stars der Romance dieser Zeit besetzt, die jeweils einen eigenen Frauentyp widerspiegelten. Marilyn gilt mit ihren üppigen Kurven noch heute als größtes Sexsymbol aller Zeiten, die ihr von 20th Century Fox verordneten Rollen bestachen eher durch unbedarfte Naivität und Charme, denn durch Geist. Dazu setzte Audrey Hepburn als ausnehmend elegante Europäerin in wortgewandten Rollen einen direkten Kontrapunkt. Doris Day hingegen war als Amerikas konservative Ikone berühmt geworden und stärkte diesen Ruf mit jedem Film, in dem sie ihre jungfräuliche Ehre (teilweise unter großen Anstrengungen) gegen männliche Unzucht verteidigte und bis zur Heirat bewahrte. Die Entzauberung der Liebe Die gesellschaftlichen Umbrüche der späten Sechziger Jahre beeinflussten auch die Filmindustrie. Mit der Stärkung der Frauenrechte in den USA ging neben einem erstmaligen Anstieg der Frauenerwerbsquote auf über 50% [15] auch eine Verdoppelung der Scheidungsrate zwischen 1960 und 1970 einher. [16] 10 Vgl. King 2002: 27 11 Schauspieler wie Humphrey Bogart, Lauren Bacall, Cary Elizabeth Taylor oder Cary Grant gelten bis in die heutige Zeit als die Filmstars. Ihre Filme werden insbesondere in der New Romance zum vielzitierten Fixpunkt. 12 Vgl. Schatz 2004: 211 ff. 13 z. B. Das Appartement, das er jedoch geschickt in den Mantel der Komödie hüllte. 15 Vgl. Caplow 1994: 124 ff. 14 Vgl. Klinger 1994 16 Vgl. Schultz 1988: 382 f. 127 | Im Fokus In Hollywood hielt eine neue Generation Filmemacher Einzug, und mit ihr das maskulin dominierte „Buddy Movie“. Für die plötzliche Abwesenheit von Frauen auf der Leinwand macht Philippa Gates gekränkten männlichen Stolz verantwortlich: „To punish women for their desire for equality, the buddy film pushes them out of the center of the narrative [...]. By making both protagonists men, the central issue of the film becomes the growth and development of their friendship. Women as potential love interests are thus eliminated from the narrative space.” [17] Anette Kaufmann fasst diese Periode aus Sicht der Romance ernüchtert zusammen: „Zu den Verlierern dieses Wandels zählte der Liebesfilm, denn das ‚Buddy“-Kino der ausgehenden 1960er Jahre zeigte wenig Interesse an frauenaffinen Gefühlsfilmen. […] In den Filmen der späten 1960er, der 1970er und der frühen 1980er war das Lieben eine überwiegend frustrierende Angelegenheit mit ungewissem Ausgang. Das Happy End, das [...] zu den Konstanten des klassischen Hollywood Kinos zählt, war fast völlig von der Leinwand verschwunden, […] Lieben [bedeutete] vor allem Desillusionierung.“ [18] Dass große Gefühle, wenn auch aus der Mode, dennoch großen Anklang beim Publikum fanden, zeigt der durchschlagende Erfolg von Arthur Hillers Love Story, der 1970 mit Einnahmen von über 100 Mio. US$ zum erfolgreichsten Film des Jahres wurde. Mit anderen Romances dieser Dekade verbinden ihn dabei gleich mehrere Eigenschaften. Im Gegensatz zu den Romantic Comedies des Goldenen Hollywoods erzählen Filme dieser Phase nur selten die Entstehung einer Beziehung vom Kennenlernen bis zur Paarwerdung. [19] Stattdessen konzentrieren sich die Werke auf schon bestehende Beziehungen, welche Krisen unterworfen werden und an denen sie zumeist scheitern. Das märchenhafte Happily Ever After hält der Überprüfung durch die Realität nicht stand und muss weichen. Die bedeutendsten Darstellerinnen der Romance in diesen zwei Jahrzehnten waren neben der durch Love Story zu Weltruhm gelangten Ali MacGraw, dem Sinnbild des modernen Collegegirls, insbesondere Barbra Streisand und Goldie Hawn. Während Letztere in ihrer unerschütterlich optimistischen Art gleichermaßen zur Geliebten wie zum „Buddy“ wurde und so das Glück in der Liebe finden durfte, war Streisands tiefe, dramatische Liebe stets dazu verdammt, an ihrem Erfolg oder ihren Ambitionen zu zerbrechen. 17 Gates 2004: 24 18 Kaufmann 2007: 9 19 Welche bis dahin das klassische Happy End darstellte. Im Fokus | 128 Die New Romance Nachdem Mitte der Achtziger Jahre wieder erste harmlose Romantic Comedies auf die Leinwand fanden, sollten drei Filme den Siegeszug der New Romance einleiten: Mondsüchtig, Harry und Sally und Pretty Woman. Seitdem finden sich jedes Jahr zahlreiche Liebesfilme in den Kinos: Erfolgreichstes Subgenre unserer Zeit ist zweifellos die Romantic Comedy, doch auch andere Genres gewannen wieder zunehmend an Bedeutung. Die Verfilmung klassischer Literatur führte den Romantic Costume Film zu neuer Blüte, die bekannteste Darstellerin in diesem Subgenre ist heute die Britin Keira Knightley. [20] Das Melodrama wurde insbesondere durch die Verfilmung zahlreicher Romane des Autors Nicholas Sparks wiederbelebt und um zeitgenössische Elemente erweitert. Das Romantic Drama erlebte von allen Sub genres die größte kreative Entwicklung und damit einhergehend die größte thematische Differenzierung innerhalb einer Untergattung. Die Themen reichen hier von Obsession [21], Rassismus und Armut [22] bis hin zu Liebe zwischen Mensch und Maschine. [23] Als einziges 20 Nach ihrem Auftritt in der Abenteuer-Historien-Reihe Fluch der Karibik war sie in mehreren Kostümfilmen zu sehen, darunter dreimal unter der Regie von Joe Wright: Stolz & Vorurteil. 2005; Abbitte. 2007; Anna Karenina. 2012 Andere Auftritte in diesem Genre: Edge of Love – Was von der Liebe bleibt. R: John Maybury. 2008; Die Herzogin. R: Saul Dibb. 2008; Eine dunkle Begierde. R: David Cronenberg. 2011 Subgenre der Romance kann das Romantic Drama auch heute noch regelmäßig Erfolg bei der Verleihung renommierter Filmpreise vorweisen. Konklusion Die zunehmende thematische und künstlerische Standardisierung der amerikanischen Romantic Comedy in den vergangenen 20 Jahren macht das Genre auch für Branchenauszeichnungen zunehmend unattraktiver. Gleichwohl begründet das Genre nach wie vor große Schauspielkarrieren. Darstellerinnen wie Julia Roberts, Meg Ryan, Sandra Bullock und Reese Witherspoon sind – obwohl auch in anderen Genres aktiv und dafür vielfach ausgezeichnet [24] - untrennbar mit der Romantic Comedy verknüpft. Literatur Bordwell, David; Staiger, Janet; Thompson, Kristin (1985): The classical Hollywood cinema. Film style & mode of production to 1960. New York: Columbia University Press. Caplow, Theodore (1994): Recent social trends in the United States, 1960-1990. 1st pbk. ed. 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Karin Sölch Dozentin Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 132 Verhaltensänderung oder doch lieber alte Gewohnheit? „Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung“ sagte schon Heraklit von Ephesus etwa 500 Jahr vor Christus. Dennoch fallen uns Veränderungen oft schwer, vor allem, wenn wir uns bewusst verändern wollen. Für die Etablierung neuer Gewohnheiten, brauchen wir das Verständnis, warum wir so gerne am Alten festhalten sowie das Wissen um die unterstützenden Elemente, die uns eine gewünschte Verhaltensänderung erleichtert. „Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.“ Georg Christoph Lichtenberg (Experimentalphysiker, † 24.02.1799) Wer kennt das nicht: Die guten Vorsätze zum Beispiel zum Jahreswechsel. Zuerst sind wir hochmotiviert bei der Sache, wenn es darum geht etwas in Zukunft anders zu machen, doch dann fallen wir in die alten Gewohnheiten wieder zurück. Vergessen ist der Vorsatz, was bleibt ist ein schlechtes Gewissen, dass es wieder einmal nicht möglich war, ein neues Verhalten beizubehalten. Warum fallen uns Verhaltensänderungen so schwer? Häufig wissen wir, was für uns richtig ist oder besser wäre, tun es aber trotzdem nicht. Echte Veränderungen setzen am Verhalten an und erfordern Wille, Aufmerksamkeit, Zeit, Energie und manchmal auch Mut. Mutig. Felsenspringer in Acapulco, Mexiko (eigenes Foto) Um besser zu verstehen, wie Verhalten nachhaltig verändert werden kann, ist es wichtig zu verstehen wie Lernen funktioniert. Lernen ist ein Prozess, der in einer relativ konsistenten Änderung des Verhaltens oder des Verhaltenspotenzials resultiert, und basiert auf Erfahrung. Lernen findet ausschließlich durch Erfahrung statt. Eine überdauernde Verhaltensänderung erfordert eine Kombination aus neuer Erfahrung und ernst gemeinter Bereitschaft! Manchmal lernen wir auch unbewusst. Wir stellen erst zu einem späteren Zeitpunkt fest, dass wir Wissen oder ein bestimmtes Verhalten erworben haben. So haben wir zum Beispiel unbewusst unsere Muttersprache oder Treppen steigen gelernt. Bei genauerer Betrachtung der Ereignisse in unserem Leben, stellen wir fest, dass wir in bestimmten Situati- 133 | Im Fokus onen eine starke emotionale Reaktion oder eine starke Vorliebe auf etwas zeigen. Wir haben dann etwas unbewusst gelernt und verhalten uns reflexartig, da wir im Laufe unseres Lebens konditioniert wurden. Eine Konditionierung bezeichnet ein Ereignis, dass das Auftreten eines anderen Ereignisses vorhersagt. Ivan Pavlov (1849-1936) war der wissenschaftliche Urvater dieses Lernens durch Konditionierung. Er fand heraus, dass Hunde bereits Speichelfluss entwickeln, wenn sie eine Glocke hören. Dies war möglich, weil es im Vorfeld Futter (das den Speichelfluss auslöste) im Zusammenhang mit dem ertönen einer Glocke gab. Nach einer Weile reichte für den Speichelfluss das Ertönen der Glocke, obwohl kein Futter gereicht wurde. Auf Menschen übertragen bedeutet das beispielsweise, dass jemand bereits aufgeregt ist, wenn er nur daran denkt vor vielen Leuten sprechen zu müssen. Er hat in der Vergangenheit erfahren, dass öffentliches Reden bei ihm das Herz rasen lässt, die Hände befeuchtet oder den Atem stoppt. Im Laufe der Zeit wird der Gedanke an einen Vortrag reichen, um dieselben körperlichen Symptome auszulösen. Wir haben also unbewusst gelernt, dass Vorträge vor anderen Leuten unangenehm sind und erhalten reflexartig bestimmte Körpersymptome. Auch Veränderungen können so eine konditionierte unbewusste Reaktion auslösen, wenn wir beispielsweise in der Vergangenheit erfahren haben, dass Veränderungen mit Arbeit, Durchhalten, Gewissenskonflikten, Mühsal, Ungewissheit, Ernsthaftigkeit oder Schinderei einhergeht. Der Gedanke an eine Veränderung wird mit solchen Erfahrungen automatisch zu einer reflexartigen Vermeidungshaltung führen. Der neue Vorsatz zum Jahreswechsel ist dazu verdammt, schnell wieder in Vergessenheit zu geraten, um alten Gewohnheiten wieder Platz zu machen. Es ist gut nachzuvollziehen, dass nur die wenigsten von uns unter diesen Umständen die ernst gemeinte Bereitschaft verspüren, ein Verhalten langfristig zu verändern. Verhaltensänderungsstraßenschild (eigene Darstellung) Doch wie sieht die Lösung aus, um unser Verhalten dennoch zu verändern? Es geht nur durch neue Erfahrungen bzw. durch neue Konditionierungen. Wir können natürlich ebenso lernen, dass Veränderungen Spaß machen, dass sie Erfolg auslösen, Glück erzeugen und zufrieden machen. Dazu ist es hilfreich, bewusst mit Verstärkern zu arbeiten. Ein Verstärker ist zum Beispiel eine Belohnung, die wir uns selber gönnen, oder die uns ein anderer schenkt. Eine solche Belohnung nennt man auch „positiven Verstärker“, er unterstützt das automatische Verhalten, das wir wollen. Es gibt auch negative Verstärker. Im Fokus | 134 Eine negative Verstärkung erzeugen wir oft unbewusst, nämlich immer dann, wenn wir einem auslösenden Ereignis aus dem Weg gehen. Wenn derjenige, der ungern vor vielen Leuten spricht, solche Situationen vermeidet, dann entkommt er dem Herzrasen, den feuchten Händen und der Atemlosigkeit. Unbewusst verstärkt er sein Verhalten, wenn er unangenehmen Situationen einfach ausweicht. Die Folge der Vermeidung ist, dass wir sozusagen immer belohnt dafür werden, wenn wir „ ins Vermeiden“ gehen. Es hilft demnach nicht, sich weiterhin vor scheinbar unangenehmen Situationen zu drücken. Wir müssen neue Erfahrungen wollen und zulassen, um neu konditioniert zu werden. Wenn wir unser Verhalten ändern wollen, dann ist es hilfreich bewusst, mit positiven Verstärkern zu arbeiten. Das bedeutet, dass wir neue Erfahrungen entsprechend belohnen z. B. mit einem Spaziergang in der Natur, einem guten Buch oder hervorragendem Essen, je nachdem womit wir uns wohl fühlen und was unser Herz glücklich macht. Ebenso wichtig für eine Verhaltensänderung wie die Belohnungen, ist auch ein wirklich großes Verlangen nach der Veränderung. Ein starker, fester Wille, ab jetzt wirklich anders zu handeln. Viele Menschen lernen diesen eisernen Willen kennen, wenn schwere Schicksalsschläge wie beispielsweise eine schwere Krankheit oder eine Kündigung zu neuem Handeln zwingen. Diese sogenannten „teachable moments“ lösen alte Gewohnheiten ab, weil wir auf eine neue unvorhersehbare Situation schnell reagieren müssen. Allerdings wäre es schlimm, wenn wir Veränderungen nur mit einem Schick- salsschlag erfolgreich umsetzen könnten. Natürlich geht es auch anders und auch der Vorsatz zum neuen Jahr hat eine gute Chance wirklich auf Dauer umgesetzt zu werden. Dafür ist es wichtig, in uns hineinzuhorchen. Wenn ein neues Verhalten schwer fällt, zum Beispiel die Umsetzung des Vorsatzes mehr Sport zu treiben, dann findet unser Unterbewusstes noch zu viele Vorteile am „faul sein“ anstatt Sport zu treiben. Die Vorteile, die für mehr Sport sprechen, kennt unser Bewusstsein oft nur zu gut, darum gibt es auch diesen Vorsatz. Aber vielleicht bedeutet mehr Sport zu treiben auch weniger Zeit mit der Familie zu verbringen, was das Unterbewusste auf gar keinen Fall will. Die Argumente für das alte Verhalten liegen leider oft nicht sofort auf der Hand. Es gilt also genau zu erforschen, was das Bedürfnis beziehungsweise der versteckte Gewinn ist, um am Alten festzuhalten. Gäbe es keinen versteckten Gewinn in der alten Verhaltensweise, dann hätten wir unser Vorhaben schon lange erfolgreich in die Tat umgesetzt. Wenn das Bedürfnis, das hinter dem versteckten Gewinn steht, erkannt ist, dann gilt es auch dieses weiterhin zu befriedigen, also in diesem Fall sowohl Sport zu treiben, als auch Zeit mit der Familie einzuplanen. Bleibt noch der Gedanke der Verhältnismäßigkeit. Manchmal ist es hilfreich, nicht sofort die totale Veränderung zu wollen, sondern in kleinen Schritten den Weg der Veränderung zu gehen. Wir sind bei kleinen Schritten schneller erfolgreich, was wiederum unsere Motivation erhöht weiter zu machen. Manchmal ist es nützlich sich von anderen Menschen dabei unterstützen zu lassen. 