November 2011 - Neue Zürcher Zeitung

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November 2011 - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 10 | 27. November 2011
Marlene Dietrich – Leni Riefenstahl Doppelbiografie | Judith Schalansky
Der Hals der Giraffe | Eva Illouz im Porträt | Anne Enright Anatomie einer
Affäre | Südpol Neue Bücher zum Wettlauf vor 100 Jahren | Kinder- und
Jugendbuch Tipps zum Schenken | Weitere Rezensionen zu Greta Garbo,
Novalis, Dante, Gottlieb Duttweiler u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
Weihnachtszauber
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Inhalt
Reiche Ernte
für lange
Winternächte
Der Bücherherbst hat uns einen reich gefüllten Korb beschert. Im
Zentrum stehen wieder einmal zwischenmenschliche Beziehungen – ­
es ist schliesslich das wichtigste Thema, diesmal ausschliesslich von
Frauen beschrieben. Der burschikose Provinzroman «Der Hals der
Giraffe» von Judith Schalansky macht den Auftakt. Die erst 31-jährige
Ostdeutsche porträtiert eine abgebrühte Lehrerin aus Ostpommern,
die ebenso sarkastisch wie treffend ihre Schüler charakterisiert. Ein
kleines Scheusal, das man aber mit zunehmender Lektüre liebgewinnt,
wie Rezensent Martin Zingg verrät (Seite 4).
Weiter geht’s mit Anne Enrights prickelnder «Anatomie einer Affäre»
(S. 6). Zum Porträt der in Jerusalem lehrenden Kulturwissenschafterin
Eva Illouz, die den ewigen Gefühlsknäuel zwischen den Geschlechtern
erforscht. Ihr Buch «Warum Liebe weh tut», das ohne psychologisches
Geschwätz auskommt, trifft den Nerv der Zeit. Mitarbeiterin Jenny
Friedrich-Freksa charakterisiert Illouz als «freundlichen Punk, der
gewillt ist, die Welt aus unkonventioneller Perspektive zu betrachten»
(S. 16). Und, wenn Sie mögen, schmökern Sie in zwei Doppelbiografien,
die uns gleich vier Stars der Filmgeschichte näherbringen, die zu ihrer
Zeit einen neuen Typus Frau verkörperten (S. 23 und 26).
Wir wünschen Ihnen frohe Festtage und freuen uns, am 29. Januar 2012
erste Novitäten des Frühlings zu präsentieren. Urs Rauber
Marlene Dietrich (Seite 23).
Illustration von
André Carrilho
Belletristik
4
6
8
9
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe
Von Martin Zingg
Anne Enright: Anatomie einer Affäre
Von Simone von Büren
Dante: Commedia
Von Stefana Sabin
Tamar Lewinsky: Unterbrochenes Gedicht
Von Klara Obermüller
10 Jan Wagner: Die Sandale des Propheten
Von Angelika Overath
Olaf Otto Becker: Under the Nordic Light
Von Gerhard Mack
11 Paul Wittwer: Widerwasser
Von Christine Brand
12 Ilja Ilf, Jewgeni Petrow: Das eingeschossige
Amerika
Von Kathrin Meier-Rust
13 Markus Bundi: Gehen am Ort
Von Bruno Steiger
Kurzkritiken Belletristik
13 Eva-Maria Alves: Unter Engeln
15
Von Manfred Papst
Wallace Stevens: Hellwach, am Rande des
Schlafs
Von Manfred Papst
Nella Larsen: Seitenwechsel
Von Regula Freuler
Sachbuch
Angelika Waldis, Christophe Badoux: Der unheimliche Stein
20 Christian Jostmann: Das Eis und der Tod
Diana Preston: In den eisigen Tod
Reinhold Messner: Pol
Robert Falcon Scott: Letzte Fahrt
Von Thomas Köster
22 Zsuzsa Breier, Adolf Muschg: Freiheit, ach
Freiheit
Von Dieter Ruloff
Matthias Bernold, Sandra Larriva Henaine:
Revolution 3.0
Von Christine Knödler
Von Verena Hoenig
Ilsa J. Bick: Der Zeichner der Finsternis
Von Verena Hoenig
Jenny Valentine: Das zweite Leben des Cassiel Roadnight
Von Andrea Lüthi
Wolfgang Korn: Was ist schon normal?
Von Sabine Sütterlin
Kirsten Boie: Ein mittelschönes Leben
Von Christine Knödler
Elke Reichart: gute-freunde-boese-freunde
Von Christine Knödler
Dieter Vieweger: Abenteuer Jerusalem
Von Geneviève Lüscher
Bibi Dumon Tak: Eisbär, Elch und Eule
Von Verena Hoenig
Porträt
16 Eva Illouz, Soziologin
Auf dem freien Markt der Liebe
Von Jenny Friedrich-Freksa
Von Kathrin Meier-Rust
Théophile Gautier: Mademoiselle de Maupin
Robin Brande: Fat Cat
Kolumne
19 Charles Lewinsky
Das Zitat von Peter Handke
Kurzkritiken Sachbuch
Kinder- und Jugendbuch
19 Urs Hafner: Heimkinder
14 Michelle Cuevas:
Columbus und der malende Elefant
Von Andrea Lüthi
Von Kathrin Meier-Rust
Von Reinhard Meier
23 Karin Wieland: Dietrich & Riefenstahl
Von Ina Boesch
24 Wolfgang Hädecke: Novalis
Gerhard Schulz: Novalis
Von Manfred Koch
25 Curt Riess: Gottlieb Duttweiler
Von Urs Rauber
26 Nicole Nottelmann: Ich liebe dich. Für immer
Von Martin Walder
George Steiner: Im Raum der Stille: Lektüren
Von Arnaldo Benini
27 Sarah Kaminsky: Adolfo Kaminsky
Von Fritz Trümpi
28 Simon Sebag Montefiore: Jerusalem
Von Geneviève Lüscher
29 Johannes Willms: Talleyrand
Von Peter Durtschi
30 Timothy Gowers: Mathematik
Von André Behr
Das amerikanische Buch
Bob Lutz: Car Guys vs Bean Counters
Von Andreas Mink
Thorsten Polleit: Der Fluch des Papiergeldes
Agenda
An Lac Truong Dinh: Von der Fremdenlegion zu
den Viet Minh
Gabriele Praschl-Bichler: Kleidung und Mode
im Mittelalter
31 Peter Geyer, OA Krimmel: Kinski
Von Manfred Papst
Bestseller November 2011
Von Charlotte Jacquemart
Von Urs Rauber
Von Geneviève Lüscher
Belletristik und Sachbuch
Agenda Dezember 2011
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Kirsten Behrendt (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Schulroman Judith Schalansky erzählt von einer desillusionierten Lehrerin
in Vorpommern, die gar nicht so grob ist, wie sie sich gibt
Faustrecht im
Klassenzimmer
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe.
Suhrkamp, Berlin 2011. 222 Seiten,
Fr. 33.50.
Von Martin Zingg
Das kann vorkommen: dass eine Romanfigur unsympathisch erscheint. Und
dass man dennoch weiterliest und damit
nicht aufhören möchte. Inge Lohmark
ist eine unsympathische Gestalt, bisweilen ein kleines Scheusal – und man
bleibt ihr lesend dennoch gerne auf der
Spur. Lehrerin an einer Schule im Hinterland von Vorpommern, seit über
dreissig Jahren, und dort zuständig für
Biologie und Sport. Am Charles-Darwin-Gymnasium, wie es seit der Wende
heisst, ist Inge Lohmark bekannt für
einen unterkühlten Unterrichtsstil.
SUSANNE SCHLEYER
Judith Schalansky
Judith Schalansky, geboren 1980 in
Greifswald, studierte Kunstgeschichte
und Kommunikationsdesign. Mit dem
Matrosenroman «Blau steht dir nicht»
hat sie 2008 erstmals auf sich aufmerksam gemacht. Es folgte 2010 der «Atlas
der abgelegenen Inseln», ein liebevoll
gestaltetes, viel gefeiertes Buch, das in
zahlreiche Sprachen übersetzt worden
ist. Mit dem opulenten Band «Fraktur
mon Amour» hat die an Gestaltungsfragen interessierte Autorin überdies
eine Liebeserklärung an die Frakturschrift vorgelegt. Judith Schalansky
lebt in Berlin.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
Frontal und «kreidelastig» geht es bei
ihr zu, und alle wissen, dass sie gerne
unangekündigte Arbeiten schreiben
lässt. Sie schützt sich hinter einem Panzer aus Sarkasmus und hält immer auf
Distanz: «Zum professionellen Verhältnis gehörten keine Nähe, kein Verständnis. Armselig, aber begreiflich, wenn
Schüler um die Gunst der Lehrer buhlten. Das Kriechen vor dem Machthaber.
Unverzeihlich hingegen war es, wie sich
Lehrer an Halbwüchsige ranschmissen.
Halber Hintern auf dem Lehrerpult. Geklaute Moden und Wörter. Um den Hals
bunte Tücher. Blondierte Strähnen.
Alles nur, um sich mit ihnen gemein zu
machen.»
Gegen derlei Versuchungen ist sie gefeit. Ihre Schüler und Schülerinnen, ihre
«natürlichen Feinde», wird sie ohnehin
nicht mehr lange aushalten müssen,
denn Inge Lohmark steht am Ende ihrer
Laufbahn. Ihre Schule soll in vier Jahren
geschlossen – «abgewickelt» – werden,
in der Region leben zu wenig Kinder. In
der Region scheint es überhaupt an vielem zu fehlen. Judith Schalansky erzählt
in ihrem Roman «Der Hals der Giraffe»
nicht allein von Inge Lohmark und deren
biologistischer Weltsicht, sondern indirekt auch von den schwindenden Perspektiven eines ganzen Landstrichs in
der ostdeutschen Provinz, die sie – erzählerischer Schachzug von grossem
Raffinement – ausgerechnet in einer
Schule zur Sprache bringt.
Als der Roman einsetzt, hat eben ein
neues Schuljahr begonnen. Gerade einmal zwölf Jugendliche sitzen in der
«Klasse neun», fünf Jungen, sieben
Mädchen: «Ganz vorne hockte ein verschrecktes Pfarrerskind, das mit Holzengeln, Wachsflecken und Blockflötenunterricht aufgewachsen war. In der
letzten Reihe sassen zwei aufgedonnerte Gören. Die eine kaute Kaugummi, die
andere war besessen von ihrem schwarzen Hengsthaar, das sie pausenlos glättete und strähnchenweise untersuchte.
Daneben ein hellblonder Knirps in
Grundschulgrösse. Ein Trauerspiel, wie
die Natur hier die ungleiche Entwicklung der Geschlechter vorführte.» Es ist
die letzte Klasse, die es an dieser Schule
geben wird, und natürlich sitzen darin,
wie die Lehrerin schon längst weiss, lauter Gymnasiums-Untaugliche. Allenfalls
«Nachschub fürs Rentensystem».
Unablässig kommentiert Inge Lohmark in Gedanken, was sie sieht und
hört und tut. Judith Schalansky lässt sie
in kurzen, oft abgehackten Sätzen monologisieren, in einem Nonstoptext, der
vor nichts und niemandem halt macht.
Es sind meist apodiktische Sätze, Merksätze, die auf alles gepappt werden, was
daherkommt.
Mit dem Blick der Biologin
Wir erfahren aus der allesumschlingenden Suada, dass die Lohmark verheiratet
ist mit Wolfgang und mit ihm eine Tochter hat, Claudia. Wolfgang, in DDR-Zeiten Veterinärstechniker, der in einer
LPG Kühe besamen musste, betreibt
nun eine Straussenfarm. Neun Tiere hat
er im Augenblick.
Er ist damit zum Held der OstseeZeitung geworden, die ihn alle paar Wochen wieder mal befragt. Leider stopft
er das Gemüsefach im Kühlschrank mit
den kokosnussgrossen Strausseneiern
voll: «Wer sollte die denn essen? Die
grössten tierischen Zellen überhaupt.
Ein Omelett für eine ganze Schulklasse.» Gemeinsame Mahlzeiten des Paares
sind selten, man hat sich arrangiert, und
wenn sie zusammen sind, gefällt Inge
Lohmark, dass sie nicht mit ihrem Mann
reden muss.
Tochter Claudia hat sich längst in die
USA abgesetzt. Ein einziges Mal hat
man sie noch besucht, aber was sie dort
treibt, ist den Eltern schon lange nicht
mehr klar. Sie meldet sich selten und
dann nur knapp. Einmal kommt eine
Mail, mit der sie, ziemlich wortkarg, ihre
Eheschliessung mitteilt, «Just married»,
darunter eine Foto. Dass sie noch Kinder haben wird, dass Inge Lohmark also
Grossmutter werden könnte, scheint inzwischen eher unwahrscheinlich.
Stärksten setzen sich durch, das weiss
Inge Lohmark. Aber sie, deren Name an
den Evolutionstheoretiker Lamarck erinnert, weiss auch, dass die Evolution
oft ungeahnte Wege geht.
Als sie einmal, für sich selber unerklärlich, Interesse findet an der unscheinbaren Schülerin Erika, hat sie umgehend eine Parallele aus der Tierwelt
zur Hand: Schnecken. Dort verläuft die
Trennung «nicht zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen Jung und
Alt.» Ihre Angst, die erotisch infizierten
Gefühle für die junge Frau könnten sie
in Bedrängnis bringen, kann sie so gleich
wieder abwehren, aber die ältere Frau
gerät dennoch ein wenig ins Wanken.
Alles können die biologistischen und sozialdarwinistischen Versatzstücke nicht
erklären, mit denen sie um sich wirft,
und hier bekommt die Welt der Inge
Lohmark erste kleine Risse.
Rudi Meisel / Visum
Virtuos und unterhaltsam
Aber auch dafür findet sie noch einen
auf ihre Fachkenntnisse gestützten
Kommentar. Inge Lohmark – darin liegt
der Reiz dieses Romans – sieht die Welt
nur durch die Augen einer Biologin.
Jede, noch die beiläufigste Beobachtung
mündet in eine kleine, biologisch grundierte Analyse.
Und für alles findet sie eine Analogie
in den Gesetzmässigkeiten der Natur,
die sie unermüdlich auf ihre Umgebung
überträgt. Mal ist es die Vererbungslehre, mal sind es die Gesetze der Evolution, immer wieder sind es Fakten aus der
Tier- oder Pflanzenwelt, die sie als Interpretationsraster über ihre Umwelt
legt. «Die Ameisen brauchten Tausende
von Arten, um die ganze Welt zu besiedeln, der Mensch schaffte das mit einer
Handvoll Varietäten.» Sätze wie diese
denkt sie pausenlos.
Objekte sind die Schüler und Schülerinnen, aber auch die Kolleginnen und
Kollegen. Und bei allen stellt sie nur
Schwäche fest: «Alles nur eine Frage des
Willens.» Dass beispielsweise Ellen von
ihren Mitschülern misshandelt wird,
sieht sie sehr wohl, aber es kümmert sie
nicht: «Es galt das Faustrecht. Wenn sie
so mutlos schaute, brauchte sie sich
nicht zu wundern. (…) Zum Opfer macht
man sich immer nur selbst.» Nur die
Judith Schalansky
zeichnet den
Schulalltag einer
Lehrerin in der
ostdeutschen
Provinz. Hier Güstrow
in MecklenburgVorpommmern.
Judith Schalansky erzählt das auf subtile
Weise, mit winzigen Verschiebungen im
theoretischen Schutzschild, das die Biologin immunisieren und von ihren eigenen Gefühlen fernhalten soll. Und zugleich bringt sie wie nebenbei auch
höchst aktuelle Themen zur Sprache:
Klimawandel, Überalterung, die Folgen
der Landflucht etwa.
Ein ausserordentliches Buch. Ungewöhnlich ist auch die Gestaltung, die
typographische Sorgfalt, mit der die Autorin ihr Buch eingerichtet hat. Das beginnt mit dem Einband aus grauem Leinen, einer gelungenen Anspielung auf
das Erscheinungsbild von Schulbüchern
in früheren Zeiten. Und es geht weiter
mit feinen Illustrationen, die über das
Buch verteilt sind, Darstellungen von
Medusen, Fruchtfliegen, Föten, Pantoffeltierchen oder Fossilien. Drei Kapitel
zählt das Buch, jeweils nach dem Stoff,
der an drei Tagen im Unterricht behandelt wird, und auf jeder rechten Seite
steht ein thematisches Schlagwort aus
der Biologie, als liesse sich hier etwas
nachschlagen. Entdecken lässt sich mit
Gewissheit eine Erzählerin, die hier
einen virtuosen und höchst unterhaltsamen Roman vorlegt. l
Die erste umfassende Monographie über Gallus – rechtzeitig
zum grossen Gallusjubiläum 2012!
Wer war Gallus? Ein Missionar, Wandermönch, Eremit? Keineswegs! Der Historiker und
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Theologe Max Schär gibt in seinem Buch Antworten auf beinah alle Fragen, die sich zu
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Gallus stellen lassen und überrascht mit neuen, teilweise auch provokativen Erkenntnissen.
Max Schär: GALLUS. Der Heilige in seiner Zeit. 2011. 552 Seiten, 21 Abbildungen in Farbe.
Gebunden. sFr. 48.–. ISBN 978-3-7965-2749-4 Schwabe Verlag Basel.
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman Die irische Erzählerin Anne Enright erforscht, wie sich Menschen in der Erinnerung ihr
banales Leben zurechtlegen
Alles begann auf dem Gartenfest
düsteres Geheimnis kreist, wissen wir in
«Anatomie einer Affäre» schon nach
wenigen Seiten, was geschehen wird:
Die Sache wird ihren Lauf nehmen, zwei
Ehen zerstören, mehrere Häuser auf den
Markt bringen und einem eh schon angeschlagenen Kind hart zusetzen.
Anne Enright geht es hier weder um
Spannung noch um Moral. Es geht ihr
nicht um das, was passiert ist, sondern
darum, wie es wiedergegeben wird. Sie
erforscht, wie sich Menschen die Unordentlichkeit und Willkür des Lebens zurechterzählen, wie sie sich selektiv erinnern und banale Ereignisse zu einer Geschichte formen, die sie dann fortlaufend redigieren.
Anne Enright: Anatomie einer Affäre. Aus
dem Englischen von Petra Kindler und
Hans-Christian Oeser. DVA. 320 Seiten,
Fr. 28.50.
Von Simone von Büren
«Das Licht ist wundervoll und grundverkehrt – es ist, als müsste ich den ganzen Planeten in meinem Kopf drehen,
um in diesen Garten zu gelangen, in diesen Abschnitt des Nachmittags und zu
diesem Mann, diesem Fremden, neben
dem ich jetzt schlafe.» Während ein
Sturm im Winter 2009 Dublin lahmlegt,
blickt die 39-jährige Ich-Erzählerin von
Anne Enrights neuem Roman zurück
auf eine Affäre, die zum Alltag wurde.
Das Thema Erinnerung taucht in den
Werken der irischen Autorin immer
wieder auf – am eindringlichsten in
ihrem Roman «Das Familientreffen»,
der 2007 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde. Während jener um ein
Geschönte Vergangenheit
Gina Moynihan – eine von Enrights vielen unverblümten Ich-Erzählerinnen –
steigt ein «in diese Geschichte über
Seán, die ich mir selbst erzähle» mit der
ersten Begegnung im Sommer 2002 an
einem Fest im Garten ihrer Schwester.
Sie reproduziert den Moment aktiv, entscheidet über die Art des Lichts und arrangiert die Personen nach Bedarf: Ihren
Verlobten Conor, mit dem sie damals gerade ein Reihenhaus in einem Vorort
gekauft hatte, streicht sie aus der Geschichte und beschreibt stattdessen, wie
sich eine ihr unbekannte Frau durch
einen Teller Süssigkeiten futtert. Seán
stellt sie «ans untere Ende des Gartens,
nachmittags, zu dem Zeitpunkt, wenn
der Tag sich zu neigen beginnt. Vielleicht um halb sechs.» Die Einzige, die
sich in der Erinnerung nicht recht bändigen lässt, ist Seáns vierjährige Tochter
Evie, «ein seltsames, gestörtes kleines
Ding» mit epileptischen Anfällen, «eine
Art Schmierfleck auf einem ansonsten
vollkommen klaren Bild.»
Der Diskrepanz zwischen Erlebtem
und Erinnertem, Erinnertem und Erzähltem ist sich Gina dabei durchaus
bewusst: Sie weiss, dass sie lange gar
nicht in Seán verliebt war, aber: «Würde
man mich heute fragen, würde ich na-
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6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
türlich sagen, dass ich von jenem ersten
Blick an verrückt nach ihm war.» Und
sie gibt zu, dass sie möglicherweise
«den Liebhaber, den ich heute kenne,
der Erinnerung an den Mann überstülpe, mit dem ich damals geschlafen
habe.»
In der Folge greift sie ohne Rücksicht
auf die Chronologie einzelne Momente
heraus, überspringt andere «wie die
Nadel auf einer alten Schallplatte» und
kehrt immer wieder zu diesem Sommernachmittag zurück, an den Seán sich bezeichnenderweise nicht erinnert. Es gibt
in ihrer Rohfassung der Geschichte Widersprüche und lose Enden, Exkurse in
die Kindheit, minutiös gearbeitete Szenen und blosse Skizzen. Meisterhafte
Bilder – Seáns Frau, die in ihren Designerkleidern «wie ein weiches Lebewesen aus einem schönen harten Panzer
ragt» – stehen neben forcierten Beschreibungen wie die einer hysterischen
Schwangeren als «Steckrübe mit Nervenzusammenbruch».
