November 2011 - Neue Zürcher Zeitung
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November 2011 - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 10 | 27. November 2011 Marlene Dietrich – Leni Riefenstahl Doppelbiografie | Judith Schalansky Der Hals der Giraffe | Eva Illouz im Porträt | Anne Enright Anatomie einer Affäre | Südpol Neue Bücher zum Wettlauf vor 100 Jahren | Kinder- und Jugendbuch Tipps zum Schenken | Weitere Rezensionen zu Greta Garbo, Novalis, Dante, Gottlieb Duttweiler u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese Weihnachtszauber Geschenkideen von buch.ch <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0Mra0MAQASSk1CA8AAAA=</wm> <wm>10CFWKMQ4CMRADX7SR7ewmWVKi605XIPo0iJr_Vyh0jDyNNec5o-Dn_biex2MS8DCq5uCMjKLe5pAKvE-STSBvhNx75vjrDcxWUddubK8twlQtuNS1uNmfHCqf1_sLQfDbjYAAAAA=</wm> Bernard Cornwell Das Fort CHF 35.50 Das Spiel zum Bestseller »Ein Mann. Ein Buch.« Ein Mann. Ein Spiel. Für 2-4 Spieler CHF 39.90 hen Sie Damit mac hts falsch: nic garantiert Geschenk-e Gutscbuhche.cihn von Andreas Knecht & Armando Pipitone Annie Leibovitz CHF 39.90 Pilgerreisen zu den Kultorten CHF 66.90 Käse & Wein Pilgrimage Geschenke finden kann so einfach sein – mit dem Weihnachtsshop von buch.ch. Ganz bequem online 15 Jahre bestellt – schnell und zuverlässig geliefert. Auf Wunsch auch mit kostenlosem Geschenkservice. www.buch.ch www.buch.ch Inhalt Reiche Ernte für lange Winternächte Der Bücherherbst hat uns einen reich gefüllten Korb beschert. Im Zentrum stehen wieder einmal zwischenmenschliche Beziehungen – es ist schliesslich das wichtigste Thema, diesmal ausschliesslich von Frauen beschrieben. Der burschikose Provinzroman «Der Hals der Giraffe» von Judith Schalansky macht den Auftakt. Die erst 31-jährige Ostdeutsche porträtiert eine abgebrühte Lehrerin aus Ostpommern, die ebenso sarkastisch wie treffend ihre Schüler charakterisiert. Ein kleines Scheusal, das man aber mit zunehmender Lektüre liebgewinnt, wie Rezensent Martin Zingg verrät (Seite 4). Weiter geht’s mit Anne Enrights prickelnder «Anatomie einer Affäre» (S. 6). Zum Porträt der in Jerusalem lehrenden Kulturwissenschafterin Eva Illouz, die den ewigen Gefühlsknäuel zwischen den Geschlechtern erforscht. Ihr Buch «Warum Liebe weh tut», das ohne psychologisches Geschwätz auskommt, trifft den Nerv der Zeit. Mitarbeiterin Jenny Friedrich-Freksa charakterisiert Illouz als «freundlichen Punk, der gewillt ist, die Welt aus unkonventioneller Perspektive zu betrachten» (S. 16). Und, wenn Sie mögen, schmökern Sie in zwei Doppelbiografien, die uns gleich vier Stars der Filmgeschichte näherbringen, die zu ihrer Zeit einen neuen Typus Frau verkörperten (S. 23 und 26). Wir wünschen Ihnen frohe Festtage und freuen uns, am 29. Januar 2012 erste Novitäten des Frühlings zu präsentieren. Urs Rauber Marlene Dietrich (Seite 23). Illustration von André Carrilho Belletristik 4 6 8 9 Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe Von Martin Zingg Anne Enright: Anatomie einer Affäre Von Simone von Büren Dante: Commedia Von Stefana Sabin Tamar Lewinsky: Unterbrochenes Gedicht Von Klara Obermüller 10 Jan Wagner: Die Sandale des Propheten Von Angelika Overath Olaf Otto Becker: Under the Nordic Light Von Gerhard Mack 11 Paul Wittwer: Widerwasser Von Christine Brand 12 Ilja Ilf, Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika Von Kathrin Meier-Rust 13 Markus Bundi: Gehen am Ort Von Bruno Steiger Kurzkritiken Belletristik 13 Eva-Maria Alves: Unter Engeln 15 Von Manfred Papst Wallace Stevens: Hellwach, am Rande des Schlafs Von Manfred Papst Nella Larsen: Seitenwechsel Von Regula Freuler Sachbuch Angelika Waldis, Christophe Badoux: Der unheimliche Stein 20 Christian Jostmann: Das Eis und der Tod Diana Preston: In den eisigen Tod Reinhold Messner: Pol Robert Falcon Scott: Letzte Fahrt Von Thomas Köster 22 Zsuzsa Breier, Adolf Muschg: Freiheit, ach Freiheit Von Dieter Ruloff Matthias Bernold, Sandra Larriva Henaine: Revolution 3.0 Von Christine Knödler Von Verena Hoenig Ilsa J. Bick: Der Zeichner der Finsternis Von Verena Hoenig Jenny Valentine: Das zweite Leben des Cassiel Roadnight Von Andrea Lüthi Wolfgang Korn: Was ist schon normal? Von Sabine Sütterlin Kirsten Boie: Ein mittelschönes Leben Von Christine Knödler Elke Reichart: gute-freunde-boese-freunde Von Christine Knödler Dieter Vieweger: Abenteuer Jerusalem Von Geneviève Lüscher Bibi Dumon Tak: Eisbär, Elch und Eule Von Verena Hoenig Porträt 16 Eva Illouz, Soziologin Auf dem freien Markt der Liebe Von Jenny Friedrich-Freksa Von Kathrin Meier-Rust Théophile Gautier: Mademoiselle de Maupin Robin Brande: Fat Cat Kolumne 19 Charles Lewinsky Das Zitat von Peter Handke Kurzkritiken Sachbuch Kinder- und Jugendbuch 19 Urs Hafner: Heimkinder 14 Michelle Cuevas: Columbus und der malende Elefant Von Andrea Lüthi Von Kathrin Meier-Rust Von Reinhard Meier 23 Karin Wieland: Dietrich & Riefenstahl Von Ina Boesch 24 Wolfgang Hädecke: Novalis Gerhard Schulz: Novalis Von Manfred Koch 25 Curt Riess: Gottlieb Duttweiler Von Urs Rauber 26 Nicole Nottelmann: Ich liebe dich. Für immer Von Martin Walder George Steiner: Im Raum der Stille: Lektüren Von Arnaldo Benini 27 Sarah Kaminsky: Adolfo Kaminsky Von Fritz Trümpi 28 Simon Sebag Montefiore: Jerusalem Von Geneviève Lüscher 29 Johannes Willms: Talleyrand Von Peter Durtschi 30 Timothy Gowers: Mathematik Von André Behr Das amerikanische Buch Bob Lutz: Car Guys vs Bean Counters Von Andreas Mink Thorsten Polleit: Der Fluch des Papiergeldes Agenda An Lac Truong Dinh: Von der Fremdenlegion zu den Viet Minh Gabriele Praschl-Bichler: Kleidung und Mode im Mittelalter 31 Peter Geyer, OA Krimmel: Kinski Von Manfred Papst Bestseller November 2011 Von Charlotte Jacquemart Von Urs Rauber Von Geneviève Lüscher Belletristik und Sachbuch Agenda Dezember 2011 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Kirsten Behrendt (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Schulroman Judith Schalansky erzählt von einer desillusionierten Lehrerin in Vorpommern, die gar nicht so grob ist, wie sie sich gibt Faustrecht im Klassenzimmer Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Suhrkamp, Berlin 2011. 222 Seiten, Fr. 33.50. Von Martin Zingg Das kann vorkommen: dass eine Romanfigur unsympathisch erscheint. Und dass man dennoch weiterliest und damit nicht aufhören möchte. Inge Lohmark ist eine unsympathische Gestalt, bisweilen ein kleines Scheusal – und man bleibt ihr lesend dennoch gerne auf der Spur. Lehrerin an einer Schule im Hinterland von Vorpommern, seit über dreissig Jahren, und dort zuständig für Biologie und Sport. Am Charles-Darwin-Gymnasium, wie es seit der Wende heisst, ist Inge Lohmark bekannt für einen unterkühlten Unterrichtsstil. SUSANNE SCHLEYER Judith Schalansky Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Mit dem Matrosenroman «Blau steht dir nicht» hat sie 2008 erstmals auf sich aufmerksam gemacht. Es folgte 2010 der «Atlas der abgelegenen Inseln», ein liebevoll gestaltetes, viel gefeiertes Buch, das in zahlreiche Sprachen übersetzt worden ist. Mit dem opulenten Band «Fraktur mon Amour» hat die an Gestaltungsfragen interessierte Autorin überdies eine Liebeserklärung an die Frakturschrift vorgelegt. Judith Schalansky lebt in Berlin. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 Frontal und «kreidelastig» geht es bei ihr zu, und alle wissen, dass sie gerne unangekündigte Arbeiten schreiben lässt. Sie schützt sich hinter einem Panzer aus Sarkasmus und hält immer auf Distanz: «Zum professionellen Verhältnis gehörten keine Nähe, kein Verständnis. Armselig, aber begreiflich, wenn Schüler um die Gunst der Lehrer buhlten. Das Kriechen vor dem Machthaber. Unverzeihlich hingegen war es, wie sich Lehrer an Halbwüchsige ranschmissen. Halber Hintern auf dem Lehrerpult. Geklaute Moden und Wörter. Um den Hals bunte Tücher. Blondierte Strähnen. Alles nur, um sich mit ihnen gemein zu machen.» Gegen derlei Versuchungen ist sie gefeit. Ihre Schüler und Schülerinnen, ihre «natürlichen Feinde», wird sie ohnehin nicht mehr lange aushalten müssen, denn Inge Lohmark steht am Ende ihrer Laufbahn. Ihre Schule soll in vier Jahren geschlossen – «abgewickelt» – werden, in der Region leben zu wenig Kinder. In der Region scheint es überhaupt an vielem zu fehlen. Judith Schalansky erzählt in ihrem Roman «Der Hals der Giraffe» nicht allein von Inge Lohmark und deren biologistischer Weltsicht, sondern indirekt auch von den schwindenden Perspektiven eines ganzen Landstrichs in der ostdeutschen Provinz, die sie – erzählerischer Schachzug von grossem Raffinement – ausgerechnet in einer Schule zur Sprache bringt. Als der Roman einsetzt, hat eben ein neues Schuljahr begonnen. Gerade einmal zwölf Jugendliche sitzen in der «Klasse neun», fünf Jungen, sieben Mädchen: «Ganz vorne hockte ein verschrecktes Pfarrerskind, das mit Holzengeln, Wachsflecken und Blockflötenunterricht aufgewachsen war. In der letzten Reihe sassen zwei aufgedonnerte Gören. Die eine kaute Kaugummi, die andere war besessen von ihrem schwarzen Hengsthaar, das sie pausenlos glättete und strähnchenweise untersuchte. Daneben ein hellblonder Knirps in Grundschulgrösse. Ein Trauerspiel, wie die Natur hier die ungleiche Entwicklung der Geschlechter vorführte.» Es ist die letzte Klasse, die es an dieser Schule geben wird, und natürlich sitzen darin, wie die Lehrerin schon längst weiss, lauter Gymnasiums-Untaugliche. Allenfalls «Nachschub fürs Rentensystem». Unablässig kommentiert Inge Lohmark in Gedanken, was sie sieht und hört und tut. Judith Schalansky lässt sie in kurzen, oft abgehackten Sätzen monologisieren, in einem Nonstoptext, der vor nichts und niemandem halt macht. Es sind meist apodiktische Sätze, Merksätze, die auf alles gepappt werden, was daherkommt. Mit dem Blick der Biologin Wir erfahren aus der allesumschlingenden Suada, dass die Lohmark verheiratet ist mit Wolfgang und mit ihm eine Tochter hat, Claudia. Wolfgang, in DDR-Zeiten Veterinärstechniker, der in einer LPG Kühe besamen musste, betreibt nun eine Straussenfarm. Neun Tiere hat er im Augenblick. Er ist damit zum Held der OstseeZeitung geworden, die ihn alle paar Wochen wieder mal befragt. Leider stopft er das Gemüsefach im Kühlschrank mit den kokosnussgrossen Strausseneiern voll: «Wer sollte die denn essen? Die grössten tierischen Zellen überhaupt. Ein Omelett für eine ganze Schulklasse.» Gemeinsame Mahlzeiten des Paares sind selten, man hat sich arrangiert, und wenn sie zusammen sind, gefällt Inge Lohmark, dass sie nicht mit ihrem Mann reden muss. Tochter Claudia hat sich längst in die USA abgesetzt. Ein einziges Mal hat man sie noch besucht, aber was sie dort treibt, ist den Eltern schon lange nicht mehr klar. Sie meldet sich selten und dann nur knapp. Einmal kommt eine Mail, mit der sie, ziemlich wortkarg, ihre Eheschliessung mitteilt, «Just married», darunter eine Foto. Dass sie noch Kinder haben wird, dass Inge Lohmark also Grossmutter werden könnte, scheint inzwischen eher unwahrscheinlich. Stärksten setzen sich durch, das weiss Inge Lohmark. Aber sie, deren Name an den Evolutionstheoretiker Lamarck erinnert, weiss auch, dass die Evolution oft ungeahnte Wege geht. Als sie einmal, für sich selber unerklärlich, Interesse findet an der unscheinbaren Schülerin Erika, hat sie umgehend eine Parallele aus der Tierwelt zur Hand: Schnecken. Dort verläuft die Trennung «nicht zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen Jung und Alt.» Ihre Angst, die erotisch infizierten Gefühle für die junge Frau könnten sie in Bedrängnis bringen, kann sie so gleich wieder abwehren, aber die ältere Frau gerät dennoch ein wenig ins Wanken. Alles können die biologistischen und sozialdarwinistischen Versatzstücke nicht erklären, mit denen sie um sich wirft, und hier bekommt die Welt der Inge Lohmark erste kleine Risse. Rudi Meisel / Visum Virtuos und unterhaltsam Aber auch dafür findet sie noch einen auf ihre Fachkenntnisse gestützten Kommentar. Inge Lohmark – darin liegt der Reiz dieses Romans – sieht die Welt nur durch die Augen einer Biologin. Jede, noch die beiläufigste Beobachtung mündet in eine kleine, biologisch grundierte Analyse. Und für alles findet sie eine Analogie in den Gesetzmässigkeiten der Natur, die sie unermüdlich auf ihre Umgebung überträgt. Mal ist es die Vererbungslehre, mal sind es die Gesetze der Evolution, immer wieder sind es Fakten aus der Tier- oder Pflanzenwelt, die sie als Interpretationsraster über ihre Umwelt legt. «Die Ameisen brauchten Tausende von Arten, um die ganze Welt zu besiedeln, der Mensch schaffte das mit einer Handvoll Varietäten.» Sätze wie diese denkt sie pausenlos. Objekte sind die Schüler und Schülerinnen, aber auch die Kolleginnen und Kollegen. Und bei allen stellt sie nur Schwäche fest: «Alles nur eine Frage des Willens.» Dass beispielsweise Ellen von ihren Mitschülern misshandelt wird, sieht sie sehr wohl, aber es kümmert sie nicht: «Es galt das Faustrecht. Wenn sie so mutlos schaute, brauchte sie sich nicht zu wundern. (…) Zum Opfer macht man sich immer nur selbst.» Nur die Judith Schalansky zeichnet den Schulalltag einer Lehrerin in der ostdeutschen Provinz. Hier Güstrow in MecklenburgVorpommmern. Judith Schalansky erzählt das auf subtile Weise, mit winzigen Verschiebungen im theoretischen Schutzschild, das die Biologin immunisieren und von ihren eigenen Gefühlen fernhalten soll. Und zugleich bringt sie wie nebenbei auch höchst aktuelle Themen zur Sprache: Klimawandel, Überalterung, die Folgen der Landflucht etwa. Ein ausserordentliches Buch. Ungewöhnlich ist auch die Gestaltung, die typographische Sorgfalt, mit der die Autorin ihr Buch eingerichtet hat. Das beginnt mit dem Einband aus grauem Leinen, einer gelungenen Anspielung auf das Erscheinungsbild von Schulbüchern in früheren Zeiten. Und es geht weiter mit feinen Illustrationen, die über das Buch verteilt sind, Darstellungen von Medusen, Fruchtfliegen, Föten, Pantoffeltierchen oder Fossilien. Drei Kapitel zählt das Buch, jeweils nach dem Stoff, der an drei Tagen im Unterricht behandelt wird, und auf jeder rechten Seite steht ein thematisches Schlagwort aus der Biologie, als liesse sich hier etwas nachschlagen. Entdecken lässt sich mit Gewissheit eine Erzählerin, die hier einen virtuosen und höchst unterhaltsamen Roman vorlegt. l Die erste umfassende Monographie über Gallus – rechtzeitig zum grossen Gallusjubiläum 2012! Wer war Gallus? Ein Missionar, Wandermönch, Eremit? Keineswegs! Der Historiker und <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MbW0MAUALEdzpQ8AAAA=</wm> Theologe Max Schär gibt in seinem Buch Antworten auf beinah alle Fragen, die sich zu <wm>10CFWKuwqAMBRDv-iWm_amDztKt-Ig7l3E2f-ftG6GhAPh9F7p9NvatqPtFapGgbFkVhY6n2JF8S7xJUCvwAIyWrCcf74oSgwaxnRklgMUmlgaQfPAzPxI9e4-rwcWfauGgAAAAA==</wm> Gallus stellen lassen und überrascht mit neuen, teilweise auch provokativen Erkenntnissen. Max Schär: GALLUS. Der Heilige in seiner Zeit. 2011. 552 Seiten, 21 Abbildungen in Farbe. Gebunden. sFr. 48.–. ISBN 978-3-7965-2749-4 Schwabe Verlag Basel. 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Die irische Erzählerin Anne Enright erforscht, wie sich Menschen in der Erinnerung ihr banales Leben zurechtlegen Alles begann auf dem Gartenfest düsteres Geheimnis kreist, wissen wir in «Anatomie einer Affäre» schon nach wenigen Seiten, was geschehen wird: Die Sache wird ihren Lauf nehmen, zwei Ehen zerstören, mehrere Häuser auf den Markt bringen und einem eh schon angeschlagenen Kind hart zusetzen. Anne Enright geht es hier weder um Spannung noch um Moral. Es geht ihr nicht um das, was passiert ist, sondern darum, wie es wiedergegeben wird. Sie erforscht, wie sich Menschen die Unordentlichkeit und Willkür des Lebens zurechterzählen, wie sie sich selektiv erinnern und banale Ereignisse zu einer Geschichte formen, die sie dann fortlaufend redigieren. Anne Enright: Anatomie einer Affäre. Aus dem Englischen von Petra Kindler und Hans-Christian Oeser. DVA. 320 Seiten, Fr. 28.50. Von Simone von Büren «Das Licht ist wundervoll und grundverkehrt – es ist, als müsste ich den ganzen Planeten in meinem Kopf drehen, um in diesen Garten zu gelangen, in diesen Abschnitt des Nachmittags und zu diesem Mann, diesem Fremden, neben dem ich jetzt schlafe.» Während ein Sturm im Winter 2009 Dublin lahmlegt, blickt die 39-jährige Ich-Erzählerin von Anne Enrights neuem Roman zurück auf eine Affäre, die zum Alltag wurde. Das Thema Erinnerung taucht in den Werken der irischen Autorin immer wieder auf – am eindringlichsten in ihrem Roman «Das Familientreffen», der 2007 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde. Während jener um ein Geschönte Vergangenheit Gina Moynihan – eine von Enrights vielen unverblümten Ich-Erzählerinnen – steigt ein «in diese Geschichte über Seán, die ich mir selbst erzähle» mit der ersten Begegnung im Sommer 2002 an einem Fest im Garten ihrer Schwester. Sie reproduziert den Moment aktiv, entscheidet über die Art des Lichts und arrangiert die Personen nach Bedarf: Ihren Verlobten Conor, mit dem sie damals gerade ein Reihenhaus in einem Vorort gekauft hatte, streicht sie aus der Geschichte und beschreibt stattdessen, wie sich eine ihr unbekannte Frau durch einen Teller Süssigkeiten futtert. Seán stellt sie «ans untere Ende des Gartens, nachmittags, zu dem Zeitpunkt, wenn der Tag sich zu neigen beginnt. Vielleicht um halb sechs.» Die Einzige, die sich in der Erinnerung nicht recht bändigen lässt, ist Seáns vierjährige Tochter Evie, «ein seltsames, gestörtes kleines Ding» mit epileptischen Anfällen, «eine Art Schmierfleck auf einem ansonsten vollkommen klaren Bild.» Der Diskrepanz zwischen Erlebtem und Erinnertem, Erinnertem und Erzähltem ist sich Gina dabei durchaus bewusst: Sie weiss, dass sie lange gar nicht in Seán verliebt war, aber: «Würde man mich heute fragen, würde ich na- www.rowohlt-berlin.de DER NEUE ROMAN VON WOLFGANG HERRNDORF <wm>10CAsNsjY0MDAx0jUwMLI0NAEANoh4qg8AAAA=</wm> © plainpicture/Glasshouse <wm>10CFWKMQ6EMAwEX5Ro13HiGJeIDlEg-jSnq-__1RE6VrPNaPY9asbzdTuu7QwCKgkQp0b1msVaFPfcugZJE5ALVXu9i_LqE-itoIzZpImN26ol9WEig3PTaYfk3-f7B3ENLDyAAAAA</wm> Auch als E-Book «Wie Wolfgang Herrndorf erzählt, mit einer Sprache, nach der man süchtig werden kann, das ist brillant.» Frankfurter Rundschau 480 Seiten. Gebunden € 19,95 (D) / € 20,60 (A) / sFr. 28,50 (UVP) 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 türlich sagen, dass ich von jenem ersten Blick an verrückt nach ihm war.» Und sie gibt zu, dass sie möglicherweise «den Liebhaber, den ich heute kenne, der Erinnerung an den Mann überstülpe, mit dem ich damals geschlafen habe.» In der Folge greift sie ohne Rücksicht auf die