135 | Im Fokus Menschen verhalten sich „unter Aufsicht“ anders. Die Wissenschaft nennt das den „Hawthorne-Effekt“ [1]. Das bedeutet, dass wir unser Verhalten ändern, wenn wir meinen, dass wir unter Kontrolle stehen. Das können wir auch für eine Verhaltensänderung nutzen, indem wir unser Vorhaben möglichst vielen Menschen mitteilen. Na dann geben wir neuen Verhaltensweisen doch die Chance für neue gute Erfahrungen und machen ab morgen etwas anders als sonst, dann ist es übermorgen eine neue Gewohnheit, eine, die wir schon immer haben wollten. Es spielt dabei gar keine große Rolle, ob die Eingeweihten uns regelmäßig nach unseren Fortschritten fragen oder nicht. Wichtig dabei ist nur, dass durch die Veröffentlichung unserer Vorsätze die Möglichkeit besteht, dass wir beobachtet werden, was uns das neue gewünschte Verhalten erleichtert. Literaturhinweise Eine echte Veränderung ist also möglich, sie erfordert allerdings Aufmerksamkeit, Zeit und Energie sowie ein wirkliches Wollen. Auch eine positive Konditionierung kann zur Gewohnheit werden und reflexartig sich richtig gut anfühlen. Denken wir doch nur an Schokolade, gute Noten, Sport, bestimmte Musikstücke, gesellige Abende, usw. Wie stellt Laufer so treffend fest: „Entwickeln von Verhaltensgewohnheiten: Durch Kennenlernen zur Kenntnis. Durch Anwenden zum Können. Durch Wiederholen zur Gewohnheit.“ 1 Der Hawthorne-Effekt ist ein Phänomen der gruppenbasierten Beobachtungsstudien, das in den 1920er Jahren bei Experimenten in den Hawthorne-Werken (Illinois, USA) entdeckt wurde. Er besagt, dass die Teilnehmer einer Studie ihr natürliches Verhalten ändern, weil sie wissen, dass sie an einer Studie teilnehmen und unter Beobachtung stehen. Diesbrock, Tom (2011): Ihr Pferd ist tot? Steigen Sie ab!, Wie Sie sich die innere Freiheit nehmen umzusatteln, Campus, Frankfurt/Main Gerrig, Richard J., Zimbardo, Philip G. (2008): Psychologie, 18. Aufl., Pearson Studium, München Gulder, Angelika (2013): Finden den Job, der Dich glücklich macht, von der Berufung zum Beruf, Campus, Frankfurt/Main Krelhaus, Lisa (2012): Wer bin ich – wer will ich sein?, Ein Arbeitsbuch zur Selbstanalyse und Zukunftsgestaltung,8. Aufl., mvg, München Laufer, Hartmut (2005): Grundlagen erfolgreicher Mitarbeiterführung, Gabal, Offenbach Roth, Gerhard (2011): Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern, 6. Aufl., Klett-Cotta, Stuttgart Seligman, Martin E. P. (2012): Der Glücks-Faktor, warum Optimisten länger leben, 9. Aufl., Bastei Lübbe, Köln Im Fokus | 136 Storch, Maya (2005): Das Geheimnis kluger Entscheidungen, Goldmann, München Tiggelaar, Ben (2010): Träume, Wage, Tun - Wie Sie den schwierigsten Menschen der Welt managen: sich selbst, Gabal, Offenbach Zeug, Katrin (2013): Mach es anders! Neue Gewohnheiten zu etablieren ist einfacher, als alte abzulegen, ZEIT Wissen Nr. 02/2013, in: http://www.zeit.de/ zeit-wissen/2013/02/Psychologie-Gewohnheiten/ seite-4, (Letzter Zugriff: 16.09.2014) Karin Sölch Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H München Mediadesign Hoschschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Medien- und Kommunikationsmanagement Stricken zur Primetime – Das Phänomen Slow TV aus Norwegen Prof. Dr. Bert Neumeister Dozent Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement Mediadesign Hochschule Berlin Im Fokus | 139 Stricken zur Primetime – Das Phänomen Slow TV aus Norwegen „Wer Fernsehen zu seinen Hobbys zählt, steht vermehrt unter Zeitdruck: Je rascher man sich durch die neue Staffel von „House of Cards“ gearbeitet hat, desto schneller kann man sich der neuen Serie „Better call Saul“ auf Netflix widmen. Und dann warten da noch zehn Folgen von „Breaking Bad“ auf DVD, die man sicher bis zum Mittwoch geschafft hat, um rechtzeitig das Finale von „Mad Men“ anzusehen – und nebenbei bloß nicht den viel besprochenen Pilot von „The Man in the High Castle“ auf Amazon verpassen, um mitreden zu können. 22 Knoten Geschwindigkeit – als Direktübertragung zu bester Sendezeit. Seiner Lieblingsserie im Fernsehen zu folgen, war lange Zeit eine langsame und fremdbestimmte Tätigkeit. Man musste eben eine Weile warten und sich in Geduld üben, um die nächste Folge in einer Woche am gewohnten Sendeplatz sehen zu können. Der Begriff „langsam“ hat in unserer hektischen TV-Landschaft einen durchaus negativen Klang wie etwa „ich war zu langsam, um mit der Serie Schritt zu halten“ – so aber nicht in Norwegen, wo Slow TV sich zu einem kulturellen Phänomen entwickelt hat. Wie es scheint, haben unsere skandinavischen Nachbarn das Fernsehen als eine ruhige und im wahrsten Sinne des Wortes zerstreuende Aktivität zurückerobert. Sie sehen sich ohne jegliche Zwischenschnitte oder Zeitraffer eine mehrstündige Zugfahrt von Bergen nach Oslo an oder ein durchgängiges fünf Tage dauerndes Programm, welches die Reise eines Schiffs auf der Hurtigrute entlang der Küste zeigt. Fjord für Fjord und Hafen für Hafen von Süden nach Norden mit gemächlichen Mehrstündige Zugfahrt von Bergen nach Oslo. (Quelle: http://www.nrk.no/) Selbst acht Stunden live Stricken – vom Scheren eines Schafs, über das Spinnen der Wolle bis zum fertigen Pullover – entpuppte sich als überraschender Publikumserfolg. Hierbei gibt es am nächsten Tag sicher nicht viel darüber in norwegischen Kaffeeküchen den Kollegen zu erzählen, die Clips daraus werden sich in den sozialen Medien kaum viral verbreiten und es wird selten Konflikte geben, wenn ein Kollege das überraschende Ende der Sendung schon im Voraus verrät. Die Seherfahrung ist dafür viel weniger gehetzt und intensiver. 140 | Im Fokus britischen Fernsehmacher der BBC versuchen mit The Canal – einer zweistündigen Kanalfahrt auf der Themse – ihr Publikum zu begeistern. Der Bayerische Rundfunk startete kürzlich das erste deutsche Slow TV-Projekt mit der Sendereihe MORA. In sehr langsamen Einstellungen konnten die Zuschauer einem schweigenden, in seine Arbeit vertieften Uhrmacher bei der Entstehung einer Taschenuhr beobachten. Acht Stunden Live-Stricken (Quelle: http://www.nrk.no/) (Quelle: http://www.nrk.no/) Vielleicht ist es an der Zeit lange Aufmerksamkeitsspannen zu der Liste an Qualitäten zu setzen, welche die Norweger mutmaßlich für sich entdeckt haben. Es stellt sich die Frage, ob sich Slow TV auch in weiteren Ländern etablieren kann. Besitzen Fernsehzuschauer in anderen Nationen auch so viel Nervenstärke, um Freude an der Monotonie von Pulloverstricken und herunterbrennenden Lagerfeuern im Hauptabendprogramm zu finden? Sender in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Deutschland versuchen gerade diese These zu überprüfen. Der Travel Channel in den USA wird am 27. November 2015 Slow Road Live, eine zwölfstündige Reise mit dem Wohnmobil durch die einsamen Weiten des Mittleren Westens zeigen. Das Datum ist bewusst gewählt, denn am sogenannten Black Friday beginnt die Rabattschlacht in den Einkaufszentren und die Konkurrenz um Schnäppchen und Parkplätze. Die Slow TV ist durch einen Zufall entstanden. Ursprünglich wollten die Produzenten des öffentlich-rechtlichen Senders NRK eine Dokumentation über die Bergen-Linie, jene landschaftlich reizvolle Bahnstrecke zwischen Oslo und Bergen, drehen. Nun fand das Team es schade, das herausgeschnittene Material wegfallen zu lassen. Was würde passieren, wenn man das gesamte M aterial zeigen würde? Die Produzenten beschlossen, das Risiko einzugehen und die Sendung als Innovation zu betrachten. Die erste Slow TV Sendung in Norwegen war tatsächlich sehr neu und anders. Eine an der Spitze des Zuges montierte Kamera filmte durchgängig die Fahrt durch Tunnel, unter Brücken hindurch und über eine Landschaft hinweg, die zwischen Schnee und Gras wechselt. Hin und wieder taucht in der Ferne ein See auf, um dann langsam aus dem Blickfeld zu gleiten. Das monotone Rattern des Zuges auf den Gleisen wird nur manchmal von einer Stationsansage unterbrochen. Die Handlung, wenn man überhaupt von einer sprechen kann, ist simpel und letztlich meditativ. Im Fokus | 141 Anfangs waren die Erwartungen an die Zuschauerzahlen sehr gering. Vielleicht würde nur eine Hand voll Bahn enthusiasten einschalten. Das tatsächliche Ergebnis bezifferte sich auf überwältigende 1,6 Millionen Norweger die zusahen – und das in einem Land mit fünf Millionen Einwohnern. Eine beachtliche Leistung, welche die Fantasie für noch größere und noch langsamere Projekte beflügelte. Als nächstes wurde die Hurtigrute abgefilmt, jede einzelne Minute der gesamten Fahrt, die sich insgesamt auf 134 Stunden und 42 Minuten belief. Dieses Mal wurde die Schiffsreise live ausgestrahlt, was zu einem nationalen Ereignis wurde. Bewohner der Küste winkten dem Schiff zu und versuchten durch ungewöhnliche Aktionen, die Aufmerksamkeit der Kameras auf sich zu lenken. Viele Menschen schwangen Fahnen oder hielten selbstgestaltete Plakate mit Botschaften. Bei dieser Ausstrahlung verdoppelte sich die Einschaltquote auf 3.2 Millionen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Seitdem bescherte NRK seinen Zuschauern weitere Sensationen wie die „Nationale Holzfeuer Nacht“ (ein stundenlanges Herunterbrennen eines Lagerfeuers mit detaillierten Diskussionen über die richtige Methode Brennholz aufzuschichten), eine live „PiepShow“ (kleine Vögel, die in einer Art Miniatur-Kaffee über Stunden herumflattern und Körner verspeisen) sowie die ununterbrochene Ausstrahlung von 899 Kirchenliedern. Ein Fernsehphänomen, das von vielen Kommentatoren und Talkshow-Hosts wie David Letterman weltweit zur Zielscheibe endloser Witze geworden ist. Das war bei diesem ungewöhnlichen Medieninhalt sicher zu erwar- ten. Worin besteht also die Anziehungskraft? Das Slow TV Team des Senders NRK gibt dazu Erklärungsversuche. Die Sendungen sind beruhigend und haben den Charakter von sozialen Ereignissen, die wie beim Lagerfeuer Gefühle nationaler Verbundenheit wecken. Man kann solche Sendungen durchaus im Hintergrund laufen lassen und gleichzeitig anderen Tätigkeiten nachgehen oder auf zusätzlichen Bildschirmen (Laptop, Smartphone) weitere Medieninhalte konsumieren, ohne viel von Slow TV zu verpassen. Nebenbei kann man sich noch mit anwesenden Freunden unterhalten. Slow TV erwartet nichts vom Zuseher: keine durchgängige Aufmerksamkeit und keine Abstimmungen per SMS. Es ist der mediale Gegenentwurf zum hektischen Alltag. Gleichzeitig lässt sich daran auch ablesen, dass das Medium Fernsehen zur Zeit das gleiche Schicksal ereilt wie das Medium Radio als das Fernsehen in den 1960ern populär wurde – es mutiert zum Hintergrundmedium, zu einer Bild- und Tonkulisse ähnlich einer unaufdringlichen Tapete oder den Schallplatten mit Partygeräuschen von James Last, die in den 1970ern so angesagt waren. Obwohl die Slow TV-Bewegung revolutionär erscheint, sind die Ideen dahinter nicht allzu neu. Bewegte Bilder in Realzeit gehen auf die Anfänge der Filmkunst, bis zu den Gebrüdern Lumiére zurück. Ihr Film „Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof von La Ciotat“ von 1896 zeigt fünfzig Sekunden lang genau das, was der Titel ankündigt. In der Neuzeit haben ungeschnittene oder in 142 | Im Fokus Endlosschleife laufende Videos eher Einzug in Kunstgalerien und Museum gehalten und sind nicht Teil der Unterhaltungskultur geworden. Andy Warhol drehte seinen ersten Anti-Film 1963. „Sleep“ zeigte einen schlafenden Mann über mehr als fünf Stunden. Darauf folgte „Empire“, eine über achtstündige Ansicht des Empire State Buildings in New York. Quellen: Das heutige Slow TV scheint dagegen die Grenzen zwischen Unterhaltungs- und Kulturfernsehen zu verwischen. Ebenso fluktuiert die Rolle des Zuschauers vom passiven Rezipienten zum aktiven Gestalter des Programms, indem er aus dem schier endlosen Bildangebot einer achtstündigen Zugfahrt jenen Elementen seine Aufmerksamkeit schenkt, welche ihn faszinieren und andere Elemente übersieht, die ihn unterschwellig nicht berühren. Und wie sieht die Zukunft von Slow TV aus? Wahrscheinlich wird nicht viel passieren. Heritage, Stuart: Slow TV – the Norwegian movement with universal appeal. The Guardian. 04.10.2013. Bevanger, Lars: Norway’s slow TV – now it’s live knitting. Deutsche Welle. 29.10.2013. Gilbert, Gerard: Slow Television – the latest nordic trend. The Independent. 11.02.2014. Hellum, Thomas: Slow TV. NRK. 24.11.2014. Klusak, Detlef: Slow TV – MORA. Bayerischer Rundfunk. 03.03.2015. Merry, Stephanie: A five-day boat ride. Twelve hours of knitting. Are Americans ready for Norway’s Slow TV? Washington Post. 13.03.2015. Okrent, Arika: 4 shows from Norway’s crazy, successful slow TV experiment. The Week. 07.06.2013. Williams, Carol: Slow TV a hit in Norway. Los Angeles Times. 