«Läppisch klingende Einzelheiten», die
ernüchternden Details der Affäre, die
Missverständnisse, Hotelnächte und
Lügen durchkreuzen immer wieder die
Behauptung grosser Liebe und Romantik, die Gina hartnäckig aufrechtzuerhalten versucht und die auch in den
Popsongs anklingt, mit deren Titel die
Kapitel überschrieben sind. Rückwirkend retouchiert sie entsprechend, fügt
der ersten Begegnung, die, wie sie zu-
Peter Peitsch
Einsamkeit und Sehnsucht
Die irische Autorin
Anne Enright 2008
bei einem Besuch
in Hamburg.
gibt, «nichts Schicksalhaftes an sich
hatte», «das Licht des Spätsommers und
die Aussicht hinzu». Sie schwankt zwischen Ehrlichkeit und Ausflucht, betont
ihre anhaltende Verliebtheit, nur um in
einem «Versprecher» die tatsächliche
Situation zu verraten: «Bevor unser
Leben eine Ödnis aus Langeweile, Wut
und Betrug wurde, liebte ich Seán. Ich
meine Conor.»
Enrights harter und genauer Blick auf
Alltägliches und ihr direkter, lebendiger,
von der gesprochenen Sprache inspirierter Stil bringen uns die Figuren mit
ihren Feigheiten und Eitelkeiten nahe,
wenngleich sie uns dadurch auch nicht
unbedingt sympathisch werden. Der
Titel der deutschen Übersetzung nimmt
diesen analytischen Blick auf: Allerdings beschreibt der Roman die Anatomie von viel mehr als einer Affäre: Eine
Anatomie von Ginas Schwester, «der
wunderschönen Mutter Schrägstrich
Gastgeberin», die zu ihrem mustergültigen Leben eine mustergültige Vergangenheit erfindet. Eine Anatomie der irischen Mittelschicht gegen Ende der
Boomjahre mit ihren Zweithäusern am
Meer, ihren Markenkleidern, Schönheitsoperationen und IT-Jobs, die die
Wirtschaftskrise 2009 ebenso zerfetzt
wie die Affäre die Ehen.
Vor allem aber präsentiert der Roman
eine Anatomie der Erzählerin, ihrer Einsamkeit und Sehnsucht, ihrer Ausweichmanöver und Eingeständnisse und ihrer
anstrengenden Beziehung zu Evie, dem
«Kuckuckskind», das in seiner «galoppierenden Körperlichkeit» in ihrer
Küche sitzt und nervt. Doch um Evie
kommt sie nicht herum. Evie ist der
Preis, den sie für die Liebe zu entrichten
hat, und der Grund, wieso sie noch mit
Seán zusammen ist. Jedenfalls hat Gina
sich das so zurechtgelegt. l
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27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Klassiker Mit Dantes «Komödie» begann die italienische Literatur – bis
heute gilt sie als ihr Hauptwerk. Kurt Flaschs Neuübersetzung zeugt
von grossem sprachlichem Einfühlungsvermögen
Abenteuer der Seele
Dante: Commedia. In deutscher Prosa.
Übersetzt von Kurt Flasch. S. Fischer,
Frankfurt 2011. 2 Bände, 320 S., Fr. 129.–.
Von Stefana Sabin
Die Zeitläufe waren unruhig, gewaltsame politische und religiöse Kämpfe erschütterten das Land, und Sympathien
waren von kurzer Dauer. So geschah es,
dass der Florentiner Dichter und Philosoph Dante Alighieri zwischen verfeindete Fraktionen geriet und aus seiner
Heimatstadt verbannt wurde. Im Exil in
Verona und Ravenna, wo er 1321 starb,
schuf Dante ein grossangelegtes episches Gedicht (14 233 Verse): eine Jenseitsvision, die er «Komödie» nannte
und in der er seine Epoche religionsphilosophisch reflektierte und literarisch gestaltete.
Die Handlung erzählt von der Wanderung der Dichterfigur Dante durch
Hölle und Läuterungsberg und von seiner Ankunft im Paradies. Bald in kurzen
Szenen und bald in ausführlichen Episoden werden Erlebnisse und Begegnungen von unterwegs wiedergegeben, wird
eine Vielzahl von historischen, mythologischen und biblischen Gestalten eingeführt. Beschrieben wird ihre jeweilige
Strafe, Busse oder Seligkeit, wobei Beurteilungen nicht dem göttlichen Weltenrichter überlassen, sondern mit souveräner poetischer Eigenmächtigkeit vorgenommen werden (Päpste und Krieger
sitzen in der Hölle, Künstler eher auf
dem Läuterungsberg und Philosophen
im Paradies). Als Führer tritt zuerst der
römische Dichter Vergil auf, später der
christliche Dichter Statius, der an der
Schwelle zum Paradies wiederum von
einer Frauengestalt, Matelda, abgelöst
wird. Sie ist es, die den Jenseitsreisenden zu seiner Geliebten Beatrice bringt.
Das Happyend erklärt nur bedingt
den Bezug auf die dramatische Gattung
der Komödie. Der Titel, so Dante, sollte
ein Hinweis auf die Spannweite der
Handlung ebenso wie auf den programmatischen Verzicht auf Erhabenheit
sein. Denn Dante schrieb die «Komödie» nicht in Latein, wie damals für
hohe Literatur üblich, sondern in der
Volkssprache, also auf Italienisch, und
er hielt sich nicht an eine sublime Bildlichkeit, sondern benutzte alle stilistischen Register – derb, ekstatisch, lyrisch. Mit Dantes «Komödie» beginnt
die italienische Literatur – und sie gilt
bis heute als ihr Hauptwerk.
Suggestive Sprache
Schon im 14. Jahrhundert war die «Komödie» in Italien verbreitet. Etwa
450 Handschriften waren im Umlauf.
1472 erschien die erste gedruckte Fassung, fast ein Jahrhundert später wurde
das Beiwort «göttlich» hinzugefügt –
und ein Missverständnis geschaffen.
Denn in Dantes fiktionalem Jenseits
geht es um rein menschliche Befindlichkeiten und Gefühle, Dante ist ganz und
gar ein «Dichter der irdischen Welt»
(Erich Auerbach). Es ist die dichterische
Erfassung der Weltwirklichkeit, die die
«Komödie» bis heute relevant macht.
Nicht zufällig nannte Karl Witte seine
Übersetzung von 1865 «Die grossen Geschichten der Menschheit». Wittes war
damals die elfte Gesamtübersetzung –
inzwischen gibt es etwa 60, die meisten
davon, wie diejenige Wittes, in Blankversen, nur wenige in Terzinen, wie diejenige von Rudolf Borchardt von 1923,
einige in Prosa.
Auch der Mainzer Mediävist Kurt
Flasch hat Dantes Terzinen in Prosa
übertragen – in einer rhythmisierten,
unprätentiösen und dennoch suggestiven Sprache. Flasch, dessen Studien
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8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
Dantes Inferno in der
«Komödie», gemalt
von Sandro Botticelli
(1490–1496).
Vatikanische Museen,
Rom.
über Augustinus, Cusanus und Meister
Eckhart philosophische und philologische Massstäbe setzten, hatte seine
Übersetzungsfeder sozusagen an Boccacio geschärft, bevor er sich die «Komödie» vornahm. Je nach Zeitrechnung hat
er ein Jahrzehnt oder ein Leben daran
gearbeitet – jedenfalls zeugt die prächtige Dante-Ausgabe, die jetzt im Jubiläumsprogramm des S.-Fischer-Verlags
erschienen ist, von jener «Geduld zur
Sache», die Adorno jeder Gelehrtheit
unterstellte.
Sperrig, aber verstehbar
Die Gelehrtheit hat Flasch in einem separaten Band mit dem Titel «Einladung,
Dante zu lesen» zusammengefasst: Biografisches zu Dante, Erklärungen zu den
Figuren, sprach-, religions- und kulturhistorische Überblicke machen die «Komödie» zu einer «summa mundi».
Flasch versteht sie als einen fernen Spiegel der Gegenwart, sieht, ganz im Sinne
Auerbachs, in Dantes Jenseits eine literarische Gestaltung des Diesseits.
Auch deshalb vertraut Flasch auf die
Kraft der sprachlichen Bilder. Er habe,
schreibt er, den Text lassen wollen, «wie
er ist: alt, fremd, sperrig, beladen mit
historischem Stoff, mit theologischer
Spekulation, mit bizarren Einfällen»,
Lyrik Ein unbekanntes Kapitel jüdischer Literatur in Deutschland
Schreiben nach Auschwitz
Tamar Lewinsky (Hrsg.): Unterbrochenes
Gedicht. Jiddische Literatur in
Deutschland 1944–1950. Oldenbourg,
München 2011. 168 Seiten, Fr. 35.50.
Von Klara Obermüller
ALINARI / ARTOTHEK
Ihr Schicksal gleicht demjenigen von
Millionen osteuropäischer Juden im
20. Jahrhundert. Mit einem Unterschied:
Sie haben überlebt und sind zurückgekommen, in ihre Heimatländer zuerst,
dann, weil man sie dort wieder verfolgte, nach Deutschland und später nach
Israel, Südamerika oder in die Vereinigten Staaten. «Desplaced Persons» (DP)
nannte man diese jüdischen Überlebenden, die nach dem Krieg in Deutschland
gestrandet waren und in speziell für sie
eingerichteten Lagern zumeist in Bayern untergebracht wurden.
So weit ist die Geschichte bekannt.
Weniger bekannt dürfte sein, dass es
unter diesen Versprengten auch Schriftsteller gab, die auf jiddisch für ein jiddischsprachiges Publikum Gedichte und
Kurzprosa schrieben. Tamar Lewinsky
hat nun, zusammen mit ihrem Vater
Charles Lewinsky, eine Auswahl dieser
Arbeiten ins Deutsche übersetzt und als
Anthologie herausgegeben.
Der Band «Unterbrochenes Gedicht»
enthält Werke von 19 Autoren, darunter
zwei Frauen. Die Texte gehören zu den
frühesten Versuchen, sich literarisch
mit den Erfahrungen der Shoah auseinanderzusetzen. Dass es vornehmlich
Gedichte sind, erstaunt nicht. Marcel
Reich-Ranicki hat einmal bekannt, dass
er im Warschauer Ghetto nur noch Lyrik
und keine Romane mehr zur Hand genommen habe, weil er ja nie wusste, ob
er anderntags noch in der Lage sein
würde, weiterzulesen. Ich denke, dass es
denjenigen, die unmittelbar nach der
Shoah Worte für das Leben nach dem
Überleben suchten, ähnlich erging.
Für eine lyrische Abbreviation reichte die Kraft, für mehr noch nicht. Es ist
eine relativ kurze Zeitspanne, in denen
und ihn dennoch durchsichtig und verstehbar machen.
Flasch orientiert sich am heutigen
deutschen Sprachgebrauch, aber er
bleibt nah am Original und gibt ihm die
Frische wieder, die es sich im Italienischen bis heute bewahrt hat.
Wenn Witte die Reise ins Jenseits mit
einem irdischen Orientierungsverlust
beginnen lässt: «Es war in unseres Lebensweges Mitte, / Als ich mich fand in
einem dunklen Walde; / Denn abgeirrt
war ich vom rechten Wege;» und wenn
Borchardt hinter der Verirrung eine
Selbstaufgabe sieht: «Es war inmitten
unseres wegs im leben, / Ich wandelte
dahin durch finstre bäume / Da ich die
rechte strasse aufgegeben;», so stellt
Flasch in suggestiver Knappheit den Anfang einer Selbstfindung dar: «In der
Mitte unseres Lebenswegs kam ich zu
mir in einem dunklen Wald. Der rechte
Weg war da verfehlt.»
Es ist fast eine Abenteuerreise, jedenfalls eine seelische und geistige Abenteuerreise, die Flasch in der «Komödie»
freilegt. Nicht das philosophische Hintergrundwissen und auch nicht die philologische Bildung, sondern das sprachliche Einfühlungsvermögen macht Kurt
Flaschs Übersetzung zu einer tatsächlichen «Einladung, Dante zu lesen». ●
diese Gedichte entstanden sind: 1944
das früheste von Meyer-Ber Gutman,
geschrieben noch im Lager Kaufering
bei Dachau, die letzten bereits Anfang
der fünfziger Jahre, als die DP-Lager aufgelöst und die Insassen in alle Winde
verstreut wurden. Thematisch sind sie
sich alle sehr ähnlich. Sie kreisen um die
Erfahrung des Todes, die Schuldgefühle
gegenüber den Opfern und immer wieder auch um die Absurdität, ausgerechnet in Deutschland eine erste Zuflucht
gefunden zu haben. Qualitativ gibt es
Unterschiede, gewiss. Aber die Intensität, mit der hier um eine Sprache für das
Unaussprechliche gerungen wird, straft
alle jene Lügen, die Gedichte nach
Auschwitz für unmöglich hielten. Dass
es ausgerechnet die «Mameloschen»,
die Muttersprache, ist, der das Unmögliche gelingt, macht den besonderen Wert
dieser Arbeiten aus.
Manche der hier versammelten Autoren, Gutmann, Vorzoger oder Binyomin
etwa, sind Lyriker von Rang, und die
Nähe manch eines ihrer Gedichte zu Arbeiten von Paul Celan, Nelly Sachs oder
Rose Ausländer ist frappant. Wie diese
treiben auch sie die Sprache bis hart an
die Grenze zum Verstummen. «Jedes
Wort – ist Lästerung / Oh, gib mir Kraft,
Gott – um zu schweigen», heisst es bei
Shloyme Vorzoger. Das Schweigen ist
neben dem Schmerz um die Opfer, dem
Hass auf die Täter und ganz am Ende
einer zaghaften Hoffnung auf die heilende Kraft der Liebe das zentrale Thema
dieser Gedichte und kurzen Prosatexte,
die von Tamar und Charles Lewinsky
mit grosser Sorgfalt ins Deutsche übertragen wurden.
Die vorliegende Anthologie stellt
einen wertvollen Beitrag zur Geschichte
sowohl der jüdischen wie vor allem der
jiddischen Literatur in Deutschland dar.
Schade eigentlich nur, dass die Herausgeberin Tamar Lewinsky auf die Wiedergabe der Originaltexte verzichtet
und uns damit die Klangvielfalt wie
auch den lexikalischen Reichtum des
Jiddischen vorenthalten hat. ●
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27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Lyrik Jan Wagner zeigt sich in seiner kleinen Prosa als kluger Beobachter von Augenblicken und
Nebensächlichkeiten
Vom Tagwerk des Dichters
Jan Wagner: Die Sandale des Propheten.
Beiläufige Prosa. Berlin Verlag,
Berlin 2011. 239 Seiten, Fr. 28.50.
Von Angelika Overath
Was tut ein Lyriker auf dem Poesiefestival in Bratislava, wenn Pause ist? Er stolpert in die «World Dog Show». Erst
fremdelt er unter Chow-Chows und
Möpsen, Neufundländern und Windspielen, Rottweilern und Leonbergern,
dann aber ahnt er zunehmend im «freudigen Bellen der Collies», im «herrischen Kläffen der Setter», im allgemeinen «Japsen und Winseln» eine geheime Wahlverwandtschaft zu den Züch-
tern dieser menschennahen Geschöpfe.
Während ein frisch gestriegelter Riesenschnauzer sich dem Fotografen präsentiert, tritt sein Besitzer «mit Anmut
und Bescheidenheit» zur Seite, «in seinem Gesicht das feine Lächeln dessen,
der weiss, dass es gut ist, dass es gelungen ist, der den Betrachtern die Frucht
all seiner Mühen mit der freundlichen
Geste des Schöpfers überlässt: Seht, das
Werk ist fertig, erfreut euch daran.»
Zum Alltag eines Dichters gehören
aber auch die zu schützenden, zu besprechenden oder herauszugebenden
Kollegen («Über neue Gedichte», «Vom
Pudding. Formen junger Lyrik»). Immer
vertritt er die Ehre seines Fachs ganz im
Sinn Dylan Thomas’: «Ein gutes Gedicht
Island Zerstörung unberührter Landschaften
Island ist das Land der Vulkane und Geysire, der
langen Winter, des Eises und der unberührten Natur.
Der Gletscherfluss Jökulsa a Bru galt als der wildeste
Strom der Insel im Norden Europas. Er hat sich über
viele tausend Jahre tief in die Erde eingeschnitten
und eine ganz eigene Landschaft hervorgebracht.
Heute ist von ihm nur mehr ein Rinnsal übrig
geblieben. Zwischen 2003 und 2006 wurde in der
Gegend ein riesiger Staudamm errichtet, der es
erlaubte, 57 Quadratkilometer Land zu überfluten,
darunter die Weiden der letzten frei lebenden
Rentiere des Landes. Über siebzig Wasserfälle fielen
dem gigantischen Projekt zum Opfer. Die Proteste
von Umweltschützern waren vergeblich, die Nutzung
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
ist absurd: Hauptabnehmer des hier produzierten
Stroms ist eine Aluminiumfabrik. Island hat kein
Bauxit. Der Rohstoff kommt aus Australien und
Brasilien, das Aluminium wird in alle Welt verschifft.
Olaf Otto Becker hat sich mit seinen ebenso schönen
wie aufrüttelnden Büchern zum Verschwinden des
Nordpol-Eises in kürzester Zeit einen Namen
gemacht. In dem neuen Band legt er auf bedrückende
Weise offen, wie hinter der vermeintlichen
Unberührtheit Islands bereits seine Zerstörung liegt.
Unsere Sehnsucht nach Weite und Ruhe trifft hart auf
die Spuren der Wirtschaftskrise. Gerhard Mack
Olaf Otto Becker: Under the Nordic Light. Hatje
Cantz, Ostfildern 2011. 160 S., 93 Farbbilder, Fr. 85.–.
ist ein Beitrag zur Wirklichkeit». Oder
er mischt sich ein in alte Diskussionen
und rettet (endlich!), was seit Gottfried
Benns Verbot niemand gewagt hat, den
«Wie-Vergleich» für die Lyrik. Im Unterschied zur Metapher, die schnell autoritär kurzschliesse, bleibe das «Wie»
demokratisch und auf Augenhöhe mit
dem Leser. Wunderbarerweise belegt er
dies ausgerechnet mit einer Benn-Zeile
aus einem frühen Morgue-Gedicht, wo
über notdürftig versorgte Krebskranke
gesagt wird: «Manchmal/ wäscht sie die
Schwester. Wie man Bänke wäscht.»
Was wäre sein Tagwerk ohne die Feiertage der Preise! Jan Wagner verbeugt
sich souverän vor so unterschiedlichen
Dichtern wie Arno Reinfrank, Ernst
Meister, Wilhelm Lehmann und hebt sie
damit noch einmal aus dem Sog des Vergessens. Der studierte Anglist setzt sich
mit Klassikern der modernen Lyrik auseinander (beispielsweise Walt Whitman, Wallace Stevens). Und dann stolpert er wieder durch eine irische Winterdämmerung und glaubt plötzlich,
über den Hügeln grossartig den Mond
aufgehen zu sehen; es waren aber die
Scheinwerfer eines Campingwagens,
der kurzsichtige Dichter hatte die Brille
nur nicht aufgesetzt.
Aus der narrenden Sehschwäche aber
entzündet sich ein Lob der Unschärfe,
denn niemals wäre dieser Mond/Campingwagen-Augenblick in der Erinnerung geblieben ohne die radikale Täuschung, die in das Empfinden fällt wie
ein Blitz, wie eine Epiphanie in die Vagheit der Existenz.
Nicht nur das italienische Domizil
vor Rom, wo er über die Zeitmaschine
Lyrik nachdenkt, gehört zu den Produktionsbedingungen, auch die Kneipe in
Neukölln, wo alte Topfpflanzen weise
nicken, und das Übersetzertreffen in
Helsinki mit finnischen Lyrikern, die –
mittels der gemeinsamen Sprache Englisch – sich über «poetische Treue» und
den Verzicht verständigen, den jedes
Übersetzen ausmacht. Oder er streift
zwecks wechselseitiger Inspiration mit
Malern durch griechische Olivenhaine.
Aber er hatte sein Haiku über die Zeit
bereits zu Hause in Vorfreude geschrieben: «sagt: welcher prophet/ verlor die
sandale dort,/ aus der schon moos
wächst». Ein Maler entdeckt nun die
Sandale im Hain. Was ist jetzt mit der
Zeit und der Wirklichkeit?
Wer für sie empfänglich ist, wird
ohne Lyrik nicht leben wollen. Und er
darf mit grossem Vergnügen in diesem
entspannten und lehrreichen, in diesem
freundlichen Buch lesen, das mitnimmt
in die gesteigerte Welterfassung eines
Menschen, der sprachlich reaktionsbereit durchs Leben geht.
Jan Wagner ist ein Botanisierer von
Augenblicken (und Lesemomenten), ein
bewundernswürdiger Goldschmied der
Nebensächlichkeiten, die uns manchmal
retten. ●
Kriminalroman Mafia in der Klinik
In eine fremde
Haut geschlüpft
Paul Wittwer: Widerwasser. Nydegg,
Bern 2011. 398 Seiten, Fr. 35.90.
Der Berner Arzt
Paul Wittwer legt
einen rasanten Krimi
mit Lokalkolorit vor.
Wer hat nicht schon einmal mit dem Gedanken gespielt: Alles hinschmeissen,
die Vergangenheit abstreifen, in eine andere Haut schlüpfen und ganz neu anfangen? Mauro Matter, ein junger Arzt
aus Bern, hat gerade seinen Job und gewissermassen auch Frau und Kind verloren. Er steht nachts am Ufer der Aare,
denkt nicht an einen Neuanfang, sondern ans Aufgeben: Er will sich ins Wasser stürzen und nie wieder auftauchen.
Doch dann fällt ihm eine Leiche vor die
Füsse. Ein weiterer Lebensmüder, so
vermutet Matter, der sich von der Brücke gestürzt hat. Der Tote sieht ihm ähnlich. Und plötzlich ist sie da, die Idee.