Chronologie einzelne Momente heraus, überspringt andere «wie die Nadel auf einer alten Schallplatte» und kehrt immer wieder zu diesem Sommernachmittag zurück, an den Seán sich bezeichnenderweise nicht erinnert. Es gibt in ihrer Rohfassung der Geschichte Widersprüche und lose Enden, Exkurse in die Kindheit, minutiös gearbeitete Szenen und blosse Skizzen. Meisterhafte Bilder – Seáns Frau, die in ihren Designerkleidern «wie ein weiches Lebewesen aus einem schönen harten Panzer ragt» – stehen neben forcierten Beschreibungen wie die einer hysterischen Schwangeren als «Steckrübe mit Nervenzusammenbruch». «Läppisch klingende Einzelheiten», die ernüchternden Details der Affäre, die Missverständnisse, Hotelnächte und Lügen durchkreuzen immer wieder die Behauptung grosser Liebe und Romantik, die Gina hartnäckig aufrechtzuerhalten versucht und die auch in den Popsongs anklingt, mit deren Titel die Kapitel überschrieben sind. Rückwirkend retouchiert sie entsprechend, fügt der ersten Begegnung, die, wie sie zu- Peter Peitsch Einsamkeit und Sehnsucht Die irische Autorin Anne Enright 2008 bei einem Besuch in Hamburg. gibt, «nichts Schicksalhaftes an sich hatte», «das Licht des Spätsommers und die Aussicht hinzu». Sie schwankt zwischen Ehrlichkeit und Ausflucht, betont ihre anhaltende Verliebtheit, nur um in einem «Versprecher» die tatsächliche Situation zu verraten: «Bevor unser Leben eine Ödnis aus Langeweile, Wut und Betrug wurde, liebte ich Seán. Ich meine Conor.» Enrights harter und genauer Blick auf Alltägliches und ihr direkter, lebendiger, von der gesprochenen Sprache inspirierter Stil bringen uns die Figuren mit ihren Feigheiten und Eitelkeiten nahe, wenngleich sie uns dadurch auch nicht unbedingt sympathisch werden. Der Titel der deutschen Übersetzung nimmt diesen analytischen Blick auf: Allerdings beschreibt der Roman die Anatomie von viel mehr als einer Affäre: Eine Anatomie von Ginas Schwester, «der wunderschönen Mutter Schrägstrich Gastgeberin», die zu ihrem mustergültigen Leben eine mustergültige Vergangenheit erfindet. Eine Anatomie der irischen Mittelschicht gegen Ende der Boomjahre mit ihren Zweithäusern am Meer, ihren Markenkleidern, Schönheitsoperationen und IT-Jobs, die die Wirtschaftskrise 2009 ebenso zerfetzt wie die Affäre die Ehen. Vor allem aber präsentiert der Roman eine Anatomie der Erzählerin, ihrer Einsamkeit und Sehnsucht, ihrer Ausweichmanöver und Eingeständnisse und ihrer anstrengenden Beziehung zu Evie, dem «Kuckuckskind», das in seiner «galoppierenden Körperlichkeit» in ihrer Küche sitzt und nervt. Doch um Evie kommt sie nicht herum. Evie ist der Preis, den sie für die Liebe zu entrichten hat, und der Grund, wieso sie noch mit Seán zusammen ist. Jedenfalls hat Gina sich das so zurechtgelegt. l <wm>10CAsNsjY0MDAx0jUwMLI0sAQAysXSzQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWKMQ7DMAwDX2SDlCzVisYgW5AhyO6l6Nz_T62zhTguh9v3tIr763Zc25kEmhRAApEWVuXlqRHVuyXJLiAXCq3BXR99AcMVOmZTJn1QCvXP6O6Dc9OxQer3_fkBr9-ujYAAAAA=</wm> 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Klassiker Mit Dantes «Komödie» begann die italienische Literatur – bis heute gilt sie als ihr Hauptwerk. Kurt Flaschs Neuübersetzung zeugt von grossem sprachlichem Einfühlungsvermögen Abenteuer der Seele Dante: Commedia. In deutscher Prosa. Übersetzt von Kurt Flasch. S. Fischer, Frankfurt 2011. 2 Bände, 320 S., Fr. 129.–. Von Stefana Sabin Die Zeitläufe waren unruhig, gewaltsame politische und religiöse Kämpfe erschütterten das Land, und Sympathien waren von kurzer Dauer. So geschah es, dass der Florentiner Dichter und Philosoph Dante Alighieri zwischen verfeindete Fraktionen geriet und aus seiner Heimatstadt verbannt wurde. Im Exil in Verona und Ravenna, wo er 1321 starb, schuf Dante ein grossangelegtes episches Gedicht (14 233 Verse): eine Jenseitsvision, die er «Komödie» nannte und in der er seine Epoche religionsphilosophisch reflektierte und literarisch gestaltete. Die Handlung erzählt von der Wanderung der Dichterfigur Dante durch Hölle und Läuterungsberg und von seiner Ankunft im Paradies. Bald in kurzen Szenen und bald in ausführlichen Episoden werden Erlebnisse und Begegnungen von unterwegs wiedergegeben, wird eine Vielzahl von historischen, mythologischen und biblischen Gestalten eingeführt. Beschrieben wird ihre jeweilige Strafe, Busse oder Seligkeit, wobei Beurteilungen nicht dem göttlichen Weltenrichter überlassen, sondern mit souveräner poetischer Eigenmächtigkeit vorgenommen werden (Päpste und Krieger sitzen in der Hölle, Künstler eher auf dem Läuterungsberg und Philosophen im Paradies). Als Führer tritt zuerst der römische Dichter Vergil auf, später der christliche Dichter Statius, der an der Schwelle zum Paradies wiederum von einer Frauengestalt, Matelda, abgelöst wird. Sie ist es, die den Jenseitsreisenden zu seiner Geliebten Beatrice bringt. Das Happyend erklärt nur bedingt den Bezug auf die dramatische Gattung der Komödie. Der Titel, so Dante, sollte ein Hinweis auf die Spannweite der Handlung ebenso wie auf den programmatischen Verzicht auf Erhabenheit sein. Denn Dante schrieb die «Komödie» nicht in Latein, wie damals für hohe Literatur üblich, sondern in der Volkssprache, also auf Italienisch, und er hielt sich nicht an eine sublime Bildlichkeit, sondern benutzte alle stilistischen Register – derb, ekstatisch, lyrisch. Mit Dantes «Komödie» beginnt die italienische Literatur – und sie gilt bis heute als ihr Hauptwerk. Suggestive Sprache Schon im 14. Jahrhundert war die «Komödie» in Italien verbreitet. Etwa 450 Handschriften waren im Umlauf. 1472 erschien die erste gedruckte Fassung, fast ein Jahrhundert später wurde das Beiwort «göttlich» hinzugefügt – und ein Missverständnis geschaffen. Denn in Dantes fiktionalem Jenseits geht es um rein menschliche Befindlichkeiten und Gefühle, Dante ist ganz und gar ein «Dichter der irdischen Welt» (Erich Auerbach). Es ist die dichterische Erfassung der Weltwirklichkeit, die die «Komödie» bis heute relevant macht. Nicht zufällig nannte Karl Witte seine Übersetzung von 1865 «Die grossen Geschichten der Menschheit». Wittes war damals die elfte Gesamtübersetzung – inzwischen gibt es etwa 60, die meisten davon, wie diejenige Wittes, in Blankversen, nur wenige in Terzinen, wie diejenige von Rudolf Borchardt von 1923, einige in Prosa. Auch der Mainzer Mediävist Kurt Flasch hat Dantes Terzinen in Prosa übertragen – in einer rhythmisierten, unprätentiösen und dennoch suggestiven Sprache. Flasch, dessen Studien <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTA0NgcA8XckrA8AAAA=</wm> <wm>10CFWKOw6AMAxDT9TKTkg_ZERsiAGxd0HM3H-iZcOyBz-9bXOL-Las-7keTmCyQAM1u1WLUpxVYk5O0gTkzATRXCb72QGsSaFtOGHUGlOngdpQ-xkZDAKJz3W_6pbkD34AAAA=</wm> 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 Dantes Inferno in der «Komödie», gemalt von Sandro Botticelli (1490–1496). Vatikanische Museen, Rom. über Augustinus, Cusanus und Meister Eckhart philosophische und philologische Massstäbe setzten, hatte seine Übersetzungsfeder sozusagen an Boccacio geschärft, bevor er sich die «Komödie» vornahm. Je nach Zeitrechnung hat er ein Jahrzehnt oder ein Leben daran gearbeitet – jedenfalls zeugt die prächtige Dante-Ausgabe, die jetzt im Jubiläumsprogramm des S.-Fischer-Verlags erschienen ist, von jener «Geduld zur Sache», die Adorno jeder Gelehrtheit unterstellte. Sperrig, aber verstehbar Die Gelehrtheit hat Flasch in einem separaten Band mit dem Titel «Einladung, Dante zu lesen» zusammengefasst: Biografisches zu Dante, Erklärungen zu den Figuren, sprach-, religions- und kulturhistorische Überblicke machen die «Komödie» zu einer «summa mundi». Flasch versteht sie als einen fernen Spiegel der Gegenwart, sieht, ganz im Sinne Auerbachs, in Dantes Jenseits eine literarische Gestaltung des Diesseits. Auch deshalb vertraut Flasch auf die Kraft der sprachlichen Bilder. Er habe, schreibt er, den Text lassen wollen, «wie er ist: alt, fremd, sperrig, beladen mit historischem Stoff, mit theologischer Spekulation, mit bizarren Einfällen», Lyrik Ein unbekanntes Kapitel jüdischer Literatur in Deutschland Schreiben nach Auschwitz Tamar Lewinsky (Hrsg.): Unterbrochenes Gedicht. Jiddische Literatur in Deutschland 1944–1950. Oldenbourg, München 2011. 168 Seiten, Fr. 35.50. Von Klara Obermüller ALINARI / ARTOTHEK Ihr Schicksal gleicht demjenigen von Millionen osteuropäischer Juden im 20. Jahrhundert. Mit einem Unterschied: Sie haben überlebt und sind zurückgekommen, in ihre Heimatländer zuerst, dann, weil man sie dort wieder verfolgte, nach Deutschland und später nach Israel, Südamerika oder in die Vereinigten Staaten. «Desplaced Persons» (DP) nannte man diese jüdischen Überlebenden, die nach dem Krieg in Deutschland gestrandet waren und in speziell für sie eingerichteten Lagern zumeist in Bayern untergebracht wurden. So weit ist die Geschichte bekannt. Weniger bekannt dürfte sein, dass es unter diesen Versprengten auch Schriftsteller gab, die auf jiddisch für ein jiddischsprachiges Publikum Gedichte und Kurzprosa schrieben. Tamar Lewinsky hat nun, zusammen mit ihrem Vater Charles Lewinsky, eine Auswahl dieser Arbeiten ins Deutsche übersetzt und als Anthologie herausgegeben. Der Band «Unterbrochenes Gedicht» enthält Werke von 19 Autoren, darunter zwei Frauen. Die Texte gehören zu den frühesten Versuchen, sich literarisch mit den Erfahrungen der Shoah auseinanderzusetzen. Dass es vornehmlich Gedichte sind, erstaunt nicht. Marcel Reich-Ranicki hat einmal bekannt, dass er im Warschauer Ghetto nur noch Lyrik und keine Romane mehr zur Hand genommen habe, weil er ja nie wusste, ob er anderntags noch in der Lage sein würde, weiterzulesen. Ich denke, dass es denjenigen, die unmittelbar nach der Shoah Worte für das Leben nach dem Überleben suchten, ähnlich erging. Für eine lyrische Abbreviation reichte die Kraft, für mehr noch nicht. Es ist eine relativ kurze Zeitspanne, in denen und ihn dennoch durchsichtig und verstehbar machen. Flasch orientiert sich am heutigen deutschen Sprachgebrauch, aber er bleibt nah am Original und gibt ihm die Frische wieder, die es sich im Italienischen bis heute bewahrt hat. Wenn Witte die Reise ins Jenseits mit einem irdischen Orientierungsverlust beginnen lässt: «Es war in unseres Lebensweges Mitte, / Als ich mich fand in einem dunklen Walde; / Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege;» und wenn Borchardt hinter der Verirrung eine Selbstaufgabe sieht: «Es war inmitten unseres wegs im leben, / Ich wandelte dahin durch finstre bäume / Da ich die rechte strasse aufgegeben;», so stellt Flasch in suggestiver Knappheit den Anfang einer Selbstfindung dar: «In der Mitte unseres Lebenswegs kam ich zu mir in einem dunklen Wald. Der rechte Weg war da verfehlt.» Es ist fast eine Abenteuerreise, jedenfalls eine seelische und geistige Abenteuerreise, die Flasch in der «Komödie» freilegt. Nicht das philosophische Hintergrundwissen und auch nicht die philologische Bildung, sondern das sprachliche Einfühlungsvermögen macht Kurt Flaschs Übersetzung zu einer tatsächlichen «Einladung, Dante zu lesen». ● diese Gedichte entstanden sind: 1944 das früheste von Meyer-Ber Gutman, geschrieben noch im Lager Kaufering bei Dachau, die letzten bereits Anfang der fünfziger Jahre, als die DP-Lager aufgelöst und die Insassen in alle Winde verstreut wurden. Thematisch sind sie sich alle sehr ähnlich. Sie kreisen um die Erfahrung des Todes, die Schuldgefühle gegenüber den Opfern und immer wieder auch um die Absurdität, ausgerechnet in Deutschland eine erste Zuflucht gefunden zu haben. Qualitativ gibt es Unterschiede, gewiss. Aber die Intensität, mit der hier um eine Sprache für das Unaussprechliche gerungen wird, straft alle jene Lügen, die Gedichte nach Auschwitz für unmöglich hielten. Dass es ausgerechnet die «Mameloschen», die Muttersprache, ist, der das Unmögliche gelingt, macht den besonderen Wert dieser Arbeiten aus. Manche der hier versammelten Autoren, Gutmann, Vorzoger oder Binyomin etwa, sind Lyriker von Rang, und die Nähe manch eines ihrer Gedichte zu Arbeiten von Paul Celan, Nelly Sachs oder Rose Ausländer ist frappant. Wie diese treiben auch sie die Sprache bis hart an die Grenze zum Verstummen. «Jedes Wort – ist Lästerung / Oh, gib mir Kraft, Gott – um zu schweigen», heisst es bei Shloyme Vorzoger. Das Schweigen ist neben dem Schmerz um die Opfer, dem Hass auf die Täter und ganz am Ende einer zaghaften Hoffnung auf die heilende Kraft der Liebe das zentrale Thema dieser Gedichte und kurzen Prosatexte, die von Tamar und Charles Lewinsky mit grosser Sorgfalt ins Deutsche übertragen wurden. Die vorliegende Anthologie stellt einen wertvollen Beitrag zur Geschichte sowohl der jüdischen wie vor allem der jiddischen Literatur in Deutschland dar. Schade eigentlich nur, dass die Herausgeberin Tamar Lewinsky auf die Wiedergabe der Originaltexte verzichtet und uns damit die Klangvielfalt wie auch den lexikalischen Reichtum des Jiddischen vorenthalten hat. ● bücher zu weihnachten bei hier + jetzt Der Hausberg von Zürich Fixfertig auf den Teller Der Uetliberg Geschichte und Geschichten des Zürcher Hausbergs Stefan Schneiter 164 S., 160 Abb., gebunden mit Schutzumschlag Fr.68.–, € 58.80 Aufwachsen ohne Eltern Hero – seit 1886 in aller Munde Von der Konserve zum Convenience Food Hg. Isabel Koellreuter, Martin Lüpold, Franziska Schürch 160 S., 197 Abb., gebunden Fr.48.–, € 40.80 hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH Postfach, ch-5405 Baden, Tel. +41 56 470 03 00, Fax +41 56 470 03 04 Bestellungen per E-Mail: order@hierundjetzt.ch <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTQxMwUAFkcqgQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWKuw6AIBRDvwjSAoUgo3EjDsadxTj7_5NXNk_6SJr23uQxvW77uR2NQJKjmLKaqnwoubEGX2RtBJALiRJQc_z9HWgT4vg-bmpYQi5xiBicWCGD_rnuF_yhAXeAAAAA</wm> Eindrückliche Gesamtschau Heimkinder Eine Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt Das Kloster Muri Geschichte und Gegenwart der Benediktinerabtei Urs Hafner 180 S., 25 Abb., KLappenbroschur Fr.38.–, € 32.80 Bruno Meier 168 S., 193 Abb., gebunden Fr.58.–, € 49.80 www.hierundjetzt.ch 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Lyrik Jan Wagner zeigt sich in seiner kleinen Prosa als kluger Beobachter von Augenblicken und Nebensächlichkeiten Vom Tagwerk des Dichters Jan Wagner: Die Sandale des Propheten. Beiläufige Prosa. Berlin Verlag, Berlin 2011. 239 Seiten, Fr. 28.50. Von Angelika Overath Was tut ein Lyriker auf dem Poesiefestival in Bratislava, wenn Pause ist? Er stolpert in die «World Dog Show». Erst fremdelt er unter Chow-Chows und Möpsen, Neufundländern und Windspielen, Rottweilern und Leonbergern, dann aber ahnt er zunehmend im «freudigen Bellen der Collies», im «herrischen Kläffen der Setter», im allgemeinen «Japsen und Winseln» eine geheime Wahlverwandtschaft zu den Züch- tern dieser menschennahen Geschöpfe. Während ein frisch gestriegelter Riesenschnauzer sich dem Fotografen präsentiert, tritt sein Besitzer «mit Anmut und Bescheidenheit» zur Seite, «in seinem Gesicht das feine Lächeln dessen, der weiss, dass es gut ist, dass es gelungen ist, der den Betrachtern die Frucht all seiner Mühen mit der freundlichen Geste des Schöpfers überlässt: Seht, das Werk ist fertig, erfreut euch daran.» Zum Alltag eines Dichters gehören aber auch die zu schützenden, zu besprechenden oder herauszugebenden Kollegen («Über neue Gedichte», «Vom Pudding. Formen junger Lyrik»). Immer vertritt er die Ehre seines Fachs ganz im Sinn Dylan Thomas’: «Ein gutes Gedicht Island Zerstörung unberührter Landschaften Island ist das Land der Vulkane und Geysire, der langen Winter, des Eises und der unberührten Natur. Der Gletscherfluss Jökulsa a Bru galt als der wildeste Strom der Insel im Norden Europas. Er hat sich über viele tausend Jahre tief in die Erde eingeschnitten und eine ganz eigene Landschaft hervorgebracht. Heute ist von ihm nur mehr ein Rinnsal übrig geblieben. Zwischen 2003 und 2006 wurde in der Gegend ein riesiger Staudamm errichtet, der es erlaubte, 57 Quadratkilometer Land zu überfluten, darunter die Weiden der letzten frei lebenden Rentiere des Landes. Über siebzig Wasserfälle fielen dem gigantischen Projekt zum Opfer. Die Proteste von Umweltschützern waren vergeblich, die Nutzung 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 ist absurd: Hauptabnehmer des hier produzierten Stroms ist eine Aluminiumfabrik. Island hat kein Bauxit. Der Rohstoff kommt aus Australien und Brasilien, das Aluminium wird in alle Welt verschifft. Olaf Otto Becker hat sich mit seinen ebenso schönen wie aufrüttelnden Büchern zum Verschwinden des Nordpol-Eises in kürzester Zeit einen Namen gemacht. In dem neuen Band legt er auf bedrückende Weise offen, wie hinter der vermeintlichen Unberührtheit Islands bereits seine Zerstörung liegt. Unsere Sehnsucht nach Weite und Ruhe trifft hart auf die Spuren der Wirtschaftskrise. Gerhard Mack Olaf Otto Becker: Under the Nordic Light. Hatje Cantz, Ostfildern 2011. 160 S., 93 Farbbilder, Fr. 85.–. ist ein Beitrag zur Wirklichkeit». Oder er mischt sich ein in alte Diskussionen und rettet (endlich!), was seit Gottfried Benns Verbot niemand gewagt hat, den «Wie-Vergleich» für die Lyrik. Im Unterschied zur Metapher, die schnell autoritär kurzschliesse, bleibe das «Wie» demokratisch und auf Augenhöhe mit dem Leser. Wunderbarerweise belegt er dies ausgerechnet mit einer Benn-Zeile aus einem frühen Morgue-Gedicht, wo über notdürftig versorgte Krebskranke gesagt wird: «Manchmal/ wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.» Was wäre sein Tagwerk ohne die Feiertage der Preise! Jan Wagner verbeugt sich souverän vor so unterschiedlichen Dichtern wie Arno Reinfrank, Ernst Meister, Wilhelm Lehmann und hebt sie damit noch einmal aus dem Sog des Vergessens. Der studierte Anglist setzt sich mit Klassikern der modernen Lyrik auseinander (beispielsweise Walt Whitman, Wallace Stevens). Und dann stolpert er wieder durch eine irische Winterdämmerung und glaubt plötzlich, über den Hügeln grossartig den Mond aufgehen zu sehen; es waren aber die Scheinwerfer eines Campingwagens, der kurzsichtige Dichter hatte die Brille nur nicht aufgesetzt. Aus der narrenden Sehschwäche aber entzündet sich ein Lob der Unschärfe, denn niemals wäre dieser Mond/Campingwagen-Augenblick in der Erinnerung geblieben ohne die radikale Täuschung, die in das Empfinden fällt wie ein Blitz, wie eine Epiphanie in die Vagheit der Existenz. Nicht nur das italienische Domizil vor Rom, wo er über die Zeitmaschine Lyrik nachdenkt, gehört zu den Produktionsbedingungen, auch die Kneipe in Neukölln, wo alte Topfpflanzen weise nicken, und das Übersetzertreffen in Helsinki mit finnischen Lyrikern, die – mittels der gemeinsamen Sprache Englisch – sich über «poetische Treue» und den Verzicht verständigen, den jedes Übersetzen ausmacht. Oder er streift zwecks wechselseitiger Inspiration mit Malern durch griechische Olivenhaine. Aber er hatte sein Haiku über die Zeit bereits zu Hause in Vorfreude geschrieben: «sagt: welcher prophet/ verlor die sandale dort,/ aus der schon moos wächst». Ein Maler entdeckt nun die Sandale im Hain. Was ist jetzt mit der Zeit und der Wirklichkeit? Wer für sie empfänglich ist, wird ohne Lyrik nicht leben wollen. Und er darf mit grossem Vergnügen in diesem entspannten und lehrreichen, in diesem freundlichen Buch lesen, das mitnimmt in die gesteigerte Welterfassung eines Menschen, der sprachlich reaktionsbereit durchs Leben geht. Jan Wagner ist ein Botanisierer von Augenblicken (und Lesemomenten), ein bewundernswürdiger Goldschmied der Nebensächlichkeiten, die uns manchmal retten. ● Kriminalroman Mafia in der Klinik In eine fremde Haut geschlüpft Paul Wittwer: Widerwasser. Nydegg, Bern 2011. 