04.10.2013. Prof. Dr. Bert Neumeister Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Berlin Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Medien- und Kommunikationsmanagement Ohne Arme keine Kekse! – Wertewandel (r)evolutioniert Unternehmenskultur und Markenführung Prof. Carola Anna Elias Dozentin Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement Mediadesign Hochschule Berlin Im Fokus | 145 OHNE ARME, KEINE KEKSE – Keine Frage von Materie und Antimaterie! „Die rasante Entwicklung der digitalen und sozialen Medien erfordert ein massives Umdenken in den Unternehmen, denn diese Kanäle ticken einfach anders – es geht um Wahrnehmung, Beziehungspflege und langfristige Kundenentwicklung. Wir haben es hier mit einem neuen System zu tun, das Jeremy Rifkin in seinem Buch „Die Null Grenzkosten-Gesellschaft“, das Aufstreben der kollaborativen Commons nennt. Damit driften wir auf ein Wirtschaftsmodell zu, das bisher als ökonomisches System unweigerlich an die Feudalgesellschaft gebunden war, besser bekannt unter den Begriffen „Sharing Economy“ oder Teil- und Tauschwirtschaft. Dieses Wirtschaftsmodell revolutioniert unser Menschenbild, unsere Weltsicht und unsere Bedürfnisstruktur – als Kunde, als Bürger, aber auch als Chef und Mitarbeiter. Übersetzt auf die heutige Unternehmenslandschaft heißt das, um erfolgreiche, sinnvolle und kreative Markenstrategien zu entwickeln, brauchen wir das nötige Rüstzeug im „Back-Office“. Wir brauchen visionäre, neue Unternehmenskonzepte, gut durchdachte und auf das Unternehmen und den Unternehmenszweck ausgerichtete Strategien und den Mut, Neues auszuprobieren. Wir brauchen keine Kanaldenke, keinen Tunnelblick, sondern 360 Grad Strategien für 360 Grad Kampagnen. Wir brauchen keine Manager, die nur operativ denken, das Pferd von hinten aufzäumen und angesichts der rasanten Entwicklungen im digitalen Bereich in blinden Aktionismus verfallen unter der Prämisse „Wir müssen da auch was machen“. Dadurch hangeln wir uns von Maßnahme zu Maßnahme, trimmen offline auf online, un- terschätzen Ressourceneinsatz und Abstimmungskreisläufe und schädigen unsere Unternehmen oder unsere Marke oft mehr, als sie aufzuwerten. Wir brauchen Manager, die zur Überwindung der Generationenkluft zwischen den Generationen X, Y und Z beitragen, indem sie die unterschiedlichen Kompetenzen effizient bündeln. Wir brauchen Manager, die Wissen und Verständnis für den Wertewandel unserer heutigen und zukünftigen Welt aufbringen, dessen Konsequenzen im Hinblick auf die Unternehmenskultur erkennen und in gänzlich neue Konzepte überführen. Es geht also nicht um den fragmentarischen Blick auf Budgets, Ressourcen oder Medien, es geht um ein grundsätzliches Verständnis von gesellschaftlichen Veränderungen im veränderten Wertekanon! CHANGE. Wertewandel – von egozentrisch zu systemisch! Miteinander statt Wettbewerb, aktiv statt passiv, ein Erstarken von Verantwortung und Gemeinsinn, visionär, sinnvoll, global vernetzt – unser wirtschaftliches Ökosystem verändert sich. Die Egozentik eines Jordan Belfort, besser bekannt als „Wolf of Wall Street“ ist tot, die Leichen der Gier eines Gordon Gecco durchschaut. Heldenverehrung und Götzenbild „blankpolierte Marke“ will keiner mehr sehen – zu langweilig, zu unecht, zu 146 | Im Fokus statusbezogen und zu hochstilisiert. Die Zeiten zentralistischer Strukturen sind längst vorbei. Wir driften heute von hierarchisch, zentral und undurchlässig zu offen, flexibel und durchlässig. Die Generationen Y und Z sind weit weniger materialistisch und vom Konsumismus als „Way of life“ nicht überzeugt. Sie suchen gute Geschichten statt polierte Phrasen, Sinn und Nachhaltigkeit als echtes Statement. Sie gehen wieder auf Spurensuche nach dem Echten, Unverfälschten und schätzen Werte wie Vertrauen und Authentizität. Marketing in Echtzeit über die Verknüpfung von Big Data zu individuell, auf den einzelnen User zugeschnittenen Bedürfnispaketen ist heute nicht nur möglich, sondern wird die Märkte von morgen maßgeblich bestimmen. Und das löst geradezu kleine Revolutionen aus, die uns in Unternehmen und Institutionen zum Umdenken nötigen und gänzlich neue Unternehmensstrukturen und Strategien erfordern. Unternehmen müssen lernen, dass sich unser „Umgebungsbewusstsein“ stark erweitert hat, vom first-screen zum second-screen zum multi-screen – von analog zu digital zu multimedial. Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, sind heute „always on“. Netzwerken gehört real wie digital zum Alltag, denn da wo Familien wegbrechen sucht man neue Ties, Verbindungen, die uns tragen, Anerkennung und Mut zusprechen. Wenn Unternehmen heute also gute Beziehungen zu ihren Kunden und potenziellen Interessenten aufbauen wollen, müssen sie lernen systemisch zu denken und authentische Markenbotschafter aufzubauen, die sich mit dem Unternehmen identifizieren und glaubwürdig ihre Marke vertreten. Das setzt wiederum voraus, dass die Unternehmenskultur von Offenheit und Vertrauen geprägt ist, Werte gelebt werden und die Unternehmensvision von den Mitarbeitern mitgetragen wird. Dieser Spirit muss intern aufgebaut werden, jenseits von Regeln und Guidelines. Das ist Sache des Managements – Ohne Arme eben keine Kekse! Da verändert sich also Vieles, was unsere Unternehmenslandschaft strukturell, inhaltlich und personell revolutionieren wird. Diese Revolution drückt sich vornehmlich durch ein neues, verändertes gesellschaftliches Mindset, also Wertekonstrukt aus. Um die notwendigen Konsequenzen für die Unternehmen richtig einzuordnen, ist es zunächst wichtig, sich dieser Werteveränderungen, dieser Neudefinition bekannter Werte, bewusst zu werden. Schauen wir uns einmal die sechs momentan wichtigsten Werte an, die durch die Zukunftsforscher Rifkin, Wippermann und Horx belegt, momentan unser Denken und Handeln bestimmen und überprüfen wir die Veränderungen zunächst im gesellschaftlichen Kontext. Also was ändert sich und wie werden zukünftig Werte wie Erfolg, Freiheit, Gemeinschaft, Gerechtigkeit, Gesundheit und Natur definiert? Erfolg: Erfolg hieß in den 80gern, 90gern und noch bis Mitte 2000: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“. Profit und Status waren die Götzen, denen man huldigte. Geschafft hatte es, wer viel besaß, denn Besitz und die Verwaltung dessen war das Lebensziel und die damit Im Fokus | 147 einhergehende Macht, wichtige Maxime um mitzuspielen und die eigenen Gesetze aufzustellen. Die Konsequenzen waren allerdings meist wenig Privatleben, kaum Hobbies und die Vernachlässigung sozialer Kontakte – also eigentlich weniger Lebensqualität. Glücksforscher sagen, das unsere Wahrnehmung vom Glück wie eine Glockenkurve steigt, bis zu dem Zeitpunkt, wo ein gewisses Einkommensniveau, dass uns Sicherheit und fundamentale Annehmlichkeiten beschert, erreicht ist. Danach nimmt unsere Wahrnehmung vom Glück aber stetig ab, was bedeutet, dass jeder weitere Zuwachs von Wohlstand uns nicht glücklicher macht. Nun, die Ära des unbegrenzten Wachstums ist vorbei, „genug“ ersetzt heute „mehr“. Lebensziele und Entwürfe verändern sich, vom egozentrischen Erfolg zum systemischen Erfolg. Gesellschaftlich anerkannt ist nicht mehr die Maximierung ökonomischen Gewinns, sondern die Umsetzung von Lebenszielen im ökologischen, ethischen oder sozialen Bereich. Erfolg wird also neu definiert nach dem Motto „Was gut für die Welt ist, ist auch gut für mich“. Mit dem Ziel, die Welt zu verändern, wollen wir gleichzeitig auch uns selbst entfalten und kreativ, sinnstiftend und bodenständig agieren. Für diese Ziele suchen und finden wir Gleichgesinnte, die als Sparringspartner und Coach fungieren und so erreichen wir gemeinsam die gesteckten Ziele. Erfolgreich ist heute, wer seine Netzwerke klug aufbaut, kreativ steuert und kontinuierlich pflegt. Freiheit: Freiheit bedeutete lange mobil und unabhängig zu sein. Das ging nur mit dem eigenen Auto, indem man sich ganz individuell ausdrückte und einrichtete. Vom Kofferraum mit Sportequipment über Getränke und Picknickkorb im Fahrerbereich, Parkscheibe, Eiskratzer, Bücher, CD`s und was man sonst so alles brauchte. Das Auto als mobiles Eigenheim, jederzeit verfügbar! Als Ausdruck von Lifestyle und Status definierte es unser Selbst, egozentrisch! Freiheit heißt heute Sharing. Das Auto dient als gute Metapher für eine gänzlich andere Haltung zu Besitz. Heute definiert sich Freiheit, zumindest im urbanen Raum, als die Möglichkeit schnell, kostengünstig und effizient von A nach B zu kommen. Hohe Benzinkosten und Parkplatznot führen aber dazu, dass das eigene Auto eher eine Beschneidung dieser Freiheit bedeutet. Warum also nicht Drive Now oder Car2Go nutzen und nur dann zahlen, wenn man das Auto wirklich braucht. Individuelle Freiheit speist sich heute aus systemischer Vernetzung und klugem Selbst-Management. Gemeinschaft: Vorbei die Zeiten von Mutter, Vater, Kind, lebenslangen Ehen (mal gut, mal weniger gut) und oftmals nahen, regionalen, räumlichen Verbindungen. Durch die Globalisierung hat eine Art Entfremdung stattgefunden – Entfremdung von der Familie, vom Stamm. Die Konsequenz – Verlust von Nähe, Halt, Geborgenheit. Durch die Konzentration auf Karriere und Weiterkommen blieben familiäre Werte und echte Beziehungen manchmal auf der Strecke. Einmal entlarvt, ist dieses Modell nicht mehr erstrebenswert. Egozentrisch hat also ausgedient und was kommt jetzt? Gemeinschaft zeigt sich heute virtuell aber nah, oft auf 5 Screens gleichzeitig, was für die Generation Z kein Problem darstellt. 148 | Im Fokus Auch wenn wir allein vor dem Fernseher sitzen – wenn wir online sind, sind wir niemals allein. Wir diskutieren über TV-Formate auf facebook, parallel zum Geschehen, sortieren systemisch Freunde und Bekannte – inhaltlich, nach Interessens-, Werte-, oder Stilübereinstimmungen. Innerhalb unserer virtuellen Zirkel können wir gemeinsam lachen, weinen, witzeln, diskutieren oder uns darstellen. Das Internet ersetzt so familiäre Strukturen und gibt uns Halt, Orientierung und Unterstützung. Es erweitert unsere Realität und schenkt uns mehr Spielraum, für unsere eigene Lebenswelt. Das Netz fungiert heute als virtueller Hort von Wärme, Anerkennung und Geborgenheit. Gerechtigkeit: Justizia als Symbol für Gerechtigkeit vor dem Gesetz und und im wirtschaftlichem Miteinander hat bisher mehr oder weniger dafür gesorgt, das gesellschaftliche Regeln nicht verletzt wurden. Vor dem Hintergrund der Skandale an allen Fronten – Steuerbetrug, Markenpiraterie, Verletzung von Lebensmittelvorschriften, Menschenrechten etc. hat Justizia heute aber für Viele ihre Macht verloren. Wenn Gesetze so durchlässig sind, dass sie die Schuldigen immer wieder davon kommen lassen, muss es eine 5. Gewalt geben. Neben Legislative, Exekutive und Judikative hat die 4. Gewalt, die Publikative über die Presse bisher viele Skandale aufgedeckt, aber nun kündigt sich die 5. Gewalt im Staat an. Das ist nicht der Lobbyismus, wie die Zeit titelte, sondern der Verbraucher und sein eigenes System im Netz. Der Film “Inside Wikileaks” hat eindrucksvoll dargestellt, welche Macht Hacker und IT Aktivisten haben können. Aber die jüngste Vergangenheit zeigte auch immer wieder, wie schnell Intransparenz und Fehlverhalten im Netz mit einem Shitstorm geahndet wurden. Wir wollen nicht mehr darauf warten, dass Andere tätig werden, sondern selber aktiv werden, also unsere Ohnmacht in Macht verwandeln. Das Netz wird heute zum Mittel der Wiederherstellung des Gleichgewichts, zum Ausgleich des wirtschaftlichen Öko-Systems. Gesundheit: Basierend auf der Lehre von Darwin, führte uns die natürliche Evolution und der technologische Fortschritt der letzten Jahre, vom Homo Sapiens zum Homo Superior. Es ging um die Optimierung unserer persönlichen geistigen Leistung und unserer physischen Erscheinung. Die Maxime – möglichst lange jung, vital, flexibel sein, das Leben genießen, den Ruhestand auch! Gesund war, wer sommerfrisch, aktiv und beweglich war. „Frisch“ war der Schlüsselbegriff und das Bewusstsein für gute, gesunde Ernährung stark. Ob Bio oder Supermarkt, die Ware musste „attraktiv“ aussehen und zu unserem Wohlbefinden, zu unserer persönlichen, individuellen Optimierung, beitragen – also egozentrisch! Um den Anforderungen heute gerecht zu werden, reicht „frisch“ nicht mehr aus. Aus der attraktiven „Frische“ entsteht heute ein vernetztes Gesundheitssystem mit Kur-Charakter. Wir setzen alles auf RESET, therapieren uns selbst oder besser mit Hilfe des Systems von Peers aller Art auf Plattformen, die uns helfen uns besser zu fühlen oder ärztliche Diagnosen zu prüfen. Entgiftung, grüne Smoothies, Ge- Im Fokus | 149 wichtsreduktion, sportliche Fitness nach Typ sortiert. Wir bewegen uns hin zu einer asketischen Gesellschaft, die sehr dizipliniert die eigene Gesundheit selbst managt. Das Fuel Band von Nike macht vor, wohin die Reise geht. Sensoren erheben unsere physischen Daten und steuern unser Verhalten in Bezug auf Bewegung, Ernährung, aber auch Reisen, Kaufen, Lieben. Unternehmen helfen uns also dabei, auf unsere Bedürfnisse und Wünsche zugeschnittene Informationen zu filtern und damit der überbordenden Informationsflut Herr zu werden. Wir disziplinieren uns, um lange zu leben, allen Herausforderungen der 2. 