Statt sein eigenes Leben fortzuschmeissen, beschliesst Matter, das Leben des
Toten weiterzuführen: Ein Neubeginn
mit einer anderen Identität.
Nur: Beim Verstorbenen handelte es
sich keineswegs um einen Lebensmü-
ROLAND SPRING
Von Christine Brand
den, sondern um einen Gejagten, der
eng mit der italienischen Camorra verstrickt war. So löst der Rollentausch bei
Mauro Matter nicht nur eine verworrene Suche nach seinem eigenen Ich aus.
Er verfängt sich gleichzeitig im Netz des
organisierten Verbrechens und wird
zum Verfolgten, der um sein Leben
fürchten muss. Was ihn nicht davon abhält, Nachforschungen in einer Berner
Privatklinik zu betreiben, die der Camorra als Tarnung dient und in der ein
sonderbares Geschäft mit Herzschrittmachern betrieben wird, die gar keine
Herzschrittmacher sind.
Es ist eine rasante Geschichte mit einigen charakterstarken Figuren und viel
bernischem Lokalkolorit, die Paul Witt-
wer in seinem dritten Kriminalroman
«Widerwasser» vorlegt. Wie in «Giftnapf» und «Eiger, Mord und Jungfrau»
hat der schreibende Arzt aus dem bernischen Oberburg als Hauptprotagonisten
wiederum einen Arzt gewählt. Der kantige Polizist Limacher muss sich mit einer
Nebenrolle zufriedengeben, was zu bedauern ist. Wittwer macht den Lesern
den Einstieg nicht leicht. Er wirft sie hinein in einen Strudel von Ereignissen, und
sie müssen sich auf abrupt wechselnden
Schauplätzen zurechtfinden.
Es braucht etwas Geduld, bis man den
Überblick gewinnt. Doch dann vermag
die Geschichte einen doch zu packen
und mit unerwarteten Wendungen zu
überraschen. ●
Friedrich Dürrenmatt
»Ich gehe auf keine Demonstration, ich bin selber eine.«
Die erste große Biographie über Friedrich Dürrenmatt – vom Pfarrerssohn aus dem Emmental zum Autor von Weltruhm und mit Millionenauflagen, glänzend und packend geschrieben von Peter Rüedi.
»Hier wird kein Leben erzählt, hier wird ein Universum durchleuchtet.«
Martin Ebel / Tages-Anzeiger, Zürich
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»Ein kapitales Werk.«
Manfred Papst / NZZ am Sonntag
»Eine faszinierende Expedition ins Innere von Dürrenmatts Werk.«
Dürrrrreeenma
Dür
nmatttt
Urs Bugmann / Neue Luzerner Zeitung
»Schon heute ein Standardwerk.«
Roger Anderegg / Sonntags-Zeitung, Zürich
960 Seiten, Leinen mit Lesebändchen, mit einem Bildteil
sFr 49.90 (unverbindliche Preisempfehlung)
ISBN 978-3-257-06797-2
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Belletristik
Literarische Reportage Die beiden sowjetischen Autoren Ilja Ilf und Jewgeni Petrow reisten im Jahr
1935 quer durch Amerika. Ihr Bericht aus der Wirtschaftskrise ist von erstaunlicher Frische
«Nicht zu kaufen ist unmöglich»
über Gangster und Banker, über den Kino-Schund, den das geldgetriebene Hollywood produziert, über bloss halbvolle
Konzertsäle und lahmen Beifall für grosse Künstler. Angesichts solch «geistiger
Trägheit im Kapitalismus» befällt die
beiden Sowjets dann jeweils der «dringende Wunsch, uns zu beschweren, Vorschläge zu machen, an die Prawda zu
schreiben oder ans ZK.» Aber auch das
Entzücken der Besucher lässt tief in die
Zustände in ihrer sowjetischen Heimat
blicken: über den allgegenwärtigen Service und Komfort, über kostenlose
Landkarten und elektrische Haushaltgeräte, über Arbeitswillen und Technikbegabung der Amerikaner.
Ilja Ilf, Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika. Eine Reise mit Fotos
von Ilja Ilf, 2 Bände. Die Andere
Bibliothek im Eichborn-Verlag,
Frankfurt 2011. 694 Seiten, Fr. 89.–.
Von Kathrin Meier-Rust
Zwei Russen im besten Alter kommen
nach New York. Sie bestaunen Wolkenkratzer und Verkehrsstaus, besuchen,
wie sich's gehört, Stripteaseshow und
Boxkampf, Spielhölle und Obdachlosenheim. Dann kaufen sie ein Auto «von
eleganter mausgrauer Farbe» und unternehmen eine Reise, die sie zwei Monate
lang quer durch die Vereinigten Staaten
nach Kalifornien und wieder zurück
führt. Sie sind hingerissen von der grandiosen Natur des Landes und «verstört
von seinem Reichtum und seiner
Armut».
Sie staunen: über hervorragende
Strassen, «breit wie ein Doppelbett und
glatt wie eine Tanzfläche», über Essen,
das «lecker aussieht, aber fade
schmeckt», über «3 Arten von Wasser:
kaltes, heisses und eisgekühltes». Konsterniert notieren sie, dass Amerikaner
immer auf Raten kaufen: «Alles, sogar
das Bett, auf dem der unverbesserliche
Optimist und enthusiastische Verteidiger des Eigentums schläft, gehört nicht
ihm, sondern einer Firma oder einer
Bank.» Doch angesichts der allgegenwärtigen Konsum- und Reklamewelt begreifen sie schnell: «Nicht zu kaufen ist
ganz und gar unmöglich.»
Wie eine Ozean-Fahrt
Ungleiches Autorenduo
Was sich so frisch liest, als wäre es letztes Jahr geschrieben, ist eine Reportage
aus Amerika im Winter 1935/36, die
heute zu den Klassikern dieses Genres
gehört. Die beiden Russen auf Amerikareise sind Ilja Ilf und Jewgeni Petrow,
zwei Literaturstars aus der Sowjetunion,
die im Auftrag der «Prawda» reisten.
Beide Autoren stammten aus Odessa,
hatten sich aber erst in Moskau kennengelernt, wo sie zusammen die Gaunerkomödie «Zwölf Stühle» (1928) schrieben, eine mit leichter Hand verfasste
Satire auf die so ganz und gar bourgeoise Geldgier in der jungen sowjetischen
Gesellschaft. Sie war ein sofortiger Publikumserfolg, ebenso wie die noch bissigere Fortsetzung «Das Goldene Kalb»
(1931).
Beide Bücher erregten Anstoss bei
der Zensur, wurden mehrmals verfilmt
und sind in Russland bis heute populäre
Klassiker. «Das eingeschossige Amerika» (der Titel soll dem sowjetischen
Leser deutlich machen, dass der gewöhnliche Amerikaner keineswegs im
Wolkenkratzer lebt) mit vielen Fotos
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
Das Empire State
Building in New York
1932, kurz vor der
Reise der beiden
Prawda-Reporter.
von Ilf, war ihr drittes und letztes grosses Gemeinschaftswerk.
Das Autorenduo «Ilfpetrow» soll tatsächlich Satz für Satz gemeinsam geschrieben haben. Doch die beiden waren
ganz verschiedene Menschen. Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg erzählt in seinen Memoiren, Ilf sei «verlegen und schweigsam» gewesen, ein
schwermütiger Mensch mit einem oft
bösen Witz, der etwas jüngere Petrow
dagegen ein Mensch von unverbesserlichem Optimismus. Sie hätten einander
prächtig ergänzt, schreibt Ehrenburg:
«Ilfs bissige Satire verband sich treffend
mit Petrows gütigem Humor.»
Im Amerikabuch behält Petrows liebevoller Humor die Oberhand. Zwar
sind die beiden Reporter oft entsetzt:
Ein Lese-Vergnügen der besonderen Art
bereitet die köstliche Binnengeschichte
um Mr. und Mrs. Adams: Der rundliche
Mr. Adams, ein Ingenieur, der russisch
spricht und als Führer und Übersetzer
fungiert, plant, warnt und ermahnt von
früh bis spät. Derweil Mrs. Adams, die
einzige im mausgrauen Auto mit einem
Fahrausweis, über 16 000 Kilometer stoisch am Steuer sitzt. «Ilfpetrow» vergleichen die Fahrt durch die USA mit
einer Schiffsreise über den Ozean: «Sie
ist ebenso einförmig wie grossartig.
Wann man auch auf Deck erscheint, ob
morgens oder abends, bei Sturm oder
Windstille . . . stets liegt vor einem eine
wunderbare glatte Strasse, die von Tankstellen, Touristenunterkünften und Reklametafeln gesäumt ist.»
«Das eingeschossige Amerika» erschien in Moskau 1937 und wurde
prompt als zu Amerika-freundlich kritisiert – spätere Ausgaben wurden deshalb zensuriert veröffentlicht.
Nun erscheint die Original-Reportage
zum ersten Mal auf Deutsch. Ein Vorwort von Ilfs Tochter Alexandra ergänzt
diese sorgfältige Ausgabe in der Anderen Bibliothek, ebenso köstliche Reaktionen sowjetischer Leser aus dem Jahr
1937. Noch wertvoller sind die zum Teil
erstmals publizierten Briefe der beiden
Autoren aus Amerika an ihre daheimgebliebenen Frauen. Sie offenbaren, was
die leichthändig geschriebene Reportage nur zwischen den Zeilen ahnen lässt:
Ermüdung und Anstrengung, die Last
offizieller Empfänge und permanenter
Geldsorgen, Sehnsucht nach der und
Sorge um die Familie in Moskau, wo die
stalinistische Finsternis angebrochen
war. Ilja Ilf kam schwerkrank von der
Reise zurück und verstarb ein Jahr später an Tuberkulose. Jewgeni Petrow kam
als Kriegsreporter 1942 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Noch im Tod
verband sie ein gemeinsames Schicksal:
Beide waren nur knapp 40 Jahre alt geworden. ●
Erzählungen Skurrile Geschichten,
garniert mit Lyrik und Aphorismen
Mick wohnt
im Briefkasten
Kurzkritiken Belletristik
Eva-Maria Alves (Hrsg): Unter Engeln.
Anthologie. Insel, Berlin 2011. 250 Seiten,
Fr. 13.50.
Théophile Gautier: Mademoiselle de
Maupin. Roman. Aus dem Franz. von
C. Vollmann. Manesse, 2011. 628 S., Fr. 35.50.
Die Esoterik wird sie bald ganz verkitscht haben. Umso wichtiger ist diese
Anthologie von Texten aus über 1000
Jahren, die daran erinnern, wie mannigfaltig und geheimnisvoll den Menschen
die Engel erschienen und noch immer
erscheinen. Nicht nur von Schutz-, Erzund Todesengeln handeln die Dichter,
auch vom Hungerengel (Herta Müller),
vom Sklavenengel (Meret Oppenheimer) und von Kriegsengeln (Rafael Alberti) ist hier die Rede. Engel ohne
Beine haben ebenso ihren Auftritt wie
der «Engel des Seltsamen» von Edgar
Alan Poe in Gestalt eines sprechenden
Schnapsfasses. Kurz, man kann Robert
Walser nur beipflichten: «So ein Engel
tut gut, wenn er wartet, bis man ihm mitteilt, man bedürfe seiner», denn: «Bald
bin ich gläubig, bald ungläubig, und er
muss es dulden, der Liebe.» Ein inspiriertes Vorwort ergänzt die Vielfalt der
Erscheinungen aufs Schönste.
Kathrin Meier-Rust
1835 ist dieser erotisch-schwüle Roman
erstmals erschienen. Er markierte den
Einstand des damals 24-jährigen Erzählers Théophile Gautier (1811–1872), den
sowohl Baudelaire als auch Victor Hugo
schätzten. Gautier war ein Romantiker,
Libertin und eleganter Stilist. In seinem
Erstling geht es um eine Dreiecksgeschichte zwischen einem Edelmann,
einer kecken jungen Dame – und einem
androgynen Wesen, dessen Geschlecht
ein Rätsel bleibt. Schon der Titel des
Buchs versprach eine bizarre Pikanterie:
Julie d’Aubigny, verheiratete Maupin,
war um 1700 eine Skandalfigur. Doch
Gautier geht gar nicht auf sie ein. Er benutzt sie bloss als «Teaser» für sein
Buch, das Mario Praz in seiner berühmten Studie über die Schwarze Romantik
als «Flaubert avant la lettre» gepriesen
hat. Wir sehen das heute etwas kritischer – und verschlingen den Schmöker
gleichwohl mit Behagen.
Manfred Papst
Wallace Stevens: Hellwach, am Rande
des Schlafs. Gedichte. Zweisprachige Edition. Hanser, München 2011. 352 S., Fr. 34.90.
Nella Larsen: Seitenwechsel. Roman.
Aus dem Amerikanischen von A. Dormagen.
Dörlemann, Zürich 2011. 191 Seiten, Fr. 29.–.
Sein Brot verdiente Wallace Stevens
(1879–1955) als leitender Mitarbeiter
einer Versicherungsgesellschaft. Im
Herzen war er jedoch Lyriker, und als
solcher zählt er heute zu den bedeutendsten amerikanischen Autoren des
20. Jahrhunderts. Er war ein Einzelgänger und gehörte keiner Schule an. Der
französischen Kultur fühlte er sich zugetan, doch er blieb sein Leben lang in
Hartford, Connecticut. Seine Gedichte
zeichnen sich durch philosophische
Tiefe und musikalisches Raffinement
aus. So verwundert es nicht, dass sich
eminente Köpfe der deutschen Literatur
um sie bemüht haben: Die Übersetzungen im vorliegenden Band stammen von
Hans Magnus Enzensberger, Karin Graf,
Durs Grünbein, Michael Köhlmeier,
Bastian Kresser und dem Herausgeber
Joachim Sartorius. Ein kostbarer, sorgsam gestalteter und gewichtiger Band.
Manfred Papst
Der Roman «Seitenwechsel» (1929) ist
keine literarische Perle, für uns Deutschsprachige aber sehr wohl eine soziohistorische Trouvaille. Umso schwerer
wiegt das Versäumnis des Verlages, ihm
kein ausführlicheres Nachwort gegönnt
zu haben. Zwar wird erwähnt, dass Nella
Larsen (1891–1964) Tochter einer dänischen Immigrantin war, jedoch nicht,
dass ihr Vater ein Schwarzer von den
Westindischen Inseln war. Die Geschichte handelt von zwei Jugendfreundinnen, Clare und Irene, die äusserlich
als Weisse «durchgehen». Eine von
ihnen gibt sich als solche aus, die andere
interessiert sich für die Bürgerrechtsbewegung. Anders als etwa Philip Roths
«Der menschliche Makel» ist «Seitenwechsel» geradezu plakativ geschrieben. Seinen Rang bezieht der Roman aus
Stoff und Erscheinungsjahr. In diesem
Sinn: definitiv lesenswert.
Regula Freuler
Markus Bundi: Gehen am Ort. Edition
Isele, Eggingen 2011. 62 Seiten, Fr. 22.90.
BARBARA DAVATZ
Von Bruno Steiger
Was ist das: ein Mensch? Wem, unvernünftigerweise, noch immer an einer
schlüssigen Antwort auf die schöne alte
Frage liegt, der wird sich nach wie vor
an die Dichter halten. Es muss nicht
immer gleich Kafka oder Beckett sein;
auch der Aargauer Markus Bundi wartet
in seinem Buch mit ein paar interessanten Vorschlägen auf. Das Intro des Bandes rekapituliert die Geschichte der
Menschwerdung. In sechs Gedichten
stellt der Autor den Menschen als ein
Wesen dar, das, in rasender Geduld an
Ort und Stelle tretend, unentwegt zu
«neuen Ufern aufbricht». Das im Märchenton gehaltene Resümee spricht von
einem «Tier, das dachte, sich wunderte,
dass es dachte, sich fragte, was es mit
dem Dasein auf sich hatte.»
Die beiden Prosadestillate des Mittelteils sind Einzelschicksalen gewidmet.
Erzählt wird etwa von Mick Ogerle, der
als buchstäblich «Aufgegebener» in
einem öffentlichen Briefkasten haust. Er
scheint nur aus einem «königsblauen
Schlafanzug» zu bestehen, die finale
Schrumpfung auf Briefmarkengrösse
nimmt er als «Erwachen» wahr, gefeiert
wird der Befund mit «Beckenbodentraining».
Deutlich realistischer und rätselhafter zugleich nimmt sich die zweite Erzählung mit dem Titel «Gonzos Erbe»
aus. Schauplatz ist ein Krematorium.
Von Öfen, Sieben, Goldzähnen, Kräutermischungen ist die Rede, wiederholt
auch von den 163 künstlichen Hüftgelenken, die ein gewisser Gonzo bei seinen
Reinigungsmassnahmen widerrechtlich
an sich genommen hat.
Eine philosophisch grundierte Sammlung von Gedanken zur Problematik von
Meinen, Sagen und Verstehen beschliesst den Band. Markus Bundis an
Wittgenstein orientierter Vorschlag,
«Sinn» nicht als Resultat, sondern als
Voraussetzung jedes Sprechakts zu
betrachten, gipfelt in der Definition
von Sprechen als einem «Versuch,
gegen die Absurdität seiner selbst
(und aller anderen) etwas vorzubringen».
Die vieles offen lassende Kargheit, mit der
Markus Bundi diesem
«etwas» Gestalt verleiht, gehört mit zu
den Vorzügen einer
Erzählkunst, in der
sich noch das ganz
und gar Unmögliche als exemplarisch
dargestellt
sieht. ●
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Kinder- und Jugendbuch
Kurzkritiken
Michelle Cuevas: Columbus und der
malende Elefant. Dressler, Hamburg 2011.
144 Seiten, Fr. 20.50 (ab 8 Jahren).
Robin Brande: Fat Cat. dtv pocket,
München 2011. 368 Seiten, Fr. 11.90
(ab 12 Jahren).
Jugendroman Die mitreissend erzählte
Geschichte von einem elternlosen Jungen
mit neuer Identität
Rätsel um Herkunft
Jenny Valentine: Das zweite Leben des
Cassiel Roadnight. Aus dem Englischen
von Klaus Fritz. dtv, München 2011.
240 Seiten, Fr. 18.90 (ab 14 Jahren).
Von Andrea Lüthi
Elefant Birk träumt davon, Künstler zu
sein, und Columbus wird als Baby von
seinen Eltern verlassen. Die beiden finden sich; Columbus wächst auf dem Elefantenrücken heran. Gemeinsam machen sie sich auf nach Paris. Doch erst
befreien sie Zootiere in New York, werden berühmt in Hollywood und müssen
sich vor Birks ehemaligem Chef retten,
der den Elefanten zurückhaben möchte.
So komisch Cuevas phantasievolle Geschichte mit ihren absurden Einsprengseln ist, immer schimmert auch etwas
Wehmut durch. Die Freunde kümmern
sich rührend umeinander, trauern aber
zugleich um verlorene Liebe: Columbus
sehnt sich nach seinen Eltern, Birk nach
seiner Zirkusakrobatin. Jens Rasmuss’
Bilder mit ausgeprägten Licht- und
Schatteneffekten nehmen Birks Faszination für Farbstimmungen auf.
Andrea Lüthi
Eins von den Arm-Dran-Hascherln ist
die 17-jährige Cat nicht. Sie quatscht alle
an die Wand, strotzt vor Ideen, kann
nicht masshalten, und ihre Devise heisst:
XXL. Entsprechend schlägt der Bauch
Wellen, doch das stört keinen grossen
Geist. Bis Cat an einem Schulwettbewerb teilnimmt und im Zuge eines wissenschaftlichen Experiments versucht,
wie ein Homo erectus zu leben: kein
Fernsehen, kein Telefon, keine Chips.
Was dann passiert, grenzt an eine kleine
Sensation, denn Robin Brande gelingt
ein unterhaltsames, dabei durchaus gewichtiges Mädchenbuch voller Witz,
Wärme und Ironie, das keine Hochglanz-Abziehbilder gegen den Perfektionstrend liefert, sondern eine echte
Heldin. Die räumt mit Klischees auf und
liefert unaufdringlich eine bessere Alternative. Ein XXL-Vergnügen!
Christine Knödler
Angelika Waldis (Text), Christophe
Badoux (Bild): Der unheimliche Stein.
Atlantis, Zürich 2011. 48 S., Fr. 22.80 (ab 7 J.).
Ilsa J. Bick: Der Zeichner der Finsternis.
Aufbau, Berlin 2011. 382 Seiten, Fr. 21.90
(ab 14 Jahren).
Kinder sind Sachenfinder. Immer suchen ihre Augen den Boden ab, und
wenn etwas glitzert oder schön aussieht,
greifen die Hände danach. Bei Jojo ist es
ein grüner Stein, der in die Hosentasche
wandert. Bald entdeckt er, dass der Stein
zaubern kann: Als Jojo – TOCK! – auf
eine Haselnuss schlägt, um sie zu knacken, liegen auf einmal zwei Nüsse da.
Jojo experimentiert herum und erkennt,
dass das unheimliche Fundstück noch
mehr vermag. Brenzlig wird es, als er
den blöden Nachbarjungen mithilfe des
Steins verschwinden lässt. Am Ende
entledigt sich Jojo des grünen Zauberdings, auch wenn es ihm Kribbeln und
sogar eine Katze beschert hat. Ein bunter Comic-Kinderroman, der Leseanfänger mit einer turbulenten Geschichte
fesselt. Text und Bild unterstützen diese
Motivation.
Verena Hoenig
Jeder Mensch trägt eine persönliche,
meist gut verschlossene Hölle in sich.
Doch was passiert, wenn sie aufbricht
und er in diesen Abgrund blickt? In diesem meisterhaft komponierten Thriller
besitzt der 17-jährige Christian künstlerisches Talent und die Gabe übersinnlicher Wahrnehmung: Wenn er Strich für
Strich seine Bilder zeichnet, ist es ihm
möglich, die Albträume von anderen anzuzapfen, ja sogar in diese einzusteigen.