398 Seiten, Fr. 35.90. Der Berner Arzt Paul Wittwer legt einen rasanten Krimi mit Lokalkolorit vor. Wer hat nicht schon einmal mit dem Gedanken gespielt: Alles hinschmeissen, die Vergangenheit abstreifen, in eine andere Haut schlüpfen und ganz neu anfangen? Mauro Matter, ein junger Arzt aus Bern, hat gerade seinen Job und gewissermassen auch Frau und Kind verloren. Er steht nachts am Ufer der Aare, denkt nicht an einen Neuanfang, sondern ans Aufgeben: Er will sich ins Wasser stürzen und nie wieder auftauchen. Doch dann fällt ihm eine Leiche vor die Füsse. Ein weiterer Lebensmüder, so vermutet Matter, der sich von der Brücke gestürzt hat. Der Tote sieht ihm ähnlich. Und plötzlich ist sie da, die Idee. Statt sein eigenes Leben fortzuschmeissen, beschliesst Matter, das Leben des Toten weiterzuführen: Ein Neubeginn mit einer anderen Identität. Nur: Beim Verstorbenen handelte es sich keineswegs um einen Lebensmü- ROLAND SPRING Von Christine Brand den, sondern um einen Gejagten, der eng mit der italienischen Camorra verstrickt war. So löst der Rollentausch bei Mauro Matter nicht nur eine verworrene Suche nach seinem eigenen Ich aus. Er verfängt sich gleichzeitig im Netz des organisierten Verbrechens und wird zum Verfolgten, der um sein Leben fürchten muss. Was ihn nicht davon abhält, Nachforschungen in einer Berner Privatklinik zu betreiben, die der Camorra als Tarnung dient und in der ein sonderbares Geschäft mit Herzschrittmachern betrieben wird, die gar keine Herzschrittmacher sind. Es ist eine rasante Geschichte mit einigen charakterstarken Figuren und viel bernischem Lokalkolorit, die Paul Witt- wer in seinem dritten Kriminalroman «Widerwasser» vorlegt. Wie in «Giftnapf» und «Eiger, Mord und Jungfrau» hat der schreibende Arzt aus dem bernischen Oberburg als Hauptprotagonisten wiederum einen Arzt gewählt. Der kantige Polizist Limacher muss sich mit einer Nebenrolle zufriedengeben, was zu bedauern ist. Wittwer macht den Lesern den Einstieg nicht leicht. Er wirft sie hinein in einen Strudel von Ereignissen, und sie müssen sich auf abrupt wechselnden Schauplätzen zurechtfinden. Es braucht etwas Geduld, bis man den Überblick gewinnt. Doch dann vermag die Geschichte einen doch zu packen und mit unerwarteten Wendungen zu überraschen. ● Friedrich Dürrenmatt »Ich gehe auf keine Demonstration, ich bin selber eine.« Die erste große Biographie über Friedrich Dürrenmatt – vom Pfarrerssohn aus dem Emmental zum Autor von Weltruhm und mit Millionenauflagen, glänzend und packend geschrieben von Peter Rüedi. »Hier wird kein Leben erzählt, hier wird ein Universum durchleuchtet.« Martin Ebel / Tages-Anzeiger, Zürich <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTIxtwQAkpUygw8AAAA=</wm> <wm>10CFWKqw4DMQwEvyiRN37FNazCooLqeMipuP-P7lLW1SwZzZyplX5_jtcx3gki0QJt4pEaWptbckS1rgnAGwEPCIy72F9eCGFMvHZSNr4g5YZjwWVhbzsocf2enwuE0guJfwAAAA==</wm> »Ein kapitales Werk.« Manfred Papst / NZZ am Sonntag »Eine faszinierende Expedition ins Innere von Dürrenmatts Werk.« Dürrrrreeenma Dür nmatttt Urs Bugmann / Neue Luzerner Zeitung »Schon heute ein Standardwerk.« Roger Anderegg / Sonntags-Zeitung, Zürich 960 Seiten, Leinen mit Lesebändchen, mit einem Bildteil sFr 49.90 (unverbindliche Preisempfehlung) ISBN 978-3-257-06797-2 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Belletristik Literarische Reportage Die beiden sowjetischen Autoren Ilja Ilf und Jewgeni Petrow reisten im Jahr 1935 quer durch Amerika. Ihr Bericht aus der Wirtschaftskrise ist von erstaunlicher Frische «Nicht zu kaufen ist unmöglich» über Gangster und Banker, über den Kino-Schund, den das geldgetriebene Hollywood produziert, über bloss halbvolle Konzertsäle und lahmen Beifall für grosse Künstler. Angesichts solch «geistiger Trägheit im Kapitalismus» befällt die beiden Sowjets dann jeweils der «dringende Wunsch, uns zu beschweren, Vorschläge zu machen, an die Prawda zu schreiben oder ans ZK.» Aber auch das Entzücken der Besucher lässt tief in die Zustände in ihrer sowjetischen Heimat blicken: über den allgegenwärtigen Service und Komfort, über kostenlose Landkarten und elektrische Haushaltgeräte, über Arbeitswillen und Technikbegabung der Amerikaner. Ilja Ilf, Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika. Eine Reise mit Fotos von Ilja Ilf, 2 Bände. Die Andere Bibliothek im Eichborn-Verlag, Frankfurt 2011. 694 Seiten, Fr. 89.–. Von Kathrin Meier-Rust Zwei Russen im besten Alter kommen nach New York. Sie bestaunen Wolkenkratzer und Verkehrsstaus, besuchen, wie sich's gehört, Stripteaseshow und Boxkampf, Spielhölle und Obdachlosenheim. Dann kaufen sie ein Auto «von eleganter mausgrauer Farbe» und unternehmen eine Reise, die sie zwei Monate lang quer durch die Vereinigten Staaten nach Kalifornien und wieder zurück führt. Sie sind hingerissen von der grandiosen Natur des Landes und «verstört von seinem Reichtum und seiner Armut». Sie staunen: über hervorragende Strassen, «breit wie ein Doppelbett und glatt wie eine Tanzfläche», über Essen, das «lecker aussieht, aber fade schmeckt», über «3 Arten von Wasser: kaltes, heisses und eisgekühltes». Konsterniert notieren sie, dass Amerikaner immer auf Raten kaufen: «Alles, sogar das Bett, auf dem der unverbesserliche Optimist und enthusiastische Verteidiger des Eigentums schläft, gehört nicht ihm, sondern einer Firma oder einer Bank.» Doch angesichts der allgegenwärtigen Konsum- und Reklamewelt begreifen sie schnell: «Nicht zu kaufen ist ganz und gar unmöglich.» Wie eine Ozean-Fahrt Ungleiches Autorenduo Was sich so frisch liest, als wäre es letztes Jahr geschrieben, ist eine Reportage aus Amerika im Winter 1935/36, die heute zu den Klassikern dieses Genres gehört. Die beiden Russen auf Amerikareise sind Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, zwei Literaturstars aus der Sowjetunion, die im Auftrag der «Prawda» reisten. Beide Autoren stammten aus Odessa, hatten sich aber erst in Moskau kennengelernt, wo sie zusammen die Gaunerkomödie «Zwölf Stühle» (1928) schrieben, eine mit leichter Hand verfasste Satire auf die so ganz und gar bourgeoise Geldgier in der jungen sowjetischen Gesellschaft. Sie war ein sofortiger Publikumserfolg, ebenso wie die noch bissigere Fortsetzung «Das Goldene Kalb» (1931). Beide Bücher erregten Anstoss bei der Zensur, wurden mehrmals verfilmt und sind in Russland bis heute populäre Klassiker. «Das eingeschossige Amerika» (der Titel soll dem sowjetischen Leser deutlich machen, dass der gewöhnliche Amerikaner keineswegs im Wolkenkratzer lebt) mit vielen Fotos 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 Das Empire State Building in New York 1932, kurz vor der Reise der beiden Prawda-Reporter. von Ilf, war ihr drittes und letztes grosses Gemeinschaftswerk. Das Autorenduo «Ilfpetrow» soll tatsächlich Satz für Satz gemeinsam geschrieben haben. Doch die beiden waren ganz verschiedene Menschen. Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg erzählt in seinen Memoiren, Ilf sei «verlegen und schweigsam» gewesen, ein schwermütiger Mensch mit einem oft bösen Witz, der etwas jüngere Petrow dagegen ein Mensch von unverbesserlichem Optimismus. Sie hätten einander prächtig ergänzt, schreibt Ehrenburg: «Ilfs bissige Satire verband sich treffend mit Petrows gütigem Humor.» Im Amerikabuch behält Petrows liebevoller Humor die Oberhand. Zwar sind die beiden Reporter oft entsetzt: Ein Lese-Vergnügen der besonderen Art bereitet die köstliche Binnengeschichte um Mr. und Mrs. Adams: Der rundliche Mr. Adams, ein Ingenieur, der russisch spricht und als Führer und Übersetzer fungiert, plant, warnt und ermahnt von früh bis spät. Derweil Mrs. Adams, die einzige im mausgrauen Auto mit einem Fahrausweis, über 16 000 Kilometer stoisch am Steuer sitzt. «Ilfpetrow» vergleichen die Fahrt durch die USA mit einer Schiffsreise über den Ozean: «Sie ist ebenso einförmig wie grossartig. Wann man auch auf Deck erscheint, ob morgens oder abends, bei Sturm oder Windstille . . . stets liegt vor einem eine wunderbare glatte Strasse, die von Tankstellen, Touristenunterkünften und Reklametafeln gesäumt ist.» «Das eingeschossige Amerika» erschien in Moskau 1937 und wurde prompt als zu Amerika-freundlich kritisiert – spätere Ausgaben wurden deshalb zensuriert veröffentlicht. Nun erscheint die Original-Reportage zum ersten Mal auf Deutsch. Ein Vorwort von Ilfs Tochter Alexandra ergänzt diese sorgfältige Ausgabe in der Anderen Bibliothek, ebenso köstliche Reaktionen sowjetischer Leser aus dem Jahr 1937. Noch wertvoller sind die zum Teil erstmals publizierten Briefe der beiden Autoren aus Amerika an ihre daheimgebliebenen Frauen. Sie offenbaren, was die leichthändig geschriebene Reportage nur zwischen den Zeilen ahnen lässt: Ermüdung und Anstrengung, die Last offizieller Empfänge und permanenter Geldsorgen, Sehnsucht nach der und Sorge um die Familie in Moskau, wo die stalinistische Finsternis angebrochen war. Ilja Ilf kam schwerkrank von der Reise zurück und verstarb ein Jahr später an Tuberkulose. Jewgeni Petrow kam als Kriegsreporter 1942 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Noch im Tod verband sie ein gemeinsames Schicksal: Beide waren nur knapp 40 Jahre alt geworden. ● Erzählungen Skurrile Geschichten, garniert mit Lyrik und Aphorismen Mick wohnt im Briefkasten Kurzkritiken Belletristik Eva-Maria Alves (Hrsg): Unter Engeln. Anthologie. Insel, Berlin 2011. 250 Seiten, Fr. 13.50. Théophile Gautier: Mademoiselle de Maupin. Roman. Aus dem Franz. von C. Vollmann. Manesse, 2011. 628 S., Fr. 35.50. Die Esoterik wird sie bald ganz verkitscht haben. Umso wichtiger ist diese Anthologie von Texten aus über 1000 Jahren, die daran erinnern, wie mannigfaltig und geheimnisvoll den Menschen die Engel erschienen und noch immer erscheinen. Nicht nur von Schutz-, Erzund Todesengeln handeln die Dichter, auch vom Hungerengel (Herta Müller), vom Sklavenengel (Meret Oppenheimer) und von Kriegsengeln (Rafael Alberti) ist hier die Rede. Engel ohne Beine haben ebenso ihren Auftritt wie der «Engel des Seltsamen» von Edgar Alan Poe in Gestalt eines sprechenden Schnapsfasses. Kurz, man kann Robert Walser nur beipflichten: «So ein Engel tut gut, wenn er wartet, bis man ihm mitteilt, man bedürfe seiner», denn: «Bald bin ich gläubig, bald ungläubig, und er muss es dulden, der Liebe.» Ein inspiriertes Vorwort ergänzt die Vielfalt der Erscheinungen aufs Schönste. Kathrin Meier-Rust 1835 ist dieser erotisch-schwüle Roman erstmals erschienen. Er markierte den Einstand des damals 24-jährigen Erzählers Théophile Gautier (1811–1872), den sowohl Baudelaire als auch Victor Hugo schätzten. Gautier war ein Romantiker, Libertin und eleganter Stilist. In seinem Erstling geht es um eine Dreiecksgeschichte zwischen einem Edelmann, einer kecken jungen Dame – und einem androgynen Wesen, dessen Geschlecht ein Rätsel bleibt. Schon der Titel des Buchs versprach eine bizarre Pikanterie: Julie d’Aubigny, verheiratete Maupin, war um 1700 eine Skandalfigur. Doch Gautier geht gar nicht auf sie ein. Er benutzt sie bloss als «Teaser» für sein Buch, das Mario Praz in seiner berühmten Studie über die Schwarze Romantik als «Flaubert avant la lettre» gepriesen hat. Wir sehen das heute etwas kritischer – und verschlingen den Schmöker gleichwohl mit Behagen. Manfred Papst Wallace Stevens: Hellwach, am Rande des Schlafs. Gedichte. Zweisprachige Edition. Hanser, München 2011. 352 S., Fr. 34.90. Nella Larsen: Seitenwechsel. Roman. Aus dem Amerikanischen von A. Dormagen. Dörlemann, Zürich 2011. 191 Seiten, Fr. 29.–. Sein Brot verdiente Wallace Stevens (1879–1955) als leitender Mitarbeiter einer Versicherungsgesellschaft. Im Herzen war er jedoch Lyriker, und als solcher zählt er heute zu den bedeutendsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Er war ein Einzelgänger und gehörte keiner Schule an. Der französischen Kultur fühlte er sich zugetan, doch er blieb sein Leben lang in Hartford, Connecticut. Seine Gedichte zeichnen sich durch philosophische Tiefe und musikalisches Raffinement aus. So verwundert es nicht, dass sich eminente Köpfe der deutschen Literatur um sie bemüht haben: Die Übersetzungen im vorliegenden Band stammen von Hans Magnus Enzensberger, Karin Graf, Durs Grünbein, Michael Köhlmeier, Bastian Kresser und dem Herausgeber Joachim Sartorius. Ein kostbarer, sorgsam gestalteter und gewichtiger Band. Manfred Papst Der Roman «Seitenwechsel» (1929) ist keine literarische Perle, für uns Deutschsprachige aber sehr wohl eine soziohistorische Trouvaille. Umso schwerer wiegt das Versäumnis des Verlages, ihm kein ausführlicheres Nachwort gegönnt zu haben. Zwar wird erwähnt, dass Nella Larsen (1891–1964) Tochter einer dänischen Immigrantin war, jedoch nicht, dass ihr Vater ein Schwarzer von den Westindischen Inseln war. Die Geschichte handelt von zwei Jugendfreundinnen, Clare und Irene, die äusserlich als Weisse «durchgehen». Eine von ihnen gibt sich als solche aus, die andere interessiert sich für die Bürgerrechtsbewegung. Anders als etwa Philip Roths «Der menschliche Makel» ist «Seitenwechsel» geradezu plakativ geschrieben. Seinen Rang bezieht der Roman aus Stoff und Erscheinungsjahr. In diesem Sinn: definitiv lesenswert. Regula Freuler Markus Bundi: Gehen am Ort. Edition Isele, Eggingen 2011. 62 Seiten, Fr. 22.90. BARBARA DAVATZ Von Bruno Steiger Was ist das: ein Mensch? Wem, unvernünftigerweise, noch immer an einer schlüssigen Antwort auf die schöne alte Frage liegt, der wird sich nach wie vor an die Dichter halten. Es muss nicht immer gleich Kafka oder Beckett sein; auch der Aargauer Markus Bundi wartet in seinem Buch mit ein paar interessanten Vorschlägen auf. Das Intro des Bandes rekapituliert die Geschichte der Menschwerdung. In sechs Gedichten stellt der Autor den Menschen als ein Wesen dar, das, in rasender Geduld an Ort und Stelle tretend, unentwegt zu «neuen Ufern aufbricht». Das im Märchenton gehaltene Resümee spricht von einem «Tier, das dachte, sich wunderte, dass es dachte, sich fragte, was es mit dem Dasein auf sich hatte.» Die beiden Prosadestillate des Mittelteils sind Einzelschicksalen gewidmet. Erzählt wird etwa von Mick Ogerle, der als buchstäblich «Aufgegebener» in einem öffentlichen Briefkasten haust. Er scheint nur aus einem «königsblauen Schlafanzug» zu bestehen, die finale Schrumpfung auf Briefmarkengrösse nimmt er als «Erwachen» wahr, gefeiert wird der Befund mit «Beckenbodentraining». Deutlich realistischer und rätselhafter zugleich nimmt sich die zweite Erzählung mit dem Titel «Gonzos Erbe» aus. Schauplatz ist ein Krematorium. Von Öfen, Sieben, Goldzähnen, Kräutermischungen ist die Rede, wiederholt auch von den 163 künstlichen Hüftgelenken, die ein gewisser Gonzo bei seinen Reinigungsmassnahmen widerrechtlich an sich genommen hat. Eine philosophisch grundierte Sammlung von Gedanken zur Problematik von Meinen, Sagen und Verstehen beschliesst den Band. Markus Bundis an Wittgenstein orientierter Vorschlag, «Sinn» nicht als Resultat, sondern als Voraussetzung jedes Sprechakts zu betrachten, gipfelt in der Definition von Sprechen als einem «Versuch, gegen die Absurdität seiner selbst (und aller anderen) etwas vorzubringen». Die vieles offen lassende Kargheit, mit der Markus Bundi diesem «etwas» Gestalt verleiht, gehört mit zu den Vorzügen einer Erzählkunst, in der sich noch das ganz und gar Unmögliche als exemplarisch dargestellt sieht. ● 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Kinder- und Jugendbuch Kurzkritiken Michelle Cuevas: Columbus und der malende Elefant. Dressler, Hamburg 2011. 144 Seiten, Fr. 20.50 (ab 8 Jahren). Robin Brande: Fat Cat. dtv pocket, München 2011. 368 Seiten, Fr. 11.90 (ab 12 Jahren). Jugendroman Die mitreissend erzählte Geschichte von einem elternlosen Jungen mit neuer Identität Rätsel um Herkunft Jenny Valentine: Das zweite Leben des Cassiel Roadnight. Aus dem Englischen von Klaus Fritz. dtv, München 2011. 240 Seiten, Fr. 18.90 (ab 14 Jahren). Von Andrea Lüthi Elefant Birk träumt davon, Künstler zu sein, und Columbus wird als Baby von seinen Eltern verlassen. Die beiden finden sich; Columbus wächst auf dem Elefantenrücken heran. Gemeinsam machen sie sich auf nach Paris. Doch erst befreien sie Zootiere in New York, werden berühmt in Hollywood und müssen sich vor Birks ehemaligem Chef retten, der den Elefanten zurückhaben möchte. So komisch Cuevas phantasievolle Geschichte mit ihren absurden Einsprengseln ist, immer schimmert auch etwas Wehmut durch. Die Freunde kümmern sich rührend umeinander, trauern aber zugleich um verlorene Liebe: Columbus sehnt sich nach seinen Eltern, Birk nach seiner Zirkusakrobatin. Jens Rasmuss’ Bilder mit ausgeprägten Licht- und Schatteneffekten nehmen Birks Faszination für Farbstimmungen auf. Andrea Lüthi Eins von den Arm-Dran-Hascherln ist die 17-jährige Cat nicht. Sie quatscht alle an die Wand, strotzt vor Ideen, kann nicht masshalten, und ihre Devise heisst: XXL. Entsprechend schlägt der Bauch Wellen, doch das stört keinen grossen Geist. Bis Cat an einem Schulwettbewerb teilnimmt und im Zuge eines wissenschaftlichen Experiments versucht, wie ein Homo erectus zu leben: kein Fernsehen, kein Telefon, keine Chips. Was dann passiert, grenzt an eine kleine Sensation, denn Robin Brande gelingt ein unterhaltsames, dabei durchaus gewichtiges Mädchenbuch voller Witz, Wärme und Ironie, das keine Hochglanz-Abziehbilder gegen den Perfektionstrend liefert, sondern eine echte Heldin. Die räumt mit Klischees auf und liefert unaufdringlich eine bessere Alternative. Ein XXL-Vergnügen! Christine Knödler Angelika Waldis (Text), Christophe Badoux (Bild): Der unheimliche Stein. Atlantis, Zürich 2011. 