3. oder 4. Karriere gerecht zu werden. Gesundheit wird heute zum lebenslangen, vernetzten Projekt. Natur: Der Trend zur Natur war nicht zu übersehen. Mit der Sehnsucht der Menschen nach Erdung und Ursprünglichkeit begründeten die Herausgeber der Zeitschrift Landlust 2005 ihren Überraschungserfolg. Auf Hochglanzpapier brilliant in Szene gesetzte Fotos von Bauerngärten, Rezepte aus der Landküche und Anleitungen für die Restauration von Bauernmöbeln, vermittelten ein Lebensgefühl, das in unserer industriell-urban geprägten Gesellschaft offensichtlich verloren gegangen war. Städter sehnten sich nach dem ursprünglichen Leben, nach den guten alten Dingen wie selbst gebackenem Kuchen und Gemüse aus eigenem Anbau. Die Welt-Online sagte 2011: „Noch nie gab es so viele Zeitschriften zum Thema Land und Garten“. Der grüne Markt boomte, Bioläden sprossen aus dem Boden, denn Produkte verkauften sich irgendwie besser wenn ökologisch, biologisch, klimafreundlich oder nachhaltig draufstand. Dabei ging es eigentlich um Entschleunigung, Hingabe, Zuwendung und Aufladung der eigenen Batterien. Es ging also um primär egozentrische Motive, die mehr der Selbstverwirklichung dienten, als dem Allgemeinwohl. Heute denken wir über die eigene Seele hinaus. Es geht uns um Nutzungsbiografien und Wertstoffmanagement und Ressourcenschonung, am besten „cradle to crawle“. Das ist keine Einzelleistung, sondern ein Gemeinschaftsprojekt. Prominentes Beispiel dafür ist „Original Unverpackt“, der erste Supermarkt in Berlin Kreuzberg, der auf Einwegverpackungen verzichtet. Der Kunde füllt seine Produkte selbst ab, in wieder verwertbare Behälter. Dabei gibt es Bio und andere Lebensmittel im Sortiment. Ein neuer, systemischer Ansatz. Abb.1: Original Unverpackt – startnext.de 150 | Im Fokus WE ARE FAMILY. Vom “Business as usual” zum “Business unusual”! Was heißt das nun für Unternehmen? Wie müssen sich Unternehmen verändern, um sich diesen neuen Rahmenbedingungen anzupassen? Unternehmen müssen sich neu definieren, nicht als Paralleluniversum zu Familie und Freizeit, sondern als Ort an dem man gerne sein möchte, sich entfalten kann und wohlfühlt. Die Zukunft der Unternehmensführung und Markenführung liegt im Verständnis für die „systemische“, gemeinschaftliche Auffassung von Business. Dann verstehen wir unsere Lieferanten, Mitarbeiter, Kunden nicht mehr als Stakeholder, sondern als Verbündete. Alles also eine Frage der Unternehmenskultur! Auf dem Weg von egozentrisch und Business as usual zu systemisch und Business unusual haben wir in unseren Studien und Forschungen folgende Prämissen gefunden, die ausschlaggebend zur Erreichung von Zufriedenheit, Loyalität und Bindung von Mitarbeitern sind. Aufmerksamkeit und Wertschätzung schaffen Zufriedenheit, Sinn und eine gemeinsame Mission Loyalität und geteilte Visionen und fairer Umgang miteinander, Bindung. Verknüpfen wir diese sechs Prämissen mit den zuvor diskutierten Wertedefinitionen, ergeben sich für die Unternehmenskultur folgende Ableitungen: Abb.2: eigene Darstellung 1. Aufmerksamkeit/Gesundheit: Schenken Sie Ihren Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten Aufmerksamkeit. Helfen sie dabei, arbeiten und leben in Einklang zu bringen. Machen Sie es ihren Mitarbeitern einfach, sich gesund zu ernähren und so Körper, Geist und Seele fit zu halten. Unterstützen Sie Programme zur Bewegung und nehmen Sie das Thema Gesundheitsmanagement im Unternehmen ernst. Denken Sie daran, sie leben die Unternehmenskultur vor, die sie erzeugen wollen. Aufmerksamkeit zeigt sich natürlich nicht nur in der Auswahl des Kantinenessens und im ausgelassenen Feiern des nächsten rauschenden Firmenfestes. Aufmerksamkeit zeigt sich in der Zeit für Gespräche, dem Verständnis für die Andersartigkeit ohne Bewertung, dem Kennenlernen der Persönlichkeit hinter der Businessfassade. Nähe aufbauen, persönlich sein, echtes Interesse zeigen, aktiv zuhören, das schafft Zufriedenheit bei den Mitarbeitern Im Fokus | 151 und baut Markenbotschafter auf, die in den sozialen Medien auch Ihre Werte mit Begeisterung vertreten können. 2. Wertschätzung/Freiheit: Der Drang nach Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit, flexibler Zeiteinteilung und dem Vertrauen in die selbstverantwortliche Haltung des Einzelnen ist Voraussetzung für das systemische Denken der Zukunft. Mobil, out of office, kein Büroalltag am Schreibtisch, sondern Verschmelzung von Freizeit und Arbeit. Die Entkoppelung von Raum und Zeit in der globalen Vernetzung führt zu neuen, offenen Arbeitsstrukturen. Virtuelle Teams sind nicht nur bei Konzernen, sondern auch im Mittelstand standard geworden und diese neuen Kollaborationsmodelle funktionieren nach anderen Regeln. Da wo man sich nicht täglich sieht und der „small talk an der Kaffemaschine“ ausbleibt, werden Werte wie Vertrauen, Identifikation und Verlässlichkeit zu Schlüsselattributen. Wertschätzung von Zeit als Lebenszeit, Engagement, Motivation und Leistung in Verbindung mit den o. a. Schlüsselattributen wird Personalentwicklung und Mitarbeiterführung in Unternehmen verändern müssen. 3. Sinn/Erfolg: Erfolg heißt heute Verwirklichung individueller Lebensziele, die unserem Dasein Sinn und Zweck verleihen und möglichst im Einklang mit dem Wohl der Gemeinschaft stehen. Cause Related Marketing ist tot, CSR als blasse Attitüde ist tot, Greenwashing wird abgestraft – nur echte Überzeugung zählt. Beispielhaft möchte ich Ihnen einige Projekte vorstellen, die Sinn vor dem Hintergrund der Re-Use Szene zum Unternehmenszweck erkoren haben. Alle findet man im TrenntMagazin der Berliner Stadtreinigungsbetriebe, einem Unternehmen mit dem ich schon seit einigen Jahren erfolgreich zusammenarbeite. In „Peter’s Werkstatt“ in Kreuzberg hat etwas überlebt, das selten geworden ist, das Reparaturhandwerk. Der gelernte Radio- und Fernsehtechniker Peter Dorscheid setzt Technik aus vergangenen Tagen wieder in Stand. berlin-re-cycling ist ein Projekt, das perfekt zu Berlin passt. Die Idee, aus alten Fahrrädern trendige Design lampen zu kreieren, ist der Beginn einer Lichterkette, mit dem Ziel, Berlin zum Leuchten zu bringen. Für das Budapester Schuhlabel Pleasemachine dreht sich alles um Lomtalanítás. Das ist ungarisch und bedeutet Sperrmüll. In ihm fahnden Anna Zaboeva und ihr Team nach Stoff- und Lederresten, die sie in ihrer Werkstatt reinigen, aufarbeiten und zu wunderschönen neuen Schuhen verarbeiten. Wer ein Zeitungs- oder Zeitschriftenabo hat, weiß, wie sehr es in der Seele schmerzt, kaum angerührte Exemplare direkt der Papiertonne zu übergeben. Dank einer fränkischen Schreinerei kann man die Printausgaben aber auch auf einem geölten Birkenholzsockel stapeln, mit langen Lederriemen festziehen, ein Kissen darauflegen, sich auf den Hockenheimer setzen – und eine Zeitung lesen. Nun muss Ihr Unternehmenszweck nicht grundsätzlich „humanitär“ oder „ökologisch“ sein, egal was Sie tun, es kommt darauf an, gemeinsam mit Ihren Stakeholdern nachhaltige Visionen zu leben. 152 | Im Fokus 4. Mission/Gemeinschaft: Wenn Sie Ihre Mitarbeiter zu guten Markenbotschaftern in der peer-to-peer Kommunikation mit Ihren Kunden machen wollen, entwickeln Sie sinnvolle Projekte, Kampagnen und Aktionen. Das schafft Loyalität. Machen sie also Ihre Mitarbeiter zu Sinnstiftern und zum Teil Ihrer Familie. Geben Sie Gestaltungsspielräume und verbinden Sie Spass und Unterhaltung mit Arbeit und Leistung. Denken Sie nicht mehr in Kategorien wie B2B und B2C, sondern werden Sie zum Beziehungsstifter. Entwickeln Sie gemeinsam mit Ihren Mitarbeitern eine Mission, eine Wertebasis. Definieren Sie gemeinsam wofür sie nicht nur stehen, sondern einstehen wollen und unterstützen Sie sich gegenseitig auf dem Kreuzzug! Es geht um H2H , also „human to human“, persönlich, echt, authentisch. Sie wollen loyale Mitarbeiter, seinen Sie loyal und leben Sie ihre Werte vor. 5. Vision/Natur: Bei der Neudefinition des Werts Natur geht es vor allem um Gemeinschaftsprojekte, an denen Viele zum Wohle der Allgemeinheit, zur Aufrechterhaltung des natürlichen Ökosystems arbeiten. Haben Sie keine Angst vor Kontrollverlust bei so viel Demokratie. Gewöhnen Sie sich besser daran, denn es gibt keine Kontrolle. Jedenfalls nicht in dem Ausmaß, dass Sie sich wünschen. Stellen Sie sich die Frage, wovor sie Angst haben – vor dem nächsten Shitstorm, vor unzufriedenen Kunden und vielleicht im Netz zu geschwätzigen Mitarbeitern? Mal ehrlich, da gibt es ein ganz einfaches Mittel zur Lösung: Verhalten Sie sich gut, dann verhalten sich Andere auch gut, das nennt man Resonanzprinzip. Halten Sie es wie Götz Werner von DM mit der Prämis- se: „Einer ist besser als der Andere“, und entwickeln sie keine Vision im Elfenbeinturm, sondern beziehen Sie ihre Crew ein. Lassen Sie Jeden seine oder ihre Rolle im Spiel erkennen, damit demonstrieren Sie Wertschätzung und schaffen Bindung an ihr Unternehmen, ihre Marke. 6. Fairness/Gerechtigkeit: Diese Bindung zeigt sich auch in der Art, wie Sie grundsätzliche Vergütungssysteme gestalten. Unterbezahlt und ausgebeutet wird sich zukünftig nicht mehr rechnen. Die neue Gesellschaftsordnung erwartet fairen Ausgleich für Leistung und teambezogene, projektbezogene Bewertungsverfahren, die sogenannten soft skills ebenso einbeziehen, wie die wichtigen hard facts. Und diese soft skills werden sich auch neu formieren und definieren. Gerechtigkeit wird heute eingefordert. Im Zeitalter von Big Data heißt das, sinnvolle Verwertung und Bewertung schier unendlicher Datenströme auf Basis einer ethisch moralischen Grundhaltung. Und auch das ist eine Frage der Unternehmenskultur. Sie merken, hier wird eine Wertedebatte angestoßen, die Sie maßgeblich positiv mitgestalten können. STRONG TIES. Der Manager als “Homo Empathicus”-H2H2H Schaffen Sie starke Bande, werden Sie zum Beziehungsstifter zum Verbindungsoffizier, zum Relationship Im Fokus | 153 Manager. Denken Sie langfristig in Beziehungslebenszyklen (Annäherung, Aufbau, Reife, Degeneration). Leben Sie Ihre Unternehmenskultur vor, werden Sie zum Vorbild und machen Sie ihre Mitarbeiter zu Markenbotschaftern. Die (R)evolution unternehmerischen Denkens und Handelns drückt sich in drei wichtigen Schlüsselkompetenzen aus, die sowohl intern im Umgang mit Ihren Mitarbeitern als auch extern in der Markenkommunikation mit Ihren Kunden eine große Rolle spielen. Haltung, Handwerk und Hingabe = H2H2H Haltung: Netzwerke und Aktionen erzielen bei Online Usern mehr Mitmach-Effekte, wenn sie glaubwürdig, nachvollziehbar und nachhaltig für eine gelebte Wertehaltung, stehen. Alles, was online ist, ist überprüfbar auf virtuellen Schein oder reale Existenz. Robert (Bobby) De Keyser hat so eine spezielle Haltung in seinem Unternehmen Dedon geprägt und in seinem ersten Buch „Unverkäuflich“ eindrucksvoll beschrieben. Entwickeln auch Sie eine glaubwürdige Haltung und positionieren Sie Ihr Unternehmen und Ihre Marke klar und unmissverständlich. Handwerk: Digitale Plattformen stehen längst im Verdrängungswettbewerb und Ideen-Pioniere werden schnell abgelöst, daher müssen Interface, Design, Look, Sprache, Usability und Inhalte eigenständiger, wertiger und relevanter sein, sonst sind Sie digital austauschbar. Machen Sie es wie Emmas Enkel, setzen Sie auf Handwerk und Persönlichkeit statt Austauschbarkeit und das real wie digital. Nach dem Prinzip des guten alten Tante Emma Ladens haben die Betreiber Benjamin Brüser und Sebastian Diehl ein altes Geschäftsmodell wieder neu aufgelegt. Liebevoll arrangierte Lebensmittel im Laden vor Ort, die „Gute Stube“, ein integriertes Cafe´ zum klönen, diskutieren und relaxen sowie ein Online-Bestell-, und Lieferdienst machen Emmas Enkel zum Systempionier zwischen real und digital. Abb.4: Bobby Dekeyser auf moebelkultur.de Hingabe: Hingabe zu ihrem Produkt, ihrer Dienstleistung, ihrer Marke, ihrem Unternehmen und ihren Mitarbeitern. Das sind die Multiplikatoren, die Sie brauchen, analog und digital. Lieben Sie das, was Sie bewerben, gestalten, betexten, denn gerade im digitalen Pixelraum macht Liebe zum Detail, authentische Sprache und eigene Überzeugung eine Umsetzung lebendig. Das ist besonders wichtig für alles Digitale, was man nie wirklich 154 | Im Fokus berühren kann aber auch für reale Produkte und Investitionsgüter, die Kultcharakter anstreben. Volkswagen zeigt zum Beispiel seine Hingabe zum Kultobjekt „Beetle“ mit der Glamourversion in Gold und Swarowskisteinen. Zum Schluss noch ein paar Zahlen aus der Nielsen/Bitkom-Studie zur Social Media Nutzung 2012. 