Kein Wunder, dass er das Leben eines
Aussenseiters führt. Da erteilt ihm ein
schwerkranker alter Mann per Telepathie einen Auftrag; der Auslöser zu einer
dramatischen Entwicklung. Bedrückende Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg kommen zutage. Die Autorin Ilsa J.
Bick verknüpft auf erstaunliche Weise
Zeitgeschichte und Parapsychologie zu
einem packenden Ganzen.
Verena Hoenig
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
«Manchmal, wenn ich in den Spiegel
sah, war ich mir nicht sicher, ob ich noch
ich selbst war. Ich verschwamm an den
Rändern.» Was der 16-jährige Chap beschreibt, ist keine pubertäre Krise: Er
lebt tatsächlich zwei Identitäten. In
einer Notunterkunft wird er für Cassiel
Roadnight gehalten, der seit zwei Jahren
verschollen ist. Chap macht mit; er hat
von der Herumtreiberei genug und
wünscht sich eine richtige Familie. Aber
wird ihn Cassiels Familie nicht sofort
entlarven?
Cassiels Schwester staunt nur über
ihren höflicher Bruder, der plötzlich in
der Küche hilft. Der Bruder nimmt Chap
ebenfalls herzlich auf. Und die labile,
medikamentensüchtige Mutter ist einfach froh, dass ihr Sohn wieder da ist.
Niemand scheint etwas zu bemerken.
Doch dann taucht eines Nachts ein
schräger Typ namens Floyd auf, der bei
Chaps Anblick zutiefst erschrickt. Offenbar weiss er mehr über Cassiels mysteriöses Verschwinden. Aber weshalb
verbietet die Familie Chap den Kontakt
mit Floyd?
Die britische Autorin Jenny Valentine
wurde bekannt durch ihre Romane
«Wer ist Violet Park?» und «Kaputte
Suppe». Auch dort treten Figuren auf,
die geheimnisvollen oder verschollenen
Personen nachspüren. In ihrem neuen
grossartigen Roman greift sie ausserdem ein beliebtes literarisches Thema
auf – man mag etwa an Mark Twains
«The Prince and the Pauper» denken.
Anders aber als dem Betteljungen geht
es Chap nicht um einen Einblick ins
prunkvolle Leben. Und er wechselt die
Identität nicht im Spiel: «Wenn es je ein
Leben gab, das vergessen werden musste, dann war es meines». Chap kennt
seine Herkunft nicht; deshalb kann er
ebenso gut jemand anders sein.
Valentine gelingt es, dem Leser die
Hauptfigur nahezubringen. Die Spannung steigert sich ins schier Unerträgliche, weil Chap jeden Moment auffliegen
kann. Valentine baut Spannung aber
auch an anderen Orten auf: Ebenso begierig ist man zu erfahren, weshalb Cassiel verschwand. Und auch Chaps Leben
birgt Geheimnisse, die dem Leser häppchenweise enthüllt werden. Im spektakulären Showdown wird Valentines lebhafter Stil besonders deutlich. Sie
schreibt so bildlich, dass man das Gefühl hat, in einem Film zu sitzen. ●
Ethnologie Alle Menschen sind gleich und
doch verschieden
Ameisen isst
man nicht
Kurzkritiken
Kirsten Boie (Text), Jutta Bauer (Bild):
Ein mittelschönes Leben. Carlsen,
Hamburg 2011. 32 Seiten, Fr. 14.90 (ab 8 J.).
Elke Reichart (Hrsg.): gute-freundeboese-freunde. Leben im Web. dtv,
München 2011. 224 S., Fr. 14.90 (ab 14 Jahren).
Der Band ist schmal, der Inhalt wiegt
schwer. Auf Wunsch von Fachleuten
schreibt die arrivierte Kinderbuchautorin Kirsten Boie über Obdachlosigkeit.
Auf knapp 30 Seiten erzählt sie die Geschichte eines Mannes, der auch mal
Kind war und ein ganz normales Leben
geführt hatte, bis das Unglück kam und
mit dem sozialen Abstieg der Verlust.
Arbeit, Ehefrau, Kinder, Wohnung –
alles weg. Seitdem lebt der Mann auf der
Strasse. Sein Leben ist «mittelschön bis
schwer». Wie schnell einer abstürzen
und dass es jeden treffen kann, ist in wenigen Worten klar beschrieben, Kinder
fragen Obdachlose: Was machen Sie,
wenn sie krank sind? Wie feiern Sie
Weihnachten? Sind sie oft unglücklich?
Ohne Larmoyanz oder falsche Sentimentalität ist ein informatives Plädoyer
für mehr Aufmerksamkeit entstanden.
Christine Knödler
Wie echt, wie schlecht sind Freundschaften im Netz? Sind 350 Freunde
wirklich noch Freunde? Was sind die
Chancen, was die Fallen einer digital geprägten Welt? Ist Cybermobbing eine
Frage der Moral, der Macht, der Gruppendynamik oder doch der Technik? Die
Journalistin Elke Reichart lässt Jugendliche und Erwachsene, Internet-Experten,
Gegner, Fans, Junkies, Opfer zu Wort
kommen. Mal privat-anekdotisch, mal
theoretisch nähern sie sich einem Phänomen, das längst das Leben massiv beeinflusst. Eher Denkanstösse als Antworten gibt dieses Buch und zeigt auch,
dass sich zwischen on und off, in und
out, früher und heute auch Generationengräben öffnen. Freundschaft neu zu
definieren und selbstbestimmt und
kompetent zu leben, ist die Herausforderung, die sich jedem jederzeit stellt.
Christine Knödler
Dieter Vieweger, Ina und Hans Beyer:
Abenteuer Jerusalem. Gütersloher Verlag,
Gütersloh 2011. 80 Seiten, Fr. 25.90 (ab 12 J.).
Bibi Dumon Tak, Martijn van der Linden:
Eisbär, Elch und Eule. Bloomsbury, Berlin
2011. 137 Seiten, Fr. 21.90 (ab 8 Jahren).
Aaron besucht seinen Grossvater, einen
pensionierten Archäologen in Jerusalem. Wie es sich für einen modernen
Jugendlichen gehört, hält er seine Erlebnisse für die Klassenkameraden zu
Hause in einem Blog fest. Häppchenweise, garniert mit vielen Fotos und Zeichnungen, wird so die komplizierte Geschichte Jerusalems einfach erzählt: von
den Anfängen mit David und Salomo bis
zur Eroberung der Altstadt durch die israelische Armee. Aaron besucht die Klagemauer, die Grabeskirche und die ElAqsa-Moschee und lernt vorurteilslos
die drei grossen Weltreligionen kennen.
Das informative Sachbuch zeigt anschaulich, dass Geschichte keineswegs
vergangen ist, sondern dass nur sie die
Erklärungen dafür liefern kann, warum
die Konflikte in der heiligen Stadt bis
heute andauern.
Geneviève Lüscher
Rentiere können ihre Nasenlöcher verstellen, damit die Luft beim Einatmen
nicht so eisig in die Lungen strömt.
Auch der Kaiserpinguin oder der Narwal haben sich dem Leben in frostigen
Breiten angepasst. Bibi Dumon Tak
pickt Kuriosa über Polartiere heraus
und erzählt davon mal überdreht, mal
poetisch. So vergleicht sie etwa den Moschusochsen mit einem «zerzausten
Tannenwald auf Hufen». Bereits der
Vorgängerband «Kuckuck, Krake, Kakerlake» war bei Kindern und Erwachsenen ein Erfolg, und das neue Tierbuch
steht ihm in nichts nach. Dazu tragen
auch die Aquarellzeichnungen in Türkis
und Grautönen bei. Sachbücher über
Tiere gibt es viele, doch diese quirligen
Steckbriefe wecken das Interesse neu,
denn eine solche Reise ins ewige Eis
macht tierisch Spass.
Verena Hoenig
Wolfgang Korn: Was ist schon normal?
Warum alle Menschen gleich und doch
verschieden sind. Bloomsbury, Berlin
2011. 168 Seiten, Fr. 21.90 (ab 12 Jahren).
Von Sabine Sütterlin
Kopfschütteln heisst Nein. Schwarz ist
die Farbe der Trauer. Und Ameisen isst
man nicht. Ist doch jedem klar, oder?
Nein, eben nicht. Menschen in Südindien, Afrika oder im brasilianischen Urwald verstehen die gleiche Geste anders
als wir Mitteleuropäer, sie benutzen unterschiedliche Zeichensysteme und kennen unterschiedliche Tabus. «Warum
alle Menschen gleich und doch verschieden sind» – dies zu erklären, hat
sich der Wissenschaftsjournalist Wolfgang Korn vorgenommen.
Gelingt das? Jein. Wenig gelungen ist
der Versuch, im Galopp durch die
Menschheitsgeschichte die Ursprünge
kultureller Unterschiede zu ergründen.
Manches erweckt den Eindruck von Küchenweisheit. Angaben zu wissenschaftlichen Quellen fehlen. Vor allem die Erklärung dafür, warum manche Völker
eher zu Gewalt neigen als andere, zementiert eher Vorurteile als sie durch
Wissen abzubauen: Die Bewohner von
Wüstenregionen seien durch die Hitze
so aggressiv geworden, «dass sie ihre
Frauen vor anderen Männern versteckten und endlose Fehden miteinander
ausfochten», während die Menschen in
der arktischen Kälte so friedlich wurden, dass sie Fremden sogar ihre Frauen
anboten. Das ist, wenn nicht schlichter
Quatsch, jedenfalls eine gefährliche Vereinfachung.
Demgegenüber überzeugt Korn,
wenn er beschreibt, welche Vielfalt von
Sitten, Mythen und Gewohnheiten der
Homo sapiens entwickelt hat, und wie
Ethnologen sich ihrem Forschungsgegenstand nähern. Die Weltkarte in der
Umschlagklappe weckt Neugier: Da
weist etwa ein Pfeil auf Island, und die
Legende lautet: «Hier gibt's die gemütlichsten Gefängnisse». Des Rätsels Lösung findet sich im Kapitel über die
kulturell unterschiedlichen Auffassungen dessen, was kriminell ist.
Das Buch ist ausdrücklich
zum «Kreuz- und Querlesen»
gedacht. Zur Sprache kommen
Themen, die junge Leser ansprechen, vom dehnbaren Zeitbegriff der Brasilianer über merkwürdig anmutende Initiationsriten in Äthiopien oder Angola bis
hin zur in China verbreiteten Vorstellung einer Krankheit namens
«verschwindender Penis». ●
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Porträt
Die israelische Soziologin Eva Illouz hat ein grossartiges Buch über
Beziehungen zwischen Männern und Frauen im 21. Jahrhundert
geschrieben. Jenny Friedrich-Freksa hat sie in Frankfurt getroffen
Auf dem freien
Markt der Liebe
Es ist nicht leicht, in einer zwei mal zwei Meter
grossen Box über die Liebe zu sprechen. Eva
Illouz sitzt auf einem weissen Stuhl vor einem
weissen Tisch. Von der offenen Decke dringt
das Geraune der Frankfurter Buchmesse in das
Hinterzimmer des Verlagsstands herein. Die
Soziologin aus Jerusalem ist hier, um über das
Lieben und das Leiden zu reden, das Thema
ihres neuen Buchs «Warum Liebe weh tut». Sie
untersucht darin, wie Männer und Frauen ihr
eigenes Leben gestalten und Liebesbeziehungen mit anderen Menschen haben. Beides zu
wollen ist offenbar schwierig. Es verursacht
sogar Schmerz. Über diesen denkt Illouz nach.
Schmerz und Leidenschaft
Das Buch scheint einen Nerv zu treffen. In
Deutschland, wo es im Oktober erschien, steht
es bereits auf der Bestsellerliste. Alle wollen
wissen, was Eva Illouz über unser Gefühlsleben
herausgefunden hat. Als ob der Buchmarkt
nicht mit Büchern über die Liebe überschwemmt wäre. «Eine soziologische Erklärung» nennt Illouz ihre Schrift. Von aussen
sieht diese Erklärung aus wie ein Beziehungsratgeber für die etwas klügere Frau: Der Umschlag magentafarben, also fast pink. Und auf
der Rückseite steht: «Leidenschaftliche Liebe
ist ohne Schmerz nicht zu haben, aber dieser
Schmerz sollte uns nicht ängstigen.» Ach ja.
Soll man dieses Buch kaufen? Man sollte, unbe-
Eva Illouz
Eva Illouz, geboren 1961 in
Fès, Marokko, studierte in
Frankreich, promovierte in den
USA und ist heute Professorin
für Soziologie an der Hebrew
University in Jerusalem. Sie
forscht zu den Wechselwirkungen von Konsumkultur,
sozialen Beziehungen und
Individuum und zur Soziologie
der Emotionen. Bisher sind
von ihr erschienen: «Der Konsum der Romantik»
(2003), «Gefühle in Zeiten des Kapitalismus»
(2006), «Die Errettung der modernen Seele»
(2009) und nun: «Warum Liebe weh tut»
(Suhrkamp, Berlin 2011. 467 Seiten, Fr. 35.60).
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
dingt. Illouz’ Werk ist weder mit Theorie überfrachtet, noch will es eine Gebrauchsanweisung
für das gelungene Leben zu zweit liefern. Es ist
ein Buch über die Liebe, das ganz ohne psychologisches Geschwätz auskommt. Und gleichzeitig Gefühlen in der Wissenschaft einen selbstverständlichen Platz einräumt.
Illouz hat für ihr Buch viele Interviews geführt: mit heterosexuellen Männern und Frauen
zwischen 25 und 67 Jahren, aus Europa, den
Es ist ein echter Gewinn des
Buchs, dass Männer nicht als
emotionale Trottel und
Frauen nicht als bessere
Menschen gesehen werden.
USA und Israel, alle mit Hochschulabschluss.
Ein Gespräch ist ihr besonders in Erinnerung
geblieben: «Eine Frau erzählte, dass ihre Beziehungen alle schlecht geendet hatten. Sie würde
so gerne heiraten, aber es sei ihr peinlich, das
zuzugeben. Man stünde dann als dumme Frau
da. Sie weinte furchtbar und ich spürte, dass
man sich diesen Schmerz ansehen muss. Wenn
jemand so weint, ist das nicht einfach eine persönliche Angelegenheit. Es ist politisch.»
Sehr ernst spricht Eva Illouz in der sterilen
Messebox über das Seelenwohl anderer Menschen. Sie macht keinen Hehl daraus, dass ihr
das Thema ihres Buchs ein echtes Anliegen ist.
Vor allem: dass Leid nicht privat sein sollte. Illouz ist eine zierliche Frau. Ab und zu zupft sie
den tiefen Ausschnitt ihrer Bluse zurecht, der
von grossen Silbernieten eingefasst ist. Die
Bluse ist schwarz, der Rock und die Schuhe
auch. Doch über das Schwarz und das MetallDekolletee hinweg schauen einen zwei weiche,
braune Augen an, manchmal betrübt, manchmal amüsiert. Eva Illouz hat etwas von einem
freundlichen Punk, der gewillt ist, die Welt aus
unkonventioneller Perspektive zu betrachten.
Unkonventionell an ihrem Buch ist, wie die
Soziologin soziologische, ökonomische und
psychologische Erkenntnisse zusammendenkt.
Dass es mit der Liebe klappt, wenn wir uns nur
genug mit unserer Psyche auseinandersetzen,
daran glaubt Illouz nicht. Sie hält Psychotherapien für hilfreich, aber nicht für ein Allheilmit-
tel. Anders gesagt: die weinende, von den Männern enttäuschte Frau, die unbedingt heiraten
will, müsste nicht einfach zum Therapeuten.
Wenn zu viele Menschen die gleichen Beziehungsprobleme haben – so ihr Befund –, reicht
es nicht, dass jeder sich allein mit seinem Gefühlsleben beschäftigt.
Die Soziologin analysiert Liebesbeziehungen
als ökonomischen Handel, als einen Markt, auf
dem sich Männer und Frauen tummeln. Attraktivität und Status sind die beiden Währungen,
die am meisten zählen. Auf den ersten Blick
scheint es, als seien Männer und Frauen auf
diesem Markt gleichberechtigt. Beide Geschlechter haben schliesslich heute die gleiche
Freiheit zu wählen. Doch Illouz konstatiert eine
neue Ungleichheit: «Die heterosexuellen Frauen der Mittelschicht befinden sich in der merkwürdigen historischen Lage, so souverän über
ihren Körper und ihre Gefühle verfügen zu
können wie nie zuvor und dennoch auf neue
und nie dagewesene Weise von Männern dominiert zu werden.»
Emotionale Dominanz der Männer
Illouz spricht von einer «emotionalen Dominanz» der Männer, die zum einen darauf beruht, dass Frauen, wenn sie sich Kinder wünschen, nicht ewig warten können, bis sie sich
für einen Mann entscheiden. Das macht sie auf
dem freien Markt der Liebe abhängiger. Zum
anderen stärken Männer ihr Selbstwertgefühl
durch Unabhängigkeit, während Frauen sich
ihrer selbst durch Nähe vergewissern – zwei
völlig verschiedene Strategien, um sich vor
emotionalen Verletzungen zu schützen.
Illouz behauptet nicht, dass sich alle Männer
und Frauen so einfach kategorisieren lassen.
Doch sie stellt in ihrer Forschung wiederkehrende Verhaltensmuster fest und kulturelle Ideale, die definieren, was einen Mann und was
eine Frau ausmacht: «George Clooney ist ein
attraktiver Single, genauso attraktiv wie Brad
Pitt, der verheiratet ist. Bei unverheirateten
Frauen im selben Alter denkt man, sie hätten
keinen abgekriegt.» Es ist ein echter Gewinn
des Buchs, dass Männer nicht als emotionale
Trottel pathologisiert und Frauen nicht für die
besseren Menschen gehalten werden.
Eva Illouz ist 50, sie hat einen Mann und drei
Söhne. Über die Frage, ob man sie als Leser anders wahrnehmen würde, wenn sie allein leben
würde, muss sie lächeln: «Völlig richtig. Alle
Susanne Schleyer
«Ich bin eine radikale Individualistin»: Die Kommunikationswissenschafterin Eva Illouz untersucht männliche und weibliche Verhaltensmuster.
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Pat RoQue / AP
Porträt
Wir Menschen lieben auch, um uns gesellschaftlich erfolgreich zu präsentieren. Kuss-Festival auf den Philippinen.
würden dann denken, dass ich über mich selbst
jammere und versuche, das zu rationalisieren.
Aber bitte: Stellen Sie mich bloss nicht als
glückliche und erfolgreiche Frau vor!» Ein «Lebensprojekt» zu haben, hält sie für hilfreich, sei
es ein privates oder ein politisches. «Das kann
aber auch unbequem sein, es macht einen nicht
automatisch glücklich.»
Geboren als Kind jüdischer Eltern, verbringt
Illouz die ersten Jahre ihres Lebens in Marokko. Zu Hause wird Französisch gesprochen. Bis
1967 leben die meisten marokkanischen Juden
friedlich in dem arabischen Land. Doch der
Sechstagekrieg führt zu Spannungen, Illouz’ Eltern ziehen nach Frankreich, nach Sarcelles.
Tochter Eva studiert Soziologie, Literatur und
Kommunikation, promoviert in den USA, arbeitet als Dozentin in New York, Tel Aviv und Jerusalem, bevor sie 2004 Professorin an der Universität Jerusalem wird. Gastprofessuren in
Princeton und Paris folgen. 2009 wählt «Die
Zeit» Illouz in eine Liste von 12 Intellektuellen
weltweit, «die das Denken der Zukunft verändern werden».
schem Weltgeschehen. Über allem aber steht
heute der Imperativ der Autonomie: der individuelle Lebensentwurf muss erdacht, umgesetzt
und verteidigt werden.
Auf der Frankfurter Buchmesse nimmt Eva
Illouz an einer Diskussion zum Thema «Der
Traum der Vernunft» teil. Viele Frauen sitzen
im Publikum. «Ich bin eine radikale Individualistin», sagt Illouz auf dem Podium, «die gesellschaftlichen Institutionen müssen dem Indivi-
«Ein Lebensprojekt zu
haben, kann hilfreich sein,
aber auch unbequem. Es
macht einen nicht
automatisch glücklich.»
duum dienen, nicht umgekehrt.» Doch die Individualistin Illouz sieht auch, dass die Individualisierung unangenehme Nebenwirkungen hat:
«Das Ideal der Autonomie triumphiert über
alles. Sogar darüber, zuzugeben: Ich brauche
etwas. Individualität basiert heute darauf, dass
wir verneinen, abhängig und bedürftig zu sein.»
Liebe aber macht verletzlich. Jemanden zu
brauchen passt schlecht zur Vorstellung vom
selbstbestimmten Menschen, der gut allein zurechtkommt. Etwas zu wollen, was einem nur
ein anderer Mensch geben kann, wird zum Pro-
Kapitalismus prägt die Liebe
Seit langem interessiert sich Eva Illouz dafür,
wie das kapitalistische Wirtschaftssystem unsere privaten Beziehungen prägt. «Gefühle in
Zeiten des Kapitalismus» heisst eines ihrer Bücher. Was unser Liebesverhalten prägt, beschreibt sie als eine «Matrix» aus Gefühlen,
Verstand, Kulturgeschichte und kapitalisti-
TheaTrum helveTicum
das legendäre schweizer Kabarett
Peter michael Keller
cabaret cornichon
Peter Michael Keller
Cabaret Cornichon
Geschichte einer
nationalen Bühne
Geschichte einer nationalen Bühne
2011. 428 S. 60 Abb. s/w
Mit CD-ROM. Geb. CHF 78
Bücher zur Zeit
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
Vom Umgang mit dem Fremden
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Brigitta gerBer
Damir SkenDerovic (Hg.)