48 S., Fr. 22.80 (ab 7 J.). Ilsa J. Bick: Der Zeichner der Finsternis. Aufbau, Berlin 2011. 382 Seiten, Fr. 21.90 (ab 14 Jahren). Kinder sind Sachenfinder. Immer suchen ihre Augen den Boden ab, und wenn etwas glitzert oder schön aussieht, greifen die Hände danach. Bei Jojo ist es ein grüner Stein, der in die Hosentasche wandert. Bald entdeckt er, dass der Stein zaubern kann: Als Jojo – TOCK! – auf eine Haselnuss schlägt, um sie zu knacken, liegen auf einmal zwei Nüsse da. Jojo experimentiert herum und erkennt, dass das unheimliche Fundstück noch mehr vermag. Brenzlig wird es, als er den blöden Nachbarjungen mithilfe des Steins verschwinden lässt. Am Ende entledigt sich Jojo des grünen Zauberdings, auch wenn es ihm Kribbeln und sogar eine Katze beschert hat. Ein bunter Comic-Kinderroman, der Leseanfänger mit einer turbulenten Geschichte fesselt. Text und Bild unterstützen diese Motivation. Verena Hoenig Jeder Mensch trägt eine persönliche, meist gut verschlossene Hölle in sich. Doch was passiert, wenn sie aufbricht und er in diesen Abgrund blickt? In diesem meisterhaft komponierten Thriller besitzt der 17-jährige Christian künstlerisches Talent und die Gabe übersinnlicher Wahrnehmung: Wenn er Strich für Strich seine Bilder zeichnet, ist es ihm möglich, die Albträume von anderen anzuzapfen, ja sogar in diese einzusteigen. Kein Wunder, dass er das Leben eines Aussenseiters führt. Da erteilt ihm ein schwerkranker alter Mann per Telepathie einen Auftrag; der Auslöser zu einer dramatischen Entwicklung. Bedrückende Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg kommen zutage. Die Autorin Ilsa J. Bick verknüpft auf erstaunliche Weise Zeitgeschichte und Parapsychologie zu einem packenden Ganzen. Verena Hoenig 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 «Manchmal, wenn ich in den Spiegel sah, war ich mir nicht sicher, ob ich noch ich selbst war. Ich verschwamm an den Rändern.» Was der 16-jährige Chap beschreibt, ist keine pubertäre Krise: Er lebt tatsächlich zwei Identitäten. In einer Notunterkunft wird er für Cassiel Roadnight gehalten, der seit zwei Jahren verschollen ist. Chap macht mit; er hat von der Herumtreiberei genug und wünscht sich eine richtige Familie. Aber wird ihn Cassiels Familie nicht sofort entlarven? Cassiels Schwester staunt nur über ihren höflicher Bruder, der plötzlich in der Küche hilft. Der Bruder nimmt Chap ebenfalls herzlich auf. Und die labile, medikamentensüchtige Mutter ist einfach froh, dass ihr Sohn wieder da ist. Niemand scheint etwas zu bemerken. Doch dann taucht eines Nachts ein schräger Typ namens Floyd auf, der bei Chaps Anblick zutiefst erschrickt. Offenbar weiss er mehr über Cassiels mysteriöses Verschwinden. Aber weshalb verbietet die Familie Chap den Kontakt mit Floyd? Die britische Autorin Jenny Valentine wurde bekannt durch ihre Romane «Wer ist Violet Park?» und «Kaputte Suppe». Auch dort treten Figuren auf, die geheimnisvollen oder verschollenen Personen nachspüren. In ihrem neuen grossartigen Roman greift sie ausserdem ein beliebtes literarisches Thema auf – man mag etwa an Mark Twains «The Prince and the Pauper» denken. Anders aber als dem Betteljungen geht es Chap nicht um einen Einblick ins prunkvolle Leben. Und er wechselt die Identität nicht im Spiel: «Wenn es je ein Leben gab, das vergessen werden musste, dann war es meines». Chap kennt seine Herkunft nicht; deshalb kann er ebenso gut jemand anders sein. Valentine gelingt es, dem Leser die Hauptfigur nahezubringen. Die Spannung steigert sich ins schier Unerträgliche, weil Chap jeden Moment auffliegen kann. Valentine baut Spannung aber auch an anderen Orten auf: Ebenso begierig ist man zu erfahren, weshalb Cassiel verschwand. Und auch Chaps Leben birgt Geheimnisse, die dem Leser häppchenweise enthüllt werden. Im spektakulären Showdown wird Valentines lebhafter Stil besonders deutlich. Sie schreibt so bildlich, dass man das Gefühl hat, in einem Film zu sitzen. ● Ethnologie Alle Menschen sind gleich und doch verschieden Ameisen isst man nicht Kurzkritiken Kirsten Boie (Text), Jutta Bauer (Bild): Ein mittelschönes Leben. Carlsen, Hamburg 2011. 32 Seiten, Fr. 14.90 (ab 8 J.). Elke Reichart (Hrsg.): gute-freundeboese-freunde. Leben im Web. dtv, München 2011. 224 S., Fr. 14.90 (ab 14 Jahren). Der Band ist schmal, der Inhalt wiegt schwer. Auf Wunsch von Fachleuten schreibt die arrivierte Kinderbuchautorin Kirsten Boie über Obdachlosigkeit. Auf knapp 30 Seiten erzählt sie die Geschichte eines Mannes, der auch mal Kind war und ein ganz normales Leben geführt hatte, bis das Unglück kam und mit dem sozialen Abstieg der Verlust. Arbeit, Ehefrau, Kinder, Wohnung – alles weg. Seitdem lebt der Mann auf der Strasse. Sein Leben ist «mittelschön bis schwer». Wie schnell einer abstürzen und dass es jeden treffen kann, ist in wenigen Worten klar beschrieben, Kinder fragen Obdachlose: Was machen Sie, wenn sie krank sind? Wie feiern Sie Weihnachten? Sind sie oft unglücklich? Ohne Larmoyanz oder falsche Sentimentalität ist ein informatives Plädoyer für mehr Aufmerksamkeit entstanden. Christine Knödler Wie echt, wie schlecht sind Freundschaften im Netz? Sind 350 Freunde wirklich noch Freunde? Was sind die Chancen, was die Fallen einer digital geprägten Welt? Ist Cybermobbing eine Frage der Moral, der Macht, der Gruppendynamik oder doch der Technik? Die Journalistin Elke Reichart lässt Jugendliche und Erwachsene, Internet-Experten, Gegner, Fans, Junkies, Opfer zu Wort kommen. Mal privat-anekdotisch, mal theoretisch nähern sie sich einem Phänomen, das längst das Leben massiv beeinflusst. Eher Denkanstösse als Antworten gibt dieses Buch und zeigt auch, dass sich zwischen on und off, in und out, früher und heute auch Generationengräben öffnen. Freundschaft neu zu definieren und selbstbestimmt und kompetent zu leben, ist die Herausforderung, die sich jedem jederzeit stellt. Christine Knödler Dieter Vieweger, Ina und Hans Beyer: Abenteuer Jerusalem. Gütersloher Verlag, Gütersloh 2011. 80 Seiten, Fr. 25.90 (ab 12 J.). Bibi Dumon Tak, Martijn van der Linden: Eisbär, Elch und Eule. Bloomsbury, Berlin 2011. 137 Seiten, Fr. 21.90 (ab 8 Jahren). Aaron besucht seinen Grossvater, einen pensionierten Archäologen in Jerusalem. Wie es sich für einen modernen Jugendlichen gehört, hält er seine Erlebnisse für die Klassenkameraden zu Hause in einem Blog fest. Häppchenweise, garniert mit vielen Fotos und Zeichnungen, wird so die komplizierte Geschichte Jerusalems einfach erzählt: von den Anfängen mit David und Salomo bis zur Eroberung der Altstadt durch die israelische Armee. Aaron besucht die Klagemauer, die Grabeskirche und die ElAqsa-Moschee und lernt vorurteilslos die drei grossen Weltreligionen kennen. Das informative Sachbuch zeigt anschaulich, dass Geschichte keineswegs vergangen ist, sondern dass nur sie die Erklärungen dafür liefern kann, warum die Konflikte in der heiligen Stadt bis heute andauern. Geneviève Lüscher Rentiere können ihre Nasenlöcher verstellen, damit die Luft beim Einatmen nicht so eisig in die Lungen strömt. Auch der Kaiserpinguin oder der Narwal haben sich dem Leben in frostigen Breiten angepasst. Bibi Dumon Tak pickt Kuriosa über Polartiere heraus und erzählt davon mal überdreht, mal poetisch. So vergleicht sie etwa den Moschusochsen mit einem «zerzausten Tannenwald auf Hufen». Bereits der Vorgängerband «Kuckuck, Krake, Kakerlake» war bei Kindern und Erwachsenen ein Erfolg, und das neue Tierbuch steht ihm in nichts nach. Dazu tragen auch die Aquarellzeichnungen in Türkis und Grautönen bei. Sachbücher über Tiere gibt es viele, doch diese quirligen Steckbriefe wecken das Interesse neu, denn eine solche Reise ins ewige Eis macht tierisch Spass. Verena Hoenig Wolfgang Korn: Was ist schon normal? Warum alle Menschen gleich und doch verschieden sind. Bloomsbury, Berlin 2011. 168 Seiten, Fr. 21.90 (ab 12 Jahren). Von Sabine Sütterlin Kopfschütteln heisst Nein. Schwarz ist die Farbe der Trauer. Und Ameisen isst man nicht. Ist doch jedem klar, oder? Nein, eben nicht. Menschen in Südindien, Afrika oder im brasilianischen Urwald verstehen die gleiche Geste anders als wir Mitteleuropäer, sie benutzen unterschiedliche Zeichensysteme und kennen unterschiedliche Tabus. «Warum alle Menschen gleich und doch verschieden sind» – dies zu erklären, hat sich der Wissenschaftsjournalist Wolfgang Korn vorgenommen. Gelingt das? Jein. Wenig gelungen ist der Versuch, im Galopp durch die Menschheitsgeschichte die Ursprünge kultureller Unterschiede zu ergründen. Manches erweckt den Eindruck von Küchenweisheit. Angaben zu wissenschaftlichen Quellen fehlen. Vor allem die Erklärung dafür, warum manche Völker eher zu Gewalt neigen als andere, zementiert eher Vorurteile als sie durch Wissen abzubauen: Die Bewohner von Wüstenregionen seien durch die Hitze so aggressiv geworden, «dass sie ihre Frauen vor anderen Männern versteckten und endlose Fehden miteinander ausfochten», während die Menschen in der arktischen Kälte so friedlich wurden, dass sie Fremden sogar ihre Frauen anboten. Das ist, wenn nicht schlichter Quatsch, jedenfalls eine gefährliche Vereinfachung. Demgegenüber überzeugt Korn, wenn er beschreibt, welche Vielfalt von Sitten, Mythen und Gewohnheiten der Homo sapiens entwickelt hat, und wie Ethnologen sich ihrem Forschungsgegenstand nähern. Die Weltkarte in der Umschlagklappe weckt Neugier: Da weist etwa ein Pfeil auf Island, und die Legende lautet: «Hier gibt's die gemütlichsten Gefängnisse». Des Rätsels Lösung findet sich im Kapitel über die kulturell unterschiedlichen Auffassungen dessen, was kriminell ist. Das Buch ist ausdrücklich zum «Kreuz- und Querlesen» gedacht. Zur Sprache kommen Themen, die junge Leser ansprechen, vom dehnbaren Zeitbegriff der Brasilianer über merkwürdig anmutende Initiationsriten in Äthiopien oder Angola bis hin zur in China verbreiteten Vorstellung einer Krankheit namens «verschwindender Penis». ● 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Porträt Die israelische Soziologin Eva Illouz hat ein grossartiges Buch über Beziehungen zwischen Männern und Frauen im 21. Jahrhundert geschrieben. Jenny Friedrich-Freksa hat sie in Frankfurt getroffen Auf dem freien Markt der Liebe Es ist nicht leicht, in einer zwei mal zwei Meter grossen Box über die Liebe zu sprechen. Eva Illouz sitzt auf einem weissen Stuhl vor einem weissen Tisch. Von der offenen Decke dringt das Geraune der Frankfurter Buchmesse in das Hinterzimmer des Verlagsstands herein. Die Soziologin aus Jerusalem ist hier, um über das Lieben und das Leiden zu reden, das Thema ihres neuen Buchs «Warum Liebe weh tut». Sie untersucht darin, wie Männer und Frauen ihr eigenes Leben gestalten und Liebesbeziehungen mit anderen Menschen haben. Beides zu wollen ist offenbar schwierig. Es verursacht sogar Schmerz. Über diesen denkt Illouz nach. Schmerz und Leidenschaft Das Buch scheint einen Nerv zu treffen. In Deutschland, wo es im Oktober erschien, steht es bereits auf der Bestsellerliste. Alle wollen wissen, was Eva Illouz über unser Gefühlsleben herausgefunden hat. Als ob der Buchmarkt nicht mit Büchern über die Liebe überschwemmt wäre. «Eine soziologische Erklärung» nennt Illouz ihre Schrift. Von aussen sieht diese Erklärung aus wie ein Beziehungsratgeber für die etwas klügere Frau: Der Umschlag magentafarben, also fast pink. Und auf der Rückseite steht: «Leidenschaftliche Liebe ist ohne Schmerz nicht zu haben, aber dieser Schmerz sollte uns nicht ängstigen.» Ach ja. Soll man dieses Buch kaufen? Man sollte, unbe- Eva Illouz Eva Illouz, geboren 1961 in Fès, Marokko, studierte in Frankreich, promovierte in den USA und ist heute Professorin für Soziologie an der Hebrew University in Jerusalem. Sie forscht zu den Wechselwirkungen von Konsumkultur, sozialen Beziehungen und Individuum und zur Soziologie der Emotionen. Bisher sind von ihr erschienen: «Der Konsum der Romantik» (2003), «Gefühle in Zeiten des Kapitalismus» (2006), «Die Errettung der modernen Seele» (2009) und nun: «Warum Liebe weh tut» (Suhrkamp, Berlin 2011. 467 Seiten, Fr. 35.60). 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 dingt. Illouz’ Werk ist weder mit Theorie überfrachtet, noch will es eine Gebrauchsanweisung für das gelungene Leben zu zweit liefern. Es ist ein Buch über die Liebe, das ganz ohne psychologisches Geschwätz auskommt. Und gleichzeitig Gefühlen in der Wissenschaft einen selbstverständlichen Platz einräumt. Illouz hat für ihr Buch viele Interviews geführt: mit heterosexuellen Männern und Frauen zwischen 25 und 67 Jahren, aus Europa, den Es ist ein echter Gewinn des Buchs, dass Männer nicht als emotionale Trottel und Frauen nicht als bessere Menschen gesehen werden. USA und Israel, alle mit Hochschulabschluss. Ein Gespräch ist ihr besonders in Erinnerung geblieben: «Eine Frau erzählte, dass ihre Beziehungen alle schlecht geendet hatten. Sie würde so gerne heiraten, aber es sei ihr peinlich, das zuzugeben. Man stünde dann als dumme Frau da. Sie weinte furchtbar und ich spürte, dass man sich diesen Schmerz ansehen muss. Wenn jemand so weint, ist das nicht einfach eine persönliche Angelegenheit. Es ist politisch.» Sehr ernst spricht Eva Illouz in der sterilen Messebox über das Seelenwohl anderer Menschen. Sie macht keinen Hehl daraus, dass ihr das Thema ihres Buchs ein echtes Anliegen ist. Vor allem: dass Leid nicht privat sein sollte. Illouz ist eine zierliche Frau. Ab und zu zupft sie den tiefen Ausschnitt ihrer Bluse zurecht, der von grossen Silbernieten eingefasst ist. Die Bluse ist schwarz, der Rock und die Schuhe auch. Doch über das Schwarz und das MetallDekolletee hinweg schauen einen zwei weiche, braune Augen an, manchmal betrübt, manchmal amüsiert. Eva Illouz hat etwas von einem freundlichen Punk, der gewillt ist, die Welt aus unkonventioneller Perspektive zu betrachten. Unkonventionell an ihrem Buch ist, wie die Soziologin soziologische, ökonomische und psychologische Erkenntnisse zusammendenkt. Dass es mit der Liebe klappt, wenn wir uns nur genug mit unserer Psyche auseinandersetzen, daran glaubt Illouz nicht. Sie hält Psychotherapien für hilfreich, aber nicht für ein Allheilmit- tel. Anders gesagt: die weinende, von den Männern enttäuschte Frau, die unbedingt heiraten will, müsste nicht einfach zum Therapeuten. Wenn zu viele Menschen die gleichen Beziehungsprobleme haben – so ihr Befund –, reicht es nicht, dass jeder sich allein mit seinem Gefühlsleben beschäftigt. Die Soziologin analysiert Liebesbeziehungen als ökonomischen Handel, als einen Markt, auf dem sich Männer und Frauen tummeln. Attraktivität und Status sind die beiden Währungen, die am meisten zählen. Auf den ersten Blick scheint es, als seien Männer und Frauen auf diesem Markt gleichberechtigt. Beide Geschlechter haben schliesslich heute die gleiche Freiheit zu wählen. Doch Illouz konstatiert eine neue Ungleichheit: «Die heterosexuellen Frauen der Mittelschicht befinden sich in der merkwürdigen historischen Lage, so souverän über ihren Körper und ihre Gefühle verfügen zu können wie nie zuvor und dennoch auf neue und nie dagewesene Weise von Männern dominiert zu werden.» Emotionale Dominanz der Männer Illouz spricht von einer «emotionalen Dominanz» der Männer, die zum einen darauf beruht, dass Frauen, wenn sie sich Kinder wünschen, nicht ewig warten können, bis sie sich für einen Mann entscheiden. Das macht sie auf dem freien Markt der Liebe abhängiger. Zum anderen stärken Männer ihr Selbstwertgefühl durch Unabhängigkeit, während Frauen sich ihrer selbst durch Nähe vergewissern – zwei völlig verschiedene Strategien, um sich vor emotionalen Verletzungen zu schützen. Illouz behauptet nicht, dass sich alle Männer und Frauen so einfach kategorisieren lassen. Doch sie stellt in ihrer Forschung wiederkehrende Verhaltensmuster fest und kulturelle Ideale, die definieren, was einen Mann und was eine Frau ausmacht: «George Clooney ist ein attraktiver Single, genauso attraktiv wie Brad Pitt, der verheiratet ist. Bei unverheirateten Frauen im selben Alter denkt man, sie hätten keinen abgekriegt.» Es ist ein echter Gewinn des Buchs, dass Männer nicht als emotionale Trottel pathologisiert und Frauen nicht für die besseren Menschen gehalten werden. Eva Illouz ist 50, sie hat einen Mann und drei Söhne. Über die Frage, ob man sie als Leser anders wahrnehmen würde, wenn sie allein leben würde, muss sie lächeln: «Völlig richtig. Alle Susanne Schleyer «Ich bin eine radikale Individualistin»: Die Kommunikationswissenschafterin Eva Illouz untersucht männliche und weibliche Verhaltensmuster. 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Pat RoQue / AP Porträt Wir Menschen lieben auch, um uns gesellschaftlich erfolgreich zu präsentieren. Kuss-Festival auf den Philippinen. würden dann denken, dass ich über mich selbst jammere und versuche, das zu rationalisieren. Aber bitte: Stellen Sie mich bloss nicht als glückliche und erfolgreiche Frau vor!» Ein «Lebensprojekt» zu haben, hält sie für hilfreich, sei es ein privates oder ein politisches. «Das kann aber auch unbequem sein, es macht einen nicht automatisch glücklich.» Geboren als Kind jüdischer Eltern, verbringt Illouz die ersten Jahre ihres Lebens in Marokko. Zu Hause wird Französisch gesprochen. Bis 1967 leben die meisten marokkanischen Juden friedlich in dem arabischen Land. Doch der Sechstagekrieg führt zu Spannungen, Illouz’ Eltern ziehen nach Frankreich, nach Sarcelles. Tochter Eva studiert Soziologie, Literatur und Kommunikation, promoviert in den USA, arbeitet als Dozentin in New York, Tel Aviv und Jerusalem, bevor sie 2004 Professorin an der Universität Jerusalem wird. Gastprofessuren in Princeton und Paris folgen. 2009 wählt «Die Zeit» Illouz in eine Liste von 12 Intellektuellen weltweit, «die das Denken der Zukunft verändern werden». schem Weltgeschehen. Über allem aber steht heute der Imperativ der Autonomie: der individuelle Lebensentwurf muss erdacht, umgesetzt und verteidigt werden. Auf der Frankfurter Buchmesse nimmt Eva Illouz an einer Diskussion zum Thema «Der Traum der Vernunft» teil. Viele Frauen sitzen im Publikum. «Ich bin eine radikale Individualistin», sagt Illouz auf dem Podium, «die gesellschaftlichen Institutionen müssen dem Indivi- «Ein Lebensprojekt zu haben, kann hilfreich sein, aber auch unbequem. Es macht einen nicht automatisch glücklich.» duum dienen, nicht umgekehrt.» Doch die Individualistin Illouz sieht auch, dass die Individualisierung unangenehme Nebenwirkungen hat: «Das Ideal der Autonomie triumphiert über alles. Sogar darüber, zuzugeben: Ich brauche etwas. Individualität basiert heute darauf, dass wir verneinen, abhängig und bedürftig zu sein.» Liebe aber macht verletzlich. Jemanden zu brauchen passt schlecht zur Vorstellung vom selbstbestimmten Menschen, der gut allein zurechtkommt. Etwas zu wollen, was einem nur ein anderer Mensch geben kann, wird zum Pro- Kapitalismus prägt die Liebe Seit langem interessiert sich Eva Illouz dafür, wie das kapitalistische Wirtschaftssystem unsere privaten Beziehungen prägt. «Gefühle in Zeiten des Kapitalismus» heisst eines ihrer Bücher. Was unser Liebesverhalten prägt, beschreibt sie als eine «Matrix» aus Gefühlen, Verstand, Kulturgeschichte und kapitalisti- TheaTrum helveTicum das legendäre schweizer Kabarett Peter michael Keller cabaret cornichon Peter Michael Keller Cabaret Cornichon Geschichte einer nationalen Bühne Geschichte einer nationalen Bühne 2011. 