70% der Konsumenten vertrauen Reviews und Empfehlungen, das ist ein Plus von 15% seit 2008. Nur noch 47% der Konsumenten vertrauen klassischer Werbung, das ist ein Minus von 20% seit 2009. Drei von vier Menschen entdecken neue Produkte durch Reviews und Empfehlungen Ihrer Peergroup oder der Markenbotschafter, die sie für glaubwürdig halten. Das ist ein eindeutiges Signal wohin die Reise geht, oder? Also, bedenken Sie – ohne Arme keine Kekse! Wenn Sie mehr zum Thema Wertewandel und Konsequenzen für die Unternehmens-/Markenführung erfahren wollen, kontaktieren Sie Prof. Carola A. Elias unter c.elias@mediadesign-fh.de Quellen: Rifkin, Jeremy; Die Null Grenzkosten Gesellschaft – Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus; Campus 2014 Wippermann, Peter; Krüger, Jens; Werte-Index 2014; Deutscher Fachverlag 2014 Horx, Matthias; Trendreport 2014; Zukunftsinstitut GmbH 2013 Zahlne und Fakten: Nielsen, Bitcom, Forrester, ARD/ ZDF, Statista, Alexa, facebook.com, social-media-blog. com, PwC Analyse 2012 Weiterführende Literatur: El-Haggar, S.; Sustainable industrial design and waste management. Cradle-to-cradle for sustainable development. Academic Press, Burlington, 2007 Koisser, H. u. a.; Cradle-to-cradle, die nächste industrielle Revolution – Idee, Kritik und Interviews. In: wirks, 1 (2010), S. 5–29. Luther, B.; Cradle to Cradle Product Certification. A Revolution in Product Innovation. In: International Journal of Innovation Science, Vol. 4/2012, Nr. 1, S. 1–9 Homma, N; Unternehmenskultur und Führung: den Wandel gestalten; Gabler 2010 Schein, Edgar H.; Organisationskultur: The Ed Schein Corporate Culture Survival Guide; Humanistische Psychologie 2010 Prof. Carola Anna Elias Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Berlin Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Medien- und Kommunikationsmanagement Steuerliche Abzugsfähigkeit von Kosten für ein Studium – ein Überblick Prof. Dr. Thomas Siegel Dozent Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement Mediadesign Hochschule München Im Fokus | 157 Steuerliche Abzugsfähigkeit von Kosten für ein Studium – ein Überblick „Die nachfolgenden Ausführungen geben einen Überblick über die steuerliche Abzugsfähigkeit von Kosten für ein Studium. Dabei wird zum einen dargestellt, welche steuerlichen Auswirkungen bei Eltern gegeben sein können, wenn diese die Kosten des Studiums ihres Kindes tragen. Zum anderen wird dargestellt, welche steuerliche Abzugsfähigkeit bei den Studierenden selbst gegeben ist, wenn diese die Studienkosten eigenständig tragen. tung im Rahmen zu halten, wollen viele Studierende und deren Eltern den Staat an den Studienkosten beteiligen. Regelmäßig wird deshalb die Frage aufgeworfen: Sind Kosten für ein Studium steuerlich abzugsfähig? Die Antwort auf die Frage kann nur lauten: Es kommt darauf an! Nachfolgend wird in groben Zügen dargestellt auf was es ankommt. Zunächst ist zu prüfen, wer die Kosten für ein Studium geltend machen will: Die Eltern, die die Kosten für das Studium ihres Kindes aufwenden oder das studierende Kind, welches die Studienkosten selbst trägt. Das Geltend machen eines sogenannten „Dritt aufwandes“ (Zahlung durch Eltern, Abzug beim Kind – oder umgekehrt) ist in der Regel nicht möglich. Es gibt aber Ausnahmen, wenn nur der Zahlungsweg abgekürzt werden soll. Abzugsfähigkeit bei den Eltern Steuerliche Abzugsfähigkeit von Studienkosten Ein Studium ist eine Investition in die berufliche Zukunft. Die Kosten für ein Studium umfassen neben den Studiengebühren die Kosten für Bücher, Zeitschriften und technischen Bedarf (PC, Laptop). Weiterhin können Ausgaben anfallen für Fahrt- und Reisekosten zur Hochschule bzw. zu Exkursionen, die nicht von der Hochschule getragen werden. Um die finanzielle Belas- Tragen die Eltern die Kosten für das Studium des Kindes, ist zu unterscheiden, ob das Kind das 25. Lebensjahr vollendet hat oder nicht. Hat das Kind das 25. Lebensjahr nicht vollendet, können die Eltern die ihnen entstandenen Kosten für das Studium nicht in tatsächlicher Höhe steuerlich geltend machen, vielmehr werden die Aufwendungen mit der Gewährung der Freibeträge für Kinder (§ 32 EStG) 158 | Im Fokus Prof. Dr. Thomas Siegel, Mediadesign Hochschule München abgegolten. Der Kinderfreibetrag beträgt derzeit EUR 2.184, der Betreuungsfreibetrag EUR 1.320 jeweils pro Elternteil pro Kind. Während des Jahres erhalten die Eltern von der Familienkasse für die Kinder zunächst das Kindergeld ausbezahlt. Im Rahmen einer eventuell durchzuführenden Einkommensteuererklärung wird von Amts wegen geprüft, ob es beim Kindergeld bleibt oder die Kinderfreibeträge steuerlich berücksichtigt werden. Ist das studierende volljährige Kind auswärtig untergebracht, erhalten die Eltern noch einen Ausbildungsfreibetrag in Höhe von derzeit EUR 924 (§ 33 a Abs. 2 EStG). Das Einkommen des Kindes sowie die tatsächlich entstandenen Kosten für das Studium spielen bei der Gewährung dieser Vergünstigungen keine Rolle. Für behinderte Kinder erhalten die Eltern die o. a. steuerlichen Freibeträge auch über das 25. Lebensjahr hinaus. Hat dagegen das Kind das 25. Lebensjahr vollendet, entfallen die o. a. steuerlichen Vergünstigungen, nunmehr können die Eltern nur die tatsächlich entstandenen und nachgewiesenen Aufwendungen als außergewöhnliche Belastungen (§ 33a Abs. 1 EStG) geltend machen. Der zu berücksichtigende Höchstbetrag beläuft sich auf EUR 8.354 pro Jahr. Dieser Betrag wird um die Einkünfte und Bezüge (auch BAföG-Leistungen) des Kindes gekürzt, soweit diese EUR 624 übersteigen. Zudem darf das Kind kein wesentliches eigenes Vermögen besitzen. Abzugsfähigkeit beim Kind Trägt das Kind die Kosten für sein Studium selbst, muss bei diesem geprüft werden, ob es eine steuerliche Auswirkung gibt. Grundsätzlich muss zunächst unterschieden werden, ob es sich um ein Erststudium oder um ein Zweitstudium handelt. Die Kosten für ein Erststudium sind grundsätzlich nicht als (vorweggenommene) Betriebsausgaben (§ 4 Abs. IX EStG) oder Werbungskosten (§ 9 Abs. 6 EStG) abzugsfähig. Der Gesetzgeber gewährt einen Sonderausgabenabzug (§ 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG) der nachgewiesenen Kosten bis maximal EUR 6.000 pro Jahr. Das klingt großzügig, geht aber in den meisten Fällen ins Leere, weil dieser Sonderausgabenabzug nur mit Einkünften des studierenden Kindes im selben Jahr verrechnet werden darf. Eine Akkumulation bis zum Ausbildungsende und der Verrechnung mit den nach der Ausbildung entstehenden Einnahmen sieht das Gesetz nicht vor. Anders sieht es bei den Kosten für ein Zweitstudium aus. Klassisch erfasst davon ist das Master-Studium im Anschluss an ein Bachelor-Studium. Die Kosten hierfür sind in vollem Umfang als vorweggenommene Werbungskosten oder vorweggenommene Betriebsausgaben abzugsfähig. Ebenso sind Kosten für ein erstes Studium voll abzugsfähig, wenn eine „Erstausbildung“ zuvor absolviert wurde. Was eine Erstausbildung in diesem Sinne ist, war lange umstritten, ab 2015 wurde der Begriff gesetzlich definiert (§ 9 Abs. VI EStG). Danach muss diese mindestens 12 Monate bei vollzeiti- Im Fokus | 159 Steuerliche Abzugsfähigkeit von Studienkosten ger Ausbildung dauern und mit einer Abschlussprüfung beendet werden. In diesem Fall ist es wichtig, dass die Kosten für das Studium im Rahmen der abzugebenden Einkommensteuererklärung erklärt werden. Oft ergeben sich dabei keine Einkommensteuererstattungen, weil meist keine oder geringe Einnahmen vorliegen. Die bis zum Ende des Studiums aufgelaufenen Verluste können aber dann gegen die (hoffentlich hohen) Einnahmen nach dem Studium verrechnet werden. Die Behandlung der Kosten für ein Erststudium als Sonderausgaben ist möglicherweise verfassungswidrig und liegt dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor. Sollte das Gericht die Verfassungswidrigkeit bejahen, können unter Umständen auch zurückliegende Jahre geändert werden und die damals entstandenen Ausgaben als Werbungskosten berücksichtigt werden. Dazu ist es erforderlich, dass der Steuerpflichtige die Kosten des Erststudiums (aus heutiger Sicht) fälschlicherweise als Werbungskosten erklärt. Wenn das Finanzamt statt der Werbungskosten lediglich Sonderausgaben ansetzt, ist seitens des Steuerpflichtigen ein Einspruch mit Verweis auf das anhängige Verfahren einzulegen. Sobald das Urteil des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht wird, wird das Finanzamt über den Einspruch von Amts wegen im Sinne des Urteils entscheiden. Diese Ausführungen können nur einen Überblick geben. In Einzelfällen kann die steuerliche Handhabung komplizierter sein – z. B. bei Auslandssachverhalten. In jedem Fall rät der Autor steuerliche Beratung einzuholen. Prof. Dr. Thomas Siegel Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H München Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Medien- und Kommunikationsmanagement Memetik: Vom Erklärungsmodell zum Viralen Marketing zum Internet-Mem Prof. Dr. J. Martin Dozent Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement Mediadesign Hochschule Düsseldorf Im Fokus | 162 Memetik: Vom Erklärungsmodell zum Viralen Marketing zum Internet-Mem Mit der Konstruktion und Distribution von »Memen« wurde in der Werbung eigentlich immer schon gearbeitet, auch wenn Meme noch nicht Meme hießen und die benutzten Mechanismen nicht unbedingt die gleichen waren. Meme sind keine »Erfindung«, sondern ein Beschreibungsmodell. Wissenschaftliche Modelle dienen dazu, ein Phänomen zu beschreiben, um das, was es tut, wie es das tut und warum es das tut schlüssiger zu erklären als existierende Modelle. Dazu muss das Modell unter anderem auch in der Lage sein, verlässlich und wiederholbar Voraussagen zu treffen, wie das Phänomen sich unter welchen Bedingungen verhalten wird. Memetik begann vielversprechend, teilweise spektakulär; Susan Blackmores The Meme Machine gibt gleichzeitig eine Einführung und einen Überblick über den Forschungsstand. Und der ist leider weitgehend aktuell, obwohl das Buch 1999/2000 erschienen ist. In den fünf Folgejahren hat sich nur wenig bewegt, und seit zehn Jahren hat sich auf dem Forschungsgebiet der Memetik tatsächlich so gut wie gar nichts mehr verändert. Unklar ist, woran es liegt — ob nicht genügend Forschungsgelder fließen oder ob der Mangel an Publikationen darauf hindeutet, dass Memetik das Schicksal von String Theory teilen wird als ewig vielversprechende Theorie, die sich asymptotisch auf den entscheidenden Durchbruch zubewegt, der nie passiert. Memetik, in sehr groben Zügen kurz skizziert — was das Eigenstudium aber weder ersetzen kann noch soll — ist ein Modell zur Erklärung der Evolution und »Fitness« von Sinneinheiten. Ein Mem kann zum Beispiel eine Idee sein, ein Gedanke, ein Witz und vieles andere, das durch Kommunikation weitergegeben wird und sich dadurch vervielfältigt. Meme können sich auch zusammenschließen zu immer komplexeren Gebilden, sogenannten »Memplexen«, über die sich ganze Lebensanschauungen und Weltbilder in Gesellschaften »vermehren«. Den Anstoß zur Entwicklung dieses Modell gab Richard Dawkins 1976 in seinem Buch The Selfish Gene in Analogiebildung zur Vervielfältigung von Genen. Gene tragen durch Replikation zur biologischen Evolution von Organismen bei, Meme zur soziokulturellen Evolution von Ideen, und beiden Konzepten liegen Mechanismen von 163 | Im Fokus Veränderung und Anpassung an die biologische bzw. soziokulturelle »Umwelt« zugrunde. Auch die Sinneinheit der dem memetischen Modell zugrundeliegenden »Idee des Mems« selbst konnte sich so stark vervielfältigen, dass Sinneinheiten, insbesondere visuelle Sinneinheiten in Form von Bildern, die in kürzester Zeit millionenfach im Internet geteilt und vervielfältigt werden, sich im Sprachgebrauch als »Internet-Meme« etablieren konnten, ohne dass notwendigerweise das memetische Modell hinter dieser Idee überhaupt bekannt ist. Aber selbst wenn bislang, wie erwähnt, die Forschungsergebnisse der Memetik zugegebenermaßen vergleichsweise dürftig sind, reichen sie völlig aus, um auf der Basis dieses Beschreibungsmodells Strategien entwickeln zu können. »Nicht nur in der Werbung«, ließe sich hinzufügen, aber in einem stark erweiterten Sinne wäre diese Einschränkung nicht korrekt. Denn alles ist letztendlich »Werbung« aus der Perspektive der Propagation von Information bzw. von Informationseinheiten, um bestimmte Handlungen auszulösen. Von denen wird gleich noch die Rede sein. Zunächst setzen Werbeagenturen mit ihrer Werbung oft auf bereits populären Memen auf, die einer hinreichenden Menge potenzieller Kundinnen und Kunden hinreichend bekannt sind, um über dieses Mem direkt an ihre Aufmerksamkeitshorizonte und Lebenswirklichkeiten anzuknüpfen. Auf der anderen Seite versuchen Werbemenschen natürlich auch und in vielen Bereichen sogar vornehmlich, eigene, »konstruierte« Meme zu diesem Zweck in Umlauf zu bringen und auf diesem Weg erst populär zu machen. All dies wurde ursprünglich, entlang der Geschichte der Werbung, nicht entlang des Beschreibungsmodells der Memetik geplant und durchgeführt, und sicherlich wird dies in vielen Agenturen auch weiterhin nicht getan. Kommunikationsagenturen jedoch mit Schwerpunkten wie Virales Marketing oder Word-of-Mouth-/Empfehlungsmarketing arbeiten oft mit Memetik und wissen, was sie tun und warum sich dieses Beschreibungsmodell für das Planen viraler Strategien besonders eignet. Als Unternehmens- und Markenkommunikation bis spät ins zwanzigste Jahrhundert noch von Massenmedien geprägt war, nahmen Virales Marketing und Empfehlungsmarketing noch vergleichsweise untergeordnete Rollen ein. Aber durch zwei einschneidende mediale Entwicklungen im Übergang vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert, nämlich Fragmentierung der Kanäle und Interaktivität vom Internet bis zum Web 2.0 und Social Media, gewannen diese Formen des Marketings zunehmend an Bedeutung — und damit auch das Modell der Memetik. Interaktivität bedeutet, dass klassische Stimulus-Response-Modelle in den Neuen Medien und speziell im Social Web nur noch begrenzte Wirkungs- und Erklärungskraft im Kontext von Produkt- und Markenkommunikation besitzen. Fragmentierung bedeutet, dass Im Fokus | 164 Replicators | Photo by J. Martin CC-BY-NC-SA Mass Consumers | Photo by J. Martin CC-BY-NC-SA klassische Werbestrategien rapide an Reichweite und Wirkung verlieren durch das Zerfallen ursprünglich monolithischer Massenmedien in zahllose Kanäle, über die bei steigenden Aufwänden nur noch Bruchteile der Zielgruppe erreicht werden können. reist nur »Huckepack«, und wenn das Mem sich erfolgreicher replizieren kann, indem