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blem. Frauen etwa vermeiden es, in InternetPartnerbörsen anzugeben, dass sie sich Kinder
wünschen. Bedürfnisse sind auf dem Markt der
Liebe keine brauchbare Währung.
Ganz anders die sexuelle Attraktivität. Doch
auch diese dient nicht nur dem persönlichen
Glück, sondern auch der sozialen Anerkennung: «Für Männer ist die Sexualität zur wichtigsten Arena geworden, in der sie ihren Männlichkeitsstatus (Autorität, Autonomie und Solidarität unter Männern) ausüben können; für
Frauen bleibt die Sexualität überwiegend Fortpflanzung und Ehe untergeordnet», schreibt
Illouz. Wir lieben also auch, um uns gesellschaftlich erfolgreich zu präsentieren: als weibliche Frau oder männlicher Mann.
Illouz befasst sich mit unserer Angst, an
einer grossen Idee der Moderne zu scheitern:
Schmied seines glücklichen Lebens zu sein.
Und sie erinnert daran, dass wir soziale Wesen
sind, die einander brauchen und gemeinsam bestimmen, was Anerkennung bedeutet. Dies ist
ein tröstlicher Gedanke, und er verschafft Illouz’ Analyse eine grosse Portion Wärme.
Romantikerin, doch Feministin
Eva Illouz ist Romantikerin und Feministin zugleich. Sie wünscht, wir würden wieder leidenschaftlicher und fürsorglicher lieben. Und sie
fordert ein radikales Umdenken darüber, was
eine Frau ausmacht: «Weiblichkeit sollte nicht
an Kinder geknüpft sein. Frauen sollten die
Liebe vom Kinderkriegen trennen. Und es sollte kein Druck auf sie ausgeübt werden, welche
zu bekommen. Frauen wiederum sollten keinen
Druck auf Männer ausüben, Kinder mit ihnen
zu haben.» Die Soziologin plädiert für alternative weibliche Lebenskonzepte: dafür, ein Kind
mit einem schwulen Mann aufzuziehen oder
mit einem, der nicht mit einer Frau zusammenleben möchte. Oder gemeinsam mit anderen
Frauen. Wenn solche Ideen Wirklichkeit werden, so glaubt Illouz, wird sich auch das Verhältnis von Männern und Frauen verändern.
Was die neuen Formen des Liebens für Kinder bedeuten, und wie es umgekehrt oft Kinder
sind, die manche Individual-Biografie völlig
umkrempeln, danach fragt die Soziologin Illouz
nicht. Der Qualität ihres Werks tut das keinen
Abbruch. «Warum Liebe weh tut» ist ein hervorragendes Buch über die Grenzen der Autonomie und das Verlangen nach Liebe.
Interessieren sich ihre Söhne, 18, 17 und
6 Jahre alt, für ihre Forschung? «Überhaupt
nicht. Meine Bücher sind nur für Menschen
sinnvoll, die schon lange mit gesellschaftlichen
Mythen gelebt haben.» Eva Illouz hofft, dass sie
mit ein paar falschen Mythen aufräumen kann,
bevor ihre Söhne daran glauben. l
migration als erFolgsgeschichte
Mustafa Ideli, Virginia Suter Reich,
Hans-Lukas Kieser (Hg.)
B. Gerber, D. Skenderovic (Hg.)
Wider die Ausgrenzung –
für eine offene Schweiz
Beiträge aus historischer,
sozial- und rechtswissenschaftlicher Sicht
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTE0MQYAeLJqaw8AAAA=</wm>
<wm>10CFWMsQrDMBBDv8jmdGfZvt5YspkMpbuXkDn_PyXuVpAEgieNEczy83vbv9snIFKYwIJiQWfWxoBrbqwBoKsAL4Bm7rX_8Ung1cTmYtJSn09Sk9Vp6k9ZD3OtxfJ1nDfyIkTngAAAAA==</wm>
2011. 390 S. 20 Abb.
3 Bde Br. in Schuber. CHF 48
Neue
Menschenlandschaften
Migration
Türkei – Schweiz
1961–2011
M. Ideli, V. Suter Reich,
H.-L. Kieser (Hg.)
Neue
Menschenlandschaften
Migration Türkei – Schweiz
1961–2011
2011. 404 S. 40 Abb. Br. CHF 48
www.chronos-verlag.ch
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Anregung von
Verlegern? Da bekomme
ich von Hornissen
mehr Anregung.
Charles Lewinsky ist
Schriftsteller und
arbeitet in den
verschiedensten
Sparten. Sein neuer
Roman «Gerron» ist
kürzlich bei Nagel &
Kimche erschienen.
Kurzkritiken Sachbuch
Urs Hafner: Heimkinder. Eine Geschichte
des Aufwachsens in der Anstalt. Hier + jetzt,
Baden 2011. 207 Seiten, Fr. 38.–.
Thorsten Polleit: Der Fluch des
Papiergeldes. Finanzbuchverlag,
München 2011. 143 Seiten, Fr. 21.90.
Es ist heute nicht mehr nachvollziehbar,
mit welcher Härte, mit welch brutalem
Straf-, Arbeits- und Disziplin-Regiment
elternlose und verwahrloste Kinder und
Jugendliche in der Schweiz über Jahrhunderte behandelt wurden. Urs Hafner
spricht von einer «kalten Religion»,
denn ob katholisch oder reformiert: Die
Findel- und Waisenhäuser, Arbeits-,
Zwangs-, Rettungs- und Erziehungsanstalten waren vom Mittelalter bis weit
ins 20. Jahrhundert fest in religiöser
Hand. Von christlicher Barmherzigkeit
war allerdings wenig zu spüren, weder
Pestalozzis Ideen noch pietistische
Frömmigkeit, weder repräsentative Bauten noch moderne Körperhygiene vermochten das Klima der Angst und Gewalt zu erschüttern. Erst die Heimkampagne in den 1970er-Jahren brachte Reformen. Der Historiker Urs Hafner bietet eine fundierte, eindrücklich bebilderte Studie zu diesem traurigen Thema.
Kathrin Meier-Rust
Die Notenbanken rund um den Globus
fluten die Welt mit Geld. Die farbigen
Papierscheine kosten so wenig wie selten zuvor. Kann das gut gehen? Kaum,
sagt Thorsten Polleit, deutscher Ökonom und bekannter Kritiker der staatlichen Notenbanken. Er hat seine Aufsätze der letzten Jahre zum Thema Geldentwertung zusammengetragen. Die
Sammlung kommt zum richtigen Zeitpunkt. Denn was schon Ludwig von
Mises 1923 und Friedrich August von
Hayek 1970 hinterfragten, gilt heute
mehr denn je: Die Geldmengenausweitung hat in der Geschichte immer zu
starker Inflation geführt. Wieso sollte es
2011 anders sein? Glauben die Menschen,
dass die Notenbanken nur noch Geld
drucken, um staatliche Haushaltslöcher
zu finanzieren, wird das Vertrauen in
Papiergeld (ver)schwinden. Die Folge
wäre eine Hyperinflation. Polleit erklärt
die Folgen in einfachen Worten.
Charlotte Jacquemart
An Lac Truong Dinh: Von der Fremdenlegion zu den Viet Minh. Überläufer Emil
Selhofer. Chronos, Zürich 2011. 183 S., Fr. 28.–.
Gabriele Praschl-Bichler: Kleidung und
Mode im Mittelalter. Herbig,
München 2011. 215 Seiten, Fr. 34.90.
Wer weiss schon, dass es Schweizer
Söldner gab, die im Indochinakrieg 19451954 im französischen Expeditionskorps
kämpften? Und die später aus der Legion desertierten und zur kommunistischen Unabhängigkeitsbewegung Viet
Minh überliefen. Dazu gehörte neben
vielen Deutschen und Italienern der
1926 in Zürich geborene Emil Selhofer,
der bis zu seinem vermutlichen Tod 1953
im Nordosten Vietnams kämpfte. Die
vorliegende Basler Lizentiatsarbeit geht
den Spuren dieses verschollenen Abenteurers nach. Der vietnamesischstämmige Autor hat in seinem Heimatland
mit ehemaligen Militärkadern gesprochen, Akten aus dem Bundesarchiv ausgewertet, Briefe Selhofers an die Mutter
sowie seine noch lebende Schwester
aufgespürt. Resultat: ein erstaunlich detailliertes, auch von Wehmut gezeichnetes Porträt eines verlorenen Sohnes.
Urs Rauber
Was trug man im Mittelalter? «Affenhaube, Schellentracht und Wendeschuh», so lauten Antwort und Untertitel des Buches. Wie die Autorin schreibt,
hätte sie auch die Wörter «Gugeln, Fucken und Kotzen» wählen können, auch
das Bezeichnungen für hochanständige
Kleidungsstücke. So meint letzteres
einen einfachen Umhang aus ungefärbtem, grobem Wollstoff, bevorzugt getragen als Büssergewand. Betuchte – nomen
est omen – liebten im Mittelalter die Gewänder aber bunt, in mehreren Schichten, aufwendig genäht und aus Samt und
Seide. Die Autorin gewährt uns einen
Blick in den mittelalterlichen Kleiderschrank, von der Unterhose (nur für
Männer) bis zum Schleier (ein Muss für
jede anständige Frau). Auch Accessoires
wie Gürtel, Knöpfe, Bänder kommen zur
Sprache. Ein amüsant geschriebenes
und lehrreiches Buch mit vielen Bildern.
Geneviève Lüscher
Peter Handke
Eigentlich hatte Peter Handke ja versprochen, nie öffentlich darüber zu
reden. Wie das alle Schriftsteller dieser
Welt in einer feierlichen Zeremonie tun
müssen, bevor sie ihr erstes Buch veröffentlichen dürfen. Aber wenn das Geheimnis nun schon mal ausgeplaudert
ist . . .
Also, es ist so: Alle Schriftsteller
werden von Tieren inspiriert. Die
armen Poeten, die in ihrer Dachkammer auch im kältesten Winter das Fenster offen lassen, damit die Muse eine
Einflugschneise findet, sind auf dem
Holzweg. Die Hauskatze wäre ihnen bei
der Suche nach einem Einfall viel nützlicher.
Bei Handke waren es Hornissen. Damals, im Jahr 1966, wurde er von einer
gestochen und schrieb daraufhin
prompt die «Publikumsbeschimpfung».
Begreiflich, denn so ein Hornissenstich
brennt gemein und lässt einen vor
Ärger ganz lästerlich fluchen. Und
wenn man sowieso schon mal dabei ist,
kann man ja auch gleich ein Stück daraus machen.
Was und wie jemand schreibt, hier
sei es endlich verraten, hat rein zoologische Ursachen. Wer sich von einer
Boa constrictor anregen lässt, produziert lange, gewundene Sätze, die dem
Leser die Luft abschnüren. Die Inspirationssuche im Kuhstall hingegen verursacht den unwiderstehlichen Drang,
schon einmal Gesagtes wieder und wieder zu repetieren – wie das bei Wiederkäuern eben so ist. Da ist der intime
Umgang mit Nachtigallen schon mehr
zu empfehlen – auch wenn er unausweichlich zur Produktion von Naturlyrik führt.
Um den an den Germanistik-Fakultäten dieser Welt bestimmt bald aufblühenden Forschungszweig der LiterarZoologie (mit «Brehms Tierleben» als
wichtigstem Quellentext) zu fördern,
sei hier angemerkt: Auch die Arbeitsweise jedes einzelnen Schreiberlings
hat ihren tierischen Ursprung.
Eichhörnchen-Schriftsteller verstecken überall Zettel mit Ideenvorräten,
um sich dann im Winter ihrer Einfallslosigkeit davon zu ernähren. Meerschweinchen-Dichter produzieren in
hohem Tempo eine Buchgeneration
nach der anderen, die dann allerdings –
typisch Cavia porcellus – alle sehr ähnlich und nicht sehr interessant herauskommen. Und wer sein Manuskript
notorisch zu spät abliefert, hat sich
wahrscheinlich ein Faultier zum Vorbild genommen.
Nur von Verlegern, da
hat Handke völlig recht,
kriegt man keine Anregung. Die sind leider alle
viel zu menschlich.
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Expeditionen Vor 100 Jahren erreichte der Norweger Roald Amundsen als erster den Südpol und
besiegte damit den Briten Robert F. Scott. Neue Bücher widmen sich der Eroberung der Antarktis
Wettlauf zum Südpol
Christian Jostmann: Das Eis und der Tod.
Scott, Amundsen und das Drama am
Südpol. C. H. Beck, München 2011.
320 Seiten, Fr. 28.50.
Diana Preston: In den eisigen Tod. Robert
F. Scotts Expedition zum Südpol. DVA,
München 2011. 352 Seiten, Fr. 32.90.
Reinhold Messner: Pol. Hjalmar
Johansens Hundejahre. Malik,
München 2011. 304 Seiten, Fr. 28.90.
Robert Falcon Scott: Letzte Fahrt. Kapitän
Scotts Tagebuch. Tragödie am Südpol.
Edition Erdmann, Wiesbaden 2011. 320
Seiten, Fr. 36.50.
Von Thomas Köster
Am 15. Dezember 1911 träumt ausgerechnet Tryggve Gran, der Norweger im
Team des Engländers Robert F. Scott,
dass sein Landsmann Roald Amundsen
den Briten bei der Eroberung des Südpols zuvorgekommen sei. «Sie sind da!»,
lässt ihn Christian Jostmann in seinem
neuen Buch beim Aufwachen entsetzt
ausrufen.
Die Ausgestaltung der dramatischen
Szene ist dichterische Freiheit, Grans
Notiz zur Vision hingegen historisch
verbürgt, ebenso wie die verspätete Ankunft Robert F. Scotts und seiner vier
Begleiter sowie sein grausamer Tod auf
dem Rückweg: im Zelt, nur 18 Kilometer
vom Basislager entfernt – weil ein
Schneesturm ihn und seine Kameraden
zu lange an der Weiterreise hinderte.
In einem klugen Kunstgriff schildert
Jostmann das schreckliche Schicksal
Scotts und seiner letzten Gefährten aus
der Sicht des vom Basislager aus startenden Suchtrupps, zu dem auch der zu-
Rennen der Nationen
«Suche Freiwillige für gefährliche Reise
... Rückkehr ungewiss.» Mit dieser
Anzeige warb Sir Ernest H. Shackleton
1907 für seine Reise zum Südpol. Zuerst
sollte die britische Flagge am Südpol
wehen. In diesem Bewusstsein stach
Robert F. Scott 1910 in See. An Bord
erfuhr er vom gleichen Plan des
Norwegers Roald Amundsen. Amundsens
Expedition erreichte am 14. Dezember
1911 als erste den Südpol, Scotts Team
erst einen Monat später. Während
Amundsen wohlbehalten heimkehrte,
fand Scott auf der Rückreise den Tod.
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
rückgelassene Gran gehörte. Und er
schildert ihn – ebenso wie die bittere Erkenntnis der Niederlage – mit den Worten aus Scotts Tagebuch, das die Kameraden bei den Leichen finden – und das
gerade wieder in einer schönen Neuausgabe erschienen ist. «Die Norweger sind
uns zuvorgekommen», steht darin geschrieben. «Eine furchtbare Enttäuschung! All die Mühsal, all die Entbehrungen, all die Qual – wofür? Für nichts
als Träume, Träume über Tage, die jetzt
zu Ende sind.»
Bis heute hat wohl kein Autor vermocht, die Tragik des Scheiterns
emotional besser in Worte zu kleiden als
der literarisch hoch begabte Expeditionsleiter selbst. Gerade durch den Einbezug der Originaldokumente ist Jostmann die Mischung aus Sachbuch und
historischem Roman deshalb gelungen.
Er legt glaubwürdig dar, wie sich Scotts
Sieger und Verlierer
«Amundsen und seine Gefährten krochen um vier Uhr morgens in die Hütte»,
heisst es im Buch der britischen Journalistin Diana Preston. «Und es war ein
Hochgenuss für sie, deren schlafende
Bewohner mit einer beiläufigen Bitte
um Kaffee zu wecken». Während sich
Jostmann noch recht ausgewogen dem
Verlauf beider Expeditionen widmet,
wendet sich Prestons Werk fast aus-
«Mühsal, Qual,
Entbehrungen»:
Teilnehmer der
Expedition von
Robert F. Scott durch
die Eiswüste der
Antarktis 1910–1912.
schliesslich dem grossen Verlierer des
Wettlaufs zu, der 1902 an der Seite Sir
Ernest Henry Shackletons immerhin
rund 460 Kilometer weiter südlich vorgedrungen war als je ein Mensch zuvor.
So entsteht das imposante Porträt
eines ebenso ehrgeizigen wie zur Trägheit neigenden und von Selbstzweifeln
geplagten, immer aber fairen Sportsmanns, der im Unterschied zum siegesorientierten Amundsen durchaus interessiert war an wissenschaftlicher Erkenntnis. Dabei spart auch Preston die
skurrilsten Fehlentscheidungen Scotts
nicht aus: etwa die, in der Mandschurei
nur weisse Ponys einzukaufen, «weil
Shackleton festgestellt hatte, dass seine
dunklen Ponys vor den weissen verendet waren».
Aber nicht nur auf Seiten Scotts, auch
im Lager Amundsens gab es Verlierer.
Die tragischste Rolle kommt dabei wohl
dem Polarforscher Fredrik Hjalmar Johansen zu, der ab 1893 bereits unter
Fridtjof Nansen versucht hatte, den geografischen Nordpol zu erreichen. Nachdem Amundsen trotz dessen Warnungen im September 1911 zu früh Anlauf
zur Eroberung des Südpols genommen
hatte und Johansen einen Schlittenkameraden daraufhin vor dem Erfrierungstod retten musste, stellte er den
Leiter vor versammelter Mannschaft
wütend zur Rede – und wurde wegen
dieser Meuterei dazu verdonnert, die
Umgebung zu erforschen, statt zum
Südpol zu reisen.
Im farbigen endlosen Weiss
Nun hat der Bergsteiger Reinhold Messner, der 1989/1990 selbst die Antarktis
über den Südpol durchquerte, dieser
schillernden Figur der Polarforschung
ein mitreissendes Buch gewidmet. Es erzählt aus der Ich-Perspektive eines Helden, der, auch nach der Rückkehr gnadenlos von Amundsen geschnitten
sowie von Frau, Kindern und Freunden
verlassen, einsam und dem Alkohol verfallen Selbstmord beging.
Es ist die traurige Biografie eines der
besten Skiläufer und Hundeführer seiner Zeit, der nach der Reise zu seinen
extremen «Sehnsuchtspunkten» im norwegischen Alltag nicht mehr heimisch
wird. Vor allem aber macht das Buch zumindest erahnbar, welche Strapazen die
monatelange Dunkelheit und Temperaturen von minus 60 Grad Celsius den
Pionieren der Polarforschung abverlangten. So gewinnt selbst das schier
endlose Weiss der Pole narrativ kräftig
an Farbe.
«Hätten wir überlebt, ich hätte eine
Geschichte zu erzählen gehabt von der
Kühnheit, Ausdauer und Tapferkeit meiner Gefährten, die das Herz eines jeden
Engländers gerührt hätte», schreibt
Scott in seinem Tagebuch. «Stattdessen
müssen diese groben Skizzen und unsere Leichen die Geschichte erzählen.»
Den zahlreichen Geschichten des Scheiterns am Südpol haben sich seitdem
zahlreiche Bücher gewidmet. «Das Eis
und der Tod», «In den eisigen Tod» und
«Pol» gehören – neben Scotts Tagebuch
– eindeutig zu den besten. l
Mit
bigen
159 far
ungen
Abbild
816 S., 159 Abb., 4 Karten.
Format 17,0 x 24,0 cm. Geb.
sFr 56,90 (UVP)
ISBN 978-3-406-62147-5
„Macht süchtig“
Tilman Spreckelsen, Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung
„Ein Fenster auf
die Geschichte
der Welt …
Der Band ist eine
Schatzkammer.“
<wm>10CAsNsjY0MDAx0jUwMLI0NAYAlR0cNA8AAAA=</wm>
<wm>10CFVMuwqAMBD7opbk6rU9bxQ3cRD3LuLs_0-2bkIehIRsm2vEx2Xdz_VwApMEQIzJqRoN2UvVSCtOEgJyJmViNq2_fQAtJ6Q2NmEArav0vjappYfx0E0SJD7X_QICSwh7gAAAAA==</wm>
Urs Hafner, NZZ
Kopf aus Ife © British Museum
Niederlage aus einem Konglomerat von
schlechtem
Wetter,
unglücklichen
Rückschlägen, dummen Zufällen und fatalen Fehlentscheidungen zusammensetzte: Während sich Scotts Motorschlitten für die frostigen Temperaturen
als unbrauchbar erwiesen und seine
Ponys im aufgetauten Eis nicht vorankamen, sodass der Trupp die Schlitten
letztendlich selber ziehen musste, reiste
der geografisch ohnehin günstiger positionierte Amundsen mit seinen Hunden
relativ problemlos zum Pol – und in nur
99 Tagen fast schon gemütlich wieder
zurück zu seiner Basisstation.
C.H.BECK
www.chbeck.de
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Geschichte Politiker aus Ost und West tauschen sich über die unterschiedlichen historischen
Erfahrungen ihrer Länder aus – ein Beitrag wider das Vergessen
Zsuzsa Breier, Adolf Muschg (Hrsg.):
Freiheit, ach Freiheit. Vereintes Europa –
geteiltes Gedächtnis. Wallstein,
Göttingen 2011. 247 Seiten, Fr. 24.50.
Von Dieter Ruloff
Der Mensch gewöhnt sich sehr rasch an
vieles, auch an das Gute und Angenehme. Und weil Erinnerung wohl nützlich,
aber auch schmerzhaft sein kann, hat
das Vergessen mitunter seinen Nutzen.
«Ohne Vergessen sei es ganz und gar unmöglich zu leben», hat Nietzsche einmal
festgestellt. So ist es in Westeuropa wohl
auch mit Freiheit und Wohlstand. Beides ist zur Normalität geworden. Dass
die Freiheit einmal erstritten, der Wohlstand erst erarbeitet worden ist, gerät
oft in Vergessenheit. Darauf angesprochen wird niemand die Sache in Frage
stellen, aber diese Dinge zu thematisieren überlässt der Zeitgenosse gerne Historikern und Philosophen.
Ganz anders liegen die Dinge in Mittel- und Osteuropa. Hier ist die Zeit von
Diktatur und Mangel zumindest der älteren Generation noch sehr präsent. Die
friedliche Wende der Jahre 1989–91 erzeugt rückblickend immer noch Staunen und Dankbarkeit. Das kollektive
Gedächtnis der Europäer ist also partiell
zumindest ost-westlich geteilt, Folge der
asynchronen historischen Entwicklung,
die der Kontinent nach dem Ende des
zweite Weltkriegs genommen hat: Befreiung vom Alptraum des Krieges und
der Bedrohung durch die faschistische
Ideologie im Westen, danach Wiederaufbau mit Hilfe des Marshallplanes, im
Osten hingegen sowjetische Herrschaft
und Mangelwirtschaft, ein Verharren in
der Tyrannei für weitere 44 lange Jahren.
Zwei Berliner Vortragsreihen der
letzten beiden Jahre hatten die Thematik des «Doppelgedächtnis» der Europäer zum Gegenstand. Eingeladen waren
prominente Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Publizistik, ihre Gedanken zum Thema und ihre eigenen Erinnerungen an den Gegenstand in Worte
zu fassen. Die Referenten kamen von
Ost und West: Marianne Birthler, die
Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, und ihr Vorgänger Joachim Gauck;
Wolfgang Schäuble, der deutsche Finanzminister; Karl Schwarzenberg, der
Chef des Hauses Schwarzenberg und aktueller Aussenminister Tschechiens;
Radoslaw Sikorski, der Aussenminister
Polens; Vaira Vike-Freiberga, die vormalige Staatspräsidentin Lettlands, und
mehr als dreissig weitere Redner.
Herausgegeben und eingeleitet haben
den Sammelband Zsuzsa Breier, die das
von ihr gegründete Ost-West-Forum
«Dialog-Kultur-Europa» in Berlin leitet,
und der Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschafter Adolf Muschg.
Entstanden ist eine faszinierende Sammlung von Meinungen und Erlebnissen
ganz unterschiedlicher Art, deren Ziel
jedoch ein Gemeinsames ist: Die Achtung für Freiheit und Wohlstand zu fördern, wider das Vergessen zu wirken
und Verständnis für einander zu fordern
und fördern.
Geschichte ist identitätsstiftend, sie
«steht für den Mann» — so hat dies der
Zürcher Philosoph Hermann Lübbe einmal auf den Punkt gebracht. Unterschiedliche Geschichtserfahrung produziert also zwangsläufig verschiedene
Identitäten. Das «neue» Europa, wie es
STEPHEN JAFFE / CAMERA PRESS / KEYSTONE
Das neue gegen das alte Europa
Geschichte stiftet
Identität: Nach dem
Mauerfall in Berlin
12. November 1989.
der vormalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im
Jahre 2003 nannte, sah den Krieg der
Amerikaner im Irak natürlich mit ganz
anderen Augen als Deutsche und Franzosen: Die Befreiung Iraks vom Despoten hier, ein weiteres Militärabenteuer
Bushs dort.
Werden die «alten» und «neuen» Europäer zueinander finden? Karl Schwarzenberg ist skeptisch: «Das Bewusstsein, wie sehr wir uns gegenseitig belogen haben, wie sehr wir uns womöglich
weiterhin belügen werden — das wird
das Prägende sein …» Man kann es aber
auch optimistischer sehen: Die grosse
Osterweiterung der EU von 2004 hat zumindest die Grundlagen für ein zukünftiges Miteinander gelegt, und die gemeinsame Geschichte wird das Ihre
dazu tun. Aber bis dahin, so scheint es,
ist es noch ein langer Weg. ●
Dieter Ruloff ist Professor für
Internationale Beziehungen an der
Universität Zürich.
Soziale Medien Die Rolle von Internet-Netzwerken bei politischen Umbrüchen ist umstritten
Startet man die Revolution jetzt per Internet?
Matthias Bernold, Sandra Larriva
Henaine: Revolution 3.0. Die neuen
Rebellen und ihre digitalen Waffen.
Xanthippe, Zürich 2011. 162 S., Fr. 27.90.
Von Reinhard Meier
Seit dem unerwarteten «Arabischen
Frühling» zu Beginn dieses Jahres sind
Thesen über die Bedeutung des Internets und die neuen sozialen Medien für
politische Umbrüche ein beliebtes
Thema. Nun wird niemand bestreiten,
dass mit Hilfe von E-Mails, TwitterNachrichten oder Facebook-Netzwerken die Möglichkeiten zur Mobilisierung von Aktionsgruppen phänomenal
erweitert worden sind. Aber sind diese
neuen «digitalen Waffen» tatsächlich
die entscheidenden Instrumente, um
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
Tyrannen zu stürzen oder dem Widerstand gegen ein umstrittenes Bauprojekt zum Durchbruch zu verhelfen?
Die beiden Journalisten Matthias
Bernold und Sandra Larriva Henaine
wollten Schlagwörtern wie «TwitterRevolution» oder «Online-Protest» auf
den Grund gehen. Sie haben in zehn Reportagen mit Akteuren ganz unterschiedlicher Bewegungen gesprochen
und deren Methoden und Ziele unter
die Lupe genommen. Beschrieben wird
etwa die Rolle der jungen ägyptischen
Video-Bloggerin Sarrah Abdelrahman,
Tochter aus gutem Haus, Studentin der
amerikanischen Universität in Kairo, die
mit Leidenschaft Tweeds und VideoFilme über die Ereignisse auf dem Tharir-Platz verbreitet.
Andere Fallbeispiele handeln vom
Protest gegen den Untergrund-Bahnhof
Stuttgart, den Widerstand gegen Zensoren in der Türkei oder das skurrile
«Staatsgründungsprojekt» des Thurgauer Unternehmers Daniel Model, das
mit dem Internet aber wenig zu tun hat.
Die Erfolge der angeblich «neuen Rebellen» fallen, gemessen an den oft euphorischen Erwartungen, in den meisten Fällen ernüchternd aus. Das Internet erleichtert zwar die Aktivierung von
Gleichgesinnten, doch ohne glaubwürdige charismatische Führungsfiguren
und strategische Köpfe, die in der realen
Welt die Zügel in die Hand nehmen, versanden und zerfasern solche Aufwallungen bald. Das zeigt auch die rasche Entzauberung des egomanischen Wikileaks-Guru Julian Assange. Ob mit den
digitalen Netzwerken eine neue Ära der
Politikbegeisterung beginne, fragen die
Autoren. Man darf es bezweifeln. ●
Doppelbiografie Marlene Dietrich und Leni Riefenstahl: zwei deutsche Primadonnen
So schön wie egozentrisch
Karin Wieland: Dietrich & Riefenstahl.
Der Traum der neuen Frau. Hanser,
München 2011. 632 Seiten, Fr. 37.90.
Von Ina Boesch
Die Dietrich und die Riefenstahl – kaum
jemandem käme in den Sinn, die beiden
Diven in einem Atemzug zu nennen. Politisch hatten sie das Heu nicht auf derselben Bühne, paktierte doch die Filmregisseurin Leni Riefenstahl mit den Nationalsozialisten, die Filmschauspielerin
Marlene Dietrich hingegen mit den
Amerikanern. Auch privat kreuzten sich
ihre Wege kaum, ausser dass sie zu Anfang ihrer Karriere im gleichen Berliner
Boxstudio trainierten. Und von gegenseitigem Respekt kann keine Rede sein,
im Gegenteil verabscheuten sich die
beiden von Herzen.
Nun führt die Berliner Autorin Karin
Wieland, die vor einigen Jahren mit
ihrer Biografie über Mussolinis Geliebte
Margherita Sarfatti bekannt geworden
ist, die beiden so unterschiedlichen Ikonen des 20. Jahrhunderts in einer Doppelbiografie zusammen und findet über
das Geburtsdatum und den Geburtsort
hinaus (1901 respektive 1902 in Berlin
geboren) so manche Parallelen. Beide
mussten sich von amusischen Elternhäusern emanzipieren; beide waren gezwungen, ihren Traumberuf aufzugeben; beide kamen über Umwege zum
Film; beide waren als Schauspielerinnen
wenig talentiert; beide führten ein befreites, äusserst aktives Sexualleben und
waren mit grossen Künstlern der damaligen Zeit liiert – wenn auch unfähig für
eine längere Paarbeziehung; beide
waren egozentrisch und allein auf ihren
Erfolg bedacht; beide starteten mit fünfzig Jahren eine weitere Karriere; beide
blieben bis ins hohe Alter Stars und
dank Frischzellenkuren «jung». Und –
zentral für das Film- und Showgeschäft
– beide waren auffallend schön.
Marlene Dietrich
(links), Anna-May
Wong und Leni
Riefenstahl (rechts)
posieren an einem
Ball in Berlin 1928.
Schriftsteller Erich Maria Remarque,
den Schauspielern Jean Gabin, Elisabeth
Bergner oder Yul Brynner. Auch Leni
Riefenstahl nahm sich berühmte Männer. So eroberte sie beispielsweise den
damaligen Tennisstar Froitzheim, indem
sie unverfroren an seiner Haustür läutete und um ein Rendez-vous bat, oder sie
lachte sich an der Ostsee den österreichischen Banker Sokal an, der – neben
Hitler – zum wichtigsten Financier ihrer
Filme werden sollte.
Ausführlich widmet sich die Autorin
Riefenstahls Verwicklung ins NS-Regime. Dank der Anfang der neunziger
Jahre in Moskau entdeckten GoebbelsTagebücher kann belegt werden, dass
Riefenstahl viel früher als behauptet mit
den Nazis zusammenspannte, dass sie
log wie gedruckt und ihre Biografie
schönte. Diese Tatsache ist nicht neu,
doch Wieland geht es nicht in erster
Linie um die Auflistung dieser und jener
Details, vielmehr will sie vorführen, wie
sehr sich die beiden Starlets in ihrer Lebensgestaltung vom damaligen Frauenbild unterschieden haben: Dietrich und
Riefenstahl waren wirtschaftlich unabhängige, sozial selbständige, berufstätige Frauen. Wie viel dieser neue Typ
Frau dem neuen Medium Film verdankt,
wird leider nur zwischen den Zeilen
deutlich. Zwar betont Wieland, dass
man in den Zwanzigerjahren dem Wort
misstraute und auf den Körper setzte,
sei es im Tanz oder im Schauspiel, doch
wie sehr der Film Dietrich half, sich zu
inszenieren, und Riefenstahl befähigte,
andere zu inszenieren, thematisiert sie
nicht explizit.
Gelungenes Porträt
Karin Wieland ist nicht die erste, die die
beiden Primadonnen zusammenbringt.
Ende der Neunzigerjahre hat die deutsche Schriftstellerin Thea Dorn ein Hörspiel/Theaterstück geschrieben mit
dem sinnigen Titel Marleni. Darin lässt
sie die hochbetagte Riefenstahl ins Zimmer der ebenso betagten Dietrich dringen, um diese für einen gemeinsamen
Film zu gewinnen. Während Dorn mit
beiden Diven nicht gerade zimperlich
umspringt, macht Wieland kein Hehl
daraus, wem ihre Sympathie gilt: Marlene Dietrich, was nicht überrascht und
ihr nicht zu verdenken ist. Wielands eindeutige, in jeder Zeile spürbare (wenn
auch nachvollziehbare) Abneigung
gegen Leni Riefenstahl schmälert jedoch das Lesevergnügen dieser ansonsten gelungenen Doppelbiografie. ●
Möglicherweise glichen sie sich auch
äusserlich mehr, als ihnen lieb war. Dies
suggeriert zumindest die Fotomontage
von den übereinander gelegten Porträts
der beiden Frauen auf dem Buchumschlag: Perfekt geschminkter Mund mit
ausgeprägter Unterlippe, vieldeutiges
Lächeln, grosse Augen. Mit solchen
Äusserlichkeiten hält sich Wieland
nicht lange auf, vielmehr beschreibt sie
anhand von reichem Quellenmaterial
sehr anschaulich und klug die Lebensstationen, die Filme und das Beziehungsnetz der berühmten Frauen und
lässt so Kultur und Gesellschaft des
20. Jahrhunderts Revue passieren. Dabei
befriedigt sie auch die voyeuristische
Neugier nach dem «Wer mit wem»:
Marlene Dietrich pflegte herausfordernde Liebschaften mit ausgeprägten
Künstlerpersönlichkeiten jener Zeit wie
dem Regisseur Josef von Sternberg, dem
ALFRED EISENSTÄDT / AP
Zwei emanzipierte Frauen
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Biografie Zwei Neuerscheinungen porträtieren den Schriftsteller der Romantik Novalis
Todessüchtiger philosophiert
über die Liebe
Wolfgang Hädecke: Novalis. Biografie.
Hanser, München 2011. 399 Seiten,
Fr. 34.90.
Gerhard Schulz: Novalis. Leben und Werk
Friedrich von Hardenbergs. C. H. Beck,
München 2011. 298 Seiten, Fr. 35.50.
Es waren schöne, einfache Zeiten, als
Novalis-Biografen noch an der Legende
vom todessüchtigen Schwärmer stricken konnten. Leben und Werk bildeten
eine fugenlose Einheit. Alles, was diesen
schlechthinnigen Romantiker bewegte,
war demnach zurückzuführen auf ein
Schlüsselerlebnis: den Tod seiner fünfzehnjährigen Braut Sophie von Kühn im
März 1797 und seinen Entschluss, ihr
«nachzusterben».
In den vier Jahren bis zu seinem eigenen frühen Verscheiden schrieb er berückende, rätselhafte Dichtungen wie die
«Hymnen an die Nacht», die um Themen wie Liebe und Tod, himmlisches
Heimweh und ätherische Verwandlung
kreisen. Zu dieser ergreifenden Geschichte passte das einzige Bild des Poeten, das die Nachwelt kannte: der Kupferstich eines gewissen Eduard Eichen,
der ab 1846 jede Novalis-Ausgabe zierte.
Ausgehend von einem anspruchslosen
Novalis-Portrait im Familienbesitz schuf
Eichen postum das Antlitz, das der Legende entsprach: der Träumer mit dem
weichen Gesichtsoval, dem mädchenhaften Schmollmund, den seelenvollen
Rehaugen und der hohen Stirn, von der
die langen Locken hinabwallen. So
musste er ausgesehen haben, der «göttliche Jüngling, der nur auf der Erde wandelte, um sich bald wieder zu dem geliebten Land seiner Sehnsucht aufzuschwingen», so ein Lexikon von 1817.
Ein Workaholic
Das heutige Novalis-Bild ist sehr viel
nüchterner und komplizierter. Seit 1960
erscheint die Kritische Ausgabe seiner
Schriften, die akribisch das theoretische
Werk und die Berufstätigkeit des angeblichen Weltflüchtlings dokumentiert.
Friedrich von Hardenberg, so sein eigentlicher Name, war – wie man nun
sehen konnte – ein blitzgescheiter Philosoph in der Nachfolge Kants und Fichtes, ein genauer Kenner der Naturwissenschaften seiner Zeit und ein wahrer
Workaholic in seinen Brotberufen als
Verwaltungsbeamter und Salineningenieur. Verständlich, dass sich angesichts
dieser facettenreichen Persönlichkeit
selbst ausgewiesene Kenner nicht mehr
an das Projekt einer umfassenden Biografie wagten.
1969 veröffentlichte Gerhard Schulz,
einer der Herausgeber der Kritischen
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
STAR-MEDIA
Von Manfred Koch
Novalis-Museum
auf Schloss
Oberwiederstedt,
Sachsen-Anhalt, wo
Novalis (1772–1801)
Kindheit und Jugend
verbrachte.
Ausgabe, eine vorzügliche Kurzdarstellung von Leben und Werk. Dabei blieb
es für mehr als vierzig Jahre. Mittlerweile ist Schulz der Nestor der Novalis-Forschung, ein Germanist, der sich wie
wenig andere in der Literatur um 1800
auskennt, dazu ein Stilist von hohen
Graden, der sein Wissen anregend und
erhellend auch Nicht-Spezialisten zu
vermitteln versteht.
Verwegene Erotik
Als der Beck Verlag für den Herbst 2011
sein neues Buch über «Leben und Werk»
Hardenbergs ankündigte, durfte man
deshalb gespannt sein. Nun, die NovalisExperten werden zunächst enttäuscht
sein. Es ist keine neue Biografie, sondern eine durch biografische Überleitungen verbundene Sammlung von
Schulz’ wichtigsten Novalis-Aufsätzen
aus den letzten drei Jahrzehnten. Aber
diese Aufsätze haben es in sich und deshalb längst verdient, einem grösseren
Publikum vorgestellt zu werden! Am
Anfang steht eine Studie über NovalisBildnisse, die das ganze Spektrum der
Mythisierung bis hin zur gnadenlosen
Verkitschung vorführt; der zweite Teil
besticht durch kluge Interpretationen
berühmter Gedichte wie «An Tieck»,
«Das Lied der Toten» und «Hymnen an
die Nacht». Das Glanzstück sind die
Ausführungen zu «Novalis’ Erotik» im
Mittelteil. Schulz erläutert die verwegene Liebesphilosophie Hardenbergs, die
alle Gestalten des Eros gleichermassen
würdigt: von der Anziehungskraft, die
das Universum zusammenhält, bis hin
zu den körperlichen Begierden. Von der
Lust auf «Busenberührung» und «Griff
an die Geschlechtsteile» (auch die eigenen) handelt vielfach das «Journal», das
er nach Sophies Tod führte. In teils kuriosen Formulierungen («Das Gehirn
gleicht den Hoden») versucht Novalis,
Spirituelles und Sexuelles zusammenzudenken, um, so Schulz, «zu erfassen,
was menschliche Existenz in ihrer Totalität ausmacht». Da er hierbei auch die
Abgründe der menschlichen Triebnatur
nicht ausklammert, rückt der romantische Jüngling in verblüffende Nähe zu
seinem Zeitgenossen de Sade.
Solche Überraschungen erlebt der
Leser von Wolfgang Hädeckes «Novalis» leider nicht. Es handelt sich tatsächlich um die erste grosse Biografie, die
auf der Grundlage der Kritischen Ausgabe und der vielen neueren Spezialstudien zum experimentellen Denk- und
Sprachstil Hardenbergs entstanden ist.
Fraglos ein kenntnisreiches, ansprechend formuliertes und argumentativ
ausgewogenes Buch. Aber die bemühte
Korrektheit ist auch sein Problem. Man
vermisst einen energischeren individuellen Zugriff; oft versteckt sich Hädecke
hinter Urteilen renommierter NovalisForscher (wie Schulz). Unter dem Strich
ist es wieder ein recht frommer Novalis
und auch die totale Entmythisierung des
«Sophienerlebnisses» macht Hädecke
nicht mit. Das ist grundsätzlich legitim.
Aber muss man Hardenbergs Tuberkulose psychosomatisch auf den «ins Unbewusste abgesunkenen Todeswunsch»
nach dem Verlust der Geliebten zurückführen? Vermutlich hat er einfach zu viel
gearbeitet. ●
Wirtschaftsgeschichte Der Europa Verlag legt die Gottlieb-Duttweiler-Biografie von Curt Riess neu
auf – ein immer noch faszinierendes Unternehmerporträt
Der Mythos vom sozialen Kapital
Zucker, Kaffee, Teigwaren, Fett und
Seife.
Duttweiler, der immer ein wenig an
zu grossem Optimismus litt, war ein sozialer Arbeitgeber. In der Krise entliess
er kaum Leute, sondern placierte sie in
andere Zweige um. Er setzte durch, dass
ein Prozent des Umsatzes für kulturelle,
soziale und politische Zwecke eingesetzt wird («Kulturprozent»). 1940 wandelte er die Aktiengesellschaft in eine
Genossenschaft um und verschenkte die
Anteilscheine zu je 30 Franken seinen
Kunden – die M-Familie entstand und
damit der Mythos vom «sozialen Kapital» und dem «dritten Weg zwischen
Kapitalismus und Kollektivismus».
Schon früh wurde der Mann mit Zigarre, breitrandigem Hut und mächtigem Bauch, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Churchill aufwies, auch zum
Volkstribun und Politiker. Einer, der
seine Gegner mit Lust provozierte, anprangerte und vor Gericht zog. Der Boykotte unterlief, Monopolisten bekämpfte und Kartelle zum Einsturz brachte.
Der sich den Mund von Verbänden, Behörden und Mitbewerbern nie stopfen
Curt Riess: Gottlieb Duttweiler. Eine
Biografie. Vorwort Karl Lüönd. Europa,
Zürich 2011. 408 Seiten, Fr. 38.–.
Von Urs Rauber
Als der in Zürich lebende deutsche
Bestsellerautor Curt Riess (1902–1993)
die umfassende Biografie über MigrosGründer Gottlieb Duttweiler 1958 abschloss, war dieser gerade 70 geworden
und auf dem Höhepunkt seines Erfolges.
Der «Lebensmittelheiland» hatte bereits damals die Schweiz stärker verändert als jeder andere im 20. Jahrhundert
– so Karl Lüönd in seinem Vorwort zur
unveränderten Neuausgabe.
Das ist exakt auf den Punkt gebracht:
Gottlieb Duttweiler (1888–1962) revolutionierte nicht nur das Preisgefüge des
damaligen Spezerei- und Detailhandels.
Er wollte seinen Kundinnen – der Hausfrau, die täglich rechnen muss – nicht
allein das Budget entlasten, sondern
ihren Konsum-Radius erweitern. Indem
er günstige Ferien organisierte (Hotelplan), Weiterbildung anbot (Klubschule), Treibstoff und Heizöl verbilligte
(Migrol), Bücher und Schallplatten unters Volk brachte (Ex Libris), Kredite
und Hypotheken für Kleinverdiener
möglich machte (Migrosbank).
Angefangen hatte der Zürcher Unternehmer als 12-jähriger Bub mit dem Verkauf selbstgezüchteter Kaninchen. Nach
seiner KV-Lehre reiste er in die Welt
hinaus und sah, wie man günstig Kaffee
und andere Waren einkaufen und absetzen konnte, wenn man den Zwischenhandel ausschaltete. Mit 19 wurde Duttweiler Junior-Partner seiner Lehrfirma.
Und nach intensiven Marktabklärungen
liess er am 25. August 1925 erstmals fünf
Lastwagen auf festgelegten Routen
durch Zürich fahren, um den zögernden,
teils misstrauischen Käuferinnen jene
sechs Lebensmittel anzupreisen, die
jede Hausfrau im Alltag brauchte: Reis,
Seit 86 Jahren
eine Erfolgsstory:
Begonnen hatte die
Migros 1925 mit fünf
Verkaufslastwagen.
Hier ein Gefährt
aus den späten
40er-Jahren.
Aymo Brunetti
Wirtschaftskrise ohne Ende?
Bestellungen
hep verlag ag
Brunngasse 36
Postfach
3000 Bern 7
Tel. 031 310 29 29
Fax 031 318 31 35
info@hep-verlag.ch
liess. Eine Persönlichkeit mit Feuer, Leidenschaft und Charisma. 1935 gründete
Dutti den «Landesring der Unabhängigen», eine Art Vorläuferin der grünliberalen Bewegung, die ihn und später weitere unabhängige Geister und Querdenker wie den Historiker Marcel Beck, den
Kabarettisten Alfred Rasser, den Zürcher Stadtpräsidenten Sigmund Widmer oder die Konsumentenschützerin
Monika Weber in den Nationalrat brachte. Duttweiler war auch Zeitungsgründer: der legendären «Tat» (1935–1978)
und des «Brückenbauers» (seit 1942,
heute «Migros-Magazin»).
Riess hat ein euphorisierendes, dennoch nicht unkritisches Patronporträt
verfasst, das flüssig und spannend geschrieben und auch heute noch mit Gewinn zu lesen ist. Die sorgfältig gestaltete Neuauflage lässt ein Stück Schweizer
Unternehmer- und Konsumentengeschichte aufleben. Die Faszination über
den
Tellerwäscher-Aufstieg
dieses
Marktschreiers, Volksbeglückers und
Querulanten vermag den Leser zu packen und lässt ihn den Staub der Sprache vor 50 Jahren vergessen. ●
2. Auflage 2011
176 Seiten, Hardcover
CHF 29.– / EUR 22.–
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«Empfiehlt sich gleich aus drei Gründen: Es ist verständlich und unaufgeregt geschrieben, klar und
anschaulich strukturiert und endet auf Seite 176
– auch Menschen mit wenig Zeit ist das durchaus
zumutbar.»
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ISBN 978-3-03905-774-0
Frankfurter Allgemeine
«Krisenkunde für Einsteiger.»
Neue Zürcher Zeitung
Von der Blase auf dem US-Immobilienmarkt bis zur aktuellen Eurokrise – Aymo Brunetti
liefert eine Orientierungshilfe zu vier Jahren Krise.
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Film Greta Garbo und Salka Viertel verband eine lebenslange Freundschaft in Hollywood
Die Göttliche und die Irdische
Nicole Nottelmann: Ich liebe dich. Für
immer. Greta Garbo und Salka Viertel.
Aufbau, Berlin 2011. 288 Seiten, Fr. 32.90.
Von Martin Walder
Es ist im Frühjahr 1930. In Beverly Hills
gibt Ernst Lubitsch eine Dinnerparty.
Auf dem Sofa thront Marlene Dietrich,
neben ihr, schmal und im Jackett, Greta
Garbo. Die Schwedin ist in den USA
schon ein Star, «der blaue Engel» Marlene soll dort zu einem werden. Die
Schauspielerin Salka Viertel, deren
Mann, der Regisseur und Dichter Berthold Viertel, auf Murnaus Ruf nach Hollywood gekommen war, wird der Garbo
vorgestellt. Sie möchte sich neben sie
setzen, Marlene tut keinen Wank. So
verziehen sich die beiden auf die Terrasse, und eine Freund-, Lieb- und Partnerschaft beginnt, die erst 1978 mit Salkas
Tod in Klosters endet.
In Viertels lesenswerter Autobiografie «Das unbelehrbare Herz» von 1969
findet sich die hübsche Anekdote auch,
Marlene tritt dort aber bloss als «der
deutsche Star» auf. Salka, mit Intelligenz, Ironie und Energie gesegnet,
wusste ein Image von sich und ihrer intimen Beziehung zur Garbo zu entwerfen und wusste, wo und wann sie
schweigen wollte. Hier leuchtet die Literaturwissenschafterin Nicole Nottelmann unter die Oberfläche. Was sie da
entdeckt und detailliert nacherzählt, ist
die Geschichte einer Frauenbeziehung,
die alle Höhen und Tiefen zwischen Erfolg und Depressionen, Liebe und Entfremdung durchläuft und dabei eine
komplizierte Balance hält.
«Ich liebe dich. Für immer» heisst das
Buch nach einer Briefpassage der Garbo.
Das klingt absolut und so wahr, wie die
beruflichen und die Gefühlsverstrickungen zwischen den ungleichen Frauen
immer wieder auch (selbst)zerstörerische Kräfte freisetzten. Salka war fast
zwanzig Jahre älter, gebildet, aus galizischem Grossbürgertum stammend; ihr
Haus an der Marbery Street in Santa
Monica war berühmt als Emigrantentreffpunkt, sie amtierte als «Mutter von
ganz Kalifornien» (Carl Zuckmayer),
später, in der unseligen McCarthy-Zeit
als eine Mutter Courage, die kein Blatt
vor den Mund nahm.
Greta Gustafsson dagegen wuchs als
Arbeiterkind zu fünft in einer Einzimmerwohnung auf. Als Entdeckung des
Regisseurs Mauritz Stiller, der sie zur
«Garbo» machte, wurde sie zum Inbegriff der androgyn unnahbaren Schönheit, war scheu und verletzlich, was sie
aber gleichzeitig als Image des verführe-
rischen Vamps zu kultivieren wusste.
Mit «Königin Christine» nahm die berufliche Partnerschaft von Salka und
Greta ihren Anfang. Die Figur der historischen schwedischen Königin in ihrer
Bisexualität war für Salka auf Garbo zugeschnitten. Und beide profitierten: Die
Garbo hatte eine Beschützerin gefunden, Viertel einen Zugang und damit Arbeit als Autorin und Beraterin des Stars
bei MGM. Über Jahre behauptete sie bei
deren Studiobossen einen Status sozusagen als «Vorzimmerdame» für den
schwierigen Star, vergleichbar vielleicht
der Rolle als Coach, wie sie Paula Strasberg für Marilyn Monroe einnahm. Vor
allem aber war Salka Impuls- und Ideengeberin, psychische Stütze, Ersatzmutter. Und: Sie war Gretas Geliebte – wie
konkret, bleibt deren Geheimnis.
Nottelmanns
doppelbiografische
Darstellung gibt anschaulich Einblicke
in das alte Studiosystem, in dem sich die
Garbo dank Viertel «als einzige der ehemaligen Stummfilmdiven und länger als
fast jeder andere weibliche Hollywoodstar mit Ausnahme von Joan Crawford und Norma Shearer» halten konnte.
Und sichtbar wird die Unbehaustheit
aller Beteiligter vor dem Drama des
20. Jahrhunderts mit Weltkrieg, Migration, mit seinen Moralvorstellungen und
seinen politischen Hysterien. ●
Essays Der Literaturkritiker George Steiner legt seine besten Arbeiten aus dem «New Yorker» vor
Von der Lust am Provozieren
George Steiner: Im Raum der Stille:
Lektüren. Suhrkamp, Berlin 2011.
271 Seiten, Fr. 34.90.
Von Arnaldo Benini
Lesen, sagt George Steiner, ist ein kompliziertes und grosses Abenteuer. Man
sollte sich einem Text mit Bedacht und
Zurückhaltung nähern. Von den «peinlichen selbstverliebten Gaukeleien» der
zeitgenössischen Kritik hält er nichts.
Der wahre und bedeutende Kritiker, so
Steiner, ist ein Briefträger, der dem
Empfänger einen sprachlich einwandfreien Brief zuwirft. Seine Bildung und
seine Weltläufigkeit machen ihn selbst
zum idealen Briefträger.
George Steiner wurde 1929 in Paris
geboren. Fünf Jahre zuvor war sein Vater
aus Wien in die französische Hauptstadt
gezogen. Er war einer der wenigen
Juden, die schon in den frühen zwanziger Jahren bemerkten, dass ihresgleichen in Deutschland und Österreich die
Vernichtung drohen konnte. Später zog
die Familie in die USA. Steiner ist dreisprachig aufgewachsen, deutsch, französisch und englisch. Seine Mutter, eine
Wiener Jüdin, beendete einen Satz selten in der Sprache, in der sie ihn begonnen hatte. Steiner lernte zudem Italienisch, das sich seiner Meinung nach
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
«für eloquente Hohlheit» eignet, sowie
Latein und Griechisch. Von 1974 bis 1994
war er Dozent für vergleichende Literaturwissenschaften in Genf und Cambridge, wo er heute lebt.
Zwischen 1967 und 1997 hat Steiner
für die Wochenzeitschrift «The New
Yorker» über 130 Rezensionen und Essays verfasst. Die liberale amerikanische
Publikation war von Beginn an ein Pantheon zeitgenössischer Literatur, zählten zu ihren Mitarbeitern Borges, Nabokov, Salinger, Brodsky und andere. Steiner trat die Nachfolge des Kritikers Edmund Wilson an, der ihm den Rat erteilte, sich niemals scheiden zu lassen; die
opulenten Honorare seien an seine drei
Ex-Frauen gegangen. Die Mitarbeit Steiners endete abrupt, als die Leiterin des
Magazins, Tina Brown, erfuhr, dass er
herumerzählte, der «New Yorker»
werde allmählich trivial.
Steiner rezensierte Monografien über
historische Figuren sowie Werke von
Erzählern und Essayisten. 2009 ist in
den USA eine Sammlung von 33 Artikeln
erschienen, während die deutsche Ausgabe lediglich 16 Beiträge enthält – darunter jene über Cioran, Canetti, Brecht,
Kraus, Bernhard, Celan, Albert Speer
und Celine. Herausragend ist das Porträt über Hermann Broch, einen heute
fast vergessenen Autor. Der Briefwechsel zwischen Walter Benjamin und
Gershom Scholem wird als literarisches
und philosophisches Meisterwerk dargestellt. Erhellend ist der Essay über
Brecht, dessen Gedichte und Schauspiele für Steiner «zu den schönsten unseres
Jahrhunderts» gehören. Steiner erinnert
daran, dass Brecht auf die Frage, weshalb er in Moskau nicht um Asyl gebeten
habe und in die USA gereist sei, antwortete: «Ich bin ein Kommunist, kein
Idiot.» Weitere Themen sind die Schicksalsschläge des Kunstkritikers Anthony
Blunt, der für die Russen spionierte, und
der Essay über die «Traurigen Tropen»
von Claude Lévi-Strauss. Schade, dass in
der deutschen Ausgabe die Aufsätze
über Goethe, Kafka, Musil, Thomas und
Heinrich Mann fehlen.
Susan Sonntag sagte, der Essayist
Steiner greife alles mit Ernsthaftigkeit
und Lust an der Provokation auf. Obwohl er das Leben liebt, ist Steiner eine
Stimme des zeitgenössischen Pessimismus. Die «weinerliche Kantilene» von
E. M. Cioran lehnt er jedoch ab. Selbst
im Jahrhundert von Auschwitz und in
einer von Scharlatanen regierten Welt,
sagt Steiner, sind Ciorans Trauersermone «Zeugnis einer massiven, gewaltsamen Vereinfachung.» Was ist von einem
im Greisenalter gestorbenen Moralisten
zu halten, für den jeder, der sich nicht
vor dem dreissigsten Lebensjahr umbringt, ein Versager ist? ●
Biografie Das Leben des berühmtesten Dokumentenfälschers des 20. Jahrhunderts, Adolfo Kaminsky,
aufgezeichnet von seiner Tochter
Lügen für die gute Sache
Sarah Kaminsky: Adolfo Kaminsky. Ein
Fälscherleben. Kunstmann,
München 2011. 224 Seiten, Fr. 28.50.
Von Fritz Trümpi
Was sich liest wie ein hochspannender
Polit-Krimi, ist in Wirklichkeit der
nüchterne Erfahrungsbericht eines couragierten Zeitgenossen: Adolfo Kaminsky war der wohl berühmteste Dokumentenfälscher im 20. Jahrhundert, der seine
illegale Kunst stets in den Dienst der
guten Sache stellte. Seine Tochter Sarah
Kaminsky, eine in Paris ansässige Schauspielerin und Drehbuchautorin, fertigte
aus seinen unzähligen erschütternd-ergreifenden Geschichten eine spannungsvolle, in einfache Sprache gehüllte
Ich-Erzählung, die sie geschickt mit
Spots auf historische Brennpunkte des
20. Jahrhunderts verwob.
Adolfo Kaminsky war zunächst selbst
Opfer von Repression und Verfolgung:
Im Sommer 1943 wurde die jüdische Familie in Paris verhaftet und ins Internierungslager Drancy deportiert. Nur dank
dem Umstand, dass die Kaminskys die
argentinische Staatsbürgerschaft besassen, kamen sie provisorisch wieder frei,
woraufhin der noch keine zwanzig Jahre
alte Adolfo für die Résistance als Ausweisfälscher tätig wurde. Dabei kam
ihm zupass, dass er als Jugendlicher eine
Färberlehre absolviert hatte und über
stupende Chemiekenntnisse verfügte,
die für eine erfolgreiche Fälschertätigkeit unerlässlich waren.
Mit dem Ende der deutschen Besatzung in Paris war sein Fälscheraktivis-
BENJAMIN BOCCAS
Opfer der Judenverfolgung
Sarah und Adolfo Kaminsky in der Fälscherwerkstatt in Paris, 2010.
mus indes nicht vorbei: Bis zur Kapitulation der Achsenmächte stellte er deutsche Ausweise her, die es französischen
Geheimdienstagenten erlaubten, auf
feindlichem Territorium KZs ausfindig
zu machen. Kaminsky war damit zum
«staatlichen Fälscher» aufgestiegen,
wenn auch nur kurzzeitig.
Als er nach Kriegsende den Auftrag
erhielt, Kartenmaterial für das von
Frankreich okkupierte Indochina zu
vervielfältigen, verzichtete er freiwillig
auf eine vielversprechende Beamtenkarriere: «Spionage in Friedenszeiten war
nicht meine Sache, und die Aussicht,
mich an einem Kolonialkrieg zu beteiligen, erschreckte mich.»
Privat am Abgrund
Gefälschte Pässe,
die Adolfo Kaminsky
hergestellt hatte.
Adolfo Kaminsky sehnte sich nach
einem normalen Leben und wollte sich
nur noch seiner grossen Leidenschaft,
der Fotografie, widmen: «Jetzt, da der
Krieg vorbei war, wollte ich nichts Illegales mehr tun.» Doch es kam rasch anders. 1946 begab er sich mit GIs auf eine
Tour durch deutsche Flüchtlingslager,
die bei ihm schockierende Eindrücke
hinterliess.
Wieder in Paris angekommen, begann
er umgehend, im grossen Stil Papiere für
«displaced persons» zu kreieren, die
den KZ-Überlebenden die illegale Ein-
wanderung nach Palästina ermöglichen
sollten.
In der Folge internationalisierte sich
Kaminskys Tätigkeit zunehmend, und
die Bestellungen für Passfälschungen
kamen buchstäblich aus der ganzen
Welt. Zunächst engagierte er sich für die
Befreiung Algeriens, sodann produzierte er Pässe für Dominikaner und Haitianer, bis er schliesslich für die Revolutionäre Südamerikas zu arbeiten begann:
«So lieferte ich 1967 Kämpfern und Gehorsamsverweigerern aus 15 verschiedenen Ländern falsche Papiere, und das
war noch gar nichts im Vergleich zu den
folgenden Jahren bis 1971.»
Kaminskys privates Leben allerdings
verlief zumeist am Rande des Abgrunds
– amourös wie finanziell: Das Fälschen
stellte er stets über seine Liebesbeziehungen, und obendrein musste dieses
für den bekennenden Humanisten unbedingt unbezahlt bleiben. Über Wasser
hielt er sich mit Fotoarbeiten, und wenn
dies nicht ausreichte, beschritt er den
Weg zum Pfandleihhaus. Er macht keinen Hehl daraus, dass er dieser Opfer
nicht manchmal überdrüssig gewesen
wäre, doch zugleich bekennt er: «Wenn
ich nur eine Sekunde lang an jene Unbekannten dachte, deren Leben in meiner
Hand lag, war mein Selbstmitleid sofort
verflogen.» ●
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Sachbuch
Metropole Der Historiker Simon Sebag Montefiore erzählt die 3000-jährige Geschichte Jerusalems
Eine Stadt, die nie
zur Ruhe kommt
Simon Sebag Montefiore: Jerusalem. Die
Biografie. S. Fischer, Frankfurt am Main
2011. 872 Seiten, Fr. 38.50.
Von Geneviève Lüscher
Bibel als Geschichtswerk
Das erste Kapitel «Judentum» enttäuscht, respektive es rückt das Werk
weit weg von der Historie in die Fiktion.
Der Autor liest die Bibel, als wäre sie
eine objektive Geschichtsquelle, und
lässt eine klare Unterscheidung von Legenden und archäologischen Fakten vermissen. Personen wie David und Salomo
oder Jesus sollen real existiert haben,
obwohl es dafür bis anhin keinen einzigen Beweis gibt. Auch die Lesung der
berühmten Inschrift auf der Tel-DanStele, die laut Sebag Montefiore die
Existenz König Davids beweisen soll, ist
unter Fachleuten umstritten.
Man hätte sich als Leserin gerne eine
strikte, neutrale Trennung der Fakten
von den Ideologien gewünscht. Das ist
keine einfache Aufgabe, gibt es doch für
diese frühen Epochen kaum schriftliche
Kurzweilige Aperçus
Jerusalem heute,
mit Klagemauer
und Felsendom im
Hintergrund. Die
Ursprünge der Stadt
sind jedoch älter.
AVI HIRSCHFELD / BILDMASCHINE
Nicht eine Biografie sollte es sein, nein:
die Biografie Jerusalems will der Brite
Simon Sebag Montefiore selbstsicher
und dezidiert vorlegen. Der vielfach
ausgezeichnete Historiker brillierte bis
anhin mit Werken über Russland und
die Sowjetunion, er widmete sich Persönlichkeiten wie Stalin und Katharina
der Grossen. Über die Geschichte des
Nahen Ostens berichtet er hier erstmals,
obwohl er aus einer berühmten altjüdischen Familie stammt, die in Jerusalem
selber Geschichte gemacht hat.
Er habe, schreibt der Autor im Vorwort, nicht eine Geschichte als Abfolge
gewaltsamer Umbrüche und radikaler
Veränderungen darstellen wollen, sondern er «möchte zeigen, dass Jerusalem
eine Stadt der Kontinuität und Koexistenz war, eine gemischte Metropole mit
gemischten Bauten und gemischten
Menschen». Und deswegen zeichne er
die Geschichte wenn immer möglich anhand von Familien und Dynastien nach,
jüdischen, christlichen, islamischen, um
nur die wichtigsten zu nennen. Er wolle
eine Geschichte Jerusalems ohne politische Agenda schreiben, für alle. Gleich
die erste Karte am Schluss des Buches
macht aber stutzig: Hier wird das Königreich David und Salomo mit scharf umrissenen Grenzen eingezeichnet, als
seien diese Grenzen historische Fakten,
was sie bekanntlich aber nicht sind.
Quellen, sondern nur Bodenfunde, welche die an sie gestellten Fragen nicht
beantworten können. Kommt erschwerend dazu, dass in Jerusalem ständig gebaut wurde und wird. Seit Jahrtausenden werden Gebäude abgerissen, neu
gebaut, erweitert, was die archäologische Arbeit nicht eben erleichtert.
Gerade für die Ursprünge der Stadt
hätte man sich mehr Informationen gewünscht. Das erste Kapitel beginnt mit
dem Unterkapitel «Die Welt Davids»,
als ob vorher nichts gewesen wäre. Zwar
schreibt der Autor: «Als David die Burg
Zion eroberte, war Jerusalem bereits
alt». Diese wichtige Tatsache, dass die
Stadt nämlich zuerst anderen «gehörte», geht unter. Die Kanaaniter, über die
dank moderner Grabungen immer mehr
bekannt wird, hätten ein eigenes Kapitel
verdient. Man weiss heute, dass sie imposante Bauwerke bauten. Kanaan geriet dann unter ägyptische Herrschaft,
bevor es – laut der Bibel – von David erobert wurde. Diese Informationen finden sich zwar verstreut, sie lassen aber
kein Gesamtbild zu.
Jerusalem verdankt seine Bedeutung
nicht wie andere grosse Städte seiner
Lage. Es befindet sich weder an wichtigen Handelsrouten noch an der Küste
des Mittelmeers, sondern in einem unwirtlichen Bergland mit kargen Wasserressourcen. Jerusalem sei einzig bedeutend, weil es laut Sebag Montefiore eine
«heilige Stadt» sei. Sie wurde zum irdischen Ort für die Kommunikation zwischen Gott und Mensch, zum Brennpunkt dreier Religionen, dem Judentum,
dem Christentum und dem Islam.
Wie es dazu gekommen ist, schildert
Sebag Montefiore auf fast 750 Seiten,
gefolgt von einem umfangreichen Anmerkungsapparat, einer ebensolchen
Bibliografie und verdankenswerterweise einem Register und Karten.
28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
Das mit 200 Seiten umfangreichste erste
Kapitel reicht bis zur Zerstörung des
Tempels durch die Römer im Jahr 70 n.
Chr. Kapitel 2 und 3 umfassen die nächsten 600 Jahre bis zur arabischen Eroberung und behandeln Christentum, Spätantike und Frühbyzanz auf gerade mal
50 Seiten. Auch die Kapitel «Islam»,
«Kreuzzüge», «Mamelucken», «Osmanen» und «Imperialismus» sind ähnlich
kurz. Erst das letzte Kapitel «Zionismus» hat wieder mehr als 100 Seiten.
Je weiter wir in der Zeit fortschreiten,
desto detailreicher wird die Erzählung
Sebag Montefiores. Denn die schriftlichen Quellen nehmen zu, die historischen Nebel lichten sich. Geschickt
pickt der Autor aus den verschiedenen
Epochen interessante Persönlichkeiten
heraus, Männer und Frauen, bekannte
Herrscherfiguren und Neuentdeckungen wie beispielsweise den Osmanen
Evliya Celebi: 1611 in Istanbul geboren,
bereiste er die Welt und schrieb einen
witzigen zehnbändigen Reisebericht.
Oder David Dorr aus Louisiana, ein
schwarzer Sklave, der 1858 seinen Herrn
auf Weltreise begleitete und über seine
Erlebnisse ein Tagebuch führte.
So erfährt der Leser anhand kurzweiliger biografischer Notizen von allerlei
Beteiligten die komplizierte Geschichte
dieser ruhelosen Stadt bis zum Sechstagekrieg 1967. Das liest sich flüssig und
unterhaltsam, gar nicht wie ein trockenes Geschichtsbuch. Das liegt sicher
auch daran, dass die Grenzen zwischen
Doku-Fiktion und harten Fakten bisweilen leichtfüssig überschritten werden. ●
Diplomatie Charles Maurice de Talleyrand gilt nicht nur als hochbegabter Politiker, sondern auch als
zynischer Opportunist. Zu unrecht, wie Johannes Willms zeigt
Gewiefter Diener Frankreichs
Johannes Willms: Talleyrand. Virtuose
der Macht 1754–1838. C. H. Beck,
München 2011. 384 Seiten, Fr. 36.90.
Charles Maurice de Talleyrand diente
dem französischen Staat während mehr
als fünfzig Jahren und unter fünf verschiedenen Regimen. Von den letzten
Phasen des Ancien Régime bis zur Restauration bekleidete dieser Diplomat
Posten sowohl unter Napoleon als auch
unter dem wieder errichteten Königtum
der Restauration. Dass Talleyrand Diener derart vieler Herren war, erschien
vielen Zeitgenossen suspekt und trägt
ihm bis heute das Image des zynischen
Opportunisten ein.
Johannes Willms, ein Publizist und
Frankreichkenner, der schon Napoleon
und Balzac gut lesbare Biografien gewidmet hat, hält diese Sicht für allzu
einseitig. Dass sich Talleyrand den historischen Gegebenheiten jeweils sehr
wendig angepasst hat, zeigt schon ein
äusserst turbulenter Lebenslauf. Der
seit 1788 als Bischof amtende Talleyrand
erregte schon Anstoss, als 1789 in Frankreich die Generalstände – Klerus, Adel
und Dritter Stand – einberufen wurden
und ausgerechnet er als Vertreter der
Kirche vorschlägt, den Kirchenbesitz
zu verstaatlichen, um den drohenden
Staatsbankrott abzuwenden. Die Revolution schickt den liberal gesinnten Reformer daraufhin zunächst als Unterhändler nach London, ihre blutige Phase
zwingt ihn jedoch ins Exil in die USA.
Schon nach vier Jahren ist Talleyrand
wieder in Paris und wird 1797 zum
Aussenminister berufen. Er setzt auf
den kommenden starken Mann und ist
Mitorganisator des Staatsstreichs, der
Napoleon 1799 an die Macht bringt.
Doch der gewiefte Aussenpolitiker
muss bald gewahren, dass Bonaparte
Vorstellungen hat, die seinen eigenen
ARCHIV GERSTENBERG / ULLSTEIN BILD
Von Peter Durtschi
Teilnehmer am
Wiener Kongress
(1814–1815) unter
ihnen auch Diplomat
Charles Maurice de
Talleyrand (sitzend,
der Zweite von links).
diametral zuwiderlaufen: Geht es Napoleon spätestens ab 1805 um die Beherrschung des Kontinents, versucht Talleyrand, Bonapartes Machtstreben zu mässigen. Im Jahr 1808 vollzieht er deshalb
den Bruch mit dem kaiserlichen Regime,
arbeitet in konspirativen Treffen mit
dem Zaren an Bonapartes Sturz mit.
Prompt beruft ihn der neu eingesetzte Ludwig XVIII. im Mai 1814 erneut als
Aussenminister und entsendet ihn an
den Wiener Kongress, wo es Talleyrand
auch tatsächlich gelingt, das geschlagene Frankreich wieder als gleichrangige
Macht zu etablieren.
Die nächsten fünfzehn Jahre äussert
sich Talleyrand, berühmt für seine geistreichen Art, als elder statesman zur politischen Grosswetterlage. Als durch die
Junirevolution 1830 König Louis Philippe an die Macht kommt, tritt Talleyrand ein letztes Mal in den Staatsdienst
und waltet während vier Jahren als Botschafter in London. Danach lebt er bis
zu seinem Tod 1838 im Schloss Valençay
unweit von Tours. Da er mit dem Eid auf
Ein Film von
Festival del film
Locarno 2011
Sélection officielle
Christoph Kühn
eine weltliche Verfassung und durch
eine Heirat mit der Kirche gebrochen
hatte, verhandelt der versierte Diplomat
nun über Wochen seine Rückkehr in den
Schoss der Kirche, die er auf dem Sterbebett auch tatsächlich vollzogen hat.
Von drei Möglichkeiten, die Talleyrand aufgrund seiner aristokratischen
Herkunft und den turbulenten Zeitläufen offengestanden hätten, habe er
weder die Emigration noch ein zurückgezogenes Privatleben gewählt, sondern
den Dienst am Staat, hält Willms in seiner flüssig geschriebenen Darstellung
fest. Und immer sei es dem hochbegabten Diplomaten dabei um das Gesamtwohl des französischen Staates gegangen. Als Opportunisten will Willms Talleyrand deshalb nicht bezeichnen. Denn
dass er die Grundmotivation auch mit
privaten Vorteilen verband, sei es nun
Ehrgeiz oder Geld, könne «eine letztinstanzliche moralische Verdammung, wie
sie über ihn verhängt wird, umso weniger rechtfertigen, als jenes Motiv nie die
Würdigung erfuhr, die es verdient.» ●
Mit Zeichnungen von
Hannes Binder
GLAUSER
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Das bewegte Leben des grossen Schriftstellers
www.filmcoopi.ch
Ab Januar 2012 im Kino
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29
Sachbuch
Abstraktion Mathematisches Denken erleichtert die Lösung philosophischer Probleme
Wie man sich mit Zahlen anfreundet
tion» geschrieben, die nun auf Deutsch
vorliegt.
Gowers Botschaft ist: «Lernt man abstrakt zu denken, verschwinden viele
philosophische Schwierigkeiten». Es sei
möglich, macht der 47-jährige Cambridge-Professor Hoffnung, sich mit mathematischen Ideen anzufreunden, ohne
in technische Einzelheiten einzutauchen. Den Begriff der höheren Dimensionen relativiert Gowers, indem er
nicht zuerst nach deren «Existenz»
fragt, sondern die Art von Eigenschaften
diskutiert, die beispielsweise von einem
26-dimensionalen Raum zu erwarten
sind. Die Existenz im mathematischen
Sinne ergibt sich dann durch die Definition eines Modells, in dem die diskutierten Eigenschaften konsistent sind. Auf
diese Weise bringt er uns auch bei, wie
Timothy Gowers: Mathematik. Reclam,
Ditzingen 2011. 207 Seiten, Fr. 8.90.
Von André Behr
Der Abstraktionsgrad in den mathematischen Wissenschaften ist bekanntlich
sehr hoch. Man mutet uns Begriffe wie
«Unendlichkeit», «gekrümmte Räume»
oder «höhere Dimensionen» zu oder erwartet Verständnis für die Konstruktion
der «Quadratwurzel aus der Zahl –1»,
obwohl wir in der Schule gelernt haben,
dass eine negative Zahl mit sich selbst
multipliziert immer ein positives Resultat ergibt. Für alle, die solche Ideen auf
quälende Weise als paradox empfinden,
hat der englische Mathematiker Timothy Gowers 2002 «a very short introduc-
Mathematiker das Unendliche oder
Wahrscheinlichkeiten angehen. Und er
führt uns über nur 30 Buchseiten von
den Anfängen der axiomatischen Geometrie bei Euklid bis zu einem der
schwierigsten Probleme, der PoincaréVermutung, die jüngst von dem genialen
Russen Perelman gelöst worden ist.
Für seine eigenen Forschungen erhielt Timothy Gowers 1998 die Fieldsmedaille, die höchste Auszeichnung seines Fachs. Trotzdem findet er Zeit, eine
Webseite und einen Blog mit vielen
nützlichen Texten und Links zu pflegen.
Seine Einführung gehört zu den besten
Büchern über Mathematik und dürfte
auch Fortgeschrittene begeistern. Ein
Jammer, dass es der Verlag nicht geschafft hat, die wenigen und simplen
Formeln alle korrekt wiederzugeben. ●
Das Memorandum findet sich in Car
Guys vs Bean Counters. The Battle
for the Soul of American Business
(Portfolio/Penguin, 241 Seiten). Temperamentvoll und mit exzellentem Gespür für vielsagende Anekdoten
schildert Lutz darin seine Rückkehr zu
GM als Schlacht zwischen «Autonarren
und Erbsenzählern», in der seine Überzeugungen allmählich die Oberhand
gewinnen. Lutz ficht erfolgreich für die
Verschlankung von Entscheidungsabläufen, terminiert gesichtslose Modelle
und hebt den Elektro-Sedan «Volt» in
das Programm, der GM heute als innovativ und wettbewerbsfähig erscheinen
lässt. Das Buch endet 2009, als die Finanzkrise den damals schon weitgehend erneuerten Konzern in den
Konkurs zwang. Dazu gibt der Autor einen Ausblick auf die Wiedergeburt von
GM, die ohne den im gleichen Jahr ausgeschiedenen Lutz stattfand. Seinem
Motto entsprechend, kommt der Leser
auch in den Genuss Lutz’scher Irrtümer, unter denen seine Ablehnung des
Klimawandels als Menschenwerk besonders haarsträubend herausragt.
30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011
Grösseren Mut beim
Design und bessere
Qualität forderte der
Amerikaschweizer
Bob Lutz (unten),
als er 2001 Chef
von General Motors
wurde.
Aber wie Lutz selbst erklärt, gehören
derartige Ausfälle schlicht zu dem Charakter des ehemaligen Kampfpiloten
beim Reserve-Corps der US-Marines.
REBECCA COOK / REUTERS
Kurz nach seiner Rückkehr zu General
Motors im September 2001 setzte
Bob Lutz seine Kollegen per Hausmitteilung über die «festen Überzeugungen» in Kenntnis, von denen er sich
als Chef der Produktentwicklung leiten
lassen wolle. Das Manifest forderte
grösseren Wagemut beim Design, stärkeren Fokus auf Qualität und einen Abbau der Bürokratie, an der GM damals
zu ersticken drohte. Zum Abschluss
führte der 1942 als Bankiersohn in Zürich Geborene das «Bob Lutz-Motto»
an: «Häufig im Irrtum, aber selten im
Zweifel». Nach einer Karriere in den
Spitzenetagen von GM, BMW, Ford und
Chrysler rief Lutz seine neuen Mitarbeiter zu offener Diskussion und Rückgrat bei der Durchsetzung ihrer
eigenen Überzeugungen auf.
JESSICA RINALDI / REUTERS
Das amerikanische Buch Autonarr gegen Erbsenzähler
Ohne Abstriche lesenswert sind dagegen seine Schilderungen der Unternehmenskultur, die Lutz als Absolvent der
elitären Berkeley University nach seinem Eintritt bei GM 1963 kennengelernt
hatte. Damals brachten visionäre Designer wie Bill Mitchell dem Konzern
enorme Gewinne ein. Doch diese nährten eine Bürokratie, die ihr Geschäft
durch endlose Debatten und Zahlenspiele berechenbar und damit risikofrei
machen wollte. Lutz führt dies auf die
im Zweiten Weltkrieg von jungen Managern wie Robert McNamara entwickelten Planungsmethoden zurück, die
danach allmählich weite Teile der amerikanischen Industrie erobert haben.
Nicht nur bei GM waren Entscheidungsfreude und Kreativität die ersten Opfer
dieses Trends. Danach brachen die Gewinne ein. Mit solchen Einsichten gibt
Lutz immer wieder zu erkennen, dass
hinter der von ihm gepflegten Fassade
des kernigen Burschen, der über «hochintelligente und enorm gebildete» Erb-
senzähler spottet, ein akademisch
trainiertes Hirn operiert.
Der «Car Guy» keilt auch kräftig gegen
die amerikanische Medien, denen er
ein sachlich verfehltes Faible für japanische Hersteller wie Toyota oder den
unprofitablen Autobauer Saab vorwirft.
Dessen Produkte verhöhnt Lutz als
technisch zweitklassige Vehikel für
College-Professoren und andere,
selbsternannte «Individualisten». Doch
der Manager räumt auch eigene Fehler
ein. So stellt er seine Ablehnung der
Übernahme des südkoreanischen
Daewoo-Konzerns durch GM heraus,
die sich zu einem grossen Gewinn für
die Amerikaner entwickeln sollte. Dazu
plaudert Lutz aus der Schule und erklärt beispielsweise den Effekt von
Chromverzierungen auf die Kauflust.
Autos sind für den 79-Jährigen letztlich
Gefühlssache. Aber die Besitzer dürfen
halt keinesfalls von der Qualität ihres
Wagens enttäuscht werden. Derlei Einsichten finden anscheinend neues Interesse bei GM: Kürzlich hat der Konzern
Lutz erneut angeheuert – als Berater
mit breitem Portfolio. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Klaus Kinski Unbekannte Facetten des Schauspielers
Agenda Dezember 11
Basel
Donnerstag, 1. Dezember, 19 Uhr
Peter Rüedi: Dürrenmatt. Lesung,
Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3,
Tel. o61 261 29 50.
Mittwoch, 7. Dezember,
19 Uhr
Marlene Streeruwitz:
Die Schmerzmacherin.
Lesung. Literaturhaus
(s. oben).
Donnerstag, 8. Dezember, 19 Uhr
MICHEL VAURIS GRAVOS / SYGMA / CORBIS
Jürg Laederach: Harmfuls Hölle – in
13 Episoden. Lesung, Fr. 17.–.
Literaturhaus (s. oben).
Bern
Montag, 5. Dezember, 20 Uhr
Bänz Friedli: Wenn die mich nicht hätten
– Ein Hausmann wird durchgeschleudert. Lesung, Fr. 15.–. Thalia im Loeb,
Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 40.
Am 23. November jährte sich der Tod des Schauspielers Klaus Kinski (1926–1991) zum 20. Mal. Er
war das Enfant terrible des deutschen Films. Für sein
ausschweifendes, leidenschaftliches Leben und seine
Wutausbrüche war er ebenso berühmt wie für seine
Darstellung getriebener Menschen. In mehreren
Filmen von Werner Herzog – «Nosferatu», «Aguirre,
der Zorn Gottes», «Fitzcarraldo» – spielte er zentrale
Rollen. Er wirkte aber auch in zahlreichen Krimi- und
Westernproduktionen mit. Unter den neuen Publi-
kationen von und über Kinski fällt ein Band auf, der
sich schlicht «Vermächtnis» nennt. Er versammelt
autobiografische Texte, Erzählungen, Briefe,
Zeichnungen und private Fotografien des Künstlers.
Unser Bild zeigt ihn im Oktober 1977 mit seiner
dritten Frau Minhoi und dem Sohn Nikolai während
der Dreharbeiten für den Film «Rolandslied» in der
Hochebene des Larzac bei Millau. Manfred Papst
Peter Geyer, OA Krimmel (Art Director): Kinski.
Vermächtnis. Edel, Hamburg 2011. 404 S., Fr. 66.90.
Mittwoch, 7. Dezember, 20 Uhr
Endo Anaconda: Walterfahren –
Kolumnen 2007–2010. Lesung, Fr. 15.–.
Stauffacher Buchhandlungen,
Neuengasse 25/37, Tel. 031 313 63 63.
Sonntag, 11. Dezember, 11 Uhr
Susanna Schwager: Ida. Eine Liebesgeschichte. Lesung, Fr. 18.–. Zentrum
Paul Klee, Tel. 031 359 01 01.
Zürich
Belletristik
Sachbuch
1 Hanser. 519 Seiten, Fr. 32.90.
2 Krüger. 447 Seiten, Fr. 19.50.
3 Ullstein. 381 Seiten, Fr. 34.90.
4 Nydegg. 400 Seiten, Fr. 35.90.
5 Piper. 282 Seiten, Fr. 19.90.
6 Ullstein. 561 Seiten, Fr. 29.90.
7 dtv. 588 Seiten, Fr. 19.50.
8 Nagel & Kimche. 539 Seiten, Fr. 29.90.
9
Rowohlt. 425 Seiten, Fr. 27.–.
10 dtv. 318 Seiten, Fr. 18.90.
1 Bertelsmann. 701 Seiten, Fr. 28.50.
2 Piper. 400 Seiten, Fr. 35.90.
3 Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 32.90.
4 Riva. 176 Seiten, Fr. 15.90.
5 Riva. 200 Seiten, Fr. 14.90.
6
Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90.
7
Kein & Aber. 175 Seiten, Fr. 19.90.
8 Murmann. 223 Seiten, Fr. 28.50.
9 Woa. 287 Seiten, Fr. 32.90.
10 Droemer. 399 Seiten, Fr. 25.90.
Umberto Eco: Der Friedhof in Prag.
Cecelia Ahern: Ein Moment fürs Leben.
Michael Theurillat: Rütlischwur.
Paul Wittwer: Widerwasser.
Charlotte Roche: Schossgebete.
Jo Nesbø: Die Larve.
Jussi Adler-Olsen: Erlösung.
Charles Lewinsky: Gerron.
Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden
Lichts.
Dora Heldt: Bei Hitze ist es wenigstens nicht
kalt.
Walter Isaacson: Steve Jobs.
Remo H. Largo: Jugendjahre.
Guinness World Records 2012.
Klaus Merz: Der Autor
liest und erzählt aus
seinem Werk, Fr. 18.–
inkl. Apéro.
Literaturhaus,
Limmatquai 62,
Tel. 044 254 50 00.
Sonntag, 11. Dezember, 17 Uhr
Das Glauser Quintett präsentiert: Elsi
oder «Sie geht um», nach einer Erzählung von Friedrich Glauser. Fr. 42.–. sogar
theater, Josefstr. 106, Tel. 044 271 50 71.
Montag, 12. Dezember, 20 Uhr
Barney Stinson: Das Playbook.
Martin Walser: Muttersohn. Lesung,
Fr. 30.–. Kaufleuten, Festsaal,
Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
Barney Stinson: Der Bro Code.
Mittwoch, 14. Dezember, 15 Uhr
Rolf Dobelli, Birgit Lang: Die Kunst des
klaren Denkens.
Mikael Krogerus: Die Welt erklärt in drei
Strichen.
Sandra Landolt: Siku und die Nacht der
Tiere. Lesung für Kinder von vier bis
acht Jahren. Pestalozzi-Bibliothek Sihlcity, Kalanderplatz 5, Tel. 044 204 96 96.
Donnerstag, 15. Dezember, 20 Uhr
David Bosshart: The Age of Less!
Islandsagas – Reloaded. Ursula Giger
stellt ein grosses Übersetzungsprojekt
vor. Literaturhaus (s. oben).
Dieter Eppler: Blindflug Abu Dhabi.
Bücher am Sonntag Nr. 1
Lilly Lindner: Splitterfasernackt.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 15. 11. 2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
PIXSIL
Donnerstag, 8. Dezember, 20 Uhr
Bestseller November 2011
erscheint am 29. 1. 2012
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31
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«Jetzt haben Sie auch die Schutznetze gesehen», sagt Darren Lambert und beschleunigt das Boot.
Wir verlassen die Te-Pangu-Fischfarm, die sich am nördlichsten Punkt der neuseeländischen Südinsel befindet. Die Netze schützen den Saumon royal vor den Seehunden, die das rot-orange Fleisch
genauso schätzen wie menschliche Fischliebhaber. Kein Wunder, denn die Lachse geniessen nur
gentechfreies Futter. Auch auf den Einsatz von Impfstoffen und Antibiotika verzichtet Darren konsequent. «Sogar die Seehunde wissen eben, dass es bei uns den besten Lachs gibt», sagt Darren mit
etwas Schalk in der Stimme und geniesst die Fahrt durch die Buchten Neuseelands.