428 S. 60 Abb. s/w Mit CD-ROM. Geb. CHF 78 Bücher zur Zeit 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 Vom Umgang mit dem Fremden r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r r e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n n e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o o f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f f 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e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c c h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h h w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w w Brigitta gerBer Damir SkenDerovic (Hg.) e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e e i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i i wider die aus gren zung für eine offene schweiz recht DeBatten akteure z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z z blem. Frauen etwa vermeiden es, in InternetPartnerbörsen anzugeben, dass sie sich Kinder wünschen. Bedürfnisse sind auf dem Markt der Liebe keine brauchbare Währung. Ganz anders die sexuelle Attraktivität. Doch auch diese dient nicht nur dem persönlichen Glück, sondern auch der sozialen Anerkennung: «Für Männer ist die Sexualität zur wichtigsten Arena geworden, in der sie ihren Männlichkeitsstatus (Autorität, Autonomie und Solidarität unter Männern) ausüben können; für Frauen bleibt die Sexualität überwiegend Fortpflanzung und Ehe untergeordnet», schreibt Illouz. Wir lieben also auch, um uns gesellschaftlich erfolgreich zu präsentieren: als weibliche Frau oder männlicher Mann. Illouz befasst sich mit unserer Angst, an einer grossen Idee der Moderne zu scheitern: Schmied seines glücklichen Lebens zu sein. Und sie erinnert daran, dass wir soziale Wesen sind, die einander brauchen und gemeinsam bestimmen, was Anerkennung bedeutet. Dies ist ein tröstlicher Gedanke, und er verschafft Illouz’ Analyse eine grosse Portion Wärme. Romantikerin, doch Feministin Eva Illouz ist Romantikerin und Feministin zugleich. Sie wünscht, wir würden wieder leidenschaftlicher und fürsorglicher lieben. Und sie fordert ein radikales Umdenken darüber, was eine Frau ausmacht: «Weiblichkeit sollte nicht an Kinder geknüpft sein. Frauen sollten die Liebe vom Kinderkriegen trennen. Und es sollte kein Druck auf sie ausgeübt werden, welche zu bekommen. Frauen wiederum sollten keinen Druck auf Männer ausüben, Kinder mit ihnen zu haben.» Die Soziologin plädiert für alternative weibliche Lebenskonzepte: dafür, ein Kind mit einem schwulen Mann aufzuziehen oder mit einem, der nicht mit einer Frau zusammenleben möchte. Oder gemeinsam mit anderen Frauen. Wenn solche Ideen Wirklichkeit werden, so glaubt Illouz, wird sich auch das Verhältnis von Männern und Frauen verändern. Was die neuen Formen des Liebens für Kinder bedeuten, und wie es umgekehrt oft Kinder sind, die manche Individual-Biografie völlig umkrempeln, danach fragt die Soziologin Illouz nicht. Der Qualität ihres Werks tut das keinen Abbruch. «Warum Liebe weh tut» ist ein hervorragendes Buch über die Grenzen der Autonomie und das Verlangen nach Liebe. Interessieren sich ihre Söhne, 18, 17 und 6 Jahre alt, für ihre Forschung? «Überhaupt nicht. Meine Bücher sind nur für Menschen sinnvoll, die schon lange mit gesellschaftlichen Mythen gelebt haben.» Eva Illouz hofft, dass sie mit ein paar falschen Mythen aufräumen kann, bevor ihre Söhne daran glauben. l migration als erFolgsgeschichte Mustafa Ideli, Virginia Suter Reich, Hans-Lukas Kieser (Hg.) B. Gerber, D. Skenderovic (Hg.) Wider die Ausgrenzung – für eine offene Schweiz Beiträge aus historischer, sozial- und rechtswissenschaftlicher Sicht <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTE0MQYAeLJqaw8AAAA=</wm> <wm>10CFWMsQrDMBBDv8jmdGfZvt5YspkMpbuXkDn_PyXuVpAEgieNEczy83vbv9snIFKYwIJiQWfWxoBrbqwBoKsAL4Bm7rX_8Ung1cTmYtJSn09Sk9Vp6k9ZD3OtxfJ1nDfyIkTngAAAAA==</wm> 2011. 390 S. 20 Abb. 3 Bde Br. in Schuber. CHF 48 Neue Menschenlandschaften Migration Türkei – Schweiz 1961–2011 M. Ideli, V. Suter Reich, H.-L. Kieser (Hg.) Neue Menschenlandschaften Migration Türkei – Schweiz 1961–2011 2011. 404 S. 40 Abb. Br. CHF 48 www.chronos-verlag.ch Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese GAËTAN BALLY / KEYSTONE Anregung von Verlegern? Da bekomme ich von Hornissen mehr Anregung. Charles Lewinsky ist Schriftsteller und arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuer Roman «Gerron» ist kürzlich bei Nagel & Kimche erschienen. Kurzkritiken Sachbuch Urs Hafner: Heimkinder. Eine Geschichte des Aufwachsens in der Anstalt. Hier + jetzt, Baden 2011. 207 Seiten, Fr. 38.–. Thorsten Polleit: Der Fluch des Papiergeldes. Finanzbuchverlag, München 2011. 143 Seiten, Fr. 21.90. Es ist heute nicht mehr nachvollziehbar, mit welcher Härte, mit welch brutalem Straf-, Arbeits- und Disziplin-Regiment elternlose und verwahrloste Kinder und Jugendliche in der Schweiz über Jahrhunderte behandelt wurden. Urs Hafner spricht von einer «kalten Religion», denn ob katholisch oder reformiert: Die Findel- und Waisenhäuser, Arbeits-, Zwangs-, Rettungs- und Erziehungsanstalten waren vom Mittelalter bis weit ins 20. Jahrhundert fest in religiöser Hand. Von christlicher Barmherzigkeit war allerdings wenig zu spüren, weder Pestalozzis Ideen noch pietistische Frömmigkeit, weder repräsentative Bauten noch moderne Körperhygiene vermochten das Klima der Angst und Gewalt zu erschüttern. Erst die Heimkampagne in den 1970er-Jahren brachte Reformen. Der Historiker Urs Hafner bietet eine fundierte, eindrücklich bebilderte Studie zu diesem traurigen Thema. Kathrin Meier-Rust Die Notenbanken rund um den Globus fluten die Welt mit Geld. Die farbigen Papierscheine kosten so wenig wie selten zuvor. Kann das gut gehen? Kaum, sagt Thorsten Polleit, deutscher Ökonom und bekannter Kritiker der staatlichen Notenbanken. Er hat seine Aufsätze der letzten Jahre zum Thema Geldentwertung zusammengetragen. Die Sammlung kommt zum richtigen Zeitpunkt. Denn was schon Ludwig von Mises 1923 und Friedrich August von Hayek 1970 hinterfragten, gilt heute mehr denn je: Die Geldmengenausweitung hat in der Geschichte immer zu starker Inflation geführt. Wieso sollte es 2011 anders sein? Glauben die Menschen, dass die Notenbanken nur noch Geld drucken, um staatliche Haushaltslöcher zu finanzieren, wird das Vertrauen in Papiergeld (ver)schwinden. Die Folge wäre eine Hyperinflation. Polleit erklärt die Folgen in einfachen Worten. Charlotte Jacquemart An Lac Truong Dinh: Von der Fremdenlegion zu den Viet Minh. Überläufer Emil Selhofer. Chronos, Zürich 2011. 183 S., Fr. 28.–. Gabriele Praschl-Bichler: Kleidung und Mode im Mittelalter. Herbig, München 2011. 215 Seiten, Fr. 34.90. Wer weiss schon, dass es Schweizer Söldner gab, die im Indochinakrieg 19451954 im französischen Expeditionskorps kämpften? Und die später aus der Legion desertierten und zur kommunistischen Unabhängigkeitsbewegung Viet Minh überliefen. Dazu gehörte neben vielen Deutschen und Italienern der 1926 in Zürich geborene Emil Selhofer, der bis zu seinem vermutlichen Tod 1953 im Nordosten Vietnams kämpfte. Die vorliegende Basler Lizentiatsarbeit geht den Spuren dieses verschollenen Abenteurers nach. Der vietnamesischstämmige Autor hat in seinem Heimatland mit ehemaligen Militärkadern gesprochen, Akten aus dem Bundesarchiv ausgewertet, Briefe Selhofers an die Mutter sowie seine noch lebende Schwester aufgespürt. Resultat: ein erstaunlich detailliertes, auch von Wehmut gezeichnetes Porträt eines verlorenen Sohnes. Urs Rauber Was trug man im Mittelalter? «Affenhaube, Schellentracht und Wendeschuh», so lauten Antwort und Untertitel des Buches. Wie die Autorin schreibt, hätte sie auch die Wörter «Gugeln, Fucken und Kotzen» wählen können, auch das Bezeichnungen für hochanständige Kleidungsstücke. So meint letzteres einen einfachen Umhang aus ungefärbtem, grobem Wollstoff, bevorzugt getragen als Büssergewand. Betuchte – nomen est omen – liebten im Mittelalter die Gewänder aber bunt, in mehreren Schichten, aufwendig genäht und aus Samt und Seide. Die Autorin gewährt uns einen Blick in den mittelalterlichen Kleiderschrank, von der Unterhose (nur für Männer) bis zum Schleier (ein Muss für jede anständige Frau). Auch Accessoires wie Gürtel, Knöpfe, Bänder kommen zur Sprache. Ein amüsant geschriebenes und lehrreiches Buch mit vielen Bildern. Geneviève Lüscher Peter Handke Eigentlich hatte Peter Handke ja versprochen, nie öffentlich darüber zu reden. Wie das alle Schriftsteller dieser Welt in einer feierlichen Zeremonie tun müssen, bevor sie ihr erstes Buch veröffentlichen dürfen. Aber wenn das Geheimnis nun schon mal ausgeplaudert ist . . . Also, es ist so: Alle Schriftsteller werden von Tieren inspiriert. Die armen Poeten, die in ihrer Dachkammer auch im kältesten Winter das Fenster offen lassen, damit die Muse eine Einflugschneise findet, sind auf dem Holzweg. Die Hauskatze wäre ihnen bei der Suche nach einem Einfall viel nützlicher. Bei Handke waren es Hornissen. Damals, im Jahr 1966, wurde er von einer gestochen und schrieb daraufhin prompt die «Publikumsbeschimpfung». Begreiflich, denn so ein Hornissenstich brennt gemein und lässt einen vor Ärger ganz lästerlich fluchen. Und wenn man sowieso schon mal dabei ist, kann man ja auch gleich ein Stück daraus machen. Was und wie jemand schreibt, hier sei es endlich verraten, hat rein zoologische Ursachen. Wer sich von einer Boa constrictor anregen lässt, produziert lange, gewundene Sätze, die dem Leser die Luft abschnüren. Die Inspirationssuche im Kuhstall hingegen verursacht den unwiderstehlichen Drang, schon einmal Gesagtes wieder und wieder zu repetieren – wie das bei Wiederkäuern eben so ist. Da ist der intime Umgang mit Nachtigallen schon mehr zu empfehlen – auch wenn er unausweichlich zur Produktion von Naturlyrik führt. Um den an den Germanistik-Fakultäten dieser Welt bestimmt bald aufblühenden Forschungszweig der LiterarZoologie (mit «Brehms Tierleben» als wichtigstem Quellentext) zu fördern, sei hier angemerkt: Auch die Arbeitsweise jedes einzelnen Schreiberlings hat ihren tierischen Ursprung. Eichhörnchen-Schriftsteller verstecken überall Zettel mit Ideenvorräten, um sich dann im Winter ihrer Einfallslosigkeit davon zu ernähren. Meerschweinchen-Dichter produzieren in hohem Tempo eine Buchgeneration nach der anderen, die dann allerdings – typisch Cavia porcellus – alle sehr ähnlich und nicht sehr interessant herauskommen. Und wer sein Manuskript notorisch zu spät abliefert, hat sich wahrscheinlich ein Faultier zum Vorbild genommen. Nur von Verlegern, da hat Handke völlig recht, kriegt man keine Anregung. Die sind leider alle viel zu menschlich. 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Expeditionen Vor 100 Jahren erreichte der Norweger Roald Amundsen als erster den Südpol und besiegte damit den Briten Robert F. Scott. Neue Bücher widmen sich der Eroberung der Antarktis Wettlauf zum Südpol Christian Jostmann: Das Eis und der Tod. Scott, Amundsen und das Drama am Südpol. C. H. Beck, München 2011. 320 Seiten, Fr. 28.50. Diana Preston: In den eisigen Tod. Robert F. Scotts Expedition zum Südpol. DVA, München 2011. 352 Seiten, Fr. 32.90. Reinhold Messner: Pol. Hjalmar Johansens Hundejahre. Malik, München 2011. 304 Seiten, Fr. 28.90. Robert Falcon Scott: Letzte Fahrt. Kapitän Scotts Tagebuch. Tragödie am Südpol. Edition Erdmann, Wiesbaden 2011. 320 Seiten, Fr. 36.50. Von Thomas Köster Am 15. Dezember 1911 träumt ausgerechnet Tryggve Gran, der Norweger im Team des Engländers Robert F. Scott, dass sein Landsmann Roald Amundsen den Briten bei der Eroberung des Südpols zuvorgekommen sei. «Sie sind da!», lässt ihn Christian Jostmann in seinem neuen Buch beim Aufwachen entsetzt ausrufen. Die Ausgestaltung der dramatischen Szene ist dichterische Freiheit, Grans Notiz zur Vision hingegen historisch verbürgt, ebenso wie die verspätete Ankunft Robert F. Scotts und seiner vier Begleiter sowie sein grausamer Tod auf dem Rückweg: im Zelt, nur 18 Kilometer vom Basislager entfernt – weil ein Schneesturm ihn und seine Kameraden zu lange an der Weiterreise hinderte. In einem klugen Kunstgriff schildert Jostmann das schreckliche Schicksal Scotts und seiner letzten Gefährten aus der Sicht des vom Basislager aus startenden Suchtrupps, zu dem auch der zu- Rennen der Nationen «Suche Freiwillige für gefährliche Reise ... Rückkehr ungewiss.» Mit dieser Anzeige warb Sir Ernest H. Shackleton 1907 für seine Reise zum Südpol. Zuerst sollte die britische Flagge am Südpol wehen. In diesem Bewusstsein stach Robert F. Scott 1910 in See. An Bord erfuhr er vom gleichen Plan des Norwegers Roald Amundsen. Amundsens Expedition erreichte am 14. Dezember 1911 als erste den Südpol, Scotts Team erst einen Monat später. Während Amundsen wohlbehalten heimkehrte, fand Scott auf der Rückreise den Tod. 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 rückgelassene Gran gehörte. Und er schildert ihn – ebenso wie die bittere Erkenntnis der Niederlage – mit den Worten aus Scotts Tagebuch, das die Kameraden bei den Leichen finden – und das gerade wieder in einer schönen Neuausgabe erschienen ist. «Die Norweger sind uns zuvorgekommen», steht darin geschrieben. «Eine furchtbare Enttäuschung! All die Mühsal, all die Entbehrungen, all die Qual – wofür? Für nichts als Träume, Träume über Tage, die jetzt zu Ende sind.» Bis heute hat wohl kein Autor vermocht, die Tragik des Scheiterns emotional besser in Worte zu kleiden als der literarisch hoch begabte Expeditionsleiter selbst. Gerade durch den Einbezug der Originaldokumente ist Jostmann die Mischung aus Sachbuch und historischem Roman deshalb gelungen. Er legt glaubwürdig dar, wie sich Scotts Sieger und Verlierer «Amundsen und seine Gefährten krochen um vier Uhr morgens in die Hütte», heisst es im Buch der britischen Journalistin Diana Preston. «Und es war ein Hochgenuss für sie, deren schlafende Bewohner mit einer beiläufigen Bitte um Kaffee zu wecken». Während sich Jostmann noch recht ausgewogen dem Verlauf beider Expeditionen widmet, wendet sich Prestons Werk fast aus- «Mühsal, Qual, Entbehrungen»: Teilnehmer der Expedition von Robert F. Scott durch die Eiswüste der Antarktis 1910–1912. schliesslich dem grossen Verlierer des Wettlaufs zu, der 1902 an der Seite Sir Ernest Henry Shackletons immerhin rund 460 Kilometer weiter südlich vorgedrungen war als je ein Mensch zuvor. So entsteht das imposante Porträt eines ebenso ehrgeizigen wie zur Trägheit neigenden und von Selbstzweifeln geplagten, immer aber fairen Sportsmanns, der im Unterschied zum siegesorientierten Amundsen durchaus interessiert war an wissenschaftlicher Erkenntnis. Dabei spart auch Preston die skurrilsten Fehlentscheidungen Scotts nicht aus: etwa die, in der Mandschurei nur weisse Ponys einzukaufen, «weil Shackleton festgestellt hatte, dass seine dunklen Ponys vor den weissen verendet waren». Aber nicht nur auf Seiten Scotts, auch im Lager Amundsens gab es Verlierer. Die tragischste Rolle kommt dabei wohl dem Polarforscher Fredrik Hjalmar Johansen zu, der ab 1893 bereits unter Fridtjof Nansen versucht hatte, den geografischen Nordpol zu erreichen. Nachdem Amundsen trotz dessen Warnungen im September 1911 zu früh Anlauf zur Eroberung des Südpols genommen hatte und Johansen einen Schlittenkameraden daraufhin vor dem Erfrierungstod retten musste, stellte er den Leiter vor versammelter Mannschaft wütend zur Rede – und wurde wegen dieser Meuterei dazu verdonnert, die Umgebung zu erforschen, statt zum Südpol zu reisen. Im farbigen endlosen Weiss Nun hat der Bergsteiger Reinhold Messner, der 1989/1990 selbst die Antarktis über den Südpol durchquerte, dieser schillernden Figur der Polarforschung ein mitreissendes Buch gewidmet. Es erzählt aus der Ich-Perspektive eines Helden, der, auch nach der Rückkehr gnadenlos von Amundsen geschnitten sowie von Frau, Kindern und Freunden verlassen, einsam und dem Alkohol verfallen Selbstmord beging. Es ist die traurige Biografie eines der besten Skiläufer und Hundeführer seiner Zeit, der nach der Reise zu seinen extremen «Sehnsuchtspunkten» im norwegischen Alltag nicht mehr heimisch wird. Vor allem aber macht das Buch zumindest erahnbar, welche Strapazen die monatelange Dunkelheit und Temperaturen von minus 60 Grad Celsius den Pionieren der Polarforschung abverlangten. So gewinnt selbst das schier endlose Weiss der Pole narrativ kräftig an Farbe. «Hätten wir überlebt, ich hätte eine Geschichte zu erzählen gehabt von der Kühnheit, Ausdauer und Tapferkeit meiner Gefährten, die das Herz eines jeden Engländers gerührt hätte», schreibt Scott in seinem Tagebuch. «Stattdessen müssen diese groben Skizzen und unsere Leichen die Geschichte erzählen.» Den zahlreichen Geschichten des Scheiterns am Südpol haben sich seitdem zahlreiche Bücher gewidmet. «Das Eis und der Tod», «In den eisigen Tod» und «Pol» gehören – neben Scotts Tagebuch – eindeutig zu den besten. l Mit bigen 159 far ungen Abbild 816 S., 159 Abb., 4 Karten. Format 17,0 x 24,0 cm. Geb. sFr 56,90 (UVP) ISBN 978-3-406-62147-5 „Macht süchtig“ Tilman Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung „Ein Fenster auf die Geschichte der Welt … Der Band ist eine Schatzkammer.“ <wm>10CAsNsjY0MDAx0jUwMLI0NAYAlR0cNA8AAAA=</wm> <wm>10CFVMuwqAMBD7opbk6rU9bxQ3cRD3LuLs_0-2bkIehIRsm2vEx2Xdz_VwApMEQIzJqRoN2UvVSCtOEgJyJmViNq2_fQAtJ6Q2NmEArav0vjappYfx0E0SJD7X_QICSwh7gAAAAA==</wm> Urs Hafner, NZZ Kopf aus Ife © British Museum Niederlage aus einem Konglomerat von schlechtem Wetter, unglücklichen Rückschlägen, dummen Zufällen und fatalen Fehlentscheidungen zusammensetzte: Während sich Scotts Motorschlitten für die frostigen Temperaturen als unbrauchbar erwiesen und seine Ponys im aufgetauten Eis nicht vorankamen, sodass der Trupp die Schlitten letztendlich selber ziehen musste, reiste der geografisch ohnehin günstiger positionierte Amundsen mit seinen Hunden relativ problemlos zum Pol – und in nur 99 Tagen fast schon gemütlich wieder zurück zu seiner Basisstation. C.H.BECK www.chbeck.de 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Geschichte Politiker aus Ost und West tauschen sich über die unterschiedlichen historischen Erfahrungen ihrer Länder aus – ein Beitrag wider das Vergessen Zsuzsa Breier, Adolf Muschg (Hrsg.): Freiheit, ach Freiheit. Vereintes Europa – geteiltes Gedächtnis. Wallstein, Göttingen 2011. 