es die Handlungsanweisung der Werbebotschaft »abwirft«, dann wird genau das passieren. Das Geschichte des Viralen Marketings ist voller Beispiele von Memen mit fantastischem Bekanntheitsgrad, ohne dass sich irgendjemand an die ursprünglich damit verknüpfte Produkt- oder Markenbotschaft erinnern würde. Und wenn ein Mem sich besser replizieren kann, indem es andere Botschaften »an Bord nimmt«, die der intendierten Werbebotschaft und Handlungsanweisung sogar aktiv zuwiderlaufen, wird auch das unweigerlich passieren – und passiert tatsächlich auch mit ausreichend hoher Frequenz, um Krisen-PR-Abteilungen beschäftigt zu halten. Im Zuge dieser Entwicklungen und ihrer Konsequenzen wurde Memetik als Modell und als Strategie zunehmend attraktiver. Bei alldem darf jedoch nicht vergessen werden, und hier spielen die anfangs erwähnten »Handlungen« eine Rolle, dass Meme gewissermaßen »eigene Interessen« haben. Dies ist tatsächlich eine fundamentale Grundannahme im Modell der Memetik, die oft vergessen wird. Meme sind nicht daran »interessiert«, einen Kaufimpuls auszulösen, Meme sind daran »interessiert«, sich zu verbreiten und zu replizieren, und dazu ist ihnen jedes Mittel recht. Natürlich haben Meme keinen »Handlungswillen« und keine »Interessen« oder »Intentionen«, aber innerhalb des Modells lassen sie sich so beschreiben — genau wie »Gene« im Rahmen der Mechanismen der Evolutionstheorie weder Intelligenz noch einen Willen noch Intention besitzen, sich aber innerhalb des Evolutionsmodells in ihrem Verhalten ganz ähnlich produktiv beschreiben lassen. Aber es darf nicht in die Irre führen: Weder Meme noch Gene »handeln« oder haben einen »Willen«. Wichtig ist, dass ein Mem ein Replikator ist, der in erster Linie sich selbst repliziert, völlig unbeeindruckt davon, auf welche Weise versucht wird, es als Werkzeug zu benutzen. Die Werbebotschaft mit Handlungsanweisung Werbung kann existierende Meme für ihre Zwecke einspannen und selbst neue Meme konstruieren. Werbung kann Meme aber nicht in dem Maße steuern und kontrollieren, wie Agenturen und ihre Kreativkräfte es sich selbst und ihren Kunden gelegentlich einreden möchten. Prof. Dr. J. Martin Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Düsseldorf Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Medien- und Kommunikationsmanagement #ECGBL 2014: Bericht von der 8. Europäischen Konferenz für Game-Based Learning Prof. Dr. J. Martin Dozent Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement Mediadesign Hochschule Düsseldorf Im Fokus | 167 #ECGBL 2014: Bericht von der 8. Europäischen Konferenz für Game-Based Learning Im vergangenen Oktober nahm ich mit großzügiger Unterstützung der Mediadesign Hochschule an der 8. Europäischen Konferenz für Game-Based Learning ECGBL 2014 in Berlin teil, mit der 5. Internationalen Konferenz zur Entwicklung und Anwendung von Serious Games SGDA 2014 als Satellitenkonferenz. Die ECGBL ist für mich besonders wichtig, da ihre inhaltliche Ausrichtung sich wie kaum eine andere Konferenz mit meiner Forschungsarbeit zu spielbasierten virtuellen Lehr- und Lernsystemen der Zukunft deckt. Vorauszuschicken wäre, warum dieser Blogpost etwas auf sich warten ließ: Der Grund war ein selbstauferlegtes Blogging-Moratorium im Zuge der Vorgänge um #GamerGate — solange Menschen, mit denen ich professionell und persönlich verbunden bin, mit Mord- und Terrordrohungen an öffentlichen Auftritten gehindert und in mehreren Fällen sogar zum Verlassen ihrer Wohnungen genötigt wurden, erschien es mir nicht angemessen, den positiven Beitrag von Games und speziell Video Games auf Bildung, Erziehung und Gesellschaft anzupreisen und zu propagieren, wie Games uns klüger machen und gesellschaftliche und technische Innovation vorantreiben. Einführendes dazu hier und vorläufig Abschließendes hier. Ort der Konferenz war der Campus Wilhelminenhof der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Berlin, von der die Veranstaltung auch ausgerichtet wurde. Der Campus selbst, gelegen inmitten eines stillgelegten Industriegeländes, ist geradezu spektakulär — einschließlich der direkt am Spreeufer gelegenen »Strand-Mensa«. Eröffnet wurde die Konferenz von Dr.-Ing. Carsten Busch, Program Chair und Professor für Medienökonomie/Medieninformatik, gefolgt von einer Einführung zur HTW Berlin von Dr.-Ing. Helen Leemhuis, Fachbereichsdekanin and Professorin für Wirtschaftsingenieurwesen, sowie der Keynote von Dr. jur. Maximilian Schenk, Geschäftsführer Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware BIU. Von dort aus fächerte die Konferenz sich auf in bis zu sieben parallele Tracks, was für breitbandig Interessierte gerne zu Entscheidungskonflikten führte. Hilfreich war jedoch, dass sämtliche Fachartikel, die auf der Konferenz präsentiert wurden, im Vorfeld gesammelt als PDF verfügbar waren, so dass im Dilemmafall ein Blick in die Abstracts oder das Überfliegen der Artikel selbst Entscheidungshilfe bieten konnten. Apropos verfügbare Abstracts und Artikel — was macht den Reiz einer Konferenz überhaupt aus, wenn sämtliche vorgestellten Forschungsergebnisse entweder öffentlich im Web oder zumindest aus akademischen Einrichtungen heraus frei verfügbar sind? Fünf Gründe, an einer Konferenz teilzunehmen Zunächst einmal ist Wissenschaft nicht nur Forschung und Lehre; Wissenschaft wird auch getrieben durch Disput. Kaum etwas hilft mehr auf die intellektuellen Sprünge, als die eigene Arbeit in einem vollbesetzten Hörsaal, Konferenzsaal oder Seminarraum gegen 168 | Im Fokus ebenso qualifizierte Kolleginnen zu verteidigen oder als Zuhörer Einwände gegen Präsentierende zu formulieren und zu begründen — wobei solche Dispute die gesamte Palette von höflichen Verständnisfragen bis zu harscher Inhalts- und Methodenkritik umfassen können. Zum Zweiten, und das ist mit dem ersten Punkt verwandt, ist es auch psychologisch wichtig, nicht über lange Strecken so ausgedehnt für sich allein zu forschen, dass ein »gefühltes Vakuum« eintritt. Dies äußert sich als schleichend stärker und unheimlicher werdendes Gefühl, trotz intensiver Verfolgung von Forschungsfeld und Fachlektüre etwas Wichtiges übersehen zu haben und an einem Problem zu arbeiten, das irgendwo in einem »toten Winkel« des beobachteten Forschungspanoramas längst gelöst wurde. Eine Konferenz und die Interaktion mit einer Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen aus eigenen und angrenzenden Fachbereichen schafft in dieser Hinsicht in kürzester Zeit Klarheit und Erleichterung. (Oder bestätigt die Vermutung, was natürlich auch vorkommen kann und nützlich ist.) Der dritte Punkt, wiederum an den zweiten anschließend, ist Interdisziplinarität. Diese kann, je nach Konferenz, schmaler oder breiter gefächert ausfallen, bietet aber in jedem Fall Gelegenheit, den Kopf an die Luft zu strecken, der sonst Semester für Semester im Saft der eigenen Fachbereiche köchelt. Als Viertes zu nennen wären die spontanen Synergien, wenn informell ausgetauschte Erfahrungen zwischen Teilnehmenden plötzlich klicken und die Beteiligten auf neue Ideen oder neue Perspektiven bringen oder möglichen Lösungswegen mehr Gewicht verschaffen, die sonst verworfen worden wären. Das Schlüsselwort dabei ist »informell«: denn keineswegs alles, was in diesem Kontext interessant ist, findet seinen Weg in die genannten Abstracts und Artikel und in die dazugehörigen Präsentationen. Publiziert wird in der Regel erst, wenn eine Frage beantwortet oder ein Problem gelöst oder für unlösbar erklärt werden kann, wenn etwas getestet wurde oder ein neues Modell konstruiert wird. Was in den Veröffentlichungen fehlt, sind noch nicht ausreichend präsentabel durchformulierte Fragen, unsubstantiierte Vermutungen und brandneue, aber noch ungetestete Ideen — all dies artikuliert sich erst in informellen, persönlichen Gesprächen, in denen bestimmte Ansätze dann via Synergien unvermutet Form gewinnen können. Als fünfter und abschließender (aber keinesfalls letztvorstellbarer) Punkt wäre schließlich die Vernetzung mit neuen Kolleginnen und Kollegen zu nennen, die sich in akademischen Zusammenhängen gleich nach dem Kennenlernen typischerweise auf Twitter manifestiert, was dort wiederum zu einer “ambient awareness” in Bezug auf die Aktivitäten und Forschungen der neugewonnenen Kontakte führt. Im Fokus | 169 Mensa HTW Berlin Campus Wilhelminenhof | Photo by J. Martin CC-BY-NC-SA Takeaways von der ECGBL 2014 Für meine Forschungsarbeit hat sich auf dieser Konfe renz jeder einzelne dieser fünf Punkte schon fast übererfüllt. Was die ECGBL als solche besonders attraktiv und intensiv macht, ist die maximale Bandbreite der Teilnehmenden sowohl in geographischer Hinsicht — aus zahllosen Ländern von allen Kontinenten mit Ausnahme Antarktikas — als auch in interdisziplinärer Hinsicht, mit Präsentierenden und Teilnehmenden aus Geistesund Sprachwissenschaften, Sozial-, Erziehungs- und Wirtschaftswissenschaften, Naturwissenschaften, Mathematik, Informatik, Programmierung und Ingenieurswissenschaften sowie Design, Industriedesign und Game Design. Ausführliche Besprechungen einzelner Fachartikel und Präsentationen von der ECGBL 2014 werden nach und nach auf just drafts erscheinen (die ersten beiden Posts, Welcome and Keynote und The Pitfalls of Gamified Learning Design sind bereits online), aber zwei herausragende und für meine eigene Forschung wichtige und inspirierende Präsentationen sollen hier zumindest erwähnt werden. Dies war zum einen David Farrell’s “Applying the Self Determination Theory of Motivation in Games Based Learning” (David Farrell and David Moffat, Glasgow Caledonian University, Glasgow, UK; Abstract). Fokus seiner Forschung zu Motivation und spielbasiertem Lernen war die Anwendung der Self-Determination Theory (Selbstbestimmungstheorie der Motivation) mit ihren drei Komponenten Autonomy, Relatedness und Competence auf Game-Based-Learning-Design. Das Interessanteste war in diesem Fall das negative Ergebnis der Studie, welches Farrell zu der Vermutung veranlasste, dass in diesem Kontext vielleicht Purpose als wichtige konzeptionelle Komponente fehlt. Dieses negative Ergebnis seiner praktischen Studie nebst vermutender Schlussfolgerung war dabei nicht nur deckungsgleich mit den vorläufigen Ergebnissen meiner eigenen theoretischen Arbeit, sondern warf in unserer anschließenden Diskussion auch Licht auf ein mögliches Defizit im gängigen Motivationsmodell der Arbeit, das die Komponente Purpose zwar an Bord hat, aber dafür Relatedness aus dem SDT-Modell vermissen lässt — wobei “Relatedness” im Kern auch die Sicherheit bereitstellt, die Menschen brauchen, um Neues auszuprobieren und persönliches Versagen zu riskieren. All diese Aspekte zu Motivation und Arbeitsmotivation erwähnte ich auch in Tim Bruystens und meinem Vortrag am 11. Dezember 2014 zum Thema »Game Design, Digitalisierung, Gamifizierung« im Rahmen des Digitalks »Games & Business« der Digitalen Stadt Düsseldorf in der MD.H. Der zweite Vortrag, den ich erwähnen möchte, war “Replacing PISA with Global Game Based Assessment” (vollständiges Paper als PDF) von Harri Ketamo und Keith Devlin (Satakunta University of Applied Sciences, Finland & Stanford University, USA). Mit ihrer phantastischen Leistung in Game-Based-Learning-Design, Programmierung, Datenerhebung und Datenanalyse haben die beiden Forscher und ihre Teams ein funktionsfähiges 170 | Im Fokus game-basiertes globales Echtzeit-Assessment von Lernerfolgen geschaffen, das PISA zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ersetzen kann (“For example, sample collection has to be radically improved in order to minimize noise and bring out only the valid cases”), aber bereits in seinem aktuellen Zustand in Teilbereichen solidere, erheblich aktuellere, mehr Länder und Regionen umfassende und in der Tat oft auch sinnvollere Ergebnisse zu Lernerfolgen liefern kann als PISA. Von allen guten bis hervorragenden Präsentationen auf der ECGBL war dies die eine Präsentation, die ich mit offenem Mund verfolgte. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Gesamterfahrung war phantastisch und der Nutzen, den ich für meine Arbeit aus dieser Konferenz ziehen konnte, war immens — daher möchte ich der Mediadesign Hochschule auch hier am Schluss noch einmal für ihre Unterstützung danken. Prof. Dr. J. Martin Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Düsseldorf Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule Im Fokus: Medien- und Kommunikationsmanagement Menschenkenntnis für Führungskräfte Prof. Dr. Thomas Meyer Dozent Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement Mediadesign Hochschule Düsseldorf Im Fokus | 173 Menschenkenntnis für Führungskräfte Führungskräfte lernen viel Fachliches, aber haben oft wenig Zeit und Muße sich abseits vom operativen Geschäft mit ihrer eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen, obwohl dies für das Weiterkommen im Berufsleben nicht nur für Führungskräfte von großer Bedeutung ist. Geht es beispielsweise um die Einstellung eines neuen Mitarbeiters, so begnügt man sich oft mit einem vierstündigen Vorstellungsgespräch, um etwas über seine Persönlichkeit und Eignung zu erfahren. Eine der wichtigsten Fragen lautet: Hat der Kandidat Persönlichkeit? Hierzu zählen selbstständiges Denken und Handeln, Verantwortungsbewusstsein, Teamfähigkeit , Fairness im Umgang mit anderen. Damit nicht genug: Es schließen sich soziale Kompetenz, Durchsetzungsfähigkeit, Charisma oder auch Glaubwürdigkeit an. In diesen Kategorien eingeschrieben ist auch Ausdrucksfähigkeit und Ausstrahlungskraft. Fähigkeiten, die sich bei jedem Kandidaten der Beobachtung entziehen. Ein Ansatz, wie diese Informationsasymmetrie zwischen Kandidat und Arbeitgeber verringert werden kann, ist die eingehende Beobachtung des Kandidaten unter der “Laborsituation” Einstellungsgespräch. Mimik, Gestik und kleinste körperliche Regungen, besonders im Gesicht sollen Aufschluss über die Authentizität der Person liefern. Die Personalverantwortlichen suchen nach Spuren im Micro-Ausdruck des Gesichts. Wie glaubwürdig sind die Angaben in der Bewerbung? Je nachdem welcher Eindruck entsteht, schließt der Interviewer von der Visitenkarte des Gesichts auf das Innere des Kandidaten. Und dabei spielen auch subjektive Präferenzen eine Rolle. Trotz hervorragender Referenzen kann es daher passieren, dass nicht die Person eingestellt wird, die rational betrachtet die geeignetste ist, vielmehr der- oder diejenige, welche(r) besonders mit Sympathiewerten punktet. Die fachlichen Fertigkeiten, die eine Person für eine Stelle eignen, das qualifizierte Fachwissen ist nur eine Seite der Medaille. Die Förderung des Mitarbeiters zur optimalen Leistung die andere, und ein Kennzeichen erfolgreicher Führung. Es gibt einige Tätigkeiten, die ein gesunder Mensch in der Regel gerne tut: Er arbeitet gerne. Eine weitere Tätigkeit, die vielen Menschen großes, bisweilen detektivisches Vergnügen bereitet: Was sagt das Gesicht über den Charakter? Die exorbitante Zunahme der Gesichtsportraits auf Internetportalen (wie Xing oder Facebook) laden den Menschen tagtäglich geradezu dazu ein, ähnlich wie im Hollywoodkino oder Fernsehen, permanent Personen zu interpretieren, die uns durch Medien scheinbar nahe gebracht werden. Grundlage ist stets der erste Wahrnehmungseindruck, den wir von einem Menschen haben. Wir schauen auf sein Gesicht. Noch bevor ein Mensch spricht, wird in Bruchteilen von Sekunden ein Urteil gefällt. Ist das von Vor- oder Nachteil? Sie merken: Hier beginnt Kommunikation. 174 | Im Fokus Das Gesicht als Botschaft Das Gesicht ist eine Botschaft, das wir stets entschlüsseln dürfen (wie in der Populärkultur), und gar müssen, wie beim Pokern oder im Geschäftsleben, um erfolgreich zu sein. Von der erfolgreichen Kommunikation der Selbstpräsentation und Körpersprache bis hin zur Rhetorik und Ausstrahlung, – die zentrale Wirkung des Gesichts ist evident. Im Zeitalter von Facebook und Smart-Phone steht das menschliche Individuum mit seiner Technik im Zentrum. Technik verknüpft den Menschen mit der weltweiten Gesellschaft des Internets und macht uns zum Bestandteil vieler Netzwerke, in denen wir uns tagtäglich virtuell bewegen. Aber die Medientechnologien trennen auch die Gliedmaßen vom Kopf: Viele fremde Betrachter kennen von unserem Dasein nur unser Gesicht. Die Einheit von Denken, Fühlen und Seele wird im Zeichen der medialisierten Alltags- und Berufswelt aufgelöst, zurück bleiben Fragmente. Eines der prominentesten und privilegiertesten Fragmente ist die Großaufnahme des Gesichts, denn es bleibt als zentrale Botschaft stets unversehrt. Freilich muss man im gleichen Atemzug betonen, dass uns spätestens im Geschäftsalltag einer Face-to-Face Verhandlung die Ausstrahlung des ganzen Menschen wieder einholt. Das also Körperhaltung, Kleidung, Bewegung, Stimme, Hände und auch Geruch eine große Rolle spielen, abgesehen vom sozialen Status. Der strategische Einsatz des Gesichts stellt das Individuum vor vielfältige Probleme; Gesichter zu lesen ist komplex und bereitet dennoch viel Vergnügen. Vor allem, wenn man bereit ist, aus seinen Beobachtungen und Erfahrungen zu lernen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Menschenkenntnis: Die Kunst mit Menschen umzugehen Missverständnisse und Konflikte sind oftmals das Ergebnis falsch interpretierter und unbedarft eingesetzter Botschaften. Guter Wille allein reicht nicht mehr aus, wenn die Herausforderungen im internationalen Geschäft auf die Geschäftsführung zu kommen. Den anderen zu verstehen, bedeutet auch sich selbst zu hinterfragen. Wie kann ich mich auf einen Geschäftspartner optimal einstellen? Trifft man auf einen Geschäftspartner, der aus einem anderen Kulturkreis stammt, ist es ratsam sich kulturell vorzubereiten. Wie kann das Gesicht strategisch eingesetzt werden, um effektiv Kommunikation zu führen, ist die zentrale Frage. Führung ist im Zeichen des kooperativen Führungsstils an den Aspekt der sozialen Kompetenz gekoppelt. Soziale Kompetenz beinhaltet unter anderem: 1. Sich auf wechselnde Partner einzustellen und 2. Die Absichten anderer zu entschlüsseln. Viele Menschen sagen nicht, was sie denken. 3. Sich angemessen darzustellen und Im Fokus | 175 4. Marginalexistenzen anzuerkennen – die berühmte graue Maus, die abseits steht. (Vgl. Crisand/Rahn 2010, S. 18-19) Was kann man daraus ableiten? Zunächst: Der Umgang mit Menschen ist komplex, und Kommunikation bleibt wirkungsunsicher. Im Zeichen der internationalen Arbeitsteilung und der Expansion in neue Märkte wachsen auch die Herausforderungen. Durch die Globalisierung treffen unterschiedliche Denkweisen, Wertvorstellungen und Kommunikationsstile aufeinander. Es gibt neue Herausforderungen, die im Berufsleben eine neue Vorbereitung, eine neue Professionalität erfordern. Es gilt, neue Kunden und Kollegen zu überzeugen oder gar neue Freundschaften zu schließen. Die Signale des Gegenübers wahrzunehmen, sein Verhalten richtig zu deuten und darauf entsprechend zu reagieren, ist eine der Schlüsselkompetenzen für den beruflichen und den privaten Erfolg. Die Frage, die sich im Geschäftsleben Führungskräften stellt: Können wir mit einem Menschen, der uns auf dem ersten Blick unvertraut, fremd und oder gar feindlich gestimmt erscheint, effektiv zusammenarbeiten? Und gerade im Zeichen globaler Märkte, die uns neue interkulturelle Kompetenzen abverlangen: Wo sind Gemeinsamkeiten und Potenziale, wo existieren augenscheinlich Unterschiede? Unternehmen wollen Mitarbeiter, die auf der rationaler Ebene funktionieren, sie haben wenig Verständnis, weshalb sie sich um die emotionale Gefühlslage ihrer Mitarbeiter kümmern sollen. Dennoch existieren neben den Sachkonflikten auch Beziehungskonflikte. Weit- aus mehr als man gemeinhin annimmt. In westlichen Wirtschaftssystemen wird ungern eingestanden, dass Beziehungskonflikte existieren. Der Beziehungskonflikt ist ein betriebliches Tabu: Beziehungskonflikte werden im Handumdrehen zu Sachkonflikten umettiketiert. (Vgl. Crisand/Rahn 2010, S. 45) Ein Mitarbeiter, der sonst hilfsbereit war, hat plötzlich keine Zeit mehr – aber Sie merken an seiner abweisenden Haltung und seinem Ausdruck im Gesicht, dass etwas anders ist als sonst. Vielleicht weicht er Ihnen aus, meldet sich nicht mehr auf Ihre Emails und will ihr Gesicht nicht sehen. Mit anderen Worten: Wenn die emotionale Schiene blockiert ist, können wir nur schwer auf der rationalen Ebene erfolgreich miteinander kommunizieren. Wir gehen von der Annahme aus: Kommunikation zwischen zwei Menschen kommt nur dann in Gang, wenn grundlegend der Wille zur Verständigung vorhanden ist. Selbst bei großen kulturellen Unterschieden, können Sie sich auch mit Händen und Füßen verständlich machen. Doch bevor Sie sich jemanden widmen oder der Person gar Vertrauen schenken, blicken Sie in sein Gesicht. Und erst dann sind Sie bereit, mehr über die Person zu erfahren. 176 | Im Fokus Das Gesicht – Anlage oder Umwelt? Widmet man sich der Frage, welche Spuren im Gesicht zu finden sind, dann lassen sich zwei Einflussgrößen benennen: Vererbung oder Umwelteinfluss. Halten Sie einen Moment inne und überlegen Sie, welche von beiden ausschlaggebend für die Gestalt des Gesichts ist. Die Antwort lautet: beides. Klima, Kultur, Zivilisation, Schönheitsideale, wirtschaftliche Situation, Krankheit und Verletzungen, aber auch Drogen sind mögliche äußere Einflussfaktoren. Die Häufigkeit und Dauer der Ein-wirkung dieser Parameter auf das Gesicht ist von großer Bedeutung für seine Semantik. Die genetischen Infor-mationen bilden dabei den Konstruktionsplan bzw. die physiognomische Gestalt des Gesichts aus. Die Gene sind dafür verantwortlich, dass wir von unseren Eltern bestimmte Eigenschaften erben, z. B. Augenfarbe oder abstehende Ohren, aber auch Krankheiten und Verhal-tensweisen können in den Genen festgelegt sein. Daher ist das Gesicht eine Funktion von Anlage und Umwelt. Aus diesem Zusammenhang lässt sich schlussfolgern: Wenn das Gesicht nicht nur von seiner Anlage, sondern auch von seiner Umwelt abhängig ist, dann lässt sich auf die Umweltfaktoren Einfluss ausüben – und ich meine damit ausdrücklich nicht, dass Sie bei schlechten Anlagen sofort zum Chirurgen gehen sollten. Bis zu einem gewissen Grad kann jedes Individuum üben und prüfen, wie man auf andere wirkt. Um vorbildlich mit den Mitarbeitern umzugehen und sie richtig “führen” zu können, muss sich der Vorgesetzte auch über die eigene Wirkung auf seine Umwelt Gedanken machen. Zentral sind dabei die Fragen: 1. Kenne ich mein eigenes Persönlichkeitsprofil und das meiner Mitarbeiter? 2. Wie kann ich mit der physiognomischen Veranlagung des Menschen besser umgehen? Oder genauer: Wie kann ich meinen eigenen Vorurteilen entgegen treten? (Vgl. Crisand/Rahn 2010, S. 103) Um Mitarbeiter richtig führen zu können, muss sich der Vorgesetzte also auch über die eigene Wirkung/Persönlichkeitsstruktur Gedanken machen. Selbstreflexion als Ausgangspunkt von Führung Voraussetzung der Persönlichkeitsentwicklung ist die Persönlichkeitsdiagnostik. Die Sprachkompetenz wird über das Alphabet antrainiert. Trotz des täglichen Konsums von Fernsehen, Kino und Internet wird die visuelle Kompetenz erstaunlich wenig gefördert. Wie Menschen Bilder und Gesichter deuten, geht daher oft nicht über das allgemeine Alltagswissen und die Intuition hinaus. Der Rezipient findet jemanden aufgrund seines Gesichts unsympathisch, aber warum das so ist, bleibt ungeklärt. Häufig überträgt man die in einem schlummernden Dispositionen auf andere – und (miss-) braucht den anderen als Projektionsfläche. Kommt Ihnen das bekannt vor? Das Gesicht ist das Vorurteil am Leibe: Schon in den Im Fokus | 177 ersten Sekunden fällen wir Urteile über Menschen, ohne sie zu kennen. Wie läuft dieser Prozess im Einzelnen ab? Unsere Intuition bei der Beurteilung von Gesichtern unterliegt einem allgemeingültigen Prozess: 1. 2. 3. 4. 5. 6. Beobachtung und Selektion Bewerten Verarbeiten Speichern Mitteilen und erneutes Wahrnehmen. (Vgl. Conen 2003, S. 28 ff.) Solange wir wie ein Tourist aus der Fensterscheibe heraus unsere Umwelt wahrnehmen und beurteilen, werden wir unsere Bilder von Menschen verfestigen statt zu hinterfragen. Innere Bilder, die wir in der Vergangenheit mit Bedeutung aufgeladen haben und die sich mit aktuelleren Erinnerungen anreichern. Bilder erinnern uns an besondere Momente und sind in der Lage, starke emotionale Erinnerungen wachzurufen. So lagern sich die Gesichter bestimmter Personen aus der Vergangenheit in unserem Gedächtnis ab. Je nach zu Grunde liegender Erfahrung (die durchaus über audiovisuelle Medien vermittelt wird) steht man einem Gesicht zustimmend oder ablehnend gegenüber. Diese Erfahrungen aus der Vergangenheit haben ihre Wirkung auf die Gegenwart und die Zukunft. Personen meinen eine andere, ihnen fremde Personen zu (er-)kennen, weil das Gesicht Ähnlichkeiten zu Ihrem unbewussten Erinnerungsbild aufruft. Der erste Eindruck, den wir von einem Menschen haben, ist keineswegs wertfrei. Dabei handelt es sich um ein menschlich nachvollziehbares Vorurteil, dass uns hilft, uns durch die Kontingenz des Alltags zu leiten. Diese Orientierungsfunktion verschafft Sicherheit. Bei der Auswahl von Personal spielt das richtige Bewerbungsfoto eine wichtige Funktion. Es beinhaltet die Orientierung über den möglichen Charakter des Bewerbers. Erschwert wird die Interpretation des Gesichts und seiner Mimik und Gesten durch seine Kulturabhängigkeit . Was heute Gültigkeit hat und allgemein verständlich ist, kann in einem anderen Kulturraum anders und möglicherweise falsch interpretiert werden. Beispielsweise unterscheidet das interkulturelle Management in einer ganz groben pauschalen Annäherung an die Komplexität der Sprache zwei Kommunikationsstile, den Kommunikationsstil Nord und Süd. Anders herum muss man die kulturelle Herkunft einer Person berücksichtigen, den Ort, die Zeit und die Situation mit einbeziehen, um gesicherte Aussagen über die Bedeutung des Gesichtes zu treffen. Man kann also das tägliche Leben mit all seinen Facetten nicht einfach reduzieren. Aber wie kommen wir aus der Vorurteilsschleife heraus, die bestehende Bilder und Erfahrungen bloß bestätigt und die uns davon abhält, erfolgreich auf neue Mitarbeiter, Freunde und neue Geschäftspartner vorurteilsfrei zuzugehen? Strahlen wir Überzeugung und Charisma aus und können andere begeistern und führen? Wie betreiben wir im Sinne der Markenführung “Living the Brand” für die interne und externe Kommunikation? All 178 | Im Fokus das führt zu der Frage nach den Einflüssen, die auf die Anlagen des Gesichts einwirken. Sie führt zu der Frage: Zeigt unser Gesicht unsere Persönlichkeit? Eine der wesentlichen Aspekte, die Näher an die Vorstellung von Persönlichkeit, Charakter und Ich führen, ist der Begriff der Authentizität: Wer bin ich? Und: Wann bin ich selbst bei mir? Eine kurze Antwort auf dies sehr komplexe Frage lautet: Ich bin vor allem dann bei mir, wenn