247 Seiten, Fr. 24.50. Von Dieter Ruloff Der Mensch gewöhnt sich sehr rasch an vieles, auch an das Gute und Angenehme. Und weil Erinnerung wohl nützlich, aber auch schmerzhaft sein kann, hat das Vergessen mitunter seinen Nutzen. «Ohne Vergessen sei es ganz und gar unmöglich zu leben», hat Nietzsche einmal festgestellt. So ist es in Westeuropa wohl auch mit Freiheit und Wohlstand. Beides ist zur Normalität geworden. Dass die Freiheit einmal erstritten, der Wohlstand erst erarbeitet worden ist, gerät oft in Vergessenheit. Darauf angesprochen wird niemand die Sache in Frage stellen, aber diese Dinge zu thematisieren überlässt der Zeitgenosse gerne Historikern und Philosophen. Ganz anders liegen die Dinge in Mittel- und Osteuropa. Hier ist die Zeit von Diktatur und Mangel zumindest der älteren Generation noch sehr präsent. Die friedliche Wende der Jahre 1989–91 erzeugt rückblickend immer noch Staunen und Dankbarkeit. Das kollektive Gedächtnis der Europäer ist also partiell zumindest ost-westlich geteilt, Folge der asynchronen historischen Entwicklung, die der Kontinent nach dem Ende des zweite Weltkriegs genommen hat: Befreiung vom Alptraum des Krieges und der Bedrohung durch die faschistische Ideologie im Westen, danach Wiederaufbau mit Hilfe des Marshallplanes, im Osten hingegen sowjetische Herrschaft und Mangelwirtschaft, ein Verharren in der Tyrannei für weitere 44 lange Jahren. Zwei Berliner Vortragsreihen der letzten beiden Jahre hatten die Thematik des «Doppelgedächtnis» der Europäer zum Gegenstand. Eingeladen waren prominente Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Publizistik, ihre Gedanken zum Thema und ihre eigenen Erinnerungen an den Gegenstand in Worte zu fassen. Die Referenten kamen von Ost und West: Marianne Birthler, die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, und ihr Vorgänger Joachim Gauck; Wolfgang Schäuble, der deutsche Finanzminister; Karl Schwarzenberg, der Chef des Hauses Schwarzenberg und aktueller Aussenminister Tschechiens; Radoslaw Sikorski, der Aussenminister Polens; Vaira Vike-Freiberga, die vormalige Staatspräsidentin Lettlands, und mehr als dreissig weitere Redner. Herausgegeben und eingeleitet haben den Sammelband Zsuzsa Breier, die das von ihr gegründete Ost-West-Forum «Dialog-Kultur-Europa» in Berlin leitet, und der Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschafter Adolf Muschg. Entstanden ist eine faszinierende Sammlung von Meinungen und Erlebnissen ganz unterschiedlicher Art, deren Ziel jedoch ein Gemeinsames ist: Die Achtung für Freiheit und Wohlstand zu fördern, wider das Vergessen zu wirken und Verständnis für einander zu fordern und fördern. Geschichte ist identitätsstiftend, sie «steht für den Mann» — so hat dies der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe einmal auf den Punkt gebracht. Unterschiedliche Geschichtserfahrung produziert also zwangsläufig verschiedene Identitäten. Das «neue» Europa, wie es STEPHEN JAFFE / CAMERA PRESS / KEYSTONE Das neue gegen das alte Europa Geschichte stiftet Identität: Nach dem Mauerfall in Berlin 12. November 1989. der vormalige amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Jahre 2003 nannte, sah den Krieg der Amerikaner im Irak natürlich mit ganz anderen Augen als Deutsche und Franzosen: Die Befreiung Iraks vom Despoten hier, ein weiteres Militärabenteuer Bushs dort. Werden die «alten» und «neuen» Europäer zueinander finden? Karl Schwarzenberg ist skeptisch: «Das Bewusstsein, wie sehr wir uns gegenseitig belogen haben, wie sehr wir uns womöglich weiterhin belügen werden — das wird das Prägende sein …» Man kann es aber auch optimistischer sehen: Die grosse Osterweiterung der EU von 2004 hat zumindest die Grundlagen für ein zukünftiges Miteinander gelegt, und die gemeinsame Geschichte wird das Ihre dazu tun. Aber bis dahin, so scheint es, ist es noch ein langer Weg. ● Dieter Ruloff ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Zürich. Soziale Medien Die Rolle von Internet-Netzwerken bei politischen Umbrüchen ist umstritten Startet man die Revolution jetzt per Internet? Matthias Bernold, Sandra Larriva Henaine: Revolution 3.0. Die neuen Rebellen und ihre digitalen Waffen. Xanthippe, Zürich 2011. 162 S., Fr. 27.90. Von Reinhard Meier Seit dem unerwarteten «Arabischen Frühling» zu Beginn dieses Jahres sind Thesen über die Bedeutung des Internets und die neuen sozialen Medien für politische Umbrüche ein beliebtes Thema. Nun wird niemand bestreiten, dass mit Hilfe von E-Mails, TwitterNachrichten oder Facebook-Netzwerken die Möglichkeiten zur Mobilisierung von Aktionsgruppen phänomenal erweitert worden sind. Aber sind diese neuen «digitalen Waffen» tatsächlich die entscheidenden Instrumente, um 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 Tyrannen zu stürzen oder dem Widerstand gegen ein umstrittenes Bauprojekt zum Durchbruch zu verhelfen? Die beiden Journalisten Matthias Bernold und Sandra Larriva Henaine wollten Schlagwörtern wie «TwitterRevolution» oder «Online-Protest» auf den Grund gehen. Sie haben in zehn Reportagen mit Akteuren ganz unterschiedlicher Bewegungen gesprochen und deren Methoden und Ziele unter die Lupe genommen. Beschrieben wird etwa die Rolle der jungen ägyptischen Video-Bloggerin Sarrah Abdelrahman, Tochter aus gutem Haus, Studentin der amerikanischen Universität in Kairo, die mit Leidenschaft Tweeds und VideoFilme über die Ereignisse auf dem Tharir-Platz verbreitet. Andere Fallbeispiele handeln vom Protest gegen den Untergrund-Bahnhof Stuttgart, den Widerstand gegen Zensoren in der Türkei oder das skurrile «Staatsgründungsprojekt» des Thurgauer Unternehmers Daniel Model, das mit dem Internet aber wenig zu tun hat. Die Erfolge der angeblich «neuen Rebellen» fallen, gemessen an den oft euphorischen Erwartungen, in den meisten Fällen ernüchternd aus. Das Internet erleichtert zwar die Aktivierung von Gleichgesinnten, doch ohne glaubwürdige charismatische Führungsfiguren und strategische Köpfe, die in der realen Welt die Zügel in die Hand nehmen, versanden und zerfasern solche Aufwallungen bald. Das zeigt auch die rasche Entzauberung des egomanischen Wikileaks-Guru Julian Assange. Ob mit den digitalen Netzwerken eine neue Ära der Politikbegeisterung beginne, fragen die Autoren. Man darf es bezweifeln. ● Doppelbiografie Marlene Dietrich und Leni Riefenstahl: zwei deutsche Primadonnen So schön wie egozentrisch Karin Wieland: Dietrich & Riefenstahl. Der Traum der neuen Frau. Hanser, München 2011. 632 Seiten, Fr. 37.90. Von Ina Boesch Die Dietrich und die Riefenstahl – kaum jemandem käme in den Sinn, die beiden Diven in einem Atemzug zu nennen. Politisch hatten sie das Heu nicht auf derselben Bühne, paktierte doch die Filmregisseurin Leni Riefenstahl mit den Nationalsozialisten, die Filmschauspielerin Marlene Dietrich hingegen mit den Amerikanern. Auch privat kreuzten sich ihre Wege kaum, ausser dass sie zu Anfang ihrer Karriere im gleichen Berliner Boxstudio trainierten. Und von gegenseitigem Respekt kann keine Rede sein, im Gegenteil verabscheuten sich die beiden von Herzen. Nun führt die Berliner Autorin Karin Wieland, die vor einigen Jahren mit ihrer Biografie über Mussolinis Geliebte Margherita Sarfatti bekannt geworden ist, die beiden so unterschiedlichen Ikonen des 20. Jahrhunderts in einer Doppelbiografie zusammen und findet über das Geburtsdatum und den Geburtsort hinaus (1901 respektive 1902 in Berlin geboren) so manche Parallelen. Beide mussten sich von amusischen Elternhäusern emanzipieren; beide waren gezwungen, ihren Traumberuf aufzugeben; beide kamen über Umwege zum Film; beide waren als Schauspielerinnen wenig talentiert; beide führten ein befreites, äusserst aktives Sexualleben und waren mit grossen Künstlern der damaligen Zeit liiert – wenn auch unfähig für eine längere Paarbeziehung; beide waren egozentrisch und allein auf ihren Erfolg bedacht; beide starteten mit fünfzig Jahren eine weitere Karriere; beide blieben bis ins hohe Alter Stars und dank Frischzellenkuren «jung». Und – zentral für das Film- und Showgeschäft – beide waren auffallend schön. Marlene Dietrich (links), Anna-May Wong und Leni Riefenstahl (rechts) posieren an einem Ball in Berlin 1928. Schriftsteller Erich Maria Remarque, den Schauspielern Jean Gabin, Elisabeth Bergner oder Yul Brynner. Auch Leni Riefenstahl nahm sich berühmte Männer. So eroberte sie beispielsweise den damaligen Tennisstar Froitzheim, indem sie unverfroren an seiner Haustür läutete und um ein Rendez-vous bat, oder sie lachte sich an der Ostsee den österreichischen Banker Sokal an, der – neben Hitler – zum wichtigsten Financier ihrer Filme werden sollte. Ausführlich widmet sich die Autorin Riefenstahls Verwicklung ins NS-Regime. Dank der Anfang der neunziger Jahre in Moskau entdeckten GoebbelsTagebücher kann belegt werden, dass Riefenstahl viel früher als behauptet mit den Nazis zusammenspannte, dass sie log wie gedruckt und ihre Biografie schönte. Diese Tatsache ist nicht neu, doch Wieland geht es nicht in erster Linie um die Auflistung dieser und jener Details, vielmehr will sie vorführen, wie sehr sich die beiden Starlets in ihrer Lebensgestaltung vom damaligen Frauenbild unterschieden haben: Dietrich und Riefenstahl waren wirtschaftlich unabhängige, sozial selbständige, berufstätige Frauen. Wie viel dieser neue Typ Frau dem neuen Medium Film verdankt, wird leider nur zwischen den Zeilen deutlich. Zwar betont Wieland, dass man in den Zwanzigerjahren dem Wort misstraute und auf den Körper setzte, sei es im Tanz oder im Schauspiel, doch wie sehr der Film Dietrich half, sich zu inszenieren, und Riefenstahl befähigte, andere zu inszenieren, thematisiert sie nicht explizit. Gelungenes Porträt Karin Wieland ist nicht die erste, die die beiden Primadonnen zusammenbringt. Ende der Neunzigerjahre hat die deutsche Schriftstellerin Thea Dorn ein Hörspiel/Theaterstück geschrieben mit dem sinnigen Titel Marleni. Darin lässt sie die hochbetagte Riefenstahl ins Zimmer der ebenso betagten Dietrich dringen, um diese für einen gemeinsamen Film zu gewinnen. Während Dorn mit beiden Diven nicht gerade zimperlich umspringt, macht Wieland kein Hehl daraus, wem ihre Sympathie gilt: Marlene Dietrich, was nicht überrascht und ihr nicht zu verdenken ist. Wielands eindeutige, in jeder Zeile spürbare (wenn auch nachvollziehbare) Abneigung gegen Leni Riefenstahl schmälert jedoch das Lesevergnügen dieser ansonsten gelungenen Doppelbiografie. ● Möglicherweise glichen sie sich auch äusserlich mehr, als ihnen lieb war. Dies suggeriert zumindest die Fotomontage von den übereinander gelegten Porträts der beiden Frauen auf dem Buchumschlag: Perfekt geschminkter Mund mit ausgeprägter Unterlippe, vieldeutiges Lächeln, grosse Augen. Mit solchen Äusserlichkeiten hält sich Wieland nicht lange auf, vielmehr beschreibt sie anhand von reichem Quellenmaterial sehr anschaulich und klug die Lebensstationen, die Filme und das Beziehungsnetz der berühmten Frauen und lässt so Kultur und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts Revue passieren. Dabei befriedigt sie auch die voyeuristische Neugier nach dem «Wer mit wem»: Marlene Dietrich pflegte herausfordernde Liebschaften mit ausgeprägten Künstlerpersönlichkeiten jener Zeit wie dem Regisseur Josef von Sternberg, dem ALFRED EISENSTÄDT / AP Zwei emanzipierte Frauen 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Biografie Zwei Neuerscheinungen porträtieren den Schriftsteller der Romantik Novalis Todessüchtiger philosophiert über die Liebe Wolfgang Hädecke: Novalis. Biografie. Hanser, München 2011. 399 Seiten, Fr. 34.90. Gerhard Schulz: Novalis. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs. C. H. Beck, München 2011. 298 Seiten, Fr. 35.50. Es waren schöne, einfache Zeiten, als Novalis-Biografen noch an der Legende vom todessüchtigen Schwärmer stricken konnten. Leben und Werk bildeten eine fugenlose Einheit. Alles, was diesen schlechthinnigen Romantiker bewegte, war demnach zurückzuführen auf ein Schlüsselerlebnis: den Tod seiner fünfzehnjährigen Braut Sophie von Kühn im März 1797 und seinen Entschluss, ihr «nachzusterben». In den vier Jahren bis zu seinem eigenen frühen Verscheiden schrieb er berückende, rätselhafte Dichtungen wie die «Hymnen an die Nacht», die um Themen wie Liebe und Tod, himmlisches Heimweh und ätherische Verwandlung kreisen. Zu dieser ergreifenden Geschichte passte das einzige Bild des Poeten, das die Nachwelt kannte: der Kupferstich eines gewissen Eduard Eichen, der ab 1846 jede Novalis-Ausgabe zierte. Ausgehend von einem anspruchslosen Novalis-Portrait im Familienbesitz schuf Eichen postum das Antlitz, das der Legende entsprach: der Träumer mit dem weichen Gesichtsoval, dem mädchenhaften Schmollmund, den seelenvollen Rehaugen und der hohen Stirn, von der die langen Locken hinabwallen. So musste er ausgesehen haben, der «göttliche Jüngling, der nur auf der Erde wandelte, um sich bald wieder zu dem geliebten Land seiner Sehnsucht aufzuschwingen», so ein Lexikon von 1817. Ein Workaholic Das heutige Novalis-Bild ist sehr viel nüchterner und komplizierter. Seit 1960 erscheint die Kritische Ausgabe seiner Schriften, die akribisch das theoretische Werk und die Berufstätigkeit des angeblichen Weltflüchtlings dokumentiert. Friedrich von Hardenberg, so sein eigentlicher Name, war – wie man nun sehen konnte – ein blitzgescheiter Philosoph in der Nachfolge Kants und Fichtes, ein genauer Kenner der Naturwissenschaften seiner Zeit und ein wahrer Workaholic in seinen Brotberufen als Verwaltungsbeamter und Salineningenieur. Verständlich, dass sich angesichts dieser facettenreichen Persönlichkeit selbst ausgewiesene Kenner nicht mehr an das Projekt einer umfassenden Biografie wagten. 1969 veröffentlichte Gerhard Schulz, einer der Herausgeber der Kritischen 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 STAR-MEDIA Von Manfred Koch Novalis-Museum auf Schloss Oberwiederstedt, Sachsen-Anhalt, wo Novalis (1772–1801) Kindheit und Jugend verbrachte. Ausgabe, eine vorzügliche Kurzdarstellung von Leben und Werk. Dabei blieb es für mehr als vierzig Jahre. Mittlerweile ist Schulz der Nestor der Novalis-Forschung, ein Germanist, der sich wie wenig andere in der Literatur um 1800 auskennt, dazu ein Stilist von hohen Graden, der sein Wissen anregend und erhellend auch Nicht-Spezialisten zu vermitteln versteht. Verwegene Erotik Als der Beck Verlag für den Herbst 2011 sein neues Buch über «Leben und Werk» Hardenbergs ankündigte, durfte man deshalb gespannt sein. Nun, die NovalisExperten werden zunächst enttäuscht sein. Es ist keine neue Biografie, sondern eine durch biografische Überleitungen verbundene Sammlung von Schulz’ wichtigsten Novalis-Aufsätzen aus den letzten drei Jahrzehnten. Aber diese Aufsätze haben es in sich und deshalb längst verdient, einem grösseren Publikum vorgestellt zu werden! Am Anfang steht eine Studie über NovalisBildnisse, die das ganze Spektrum der Mythisierung bis hin zur gnadenlosen Verkitschung vorführt; der zweite Teil besticht durch kluge Interpretationen berühmter Gedichte wie «An Tieck», «Das Lied der Toten» und «Hymnen an die Nacht». Das Glanzstück sind die Ausführungen zu «Novalis’ Erotik» im Mittelteil. Schulz erläutert die verwegene Liebesphilosophie Hardenbergs, die alle Gestalten des Eros gleichermassen würdigt: von der Anziehungskraft, die das Universum zusammenhält, bis hin zu den körperlichen Begierden. Von der Lust auf «Busenberührung» und «Griff an die Geschlechtsteile» (auch die eigenen) handelt vielfach das «Journal», das er nach Sophies Tod führte. In teils kuriosen Formulierungen («Das Gehirn gleicht den Hoden») versucht Novalis, Spirituelles und Sexuelles zusammenzudenken, um, so Schulz, «zu erfassen, was menschliche Existenz in ihrer Totalität ausmacht». Da er hierbei auch die Abgründe der menschlichen Triebnatur nicht ausklammert, rückt der romantische Jüngling in verblüffende Nähe zu seinem Zeitgenossen de Sade. Solche Überraschungen erlebt der Leser von Wolfgang Hädeckes «Novalis» leider nicht. Es handelt sich tatsächlich um die erste grosse Biografie, die auf der Grundlage der Kritischen Ausgabe und der vielen neueren Spezialstudien zum experimentellen Denk- und Sprachstil Hardenbergs entstanden ist. Fraglos ein kenntnisreiches, ansprechend formuliertes und argumentativ ausgewogenes Buch. Aber die bemühte Korrektheit ist auch sein Problem. Man vermisst einen energischeren individuellen Zugriff; oft versteckt sich Hädecke hinter Urteilen renommierter NovalisForscher (wie Schulz). Unter dem Strich ist es wieder ein recht frommer Novalis und auch die totale Entmythisierung des «Sophienerlebnisses» macht Hädecke nicht mit. Das ist grundsätzlich legitim. Aber muss man Hardenbergs Tuberkulose psychosomatisch auf den «ins Unbewusste abgesunkenen Todeswunsch» nach dem Verlust der Geliebten zurückführen? Vermutlich hat er einfach zu viel gearbeitet. ● Wirtschaftsgeschichte Der Europa Verlag legt die Gottlieb-Duttweiler-Biografie von Curt Riess neu auf – ein immer noch faszinierendes Unternehmerporträt Der Mythos vom sozialen Kapital Zucker, Kaffee, Teigwaren, Fett und Seife. Duttweiler, der immer ein wenig an zu grossem Optimismus litt, war ein sozialer Arbeitgeber. In der Krise entliess er kaum Leute, sondern placierte sie in andere Zweige um. Er setzte durch, dass ein Prozent des Umsatzes für kulturelle, soziale und politische Zwecke eingesetzt wird («Kulturprozent»). 1940 wandelte er die Aktiengesellschaft in eine Genossenschaft um und verschenkte die Anteilscheine zu je 30 Franken seinen Kunden – die M-Familie entstand und damit der Mythos vom «sozialen Kapital» und dem «dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kollektivismus». Schon früh wurde der Mann mit Zigarre, breitrandigem Hut und mächtigem Bauch, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Churchill aufwies, auch zum Volkstribun und Politiker. Einer, der seine Gegner mit Lust provozierte, anprangerte und vor Gericht zog. Der Boykotte unterlief, Monopolisten bekämpfte und Kartelle zum Einsturz brachte. Der sich den Mund von Verbänden, Behörden und Mitbewerbern nie stopfen Curt Riess: Gottlieb Duttweiler. Eine Biografie. Vorwort Karl Lüönd. Europa, Zürich 2011. 408 Seiten, Fr. 38.–. Von Urs Rauber Als der in Zürich lebende deutsche Bestsellerautor Curt Riess (1902–1993) die umfassende Biografie über MigrosGründer Gottlieb Duttweiler 1958 abschloss, war dieser gerade 70 geworden und auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Der «Lebensmittelheiland» hatte bereits damals die Schweiz stärker verändert als jeder andere im 20. Jahrhundert – so Karl Lüönd in seinem Vorwort zur unveränderten Neuausgabe. Das ist exakt auf den Punkt gebracht: Gottlieb Duttweiler (1888–1962) revolutionierte nicht nur das Preisgefüge des damaligen Spezerei- und Detailhandels. Er wollte seinen Kundinnen – der Hausfrau, die täglich rechnen muss – nicht allein das Budget entlasten, sondern ihren Konsum-Radius erweitern. Indem er günstige Ferien organisierte (Hotelplan), Weiterbildung anbot (Klubschule), Treibstoff und Heizöl verbilligte (Migrol), Bücher und Schallplatten unters Volk brachte (Ex Libris), Kredite und Hypotheken für Kleinverdiener möglich machte (Migrosbank). Angefangen hatte der Zürcher Unternehmer als 12-jähriger Bub mit dem Verkauf selbstgezüchteter Kaninchen. Nach seiner KV-Lehre reiste er in die Welt hinaus und sah, wie man günstig Kaffee und andere Waren einkaufen und absetzen konnte, wenn man den Zwischenhandel ausschaltete. Mit 19 wurde Duttweiler Junior-Partner seiner Lehrfirma. Und nach intensiven Marktabklärungen liess er am 25. August 1925 erstmals fünf Lastwagen auf festgelegten Routen durch Zürich fahren, um den zögernden, teils misstrauischen Käuferinnen jene sechs Lebensmittel anzupreisen, die jede Hausfrau im Alltag brauchte: Reis, Seit 86 Jahren eine Erfolgsstory: Begonnen hatte die Migros 1925 mit fünf Verkaufslastwagen. Hier ein Gefährt aus den späten 40er-Jahren. Aymo Brunetti Wirtschaftskrise ohne Ende? Bestellungen hep verlag ag Brunngasse 36 Postfach 3000 Bern 7 Tel. 031 310 29 29 Fax 031 318 31 35 info@hep-verlag.ch liess. Eine Persönlichkeit mit Feuer, Leidenschaft und Charisma. 1935 gründete Dutti den «Landesring der Unabhängigen», eine Art Vorläuferin der grünliberalen Bewegung, die ihn und später weitere unabhängige Geister und Querdenker wie den Historiker Marcel Beck, den Kabarettisten Alfred Rasser, den Zürcher Stadtpräsidenten Sigmund Widmer oder die Konsumentenschützerin Monika Weber in den Nationalrat brachte. Duttweiler war auch Zeitungsgründer: der legendären «Tat» (1935–1978) und des «Brückenbauers» (seit 1942, heute «Migros-Magazin»). Riess hat ein euphorisierendes, dennoch nicht unkritisches Patronporträt verfasst, das flüssig und spannend geschrieben und auch heute noch mit Gewinn zu lesen ist. Die sorgfältig gestaltete Neuauflage lässt ein Stück Schweizer Unternehmer- und Konsumentengeschichte aufleben. Die Faszination über den Tellerwäscher-Aufstieg dieses Marktschreiers, Volksbeglückers und Querulanten vermag den Leser zu packen und lässt ihn den Staub der Sprache vor 50 Jahren vergessen. ● 2. Auflage 2011 176 Seiten, Hardcover CHF 29.– / EUR 22.– <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0sTQ1MQAAc7pgOg8AAAA=</wm> «Empfiehlt sich gleich aus drei Gründen: Es ist verständlich und unaufgeregt geschrieben, klar und anschaulich strukturiert und endet auf Seite 176 – auch Menschen mit wenig Zeit ist das durchaus zumutbar.» <wm>10CFVMuwrDMBD7IhtJdza5eAzZQobS3UvI3P-famcL6IGE0HG0kvFw28_v_mkEvCR6FB99lLy4GsOyaTgJgVxJubxWvvYJjGqwPjdpAn2olCw6lhnmwzAZlH_X_QdlOEfjgAAAAA==</wm> ISBN 978-3-03905-774-0 Frankfurter Allgemeine «Krisenkunde für Einsteiger.» Neue Zürcher Zeitung Von der Blase auf dem US-Immobilienmarkt bis zur aktuellen Eurokrise – Aymo Brunetti liefert eine Orientierungshilfe zu vier Jahren Krise. 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Film Greta Garbo und Salka Viertel verband eine lebenslange Freundschaft in Hollywood Die Göttliche und die Irdische Nicole Nottelmann: Ich liebe dich. Für immer. Greta Garbo und Salka Viertel. Aufbau, Berlin 2011. 288 Seiten, Fr. 32.90. Von Martin Walder Es ist im Frühjahr 1930. In Beverly Hills gibt Ernst Lubitsch eine Dinnerparty. Auf dem Sofa thront Marlene Dietrich, neben ihr, schmal und im Jackett, Greta Garbo. Die Schwedin ist in den USA schon ein Star, «der blaue Engel» Marlene soll dort zu einem werden. Die Schauspielerin Salka Viertel, deren Mann, der Regisseur und Dichter Berthold Viertel, auf Murnaus Ruf nach Hollywood gekommen war, wird der Garbo vorgestellt. Sie möchte sich neben sie setzen, Marlene tut keinen Wank. So verziehen sich die beiden auf die Terrasse, und eine Freund-, Lieb- und Partnerschaft beginnt, die erst 1978 mit Salkas Tod in Klosters endet. In Viertels lesenswerter Autobiografie «Das unbelehrbare Herz» von 1969 findet sich die hübsche Anekdote auch, Marlene tritt dort aber bloss als «der deutsche Star» auf. Salka, mit Intelligenz, Ironie und Energie gesegnet, wusste ein Image von sich und ihrer intimen Beziehung zur Garbo zu entwerfen und wusste, wo und wann sie schweigen wollte. Hier leuchtet die Literaturwissenschafterin Nicole Nottelmann unter die Oberfläche. Was sie da entdeckt und detailliert nacherzählt, ist die Geschichte einer Frauenbeziehung, die alle Höhen und Tiefen zwischen Erfolg und Depressionen, Liebe und Entfremdung durchläuft und dabei eine komplizierte Balance hält. «Ich liebe dich. Für immer» heisst das Buch nach einer Briefpassage der Garbo. Das klingt absolut und so wahr, wie die beruflichen und die Gefühlsverstrickungen zwischen den ungleichen Frauen immer wieder auch (selbst)zerstörerische Kräfte freisetzten. Salka war fast zwanzig Jahre älter, gebildet, aus galizischem Grossbürgertum stammend; ihr Haus an der Marbery Street in Santa Monica war berühmt als Emigrantentreffpunkt, sie amtierte als «Mutter von ganz Kalifornien» (Carl Zuckmayer), später, in der unseligen McCarthy-Zeit als eine Mutter Courage, die kein Blatt vor den Mund nahm. Greta Gustafsson dagegen wuchs als Arbeiterkind zu fünft in einer Einzimmerwohnung auf. Als Entdeckung des Regisseurs Mauritz Stiller, der sie zur «Garbo» machte, wurde sie zum Inbegriff der androgyn unnahbaren Schönheit, war scheu und verletzlich, was sie aber gleichzeitig als Image des verführe- rischen Vamps zu kultivieren wusste. Mit «Königin Christine» nahm die berufliche Partnerschaft von Salka und Greta ihren Anfang. Die Figur der historischen schwedischen Königin in ihrer Bisexualität war für Salka auf Garbo zugeschnitten. Und beide profitierten: Die Garbo hatte eine Beschützerin gefunden, Viertel einen Zugang und damit Arbeit als Autorin und Beraterin des Stars bei MGM. Über Jahre behauptete sie bei deren Studiobossen einen Status sozusagen als «Vorzimmerdame» für den schwierigen Star, vergleichbar vielleicht der Rolle als Coach, wie sie Paula Strasberg für Marilyn Monroe einnahm. Vor allem aber war Salka Impuls- und Ideengeberin, psychische Stütze, Ersatzmutter. Und: Sie war Gretas Geliebte – wie konkret, bleibt deren Geheimnis. Nottelmanns doppelbiografische Darstellung gibt anschaulich Einblicke in das alte Studiosystem, in dem sich die Garbo dank Viertel «als einzige der ehemaligen Stummfilmdiven und länger als fast jeder andere weibliche Hollywoodstar mit Ausnahme von Joan Crawford und Norma Shearer» halten konnte. Und sichtbar wird die Unbehaustheit aller Beteiligter vor dem Drama des 20. Jahrhunderts mit Weltkrieg, Migration, mit seinen Moralvorstellungen und seinen politischen Hysterien. ● Essays Der Literaturkritiker George Steiner legt seine besten Arbeiten aus dem «New Yorker» vor Von der Lust am Provozieren George Steiner: Im Raum der Stille: Lektüren. Suhrkamp, Berlin 2011. 271 Seiten, Fr. 34.90. Von Arnaldo Benini Lesen, sagt George Steiner, ist ein kompliziertes und grosses Abenteuer. Man sollte sich einem Text mit Bedacht und Zurückhaltung nähern. Von den «peinlichen selbstverliebten Gaukeleien» der zeitgenössischen Kritik hält er nichts. Der wahre und bedeutende Kritiker, so Steiner, ist ein Briefträger, der dem Empfänger einen sprachlich einwandfreien Brief zuwirft. Seine Bildung und seine Weltläufigkeit machen ihn selbst zum idealen Briefträger. George Steiner wurde 1929 in Paris geboren. Fünf Jahre zuvor war sein Vater aus Wien in die französische Hauptstadt gezogen. Er war einer der wenigen Juden, die schon in den frühen zwanziger Jahren bemerkten, dass ihresgleichen in Deutschland und Österreich die Vernichtung drohen konnte. Später zog die Familie in die USA. Steiner ist dreisprachig aufgewachsen, deutsch, französisch und englisch. Seine Mutter, eine Wiener Jüdin, beendete einen Satz selten in der Sprache, in der sie ihn begonnen hatte. Steiner lernte zudem Italienisch, das sich seiner Meinung nach 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 «für eloquente Hohlheit» eignet, sowie Latein und Griechisch. Von 1974 bis 1994 war er Dozent für vergleichende Literaturwissenschaften in Genf und Cambridge, wo er heute lebt. Zwischen 1967 und 1997 hat Steiner für die Wochenzeitschrift «The New Yorker» über 130 Rezensionen und Essays verfasst. Die liberale amerikanische Publikation war von Beginn an ein Pantheon zeitgenössischer Literatur, zählten zu ihren Mitarbeitern Borges, Nabokov, Salinger, Brodsky und andere. Steiner trat die Nachfolge des Kritikers Edmund Wilson an, der ihm den Rat erteilte, sich niemals scheiden zu lassen; die opulenten Honorare seien an seine drei Ex-Frauen gegangen. Die Mitarbeit Steiners endete abrupt, als die Leiterin des Magazins, Tina Brown, erfuhr, dass er herumerzählte, der «New Yorker» werde allmählich trivial. Steiner rezensierte Monografien über historische Figuren sowie Werke von Erzählern und Essayisten. 2009 ist in den USA eine Sammlung von 33 Artikeln erschienen, während die deutsche Ausgabe lediglich 16 Beiträge enthält – darunter jene über Cioran, Canetti, Brecht, Kraus, Bernhard, Celan, Albert Speer und Celine. Herausragend ist das Porträt über Hermann Broch, einen heute fast vergessenen Autor. Der Briefwechsel zwischen Walter Benjamin und Gershom Scholem wird als literarisches und philosophisches Meisterwerk dargestellt. Erhellend ist der Essay über Brecht, dessen Gedichte und Schauspiele für Steiner «zu den schönsten unseres Jahrhunderts» gehören. Steiner erinnert daran, dass Brecht auf die Frage, weshalb er in Moskau nicht um Asyl gebeten habe und in die USA gereist sei, antwortete: «Ich bin ein Kommunist, kein Idiot.» Weitere Themen sind die Schicksalsschläge des Kunstkritikers Anthony Blunt, der für die Russen spionierte, und der Essay über die «Traurigen Tropen» von Claude Lévi-Strauss. Schade, dass in der deutschen Ausgabe die Aufsätze über Goethe, Kafka, Musil, Thomas und Heinrich Mann fehlen. Susan Sonntag sagte, der Essayist Steiner greife alles mit Ernsthaftigkeit und Lust an der Provokation auf. Obwohl er das Leben liebt, ist Steiner eine Stimme des zeitgenössischen Pessimismus. Die «weinerliche Kantilene» von E. M. Cioran lehnt er jedoch ab. Selbst im Jahrhundert von Auschwitz und in einer von Scharlatanen regierten Welt, sagt Steiner, sind Ciorans Trauersermone «Zeugnis einer massiven, gewaltsamen Vereinfachung.» Was ist von einem im Greisenalter gestorbenen Moralisten zu halten, für den jeder, der sich nicht vor dem dreissigsten Lebensjahr umbringt, ein Versager ist? ● Biografie Das Leben des berühmtesten Dokumentenfälschers des 20. Jahrhunderts, Adolfo Kaminsky, aufgezeichnet von seiner Tochter Lügen für die gute Sache Sarah Kaminsky: Adolfo Kaminsky. Ein Fälscherleben. Kunstmann, München 2011. 224 Seiten, Fr. 28.50. Von Fritz Trümpi Was sich liest wie ein hochspannender Polit-Krimi, ist in Wirklichkeit der nüchterne Erfahrungsbericht eines couragierten Zeitgenossen: Adolfo Kaminsky war der wohl berühmteste Dokumentenfälscher im 20. Jahrhundert, der seine illegale Kunst stets in den Dienst der guten Sache stellte. Seine Tochter Sarah Kaminsky, eine in Paris ansässige Schauspielerin und Drehbuchautorin, fertigte aus seinen unzähligen erschütternd-ergreifenden Geschichten eine spannungsvolle, in einfache Sprache gehüllte Ich-Erzählung, die sie geschickt mit Spots auf historische Brennpunkte des 20. Jahrhunderts verwob. Adolfo Kaminsky war zunächst selbst Opfer von Repression und Verfolgung: Im Sommer 1943 wurde die jüdische Familie in Paris verhaftet und ins Internierungslager Drancy deportiert. Nur dank dem Umstand, dass die Kaminskys die argentinische Staatsbürgerschaft besassen, kamen sie provisorisch wieder frei, woraufhin der noch keine zwanzig Jahre alte Adolfo für die Résistance als Ausweisfälscher tätig wurde. Dabei kam ihm zupass, dass er als Jugendlicher eine Färberlehre absolviert hatte und über stupende Chemiekenntnisse verfügte, die für eine erfolgreiche Fälschertätigkeit unerlässlich waren. Mit dem Ende der deutschen Besatzung in Paris war sein Fälscheraktivis- BENJAMIN BOCCAS Opfer der Judenverfolgung Sarah und Adolfo Kaminsky in der Fälscherwerkstatt in Paris, 2010. mus indes nicht vorbei: Bis zur Kapitulation der Achsenmächte stellte er deutsche Ausweise her, die es französischen Geheimdienstagenten erlaubten, auf feindlichem Territorium KZs ausfindig zu machen. Kaminsky war damit zum «staatlichen Fälscher» aufgestiegen, wenn auch nur kurzzeitig. Als er nach Kriegsende den Auftrag erhielt, Kartenmaterial für das von Frankreich okkupierte Indochina zu vervielfältigen, verzichtete er freiwillig auf eine vielversprechende Beamtenkarriere: «Spionage in Friedenszeiten war nicht meine Sache, und die Aussicht, mich an einem Kolonialkrieg zu beteiligen, erschreckte mich.» Privat am Abgrund Gefälschte Pässe, die Adolfo Kaminsky hergestellt hatte. Adolfo Kaminsky sehnte sich nach einem normalen Leben und wollte sich nur noch seiner grossen Leidenschaft, der Fotografie, widmen: «Jetzt, da der Krieg vorbei war, wollte ich nichts Illegales mehr tun.» Doch es kam rasch anders. 1946 begab er sich mit GIs auf eine Tour durch deutsche Flüchtlingslager, die bei ihm schockierende Eindrücke hinterliess. Wieder in Paris angekommen, begann er umgehend, im grossen Stil Papiere für «displaced persons» zu kreieren, die den KZ-Überlebenden die illegale Ein- wanderung nach Palästina ermöglichen sollten. In der Folge internationalisierte sich Kaminskys Tätigkeit zunehmend, und die Bestellungen für Passfälschungen kamen buchstäblich aus der ganzen Welt. Zunächst engagierte er sich für die Befreiung Algeriens, sodann produzierte er Pässe für Dominikaner und Haitianer, bis er schliesslich für die Revolutionäre Südamerikas zu arbeiten begann: «So lieferte ich 1967 Kämpfern und Gehorsamsverweigerern aus 15 verschiedenen Ländern falsche Papiere, und das war noch gar nichts im Vergleich zu den folgenden Jahren bis 1971.» Kaminskys privates Leben allerdings verlief zumeist am Rande des Abgrunds – amourös wie finanziell: Das Fälschen stellte er stets über seine Liebesbeziehungen, und obendrein musste dieses für den bekennenden Humanisten unbedingt unbezahlt bleiben. Über Wasser hielt er sich mit Fotoarbeiten, und wenn dies nicht ausreichte, beschritt er den Weg zum Pfandleihhaus. Er macht keinen Hehl daraus, dass er dieser Opfer nicht manchmal überdrüssig gewesen wäre, doch zugleich bekennt er: «Wenn ich nur eine Sekunde lang an jene Unbekannten dachte, deren Leben in meiner Hand lag, war mein Selbstmitleid sofort verflogen.» ● 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Sachbuch Metropole Der Historiker Simon Sebag Montefiore erzählt die 3000-jährige Geschichte Jerusalems Eine Stadt, die nie zur Ruhe kommt Simon Sebag Montefiore: Jerusalem. Die Biografie. S. Fischer, Frankfurt am Main 2011. 872 Seiten, Fr. 38.50. Von Geneviève Lüscher Bibel als Geschichtswerk Das erste Kapitel «Judentum» enttäuscht, respektive es rückt das Werk weit weg von der Historie in die Fiktion. Der Autor liest die Bibel, als wäre sie eine objektive Geschichtsquelle, und lässt eine klare Unterscheidung von Legenden und archäologischen Fakten vermissen. Personen wie David und Salomo oder Jesus sollen real existiert haben, obwohl es dafür bis anhin keinen einzigen Beweis gibt. Auch die Lesung der berühmten Inschrift auf der Tel-DanStele, die laut Sebag Montefiore die Existenz König Davids beweisen soll, ist unter Fachleuten umstritten. Man hätte sich als Leserin gerne eine strikte, neutrale Trennung der Fakten von den Ideologien gewünscht. Das ist keine einfache Aufgabe, gibt es doch für diese frühen Epochen kaum schriftliche Kurzweilige Aperçus Jerusalem heute, mit Klagemauer und Felsendom im Hintergrund. Die Ursprünge der Stadt sind jedoch älter. AVI HIRSCHFELD / BILDMASCHINE Nicht eine Biografie sollte es sein, nein: die Biografie Jerusalems will der Brite Simon Sebag Montefiore selbstsicher und dezidiert vorlegen. Der vielfach ausgezeichnete Historiker brillierte bis anhin mit Werken über Russland und die Sowjetunion, er widmete sich Persönlichkeiten wie Stalin und Katharina der Grossen. Über die Geschichte des Nahen Ostens berichtet er hier erstmals, obwohl er aus einer berühmten altjüdischen Familie stammt, die in Jerusalem selber Geschichte gemacht hat. Er habe, schreibt der Autor im Vorwort, nicht eine Geschichte als Abfolge gewaltsamer Umbrüche und radikaler Veränderungen darstellen wollen, sondern er «möchte zeigen, dass Jerusalem eine Stadt der Kontinuität und Koexistenz war, eine gemischte Metropole mit gemischten Bauten und gemischten Menschen». Und deswegen zeichne er die Geschichte wenn immer möglich anhand von Familien und Dynastien nach, jüdischen, christlichen, islamischen, um nur die wichtigsten zu nennen. Er wolle eine Geschichte Jerusalems ohne politische Agenda schreiben, für alle. Gleich die erste Karte am Schluss des Buches macht aber stutzig: Hier wird das Königreich David und Salomo mit scharf umrissenen Grenzen eingezeichnet, als seien diese Grenzen historische Fakten, was sie bekanntlich aber nicht sind. Quellen, sondern nur Bodenfunde, welche die an sie gestellten Fragen nicht beantworten können. Kommt erschwerend dazu, dass in Jerusalem ständig gebaut wurde und wird. Seit Jahrtausenden werden Gebäude abgerissen, neu gebaut, erweitert, was die archäologische Arbeit nicht eben erleichtert. Gerade für die Ursprünge der Stadt hätte man sich mehr Informationen gewünscht. Das erste Kapitel beginnt mit dem Unterkapitel «Die Welt Davids», als ob vorher nichts gewesen wäre. Zwar schreibt der Autor: «Als David die Burg Zion eroberte, war Jerusalem bereits alt». Diese wichtige Tatsache, dass die Stadt nämlich zuerst anderen «gehörte», geht unter. Die Kanaaniter, über die dank moderner Grabungen immer mehr bekannt wird, hätten ein eigenes Kapitel verdient. Man weiss heute, dass sie imposante Bauwerke bauten. Kanaan geriet dann unter ägyptische Herrschaft, bevor es – laut der Bibel – von David erobert wurde. Diese Informationen finden sich zwar verstreut, sie lassen aber kein Gesamtbild zu. Jerusalem verdankt seine Bedeutung nicht wie andere grosse Städte seiner Lage. Es befindet sich weder an wichtigen Handelsrouten noch an der Küste des Mittelmeers, sondern in einem unwirtlichen Bergland mit kargen Wasserressourcen. Jerusalem sei einzig bedeutend, weil es laut Sebag Montefiore eine «heilige Stadt» sei. Sie wurde zum irdischen Ort für die Kommunikation zwischen Gott und Mensch, zum Brennpunkt dreier Religionen, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam. Wie es dazu gekommen ist, schildert Sebag Montefiore auf fast 750 Seiten, gefolgt von einem umfangreichen Anmerkungsapparat, einer ebensolchen Bibliografie und verdankenswerterweise einem Register und Karten. 28 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 Das mit 200 Seiten umfangreichste erste Kapitel reicht bis zur Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. Kapitel 2 und 3 umfassen die nächsten 600 Jahre bis zur arabischen Eroberung und behandeln Christentum, Spätantike und Frühbyzanz auf gerade mal 50 Seiten. Auch die Kapitel «Islam», «Kreuzzüge», «Mamelucken», «Osmanen» und «Imperialismus» sind ähnlich kurz. Erst das letzte Kapitel «Zionismus» hat wieder mehr als 100 Seiten. Je weiter wir in der Zeit fortschreiten, desto detailreicher wird die Erzählung Sebag Montefiores. Denn die schriftlichen Quellen nehmen zu, die historischen Nebel lichten sich. Geschickt pickt der Autor aus den verschiedenen Epochen interessante Persönlichkeiten heraus, Männer und Frauen, bekannte Herrscherfiguren und Neuentdeckungen wie beispielsweise den Osmanen Evliya Celebi: 1611 in Istanbul geboren, bereiste er die Welt und schrieb einen witzigen zehnbändigen Reisebericht. Oder David Dorr aus Louisiana, ein schwarzer Sklave, der 1858 seinen Herrn auf Weltreise begleitete und über seine Erlebnisse ein Tagebuch führte. So erfährt der Leser anhand kurzweiliger biografischer Notizen von allerlei Beteiligten die komplizierte Geschichte dieser ruhelosen Stadt bis zum Sechstagekrieg 1967. Das liest sich flüssig und unterhaltsam, gar nicht wie ein trockenes Geschichtsbuch. Das liegt sicher auch daran, dass die Grenzen zwischen Doku-Fiktion und harten Fakten bisweilen leichtfüssig überschritten werden. ● Diplomatie Charles Maurice de Talleyrand gilt nicht nur als hochbegabter Politiker, sondern auch als zynischer Opportunist. Zu unrecht, wie Johannes Willms zeigt Gewiefter Diener Frankreichs Johannes Willms: Talleyrand. Virtuose der Macht 1754–1838. C. H. Beck, München 2011. 384 Seiten, Fr. 36.90. Charles Maurice de Talleyrand diente dem französischen Staat während mehr als fünfzig Jahren und unter fünf verschiedenen Regimen. Von den letzten Phasen des Ancien Régime bis zur Restauration bekleidete dieser Diplomat Posten sowohl unter Napoleon als auch unter dem wieder errichteten Königtum der Restauration. Dass Talleyrand Diener derart vieler Herren war, erschien vielen Zeitgenossen suspekt und trägt ihm bis heute das Image des zynischen Opportunisten ein. Johannes Willms, ein Publizist und Frankreichkenner, der schon Napoleon und Balzac gut lesbare Biografien gewidmet hat, hält diese Sicht für allzu einseitig. Dass sich Talleyrand den historischen Gegebenheiten jeweils sehr wendig angepasst hat, zeigt schon ein äusserst turbulenter Lebenslauf. Der seit 1788 als Bischof amtende Talleyrand erregte schon Anstoss, als 1789 in Frankreich die Generalstände – Klerus, Adel und Dritter Stand – einberufen wurden und ausgerechnet er als Vertreter der Kirche vorschlägt, den Kirchenbesitz zu verstaatlichen, um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Die Revolution schickt den liberal gesinnten Reformer daraufhin zunächst als Unterhändler nach London, ihre blutige Phase zwingt ihn jedoch ins Exil in die USA. Schon nach vier Jahren ist Talleyrand wieder in Paris und wird 1797 zum Aussenminister berufen. Er setzt auf den kommenden starken Mann und ist Mitorganisator des Staatsstreichs, der Napoleon 1799 an die Macht bringt. Doch der gewiefte Aussenpolitiker muss bald gewahren, dass Bonaparte Vorstellungen hat, die seinen eigenen ARCHIV GERSTENBERG / ULLSTEIN BILD Von Peter Durtschi Teilnehmer am Wiener Kongress (1814–1815) unter ihnen auch Diplomat Charles Maurice de Talleyrand (sitzend, der Zweite von links). diametral zuwiderlaufen: Geht es Napoleon spätestens ab 1805 um die Beherrschung des Kontinents, versucht Talleyrand, Bonapartes Machtstreben zu mässigen. Im Jahr 1808 vollzieht er deshalb den Bruch mit dem kaiserlichen Regime, arbeitet in konspirativen Treffen mit dem Zaren an Bonapartes Sturz mit. Prompt beruft ihn der neu eingesetzte Ludwig XVIII. im Mai 1814 erneut als Aussenminister und entsendet ihn an den Wiener Kongress, wo es Talleyrand auch tatsächlich gelingt, das geschlagene Frankreich wieder als gleichrangige Macht zu etablieren. Die nächsten fünfzehn Jahre äussert sich Talleyrand, berühmt für seine geistreichen Art, als elder statesman zur politischen Grosswetterlage. Als durch die Junirevolution 1830 König Louis Philippe an die Macht kommt, tritt Talleyrand ein letztes Mal in den Staatsdienst und waltet während vier Jahren als Botschafter in London. Danach lebt er bis zu seinem Tod 1838 im Schloss Valençay unweit von Tours. Da er mit dem Eid auf Ein Film von Festival del film Locarno 2011 Sélection officielle Christoph Kühn eine weltliche Verfassung und durch eine Heirat mit der Kirche gebrochen hatte, verhandelt der versierte Diplomat nun über Wochen seine Rückkehr in den Schoss der Kirche, die er auf dem Sterbebett auch tatsächlich vollzogen hat. Von drei Möglichkeiten, die Talleyrand aufgrund seiner aristokratischen Herkunft und den turbulenten Zeitläufen offengestanden hätten, habe er weder die Emigration noch ein zurückgezogenes Privatleben gewählt, sondern den Dienst am Staat, hält Willms in seiner flüssig geschriebenen Darstellung fest. Und immer sei es dem hochbegabten Diplomaten dabei um das Gesamtwohl des französischen Staates gegangen. Als Opportunisten will Willms Talleyrand deshalb nicht bezeichnen. Denn dass er die Grundmotivation auch mit privaten Vorteilen verband, sei es nun Ehrgeiz oder Geld, könne «eine letztinstanzliche moralische Verdammung, wie sie über ihn verhängt wird, umso weniger rechtfertigen, als jenes Motiv nie die Würdigung erfuhr, die es verdient.» ● Mit Zeichnungen von Hannes Binder GLAUSER <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NTE1tQQA-8KtlQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWKsQqAMAxEvygl1ySNsaN0Ewdx7yLO_v-kdfO448Hx1rVa4m9L2462VzCrEUzNolpYyl4qIie3l4BnBmYoXFQjfj4xoghLHw6NeocSCol2nqRjZHxwzuk-rwfi1cZ1gAAAAA==</wm> Das bewegte Leben des grossen Schriftstellers www.filmcoopi.ch Ab Januar 2012 im Kino 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29 Sachbuch Abstraktion Mathematisches Denken erleichtert die Lösung philosophischer Probleme Wie man sich mit Zahlen anfreundet tion» geschrieben, die nun auf Deutsch vorliegt. Gowers Botschaft ist: «Lernt man abstrakt zu denken, verschwinden viele philosophische Schwierigkeiten». Es sei möglich, macht der 47-jährige Cambridge-Professor Hoffnung, sich mit mathematischen Ideen anzufreunden, ohne in technische Einzelheiten einzutauchen. Den Begriff der höheren Dimensionen relativiert Gowers, indem er nicht zuerst nach deren «Existenz» fragt, sondern die Art von Eigenschaften diskutiert, die beispielsweise von einem 26-dimensionalen Raum zu erwarten sind. Die Existenz im mathematischen Sinne ergibt sich dann durch die Definition eines Modells, in dem die diskutierten Eigenschaften konsistent sind. Auf diese Weise bringt er uns auch bei, wie Timothy Gowers: Mathematik. Reclam, Ditzingen 2011. 207 Seiten, Fr. 8.90. Von André Behr Der Abstraktionsgrad in den mathematischen Wissenschaften ist bekanntlich sehr hoch. Man mutet uns Begriffe wie «Unendlichkeit», «gekrümmte Räume» oder «höhere Dimensionen» zu oder erwartet Verständnis für die Konstruktion der «Quadratwurzel aus der Zahl –1», obwohl wir in der Schule gelernt haben, dass eine negative Zahl mit sich selbst multipliziert immer ein positives Resultat ergibt. Für alle, die solche Ideen auf quälende Weise als paradox empfinden, hat der englische Mathematiker Timothy Gowers 2002 «a very short introduc- Mathematiker das Unendliche oder Wahrscheinlichkeiten angehen. Und er führt uns über nur 30 Buchseiten von den Anfängen der axiomatischen Geometrie bei Euklid bis zu einem der schwierigsten Probleme, der PoincaréVermutung, die jüngst von dem genialen Russen Perelman gelöst worden ist. Für seine eigenen Forschungen erhielt Timothy Gowers 1998 die Fieldsmedaille, die höchste Auszeichnung seines Fachs. Trotzdem findet er Zeit, eine Webseite und einen Blog mit vielen nützlichen Texten und Links zu pflegen. Seine Einführung gehört zu den besten Büchern über Mathematik und dürfte auch Fortgeschrittene begeistern. Ein Jammer, dass es der Verlag nicht geschafft hat, die wenigen und simplen Formeln alle korrekt wiederzugeben. ● Das Memorandum findet sich in Car Guys vs Bean Counters. The Battle for the Soul of American Business (Portfolio/Penguin, 241 Seiten). Temperamentvoll und mit exzellentem Gespür für vielsagende Anekdoten schildert Lutz darin seine Rückkehr zu GM als Schlacht zwischen «Autonarren und Erbsenzählern», in der seine Überzeugungen allmählich die Oberhand gewinnen. Lutz ficht erfolgreich für die Verschlankung von Entscheidungsabläufen, terminiert gesichtslose Modelle und hebt den Elektro-Sedan «Volt» in das Programm, der GM heute als innovativ und wettbewerbsfähig erscheinen lässt. Das Buch endet 2009, als die Finanzkrise den damals schon weitgehend erneuerten Konzern in den Konkurs zwang. Dazu gibt der Autor einen Ausblick auf die Wiedergeburt von GM, die ohne den im gleichen Jahr ausgeschiedenen Lutz stattfand. Seinem Motto entsprechend, kommt der Leser auch in den Genuss Lutz’scher Irrtümer, unter denen seine Ablehnung des Klimawandels als Menschenwerk besonders haarsträubend herausragt. 30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. November 2011 Grösseren Mut beim Design und bessere Qualität forderte der Amerikaschweizer Bob Lutz (unten), als er 2001 Chef von General Motors wurde. Aber wie Lutz selbst erklärt, gehören derartige Ausfälle schlicht zu dem Charakter des ehemaligen Kampfpiloten beim Reserve-Corps der US-Marines. REBECCA COOK / REUTERS Kurz nach seiner Rückkehr zu General Motors im September 2001 setzte Bob Lutz seine Kollegen per Hausmitteilung über die «festen Überzeugungen» in Kenntnis, von denen er sich als Chef der Produktentwicklung leiten lassen wolle. Das Manifest forderte grösseren Wagemut beim Design, stärkeren Fokus auf Qualität und einen Abbau der Bürokratie, an der GM damals zu ersticken drohte. Zum Abschluss führte der 1942 als Bankiersohn in Zürich Geborene das «Bob Lutz-Motto» an: «Häufig im Irrtum, aber selten im Zweifel». Nach einer Karriere in den Spitzenetagen von GM, BMW, Ford und Chrysler rief Lutz seine neuen Mitarbeiter zu offener Diskussion und Rückgrat bei der Durchsetzung ihrer eigenen Überzeugungen auf. JESSICA RINALDI / REUTERS Das amerikanische Buch Autonarr gegen Erbsenzähler Ohne Abstriche lesenswert sind dagegen seine Schilderungen der Unternehmenskultur, die Lutz als Absolvent der elitären Berkeley University nach seinem Eintritt bei GM 1963 kennengelernt hatte. Damals brachten visionäre Designer wie Bill Mitchell dem Konzern enorme Gewinne ein. Doch diese nährten eine Bürokratie, die ihr Geschäft durch endlose Debatten und Zahlenspiele berechenbar und damit risikofrei machen wollte. Lutz führt dies auf die im Zweiten Weltkrieg von jungen Managern wie Robert McNamara entwickelten Planungsmethoden zurück, die danach allmählich weite Teile der amerikanischen Industrie erobert haben. Nicht nur bei GM waren Entscheidungsfreude und Kreativität die ersten Opfer dieses Trends. Danach brachen die Gewinne ein. Mit solchen Einsichten gibt Lutz immer wieder zu erkennen, dass hinter der von ihm gepflegten Fassade des kernigen Burschen, der über «hochintelligente und enorm gebildete» Erb- senzähler spottet, ein akademisch trainiertes Hirn operiert. Der «Car Guy» keilt auch kräftig gegen die amerikanische Medien, denen er ein sachlich verfehltes Faible für japanische Hersteller wie Toyota oder den unprofitablen Autobauer Saab vorwirft. Dessen Produkte verhöhnt Lutz als technisch zweitklassige Vehikel für College-Professoren und andere, selbsternannte «Individualisten». Doch der Manager räumt auch eigene Fehler ein. So stellt er seine Ablehnung der Übernahme des südkoreanischen Daewoo-Konzerns durch GM heraus, die sich zu einem grossen Gewinn für die Amerikaner entwickeln sollte. Dazu plaudert Lutz aus der Schule und erklärt beispielsweise den Effekt von Chromverzierungen auf die Kauflust. Autos sind für den 79-Jährigen letztlich Gefühlssache. Aber die Besitzer dürfen halt keinesfalls von der Qualität ihres Wagens enttäuscht werden. Derlei Einsichten finden anscheinend neues Interesse bei GM: Kürzlich hat der Konzern Lutz erneut angeheuert – als Berater mit breitem Portfolio. ● Von Andreas Mink Agenda Klaus Kinski Unbekannte Facetten des Schauspielers Agenda Dezember 11 Basel Donnerstag, 1. Dezember, 19 Uhr Peter Rüedi: Dürrenmatt. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50. Mittwoch, 7. Dezember, 19 Uhr Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin. Lesung. Literaturhaus (s. oben). Donnerstag, 8. Dezember, 19 Uhr MICHEL VAURIS GRAVOS / SYGMA / CORBIS Jürg Laederach: Harmfuls Hölle – in 13 Episoden. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben). Bern Montag, 5. Dezember, 20 Uhr Bänz Friedli: Wenn die mich nicht hätten – Ein Hausmann wird durchgeschleudert. Lesung, Fr. 15.–. Thalia im Loeb, Spitalgasse 47/51, Tel. 031 320 20 40. Am 23. November jährte sich der Tod des Schauspielers Klaus Kinski (1926–1991) zum 20. Mal. Er war das Enfant terrible des deutschen Films. Für sein ausschweifendes, leidenschaftliches Leben und seine Wutausbrüche war er ebenso berühmt wie für seine Darstellung getriebener Menschen. In mehreren Filmen von Werner Herzog – «Nosferatu», «Aguirre, der Zorn Gottes», «Fitzcarraldo» – spielte er zentrale Rollen. Er wirkte aber auch in zahlreichen Krimi- und Westernproduktionen mit. Unter den neuen Publi- kationen von und über Kinski fällt ein Band auf, der sich schlicht «Vermächtnis» nennt. Er versammelt autobiografische Texte, Erzählungen, Briefe, Zeichnungen und private Fotografien des Künstlers. Unser Bild zeigt ihn im Oktober 1977 mit seiner dritten Frau Minhoi und dem Sohn Nikolai während der Dreharbeiten für den Film «Rolandslied» in der Hochebene des Larzac bei Millau. Manfred Papst Peter Geyer, OA Krimmel (Art Director): Kinski. Vermächtnis. Edel, Hamburg 2011. 404 S., Fr. 66.90. Mittwoch, 7. Dezember, 20 Uhr Endo Anaconda: Walterfahren – Kolumnen 2007–2010. Lesung, Fr. 15.–. Stauffacher Buchhandlungen, Neuengasse 25/37, Tel. 031 313 63 63. Sonntag, 11. Dezember, 11 Uhr Susanna Schwager: Ida. Eine Liebesgeschichte. Lesung, Fr. 18.–. Zentrum Paul Klee, Tel. 031 359 01 01. Zürich Belletristik Sachbuch 1 Hanser. 519 Seiten, Fr. 32.90. 2 Krüger. 447 Seiten, Fr. 19.50. 3 Ullstein. 381 Seiten, Fr. 34.90. 4 Nydegg. 400 Seiten, Fr. 35.90. 5 Piper. 282 Seiten, Fr. 19.90. 6 Ullstein. 561 Seiten, Fr. 29.90. 7 dtv. 588 Seiten, Fr. 19.50. 8 Nagel & Kimche. 539 Seiten, Fr. 29.90. 9 Rowohlt. 425 Seiten, Fr. 27.–. 10 dtv. 318 Seiten, Fr. 18.90. 1 Bertelsmann. 701 Seiten, Fr. 28.50. 2 Piper. 400 Seiten, Fr. 35.90. 3 Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 32.90. 4 Riva. 176 Seiten, Fr. 15.90. 5 Riva. 200 Seiten, Fr. 14.90. 6 Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90. 7 Kein & Aber. 175 Seiten, Fr. 19.90. 8 Murmann. 223 Seiten, Fr. 28.50. 9 Woa. 287 Seiten, Fr. 32.90. 10 Droemer. 399 Seiten, Fr. 25.90. Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. Cecelia Ahern: Ein Moment fürs Leben. Michael Theurillat: Rütlischwur. Paul Wittwer: Widerwasser. Charlotte Roche: Schossgebete. Jo Nesbø: Die Larve. Jussi Adler-Olsen: Erlösung. Charles Lewinsky: Gerron. Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Dora Heldt: Bei Hitze ist es wenigstens nicht kalt. Walter Isaacson: Steve Jobs. Remo H. Largo: Jugendjahre. Guinness World Records 2012. Klaus Merz: Der Autor liest und erzählt aus seinem Werk, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Sonntag, 11. Dezember, 17 Uhr Das Glauser Quintett präsentiert: Elsi oder «Sie geht um», nach einer Erzählung von Friedrich Glauser. Fr. 42.–. sogar theater, Josefstr. 106, Tel. 044 271 50 71. Montag, 12. Dezember, 20 Uhr Barney Stinson: Das Playbook. Martin Walser: Muttersohn. Lesung, Fr. 30.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Barney Stinson: Der Bro Code. Mittwoch, 14. Dezember, 15 Uhr Rolf Dobelli, Birgit Lang: Die Kunst des klaren Denkens. Mikael Krogerus: Die Welt erklärt in drei Strichen. Sandra Landolt: Siku und die Nacht der Tiere. Lesung für Kinder von vier bis acht Jahren. Pestalozzi-Bibliothek Sihlcity, Kalanderplatz 5, Tel. 044 204 96 96. Donnerstag, 15. Dezember, 20 Uhr David Bosshart: The Age of Less! Islandsagas – Reloaded. Ursula Giger stellt ein grosses Übersetzungsprojekt vor. Literaturhaus (s. oben). Dieter Eppler: Blindflug Abu Dhabi. Bücher am Sonntag Nr. 1 Lilly Lindner: Splitterfasernackt. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 15. 11. 2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch. PIXSIL Donnerstag, 8. Dezember, 20 Uhr Bestseller November 2011 erscheint am 29. 1. 2012 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 27. November 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31 <wm>10CAsNsjY0MDQx0TWyNDU2MwYA_pdogg8AAAA=</wm> <wm>10CEXKOQ6AMAwEwBcl2nVsTHDJUUUUgHgBoub_FRINxXTTWljGZ5zXY96CoGqSaqUrYdWyeBe9SIZ6kHQBOVDhpm4l_p3GKe3AApxgfq77BU6FR1BdAAAA</wm> Die vielen Gourmet-Produkte von Sélection gibts in grösseren Migros-Filialen und auf www.leshop.ch www.migros.ch / selection «Jetzt haben Sie auch die Schutznetze gesehen», sagt Darren Lambert und beschleunigt das Boot. Wir verlassen die Te-Pangu-Fischfarm, die sich am nördlichsten Punkt der neuseeländischen Südinsel befindet. Die Netze schützen den Saumon royal vor den Seehunden, die das rot-orange Fleisch genauso schätzen wie menschliche Fischliebhaber. Kein Wunder, denn die Lachse geniessen nur gentechfreies Futter. Auch auf den Einsatz von Impfstoffen und Antibiotika verzichtet Darren konsequent. «Sogar die Seehunde wissen eben, dass es bei uns den besten Lachs gibt», sagt Darren mit etwas Schalk in der Stimme und geniesst die Fahrt durch die Buchten Neuseelands.