ich von einer Sache zutiefst überzeugt bin, wenn ich darin aufgehe, was ich mache, dann so die These, bin ich zufrieden und ausgeglichen, was sich folglich auf Haltung und Ausdrucksweise auswirkt. Dennoch lässt das Menschliche auf diese Frage viele Antworten zu, d. h. es entzieht sich einer Objektivierung: Jeder hat eine andere, subjektive Antwort darauf. Was beobachtbar bleibt, ist das stete und unstillbare Verlangen nach authentischen Personen, nach authentischen Gesichtern. Es scheint, als könne der Bedarf niemals wirklich gedeckt werden. Doch im Zeitalter der Mediengesellschaft, der Beschleunigung von Raum und Zeit, der vielfältigen Ansprüche, die das Privatleben und das Berufsleben an den Arbeitnehmer stellen, verliert das Individuum sehr schnell den Blick für die Ziele. Selbstverwirklichung gilt in der westlichen Kultur als das höchstes Ziel in der Bedürfnispyramide. Selbstverwirklichung ist nicht nur das Ziel einer durch Sozialisation geprägten bürgerlichen Mittelschicht, es beinhaltet in anderen Kulturen oftmals nur die Sicherung des täglichen Überlebens. Deswegen ist Selbstverwirklichung in westlichen Gesellschaften noch lange kein Luxus, aber das konkrete Ziel vieler im Arbeitsleben. Authentizität, das Gefühl bei sich zu sein und nicht fremdgesteuert zu werden sind wesentliche Merkmale von Selbstverwirklichung. Aber Selbstverwirklichung – wie macht man das? Eine Frage, und oft eine schwierige Antwort, die daran anschließt: „Was sind die Dinge, die mich glücklich machen”? Aus Platzgründen möchte ich eine Methode vorstellen, die verblüffend einfach erscheint. Schauen Sie auf sich selbst: Führen Sie ein Tagebuch. Schreiben Sie morgens auf, wie ihr Tag aussehen soll, was sie als positiv und negativ erfahren haben, welche Hindernisse sich Ihnen in den Weg stellen, was sie sich vornehmen und erreichen wollen. Ohne dieses hochspannende Thema weiter auszuführen (auch dafür wäre ein gesonderter Blog-Beitrag nötig) bleibt festzuhalten: Das Führen eines Tagebuches wird Ihnen helfen, ihr Bewusstsein zu schärfen. Sie werden sich über Ihre Ziele im Klaren sein. Sie brauchen dazu zehn Minuten täglich, in denen Sie über Ihr Leben nachdenken. Versuchen Sie alles, was Ihnen in den Sinn kommt, aufzuschreiben, auch vermeintlich Unwichtiges. Schreiben Sie es heraus! Erst wenn Sie wissen, was sie wollen, können Sie auch Strategien entwickeln, die darauf aufbauen. Wenn Sie innerlich aufräumen und zur Balance finden, werden Sie auch Äußerlich wirken. Die Im Fokus | 179 Psyche wird mit dem Erscheinungsbild in Einklang sein, Ihr Gesicht strahlt von innen. Und noch etwas: Überzeugend sind Sie, wenn Sie ein Theater spielen, das ihnen Erfüllung und Freude bereitet. Indem Sie gerne in eine Rolle schlüpfen, weil Sie anderen etwas vermitteln wollen. Setzen Sie das Gesicht auf, das von Ihnen erwartet wird. Rasieren Sie sich, wenn es nötig ist, ziehen Sie eine Brille auf oder schminken Sie sich. Und machen Sie es gerne! Wie die Dekoration einer Bühne dem Schauspiel zum Ausdruck verhilft, so verhält es sich mit der Fläche des Gesichts. Gesichtstheater funktioniert ebenfalls nur, wenn es perfekt gespielt wird. Gesichtstheater steht keineswegs im Widerspruch zu Authentizität. Ein Mensch, der sein ganzes Leben den Naturkräften ausgesetzt ist, arrangiert sich mit diesen Gegebenheiten und Herausforderung seiner Existenz. Das wiederum hat mit dem Dasein eines Büromenschen in der Stadt wenig zu tun. Die permanente Veränderung von Raum und Zeit unter dem Primat der Mobilität fordert ein, sich rasch zu verändern. Der angepasste Stadtmensch hat nicht ein Gesicht, sondern viele. Er kann sich ökonomisch gar nicht mehr erlauben, nur noch mit einem Gesicht durch die Welt zu gehen. Zurück bleibt allein die Frage, wie gut das Individuum sich anpasst und in seinen Rollen aufgeht. Ist der Ausdruck der jeweiligen sozialen Situation angemessen, oder kostet die Maskerade viel Aufwand, bis sie überzeugend sitzt? Bevor Sie jemanden Fremdes um einen Gefallen bitten, schauen Sie in sein Gesicht. Noch bevor Sie zum Vorstellungsgespräch geladen werden, weckt Ihr Bewerbungsfoto Erwartungen. Schon die bloße Erscheinung des Gesichts ist Kommunikation. Paul Watzlawick nennt das “Man kann nicht nicht kommunizieren”. Man fragt sich aber auch, was spiegelt sich in den Gesichtern der Anwesenden wider? Wenn der Körper spricht, selbst wenn wir stumm sind, zeigt er dann unser Inneres, unser Unbewusstes, unsere Persönlichkeit? Ist also unser Gesicht, wenn wir nicht sprechen, der Fingerzeig auf unser wahres Ich? Damit will ich nicht sagen, dass man jedem Menschen vor den Kopf schauen kann. In Ihrer Firma erfahren Sie auch erst nach einigen Wochen, ob Ihre Einschätzung richtig war, die Person ihrer Wahl einzustellen. Sozial angemessen zu reagieren, d. h. auch ein Gesicht aufzusetzen, lernen Menschen im Alter von fünf Jahren. Unter diesen komplexen Voraussetzungen erscheint die Deutung des menschlichen Gesichts schwieriger denn je. Der folgende Strategieplan, der vom Unternehmenscoach Horst Conen entwickelt wurden, ist ein erster Ansatz, um die Menschenkenntnis zu verbessern: 180 | Im Fokus Strategieplan Seien Sie vorsichtig mit jeder vorschnellen Einordnung eines Menschen. 1. Sehen Sie die Einschätzung einer Person, die Sie zum ersten Mal sehen, als Spielmöglichkeit. Als vorläufiges Urteil, ohne dass Sie einen Menschen gar nicht als Menschen annehmen können. Verzichten Sie aber auf Pauschalisierungen und Typisierungen. 2. Ungewohnte Situationen mit unterschiedlichen Menschen sind die ideale Voraussetzung, um mehr über Menschen zu erfahren. 3. Übernehmen Sie nicht kritiklos Bewertungskriterien von anderen, auch nicht von Medien. prüfen, testen, berichtigen Sie diese. 4. Unterscheiden Sie äußeres Erscheinungsbild und Charakter. 5. Versuchen Sie biographische Informationen über Ihr Gegenüber zu erhalten. 6. Haben Sie keine Angst, immer wieder neu hinzuzulernen! Die Beurteilung von Menschen ist keine leichte Aufgabe. (Vgl. Conen 2003, S. 53) Der Versuch, die nonverbale Ausdrucksweise des Menschen zu erfassen und zu deuten, hat eine historisch weit zurück reichende Tradition. Oft wiederholen sich diese Deutungen in unzähligen Ratgeberbüchern, die uns erklären, wie Physiognomik des Menschen zu lesen sei. Auch ohne diese Anleitungen treffen viele Menschen instinktiv die richtige Entscheidung bei der Einschätzung eines Men- schen: Sie haben Menschenkenntnis. Natürlich gibt es Richtlinien und Konventionen, die Sie in jedem Rhetorik Seminar lernen können. Wenn Sie mal einige besucht haben, dann werden Sie feststellen, dass es dabei hauptsächlich auf die regelmäßige Übung ankommt. Für das Gesicht ist die Einübung einer Dramaturgie schwieriger. Jeder Einübung sperrt sich die Physiognomik entgegen. Individualität, das bedeutet eine einmalige Physiognomik können Sie nicht ohne weiteres abstreifen, ihr Gesicht ist ein ständiger Begleiter, einen Schatten ihres Ausdrucks, den Sie nicht ohne weiteres abstreifen können. Doch können Sie einiges tun, damit sie als vorteilhaft wahrgenommen werden. Und dies gilt insbesondere für Führungskräfte. Sie sollten sich folgende Fragen stellen: A:- Wie bin ich? B: – Wie verhalte ich mich? C:- Wie wirke ich? (Vgl. Crisand/Rahn 2010, S. 103) Ich konzentriere mich auf den letzten Aspekt, gleichwohl lässt sich die Frage nach der Wirkung nicht isoliert betrachten, insofern sind die ersten beiden Punkte bedeutsam. Im Fokus | 181 A) Zur Frage: Wie bin ich? hat sich in der Praxis folgendes bewährt: 1. Die Selbstanalyse Die Selbstanalyse ist ein erster Schritt, bei dem eine Person dazu angeregt wird, sich anhand vorgegebener Eigenschaftsdimensionen zunächst selbst einzuschätzen. Wie sehe ich mich selbst, wenn ich in den Spiegel schaue? Viele Teilnehmer erkennen im Laufe dieser Frage, dass sie die eigene Beschreibung vor Probleme stellt. Wie kann man über sich selbst objektiv sprechen? Hier kann man deutlich machen, dass eine Fremdanalyse erfolgen kann. 2. Die Fremdanalyse Die Fremdanalyse sollte von einer dem Teilnehmer nahestehenden privaten oder betrieblichen Person durchgeführt werden. Meist bevorzugen die Teilnehmer einen privaten Partner, weil sie sich scheuen von einem Mitarbeiter oder Kollegen beurteilt zu werden. Anders ist das in Seminaren, hier ist der Seminarleiter gefordert. Meistens entsteht dann bei der Absprache über die drei Ergebnisse (Selbst-, Fremd- und Testanalyse) in der Gruppe eine rege Diskussion. 3. Die Testanalyse Die Testanalyse als dritter Schritt: Dabei bearbeitet jeder Teilnehmer die für ihn vorgesehenen Testergebnisse. Jede Testperson sollte sich folgende Fragen stellen: 3.1 Kann ich das Ergebnis selbst akzeptieren, finde ich mich in dieser Testaussage wieder? Wenn ja, folgt die nächste Frage. 3.2 Stand das zugewiesene Merkmal meines Gesichts mir in der Vergangenheit im Wege oder hat es zu meinem Erfolg beigetragen? 3.3. Wenn das Merkmal mir im Wege stand, oder gar geschadet hat, sollte ich versuchen es anzugehen oder gar abzubauen. 3. 4 Trug es zu meinem Erfolg bei, sollte ich versuchen, dieses positive Merkmale auszubauen? Beim Analyseverfahren geht es darum: 1. Persönlichkeit erfassen und 2. Viele unterschiedlichen Eigenschaften eines engeren Persönlichkeitsbereichs zu messen. Als methodisches Instrument dient dabei das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI), das wiederum mehrere Persönlichkeitsskalen bereit hält. (Vgl. Crisand/Rahn 2010, S. 106 ff.) 182 | Im Fokus B) Wie verhalte ich mich? C) Wie wirke ich? Die Teilnehmer müssen vor der Anmeldung ein Bewerbungs- oder Passfoto aushändigen, das dann ohne Zusatzinformationen unter den Teilnehmern getauscht wird. Bis jeder Teilnehmer ein Foto eines unbekannten Teilnehmers hat und es analysiert. Daraufhin sollte jeder Teilnehmer auf etwa einer halben Seite notieren, wie er die Person auf dem Foto einschätzt: Hinsichtlich seiner Leistungsorientierung, sozialen Orientierung, Glaubwürdigkeit, Ästhetik usw. Zu Beginn des Seminars werden die zufällig entstandenen Pärchen in der Realität zusammengeführt und unterhalten sich rund zehn Minuten miteinander über einen Aspekt in ihrem Leben, der nichts mit dem Berufsleben zu tun hat. Es geht dabei um den unmittelbaren Eindruck, den man von einer lebendigen Person erhält, und der das fotografierte Bild, die Persönlichkeit in einem anderen Licht erscheinen lässt. In Rahmen der Gesichtsanalyse und Beschreibung können Videoaufzeichnungen sehr bedeutende Beiträge leisten. Im Rahmen eines Kurzreferates, das mit Video aufgezeichnet wird, lassen sich nun folgende Details analysieren: • • • • • • • Blick und Gesicht: aufmerksam, einnehmend, fokussierend, natürlich. Der Gang eines Menschen: schnell, energisch, stolpernd, schwer. Die Körperbewegungen: natürlich, beweglich, ausgreifend, angemessen, plump Die Mimik: klar, offen, streng, herrisch Die Sprechweise: klar, bestimmend, versöhnlich, weich, monoton, schreiend, verletzend. Die Art des Redens: vernünftig, zurückhaltend, ängstlich, wortkarg, redselig. Die Umgangsformen: herzlich, gewandt, diplomatisch, rau , unbeholfen, ungeschliffen. (Vgl. Crisand/ Rahn 2010, S. 114) Bei der Verhaltensanalyse können behindernde Verhaltensweisen abgebaut werden, wie z. B. ein verschlossenes Gesicht, dass nicht den Blick und damit den Kontakt mit dem Publikum sucht. Auch die Frage wie die Artikulation der Kommunikation über die Hände geschieht, kann für den Ausdruck des Gesichtes entscheidend sein; nicht zuletzt im Hinblick auf die Gestik eines Menschen. Wenn ein Seminarteilnehmer sich selbst beobachtet, bemerkt er oft die Notwendigkeit von Verhaltensveränderungen. (Vgl. Crisand/Rahn 2010, S. 115) Im Fokus | 183 Zum Abschluss noch etwas zum Zusammenhang von Mensch und Marke: Wenn Sie eine professionelle Marke aufbauen und führen wollen, d. h. wie ein Politiker oder Filmstar, dann sollten Sie es anders machen als Carl Böhm. Dieser wurde berühmt durch seine Erfolge als Kaiser Franzl in der Sissi-Trilogie. Ein Image, das als gutbürgerliche Projektionsfläche für den bis heute unersättlichen Bedarf des Publikums nach charismatischen Autoritäten taugt. Demgegenüber musste die Rolle, die Carl Böhm als psychopathen Frauenkiller in Peeping Tom (1960) zeigt, Verstörung und Ablehnung beim Betrachter hinterlassen. Die Konsequenz: Carl Böhm bekam nach seinem Auftritt als Serienkiller für Jahre keine Rolle mehr. Seine Fans wendeten sich von ihm ab. Daran sieht man: Gesicht des etablierten Schauspielers fungiert auch als Versprechen und Erwartung. Mit den unerfüllten Erwartungen seiner Fans zerstörte Böhm seine Marke und seine Karriere. Peeping Tom gilt übrigens mittlerweile längst als Kultfilm. Literaturverzeichnis: Crisand, Ekkehard; Rahn, Horst Joachim 2010: Psychologie der Persönlichkeit. Arbeitshefte Führungspsychologie, Band I, 9. Auflage. Hamburg: Windmühle Verlag GmbH. Conen, Horst 2003: Die Kunst mit Menschen umzugehen. München: Knaur. Prof. Dr. Thomas Meyer Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Düsseldorf Mediadesign Hochschule für Design und Informatik GmbH Private Hochschule staatlich anerkannt Lindenstraße 20 – 25 10969 Berlin Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15 info-ber@mediadesign.de Werdener Straße 4 40227 Düsseldorf Tel.: 0211 . 179 393 - 0 | Fax: - 17 info-dus@mediadesign.de Claudius-Keller-Straße 7 81669 München Tel.: 089 . 450 605 - 0 | Fax: - 17 info-muc@mediadesign.de www.mediadesign.de Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule