Electro UK Visual Kei Berlin Metal Death Metal in Germany

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Electro UK Visual Kei Berlin Metal Death Metal in Germany
ISSN 1439-4324 | 10 Euro
Nr. 13 | Dezember 2008
Nr. 13
Electro UK
Visual Kei
Berlin Metal
Death Metal in Germany
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Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
schwarzgekleidete, langhaarige, bärtige Männer, die biertrunken den Kopf zu ohrenbetäubend lauter Musik schwingen – so
oder ähnlich stellen sich viele Außenstehende immer noch die
Heavy-Metal-Szene vor. Auch wenn ein Film wie „Full Metal
Village“ sich als Publikumsliebling auch bei metal-fernen Zuschauern herausstellte, existieren Vorurteile über Metaller als
grobschlächtige, stumpfe und gewaltbereite Raubeine weiter.
Medial verbreitete Skandalberichte über satanisch mordende
norwegische Black-Metal-Bands unterfüttern immer wieder
die landläufige Meinung über die „böse Szene“.
Dass die Metal-Szene sehr viel vielfältiger, feinsinniger
und eigentlich gar nicht gefährlich ist, zeigen die Schwerpunktartikel dieser Ausgabe des Journal der Jugendkulturen. Jana
Kimmritz hat sich dazu in der Berliner Szene umgeschaut und
die Geschichte des Metal in Berlin aufgerollt. Sarah Chaker
lässt uns an ihren Beobachtungen im Soundlodge-Tonstudio
teilhaben, wo sie die Band Suffocate Bastard bei der Aufnahme
einer CD begleiten durfte. Die bisweilen stressige Studio-Situation offenbart nicht nur musikalische Feinheiten, sondern
auch Zwischenmenschliches. Einen etwas abstrakteren Blick
auf die Welt des Metal liefert Dietmar Elflein. Er fragt sich, wie
zwischen den Metal-Fans eigentlich Gemeinschaft entsteht,
insbesondere wo bei all den Spielarten der Metal-Musik noch
das Verbindende liegt. Von der Musik zum Text führt dagegen
der erfahrene Fanzine-Macher Thor Wanzek. Er breitet in seinem Beitrag die vielfältige Landschaft der Metal-Fanzines aus
und stellt einige Größen der Szene und ihre Ansichten zum
Schreiben über Metal vor.
Doch vor dem metallenen Schwerpunkt sind noch drei weitere
Texte zu beachten: Zum einen hat das Archiv der Jugendkulturen dieses Jahr seinen zehnten Geburtstag gefeiert! Dieses
Ereignis wird mit einem kleinen Rückblick auf die Archiv-Geschichte gewürdigt.
Außerdem hat Joco Alexander eine vielfältige und spannende Szene beleuchtet, die hierzulande sonst eher selten zu
Wort kommt: die Elektro-Szene Großbritanniens, die musikalisch gerade auch auf den Mainstream großen Einfluss nimmt.
Einem noch recht neuen, aber stetig wachsenden Phänomen hat sich die Fotografin Sophie Aigner angenommen. Sie
hat Mitglieder der Visual-Kei-Szene, die meist auffällig im Stil
japanischer Rock-Bands gekleidet sind, portraitiert.
Im zweiten Teil des Heftes finden sich wie immer eine ganze Reihe Rezensionen und Annotationen. Christian Schmidt
und Andi Kuttner beschreiben in ihrer Kolumne diesmal, wie
Fanzines ihren Weg ins Archiv finden und Klaus Farin wirft
in seiner neuen Kolumne „Quergelesen“ einen Blick in die aktuelle Fachpresse.
Zum guter letzt noch ein Hinweis für alle Graffiti-Interessierten: Das Archiv der Jugendkulturen hat das „Kassler Archiv für
Graffiti-Forschung“ von Axel Thiel übernommen. Der bereits
im Jahr 2006 viel zu früh verstorbene Axel Thiel gilt als einer
der Pioniere der wissenschaftlichen Erforschung der GraffitiKultur im europäischen Raum. Bereits 1975 hatte er aus persönlichem Interesse mit der Dokumentation und systematischen Archivierung des Kassler Graffiti-Geschehens begonnen
und wurde im Lauf der Zeit zum vielfach angefragten Experten,
vor allem in Sachen Graffiti-Prävention, welcher er stets kritisch gegenüber stand. Die von ihm ins Leben gerufene „International Work Group on Graffiti Research“ diente der von ihm
geforderten weltweiten Vernetzung von Graffiti-ForscherInnen
und kann eine Vielzahl von Veröffentlichungen aufweisen.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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Das nun der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemachte
„Graffiti-Archiv“ umfasst neben Thiels eigenen Titeln eine
große Auswahl an wissenschaftlichen Arbeiten, Lexika, Artikeln, Essays, Bildbänden, Fotografien und Filmen sowie
szene-eigene Graffiti-Fanzines und Zehntausende von Presseberichten zum Thema – von prähistorischen Felszeichnungen
und antiken Inschriften über Toilettengraffiti und politische
Wandmalereien bis zum Subway Writing, dem „American
Graffiti“ und den heutigen Ausprägungen des Phänomens
sind sämtliche Graffiti-Spielarten repräsentiert. Wer etwas
zum Thema Graffiti sucht, wird hier sicher fündig!
Silke Eckert
Impressum
Journal der Jugendkulturen Nr. 13, Dezember 2008
ISSN 1439-4324
Herausgeber: Archiv der Jugendkulturen e.V.
Fidicinstraße 3, 10965 Berlin
Tel.: 030/694 29 34
Fax: 030/691 30 16
archiv@jugendkulturen.de
www.jugendkulturen.de
Redaktion: Gabriele Rohmann (V.i.S.d.P.), Silke Eckert
Cover & Layout: Conny Agel
Coverfoto: Markus Mirschel
© Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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Inhalt
Editorial ........................................................................................................ 3
Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe ....................................... 6
Im Copyshop mit ... Andi und Christian
 THEMEN
 REZENSIONEN
10 Jahre Archiv der Jugendkulturen –
und kein Ende in Sicht ............................................................. 8
Literatur .................................................................................................... 88
Sachbuch .................................................................................................. 93
Fanzines .................................................................................................. 136
Posteingang .......................................................................................... 138
Quergelesen .......................................................................................... 145
Filme ......................................................................................................... 147
Neue wissenschaftliche Arbeiten .................................................. 153
Neue Veröffentlichungen unserer Mitglieder ........................... 158
Eine kleine Geschichte der
Elektronischen Musik in Großbritannien
Text: Costa Alexander ........................................................................... 15
Visual Kei
Text: Andi Kuttner & Christian Schmidt
Fotos: Christian Karschnik ................................................................... 79
Text und Fotos: Sophie Aigner .......................................................... 26
Berlin Metal – Geschichten einer Szene
Text: Jana Kimmritz
Fotos: Markus Mirschel + Henry Kramer ........................................ 33
Death Metal Made in Germany.
Mit Suffocate Bastard im Tonstudio
Text: Sarah Chaker
Fotos: Sarah Chaker + David Adamietz ........................................... 43
Show No Mercy
oder: All We Are – All We Are We Are –
We Are All – All We Need
Text: Dietmar Elflein
Fotos: Henry Kramer .............................................................................. 55
Besessene Zeilenschinder
Text: Thor Wanzek ................................................................................... 67
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe
Nana Adusei-Poku, wurde 1981 in
Essen geboren, hat Afrikawissenschaften
und Gender Studies an der Humboldt
Universität zu Berlin studiert und setzt
derzeit ihre wissenschaftliche Ausbildung am Goldsmiths College London im
Studiengang „Media and Communications“ fort.
Sophie Aigner, Jahrgang 1978, studierte
Freie Kunst an der Bauhaus Universität
Weimar. Nach verschiedenen Fotoassistenzen ist sie seit 2004 als freie Fotografin tätig. Ihr fotografisches Interesse
gilt den Menschen im sozialen Kontext. Das Porträt im gesellschaftlichen
Rahmen steht für sie im Vordergrund.
kontakt@sophieaigner.de
Costa Alexander, hat in Hannover,
Lyon und Istanbul studiert. Im Frühjahr
2008 ist das Debütalbum seiner Band
Beatpoeten erschienen.
Sarah Chaker, Jahrgang 1979, Studium
des Magisterstudiengangs Musik in den
Massenmedien/Germanistik an der Carl
von Ossietzky Universität Oldenburg;
momentan Erarbeitung einer Dissertation zum Thema Black und Death Metal
im Fach Musikwissenschaft, Redakteurin
beim Journal der Jugendkulturen und
Team-Mitglied des Archiv-Projekts
„Culture on the Road“.
Arvid Dittmann, Jahrgang 1967,
Diplom-Sozialpädagoge, DJ und freier
Mitarbeiter des Archivs der Jugendkulturen.
Silke Eckert, Jahrgang 1981, DiplomPsychologin und Studentin der Kommunikationswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Dietmar Elflein, Jahrgang 1964, vgl.
Musikwissenschaftler, lebt und arbeitet
als Komponist, Sounddesigner und
Autor in Berlin. Arbeitet viel am Theater
und sitzt an einer Dissertation zur
musikalischen Sprache des Heavy Metal.
Projekte und Veröffentlichungen unter
http://d-elflein.de/pageID_4826873.html.
Klaus Farin, Jahrgang 1958, Autor und
Leiter der Archivs der Jugendkulturen
e. V.
Ela E. Gezen, geboren 1977 in Berlin.
Seit 2005 Doktorandin der Germanistik
an der University of Michigan in Ann
Arbor. In ihrer Dissertation erforscht sie
Raumkonstruktionen/-konstellationen
im Allgemeinen und Verortungen von
Heimat im Speziellen in deutsch-türkischer Literatur und Rap Musik.
Emil Gruber, Baujahr 1959, Fotograf
und Multimediagestalter. Partner im
interdisziplinär arbeitenden Architektur-
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büro ORTLOS space-engineering in
Graz. Reisender mit ausgeprägtem Hang
zur Langsamkeit. Themenschwerpunkte
im Journal: Filmkritiken und Analysen
von internationalen Filmfestivals.
Anne Hagemann, geboren 1985, 2008
hat sie ihr BA-Studium in Publizistikund Kommunikationswissenschaft und
Englischer Philologie abgeschlossen.
Sie war 2007 als Praktikantin im
Archiv tätig.
Edith Hartmann, Jahrgang 1955, Mitarbeiterin in der Bibliothek des Archivs
der Jugendkulturen.
Nadine Heyman, geboren 1979, hat
Europäische Ethnologie, Rechtswissenschaft und Pädagogik in Berlin studiert.
Seit 2007 arbeitet sie im Archiv der Jugendkulturen als freie Mitarbeiterin und
ist in antifaschistischen Initiativen tätig.
Als Referentin für politische Bildung
arbeitet sie vor allem zu Rechtsextremismus, Antisemitismus, Antirassismus
und Gender.
Bernd Hüttner, geboren 1966, Politikwissenschaftler. Regionalmitarbeiter Bremen und Koordinator des Themenfeldes
„Geschichte“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Jahr 2000 Gründer des Archiv
der sozialen Bewegungen Bremen.
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Christian Karschnik, geboren 1983
in Berlin, arbeitet als Sachbearbeiter
im Projekt „Migrantenjugendliche in
Jugendkulturen“.
Jana Kimmritz, Jahrgang 1979, DiplomSoziologin. Beruflich in der Medienforschung tätig. Ehrenamtliche Mitarbeiterin im Archiv der Jugendkulturen
als Betreuerin des Fanzine-Bestandes
und Ansprechpartnerin für den Bereich
Metal.
Michael Klarmann, Jahrgang 1968,
lebt und arbeitet in Aachen. Freischaffender Journalist, Autor, Pressefotograf
und Referent (regionale rechtsextreme
Szene; Rechtsrock; „Kameradschaften“;
Zeichen, Codes und Mode). Weitere Arbeitsschwerpunkte: Asyl, Linksextremismus, Antifaschismus, Jugendkulturen,
Soziale- und Friedensbewegung, Innere
Sicherheit. Arbeitet u. a. für Aachener
Nachrichten, Blick nach Rechts,
Telepolis, Ox-Fanzine.
Weblogger: myblog.de/klarmann.
Andreas Kuttner, Jahrgang 1974, Historiker und Herausgeber von Punk-Fanzines, Mitarbeiter im Fanzine-Team und
Mailorder im Archiv der Jugendkulturen.
Ralf Mahlich, Jahrgang 1976, Studierender der Sozialen Arbeit an der AliceSalomon-Fachhochschule, Schwerpunktthemen Gender und Queer Studies,
Interkulturelle/Antirassistische Sozialarbeit, transnationale Ansätze kritischer
Sozialarbeit. Freiberufliche Tätigkeit in
der Bildungsarbeit in den Bereichen Nationalsozialismus, Rechtsextremismus und
Jugendkulturen mit dem Schwerpunkt
Techno. Er selbst ist DJ.
Markus Mirschel, Jahrgang 1979,
Geschichtswissenschaftler M.A.. Arbeitet
seit acht Jahren als freiberuflicher Fotograf und Redakteur für das Metal-Magazin Legacy. Weitere Veröffentlichungen
im Literaturressort des Printmagazins
Multimania. Weitere Informationen
unter www.booth-van-bohr.com.
Antje Pfeffer, Jahrgang 1964, DiplomBibliothekarin, Magister in Geschichte,
Amerikanistik, Europäische Ethnologie,
Bibliothekarin im Archiv der Jugendkulturen.
Martin Pickelmann, Jahrgang 1973,
Historiker M.A., Mitarbeiter im Archiv
der Jugendkulturen.
Gabriele Rohmann, geboren 1968
in Kassel, lebt in Berlin. Studium der
Soziologie, Germanistik sowie der
Wirtschafts- und Sozialpsychologie in
Göttingen. Magistra Artium für Sozialwissenschaften. Gemeinsam mit Klaus
Farin Gründung und Aufbau des Archivs
der Jugendkulturen e. V. in Berlin.
Autorin, Journalistin und Referentin in
der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, pädagogische Leiterin des
Archiv-der-Kulturen-Projekts »Migrantenjugendliche & Jugendkulturen«. Verantwortliche Redakteurin des Journals
der Jugendkulturen.
Kurt Schilde, Dr. phil., Jahrgang 1947,
Historiker an der Universität Siegen,
wirtschafts- und sozialwissenschaftliches Studium, Veröffentlichungen zur
Geschichte des Nationalsozialismus,
zuletzt: Jugendopposition 1933-1945.
Ausgewählte Beiträge. Berlin 2007,
Lukas Verlag.
Christian Schmidt, Jahrgang 1976,
Historiker und Ethnologe/Kulturwissenschaftler, M.A. Betreut den FanzineBestand des Archivs der Jugendkulturen.
Thematische Schwerpunkte: Alternativmedien, Street Art, Kulturtheorie,
Cultural Studies und Kritische Theorie.
Corinna Steffen, Jahrgang 1968, Magister in Europäischer Ethnologie und
Kulturwissenschaft, Mitarbeiterin im
Archiv der Jugendkulturen.
Roman Schweidlenka, geboren 1952
in Wien. Studienabschluss (Geschichte/
Kunstgeschichte) mit dem Titel Dr. phil.
im November 1983. Mitarbeiter an zahlreichen wissenschaftlichen Forschungsprojekten zur Thematik „Esoterik,
Sekten, Okkultismus, Satanismus“. Seit
1987 als Referent und Schulungsleiter
im gesamten deutschen Sprachraum und
Italien tätig. Ca. 800 Veröffentlichungen
(Artikel, Rezensionen etc.), u.a. sechs
Bücher. Seit 1996 Leitung des LOGO
ESO.INFO. Schreibt und liest Literatur
unter dem Künstlernamen Michael
Benaglio.
Thor Wanzek, schreibt seit seinem 15.
Lebensjahr für zahlreiche Metal-Fanzines und Musik-Magazine. Seit zwölf Jahren arbeitet er mit Menschen, die unter
dem Verdacht stehen, „autistisch“, „geistig behindert“ oder „psychisch krank“ zu
sein – und wundert sich darüber.
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10 Jahre Archiv der Jugendkulturen –
und kein Ende in Sicht
Stichtag 18.Mai 1998: Das Archiv der Jugendkulturen erblickt
das Licht der Welt. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, Anlass
genug für einen kleinen Rückblick:
Alles begann mit Desinteresse: Klaus Farin, Gründer und Leiter des Archivs, wollte seine Sammlung von Flyern, Fanzines
und weiteren Devotionalien der unterschiedlichsten Jugendszenen eigentlich einer Universität vermachen, aber niemand
zeigte sich sonderlich interessiert. Der Journalist und Autor
ließ sich davon nicht verunsichern und nahm die Sache einfach selbst in die Hand. Er gründete den Verein Archiv der
Jugendkulturen e.V., nahm einen Kredit auf, mietete Räume in
der Fidicinstraße in Berlin Kreuzberg und eröffnete eine Bibliothek, damals 185 Quadratmeter groß. Es konnte losgehen.
Aber wie kommt man überhaupt dazu, sich mit Jugendkulturen zu beschäftigen? Für Klaus Farin, geboren 1958 in
Gelsenkirchen, zieht sich dieses Thema durch seine gesamte
berufliche Laufbahn. Schon mit 20 Jahren schrieb er sein erstes
Buch (mit einem Vorwort von Günter Wallraff ), 1991 kam in
Zusammenarbeit mit Eberhard Seidel-Pielen der Band „Krieg
in den Städten“ über Jugendgangs und Rechtsradikalismus
heraus, ein Pionierwerk der modernen Jugendsozialforschung,
das mittlerweile den Status eines Klassikers erlangt hat. Seitdem hat sich Einiges an Publikationen angesammelt, allein 29
Bücher hat er mittlerweile veröffentlicht, dazu kommen etliche
Zeitungsartikel sowie einige Film- und Radiobeiträge. Immer
wieder geht Klaus Farin für die Recherche in die Szenen hinein
und redet mit den Jugendlichen, anstatt vom Schreibtisch aus
wilde Theorien zu bilden. Insbesondere bei den Betrachtungen
der Skinheadszene hat dieses Vorgehen für Aufsehen gesorgt,
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meinen doch viele Wissenschaftler bereits alles über diese Szene zu wissen, ohne je einen Skin gesehen zu haben.
So unkonventionell, aber auch so ertragreich wie Farins
Publikationen ist auch die Arbeit im Archiv. 2001 wurden die
Räumlichkeiten bereits zu klein, mittlerweile umfasst das Archiv 700 Quadratmeter. Während das Erdgeschoss in erster
Linie als Buchlager, für Ausstellungen und Veranstaltungen
genutzt wird, befinden sich im ersten Stock die Büros der MitarbeiterInnen und natürlich das Herz des Archivs: die Bibliothek. Diese umfasst auf 200 Quadratmetern mittlerweile rund
6.000 Bücher und Broschüren, 28.000 Fanzines, Zeitschriften
und Zeitungen, 320 Magister- und Diplomarbeiten, 4.000 CDs,
LPs, MCs, DVDs und Videos sowie Zehntausende von Presseausschnitten und ungezählte Flyer. Und der Bestand wächst
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immer weiter. So hat das Archiv soeben die Sammlung des leider viel zu früh verstorbenen Kasseler Graffiti-Forschers Axel
Thiel übernommen. Beinah täglich treffen neue Fanzines und
Bücher ein, immer wieder vermachen Wissenschaftler und
Privatpersonen ihre Sammlungen zu den unterschiedlichsten
Jugendkulturen dem Archiv. Manchmal gibt es mehr Material,
als die Regale halten können.
All dies muss natürlich auch verwaltet werden, und dazu ist
und war das Archiv von Beginn an auf die Hilfe ehrenamtlicher MitarbeiterInnen angewiesen. Ohne ehrenamtliches
Engagement wären die Projekte, die neben der Bibliothek einen eigenen Verlag, das Schulprojekt „Culture on the Road“
und immer wieder einzelne Initiativen wie die Ausstellungen
„50 Jahre Bravo“ (2005-2007), „Hinter den Kulissen – Alltag junger Migranntinnen“ oder „Keine Zukunft war gestern
– Punk“ umfassen. Das anfangs geliehene Kapital war schnell
verbraucht, die Finanzierung des Gesamtprojekts „Archiv der
Jugendkulturen“ steht permanent auf wackeligen Füßen. Ein
Teil wird durch Buchverkäufe des eigenen Verlags, der jährlich
etwa sechs Bücher herausgibt, gedeckt, es gibt Fördermittel
des Programms „Vielfalt tut gut“ des Bundesfamilienministeriums, hin und wieder EU-Mittel oder Finanzspritzen des
Berliner Migrationsbeauftragten, eine Regelförderung fehlt
jedoch bis heute.
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Trotz der häufig wackeligen Finanzierung konnte sich
das Archiv bisher immer wieder behaupten, es konnte
wachsen und gedeihen – kurz: Es lebt!
Das Zehnjährige wurde natürlich gefeiert, und zwar mit PVC,
der dienstältesten Punkband Deutschlands, die mit ihrem Konzert auch die Punk-Ausstellung „Keine Zukunft war gestern“
hochoffiziell eröffneten. Ein Anlass, der Berliner Punks mehrerer Generationen in die Räume des Archivs lockte. Außerdem
spielten die Crumpets und die StattMatratzen auf der Jubiläumsparty in der legendären Ostberliner Kirche von unten.
Natürlich ruht sich das Archiv nicht etwa auf zehn Jahren
erfolgreicher Arbeit aus, sondern macht weiter: Im August
2008 standen dabei Frauen und HipHop im Vordergrund. Im
Rahmen des internationalen Frauen-HipHop-Festivals „We
Be-Girlz“ fanden im Archiv Workshops zu Rap, Manga und
Graffiti statt.
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Im Zuge dieses Events bekam auch die Wand im Hof des
Archivs einen neuen „Anstrich“: Acht Graffiti-Künstlerinnen aus allen Kontinenten der Erde gestalteten gemeinsam
die etwa 160 Quadratmeter große Fläche zum Thema Musik.
Und in den Köpfen der MitarbeiterInnen entstehen bereits die
nächsten Projekte. Da werden neue Buchideen ausgebrütet,
eine Jugendstudie ist geplant und natürlich sollen bewährte
Projekte wie „Culture on the Road“ weiterlaufen. Man kann
also sicher sein, dass vom Archiv der Jugendkulturen auch in
Zukunft einiges zu erwarten ist!
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Eine kleine Geschichte der
Elektronischen Musik in Großbritannien
TEXT: COSTA ALEXANDER
Intro/ Fade In
Electro-Clash, Minimal House, Garage-House, Grime und
seit Herbst 2006 New Rave: Elektronische Musik hat in Großbritannien, trotz des Rock-Revivals der unzählbaren „TheBands“, die Gitarrenmusik als subkulturell relevantesten Teilbereich der Popkultur abgelöst. Wobei sich die verschiedenen
Spielarten einer Unterordnung in klar voneinander abzugrenzende Genres entziehen. Im Gegensatz zu den House-Variationen und den durch House Musik beeinflussten Rhythmen
wirkt der organisch wirkende Breakbeat, den beispielsweise
Grime aus dem Drum and Bass entleiht, weniger linear und
chaotischer, gleich einer musikalischen Metapher auf seinen
geographischen Ursprung, das Londoner East End. Die Verwandtschaft zum Drum and Bass, sowohl musikalisch als
auch im Habitus, macht es wichtig, eine kleine Einführung
in die Musik des Schlagzeuggewitters mit seinen verschiedenen Spielarten von Jungle über Liquid bis hin zu Dubstep zu
geben und so die Musik in einen Kontext zu setzen, der sich
weitgehend auf die Britischen Inseln und London im Speziellen bezieht. Abgesehen von Musikliebhabern mit HipHopAffinität konnte Grime vor allem auch in Berlin begeistern.
Wahrscheinlich ist Berlin die einzige deutsche Stadt mit reinen Grime-Parties.
Im Gegensatz dazu zitieren Bands wie Klaxons oder Simian Mobile Disco als bekannteste Vertreter des vermeintlichen
New-Rave-Hypes Poppunkbands wie die Happy Mondays und
bedienen sich eher aus der Szene Nordenglands um Manchester. Die Musik und die Kleidung, die sich aus Acid-HouseZitaten und der Einheitsmode schwedischer Kleidungsketten
zusammensetzt, spricht in ihrer Breite eher ein weißes Publikum an. Der Import nach Deutschland muss, wie vieles vorher schon, scheitern, denn Deutschland hat eine ganz andere
Tradition der Elektronischen Musik
Der folgende Essay wird nicht alle Entwicklungsschritte
und Details der musikalischen, kulturellen und sozialen Auswirkungen der elektronischen Musik Großbritanniens genau
skizzieren. Vielmehr soll der Text dazu dienen, einen Überblick
über ein musikalisches Phänomen der 1990er-Jahre zu geben.
Before the Night: From Disco to Acid
Die moderne Britische Musik und ihre Szenen sind tief in der
politischen, sozialen und ökonomischen Wirklichkeit Großbritanniens in den 1980er-Jahren verwurzelt.
Die Regierungsübernahme Margaret Thatchers am 4. Mai
1979 markierte das Ende der Nachkriegszeit mit ihrem Wohlstandswachstum und läutete die sogenannte Achtziger-JahreDepression ein. Diese war von Sozial- und Steuerreformen, einer kränkelnden Wirtschaft und der weltweiten Durchsetzung
einer neuen Arbeits- und Wirtschaftsmoral geprägt. Die Börse
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als Zentrum jedes Handelns stürzte das Land in eine Sinnkrise. Mit dem Wegfall der Bergbau- und Eisenindustrie im Norden und dem Zusammenbruch der Schiffsindustrie sowie der
Liberalisierung am Finanzmarkt wurden innerhalb kürzester
Zeit Tausende Menschen arbeitslos.
Die Jugend wuchs zwischen konservativer Biederkeit, Neoliberalismus der Thatcher-Regierung, trauriger finanzieller
Realität und hoffnungsloser Zukunft auf. Der Slogan „No Future“ aus dem Punk war damals wenige Jahre alt und wirkte auf viele Jugendliche nahezu prophetisch. Auf der einen
Seite nahmen rassistische Übergriffe auf Immigranten aus
den Commonwealth Staaten zu, die ihrerseits ihrem Frust
vermehrt gewalttätig Ausdruck verliehen. Die regelmäßigen
Ausschreitungen im Londoner Stadtteil Brixton wurden auch
international bekannt und inspirierten die Band The Clash zu
ihrem bekannten Lied „Guns of Brixton“. Wer hätte gedacht,
dass das ebenfalls als Problemviertel verschrieene Nottinghill
in den 1990er-Jahren als Prototyp des Gentrification-Prozesses
dienen sollte. Auf der anderen Seite fand, inspiriert durch den
Verfall ehemaliger Industrie- und Lagerhallenanlagen und der
damit verbundenen Verödung der Städte, eine Rückeroberung
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dieser Orte statt. So lebte das Bandkollektiv Chumbawamba
für mehrere Jahre in einem besetzten Haus in der Nähe der
Stadt Leeds. Aber auch das Label Factory Records, Heimat von
Joy Division, den Happy Mondays und nach Ian Curtis Selbstmord auch von New Order, betrieb seinen Nachtclub Hacienda in einer ehemaligen Industrieanlage.
Durch das „Squatting“, das Besetzen von Häusern, gab es
auf einmal Freiräume, die, oft an der Grenze zur Illegalität,
genutzt werden konnten. Diese Verfügbarkeit von Bereichen,
die von Politik und Wirtschaft aufgegeben wurden und sich
jeglicher Verwertbarkeit entzogen, bot den perfekten Raum,
um eine Form musikalischer Expressivität auszuleben, die seit
den frühen 1980er-Jahren in den USA eine funktionierende
Untergrund- und Minderheitenszene geschaffen hatte. Da in
Großbritannien das Konzept des Autonomen Jugendzentrums vollkommen unbekannt ist, boten diese besetzten Orte
für Jugendliche oftmals die einzige Möglichkeit, sich zu treffen
und Musik zu hören.
Die House Musik entstand auf dem musikalischen Fundament von Disco, Funk und den Soundtüftlereien deutscher
MusikerInnen im Dunstkreis des Elektronische-Musik-Pio-
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niers Karlheinz Stockhausen. Dazu zählten Can und besonders Kraftwerk. In den frühen 1980er-Jahren konnte sich diese
Musik in Chicago im Umfeld der unterdrückten schwarzen
und homosexuellen Clubkultur voll entfalten. In Großbritannien verbreitete sie sich in dem dafür wie geschaffenen Rahmen schnell. Gerade der Club Hacienda in Manchester wurde
in kürzester Zeit eines der Zentren dieser neuen Musikrichtung, die in ihrer Anfangszeit etwas Revolutionäres hatte. Zusammen mit der Entwicklung neuer technischer Geräte zur
synthetischen Klang- und Rhythmuserzeugung schien eine
Überwindung der bis dahin herrschenden Regeln und Grenzen der Popkultur machbar.
Dabei basieren die technischen Möglichkeiten zur Produktion von House Musik und der ersten kommerziell erfolgreichen und für Britannien wichtigsten Weiterentwicklung,
Acid-House, auf einem Zufall. Was wäre Pop schließlich ohne
seine Legenden?! Anfang der Achtziger entwickelte die japanische Elektronikfirma Roland ein Gerät, das es Musikern
ermöglichen sollte, auf Pattern basierend Basslaufsequenzen
und Melodien zu erstellen, die vor allem als Begleitung gedacht waren. Der TB 303 war trotz seines relativ günstigen
Preises von damals umgerechnet 730 DM ein Flop. Nach zwei
Jahren wurde die Produktion eingestellt. Es dauerte Jahre, bis
das Potenzial dieser Maschine in Verbindung mit der DrumMachine TR 808 und deren Weiterentwicklung TR 909, beide
ebenfalls von Roland, entdeckt wurde. Gerade die Eigenschaft,
mit dem Gerät Klänge zu erzeugen, die eine künstliche Organität schufen, ähnlich einem Sägen oder Zwitschern, war die
Basis für den späteren Erfolg und gab der Musik ihren Namen:
Acid – englisch für Säure.
Ausgehend von Manchester erreichte Acid auf den Inseln
in kürzester Zeit eine bis dahin für elektronische Musik unbekannte Popularität und kommerzielle Verwertbarkeit. Gruppen wie die Happy Mondays oder The KLF werkelten fleißig an
ihrer Idee einer ideologisch aufgeladenen Tanzmusik. Graham
Massey, Martin Price und der ehemalige Tanzstudent Gerald
Simpson wurden unter dem Namen 808 State zu einer der
ersten Supergruppen in Britannien. Der Name bezieht sich
in der zwar noch jungen aber schon mystifizierten Tradition
des Acid auf die Liebe zur Drum Machine TR 808. Der Sound
der Crew emanzipierte sich von seinen US-amerikanischen
Vorbildern, war mitverantwortlich für eine klar britische
Identität des Acid House und damit ein wichtiges Fundament
für die nur in Europa wirklich relevante Rave Musik. Nach
dem Ende von 808 State arbeitete sich Gerald Simpson, nun
als A Guy called Gerald, an seinem eigenen musikalischen
Erbe sowie den Einflüssen seiner jamaikanischen Wurzeln ab
und schuf so 1991 mit wenigen 12’’-Singles die musikalische
Grundlage dessen, was wenig später zu Jungle, der Mutter des
Drum and Bass, weiterentwickelt werden sollte.
The Birth of something New: Jungle and Concrete
Während immer mehr Jugendliche den Rave für sich entdeckten und sich von Stadt zu Stadt leicht verschiedene kleine
Subkulturen mit eigenem Sound, Stil und Gestus herausbilden
konnten, konnte sich ein weiteres musikalisches Phänomen
der 1980er-Jahre langsam auch in Großbritannien etablieren:
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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Ebenfalls von einer schwarzen Minderheit geschaffen, breitete
sich der HipHop vor allem in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bis in die tiefste englische Provinz aus. Die musikalisch produktive Grundlage für HipHop ist der Breakbeat,
ursprünglich ein kurzes Schlagzeugsolo in Jazz- und Funkstücken. In den späten siebziger Jahren gelang es dem New Yorker
DJ Kool Herc als einem der ersten, diesen meist nur wenige
Takte langen Break zu sampeln, also aus dem ursprünglichen
Stück zu extrahieren. Kool Herc verband bei seinen Auftritten als DJ Reggae- und Funktunes und „toastete“, eine Art des
frühen Rap, bei dem das Publikum angeheizt wird, auf diese
Mischung. Die gesampelten Schlagzeugteile, die Breakbeats,
passten wegen ihrer repetitiven Wiedergabe perfekt zu den
improvisierten Reimen des DJs. Die Musik war tanzbar, und
es konnten nun ganze Botschaften im Gegensatz zu simplen
Ausrufen transportiert werden. Die Grundlage des Rap als
musikalischer Teil des HipHop war gelegt.
Diese wohl musikalisch reinste Form US-amerikanischer
Urbanität knallte nun in Londoner Stadtteilen wie Brixton mit
einem hohen Anteil an afrikanischen und jamaikanischen Immigranten auf eine andere Musikrichtung, die sowohl in den
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Großstädten der USA als auch Britanniens der ghettoisierten
schwarzen Minderheit eine Stimme gab: dem Ragga-Dancehall. Ragga oder auch Raggemuffin ist eine Weiterentwicklung
des Reggaes, bei dem die Bassläufe mit Synthesizern produziert werden, so dass ein tiefer, verzerrter Sound entsteht, der
in den Riddims, den Instrumentals, die Melodie übernimmt,
auf die, wie im HipHop, die MCs, die Masters of Ceremony,
ihren Sprechgesang legen. HipHop wurde nun mit Ragga
vermischt, gepitcht und dem ganzen das Wort „Jungle“ aufgedrückt. Das Wort „Jungle“ bezog sich im Reggae immer auf den
Platz Tivoli Gardens in Kingston/Jamaika, den alle nur Jungle
nennen. In der urbanen Wirklichkeit Britanniens wurde das
Wort jedoch mit dem grauen Betondschungel assoziiert. Jungle oder auch Hardcore stand im starken Kontrast zu den bis
dahin üblichen Housebeats der Raves. Der Beat in der House
Musik ist flächig, alle Schläge sind gleich akzentuiert, so dass
eine Maschinenhaftigkeit entsteht. Die Reduktion auf einen
treibenden Beat, der durch seine Parallelen zu urafrikanischen
Stammesritualen etwas Tribaleskes bekam, und der Gegensatz zu westlicher Rationalität und Perfektion in Sound und
Struktur schafften das erste Mal in der Musikgeschichte etwas
vermeintlich Unmögliches: Der weiße Mann konnte nun tanzen. Hardcore oder Jungle versuchten dies nun noch ein Stück
weiter zu entwickeln. Die Musik war schneller, die Bässe waren
lauter und radikaler und die Struktur war auf den ersten Blick
chaotischer. Die Schläge pro Minute zeigten bis zu 180 bpm
an, die Bässe erinnerten eher an Punk als an elektronische Musik und die Beats erschienen durch ihre unterschiedliche Akzentuierung einerseits organisch, andererseits war es nahezu
unmöglich für einen Schlagzeuger aus Fleisch und Blut, diese
auch nur wenige Minuten akkurat zu spielen. Die Urform dieses Beats findet sich in dem Stück „Amen my Brother“ von den
Winstons, das bis heute einer der meist gesampelten Tracks des
Genres, wenn nicht sogar überhaupt, ist.
Nachdem das Produzententeam 4 Hero bereits 1990 mit
seinem Hit „Mr.Kirk’s Nightmare“ dem jungen Genre eine
musikalische Blaupause schuf, bekam die Szene circa 1992 mit
Goldie ihren ersten Star. Sein Track „Terminator“ verinnerlichte neben typischen House-Synthieflächen bereits die wesentlichen Elemente des Jungle und wurde schnell zum Soundtrack
einer neuen Bewegung innerhalb der Rave-Szene.
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beschlagnahmen. Die Strafen für Organisatoren und Raver
lagen bei bis zu drei Monaten Gefängnis und/oder einer Strafe von 2.500 Pfund.
Inner City Life: Massive and the right Frequencies
Spätestens nach 1992 waren Raves auch abseits der USA
und Großbritanniens in vielen anderen Ländern etabliert.
Die Besucherzahlen der Loveparade stiegen jedes Jahr um ein
Vielfaches: 1993 feierten 30.000, 1994 bereits 120.000 auf dem
Kurfürstendamm.
Der Drogenkonsum in der Szene stand in der Medienberichterstattung im Mittelpunkt – insbesondere über Ecstasy
und Amphetamine, die wegen ihrer aufputschenden Wirkung
auf die Tanzleistung besonders beliebt waren. Dass jede Musikbewegung auch ihre eigene Drogenkultur etablieren würde, war seit den 1960er-Jahren Fakt. Die Kinder der 1990erJahre führten diese Tradition fort, zum Schrecken ihrer an
Haschisch gewöhnten Elterngeneration. Die britische Regierung von Thatcher-Nachfolger John Major versuchte dies ab
1994 direkt zu bekämpfen und legte mit mehreren Sektionen
im Criminal Justice and Public Order Act den weltweit ersten
Rechtsgrundstein für das Verhalten von Polizeikräften auf
Raves und zur Unterbindung von Raves. Dieses Gesetz wurde
direkt in die Verfassung integriert. Der Polizei wurde erlaubt,
bereits bei Verdacht eines Raves Platzverweise auszusprechen
und mögliches Material, also Platten, Musikanlagen etc. zu
Während die gesamte Rave-Szene durch Medien, Polizei und
Drogendealer langsam zersetzt wurde, gelang es der JungleSzene, sich von der House-Kultur weiter zu emanzipieren,
nicht nur aufgrund einer umfassenden Kommerzialisierung.
Jungle hieß inzwischen einfach Drum and Bass, wobei eine
musikalische und stilistische Teilung in zwei Hauptlager entstanden war: auf der einen Seite der dunkle, eher den klassischen Reggae-Elementen zuzuordnende Stil um Dillinja,
auf der anderen Seite der geradlinigere, eher durch Funk und
HipHop beeinflusste Jump Up, den vor allem Aphrodite produzierte und aus dem später der so genannte Intelligent Drum
and Bass und der Techstep entstehen sollte. Die einzelnen
Subgenres unterscheiden sich untereinander für den Breakbeatlaien nur minimal, spielten innerhalb der Szene aber eine
große Rolle. Der dunkle Drum and Bass wirkte verstörend
und chaotisch, erzeugte eine Endzeitstimmung, wurde eher
von einem schwarzen Publikum angenommen und besaß deswegen eine ausgeprägte Urbanität. Der Jump Up, wie später
auch der Intelligent und der Techstep, war leicht verdaulich,
sprach ein eher weißes Publikum in Großraumdiskos an und
besaß deswegen eher eine Suburbanität.
Durch den Reiz des Illegalen und des Hedonistischen in
den Veranstaltungen und der physischen und mentalen Befreiung durch die Musik bei gleichzeitiger elitärer Attitüde anderen House Unterarten wie Acid oder Trance gegenüber, begann
sich die Drum-and-Bass-Szene auch äußerlich abzugrenzen.
Schnell entstand genreübergreifend ein typischer Kleidungsstil,
der, inspiriert durch die Baggykultur des HipHop, militaristischer wurde. Die Hosen waren weit und oft aus Camouflagestoff, die Mädels trugen Trägeroberteile, Jungs T-Shirts, an den
Füßen klebten Skateschuhe. Die Jungs trugen ihre Haare kurz,
die Mädels meist im Zopf. Natürlich gab es, so wie in jeder Jugendkultur, Ausnahmen, doch stand im Zentrum immer ein
praktischer Wert: Die Kleidung musste stundenlanges Tanzen
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in engen, verrauchten und dreckigen Lokalitäten aushalten und
gleichzeitig bequem genug sein. Der Hang zu militaristischer
Kleidung ergänzte sich perfekt mit der elitären Grundhaltung.
Im Zentrum jeder Veranstaltung stand das jeweilige
Soundsystem, bestehend aus den DJs und den MCs, später
wurden diese durch Licht- und Visualtechniker ergänzt. Das
Soundsystem ist im Ursprung eine Art Straßenparty, die sich
auf Jamaika bereits in den 1950er-Jahren etablieren konnte.
Die DJs luden ihre Anlagen auf Trucks und schufen so eine
mobile Disko. Dieses Prinzip wurde später auch in Deutschland auf jeder Demonstration oder „Reclaim the Streets“-Parade umgesetzt. Die Rolle der MCs auf den Raves war es, eine
Verbindung zwischen den Tracks, also dem Handwerk des
DJs, und dem Publikum herzustellen. Eines der Themen, die
der MC verbal aufgriff, war das „Massive“. Eine klare Definition gibt es nicht. Es handelt sich um einen Ausruf, der sowohl Stärke als auch Gruppe ausdrücken sollte. Die positiven
gruppendynamischen Effekte des Raves auf das Individuum
werden dadurch noch verstärkt, es geht ein Signal der Einigkeit und der Kraft von der zentralen musikalischen Stelle aus.
Massive entspricht einem militaristischen Gestus.
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Auch wenn einzelne Segmente der Szene kommerziell
ausgeschlachtet werden konnten, schaffte es kein Drum-andBass-Track in die kommerziellen Radioprogramme Großbritanniens. Ein wichtiges Instrument bei der Verbreitung der
Musik waren Piraten-Radio-Stationen, die oft alle paar Tage
ihren Standort ändern mussten, um nicht gefasst zu werden.
Die Szene befand sich im direkten Krieg mit der Mainstreamgesellschaft und genoss diese Rolle als Underdog.
The Sons and Daughters: Trip-Hop und 2Step
Anfang der 1990er-Jahre entstanden aus der militaristischen
Attitüde und letzten Bewegungen der HipHop-Welle weitere
Untergenres, die sich musikalisch und kulturell bereits weit
von ihrer kreativen Mutter Drum and Bass entfernt hatten.
Wichtig ist, dass Sound, Stil und Struktur des jeweiligen Untergenres von der Stadt beziehungsweise dem Stadtteil Londons abhingen. Die Hafenstadt Bristol mit ihrer mittelgroßen,
aber ethnisch sehr diversifizierten Bevölkerung inspirierte
durch ihre Langsamkeit und Entspanntheit den Trip-Hop, der
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bis spät in die Neunziger als große Hoffnung der Pop-Musik
galt. Aus der Künstlergruppe The Wild Bunch, bekannt durch
eine Partyreihe, in der HipHop-Wurzeln perfekt mit Reggaeund House-Einflüssen gemischt wurden, entstammt die wohl
bekannteste Band Massive Attack. Diese legte mit ihrem 1991
erschienenen Album „Blue Lines“ das Fundament des Genres und inspirierte Bands wie Portishead, Morcheeba und Tricky. Wichtig war dabei die Rückentwicklung vom Track hin
zu einer Songstruktur, was in der elektronischen Musik bis
dahin unmöglich erschien, untergrub es doch das Hauptanliegen der Dekonstruktion der Rock- und Pop-Einflüsse auf
die Musik. Der Sound aus Bristol war düster, an der Grenze
zur autoaggressiven Depression, das Ganze begleitet von einer
melodramatischen Frauenstimme, die gleichzeitig verrucht
und zerbrechlich wirken sollte – ein gutes Beispiel dafür ist
die Portishead-Sängerin Beth Gibbons.
Der zweite Spross der Breakbeatpflanze hatte seine Wurzeln eher im US-Garage, einer Art des House, die durch starke
Soul- und Gospel-Anleihen geprägt ist. Diese Richtung wurde
auf britischen Drum-and-Bass-Raves oft in den Second Areas
oder Rooms aufgelegt. Die DJs spielten die Tracks jedoch um
einiges schneller ab als in den USA und bevorzugten Dub
Versions, also reine Instrumentals. Diese Freiflächen konnten
nun wiederum von MCs genutzt werden. Schnell distanzierte
sich diese Musikform von ihrem Nischendasein und, vor allem durch die Pirate Radio Stations gepusht, entstanden eigene
Partyreihen, die sich nur dieser neuen Form widmeten. Den
ersten Clubhit landeten The Artful Dodger gemeinsam mit
Craig David, der Ende der 1990er-Jahre mit der bis heute in der
Szene legendären Nummer „Re-rewind“ eine riesige Solokarriere machen sollte. Die Verbindung von Garage mit Funk und
vor allem amerikanischem R&B schuf eine Mischung, die vor
allem Frauen ansprach: Der 2Step war geboren und damit ein
weiterer Schritt in der Schaffung einer eigenen, vom US-amerikanischen Vorbild emanzipierten Form des HipHop gemacht.
Push things forward;
The Millenium between Chillout and Grime
Drum and Bass erhielt 1998 mit Grooveriders Album „Mysteries of Funk“ eine neue Richtung. Der Liquid Funk war geboren,
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der Terminus stammt jedoch nicht von Grooverider oder seinem DJ Partner Fabio. Liquid Funk basiert auf einer geraden,
wenig variierten Bassline und einer Konzentration auf Sphären
und Ambient. Die Musik, neben Grooverider vor allem durch
LTJ Bukem beeinflusst, richtete sich durch ihre dem Songkonstrukt näher stehende Struktur nicht unbedingt an ein Clubpublikum. Die Musik wirkte eher entspannend, ein musikalischer
Erzählfluss wurde deutlich. Ähnlichkeiten zu Ambient oder
brazilesken Spielformen des House sind offensichtlich. Dies
fügte sich perfekt in das zwar nicht neue, aber unter dem Deckmantel des Retro-Chics verhippte Party/Bar-Konzept „Lounge“.
Die Drum-and-Bass-Hörspiele bildeten die ideale Klangtapete
für die im 1960er- und 1970er-Jahre-Stil eingerichteten Minimallokalitäten der New-Economy-People der Jahrtausendwende und verkamen so zur Muzak von teuren Alkoholika und
billigen Eitelkeiten. Schnell wurde Drum and Bass easy-listiningisiert, jazzig oder soulig und verlor damit zwar nicht seine
Qualität, die eigentliche Aussage aber wurde verzerrt.
Während Europas Festlandjugend den Soundtrack der
Neue-Medien-After-Work-Parties bei südamerikanischen
Cocktails genoss, erkannte Mike Skinner in Birmingham die
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Entfremdung der Inhalte von UK Garage und 2Step und fing
an, eigene Tracks zu produzieren, auf denen er sich mit Vorliebe
an den Themen eines weißen, britischen Jugendlichen abarbeitete: Drogenkonsum, alltägliche Gewalt postpubertärer Halbstarker, Frauen, die Halbwelt zwischen Popzitaten, Fußballspielen und den richtigen Klamotten für einen Samstagabend.
Sein erster selbst finanzierter Track „Has it come to this“ wurde
sofort ein Hit. 2000 erschien unter dem Namen The Streets mit
„Original Pirate Material“ die Blaupause britischer Jugend zwischen schwarzer Musik und White Trash. Dass Skinner sein
Debüt und auch den Nachfolger von 2004, „A Grand don’t
come for free“, alleine an seinem Laptop produzierte, ist ein
interessanter Aspekt: Fallende Preise von Synthesizern und anderen Geräten zur elektronischen Klangerzeugung sowie eine
für Anfänger einfachere Bedienung führten zu einer allgemeinen Demokratisierung der Produktionsmittel in der Elektronischen Musik. Seinen Authentizitätsbonus konnte der inzwischen in London lebende Skinner auch nicht durch seine von
der britischen Boulevard-Presse eifrig beobachteten Eskapaden
und dem mittelmäßigen Drittwerk „The Hardest Way to Make
an Easy Living“ verspielen. Vom deutschen Feuilleton und der
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len. Dass die HipHop-Dreifaltigkeit „Bitches, Beef and Bling“,
also Frauen, Stress und Kohle, auch in London eine größere
Rolle spielen sollte, war abzusehen, hielt die Berlin-MitteBohemians aber nicht davon ab, die Musik in ihren Coffeeshops und Flagshipstores abzuspielen. Die Clubbesucher in
England waren zu Beginn von dieser neuen Musik verwirrt,
denn sie wussten nicht, wie sie sich dazu bewegen sollten – so
verzichteten sie lieber gleich ganz aufs Tanzen und entluden
ihre Aggressionen in Schlägereien. Wenig später verboten
Clubbesitzer auf der ganzen Insel das Spielen von bestimmten
Stücken dieser Musikrichtung. Während die eine Hälfte der
britischen Jugendlichen als kleine Bob Dylans verkleidet oder
mit Pünktchen und Streifen ausgestattet dem Rock- und Britpop-Revival ihre Ehre erwies, überlegten Londoner Politiker,
Kapuzenpullis zu verbieten, in der Annahme, so die Gewalt in
den Clubs in den Griff zu kriegen.
Outro/ Afterhour
Indie-Polizei gefeiert, gründete Skinner sein eigenes Label, um
seine Idee von britischem HipHop erfolgreich zu verbreiten.
Die gefallenen Preise für Produktionsmittel und deren
Vereinfachung im Handling ermöglichte es auch Menschen
aus prekären sozialen Milieus mit zwar geringer klassischer
musikalischer Bildung, aber einer aggressiven Kreativität dieser musikalisch Ausdruck zu verleihen. Das Londoner East
End, ein ehemaliger Arbeiterstadtteil, nun überwiegend von
Immigranten, Künstlern und inzwischen auch von MacBookHipstern besiedelt und durch seinen schlechten Ruf von der
bürgerlichen Mittelschicht weitgehend gemieden, spuckte
nun eines seiner typischen Kinder aus: Dylan Mills, gerade
einmal 19 Jahre alt, erschuf 2003 mit seinem preisgekrönten
Debüt „Boy in da Corner“ den Grundstein dessen, was kurz
darauf von der Presse als Grime bezeichnet wurde. Grime ist
eine Musik, die die Realität englischer Innenstädte wie keine vorher einzufangen schien: dunkel, aggressiv, chaotische
Beats gemischt mit kehligen Bässen und futuristischen Bleeps.
Eine musikalische Emanzipation des britischen HipHop von
seinem US-amerikanischen Vorbild, ohne mit sexistischer,
Gewalt verherrlichender Inhaltslosigkeit provozieren zu wol-
Trotz seiner Energie und der stetigen Weiterentwicklung, trotz
seiner Kultur und seiner Struktur hat Drum and Bass nicht das
geschafft, was von ihm Anfang der Neunziger erhofft wurde:
die Zersetzung der Idee des Pop-Songs und die Weiterentwicklung des Pop-Konstruktes hin zur Auflösung in Tracks,
Flächen, Rhythmus und Struktur. Im Rückblick erscheint diese Hoffnung, die Drum and Bass wieder mit seinem Ursprung
House verbindet, naiv spirituell. Gerade die Zersetzung von
Macho-Kultur und fremdbestimmten Geschlechterkonstrukten durch die Elektronische Musik schien in den Anfängen
möglich. Trotzdem erlag die House-Musik, wie auch der HipHop vor ihm und später der Drum and Bass den typischen
Krankheiten, die durch Zersetzung und Kommerzialisierung
entstehen. Frauen sind als Produzenten immer noch unterrepräsentiert. Ausnahmen bilden die beiden Metalheadz-DJanes
Kemistry und Storm, wobei Kemi Olusanya 1999 bei einem
Autounfall ums Leben kam. Die beiden legten als Duo auf,
konnten so ihren eigenen, eher femininen Stil entwickeln und
dadurch die Szene wesentlich mitprägen. Die Londonerin
Lady Sovereign schaffte es hingegen bereits mit 17 von Jay Z
für das US-amerikanische Label Def Jam entdeckt zu werden
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und mit ihrer frechen Schnauze ihre Idee von Frauen in britischer Rap-Musik zu vertreten. Der Erfolg gibt ihr Recht: Auf
ihrem Album „Public Warning“ von 2007 schafft es Louise
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Amanda Harman, so ihr bürgerliche Name, eine Brücke zwischen Cockney Rotz und HipHop-Protz zu schlagen.
Eine Errungenschaft der elektronischen Musik bleibt zweifellos der Abriss typischer Unterteilungen in schwarze und
weiße Musik. Begründet auf Afrika Bambaatas musikalischer
Verbindung aus schwarzem Breakbeat und weißer Elektronik
in seinem Stück „Planet Rock“, war die frühe House-Szene
und die Drum-and-Bass-Szene bis heute von keiner Seite dominiert, vielmehr schien Drum and Bass die Hoffnung einer
entleibten und damit nicht auf Hautfarbe zu reduzierenden
Musik, im Gegensatz zu den Geschlechterkonstrukten, zu erfüllen. Dass Techno trotzdem von Neonazis als Marschmusik
adaptiert wurde und schwarze DJs in Berlin sich auch nicht
sicher sein können, nach einem gefeierten Set nicht körperlich angegriffen zu werden, ist trotzdem traurige Realität und
zeugt von der unaufhaltsamen Einverleibung von Popkultur
durch den rechten Rand.
Das größte Problem jedoch wird weiterhin die Vermarktung in aggressiver Hype-Manier sein, für die Englands Medien, allen voran die Zeitschrift NME, bekannt sind. Während
2006 Londoner Plattenläden vor allem deutschen Minimal
von Kompakt oder Minus importierten und Goa-Trance ein
Comeback feierte, rief der NME im Herbst 2006 das Rave Revival aus. New Rave soll als Name für das Auftauchen neuer
Bands wie die oben erwähnten Klaxons, Simian Mobile Disco
und Shitdisco und einen Wandel des Kleidungsstils der jugendlichen Mittelschicht gelten. „How many glowsticks does it take
to prop up a new rave movement.“ – „Wie viele Glowsticks
braucht man, um eine neue Rave-Bewegung zu starten?“, fragt
Guardian-Autorin Kitty Empire im Oktober 2006 in einem
Artikel über die Klaxons und macht damit auf die Oberflächlichkeit aufmerksam, mit der die Pop-Industrie verschiedene
Strömungen zu einem Pitch-fähigen Trend zusammenbackt.
Musikalisch der nächste Schritt nach Elektro-Punk: Die Bands
spielen in bunten, neonfarbenen Klamotten, die Haare hängen tief und gerne auch gefärbt ins Gesicht und Elektronische
Musik darf wieder mit Instrumenten präsentiert werden, statt
wie früher nur mit Vinyl. Während sich in Deutschland die
Frickler hinter ihren MacBooks versteckten, kramten die Engländer ihre alten Synthies wieder raus. Wohngemeinschaften
und verlassene Industriegebäude werden wieder für illegale
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Raves genutzt und eine Elektro-Pop-Band wie Hot Chip, deren Lied „Over and Over“ als Pop/House/Funk-Hybrid von
den Lesern des New Musical Express zum Lied des Jahres 2006
gewählt wurde, diente der konservativen Partei als Übel, das
die Jugendlichen zum Drogen-Konsum verleiten könnte.
Die Szene existiert in einem Schwebezustand zwischen
Hedonismus, der Fernsehserien wie „Spaced“ oder „Nathan
Barley“ entlehnt wird, und der Befürchtung, dass es morgen
schon wieder vorbei sein könnte mit dem fröhlichen Zappeln.
Die Britische Regierung erwägt bereits den Criminal Justice
Act zu erneuern. Inzwischen sind Hot Chip mit ihrem im Februar 2008 erschienen Album „Made in the Dark“ im Feuilleton der bürgerlichen Presse sowohl auf der Insel als auch auf
dem Europäischen Festland angekommen.
Insgesamt wird die britische Elektro-Szene derzeit von
drei Trends beeinflusst: Minimal House hat über DJ-Exporte, vor allem aus Paris, Barcelona und Berlin, den Weg in die
urbane Schickeria Londons und Manchesters gefunden. Ausgerüstet mit Laptops der Marke Apple und Ableton Live werden die gleichen Hits gespielt, die die britischen Kids bereits
von Billig-Flug-Touren nach Berlin kennen. Dubstep-Parties
um Künstler wie Skream, Burial, Venetian Snares oder Kode9
verbinden locker Elemente des Grime, Drum and Bass und
Acid miteinander, wobei die Tanzbarkeit aufgrund der hohen
strukturellen Komplexität zuweilen auf der Strecke bleibt. Der
dritte Trend setzt konsequent das fort, was die belgische DJGruppe 2many DJs, auch bekannt als Soulwax, mit ihrem Bastard-Pop gestartet hat. Hits aus dem Punk-, Indie- und HipHop-Bereich werden gnadenlos durch den Computer-Wolf
gedreht und geremixt. Die Masse an Remixen, die täglich in
den zahlreichen Internet-Blogs erscheint, die sich ausschließlich darum kümmern, ist unüberschaubar. Kein DJ kommt da
noch mit dem Plattenkaufen hinterher, wobei die Mehrzahl
der Remixe weder legal erstellt wird, noch jemals den Weg in
einen normalen Plattenladen findet. Das MP3-Format ersetzt
die Vinyl-Scheibe.
Allen drei Trends liegt erneut die technische Weiterentwicklung zugrunde. Aufgelegt wird mit dem Laptop, eben
wegen der fehlenden Manifestierung der Remixe in richtigen
Platten und wegen dem Wunsch nach Aktualität in einem
Business, das sich mehrmals jährlich neu erfindet. Programme
wie Final Scratch oder Serrato erlösen DJs auch ganz praktisch
von einer die Profession beutelnde Krankheit: den Rückenschmerzen. Denn nur mit einem Laptop, dem Kopfhörer und
einem Mixer ausgestattet reist es sich sehr viel bequemer, als
mit einer Tasche gefüllt mit über hundert Platten. So frisst sich
die Berufung DJ selbst auf, zumal die Elektro-Acts inzwischen
wieder viel Wert darauf legen, selbst live aufzutreten. Immerhin bleibt der Kreislauf in Schwung.
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Visual Kei
TEXT UND FOTOS: SOPHIE AIGNER
Fahr, 26, Mangazeichnerin
„Ich bin einfach eine Exzentrikerin.“
Morgen könne sie schon wieder einen Rappel kriegen und
nur Kleider tragen, wie sie im viktorianischen England üblich
waren.
Fahr ist eher unfreiwillig Teil einer Szene. Gruppendenken
findet sie blöd. Sie kam 2004 ins NeoTokyo mit der Absicht,
eine Fotostrecke über Visus zu machen. Als dann kurze Zeit
später ein Mangaauftrag kam, hörte sie mit der Fotoidee auf,
begeisterte sich aber weiterhin für Visual Kei. Sie zeichnete oft
im Laden und ließ sich von den Kunden inspirieren. Heute
gibt es schon 19 Leute, die sich auf größeren Veranstaltungen
wiederum im Stil ihrer Manga-Figuren kleiden. Für die Promotion ihrer Mangas ist es natürlich auch förderlich, selbst im
Visual-Kei- oder Oshare-Kei-Stil zu erscheinen.
Mit ihrer Mangareihe „Losing Neverland“ will Fahr gegen
die Verharmlosung von Kinderpornographie in Comics vorgehen und ist damit schon vom „Rat für nachhaltige Entwicklung“ von der Bundesregierung geehrt worden.
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Dieter, 47, Angestellter im NeoTokyo sowie Sportjournalist
„Manchmal wünschte ich, Visual Kei hätte es
gegeben, als ich zwanzig war.“
Für Glam Rock war er sich damals zu jung, für New Wave zu
schüchtern. Heute fühlt er sich zu alt, das Visual-Kei-Dasein
voll auszuleben. So fühlt er sich auch eher im Geiste als Visu.
Als Verkäufer im NeoTokyo, Konzertveranstalter und „offenes Ohr“ ist er Teil der Szene, für viele sogar noch mehr: eine
Art Vater- oder Bruder-Ersatz.
Auch vor seiner Arbeit im Laden hatte Dieter schon eine
Faszination für japanische Musik. Eine Zeit lang hat er eine
Radiosendung für den Offenen Kanal über das Thema produziert.
Für die Zukunft von Visual Kei beziehungsweise von JRock würde er sich wünschen, dass es seinen festen Stand in
der Musikszene bekommt und dabei nichts von seiner Exotik
verliert.
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Anne (Atsushi), 20, Auszubildende zur Physiotherapeutin
„Man muss ein bisschen Selbstvertrauen haben,
um in der Szene überleben zu können. Es gibt
viele Neider.“
2002 ist Anne durch Anime und Manga zum J-Rock gekommen und somit zu Visual Kei.
Die ganze Schulzeit hindurch war sie sehr unglücklich,
weil sie kaum Freunde hatte. Durch Visual Kei hat sie gemerkt,
dass es auch noch etwas Anderes gibt, und sie hat begonnen,
wieder mehr auf ihr Äußeres zu achten.
Anne sagt, sie fühle sich im falschen Körper geboren. Auch
deswegen fühlt sie sich in der Visual-Kei-Szene aufgehoben,
denn hier kann jede so sein wie sie will. Männliche Frauen
stoßen hier auf große Begeisterung, denn sie können am ehesten die Musiker imitieren, die von den Mädchen angehimmelt
werden. Das heißt, die Mädchen geben sich so wie die Jungs,
die sich als Mädchen geben. Oft heißt es in den Medien, viele
weibliche Visus wären lesbisch. Anne und alle ihre Freundinnen sagen, dass es bei den Visuals schon eine größere Offenheit
bezüglich der sexuellen Orientierung gäbe. Vor allem auch die
Musiker spielen gerne mit den Geschlechterrollen. Aber der
überwiegende Teil der Mädchen seien „Teilzeitlesben“: Sie geben sich so, auch um etwas Besonderes darzustellen, stehen
aber insgeheim doch auf die männlichen Musiker.
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Christin (Tatsu), 21, in der Lehre zur Bürokauffrau
„Vor dem J-Rock war ich ein Niemand.“
J-Rock und Visual Kei hat Christin durch Anne kennen gelernt. Auch sie hat sich vorher eher ungeliebt gefühlt und war,
wie sie selber sagt, oft sehr zickig.
„Man sammelt Selbstvertrauen, weil man immer mehr
Leute kennen lernt, die so sind wie man selbst“, sagt sie. Oft
kriegen sie und ihre Freunde Sprüche hinterhergeworfen, die
auf Tokio Hotel anspielen. Das wird immer als Beleidigung
aufgefasst, „denn die Leute wissen ganz genau, dass wir nichts
mit Tokio Hotel am Hut haben.“ Christin erschüttern solche
Sprüche oder komische Blicke aber immer weniger, schließlich ist sie viel mit ihrer Gruppe unterwegs.
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Paul (Taiji), 20, Auszubildender zum Tischler
„Wir sind praktisch die Hippies der neuen
Generation.“
Denn erlaubt ist, was gefällt, und er selber bezeichnet sich als
überaus fröhlichen und entspannten Menschen.
Paul war immer recht beliebt. Durch Freunde hat er erst
J-Pop kennengelernt, später auch J-Rock. Der Visual-Kei-Stil
hat ihn schnell fasziniert.
Er selber ist Visu seit mehreren Jahren und hat noch frühe Visu-Treffs in Bremen mitgemacht. Damals kamen um die
dreißig Leute. Heute ist die Visu-Szene nicht mehr so familiär,
es existieren viele kleine Grüppchen, die sich auf den Konzerten gegenseitig eher misstrauisch beäugen. Im Groben, sagt er,
könne man die Visuals auch in zwei Gruppen aufteilen: die,
die Spaß haben wollen und die, die sich sehr depressiv geben.
Letztere werden auch oft „Emos“ (von Emotion) genannt, sie
entwickeln sich nach und nach zu einer eigenen Szene. „Emos“
sind es auch oft, die ritzen. Eines der Vorurteile gegenüber Visual Kei („alle Visus ritzen“), mit denen die fröhlicheren Visus
leben müssen.
Paul versteht nicht, warum sich so wenig Jungs für Visual Kei interessieren. Schließlich ist es doch Rock-Musik! Er
vermutet, dass die meisten Angst haben, als ein Visu, der sich
stylt wie manche Frau, als schwul zu gelten.
Pauls Eltern zumindest sind stolz, einen Sohn zu haben,
der anders ist als die anderen. Wobei sie gleichzeitig auch das
Credo hatten: „Hauptsache, er wird kein Punk!“
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Sara (Hiro), 25, Verkäuferin für Kosmetik
stellt hier den Sänger Hizumi von Déspairs Ray dar
„Das Hauptproblem sind die Bravo-Visus.“
Und dass H&M und Pimkie jetzt die Stile vom Visual Kei kopieren, findet sie schlimm, schließlich würden die gar nicht
richtig wissen, was Visual Kei sei. Der Vorteil daran sei höchstens, dass die Klamotten billiger werden, wenn sie überhaupt
richtig gefallen, denn „die kombinieren dann Visual-Elemente
mit Tussi-Style.“
Sara ist Pauls Schwester. Sie ist zwar älter als er, hat aber
durch ihn J-Rock kennengelernt. Als sie das erste Mal mit ihm
auf ein Konzert gegangen ist, hat sie sich bloß visu-mäßig gestylt, um nicht so aufzufallen. Später hat sie dann fast mehr bei
animexx.com gechattet als Paul. Animexx ist ein Internetportal, über das viele Visus sich kennengelernt haben. Mittlerweile
aber kennt sie genug Leute und ihre neuen Freundschaften gehen heute auch über die Begeisterung für Visual Kei hinaus.
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Franziska (Amo), 19, Studentin für Japanologie und Sinologie
„Die japanischen Stimmen haben einfach einen
besonderen Klang.“
Franziska ist total fasziniert von der japanischen Kultur. Aus
diesem Grund fängt sie im Herbst auch an, Japanologie zu
studieren. Sie hört zwar auch westliche Musik, aber an der
japanischen Musik mag sie besonders gerne die japanischen
Männerstimmen.
Sie hatte immer schon eine Faszination für Mangas und
Animes und hat auch selber ein bisschen gezeichnet. Dann
fing sie vor fünf Jahren an, J-Rock zu hören. Bald fing sie auch
an, sich im Visual-Kei- oder viel mehr im Oshare-Kei-Look zu
kleiden. Mindestens ein- bis zweimal pro Woche geht sie ins
NeoTokyo, um Freunde zu treffen und „abzuhängen“. Außerdem arbeitet dort Dieter, ihr „Bruder“.
Es gibt zwar auch einen regelmäßigen Treff am Alexanderplatz, aber da gehen nur Visus hin, die trinken und pöbeln.
Alkohol, Drogen, Rauchen, unangenehmes Auffallen im Allgemeinen ist bei den meisten Visus sehr verpönt.
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Berlin Metal – Geschichten einer Szene
TEXT: JANA KIMMRITZ
FOTOS: MARKUS MIRSCHEL + HENRY KRAMER
Wer die Wahl hat, hat auch immer die Qual. Kneipen, Diskos,
Konzerte – in Berlin kann man immer Metal hören und Metal
leben. Als das enthusiastischste Publikum gelten die Berliner
nicht. Das haben schon viele Bands erfahren, selbst Kultbands
bekommen manchmal nur höflichen Szenenapplaus. Die Legende vom mit verschränkten Armen vor der Bühne stehenden
Berliner Metaller ist keine Mär. Gründe dafür gibt es viele. Die
Konzertsaison geht in der Regel von Herbst bis Frühjahr, im
Sommer ist, bedingt durch die Festivals, weitgehend Konzertpause. Die Konzertdichte ist enorm. Da es in Berlin mehrere
große und kleine Veranstalter gibt, wird fast jede Metal-Tour
gebucht, die möglich ist. Die Berliner Metaller finden sich also
in der komfortablen Situation wieder, ständig die Matte schwingen zu können. Daher kann man bei hiesigen Konzerten weit
weniger von Events sprechen, denn das dargebotene Konzert
per se ist nichts Besonderes. Es erfüllt nicht zwingend die Aufgabe der Vergemeinschaftung Gleichgesinnter, denn Berliner
Metaller gehen allein schon wegen des relativ reichhaltigen
Angebots nur zu ausgesuchten Konzerten. Da kann es schon
mal passieren, dass der Kult-Musiker Dan Swanö mit seiner
Band Nightingale und die Band Circle II Circle um den langjährigen Sänger der alten Helden von Savatage vor geschätzten 40
Leuten spielen, während vor dem SO 36 zig Metaller lange Gesichter ziehen, weil das Konzert der Death Metaller Bolt Thrower ausverkauft ist. Wahrscheinlich ist auch dies ein Grund,
warum viele Power-Metal-Bands in der Regel einen großen
Bogen um Berlin machen: Die härteren Spielarten Black Metal
und Death Metal finden in Berlin mehr Gehör.
Wie jede Musikszene trifft sich die Metal-Szene auf Konzerten, in Kneipen, auf Partys und Festivals. Auch wenn es in
Berlin viele Metal-Jünger gibt, die Szene ist überschaubar.
Denkt man. Woran misst man das, an den Kneipen, an den
Konzerten? Wer sich eine Weile in Berliner Metal-Kneipen
bewegt und Metal-Konzerte besucht, wird schnell feststellen, dass er viele Gesichter immer wieder sieht. Ist Berlin
also auch nur ein Dorf? Sicherlich nicht, aber derart unüberschaubar, wie man es ob der Großstadt annehmen könnte, ist es letztlich auch nicht. Es gibt einige Clubs, in denen
mehr oder weniger regelmäßig Metal-Partys stattfinden, von
kommerziellen Partys mit relativ barrierefreiem Zutritt bis
hin zu durchaus exklusiven Underground-Veranstaltungen.
Metal-Kneipen verschiedener Ausrichtungen bedienen ein je
verschiedenes (Stamm-)Publikum, an erster Stelle steht da sicherlich das Access im Prenzlauer Berg, welches nicht nur die
Metaller nach der Arbeit oder der Bandprobe mit Bier versorgt, sondern wo auch die After-Show-Partys der umliegenden Metal-Konzerte stattfinden sowie seit einigen Monaten
auch kleine Konzerte von lokalen und internationalen Bands.
Daneben gibt es natürlich in Berlin weitere Möglichkeiten bei
Rock und Metal Kaltgetränke zu genießen, so zum Beispiel
im Yard, ebenfalls im Prenzlauer Berg, oder im Jailbreak, im
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Brutz & Brakel und der Wikingerbar in Friedrichshain. Das
Friedrichshainer Halford ist, der Name deutet es an, mehr
dem klassischen Metal gewidmet. Sven Rappold, ein großer
Judas-Priest-Fan, benannte sein Lokal nach dem Sänger der
Halford, Foto von Markus Mirschel
Band, Rob Halford. Vor dem Eingang steht entsprechend eine
überlebensgroße Rob-Halford-Plastik und in der Regel dröhnen Judas Priest, Accept, Sodom oder Metallica aus den Boxen.
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Die Friedrichshainer Kneipen Amnesie und Paules Metal Eck
vervollständigen den Eindruck der auf den Osten Berlins
konzentrierten Metal-Szene.
Denkt man an Berlin und harte Bands, fallen einem sicher zuerst Subway To Sally, In Extremo, Knorkator oder
Rammstein ein. Im Untergrund brodelt es jedoch gewaltig.
Es gibt viele altgediente wie auch junge Bands aus Berlin und
Brandenburg. Mit den Jahren stieg natürlich auch die Anzahl
der Bands. Jede Woche bekommt Jakob Kranz, Moderator der
Radio-Sendung „Stahlwerk“, Demos von guten und talentierten Bands aus der Region. Einige davon finden dann in der
Sendung Gehör: Seit vielen Jahren schon featured das „Stahlwerk“ Berliner und Brandenburger Metal-Bands, lädt sie in
die Sendung ein, spielt ihre Songs und lässt sie zu Wort kommen. Viele dieser Bands können nicht live spielen, weil ihnen
die Möglichkeiten fehlen und weil Veranstalter natürlich auch
eher bekannte Bands buchen.
Die Idee, einen Sampler von und mit lokalen Metal-Bands
zusammenzustellen wuchs 2002 beim Konzert von Sinners
Bleed bei der Fête de la Musique heran. 2006 wurde sie konkret, in Zusammenarbeit des „Stahlwerks“ mit sechs Berliner
Bands und lokalen Clubs und Kneipen kam der erste „Berlin Extreme“-Sampler in einer 1.000er Auflage heraus. In der
zweiten Auflage 2007 waren bereits elf Bands zu hören, der
dritte Sampler befindet sich nun in Planung. Damit erfährt
die lokale Szene Unterstützung und unterstützt sich letztlich
selbst. Ziel ist es, die Berliner Bands regional wie überregional bekannter zu machen; der Sampler fungiert dabei als
Visitenkarte der Bands, stellvertretend für die Berliner Metal-Szene, bei auswärtigen Spielgelegenheiten oder auch bei
Bewerbungen der einzelnen Bands um die Spielmöglichkeit
auf Festivals oder Tourneen. Es gibt viele netzwerkstärkende
Projekte im Metal-Netzwerk Berlin: Zum einen wären da die
Berlin Metal Legion als Web-Projekt sowie das Magazin Metal Guardian. Der Metal Guardian ist ein Web-Zine, welches
sich als Info-Magazin für die Berliner und Brandenburger
Metal-Szene versteht. Anders als herkömmliche Fanzines, die
sich per Post beziehen lassen, oder als Web-Zines, die es in
aktueller, aber hinsichtlich ihrer Präsenz und Verfügbarkeit
in vergänglicher Form im weltweiten Netz gibt, erscheint der
Metal Guardian als PDF-Zine.
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Sinners Bleed im K17, Foto von Henri Kramer
Die Metal-Sendung „Stahlwerk“ läuft nun, nach jahrelangem sonntäglichen Sendeplatz, immer donnerstags auf dem
Jugendradiosender Fritz. Die Berechtigung für diese Sendung
liegt auf der Hand, Jakob Kranz erinnert sich musikverliebt
an eine Aussage des amerikanischen Metal-„Zombies“ Rob
Zombie, der einmal als Gast in seiner Radio-Show meinte: „Diese Musik ist ehrlich.“ Seit 1987 gibt es die Sendung
bereits, damals noch auf DT64 unter dem Namen „Tendenz
Hard ist Heavy“, von den Hörern liebevoll „Tendenz“ oder
„Hard’n’Heavy Stunde“ genannt. Das „Stahlwerk“ wird mittlerweile nicht mehr nur in Berlin und Brandenburg empfangen und gehört, längst ist es auch deutschland- und weltweit
zu hören. Jakob erinnert sich gern an Zuschriften aus allen
Teilen Deutschlands, von Sachsen über Stuttgart bis Hamburg, aber auch aus Südamerika und weiteren Erdteilen. „Interessant ist jedoch immer, dass die Berliner tendenziell Mails
schicken, während aus ländlicheren Gegenden oft Karten geschrieben werden“, resümiert Jakob.
Konzerte gibt es wie erwähnt durchaus viele. Veranstalter
wie Triple Six Concerts, Blackland und Iron Bonehead Productions versammeln von Zeit zu Zeit interessante UndergroundBillings und beliebte Death-, Thrash- und Black-Metal-Bands
in kleineren und mittleren Clubs, während die szeneübergeordneten Konzertveranstalter regelmäßig Tourneen in die
Stadt holen. Hier liegt der Fokus auf größeren, kommerziellen
Unterhaltungsreisen etablierter Bands.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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Fuck The Commerce 2005, Foto von Markus Mirschel
Natürlich gibt es auch regelmäßige Partys in der Stadt und
mittlerweile nicht einmal mehr wenige. Eine der etablierteren
ist die Stahlwerk-Party. Sie entstand 2003 und fand zuerst im
eigentlich für Gothic-Events bekannten Lime Club ein Zuhause. Das Publikum der Stahlwerk-Party ist tendenziell jung.
Als der Club 2007 schließen musste, war die letzte StahlwerkParty mehr als voll, 500 bis 600 Leute standen noch auf der
Straße. Mittlerweile hat die Party in Berlin-Friedrichshain im
Club Cassiopeia ein neues Domizil gefunden. Für DJ Jakob
Kranz versteht sie sich als Knotenpunkt: „Die Stahlwerk-Party
soll ein Treffpunkt sein und unterschiedliche Metal-Szenen
zusammenführen.“ Jakob legt neben der Mischung vor allem
auch auf Publikumsnähe Wert. Neben Berlin steuert die StahlJOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
werk-Party mittlerweile auch Magdeburg, Neuruppin und
Potsdam an, wo Jakob zufolge das Publikum interessanterweise
dieselben Songs hören will wie in Berlin. In Neuruppin findet
außerdem regelmäßig die Headbangers Night statt.
Betrachtet man Berlin aus der Metal-Perspektive, sollte
der Beobachtungsradius also durchaus größer gewählt werden. Berlin ist nicht nur geographisch vom Land Brandenburg
umschlossen, sondern auch die Szenen sind stark miteinander verbunden: Bands und Fans kommen auch aus und nach
Frankfurt (Oder), Neuruppin und Cottbus. Im Umland Berlins finden nämlich jährlich eine Reihe kleinerer Festivals statt.
Das Under The Black Sun mit dem Schwerpunkt Black Metal
beschallte dieses Jahr bereits zum elften Mal das nordöstliche
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Umland von Berlin. In Nauen, nordwestlich von Berlin, findet
alljährlich, nun zum sechsten Mal, das Rock For Roots statt.
Entstanden ist dieses auf Pagan Metal fokussierte Festival mit
dem Ziel, per Benefiz-Festival Geld für den Aufbau der semnonischen Siedlung Gannarhall zu sammeln. Mittlerweile sind
Festival und Gannarhall gleichsam wichtig, da das Rock For
Roots mit seiner familiären Atmosphäre bereits zur lokalen
Institution geworden ist. Wie das Under The Black Sun ist das
Rock For Roots ein kleines Festival, das auf einer Waldbühne stattfindet. Neben der Musik und der Versorgung mit Bier
und Met gibt es ein historisches Lager mit Handwerksständen
und Schwertkampf-Schauvorführungen des Vereins „Semnonenbund“. Ebenfalls zum elften Mal jährte sich das Fuck The
Commerce. Hier kommen vor allem die Fans von Death Metal
und Grind Core auf ihre Kosten. Für viele Berliner Metaller
ist dieses Festival ebenso fest im jährlichen Festivalplan eingetaktet wie das gleichfalls auf Death Metal und Grind Core
ausgerichtete Protzen Open Air, das auch bereits im elften
Jahr stattfand. Im vergangenen Jahr war das ebenfalls familiäre Festival, das jährlich in einem Flugzeughangar stattfindet,
ausverkauft. „Wenn Protzen ist, dann ist Berlin wie leergefegt“,
meint Jakob. Weitere Festivalinstitutionen und junge Festivals
lassen sich aufzählen: Angefangen bei den Morbiden Festspielen in Bischofswerda, bei denen es kräftig auf die Mütze gibt,
weiterhin das Midnight Rock in Berlin Kreuzberg, Gahlen
Mosht in der Nähe von Cottbus und das Filth-Rock-Festival
im uckermärkischen Prenzlau.
Protzen Open Air, Foto von Markus Mirschel
Ganz anders als bei den Festivals kann man bei Plattenläden bei weitem nicht von einer Vielzahl sprechen. Wegen der
Pille, Foto von Markus Mirschel
Konkurrenz durch große Elektronik-Märkte und aufgrund
der Verfügbarkeit nahezu aller Shirts und CDs über Mailorder
konnten sich entsprechend fokussierte und spezialisierte Einzelhändler in der Stadt nicht halten.
Metal und Berlin, das ist so eine Geschichte für sich. Es gibt
einige, die sie erzählen können, und einer davon ist Pille, seines Zeichens Chef der Metal-Kneipe Access. Wie viele Metalheads hat Pille in jungen Jahren mit dem Hören harter Musik
angefangen. Damals waren das vor allem noch Hard-Rockund Glam-Rock-Bands wie Black Sabbath, AC/DC, Deep
Purple, Sweet oder Slade. Richtig reingestupst ist er dann 1984
und fuhr so 1985 nach Ungarn zum Monsters-Of-Rock-Festival, um Iron Maiden zu sehen: „Zwei oder drei Jahre später
wollte ich noch mal, da wollte ich dann zu KISS, da waren wir
dann aber leider eine Truppe von 30 Mann, wir waren auch
nicht zu überhören, an der Grenze haben sie uns dann rausgeholt. Wir repräsentierten nicht das DDR-Jugendbild eines
FDJlers oder so.“
Das waren also doch erschwerte Bedingungen damals. Abgesehen davon, dass die Festivals damals, im Gegensatz zu heute, allgemein noch recht überschaubar waren, wie sah es denn
mit der (Ost-)Berliner Club-Szene aus? Wo konnte man denn
hingehen, und wer hörte Metal? „Es gab das Abbi um die
Ecke vom Jugendclub in der Langhansstraße, das war schon
so ein Metal-Klub. Rocky aus dem Jailbreak kennt auch die
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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ganzen Anfänge vom Abbi noch. Ich bin ja da nur ab und zu
rüber gegangen. Im Abbi war freitags und sonnabends Disko,
da sind die Leute aus Wittenberge angefahren, aus Jena und
Rostock, nur wegen dieser Disko. Das war eine PresspappenBaracke, eine längliche Laubenpieper-Baracke, und das war
auch draußen recht laut. Das ging dann oft bis nachts um
drei. Das war eine Metal-Disko, nicht so wie der Jugendclub
in der Langhansstraße, wo dann auch mal Pop oder so was
lief. Von Manowar, AOK, Brutal Glöckel Terror lief im Abbi
alles: Venom, Metallica, Forbidden, Bathory, Sodom, Kreator
und Tankard und so was, also das war schon ne richtig heftige, harte Szene.“
Ja, die Berliner heute sind dank des großen Angebots schon
recht reisefaul, wenn man mal von den ab Frühjahr stattfindenden Festivals wie dem vorösterlichen Ragnarök bis zum
herbstlichen Rock For Roots absieht. Pille kann sich auch
noch sehr gut erinnern, wie der Metal damals auf die ersten
Plattenteller der Berliner Diskotheken kam: „Eigentlich hat
Peter Schramm die ganze Metal-Szene in Berlin angeleiert.
Wäre er nicht gewesen, ich weiß nicht, ob sich da einer gefunden hätte, der das gemacht hätte. Vielleicht nach der Wende,
aber vor der Wende war das einfach mal Peter Schramm, der
dann auch das Ablaze-Fanzine gemacht hat. Er hat damals
schon im Abbi aufgelegt. Angefangen hat das in Buchholz in
Es scheint also einige Metal-Fans gegeben zu haben. Wo Nachfrage, da auch Angebot. Auch im Sozialimus? Wer regelmäßig
eine Zeit lang ins Abbi ging, hatte in der Regel schon die meisten Metalheads kennen gelernt. Ein Großteil der Metaller kam
aus dem Umland, vor allem aus Strausberg und Neuenhagen:
„Es gab zum Beispiel auch mal ein Konzert von Desaster Area
auf einem Metal-Tag in der Langhansstraße, wie gesagt, also
Montag. Siebenhundert Mann haben sie rein gelassen, und
draußen haben noch dreihundert gestanden. Und die haben
natürlich, weil sie nicht rein gekommen sind, so sauer wie
die waren, die Straßenbahnen blockiert und die Autos, und
da musste die Polizei dann die Straße räumen. Na, und wenn
mal, was weiß ich, Hartholz gespielt hat, so zweihundert bis
dreihundert haben sich dann schon eingefunden in Berlin.
Übrigens hatte dort Sven Rappold die Clubleitung, der ja später das Halford eröffnete.“
Wenn man nun meint, die Berliner Metaller hätten sich auf
ihre eigenen Partyaktivitäten verlassen, so ist das weit gefehlt.
Es gab damals schon einen regen Partyaustausch mit den Umländern: „Ich kann mich daran erinnern, da sind wir zu so
einer Dorfdisko gefahren, da haben Beast gespielt. Und Beast
war so eine Band, die haben dann auch Judas Priest gecovert
und Saxon. Das waren zwar immer nicht so viele, drei- bis
vierhundert, wenn überhaupt. Aber man hat damals Wege auf
sich genommen. Da würdest du heute sagen: ‚Was, die spielen
in Herzfelde? Na und, lass sie doch spielen da, da fahr ich nicht
hin, ist mir zu weit.’“
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
Harmony Dies, Foto von Markus Mirschel
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der Diskothek Treffpunkt, wo er sonntags ganz normale Disko
gemacht hat. Die Leute haben denn mal eine Kreator-Platte
mitgebracht oder eine Sodom-Platte, Accept und Warlock und
so was. Daraufhin hat er gemerkt, da ist ein Potential in Berlin,
die Musik hat ihm wohl auch ganz gut gefallen, und dann ist
er voll auf Metal aufgesprungen. Er hat dann auch wirklich angefangen mit einem richtigen Thrash-Block und einem DeathMetal-Block. Und ich glaube, ohne ihn wäre das in Berlin
wohl nie so groß geworden. Dann ist er natürlich ein bisschen
herumgetingelt, hatte einen Club nach dem Abbi circa 1990
im Baumschulenweg, wo ich auch das erste Mal Darkthrone
gehört hatte. Na und irgendwann ist dann Peter Schramm irgendwie in der Linse gelandet mit seiner Disko. Da stand ich
dann an der Tür. Man kann sagen, es kamen so bis 150 Mann.
Wenn gute Tage waren, wenn Ferien waren, kamen natürlich
auch welche von außerhalb. Ansonsten hat sich das immer
zwischen 80 und 120 Leuten bewegt.
Zwischenzeitlich hatte Peter Schramm Anfang der Neunziger dann als Lokalpromoter in Zusammenhang mit Noise
Productions das riesen Ding in der Seelenbinder-Halle aufgezogen mit Tankard, Kreator, Sabbath und Coroner. Und da
hat er so die Kleinigkeit von 6.000 Mann gezogen. Da waren
Autoschilder aus Rostock über Jena bis Görlitz runter. Da war
alles. Wenn da 500 Berliner waren, waren es viele. Das hat ihm
keiner mehr nachgemacht, was er da aufgezogen hat, das war
der Hammer.“
Harmonie Dies im K17, Foto von Henri Kramer
Postmortem, Foto von Markus Mirschel
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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Es gab auch eine Szene an Berliner Bands, die damals regelmäßig spielten, zum Beispiel Metall, die Band von Sven Rappold,
oder Mephisto und Merlin. Die meisten bewegten sich allerdings hauptsächlich im Power-Metal-Bereich. Zu damaligen
Zeiten durften die Bands zwar nicht so viel covern, aber trotzdem wusste jeder, die Band spielt Venom, die spielt Helloween.
1991 schloss das Abbi, wo auch die ersten Konzerte der
Berliner Bands Postmortem und Fatal Embrace, damals noch
unter anderen Namen, stattfanden, seine Tore. Während Pille
für Peter Schramm an der Tür der Linse arbeitete, eröffnete
Sven Rappold den Club Halford. Innerhalb der ersten drei
Monate wurde es dort immer voller: „Er hat ja so den klassischen Metal gemacht. Er hat natürlich auch bewusst anfangs
Power Metal hochgehalten, weil er aus dem Sound in WestBerlin und aus einem anderen Laden die West-Berliner gezogen hat.“
Später zog auch Pille von der Linse zum Halford. Vom Gläserabräumer, über Bierzapfer zum DJ, im Halford durchlief
Pille damals alle Stationen: „Und irgendwie hat es sich nach
und nach herumgesprochen: ‚Pille macht Disko und der hört
ja auch harte Musik und dann kann er ja auch was Hartes spielen.’ Und irgendwann ist es Rappold dann zu blöd geworden,
hat die erste Etage mit angemietet und hat die ausgebaut als
Black- und Death-Metal-Etage. Und das Gute war, er konnte da ja in der Herzbergstraße Radau machen, wie er wollte.
Und irgendwann wollte er auch Konzerte veranstalten und
hatte auch über Noise-Records ein paar Kontakte, also Accept,
UDO und so. Und das Haus, in dem er drin war, das allererste
Halford, das war eigentlich mal ein FDGB-Haus. Und dann ist
er in die Storkower Straße in so eine kalte Halle gezogen. Die
Halle selber und der Laden waren der Hammer, für Berliner
Verhältnisse. Was er nicht bedacht hat, ist, dass in der Woche
da nichts passiert und dass im Winter da auch die Heizung
gar nicht so funktioniert, wie er sich das gedacht hat. Zur Eröffnung hat er 1.400 Mann da gehabt. Das war der Hammer
gewesen. Ich hatte dann einen schweren Unfall und konnte
nicht arbeiten. Ich hab dann am Wochenende immer im Black
Point gesessen. Und generell gegen zwölf/halb eins haben die
alle das Black Point verlassen und sind rüber ins Halford. Da
hab ich mit Lutze da dann meistens alleine gesessen.“
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
Nachdem Pille und das Halford sich trennten, war seine
nächste Station die Insel. Auf der Insel der Jugend in Treptow
veranstaltete Freity (Triple Six Concerts) Konzerte, nach denen Pille Metal für Tanzbären auflegte. Aber auch die MetalÄra auf der Insel ging vorbei: „Irgendwann war in der Insel
auch Ende wegen rechtsradikaler Tendenzen in der Black-Metal-Szene. Der Burzum-Abend hatte dem Black Metal auf der
Insel den Gnadenstoß gegeben.“
Durch Freity war auf der Insel auch das erste Fucking-Christmas-Festival entstanden, das später dann Pille organisierte
und das noch heute eine feste Berliner Weihnachtsinstitution
unter Metallern ist. Dieses Jahr wird es zum 14. Mal stattfinden. Auf Konzerte gebracht hat Pille allerdings die Berliner
Necromorph, Foto von Markus Mirschel
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Death-Metal-Band Necromorph. Weiter ging es dann nicht
nur mit Berliner Bands, sondern beispielsweise mit Amon
Amarth im alten K17, bei denen sich Pille mit einem außerordentlichen Band-Catering ins Gedächtnis gebrannt hat, oder
Nile. Zu Nile gibt es auch eine spaßige Anekdote: „Dadurch,
dass Freity bei mir im Haus wohnte, und durch das Schaffen
in der Insel der Jugend und durch das Festival [Under The
Black Sun] hab ich dann auch durch ihn viele Leute kennen
gelernt. Und dann meinte er irgendwann: ‚Ja, du machst doch
Sonnabend Konzert. Hier ist eine Band aus Amiland, die
Jungs sind gerade im Studio hier, und die wollen auch ganz
gerne mal auftreten. Die wollen bloß einen Kasten Bier haben
oder zwei.’ Und ich meine, der hat mir da Nile hingestellt! Die
haben dann bei mir auf dem Blackland-Konzert für zwei, drei
Kästen Bier gespielt. Und das Schlimme ist ja, ich hab das alles mit der Kamera aufgenommen. Ich hatte ja hinten an der
Wand immer mein Blackland-Logo zu hängen. Und das haben die aber abgemacht, weil die dachten, Blackland wäre eine
Vorband. Da hab ich mich ein bisschen geärgert. Das Video
hab ich noch zu Hause.“
Und wie kam Pille dann zum Access bzw. Black Point?
„Im Dezember 2001 kam dann der Anruf von Palaske, ob ich
nicht im Black Point anfangen will. Lutz und Georg von Necromorph und Geli, die haben alle zusammen mit einem Schlag
aufgehört. Keine Frage, na klar, Kneipe kenn ich, Musik kenn
ich, sauber machen kann ich auch noch alleine. Ja, und mittlerweile hab ich den Laden seit viereinhalb Jahren selbständig.“
Gruppenbild Berliner Bands nach Auftritt im K17, Foto von Henri Kramer
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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Allerdings heißt der Laden seit 2001 nicht mehr Black Point
sondern Access, und die Kneipe musste im Juli 2001 einige hundert Meter umziehen, aber sonst ist alles beim Alten.
Doch Pille erinnert sich gerne an die Anfänge: „Das Black
Point hochgebracht hat Lutze. Er hat sich darum gekümmert,
dass die Bands, die im Knaack gespielt haben – Satyricon, Dissection, Emperor, Impaled Nazarene, Cradle Of Filth – er hat
sich darum gekümmert, dass die danach noch ins Black Point
kommen. Und das war natürlich auch ein Deal, die Bands hatten Freigetränke. Da hat natürlich jede Band gesagt, ‚Okay, wir
kommen.’ Und dadurch, dass Lutz das mal so angeleiert hat,
war das natürlich auch für die ganzen Fans selbst sehr interessant, mal auf ein Bier mit Impaled Nazarene zu sitzen oder
mit den Jungs von Cradle Of Filth anzustoßen. Also er hatte
da umgeschwenkt, zuerst war es nämlich eine ganz normale
Rock-Kneipe. Und irgendwann hat sich das dann so etabliert,
dass Lutze dann auch volle Pulle Death und Black Metal und
so gespielt hat. Also er ist eigentlich der, der hier im Prenzlauer Berg das Black Point groß gemacht hat.“
Mit den Jahren hat sich auch die Bandszene in Berlin stark
erweitert. Gab es früher eine relativ überschaubare Anzahl an
Berliner Metal-Bands, sind es mittlerweile deutlich mehr. Der
Vertrieb im Netz erleichtert den Bands vieles, doch letztlich betont auch Jakob Kranz, dass man die Metal-Fans vor allem live
überzeugen muss: „Die Leute wollen Spaß haben.“ Bands, die
sich kaum auf der Bühne blicken lassen, werden in der Regel
auf Dauer nicht ernst genommen. Trotzdem ist es als Band natürlich schwer, aus Berlin herauszukommen, die Auftrittsmöglichkeiten sind, ob der Fülle der Bands, letztlich auch begrenzt.
Auch Pille merkt, dass sich in Berlin etwas bewegt. Das
Problem ist, dass die Auftritte lokaler Bands in Anbetracht der
Bandvielzahl trotz allem relativ gering sind. Pille ist ebenso der
Meinung, dass dies nicht zuletzt am allgemeinen Überangebot
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
an Konzerten in Berlin liegt. Teilweise liegt es aber auch an der
schlechten Werbung oder an den neuen Kanälen der Informationsübertragung. Auch unter Metallern übernimmt das
Internet mehr und mehr die Funktion der Netzwerkbildung
über Foren und Plattformen, und ordnet die Gewichtungen
der herkömmlichen Szenetreffgelegenheiten neu.
Trotzdem gibt es mittlerweile verschiedene Bühnen für
Berliner Metal-Bands jeder Spielart. Im Access finden seit
kurzem regelmäßig kleine, teilweise kostenfreie Konzerte
statt, der Gothic-/Metal-Club K17 bietet neuerdings den Berliner Metal Bands eine Bühne und lässt sie in regelmäßigen
Abständen zu fairen Eintrittspreisen auftreten. In der Kneipe
Amnesie servieren zunehmend magenfreundliche Death- und
Grind-Core-Bands ihre musikalischen Häppchen. Aber auch
in kleineren Clubs entern lokale Bands die Bretter, zum Beispiel in der Alten Feuerwache in Schöneweide, der Garage in
Pankow, im Knaack-Club und vielen mehr.
Wie in jeder Musik-Szene gibt es deutliche regionale Unterschiede in der Entwicklung und Ausrichtung der lokalen Metal-Szenen. Im Sommer treffen sich die Metaller auf größeren
bis kleinen Festivals deutschlandweit. Aber lokal gesehen kann
jede Stadt und jede Region ihre eigene Geschichte erzählen.
Weblinks (Auswahl):
www.stahlwerkparty.de
www.myspace.com/headbangersnightneuruppin
www.myspace.com/berlinextreme
www.myspace.com/berlinmetallegion
www.myspace.com/accessberlin
www.amnesie-online.de
www.protzen-open-air.com
www.f-t-c.de
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Death Metal Made in Germany.
Mit Suf focate Bastard im Tonstudio
TEXT: SARAH CHAKER
FOTOS: SARAH CHAKER + DAVID ADAMIETZ
Death Metal – das sind rasend schnelle Double-Bass-Rhythmen und Blast Beats im Schlagzeug, das sind tiefe, drückende
Bass- und Gitarrenwände, das ist ein röchelnder und grunzender Gesangsstil. Dem Sound entsprechend sind in Songtexten
und Bildern Krieg, Folter, Horror, Mord und Totschlag die
zentralen Themen. Entstanden Mitte der 1980er-Jahre zeitgleich in Schweden und den USA, verlor Death Metal durch
das Aufkommen des norwegischen Black Metal Anfang der
1990er-Jahre an Bedeutung, lebt aber im internationalen Heavy-Metal-„Underground“ fort.
Jeglicher Versuch, die Anziehungskraft von Death Metal allein
aus den musikalischen Strukturen heraus erklären zu wollen,
muss scheitern. Denn neben dem Ton macht der spezielle
Death-Metal-Sound die Musik. Darüber hinaus ist Death Metal für viele SzenegängerInnen mehr als „nur“ Musik: es ist
ein Lebensraum, eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, eine Lebenseinstellung. Definiert als eine besondere Form kultureller
Praxis, reicht es nicht aus, Death Metal allein mit Methoden
der Musikwissenschaft zu analysieren. Vielmehr ist bei dem
Versuch, das Phänomen Death Metal möglichst ganzheitlich
zu erschließen, ein multidisziplinärer Forschungsansatz sinnvoll. Wie fruchtbar sozialwissenschaftliche Methoden, wie
die qualitative teilnehmende Beobachtung oder qualitative
Interviews, für eine Musikwissenschaftlerin sein können, erfuhr ich, als ich im Dezember 2006 bei der CD-Produktion
der deutschen Death-Metal-Band Suffocate Bastard im Soundlodge-Tonstudio mit dabei war. Einen kurzen Einblick gewährt dieser Artikel. Die Informationen sind meinem wissenschaftlichen Forschungstagebuch entnommen.
Auftakt
Dienstagmorgen, kurz vor neun. Ich sitze im Regionalzug von
Oldenburg nach Leer. Draußen zieht die verregnete ostfriesische Landschaft an mir vorbei: grüne Weiden, Pferdekoppeln,
Bauernhöfe in Backstein-Optik. Meine Gedanken schweifen
ab. Ich denke zurück an mein erstes Telefonat mit Jörg Uken,
Inhaber des Soundlodge-Tonstudios.
„Hallo Jörg, hier ist Sarah. Ich rufe an, weil ich deine Hilfe bräuchte. Ich schreibe hier gerade eine Doktorarbeit über
Black und Death Metal im Fach Musik und da wollte ich fragen, ob ich vielleicht einmal dabei sein könnte, wenn eine Band
eine Platte bei dir aufnimmt. Von der ganzen Technik habe ich
nämlich, ehrlich gesagt, nicht so viel Ahnung.“ – „Hallo Sarah!
Das ist ja ein gutes Thema für eine Doktorarbeit (lacht)! Ich
denke, das ist kein Problem, ich schaue mal eben kurz nach,
wer in nächster Zeit so da ist. Dew Scented sind demnächst
da, allerdings spielen die ja eher so eine Mischung aus Thrash und Death Metal. Aber warte mal. Hier: Im Dezember
kommen die Jungs von Suffocate Bastard vorbei, das ist eine
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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Herr der tausend Knöpfe – Jörg im Regieraum
Death-Metal-Band aus dem Ruhrpott.“ – „Aha. Wann genau
sind sie denn da?“ – „Laut Plan beginnen die Aufnahmen
am 12. Dezember, und dann schätze ich sind sie so eine Woche da.“ – „Mhm. Zeit hätte ich da auf jeden Fall. Am besten
werde ich den Jungs mal eine E-Mail schreiben, ob es für sie
okay wäre, wenn ich mit dabei bin.“
Das war im September. Und heute, gut drei Monate später,
werde ich Suffocate Bastard im Soundlodge-Tonstudio persönlich kennen lernen.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
„Always remember: It’s the band that makes
the sound – I’m just recording it!“
Jörg, Produzent und Tonstudio-Inhaber
Der Zug verlangsamt sein Tempo, die Bremsen kreischen auf
den Schienen und mit gut zwanzig Minuten Verspätung treffe
ich in Leer ein.
Vor dem Bahnhof wartet Jörg bereits im Auto. Lässig
winkt er meine Entschuldigungslitanei ab und erzählt mir
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stattdessen von seinen letzten Studioproduktionen. Da ist zum
Beispiel die bekannte niederländische Death-Metal-Band God
dethroned, deren Album „Toxic Touch“ er gerade in seinem
Studio aufgenommen und produziert hat. Ich bin ehrlich beeindruckt, ist diese Platte doch von den Journalisten des Magazins Rock Hard gerade erst zum Album des Monats gekürt
worden. Auf der Fahrt überlege ich, was ich von Jörg sonst
noch so weiß: Dass er sein Studio 1997 gegründet und ganz
klein angefangen hat, indem er vor allem Demos für lokale
Rock und Metal Bands produzierte. Dass er heute bereits über
100 Alben aufgenommen hat. Und dass er als Keyboarder und
Drummer schon in diversen Metal- und Rock’n’Roll Kapellen
aktiv war und ist. Als Drummer der berühmten Punk-MetalBand Rumble Militia lernte er in den 1990er-Jahren die ganz
Großen im Metal-Geschäft kennen:
„It was in 1994 when I recorded drums for Rumble Militia at
the legendary Morrisound in Tampa, Florida. Obituary were
recording „World Demise“ at the same time in the same place,
Sepultura were dropping by to invite everybody to their show
in St.Petersburg/Tampa ... In 2 words: Metal Heaven!“ (www.
soundlodge.de/page4.aspx)
Nach einer halben Stunde Fahrt durch die unendlichen Weiten Ostfrieslands erreichen wir Rhauderfehn, eine von Grachten durchzogene 17.000-Einwohner-Gemeinde „zwischen
Meer und Moor“, wie die lokale Homepage stolz verkündet.
Es sieht hier fast schon aus wie in Holland. In einer ruhigen
Seitenstraße parkt Jörg schwungvoll vor der Garage eines größeren Backstein-Einfamilienhauses mit Anbau. „Soundlodge.
Recording-Mastering-Layout“ steht auf einem Blechschild neben der Garage. Hier wären wir also. Von Suffocate Bastard
noch keine Spur.
Sogleich komplimentiert mich Jörg in die Studio-Räumlichkeiten. Da ist zuerst ein kleiner Lounge-Bereich mit Couch
und großem TV-Gerät. In einem Wandregal stehen unzählige
CDs. „Alles hier produziert“, erklärt Jörg mit leichtem Stolz
in der Stimme. Angrenzend eine kleine, gemütliche Sitzküche.
Jörg setzt Kaffee auf. Von der Küche aus geht es ins Bad und in
ein Schlafzimmer mit bezogenen Betten für die Musiker. Eine
Terrasse mit Garten schließt sich dem Schlafgemach an. Ein
schmaler Flur führt von der Lounge aus in den Regie-Raum.
Dort ist die Technik untergebracht – Mischpult, Monitore und
Effektgeräte, Verstärker und Boxen. Kabelsalat ohne Ende.
„Suffocate Bastard ist die letzte Band, die mit diesen Geräten
hier aufnehmen wird“, sagt Jörg und drückt mir eine Tasse
Kaffee in die Hand. „Nach Weihnachten fliegt das meiste davon raus. Ich stelle nämlich von Mackie auf das Computerprogramm Pro-Tools um, da kann ich viel mehr gleich intern
am PC bearbeiten.“ Aha. Ich nehme auf einem der lilafarbenen Kinosessel Platz, die direkt hinter dem Mischpult stehen.
Durch eine große Scheibe kann ich vom Regie-Raum aus in
den riesigen Aufnahmeraum sehen. „Und wofür ist dieses
kleine Fenster dort da?“, frage ich Jörg. „Da liegt der Kabinenraum – wie der Name schon sagt, ein sehr kleiner Raum,
der sowohl mit dem Regieraum als auch mit dem AufnahmeRaum verbunden ist. Dort nehmen hauptsächlich Sänger und
manchmal auch Gitarristen auf. Der Sound klingt dann schön
trocken.“ Draußen fahren mehrere Autos vor. „Das werden sie
dann wohl sein“, meint Jörg und geht nach draußen. Suffocate
Bastard sind angekommen.
Suffocate Bastard
(to suffocate: engl. ersticken, umkommen, würgen; bastard:
engl. uneheliches Kind; auch: Biest, Miststück)
Die Begrüßung fällt kurz, aber herzlich aus. Es folgt das große Schleppen. Neben diversen Schlaf- und Rucksäcken muss
nämlich vor allem das Equipment der Band aus den Autos geladen, ins Studio getragen und dort aufgebaut werden. Während ich eine der zahlreichen Schlagzeugtrommeln ins Haus
hieve, lasse ich meinen ersten Eindruck von der Band geistig
Revue passieren.
Da ist zuerst Thorsten Bertram, der Drummer von Suffocate Bastard. Schlank, hoch gewachsen, Glatze, schmales Gesicht mit schwarzen Augen. Seine Bewegungen sind flink und
zielgerichtet. Von Suffocate Bastards Homepage weiß ich, dass
Thorsten bereits Mitte 30 ist und schon in zahlreichen DeathMetal-Bands gespielt hat. Vor zwei Jahren ist Thorsten zu Suffocate Bastard gestoßen, genau wie Bassist Karsten Boehnke,
der ebenfalls seit 2004 mit dabei ist. Karsten ist eher klein
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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gewachsen, stabil gebaut und ebenfalls glatzköpfig. Vielleicht
aufgrund seines Alters – Karsten geht bereits stramm auf die
Vierzig zu – und seiner musikalischen Erfahrung strahlt er die
Gelassenheit eines Buddhas aus. Aufgeregt und aufgeweckt
wirken dagegen die beiden Gitarristen Patrick Czerny und
David Adamietz. Beide stießen bereits kurz nach der Gründung von Suffocate Bastard im Jahr 2000 durch einen Aushang des Sängers Stefan Brinkmann in einem Musikgeschäft
zur Band und erlebten in den nächsten Jahren zahllose Besetzungswechsel mit. Patrick, Mitte 20, mittelgroß, schwarze
Kurzhaarfrisur und lachende Augen, hat neben Gitarre auch
schon Schlagzeug bei Suffocate Bastard gespielt. David, ebenfalls mittelgroß, schlank, glatzköpfig, mit dunklen neugierigen
Augen, ist ein enger Freund von Patrick und mit 24 Jahren
das Nesthäkchen der Band. Anfangs spielte David den Bass
bei Suffocate Bastard, wechselte nach Karstens Einstieg aber
an die Gitarre. Zum Schluss ist da noch Stefan Brinkmann,
der Sänger und Gründer von Suffocate Bastard. Der kleine,
schlanke Endzwanziger mit den rotblonden Haaren ist neben
dem Gesang auch für die englischsprachigen Texte von Suffocate Bastard verantwortlich.
Inzwischen ist das Schlagzeug im Aufnahmeraum aufgebaut,
die Mikrofone sind angebracht, die Saiteninstrumente werden
verkabelt. Die Aufzeichnungen können beginnen. Thorsten
wird heute als Erster das Schlagzeug-Set eintrommeln. Bevor es aber losgeht, hört sich Jörg auf Drängen von Suffocate
Bastard einige CDs von amerikanischen Death-Metal-Bands
an, die die Bandmitglieder zusammen ausgesucht haben, weil
diese ihrer Meinung nach den perfekten Death-Metal-Schlagzeug-Sound verkörpern. Besonders Thorsten hat eine recht
differenzierte Vorstellung davon, wie die Drums bei Suffocate
Bastard am Ende klingen sollen: Ein Snare-Sound wie bei den
Brutal-Death-Metallern von Deeds of Flesh (USA, Kalifornien), Tom-Klänge wie bei der New Yorker Death-Metal-Band
Suffocation (USA, New York), leicht klickernde Bass Drums
wie bei Wasteform (USA, New York) und weiche Hi-Hats wie
bei Decrepit Birth (USA, Kalifornien). Jörg lässt alle Erklärungen und Wünsche der Band geduldig über sich ergehen und
beendet schließlich die Diskussion mit dem Kommentar: „Wer
wie Suffocation klingen will, muss wie Suffocation spielen.“
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
„Ein guter Death-Metal-Drummer muss
sauber, schnell und präzise spielen können
und dabei auch noch originelle Ideen haben.“
Thorsten, Schlagzeug
Das lässt Thorsten sich nicht zweimal sagen. Er verschwindet, um sich umzuziehen. Wenig später erscheint er statt in
Jeans und Kapuzenpullover nur noch mit einem T-Shirt und
kurzen Hosen bekleidet im Aufnahmeraum. In diesem sportlichen Outfit hat Thorsten nun maximale Bewegungsfreiheit,
und warm wird es ihm auch bald werden. Denn Death-Metal-Drums zu spielen ist ungefähr so anstrengend wie Hochleistungssport. Über Stunden wird Thorsten ein Tempo jenseits von 250 Beats per Minute durchhalten müssen – zum
Vergleich: das Tempo eines Rocksongs beträgt im Schnitt
120 Beats per Minute. Wie im Sport beginnt Thorsten, sich
langsam warm zu spielen. Währenddessen betrachte ich sein
Schlagzeug genauer und versuche, mir den Klang der einzelnen Trommeln und Becken einzuprägen.
Die auffälligste Besonderheit an Schlagzeugen aus dem Blackund Death-Metal-Bereich sind die beiden Bass Drums, die
durch zwei Fußpedale angeschlagen werden. Seltener wird nur
eine Bass Drum mit einer Doppelfußmaschine bedient. Im
Black und Death Metal werden die Bass Drums häufig „getriggert“. Trigger sind Impuls- bzw. Signalgeber, die an den Bass
Drums befestigt werden. Durch die Stimulation des Trommelfells der Bass Drums wird der Impuls eines Schlages als
Auslöser genutzt, um aus einem Klangerzeugungsgerät, z. B.
einem Drumcomputer, elektronisch einen Ton abzurufen. Das
bedeutet, dass der Bass-Drum-Sound, wie er auf einer DeathMetal-CD oder auf einem Death-Metal-Live-Konzert zu hören
ist, meistens nicht der natürliche Klang der Bass Drums ist,
sondern ein künstlicher Sound, der von einem Drumcomputer ausgegeben wird. Das Triggern der Bass Drums, manchmal
auch der Snare, ist im Black und Death Metal gängige Praxis,
denn es birgt mehrere Vorteile: Erstens kann der Sound der
Bass Drums zeitlich und klanglich beliebig ausgewählt und
festgelegt werden. Der Klang richtet sich allein nach den speziellen Soundinteressen einer Band. Im Death-Metal-Bereich
ist häufig ein besonders ‚fetter’, mächtiger Bass-Drum-Sound
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erwünscht, der auf natürliche Weise nicht zu erreichen wäre.
Zweitens kann durch Triggern im Bass-Drum-Sound eine
Gleichmäßigkeit, Sauberkeit und Präzision der Schlagzeugarbeit erreicht werden, wie sie für den Death Metal geradezu
charakteristisch ist. Für einen Death-Metal-Schlagzeuger wäre
es durch die hohen Geschwindigkeiten, komplizierten Breaks
und ständigen Tempiwechsel praktisch unmöglich, über lange
Zeiträume hinweg die Bass-Drums genau gleich laut zu spielen. Die Trigger „töten“ die Dynamik: Egal wie fest oder leicht
ein Drummer auf die Bass Drums schlägt – das Signal wird am
Ende durch einen Drumcomputer immer genau gleich laut
ausgegeben. Die so erzielte Gleichmäßigkeit des Bass-DrumSounds ist einerseits für die Mitmusiker der Band wichtig, die
sich häufig an den Bass Drums orientieren. Aber auch für die
Death-Metal-Fans ist es angenehmer, die Bass Drums, die im
Wesentlichen Death-Metal-Musik strukturieren, deutlich herauszuhören. Dynamische Schwankungen in den Bass Drums
würden dagegen eher irritieren, weil sie den Zuhörer im
Thorsten beim Eintrommeln der Schlagzeugspuren
wahrsten Sinne des Wortes aus dem Takt brächten. Live verhindern Trigger außerdem das Entstehen eines Sound-Breis
durch zu hohe Umgebungslautstärken.
Neben den beiden Bass Drums besteht Thorstens Schlagzeug aus einer Snare, drei Hänge-Toms und einer Stand-Tom,
aus einer Hi-Hat, einem Ride-Becken, zwei Crash-Becken und
einem China-Becken. Nach Thorstens Auskunft handelt es
sich dabei um ein gutes Schlagzeug der mittleren Preisklasse.
Hersteller der Trommeln ist die Firma Tama, die Becken sind
von Zildjian und bespielt wird das Schlagzeug mit Sonor 7ASticks. Während der Aufbauarbeiten im Aufnahmeraum hat
Jörg jede Trommel und jedes Becken mit einem Mikrofon versehen, die Snare mit zwei Mikrofonen, so dass von oben der
Anschlag und von unten die Resonanz aufgenommen werden
kann. Während der Aufnahme werden die am Schlagzeug
erzeugten Töne durch die Mikrofone in elektrische Signale
umgewandelt, die Jörg im Regie-Raum aufzeichnet. Anschließend kann Jörg die so erzeugten 13 Schlagzeugspuren bearbeiten und abmischen.
Inzwischen hat Thorsten sich warm gespielt. Die SchlagzeugAufnahmen können beginnen. Um Thorsten die Orientierung
zu erleichtern, spielen David und Patrick alle Suffocate-Bastard-Songs mit ihren Gitarren mit – Thorsten hört sie über
Kopfhörer. Die Pilotspuren dieser „Phantomgitarren“ werden
nach der Aufnahme der Schlagzeugspuren allerdings wieder
gelöscht. In rund dreieinhalb Stunden trommelt Thorsten das
gesamte Schlagzeug-Set von 14 Songs ein. Da er nur selten
Fehler macht, kann der Großteil der Songs am Stück aufgenommen werden. Bei groben Schnitzern setzt Thorsten direkt
im Song neu an und Jörg überspielt den falschen Part. Kleinere Fehler korrigieren Thorsten und Jörg während des erneuten
Durchhörens der Stücke. Anschließend schneidet Jörg unerwünschte Nebengeräusche aus den einzelnen Schlagzeugspuren heraus. Diese entstehen hauptsächlich dadurch, dass
die einzelnen am Schlagzeug angebrachten Mikrofone nicht
nur das aufnehmen, was sie aufnehmen sollen, sondern auch
Geräusche der benachbarten Trommeln oder Becken. Während dieser „wummernde“ Schlagzeugsound beispielsweise
im Punk Rock beliebt ist und sogar stilbildend wirkt, müssen
im Death Metal die Schlagzeugspuren von Nebengeräuschen
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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befreit werden, damit der Drum-Sound am Ende möglichst
sauber und druckvoll klingt.
Am Abend sind alle glücklich und erleichtert, dass die
Schlagzeug-Aufnahmen so problemlos geklappt haben. Denn
das ist nicht selbstverständlich, erzählt Jörg: „Normalerweise verbringen wir deutlich mehr Zeit mit der Aufnahme des
Schlagzeugs, weil viele Death-Metal-Drummer schneller klingen wollen als sie tatsächlich spielen können. Meistens spielen
sie dann sehr unsauber und ich muss viel überspielen, herausschneiden, einzelne Schläge einfügen und ganze Parts hin
und her schieben. Das kann Tage in Anspruch nehmen. Und
am Ende geben gerade diese Drummer dann überall damit an,
was für ein Wahnsinns-Set sie da eingespielt haben.“
Wahrscheinlich kam Thorsten bei den Aufnahmen sein Erfahrungsreichtum zugute. Seit über 18 Jahren spielt er Schlagzeug, hat in diversen Bands getrommelt und bereits mehrfach
im Tonstudio CDs aufgenommen. Das Schlagzeugspielen hat
er sich selbst durch das Nachspielen von Metal-Songs anderer
Bands beigebracht. Wir beschließen den ersten Arbeitstag im
Regie-Raum mit dem erneuten Hören der Schlagzeugspuren.
Patrick und David, die am nächsten Tag die Gitarren einspielen, hören besonders genau hin. Irgendwann seufzt Patrick und
meint zu Thorsten: „Kann es sein, dass du irgendwie schneller
gespielt hast als sonst? Es kommt mir wahnsinnig schnell vor.“
Thorsten, der mit seinen Fingern den Rhythmus der Songs auf
seinen Knien mittrommelt, sagt: „Tja, das Adrenalin.“
Während wir auf Jörg warten, erzählen mir Patrick und David,
dass sie beide seit circa zehn Jahren Gitarre spielen und beide
Autodidakten seien. Während Patrick vor allem von Freunden
immer wieder neue Griffe und Riffs beigebracht bekam, lernte
David über das Studieren von Tabulaturen in Gitarrenbüchern
und über das „Abgucken“ bestimmter Grifftechniken in Metal-Videoclips das Gitarrenspiel. „Und warum muss es gerade
Death Metal sein?“ frage ich. „Warum spielt ihr zum Beispiel
nicht in einer Rock- oder Pop-Band?“ Verständnislos schauen
mich beide an. „Naja“, beginnt David, „Death Metal, das ist halt
eine Musik, die einen als Musiker noch richtig herausfordert,
das ist teilweise schwer zu knacken. Man weiß nie, ob man es
so hinkriegt, wie man es sich vorstellt und gerade live bleibt
immer ein gewisser Nervenkitzel und ein Restrisiko, dass man
es vermasselt.“ „Death Metal ist schwierige und komplexe Musik“, schließt sich Patrick an. „Man kann immer wieder Neues
in ihr entdecken. Und sie ist richtig anstrengend, wie Sport.
„Death Metal, das ist vor allem die Musik.
Die Texte interessieren uns nicht.“
David und Patrick, E-Gitarren
Als ich am nächsten Morgen verschlafen in die Küche tapere,
staune ich nicht schlecht. Die ganze Küche sieht so sauber aus,
als wäre sie von uns am Vortag nicht benutzt worden, Thorsten schrubbt gerade die Herdplatten und es riecht nach frischem Kaffee. Auf meinen ungläubigen Blick hin erklärt mir
Thorsten streng: „Ich hasse Dreck und Unordnung. Ich kann
so nicht arbeiten!“ Ich flüchte in den Regie-Raum, wo Patrick
dabei ist, sich einzuspielen und David gerade neue Saiten auf
seine Gitarre aufzieht.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
Patrick und Jörg hören sich Patricks zuletzt eingespieltes Set an.
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Das ist echte Männermusik. Den ganzen Stress, den man so
erlebt, zum Beispiel auf der Arbeit, den kann man richtig gut
mit der Musik abbauen.“ „Außerdem gefällt mir, dass man
im Death Metal noch etwas erreichen kann“, ergänzt David.
„Schau zum Beispiel uns an. Wir sind noch eine relativ junge
Band und trotzdem durften wir schon als Vorband von Suffocation spielen.“ Und nach einigem Nachdenken fügt David
noch an: „Für mich ist die Band momentan eigentlich mehr
als ein Hobby, sie hält mich am Leben.“ Aus einer anderen
Unterhaltung mit David weiß ich, dass er zur Zeit arbeitslos
ist. Eine Zeit lang schweigen wir alle, nur Patricks vereinzeltes
Zupfen an den Gitarrensaiten unterbricht die Stille.
Dann betritt Jörg den Regie-Raum. Patrick unterbricht sein
Gitarrenspiel, legt eine CD der Death-Metal-Band Inveracity
(Griechenland) in den CD-Player ein und verkündet: „Genau
so sollen unsere Gitarren klingen!“ Jörg lässt sich auf seinen
Drehstuhl vor dem Mischpult plumpsen. „Ja, oder so“, meint
David und tauscht die CDs. Drückende Gitarrenwände ertönen. „Suffocation!“, erklärt mir David mit verzückten Augen.
Langsam dämmert mir, dass der Name Suffocate Bastard eine
Reminiszenz an die US-amerikanische Death-Metal-Band
Suffocation ist, die den Soundvorstellungen von Suffocate
Bastard am nächsten kommt. Jörg nickt die Soundbeispiele
ab. „Typische Wanne eben“, murmelt er. „Viele Höhen, viele
Tiefen, kaum Mitten.“ Patrick und David stimmen ihre SolidBody-Gitarren, das sind Gitarren mit festem Korpus. Um den
Gitarrensound besonders tief und drückend erscheinen zu
lassen, ist es im Death Metal üblich, die Gitarren und den Bass
mindestens einen Ganzton tiefer zu stimmen – beide Gitarren
bei Suffocate Bastard sind auf d statt auf e gestimmt.
Die Tonabnehmer von E-Gitarren, auch Pickups genannt,
funktionieren wie elektrische Spulen: Sie wandeln die Schwingungen der Saiten, die beim Anschlagen entstehen, in elektronische Schwingungen um. Generell kann zwischen zwei
verschiedenen Pickup-Modellen unterschieden werden: Es
gibt einfache Spulen, so genannte Single-Coils, und doppelte
Spulen, so genannte Humbucker. Da doppelte Spulen einen
tieferen Sound erzeugen, werden sie im Metal bevorzugt verwendet – so auch bei Suffocate Bastard. Patrick klemmt seine
Gitarre der Marke Marathon an das Topteil an, David eine ex-
tra für die Studioaufnahmen ausgeliehene Jackson-Gitarre an
einen Verstärker. Zwischengeschaltet sind Verzerrer namens
Metal Master Distortion, ein Kompressor drückt den Sound
der Gitarren weiter in die Tiefe. Zusätzlich entfernt ein NoiseGate Störgeräusche, beispielsweise Rückkopplungseffekte.
Es kann losgehen. Patrick und David merkt man nun deutlich ihre Anspannung an. Für beide ist es die erste richtige
Studioproduktion, entsprechend groß ist die Aufregung. Patrick wird heute mit den Aufnahmen beginnen, David spielt
die Songs mit seiner Gitarre mit, um Patrick die Orientierung zu erleichtern. Jörg lässt die gestern aufgenommenen
Schlagzeugspuren laufen. Nach wenigen Minuten ist die erste
Gitarrenspur im Kasten, wenn auch mit einigen Fehlern. Patrick stöhnt: „Wie ich es gestern Abend schon gesagt habe,
Thorsten hat viel schneller gespielt als sonst.“ Jörg winkt ab:
„Das war doch schon ganz gut. Und die fehlerhaften Stellen
Äußerste Konzentration – David beim Einspielen seiner Gitarrenspuren
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machen wir einfach gleich noch mal.“ Einige Stunden und Songs
später gerät Patrick an den Rand der Verzweiflung. Unerbittlich diktiert das Schlagzeug das Tempo, das Timing stimmt
nicht, schwierige Stellen wollen auch beim zehnten Anlauf
einfach nicht klappen, der Kopf blockiert, die Finger wollen
nicht mehr und Patrick setzt sich selbst immer mehr unter
Druck. Jörg ordnet eine Pause an.
Patrick flüchtet sich raus an die frische Luft, wenig später folgt ihm David und spricht ihm Mut zu. Im Gegensatz
zu vielen anderen Metal-Bands gibt es zwischen den beiden
Suffocate-Bastard-Gitarristen keine Hierarchien und kein
Konkurrenzverhältnis, auch wenn beide versuchen, sich gegenseitig zu Höchstleistungen anzutreiben. „Wir wollen keine Positionen vergeben“, macht mir David eindringlich klar.
Dieser Anspruch auf Gleichberechtigung schlägt sich auch
in der musikalischen Struktur der Suffocat-Bastard-Songs
nieder: Die sonst übliche Aufteilung in eine Lead- und eine
Rhythmusgitarre gibt es nicht, längere Gitarrensoli, die einen
Gitarristen über den anderen erheben, fehlen ebenfalls. Stattdessen spielen Patrick und David die meisten Riffs unisono,
um den Sound „fetter“ zu machen und viel Druck zu erzeugen. Die Gitarrenriffs von Suffocate Bastard bestehen entweder aus Power-Akkorden oder aus einigen wenigen Einzeltönen, so genannten „single-notes“, die entweder zweistimmig
gespielt werden oder sich gegenseitig imitieren und ergänzen.
Die kleinen, häufig chromatischen Melodien dauern oft nur
wenige Sekunden, weshalb es für Patrick und David teilweise
schwierig ist, bei hohem Tempo ihren Einsatz exakt zu treffen.
Zudem dürfen Töne und Akkorde im Death Metal oft nicht
ausklingen, sondern müssen bei einem Break sauber mit der
Handkante abgestoppt werden. Thorsten bemerkt: „Death
Metal lebt von dieser Mischung aus Aktion und Pause“, also
Klingt doch schon mächtig nach Death Metal – Thorsten, Patrick, David, Karsten und Jörg lauschen andächtig.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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Am nächsten Vormittag müht sich David redlich. Wie
Patrick hat er mit dem hohen Tempo, das Thorsten vorgelegt
hat, Probleme, lässt sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen und probiert schwierige Stellen immer wieder. Am Abend
des dritten Studiotages ist die Aufzeichnung der Gitarren abgeschlossen. „Mehr Zeit haben wir aber auch nicht“, bemerkt
Karsten, der am nächsten Tag die Bassspuren einspielen soll.
„Unser Label kommt zwar immerhin für fünf Tage im Studio
auf, alles darüber Hinausgehende müssen wir aber selbst berappen, und das sind immerhin gut 200 Euro am Tag. Nicht,
dass das viel ist für so ein Studio, im Gegenteil, aber haben
muss man das Geld ja trotzdem.“ Jörg kennt das Problem:
„Ideal für eine Band sind eigentlich um die 30 Tage im Studio,
da hat man auch einmal Zeit etwas auszuprobieren. Das können sich allerdings oft nur die etablierteren Bands leisten, wo
das Plattenlabel den Großteil der Kosten trägt. Kleinere Bands
wie Suffocate Bastard haben fast immer einen immensen
Zeitdruck, weil sie maximal eine Woche bezahlt kriegen. Das
reicht in der Regel gerade einmal für die Aufnahmen. Aber die
Spuren abmischen und das Gesamtpaket mastern muss ich ja
auch noch.“
„Bei Suffocate Bastard mischt sich jugendlicher
Eifer mit der Erfahrung der alten Säcke.“
Immer schön locker bleiben! Karsten mit B.C.Rich Warlock Supreme-Bass
von ohrenbetäubender Lautstärke und absoluter Stille. Die
in der Pop- und Rockmusik übliche Aufteilung eines Stückes
in Strophe, Bridge und Refrain ist im Death Metal eher selten. Die Songs von Suffocate Bastard bestehen meist aus zehn
bis 20 verschiedenen Parts, von denen nur zwei oder drei im
Laufe eines Stückes wiederholt werden. Wie in einer Collage
werden hier tonale Versatzstücke verschiedenster Art aneinandergereiht, die Struktur eines Stückes offenbart sich erst
nach vielfachem Zuhören.
Am Ende des Tages hat Patrick es tatsächlich geschafft, alle
seine Gitarrenspuren sauber einzuspielen. Und während er es
sich vor dem Fernseher mit einem Glas Wodka-O gemütlich
macht, beginnt bei David das große Zittern vor den morgigen
Aufnahmen.
Karsten, E-Bass
Am Morgen des vierten Studiotages sitzt Karsten mit seinem
riesigen E-Bass der Marke B.C. Rich Warlock Supreme hochmotiviert im Regieraum und erzählt, dass es sich bei seinem
Musikinstrument um eine echte Rarität handelt: „Dieser Bass
kommt aus den USA und ist aus einem Stück gefertigt – ein
Unikat aus einer Kleinstserie! Er ist aus hochwertigem Holz
und dadurch auch ziemlich schwer – hier, halt mal.“ Er drückt
mir den Bass in die Hand und lacht, als er mein überraschtes
Gesicht sieht: „Tja, so sechs, sieben Kilo wiegt er schon.“ Ich
verstehe jetzt, warum Karsten sein Set möglichst im Sitzen einspielen will. „Der Basshals hat mit 24 Bünden Standardlänge“,
informiert mich Karsten weiter. „Die meisten E-Bässe verfügen
über 20 bis 24 Bünde.“ Ich gebe Karsten den Bass zurück, damit er die vier Saiten stimmen kann – wie die E-Gitarren wird
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auch der Bass einen Ganzton auf d herab gestimmt. Unter den
Basssaiten befinden sich, ebenfalls wie bei den E-Gitarren, die
Tonabnehmer, die die Saitenschwingungen durch elektromagnetische Induktion in elektrische Signale umwandeln. Wie
David und Patrick verwendet auch Karsten Humbucker, also
doppelte Spulen. Um einen breiigen Basssound zu vermeiden,
verzichtet Karsten auf Verzerrer und Effektgeräte.
Jörg hat inzwischen auf seinem Chefsessel vor dem Mischpult Platz genommen und gibt Karsten ein Zeichen, dass die
Aufnahmen beginnen können. Im Gegensatz zu den Gitarristen spielt Karsten ohne Plektrum und schlägt die Saiten mit
dem Zeige- und dem Mittelfinger, manchmal auch mit dem
Ringfinger an. Akkorde kommen eher selten vor, Karsten
spielt überwiegend kurze, abgehackte Parts, die aus einzelnen
single-notes bestehen. Die Hauptfunktion seines Bassspiels ist
es, eine Brücke zwischen den Gitarren und dem Schlagzeug
zu schlagen. In Karstens Worten: „Der Bass muss von unten
drücken, ohne dabei den Gitarren etwas weg zu nehmen.“
Während der Bass sich rhythmisch am Schlagzeug orientiert,
lehnt er sich harmonisch-melodisch an die Gitarren an, greift
deren Grundtöne auf, imitiert bestimmte Riffs in Oktav- oder
Quintabständen. Das hohe Tempo, das das Schlagzeug vorgibt,
macht auch Karsten zu schaffen. Doch er ist erfahren genug,
um die Nerven zu behalten. Angefangen hatte bei ihm alles
mit Konzertgitarrenunterricht an einer Musikschule, zwölf
Jahre lang blieb er dabei. Als Teenie brachte er sich selbst das
Bass-Spielen bei. Bevor er 2004 zu Suffocate Bastard stieß, war
er in diversen Metal-Bands als Bassist aktiv.
„Death Metal – das ist frei sein auf Zeit.“
Stefan, Gesang und Lyrisches
Während im Regieraum Jörg und Karsten hochkonzentriert
ihrer Arbeit nachgehen, studiert Sänger Stefan im Wohnzimmer seine Songtexte, die er mit Klarsichtfolie säuberlich
in einen dicken Ordner abgeheftet hat. In der Küche brüten
Thorsten und David über den Dankes- und Grußlisten für das
CD-Inlay. Ich setze mich zu Stefan, um Näheres über ihn zu
erfahren. „Wie machst du das eigentlich mit dem Growlen?“,
frage ich. „Gibt es da eine bestimmte Technik?“ Stefan lacht.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
„Klar, sonst kann man das nicht lange durchhalten, ohne dass
die Stimmbänder dauerhaften Schaden nehmen. Besonders
wichtig ist das bewusste und kontrollierte Atmen, denn die
Growls entstehen durch eine Art Luftdruck tief im Bauch, und
werden dann oben im Hals noch zusätzlich verzerrt. Im Death
Metal sind tiefe Growls besonders beliebt und manche Sänger
verwenden Effektgeräte, die ihre Stimme tiefer pitchen. Aber
generell ist das ziemlich verpönt, weil das einfach gemogelt ist.
Ich persönlich verwende jedenfalls keine Effektgeräte.“ Stefan
blättert in seinem Ordner und zeigt mir einige seiner Songtexte. Alle sind auf Englisch. Ich erkundige mich, ob sich seine
Songlyrics auch um die üblichen Splatter- und Horror-Themen drehen, die im Death Metal weit verbreitet sind. Stefan
schüttelt heftig den Kopf: „Im Gegenteil! Ich versuche, eher
politische, sozialkritische oder philosophische Texte zu schreiben, die manchmal auch Wortspiele enthalten und insgesamt
ziemlich sarkastisch sind. Es geht mir um eine Deutung der
Welt, wie ich sie jeden Tag sehe und erlebe. Besonders interessiert mich dabei die Beeinflussung eines Subjektes durch
seine Umwelt, durch die Gesellschaft und wie es sich immer
wieder an diese anpasst. Dabei geht es mir nicht darum, die
Welt irgendwie verbessern zu wollen, sondern nur um die
Darstellung, um die Abbildung von subjektiver Wirklichkeit.“
Ich hake ein: „Meiner bisherigen Erfahrung nach sind die Texte für viele Death-Metal-Musiker und -Fans eher Beiwerk und
nicht so wichtig. Bei dir scheint das aber ganz anders zu sein?“
„Stimmt“, sagt Stefan. „Nur weil etwas oft so oder so ist, heißt
das ja nicht, dass das bei Suffocate Bastard auch so sein muss.
Obwohl, eigentlich ist bei uns auch nur Karsten, der meine
Texte oft liest und redigiert, und so richtig an ihnen interessiert
ist.“ „Stimmt das?“, rufe ich in die Küche hinüber. David guckt
um die Ecke. „Also, für mich steht das Musikmachen ganz klar
im Vordergrund. Was Stefan da singt ist mir, ehrlich gesagt,
relativ egal, weil die Musik an sich ja schon alles Wesentliche
ausdrückt.“ Thorsten pflichtet David bei. Stefan zuckt mit den
Achseln. „Und wie kommst du so auf die Ideen für deine Texte?“, frage ich. Nach kurzem Überlegen meint Stefan: „Wenn
man es genau nimmt, erhalte ich Inspirationen vor allem aus
meinem alltäglichen Handeln und Erfahren. Das, was ich an
Negativem im Alltag erlebe, kann ich in Death-Metal-Texten
und später im Gesang kanalisieren, komprimiert wiedergeben
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und dorthin umlenken.“ „Eine Art Katharsis also?“, überlege
ich. Stefan nickt. „Genau. Ein kathartischer Effekt. Wenn ich
growle, dann kann ich durch meine Stimme das Tier, den Wolf
in mir ausdrücken. Und der ist schließlich in uns allen. Aber
das Vorhandensein von irgendwelchen Urinstinkten wird ja
in unserer Kultur geleugnet und tabuisiert. Vielleicht mögen
viele Leute Death Metal einfach deshalb nicht, weil sie durch
diese Musik mit etwas konfrontiert werden, mit dem sie sich
nicht beschäftigen wollen.“ Nach einigen Sekunden setzt Stefan nach: „Weißt Du, manchmal erschrecke ich mich beim
Growlen direkt über mich selbst und was da so alles in mir
drin ist. Aber ich denke, durch Death Metal kann jeder von
uns in der Band negative Energie umwandeln in gemeinsam
erlebte, positive Energie. Bands haben da so eine Art Katalysatorfunktion, und auch die Zuschauer auf Konzerten nutzen
die ausgestrahlte positive Energie, um sich selbst von negativen Alltagserlebnissen zu befreien.“ „Weißt du, was ich ziemlich paradox finde?“, frage ich Stefan. „Diese positive Energie,
die ihr durch eure Band und durch Death Metal erlangt, ist
doch eigentlich nur dafür da, um in Alltagsprozessen wieder
verbraucht zu werden. Damit ist Death Metal keineswegs destruktiv, sondern sogar konstruktiv. Denn im Grunde unterstützt ihr durch eure kostenlose Musiktherapie mit Hilfe von
Death Metal das Funktionieren gesamtgesellschaftlicher Prozesse.“ Stefan grinst breit. „Das stimmt schon. Aber ich habe
ja auch nie gesagt, dass ich das Leben, so wie es ist, nicht liebe.
Die Verarbeitung von negativen Erfahrungen schließt ja nicht
aus, dass man trotzdem im Allgemeinen gerne lebt.“ Karsten
platzt in die Küche und beendet damit unser philosophisches
Duett. „Geschafft“, stöhnt er erleichtert. „Alle Spuren sind im
Kasten. Fehlt nur noch der Gesang.“ Ich gehe rüber ins Haupthaus, um meine Sachen zu packen, denn mein Aufenthalt im
Tonstudio endet noch an diesem Abend.
Einige Tage später, kurz vor Weihnachten, telefoniere ich mit
Jörg, um zu erfahren, ob die restlichen Aufnahmen noch gut
geklappt haben. „Alles bestens gelaufen“, erzählt mir Jörg.
„Mit Stefan haben wir einen Tag im Kabinenraum aufgenommen und danach habe ich die einzelnen Spuren abgemischt.
Zum Beispiel haben wir auf den Gesang ein wenig Hall gelegt. Jetzt muss das Gesamtpaket noch gemastert werden. Das
war es dann eigentlich. Wie ich gehört habe, soll die Platte im
Frühjahr rauskommen.“
Schlussakkord
„Time to say Goodbye“ - Abschlussphoto mit Stefan, Thorsten und David
Fünf Monate später. Es ist zwölf Uhr mittags, die Sonne kitzelt
meine Nase und ich sitze vergnügt mit einer Dose Bier in der
Hand irgendwo in Brandenburg auf dem Dach unseres alten
Autos, von wo aus ich wunderbar das Campinggelände des alljährlich stattfindenden Death-Metal-Festivals Fuck the Commerce überblicken kann. Unter mir dröhnen die Auto-Boxen. Zwei Jungs mit langen Haaren, Cargo-Hosen, schweren
Bundeswehr-Stiefeln und schwarzen T-Shirts bleiben stehen.
„Hey, was hörst du denn da?“ „Das ist die neue Scheibe von
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David, Thorsten, Jörg und Karsten hören die neuen Aufnahmen durch.
Frontgrunzer Stefan im Kabinenraum
Suffocate Bastard“, antworte ich. „Gerade rausgekommen.“
„Nicht übel“, meint einer der beiden. „Wollt ihr ein Bier?“,
lade ich die beiden ein. Und während ich ihnen von meinem
Aufenthalt im Soundlodge erzähle, unterhält die Scheibe von
Suffocate Bastard lautstark die Nachbarschaft.
Nachwort: Suffocate Bastards erstes Full-Length-Album „Acts
of Contemporary Violence“ wurde am 20. April 2007 offiziell
über die Plattenfirma Revenge Productions veröffentlicht. Zur
gleichen Zeit trennten sich Stefan und Suffocate Bastard. Auf
der Homepage von Suffocate Bastard heißt es: „We amicably
split ways with singer Stefan. It simply didn’t work out anymore. There is no bad blood whatsoever and we have to show
our respect to Stefan for his past efforts for the band. We wish
nothing but the best for his future personally and musicwise.“
In diesem Sinne, Jungs: Alles Gute!
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Show No Mercy
oder: All We Are – All We Are We Are – We Are All – All We Need
TEXT: DIETMAR ELFLEIN
FOTOS: HENRI KRAMER
„Ich sitze in meiner Stammkneipe, zische mein letztes Bier für
den Abend und will grade gehen. Da fasst mir jemand von
hinten auf die Schulter. Ich dreh mich um, seh ’n SatyriconShirt, und denke: cool, jemand aus der Szene. Aber denkste!
Der schaut mich nur an und fragt: ‚Bist du homo oder warum
hörst du Helloween?’ [...] So was hab ich noch nicht erlebt. Ist
der Black-Metaller-Nachwuchs so intolerant wie HipHopper?
[...] Kann es sein, dass die schwarzen Kiddies sich nicht mit
den Anfängen unserer Mucke auskennen? Ich hab nichts gegen ’ne vernünftige Diskussion, und den Nachwuchs fördere
ich eigentlich gern, aber ich will auch ’n bisschen Respekt.“1
erst noch vermittelt werden muss. Klingt wie ein normaler
Generationenkonflikt, möchte man fast meinen. Aber derartige interne Konflikte werden schnell zur Bedrohung. Die
vermeintlich so eindeutige Szene entpuppt sich nämlich als
fragiles Konstrukt eigentlich auseinander strebender Interessen, die am besten von einem äußeren Feind – z. B. dem
Hip-Hopper – zusammengehalten werden müssen. Oder man
versucht die verbindenden Elemente über ein Fest zu stärken,
in der Hoffnung, dass die Menge der Gemeinsamkeiten dann
wieder, weiterhin oder auch erstmals tragfähig bleibt.
Wofür verlangt der Erzähler dieser Geschichte Respekt? Und
welche Szene enttäuscht ihn wegen dessen Verweigerung?
Respekt erwartet er – es ist ein Mann – offensichtlich
schon dafür, Teil der Metal-Szene zu sein und dies offen zu zeigen. Eine zusätzliche Betonung liegt auf der zeitlichen Ebene,
darauf, immer noch Teil der Szene zu sein, nicht eingeknickt
zu sein wegen Karriere oder Familie, den Lebensstil Metal
nicht verraten zu haben – allen hypothetischen Widrigkeiten
zum Trotz. Diese Leistung ist es, die gewürdigt werden muss
von der Gemeinschaft der Heavy-Metal-Fans. Einer Gemeinschaft, deren Einheit und Eindeutigkeit – man gehört entweder dazu oder nicht; man gehört nicht mit dieser und jener
Einschränkung dazu – dem Erzähler sehr wichtig ist und die,
seiner geschilderten Erfahrung nach, der Jugend offensichtlich
Metal Daze
Open-Air-Festivals im Allgemeinen, das Wacken-Open-Air im
Besonderen, sind schon lange DER Ort, an dem diese mythische
Einheit der Metal-Szene zelebriert wird. Eine Einheit, die
grundlegend für das Selbstverständnis als Metaller ist. Das gilt
nicht erst, seit der Rockpalast berichtet und der Dokumentarfilm „Full Metal Village“ das Kinopublikum erheitert hat.
Auch der US-amerikanische Anthropologe Sam Dunn fährt
im Rahmen der Filmaufnahmen für seine DVD „Metal – A
Headbanger’s Journey“ nach Wacken, um über die Heavy-Metal-Kultur zu berichten. Zwar ist das Wacken-Open-Air das
größte Festival, aber allein im deutschsprachigen Raum finden jeweils zwischen Juni und August jedes Jahr mindestens
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Party.San 2007
35 Metal-Festivals unterschiedlichsten stilistischen Zuschnitts
statt, die sich fast alle über jährlich wachsende Zuschauerzahlen freuen. Veranstaltungen im nahen Ausland wie in
Slowenien, den Niederlande, Belgien und Dänemark sind dabei noch nicht mal mitgerechnet.
Die für den obigen Leserbriefschreiber wichtige Einheit der
Metal-Szene soll real über die Ausdifferenzierung des Genres
seit Ende der 1980er-Jahre, also vermeintlich seit dem Auftauchen extremerer Spielarten des Heavy Metal und den damit zusammenhängenden internen Abgrenzungskämpfen,
verloren gegangen sein – also z. B. durch Typen mit Satyricon-Shirts. Es spricht aber vieles für die den Mythos betoJOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
nende Variante der Geschichte, in der die Einheit der Metal
Szene immer nur gewünscht oder imaginiert wurde und die
Existenz der Einheit deshalb an einen ungeschichtlichen,
zeitlich unbestimmbaren Ort irgendwo in der Vergangenheit
verschoben wurde. Zur Vergegenwärtigung dieser mythischen
Vergangenheit dienen Feste oder Festivals. Die behauptete
Einheit der Szene braucht eine gemeinsame Geschichte, um
wenigstens temporär real werden zu können.
Die Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung betrachtet das Erinnern als eine sich in der Gegenwart vollziehende
Operation des Zusammenstellens verfügbarer Daten. Individuelle und kollektive Erinnerungen sind grundsätzlich ein
aussagekräftiges Indiz für die Bedürfnisse und Belange der
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Erinnernden in der Gegenwart und nie Spiegel einer authentischen Vergangenheit. Das Gedächtnis ist eine soziale und
individuelle Konstruktion zur Selbstvergewisserung der eigenen Geschichte, des eigenen Standpunkts: Wer bin ich/wir, wo
stehe ich/wir.2
Deshalb sind Ankündigungen wie Band xyz spielt ausschließlich Songs ihres Debütalbums aus den 1980ern3, spielt
nur Songs der ersten vier Alben aus den 1980ern4, spielt alle
Songs ihres Albums „zyx“ aus den 1980ern5, spielt eine Bestof-Show der 1980er6 oder spielt einmalig in der Originalbesetzung aus den 1980ern7 für die jeweilige Festivalsaison eher
die Regel als die Ausnahme. Für Wacken 2007 gilt dies für die
Mille von Kreator
Kreator, Thrash Legende aus Deutschland
Reunion der Thrash-Band Sacred Reich und der „Death Metal
Namenspatronen“ Possessed, sowie die Destruction und Sodom
Shows, bei denen zum 25-jährigen Bandjubiläum möglichst
viele Ex-Bandmitglieder (aus den 1980er-Jahren) mit auf die
Bühne gebeten wurden.
Jenseits dieser speziellen „Geschichtsstunden“, die im Ergebnis übrigens nicht zwangsläufig positiv rezipiert werden,
scheinen zumindest die berichtenden Journalisten von Festivalauftritten aller Bands zu erwarten, dass das Programm sich
zu einem hohen Prozentsatz aus der jeweiligen Bandgeschichte speist. Eher unbekannte ältere Songs werden dabei meist
als freudige Überraschung betrachtet, unbekannte neue Songs
sollten nur in homöopathischen Dosen vorhanden sein und
das Fehlen bestimmter Hits im Programm wird immer als negativ bewertet. Ein kulturelles Gedächtnis formiert sich.
Dazu passt die Beobachtung, dass das Wohlwollen, das
solchen Aktivitäten von der Szene und ihren Institutionen
während der Festivalsaison im Vorfeld entgegengebracht wird,
bei ähnlichen Aktivitäten jenseits der Festivalsaison eher einer
kritischen Distanz weicht. Dies gilt sowohl für Neueinspielungen bereits veröffentlichter Alben aus den 1980ern8 als auch
für Fortsetzungen von Erfolgsalben aus den 1980ern9. Auswählende Institutionen als quasi objektive Regelungsinstanz
der gewünschten Historisierung und Orte der gemeinsamen
Vergegenwärtigung der zu erschaffenden Geschichte sind
Grundlagen eines jeden kollektiven Gedächtnisses. Vor der
heimischen Stereoanlage funktioniert ein derartiger Prozess
nicht. Konzertante Wiederaufführungen von für das Selbstverständnis von Heavy Metal als wichtig erachteten Werken haben
dementsprechend Konjunktur. Iron Maiden spielten 2006 eine
Tour mit einem Programm aus Stücken ihrer ersten vier zwischen 1980 und 1983 erschienenen Alben und setzen dies 2008
mit einer sich aus den Alben fünf bis acht speisenden Tournee
fort. Slayer führten zum 20. Jahrestag ihres Albums „Reign In
Blood“ dieses in Gänze live auf und verewigten das Ereignis
auf einer DVD. Manowar realisieren 2008 die komplette konzertante Wiederaufführung ihrer ersten sechs Tonträger im
Rahmen eines Open-Air-Festivals und Dream Theater spielen
in ihren Konzerten auch gerne einmal eine ganze LP von Kollegen nach, so geschehen z.B. mit Metallicas „Master Of Puppets“.10 Metal schafft sich seine gemeinsame Geschichte.
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58
Eddie’s Archive
Diese gemeinsame Geschichte braucht natürlich auch Tonträger, die als gemeinsames Erbe betrachtet werden. Bestimmte
Werke bestimmter Bands und Künstler werden ausgewählt,
um Metal jenseits aller internen Differenzierungen letztlich
für die Restgesellschaft, die Nicht-Metaller zu repräsentieren.
Da dieser Prozess im Fluss ist, also als Diskurs funktioniert,
genügt der Blick auf ein Ereignis wie Wacken 2007 nicht, um
ihm näher zu kommen. Eine Möglichkeit besteht im Vergleich
von Auswahllisten aus dem Traditionsstrom des Heavy Metal
– also von Listen mit Titeln wie „die 500 besten Heavy Metal
Songs aller Zeiten“. Werden hier immer wieder die selben musikalischen Werke genannt oder ergibt sich doch eine große
Vielfalt unterschiedlicher Geschmäcker?11
Der Vergleich einer Stichprobe aus 68 Listen aus 23 unterschiedlichen Quellen12 zeigt eindeutige Präferenzen. Große
Einigkeit herrscht über die herausgehobene Bedeutung der
ersten drei LPs von Metallica („Kill’em All“ 1983, „Ride The
Lightning“ 1984, „Master Of Puppets“ 1986), der ersten vier
LPs von Iron Maiden („Iron Maiden“ 1980, „Killers“ 1981,
„The Number Of The Beast“ 1982, „Piece Of Mind“ 1983), die
ersten beiden LPs von Black Sabbath („Black Sabbath“ 1970,
„Paranoid“ 1971) und einem auf den Anfang der 1980er-Jahre
konzentrierten Querschnitt durch das Werk von Judas Priest
mit Rob Halford („British Steel“ 1980, „Screaming For Vengeance“ 1982). Ebenfalls einig ist man sich über die Wichtigkeit von „Back in Black“ (1980) von AC/DC, „Appetite For
Destruction“ (1987) von Guns N’ Roses, „Reign In Blood“
(1986) von Slayer und „Operation: Mindcrime“ (1988) von
Queensryche. Mit Ausnahme der beiden Black-Sabbath-LPs
stammen alle genannten Tonträger aus den 1980ern. Gerät
man näher an die Gegenwart, so schwinden die Gemeinsamkeiten. Zwar wird über die Hälfte der in den Listen genannten
über 1500 verschiedenen Tonträger nach 1990 veröffentlicht,
aber nur bis zur Mitte der 1990er-Jahre kann man sich – in
geringerem Maße, aber immerhin – u. a. noch auf Tonträger
von Rage Against The Machine (das Debüt von 1991), Megadeth („Rust In Peace“ von 1990), Pantera („Vulgar Display Of
Power“ von 1992) und Emperor („In The Nightside Eclipse“
von 1994) einigen. Seit Mitte der 1990er-Jahre regiert dann
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
die Vielfalt unterschiedlicher Geschmäcker. Um im Prozess
der Historisierung des Heavy Metal wirkungsmächtig zu werden, muss eine Band also einerseits mindestens seit 20 Jahren
aktiv sein und andererseits ein Tonträger mindestens vor 15
bis 20 Jahren veröffentlicht worden sein. Der Extreme Metal,
der sich Ende der 1980er-Jahre aus dem absoluten Untergrund
des Tape-trading herausbewegte13 ist damit einerseits noch zu
jung, um konsensfähig zu sein. Andererseits ist er auch künstlerisch zu – wie der Name schon sagt – extrem, um eine Mehrheit der Metal-Fans hinter sich zu scharen. Slayer markieren
hier momentan das extreme Ende der Fahnenstange.
Außerdem stammen wichtige Bands entweder aus den USA
oder aus Großbritannien. Zwar verzeichnen die ausgewerteten
Listen über 800 verschiedene Bands aus 27 Staaten, aber Einigkeit herrscht vor allem über angelsächsische Bands. Ausnahmen wie Sepultura aus Brasilien, Celtic Frost aus der Schweiz,
Accept aus der BRD oder In Flames aus Schweden bestätigen einerseits diese Regel, deuten aber andererseits schon daraufhin,
das Metal seit seiner Initialzündung in den 1980er-Jahren, dem
die Geschichte des Heavy Metal definierenden Jahrzehnt, ein
weltweites Phänomen geworden ist. Bands unterschiedlichster
Herkunft werden bereits wahrgenommen, gelten aber noch
nicht als völlig konsensfähig. Ein Vergleich mit ausgewählten,
anderen Stilen der Rockmusik gewidmeten Listen14 bestätigt,
dass die Wahrnehmung von Bands nicht-angelsächsischer Herkunft im Heavy Metal hoch bzw. überdurchschnittlich ist.
Brothers of Metal
Manowar, die wie keine andere Band davon leben, ihre Version des wahren Metal zu verkaufen, veranstalteten im Juli 2007
ein Open Air in Bad Arolsen, das weniger der eigenen Historisierung – die erfolgt wie oben beschrieben erst 2008 – als
vielmehr als Beschwörung der Einheit von Fans und Musikern
gedacht war. Das Konzert wurde als Geschenk an die Fans beworben und kostete nur zehn Euro Eintritt.
„Dieser niedrige Preis ist MANOWARs Dankeschön an
unsere Fans für ihre ungebrochene Loyalität während der letzten zwei Jahre mit ihren unglücklichen Tourverschiebungen
und Verzögerungen bei der Albumveröffentlichung.“15
59
Celtic Frost, Metal Legende
Die Behauptung der Einheit der Metal-Szene konkretisiert
sich als imaginierte Einheit von Musikern und Fans und wird
zur zentralen Erzählung des Heavy Metal. Beispielsweise mittels des verbreiteten Luftgitarrenspiels bei Konzerten, auf Partys oder vor dem heimischen Wohnzimmerspiegel, imaginiert
sich der Fan entweder als auch auf der Bühne stehend oder
nivelliert zumindest den Unterschied zwischen denen auf der
Bühne und denen im Publikum. Natürlich ist diese imaginäre
Teilhabe auch Teil der Erzählung von populärer Musik im Allgemeinen – man denke an die verbreiteten Mitsingspielchen
auf allen möglichen Konzerten von Rock bis HipHop – aber
im Metal geht es um die individuelle physische Teilhabe. Jeder
einzelne imaginiert sich für sich auf die Bühne, während die
neben stehenden Publikumsteile im Normalfall komplett ignoriert werden. Luftgitarre spielt man nicht miteinander, bzw.
erst dann, wenn – wie auf Festivals mittlerweile üblich – eine
reale Bühne existiert, auf der die individuelle Imagination zur
kollektiven Show mutiert. Gleichzeitig ist die Luftgitarrenbühne damit ein zusätzliches Bindemittel für die Einheit von Fans
und Musikern, ein Zwischenglied, das die Bühnenerfahrung
ohne musikalisches Handwerk ermöglicht. Wir sind wie ihr.
Auf der realen Konzertbühne dient das Teilen der Bühne mit den Fans diesem Zweck. Es findet seinen Höhepunkt, wenn wiederum beispielsweise Manowar „auch Fans
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ein(laden), auf der Bühne mit ihnen zu singen und sogar
Gitarre zu spielen.“16 Das verbreitete Als-Publikum-von-derBühne-ins-Publikum-springen, also das Stagediving, unterstreicht ebenfalls die Verbindung von Bühne und Publikum
als Teil eines größeren Ganzen.
Es ist möglich zwischen diesen Welten zu wandeln, an
ihnen teilzuhaben, außer das jeweilige Sicherheitspersonal ist anderer Meinung. Da zum praktizierten Stagediving
auch das Vertrauen gehört, aufgefangen zu werden und nicht
unsanft auf dem Hallenboden zu landen, verstärkt es das
Gemeinschaftsgefühl des Publikums. Hier löst sich die imaginierte Einheit in Begeisterung auf, wenn ein Musiker das
„Risiko“ eingeht, sich von den Fans real auf Händen tragen
zu lassen. Dieser Vertrauensbeweis zählt erheblich mehr als
das reale Bild, das den entrückten Status des Musikers eigentlich unterstreicht. Aber ohne die Fans ist er nichts, verkauft
er keine Platten, und der Verrat dieser Erzählung wird mit
einer harten Landung auf dem Boden der (physischen und/
oder ökonomischen) Realität bestraft. Ist der physikalische
Disfear beim Crowd Surfen
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
Abstand zwischen Bühne und Publikum jedoch zu groß für
derartige Aktivitäten – wie bei einem Festival – oder fehlt aus
anderen Gründen die Lust des Musikers auf das so genannte
Crowdsurfing, so ist neben mannigfachen verbalen Beteuerungen der Einheit von Fans und Musikern das Abklatschen
der sich massenhaft in Richtung Bühne reckenden Fanhände für den Musiker Pflicht. Ähnlich verhält es sich mit der
Notwendigkeit, kleine Geschenke in Form von Drumsticks,
Gitarrenplektren oder auch Getränken ins Publikum zu werfen, während das Publikum ein derartiges Bedürfnis nicht
verspürt. Bei Metal-Konzerten wird nichts auf die Bühne
geworfen, sie wird, wenn möglich, physisch erobert – ganz
im Gegensatz beispielsweise zum Tokio-Hotel-Publikum, das
Geschenke auf die Bühne wirft, um die reale Person hinter
dem überlebensgroßen Star zu berühren. Die reale Person
des Metal-Musikers ist dagegen sowieso schon einer von uns.
Idealerweise mischt er sich nach dem Konzert unter das Publikum – sozusagen als Teil der Kür – oder steht beim nächsten Konzert selbst als Fan im Publikum.
61
„Ich muss sagen, zwei Jahre warn wir hier auf diesem Festival bei euch im Publikum, wir ham nicht gespielt wir warn
bei euch im Publikum, ham uns jedes Mal n Sonnenbrand
hier geholt, ham von dieser leckeren Fischbrötchenbude jedes
Mal die Scheißerei bekommen [...] und heute ham wer uns gedacht, heut holn wir uns keinen Sonnenbrand [...] wir spielen
einfach mal hier, da wern wer besser verköstigt.“17
Caught in a Mosh
Die mythische Einheit der Produzenten und Rezipienten
von Heavy Metal bedingt auf der musikalischen Ebene eine
starke Erwartungshaltung der Fans, wie etwas zu klingen hat.
Größere Veränderung eines einmal für gut befundenen Stils
sind eigentlich nicht gewollt, denn die damit verbundene
Arbeit des sich Einlassens auf unerwartete Hörerlebnisse gefährdet die Vorstellung der beschriebenen Einheit. Das sind
nicht mehr wir. Aus der imaginierten Einheit entsteht so der
Wunsch nach Eindeutigkeit, einem weiteren zentralen Moment der Metal-Kultur. Innovationen von Seiten der Musiker
müssen deshalb langfristig vorbereitet werden bzw. sie fallen
entsprechend klein aus. Und so wird es schon zum Abenteuer,
wenn die deutsche Death-Metal-Band Fleshcrawl im Interview zugibt: „Natürlich experimentieren wir ab und zu mal
mit Riffs, die eher zum Thrash Metal tendieren“18 denn, wie
es ein paar Sätze weiter heißt: „Ich mag es, wenn man als Fan
Platten praktisch blind kaufen kann, weil man weiß, was man
bekommt [...] Weil du weißt, was dich musikalisch erwartet.“19
Man könnte hinzufügen – eindeutig.
Über die knapp 40-jährige Geschichte des Heavy Metal
ergibt sich so eine sich selbst beschleunigende Entwicklung,
die den stilistischen Spielraum einzelner Bands und Künstler
immer mehr einengt. Eine Band wie Led Zeppelin, die unter
ihrem Namen mit riesigem Erfolg unterschiedlichste Musikstile versammelt hat, von denen nur eine geringe Teilmenge als
Heavy Metal bezeichnet werden kann, ist mittlerweile im Metal kaum mehr denkbar. Gleiches gilt auch für die stilistische
Divergenz der alten Black Sabbath. Abstrakt formuliert entstehen über Prozesse der Auswahl aus einer Menge vorhandenen
Materials verschiedene, deutlich homogenere Teilmengen, die
Enslaved, Viking Metal aus Norwegen
Enslaved
wiederum als Ausgangspunkt für weitere Differenzierungen
dienen. So entsteht unter dem Oberbegriff Metal eine endlos
wachsende Reihe von Unterbegriffen, die nur zum Teil ökonomischen Vermarktungsinteressen geschuldet sind, zum Teil
jedoch auch eine Metal inhärente Dynamik aufgreifen. Eine
Auswahl der momentan gebräuchlichen Begriffe liest sich
wie folgt: Classic Metal, True Metal, Powermetal, Epic Metal,
Speedmetal, Thrashmetal, Neo-Thrash, Deathmetal, Melodic
Deathmetal, Deathgrind, Blackmetal, Epic Blackmetal, Gothic
Metal, Darkmetal, Industrialmetal, Elektro Metal, Nu-Metal,
Modern Metal, Alternative Metal, Crossover, Metalcore, Hard
Rock, Melodic Rock/AOR, Prog, Vikingmetal, Paganmetal,
Doom, Grunge, Folkmetal, Funkmetal, Glammetal, Sleaze,
Rotzrock ...
Eine Band wird so letztlich zum Markenzeichen für einen
ganz bestimmten Ausdruck, der künstlerisch betrachtet nur im
Ausnahmefall Eigenständigkeit beinhaltet. Häufiger kann dieser mit „im Stile von“ umschrieben werden, und damit lauert
die Gefahr der Verwechselbarkeit und Langeweile. Aktuell lässt
sich diese in Überdruss endende Entwicklung in der Fachpresse am Substil des Metalcore nachvollziehen. Die eindeutige
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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Erwartungshaltung beinhaltet immer auch einen, ebenfalls
im Wort Eindeutigkeit enthaltenen, Wunsch nach Eigenständigkeit. Musikalisch betrachtet bedingt Eindeutigkeit Unverwechselbarkeit. Aus einer stark eingegrenzten Zahl bekannter
Zutaten soll im Idealfall etwas vermeintlich noch nie da Gewesenes entstehen. Zwei Auswege bieten sich einer Band an:
Erstens kann man in einer Fortschreibung der Differenzierung
aus dem anfänglichen „im Stile von“ ausbrechen, in dem man
eine Teilmenge des Spielens „im Stile von“ als normativ und
formativ ausruft und hofft, dass das Publikum dies als neue
Markenbildung akzeptiert. Zweitens kann man von Beginn an
seine Fühler in andere stilistische Teilmengen ausstrecken und
so versuchen, eine neue akzeptierte Teilmenge zu bilden.
Was jedoch passiert, wenn man die stilistische Erwartungshaltung der Fans zu stark strapaziert und anschließend
dafür noch nicht einmal Abbitte leistet, lässt sich am Beispiel
Metallica zeigen, deren erste drei Platten, wie gezeigt, sehr
wichtig für Heavy Metal sind. Ihre stilistische Umorientierung
mit dem schwarzen Album 1991 und besonders im Anschluss
an dessen multi-millionenfachen Verkauf wird jedoch nicht
nur aus musikalischen Gründen kritisch betrachtet.
„Diese Band hat den Metal verraten, ja. Die Wichser stellen
sich hin und sagen, wir haben keinen Bock mehr auf die Fans,
wir machen wat wir wollen. Sollen ses machen, aber es ist kein
Metal mehr.“20
Die einfache Gestaltung der Schrift in metallenen Buchstaben o.
ä. wird so noch zur einfachsten Übung, die jedoch wie im Falle
von W.A.S.P. auch schief gehen kann. Die Punkte zwischen den
Buchstaben waren eigentlich einfach als metallene Nieten ohne
Einfluss auf die Interpunktion gemeint. Gemeinsam ist allen
diesen Bemühungen die Verwendung von starken Zeichen, die
oft als visuelle Repräsentationen von Kraft und Macht gelesen
werden, auf jeden Fall aber eindeutig und (über)deutlich sind.
Mehrdeutigkeit und Understatement sind nicht Metal.
Eine Änderung des Logos ist dementsprechend mit Bedeutung aufgeladen. Die Veröffentlichungen von Metallica,
die zu obigem abwertenden Statement führten, ziert beispielsweise auch ein geändertes Logo, das die ursprüngliche Typographie abgeschwächt zitiert. Geht man davon aus, dass das
ursprüngliche Metallica-Logo Metal verkörpert, so soll das
„Load/ReLoad“-Logo als das einer Band gelesen werden, die
die Grenzen des Metal verlassen hat, sich aber ihrer Wurzeln
bewusst bleibt.
Die Schaffung einer über das Bandlogo hinausgehenden,
wiedererkennbaren visuellen Repräsentation gelingt dagegen
nur wenigen Bands, so zum Beispiel Iron Maiden mit ihrem
Maskottchen Eddie, das auf jedem Albumcover der Band zu
sehen ist. Gleiches gilt im Prinzip für Motörheads Snaggletooth.
Megadeth haben nicht zufällig ihre visuelle Repräsentation Vic
Rattlehead auf den letzten Studioalben wiederbelebt, um eine
Rückbesinnung auf ihre Metal-Wurzeln zu signalisieren.
Reinventing the Steel
Die Wichtigkeit der Identifikation mit den Musikern als potentiell Gleiche führt bei der künstlerischen Gestaltung von
Tonträgern zur Vermeidung der Verwendung von Bandfotos
als Covergestaltung. Dementsprechend wichtiger wird die
Typographie und Ikonographie des Bandlogos, das so einer
DER Imageträger der Band wird. Als Folge integrieren viele
Bands über die reine Typographie hinausgehende Elemente in
ihr Logo, die eine eindeutige Ausrichtung ihrer Musik schon
am Logo erkennen lassen sollen. So beinhalten die Schriftzüge
vieler Black-Metal-Bands umgedrehte „satanistische“ Kreuze.
Pentagramme erfreuen sich ebenfalls großer Beliebtheit.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
Mayhem, Black Metal Legende aus Norwegen
63
The Dark Church of Whatever
Alle drei genannten visuellen Repräsentationen spielen mit
dem Bild des Totenschädels, der wiederum als positive Identifikationsfigur dient. Eddie und Vic Rattlehead sind darüber
hinaus eindeutig Zombies. Allerdings ist das Bild des Zombies in der Populärkultur von den Filmen George Romeros21
geprägt, und in diesen treten Zombies immer in Gruppen
auf. Die notwendige Zombiegruppe entsteht im Metal nicht
als „reale“ Gemeinschaft, sondern über die Identifikation der
Fans mit den Bandmaskottchen Eddie oder Vic, die wiederum
für die Band stehen. Der Zombie wird so zu einer Metapher
für die mythische Einheit von Fans und Musikern als „Metalheads“. Diese Einheit ist immer auch eine der Ausgeschlossenen, da Zombies oft als eine Metapher für die Wiederkehr des
Verdrängten, das als Untotes in der Sphäre zwischen symbolischem und realem Tod gefangen ist, interpretiert werden.22
Die Beliebtheit des Zombiebildes in der Heavy-Metal-Ikonografie lässt sich zumindest zum Teil über diese Funktion als
Repräsentation der Ausgeschlossenen aus der Gesellschaft erklären. Nur über die Behauptung der Ausgeschlossenheit aus
der Mehrheitsgesellschaft können interne Konflikte der MetalSzene zumindest versuchsweise be- und eingegrenzt werden.
Konkret betrachtet sich Metal als eindeutig um (Metal-)Musik
zentrierter Lebensstil, der wiederum Werte transportiert und
abbildet, die eben nicht mit der Mehrheitsgesellschaft kompatibel sind. Diese Werte sind so allgemein wie eine Wertschätzung handwerklichen Könnens, ein Wir-Gefühl, also
eine Ablehnung von Vereinzelung und Anonymität, und Loyalität. Dabei ist die Wir-Gruppe meist eine männlich dominierte. Ein interessanter Nebeneffekt ist die damit verbundene
– über die Betonung der Wichtigkeit der Musik vermittelte
– Unwichtigkeit körperlicher Attraktivität, so dass Metal als
Identifikationsobjekt für Männer dienen kann, die nicht dem
gesellschaftlich normierten Schönheitsideal entsprechen.
Diese mit Metal verbundenen Werte sind eigentlich
nicht der Art, das sie ein Gefühl der Ausgeschlossenheit aus
der Mehrheitsgesellschaft rechtfertigen würden. Übrig bleibt
die optische Manifestation des Andersseins, eine willig oder
zombiehaft dargebotene Projektionsfläche für die Ängste der
Mehrheitsgesellschaft, die diese besonders in wie auch immer
gearteten Krisenzeiten gerne annimmt. Man denke an die absurden Prozesse, in denen Metal-Bands/-Künstler wie Judas
Priest oder Ozzy Osbourne für die Taten von Fans verantwortlich gemacht werden sollten.23 Oder an die West Memphis Three, deren Geschichte der zweiteilige Dokumentarfilm
„Paradise Lost“ erzählt.24 Deena Weinstein25 sieht in diesem
Zusammenhang auch Parallelen zur Biker-/Rockerkultur, aus
deren Codes Metal große Teile seines Bekleidungsstils – z. B.
die Kutte mit dem Bandaufnäher statt des Logos des Motorradclubs – entlehnt hat.26 Sie zitiert mit Marlon Brando aus
„The Wild One“ eine Ikone der Rebellion, der auf die Frage,
warum er rebelliere, antwortet „Whatddaya got?“ – was man
sinngemäß mit „Was hast du im Angebot?“ übersetzen kann.
Metal erscheint ihr als leere Rebellion. Hier lässt sich noch eine
Analogie zur Figur des Zombie ziehen, der als personifizierte
Projektionsfläche ebenfalls immer um ein leeres Zentrum organisiert ist. Der zweite Grund für die Attraktivität des Bildes
des Untoten für Metal liegt damit neben der gemeinschaftsbildenden Möglichkeit in der inhaltlich unbestimmten Gegnerschaft zu einer inhaltlich ebenso unbestimmten Herrschaft.
Life after Death
Im Black Metal schminken sich viele Musiker mittels weissschwarzer Corpsepaint und Theaterblut als vermeintliche Leichen bzw. Untote und treiben die beschriebene Analogie einen
Schritt weiter. Derartig stilisierte Musiker sind wiederum die
einzigen, deren Bilder häufiger auch auf der Vorderseite des Albumcovers zu finden sind. Natürlich lässt sich die Verwendung
von weiss-schwarzer Schminke in der populären Musik im
Allgemeinen – die bis in die 1960er-Jahre zu The Crazy World
Of Arthur Brown zurückreicht – und im Metal im Besonderen
nicht auf diese Analogie reduzieren. Vielmehr ist Schminke
ein Hilfsmittel, um die Musiker als irreal und überlebensgroß
erscheinen zu lassen, im Falle von Kiss als eine Art Comic-Superhelden. Diese theatralische Art des Auftretens transportiert ganz allgemein die Ikonographie der Plattencover und
Band-T-Shirts auf die Bühne. Ganz im Sinne der gewünschten Eindeutigkeit, der Vernachlässigung von Zwischentönen
macht man eben entweder richtig Show oder gar nicht. Bei der
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
64
Primordial Pagan, Metal aus Irland
Musiker musizieren für die Gemeinschaft aller Anwesenden
und nicht für sich selbst. Mindestens an den Sänger als Mediator zwischen Bühne und Publikum werden eindeutige Ansprüche gestellt. Eine ähnliche Funktion der Suggestion von
Hingabe an die Musik hat die Betonung großer Lautstärke, die
neben ihren realen physischen Wirkungen immer auch die Gemeinschaft von der Außenwelt abschottet. Manowars 1994 mit
heiligem Ernst durchgeführter Lautstärkeweltrekord in einer
leeren Halle verliert so seinen eigentlich absurden Charakter
und wird zu einem eindeutigen Symbol für ihre unendlichen
Möglichkeiten und ihren unbändigen Willen, die gewünschte
Parallelwelt zu schaffen – die mythische Einheit der Brothers
Of True Metal, die, unabhängig von realen Gebrechen, an der
Theke stehen und der Jugend gerne Orientierungshilfen im
Universum des wahren Metal geben würden.
Mayhem, Black Metal aus Norwegen
Beurteilung von Konzerten wird jedoch zwischen Show und
Bühnenpräsenz unterschieden. Erstere darf fehlen, letztere
nicht. Bühnenpräsenz zeigt sich vor allem im extrovertierten
eindeutigen Aufgehen in der Musik sowie in der beschriebenen Interaktion mit den Fans. Beides verlangt einen großen
Bewegungsradius. Ein introvertiertes Auf-der-Stelle-Stehen
und -Musizieren mag zwar ein individuelles Aufgehen in der
Musik anzeigen, ist aber im Normalfall nicht Metal. MetalJOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
„Ich muss mal klarstellen, dass es unter Jugendlichen (ich bin
selber erst 16) durchaus noch Fans der alten Schule gibt. Auch
die älteren Herrschaften, die jetzt vielleicht schon 40 oder 45
sind und möglicherweise noch Bon Scott live gesehen haben,
müssen zugeben, dass sie auch mal in dem Alter waren, in dem
ich jetzt bin. [...] Natürlich ist auch bei mir zu erwähnen, dass
mein Vater mich mit Platten der sogenannten New Wave Of
British Heavy Metal praktisch großgezogen hat. [...] Dennoch
respektiere ich auch neuere Bands wie Trivium, die einfach
musikalisch guten Metal spielen. Aber auch ich muss merken,
65
dass die Zeiten, in denen Lemmy noch unter 40 war, Iron Maiden noch mit Paul Di’Anno tourten und man Mutti und Vati
mit der „Welcome To Hell“ –Platte von Venom schockieren
konnte, vorbei sind und auch nie wiederkommen werden.“27
Fußnoten
1
Leserbrief in Rock Hard 244 09/07, S.62
vgl. Erll, Astrid (2005). Kollektives Gedächtnis und
Erinnerungskulturen. Stuttgart Weimer: Metzler. S.1-13
3
z. B. Angel Witch auf dem Wacken Open Air 2000
4
z. B. Iron Maiden u.a. auf dem With Full Force 2005
5
z. B. Slayer u.a. auf den With Full Force 2005
6
z. B. Accept u.a. auf dem Wacken Open Air 2005
7
z. B. Warlock auf dem Wacken Open Air 2004
8
z. B. Twisted Sister „Stay Hungry“ 1984 und 2005,
Destruction „Thrash Anthems“ 2007
9
z. B. Queensryche „Operation:MIndcrime (II)“ 1988 und
2006, Gamma Ray „Land Of The Free (II)“ 1995 und 2007
10
Mit der 2007 erfolgten Wiederaufführung von Sonic Youths
1982er LP „Daydream Nation“ hat dieser Wunsch nach Historisierung den Bereich des Heavy Metal verlassen und (erstmalig) den Alternative-/Independent-Bereich erreicht.
11
Als Quellen zu Rate gezogen wurden zu diesem Zweck
Hörempfehlungen aus wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Literatur über Heavy Metal, Listen aus fünf deutschen,
englischen und US-amerikanischen Fachzeitschriften und
Listen von zwölf dem Heavy Metal gewidmeten Webseiten. Die
Entstehung der Listen verdankt sich solch unterschiedlichen
Momenten wie der Wiedergabe der Meinung von Spezialisten,
Umfragen unter der Leserschaft einer Zeitschrift oder
eines Web-Zines, Umfragen unter der Redaktion einer
Zeitschrift oder bleibt schlicht nicht nachvollziehbar.
12
Stichtag war der 30.05.2006. Das Verhältnis von 68 Listen
in 23 Quellen ergibt sich, weil pro Quelle häufig mehrere
2
thematisch unterschiedliche Listen (die besten Death-MetalAlben, die besten Alben der 1990er-Jahre etc.) vorkommen
13
vgl. Kahn-Harris, Keith (2007). Extreme Metal – Music and
Culture on the Edge. Berg: Oxford New York und Mudrian,
Albert (2004). Choosing Death – The Improbable History
of Death Metal and Grindcore. Los Angeles: Feral House
14
Visions 150 (09/2005) „150 Records For Enternity“, Spex 100
(03/1989) „Die 100 (+17) besten Alben aller Zeiten“, Rolling Stone
(dt. Ausgabe 11/2004) „Die 500 besten Alben aller Zeiten“
15
www.magiccirclefestival.com/indexgerman.
html Zugriff am 10.10.2007
16
www.manowar-info.de/ Abschnitt „History“;
Unterabschnitt „Band“ Zugriff am 10.10.2007
17
Bernhard Weiss von Axxis auf der DVD „Bang Your
Head Festival!!! Best Of “ (2006) Ems115931
18
Metal Hammer 10/2007 S.112
19
ebd.
20
Zitiert aus der DVD „Rock Hard Rock Guerilla.tv 4“, Kapitel
12 Stammposter-Treffen, Beilage zu Rock Hard 234 (11/2006)
21
„Night Of The Living Dead“/„Die Nacht der lebenden
Toten“ 1968, „Dawn Of The Dead“/„Zombie“
1978, „Day Of The Dead“/„Zombie 2“ 1985
22
Vgl. Zizek, Slavoj (2001). Die Tücke des Subjekts.
Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 211-221
23
Vgl.Walser, Robert (1993). Running With The Devil
– Power, Gender and Madness in Heavy Metal Music.
Hanover London: Wesleyan University Press. S.137-150
24
Vgl. Christie, Ian (2003). Sound of the Beast
– the Complete Headbanging History of Heavy
Metal. New York: Harper Collins. S.290-303
25
vgl. Weinstein, Deena (1991). Heavy Metal – A
Cultural Sociology. New York: Lexington. S. 27-31
26
Die verbreitete Nutzung und Fetischisierung von Lederkleidung uns Accessoires oszilliert dabei jedoch zwischen Rocker- und S&M Anleihen.
27
Leserbrief in Rock Hard 245 10/07, S.71-72
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
Elke Nolteernsting:
HEAVY METAL
Die Suche nach der Bestie
128 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-940213-13-6
Bestialische Musik, bestialische Künstler, Sex, Drugs und Rock‘n‘Roll –
Was ist Realität und was ist Kult? Dieses Buch über die deutsche und
internationale Metal-Szene vermittelt auf der Grundlage von Interviews mit
Metal-MusikerInnen ein vielfältiges Bild über ihre Vorgeschichte, ihre Musik,
ihre Fans, ihre Frauen (und Männer) und ihr Leben. Ein spannender Blick
hinter die Kulissen derjenigen, vor denen oft gewarnt wird. Am Ende bleibt
die Frage: Wer ist die Bestie?
Klaus Farin / Hendrik Neubauer (Hrsg.):
ARTIFICIAL TRIBES
Jugendliche Stammeskulturen in Deutschland
240 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-940213-07-5
Mehrere Jahre folgten vier Fotografen und acht AutorInnen Jugendlichen
auf ihren Streifzügen durch den subkulturellen Dschungel deutscher
Großstädte. Was sie dabei erlebten, kam ihnen nicht selten fremder und
exotischer vor als alles, was sie früher bei ihren Reisen in entfernteste
Regionen der Erde gesehen, gehört und gefühlt haben ...
„Fotografen und Autoren haben sich in die Tiefen der Stammeskulturen
begeben, in die der Rockabillies & Psychobillies, der Skinheads, der Punks,
der Gothics, der Heavy-Metal-Fans, der HipHopper und der Techno-Raver.“
Lothar Mikos in Medien praktisch. Zeitschrift für Medienpädagogik
„Mit Artificial Tribes ist Klaus Farin und Hendrik Neubauer ein kleines
Meisterwerk gelungen, das Einblick & Orientierung in die Szene gibt.“
COCKTAIL 3/02
In jeder guten Buchhandlung oder unter www.jugendkulturen.de
67
Besessene Zeilenschinder
TEXT: THOR WANZEK
FOTOS: ???
Fanzine-Macher im Metal-Underground
„Was würdest Du machen, wenn Du eine Woche lang mit einer frigiden Gießkanne schlafen müsstest?“ – Eine solche Interviewfrage findet man selten an Musiker gerichtet, vor allem
wenn man eine zumindest um den Anschein von Seriosität
bemühte Publikation liest. Daher stutzte ich bei der neugierigen Lektüre des Kult, einem der ersten Fanzines, welches ich
vor rund fünfzehn Jahren in den Händen hielt und das auf
Thrash und Death Metal, zwei härtere Spielarten des Heavy
Metal, spezialisiert war. Bis dato kannte ich den Metal Hammer und das Rock Hard, die auch heute noch die Metal-Szene
als auflagenstärkste Magazine monatlich mit Informationen
versorgen und dem Musikhörer die Identifizierung mit Metal
als Fan nicht nur ermöglichen, sondern geradezu nahelegen.
Dennoch handelt es sich nicht um Fanzines, wie das Kult eines
war und von denen es bis heute zahlreiche gibt, in Inhalt und
Publikationsform so verschieden wie individuell. Doch was ist
das eigentlich genau – ein Fanzine? Was zeichnet ein Fanzine
aus, gerade angesichts des mittlerweile großen Angebots an
Online-Magazinen? Handelt es sich bei diesen etwa auch um
Fanzines? Und was treibt Menschen eigentlich dazu, neben etlichen Verpflichtungen einen enormen Teil ihrer Freizeit und
ihres Geldes in ein eigenes Magazin zu investieren, obwohl es
doch gerade im Metal-Sektor bereits so viele gibt?
Nachdem ich im Sommer 2007 per E-Mail eine Anfrage an
Fanzine-Herausgeber und –Schreiber im deutschsprachigen
Raum gerichtet und kurz darauf zahlreiche enthusiastische
Gesprächspartner gefunden hatte, machte ich mich gemeinsam mit ihnen auf die Suche nach Antworten auf die obigen
Fragen. Aus den Gesprächen lassen sich nicht nur ExpertenPerspektiven auf eine vielschichtige Musikszene zwischen
kommerzieller Professionalisierung und idealistischem Engagement ableiten, sondern wir erhalten die Chance, in den
Fanzines vergleichsweise wenig verzerrte Spiegelbilder von
spezifischen Teilgebieten der, selbst für Insider, unüberschaubar gewordenen Metal-Sub-Szenen zu erkennen. Wenn wir
ein Metal-Fanzine lesen, werden wir in der Regel von einem
langjährigen Fan an die Hand genommen, der seine Meinung
frei von der Leber schreibt.
„Das macht für mich ein Fanzine aus“, erklärt Florian
Dammasch, ehemaliger Herausgeber des Print-Fanzines Magacinum Ab Ovo, heute Chefredakteur des Online-Fanzines
Metal.de:
„Bei einem Fanzine schreiben Fans über die Musik, die sie selbst
geil finden, für andere Fans.“
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Diese Definition eines Fanzines werden wir im Folgenden
um einige Aspekte vertiefen, allerdings nicht ohne auf Widersprüche zu stoßen. Denn wenngleich der Heavy Metal seinen
Ruf als Trutzburg zahlreicher konservativer Klischees ebenso muskelprotzend wie lautstark verteidigt, erheben sich im
Untergrund immer wieder Bataillone, die sich um wie auch
immer etablierte Stilgrenzen, Stereotype und den selten hinterfragten common sense professioneller Metal-Magazine
wenig kümmern oder die daraus resultierenden Ordnungen
mit so unterschiedlichen Waffen wie bitterbösem Ernst oder
alles entwaffnendem Humor anfechten. Zudem stoßen wir bei
den heutigen Metal-Fanzines auf so unterschiedliche Forma-
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te wie das Sin Is There, ein in Handarbeit kopiertes Din-A5Heftchen, auf dessen Umschlag Bandlogos und archetypische
Metal-Kreaturen noch handgemalt sind und welches auch
inhaltlich quasi den Urtypus eines Metal-Fanzines verkörpert; am anderen Ende des Spektrums lädt uns das Team der
aufwändig programmierten und postmodern designten Online-Plattform avantgarde-metal.com zur Lektüre ein – vorausgesetzt wir zählen uns zu den „weirdos and freaks, scientists
and philosophers, libertines and mavericks of metal music“,
die ausdrücklich angesprochen und als Leser gesucht werden.
Tauchen wir also ein in die Welt jener vom Metal besessener
Schreiberlinge und ihrer mitunter verrückten Kreationen!
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Am Anfang steht … die Musikbegeisterung
Wir beginnen unsere Reise durch diese abenteuerliche Welt
beim schon erwähnten Sin Is There, einem Fanzine, von dem
bislang 27 Ausgaben erschienen sind. Hergestellt, das heißt
geschrieben, illustriert und in Handarbeit zusammengebastelt wird es von Maik Godau und „Tsunami“, zwei Fans, die
sich der Metal-Musik mit Leib und Seele verschrieben haben
– daran lassen sie in ihrem Heft keinen Zweifel. Doch es geht
nicht nur um Metal als Musik, sondern um mehr. So erläutert
Maik Godau:
„Ursprünglich war’s ja gar nicht als Metal-Fanzine geplant, aber
der olle Headbanger drückte halt schon bei Ausgabe 3 durch.
Für mich als Metal-Fan bedeutet unser Fanzine wohl eher, weniger Kohle für Metal-Platten zu haben, andererseits aber auch
die Möglichkeit, Position zu beziehen, was derzeitige Trends und
meine persönliche Auffassung von Metal betrifft. Für mich ist
Metal eine Lebenseinstellung, so bescheuert das für Normalos
auch klingen mag …“
Seit zwölf Jahren bastelt auf vergleichbare Weise Ralf Hauber
das Mystical Music zusammen, zunächst gemeinsam mit einem Freund, später dann auf sich allein gestellt. Die derzeit
aktuelle elfte Ausgabe erschien (kopiert, im Din-A4-Format)
im Verbund mit dem Carnage. Beide Fanzines eint eine leidenschaftliche Hingabe an den Death Metal, vor allem in der
eher traditionellen Ausrichtung. Daran lässt bereits das Cover
des Mystical Music keine Zweifel aufkommen: Ein mit einer
Sense bewehrtes Skelett grinst dem Leser vor einer Pforte (zur
Hölle?) entgegen, auf welcher die Worte „Death Shall Rise“
prangen; älteren Fans mag das gleichnamige Album der Band
Cancer in den Sinn kommen. Die Illustration wurde von Chris
Moyen angefertigt, einem in der ursprünglich orientierten
Death-Metal-Szene weltweit verehrten Künstler.
„Als wir 1995 angefangen haben, hatten wir ein tieferes Interesse, in der Szene Kontakte zu knüpfen und aktiv zu werden. Wir
wollten Musiker unterstützen und uns mehr engagieren als der
normale Konsument. Bei der ersten Ausgabe haben wir allein
unzählige Stunden damit zugebracht, sie zusammen zu tackern.
Da waren wir aber gerade auch erst so 15, 16 Jahre alt und hatten noch mehr Zeit.“, erzählt Ralf Hauber.
An der Motivation hat sich seitdem wenig geändert:
„Bei mir ist es ein Hobby, das ich schon lange, aber immer noch
mit Herzblut betreibe. Mich fasziniert es immer wieder, neue
Bands, die mir ans Herz wachsen, mit meinem Heft, soweit es
mir möglich ist, zu unterstützen.“
Wie sich die Motive im Laufe der Zeit aber auch ändern können, beschreibt der Herausgeber des Print-Fanzines Nebelmond, Tom Hellers:
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„Den Wunsch [ein Fanzine zu machen] hegte ich schon, seit ich
zum ersten Mal ein solches Zine in den Händen hielt. Ausschlaggebend war damals ganz klar, ein aktiver Teil des Metal-Undergrounds zu werden. Da ich selbst absolut unmusikalisch bin, war
dies die perfekte Möglichkeit, kreativ zu werden. Das Ziel war,
musikverrückte Menschen zu erreichen und diese Leidenschaft
mit ihnen zu teilen. Mittlerweile […] versuche ich eher, ausgewählte ‚Schätze‘ einer interessierten Minderheit vorzustellen,
sowie immer mehr den engen Rahmen der Metal-Szene, ja der
Musik im Allgemeinen, hinter mir zu lassen und eine begrenzte,
aber ehrlich interessierte Leserschaft für mich zu gewinnen.“
Näher am Menschen hinter der Musik
In der langen Reihe der kopierten oder gedruckten MetalFanzines stehen das Sin Is There und das Mystical Music exemplarisch für eine Kategorie von Fanzines, die sich durch ein im
Grunde nahezu sturköpfig antiquiertes Erscheinungsbild und
durch ein Format auszeichnen, welches für manche unabdingbar mit dem Begriff „Fanzine“ verbunden ist.
„Ich würde sagen, dass ein Fanzine auf jeden Fall aus Papier besteht, so dass man es überall hin mitnehmen kann.“, so Volkmar
Weber, einst Herausgeber des Fanzines Cothurnus, mittlerweile redaktioneller Mitarbeiter beim Rock Hard.
Diese Ansicht wird von tendenziell immer weniger Fanzine-Schreibern und Fans vertreten und markiert quasi den
Standpunkt eines „alten Haudegen“, der mit seinem eigenen
Fanzine Cothurnus in vielerlei Hinsicht für Aufregung im
Underground gesorgt, aber auch Maßstäbe gesetzt hat. Dem
zweiten Teil seiner Definition würden sicher erheblich mehr
Fanzine-Leser zustimmen:
„Ein Fanzine enthält nach Möglichkeit wenig bis keine Werbung
und Berichte, die es in dieser Form in großen Magazinen nicht
gibt, weil es sich auf den Underground und nicht auf den Mainstream bezieht.“
Was aber macht ein gutes Fanzine aus? Die meisten Herausgeber sind sich einig:
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„Ein gutes Fanzine hat einen eigenen Stil, vertritt eine klare eigene Aussage und weicht auch im Layout von den StandardPublikationen ab. Die Fragestellungen gehen tiefer und betreffen
nicht nur das aktuelle Album.“ (Ralf Hauber)
„Die Berechtigung von Fanzines sehe ich vor allem darin, dass Eigenheiten von Kioskmagazinen wie etwa dümmliche und nichts
sagende Bandfotos oder Interviewfragen nach Besetzungswechseln und dergleichen (…) umgangen werden können. Es können
auch inhaltlich ganz andere Genre-Mischungen gewagt werden,
wie man sie ebenfalls nicht in großen Musik-Magazinen findet.“
(Jan Leichsenring, Rauhnacht-Fanzine)
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„[Ein gutes Fanzine bedeutet für mich] Ehrlichkeit, Leidenschaft,
Ernsthaftigkeit, abwechslungsreiche und auch mal abgedrehte
Fragen, intensivste Beschäftigung mit dem Werk des Künstlers,
Berichte, die auch mal über den musikalischen Tellerrand hinausblicken. Gut bedeutet für mich persönlich nahezu immer,
sich vom traditionellen Bild der Metal-Szene mit seinen Sex,
Drugs & Rock’n’Roll-Idealen zu distanzieren.“ (Tom Hellers)
„Fanzines können im besten Fall die ästhetischen und inhaltlichen Ideengeber für die so genannte ‚Mainstream-Presse‘ sein.
Die geringen finanziellen Mittel sollten dabei eher Ansporn als
Hindernis sein. Wer sich vom kommerziellen Druck frei macht,
kann für Rezensionen, Reportagen, Kommentare und Interviews eine freie und ungezwungene, eine unkonventionelle und
spannende Perspektive wählen.“
In der strikten Abgrenzung von zu oberflächlicher Schreibe
erkennen andere Fanzine-Macher jedoch auch eine konkrete
Gefahr:
Unkonventionelle Zugangsweisen zur Musik und zu den Akteuren dahinter gelten unter etlichen Fanzine-Machern somit
als kreative Mittel, den „großen“ Magazinen eine lange Nase
zu machen und eine Band oder ihre Musik näher, authentischer und persönlicher zu präsentieren. Wem das besonders
gut gelingt, der findet sich einige Jahre später vielleicht unter
den Mitarbeitern eines professionellen Magazins wie zum Beispiel dem Rock Hard wieder. Volkmar Weber hat diese Laufbahn hinter sich, greift aber auch heute noch auf alte FanzineTugenden zurück, wie er erklärt:
„Das Lesen und Erstellen von Print-Fanzines ist seit circa fünf,
sechs Jahren zu einer Nischen-Leidenschaft für wenige Enthusiasten und Nostalgiker geworden – somit könnte die Zukunft
rosig aussehen, da nur ein kräftiger Nukleus an Interessierten
übrig blieb, andererseits düster, da man ganz unter sich bleibt
und sich damit dem Problem der Verjüngung bzw. Auffrischung
stellen müssen wird.“ (Loke, The Pagan Herald)
Wiederum andere sehen in der gezielten Nischen-Orientierung eine Möglichkeit, sich von eher „herkömmlichen“ Fanzines abzuheben:
„Die meisten Fanzines unterscheiden sich nicht großartig voneinander. Sie enthalten Interviews, Reviews, Konzertberichte
und so weiter, doch es ragen eher die heraus, die sich auf eine
bestimmte Art von Musik, also quasi eine Nische, spezialisieren.
Ob ein Fanzine gut ist, hängt sehr stark von den Schreibern ab:
wie gut ihr Draht zu den Bands ist, wie weit und tief sie sich mit
der Musik auseinander setzen und eben nicht nur Standardfragen stellen.“ (Christof Niederwieser, avantgarde-metal.com)
In der finanziell vergleichsweise armseligen Ausgangsposition der Fanzines gegenüber professionellen Metal-Magazinen
möchte Marcel Tilger nicht zwangsweise einen Nachteil erkennen. Er selbst hat zwei Ausgaben des Print-Fanzines The Sunset
veröffentlicht, zählt zur Redaktion des Kiosk-Magazins Legacy,
engagiert sich aber darüber hinaus seit Jahren bei verschiedenen Fanzines und hat einen dementsprechend breit gefächerten Ein- und Durchblick in die metallische Medienlandschaft:
„Ich versuche, vieles beizubehalten, zum Beispiel mache ich es
bei Fragenkatalogen immer noch so, dass ich sie häufig eine Woche liegen lasse, bis ich dann noch mal drüber gucke und die
vermeintlich uninteressanten Fragen weglasse, weil mir die klassischen Standard-Interviews immer noch nicht gefallen, auch
wenn sie manchmal unvermeidbar sind. Mich hat immer schon
eher das Persönliche am Menschen interessiert und nicht das
Alltägliche einer Band.“
Die Unabhängigkeit der Fanzines:
nur eine Illusion?
Fragt man Fanzine-Macher nach entscheidenden Vorteilen
gegenüber professionellen Magazinen, erhält man in der Regel
einen Hinweis auf deren scheinbar weitreichende finanzielle,
zeitliche und persönliche Unabhängigkeit:
„Ich denke, Fanzines sind deshalb für die Szene wichtig, weil
ihre Herausgeber eine ehrliche Meinung vertreten und die Plattenfirmen als Werbepartner in der Regel nicht so tief in den
Fanzines drinstecken wie in den Kiosk-Magazinen. Ich würde
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behaupten, dass Fanzine-Herausgeber da unabhängiger sind.“
(Ralf Hauber)
„Fanzine-Macher müssen mit niemandem absprechen, was sie
veröffentlichen. Sie haben keinen Druck einer Deadline und können sich, so lange sie wollen, mit etwas beschäftigen, während
man bei einem großen Magazin manchmal aus Zeitmangel bestimmte Dinge gar nicht recherchieren kann.“ (Volkmar Weber)
Doch ganz so unabhängig scheinen auch Fanzines nicht oder
nicht mehr zu sein – zumindest wenn man sich mit den heutigen Methoden einiger „Zulieferer“ näher beschäftigt:
„Gerade in der letzten Zeit haben sich scheinbar viele Plattenfirmen und Promotion-Agenturen entschlossen, Fanzines gegenüber eine aggressivere Strategie zu fahren, bei der jedes nicht
termingerecht erscheinende Interview, jede nicht besprochene
Promo-CD und jede nicht verbreitete Neuigkeit mit Liebesentzug
bestraft wird. Auch Musiker sind – selbst wenn sie in Interviews
gern Gegenteiliges behaupten – tendenziell eher dazu bereit, mit
etablierten Magazinen zu sprechen.“ (Marcel Tilger)
Avantgardistisch, heidnisch, verrückt
oder einfach nur „old school as fuck“!
An kultigen Namen für Fanzines hat es nie gemangelt: Zwar
sind Print-Fanzines wie Troubadix, Pater Noster oder Legion der Verdammten von der Bildfläche verschwunden, dafür
kracht es heute online in der Rumpelkammer, es kommt im Internet zur Lärmbelästigung
Lärmbelästigung, und das Chaos reflektiert selbiges
im Death-Metal-Underground bereits zum vierzehnten Mal
in aufwändig gedruckter und liebevoll gestalteter Form. Häufig lässt sich die inhaltliche Orientierung und der persönliche
Charakter eines Fanzines bereits vom Namen ableiten: Im Underground Empire, ehemals print, heute online, wird in einem
schweren Anflug von Größenwahn und Entdeckerfreude ein
mehr als nur metallischer Underground unter die Lupe genommen, im legendären Voices From The Darkside, ebenfalls ehemals print, heute online, liegt der Schwerpunkt auf Death Metal, Black Metal und Artverwandtem, im Nonkonform kamen
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jene Bands zu Wort, die abseits ausgetretener Pfade ihr Glück
suchten, und im Polarlicht präsentierte Herausgeberin Claudia Striewe eigenwillige Black-Metal-Bands neben Künstlern
aus den verschiedensten Genres. Wer sich entsprechend viel
Zeit nimmt, kann bei einer breiten Auswahl von Fanzines aus
dem erweiterten Metal-Umfeld problemlos Themensprünge vollziehen, die so manches Weltbild auf den Kopf stellen
dürften, denn häufig geht es um mehr als nur um Metal und
Musik. Schlagen wir zum Beispiel die letzte Ausgabe des Polarlicht mit dem Untertitel „Versammlung am Kaminfeuer“
auf, so stoßen wir zunächst auf einen ausführlichen Reisebericht, der uns auf die Hebriden führt und uns die Einzigartigkeit der dortigen Landschaften näher zu bringen sucht. Artikel
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und geschriebene Geschichten eingebaut wurden – ein Konzept, welches sich offenbar in den eher an Aktualität orientierten Medienangeboten der Gegenwart, seien sie nun professionell oder von Fans betrieben, kaum mehr anbietet. Auffällig
ist hingegen insbesondere im Death-Metal-Underground ein
stolz vollzogener Kurs wider „moderne“ Klänge: „Old school
as fuck“ ist ein Bekenntnis zu rohen Klangmustern, die sich
seit rund zwei Jahrzehnten nicht zu weit von den viel beschworenen Wurzeln entfernt haben.
Politik in Fanzines: keine erhobenen Zeigefinger
zur abendländischen Magie, zu Hieronymus Bosch und Jack
London spiegeln ein Interessenspektrum, welches nicht nur
Anknüpfungspunkte an Metal, sondern generell an „dunkle“
und intensive Musik aufweist. Eine Unterredung mit Paysage
d’Hiver bildet den offensichtlichen Metal-Schwerpunkt dieser
Ausgabe, doch steht außer Frage, dass Metal in diesem Zusammenhang nicht als Musik, quasi „nur zur Unterhaltung“,
verstanden wird, sondern eher ästhetischer oder gar spirituell aufgeladener Bestandteil einer eigenen Weltwahrnehmung
und eines Lebensstils ist. Auch in der zweiten Ausgabe des
Pagan Herald finden wir Artikel, die ähnliche inhaltliche Anknüpfungspunkte an Themenfelder bieten, welche im heuer
populären und sich vielschichtig verzweigenden Pagan Metal
zum Einmaleins zu gehören scheinen – nur dass sie äußerst
selten so ausführlich und auch kritisch behandelt werden
wie eben hier. Doch nicht nur (Neu-)Heidentum ist ein sehr
präsentes Thema in Metal-Fanzines. Im Sin Is There gehören
kirchenkritische bis radikal antichristliche Artikel zum festen
Inventar, und in der Erstausgabe des gedruckten Hammerheart nimmt sich der Herausgeber auffallend viel Zeit, um mit
einigen Musikern die geschichtlich-kulturellen Hintergründe
ihrer Werke zu diskutieren. Phantasievoll versponnen und
älteren Lesern in bester Erinnerung ist das kopierte Fanzine
Emerald, in welchem einige Interviews in kreativ illustrierte
Im Sommer 1999 führt der ostpreußische Plastikvogel Wjatcheslav Müller mit einem schwedischen Gartenbuch, einem
japanischen Kampfwurm und einigen weiteren seltsamen
Gestalten ein Streitgespräch über arischen Black Metal. Eingeladen hat „Sindri“ (alias Volkmar Weber), Herausgeber und
hauptverantwortlicher Schreiber beim Cothurnus, dem seinerzeit berüchtigtsten deutschen Fanzine für extremen Metal.
Die groteske Diskussion, abgedruckt in der „Love Peace Harmony“-Ausgabe des Cothurnus, ist eine persönliche Reaktion
des Fanzine-Machers auf die Verbindung von Black Metal und
extrem rechter Ideologie, doch sie ist mehr als nur persönlich:
Sie trieft vor hinterhältig bösem Humor und spiegelt die offensichtliche Absurdität der Verbindung von Metal-Musik und
extrem rechter Ideologie.
„Es war eigentlich nie so humorvoll gemeint, sondern es ging
uns eigentlich darum, dass die Leute mal nachdenken. Ich denke
halt, dass es nicht immer der erhobene Zeigefinger sein muss.“,
so Volkmar Weber.
Damit spricht der heute für das Rock Hard schreibende Musikjournalist offenbar den meisten Fanzine-Machern aus der Seele: Nirgendwo sonst wurde die Kombination von Black Metal
und extrem rechten Ideen so früh erkannt, kritisiert und konterkariert wie in zahlreichen Fanzines, deren Herausgeber und
Schreiber sich häufig einen Teufel um Zurückhaltung scheren,
wenn es ihrem heiß und innig geliebten Metal an den Kragen
geht. In der Ausführung hoch individuell, steht das Cothurnus
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dennoch prototypisch für eine – wenn auch aus ärgerlichen
Gründen zwangsweise – politisch interessierte Einstellung. Da
Fanzine-Macher gezwungen sind, sich zu überlegen, welchen
Mailorder-Firmen sie ihr Heft zum Verkauf anbieten, wessen
Anzeigen sie abdrucken und wessen Musik sie besprechen, gelingt es dem Gros der Schreiber offenbar nicht, extrem rechte
Inhalte zu ignorieren und sich nur auf die Musik zu konzentrieren. Zumindest für einige stellt sich die Frage der Verantwortung, die anders empfunden wird als in der Rolle des eher
passiven Konsumenten und Hörers.
Zwar gibt es auch eine Reihe von Fanzines, die gezielt genau jenen extrem rechten Black Metal zu fördern versuchen,
doch scheint es, als ob – von wenigen Ausnahmen abgesehen
– kaum eines mehr als eine Handvoll Ausgaben veröffentlicht.
Fanzines im digitalen Zeitalter:
Schnelligkeit ist nicht alles.
Nicht entgangen ist uns die häufige Bemerkung „ehemals
print, heute online“, die einen allgemeinen Trend unter den
Metal-Fanzines markiert, gleichwohl es immer noch eine ganze Reihe von jungen Print-Fanzines gibt, die auch noch dieser
Tage mit einer Erstausgabe starten, obwohl sich die Bedingungen enorm verschlechtert haben.
„Es hat sich in den letzten Jahren herausgestellt, dass es immer
schwieriger wird, Hefte zu verkaufen, denn die neue Generation
von Metal-Fans informiert sich eher im Internet. In Deutschland nimmt die Zahl der Fans und Freaks, die noch Fanzines
lesen, immer mehr ab. Frustrierend ist es auf Konzerten, wenn
die Leute lieber noch ein Bier kaufen als ein Heft. Heute kommen noch hohe Portokosten hinzu, die es erschweren, das Heft
zu vertreiben.“ (Ralf Hauber)
„Ich denke, es gibt im digitalen Zeitalter auch bei den Fanzines eine ganz natürliche Entwicklung in Richtung des Internets,
welches immer günstiger und praktischer geworden ist. Heute starten die meisten Fanzines gleich online, und ich kenne
nur wenige Fälle, wo neue Print-Fanzines gegründet wurden.“
(Florian Dammasch)
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„Ich glaube, dass sich heute vieles auf einer anderen Ebene abspielt als damals bei den [Print-] Fanzines. Die jungen Kids, die
sich heute total für Musik begeistern, die erstellen eher einen
Weblog oder basteln ein Online-Magazin, weil das eher dem
Zeitgeist entspricht. Wenn heute ein Dreißigjähriger ein Fanzine
macht, dann aus Nostalgie, weil er es noch von früher so kennt.
Doch wer klappert heute noch Plattenfirmen mit der Bitte nach
Anzeigen ab, um einen Teil der Druckkosten abzudecken, wenn
man doch gleich online loslegen und z. B. bei Myspace Newsletter an ganz viele Leute verschicken kann? Das gute, alte Fanzine
wird nicht völlig wegsterben, aber es hat einfach nicht mehr die
Macht wie früher.“ (Volkmar Weber)
Dass ein Online-Fanzine in seiner Erstellung und Organisation allerdings auch aufwändiger betrieben werden kann als in
simplem Weblog-Stil, erklärt Christof Niederwieser, der mit
einigen Gleichgesinnten das Portal avantgarde-metal.com ins
Leben rief – und erst dann erkannte, wie viel Arbeit er sich
aufgehalst hatte:
„Die reine Vorbereitung und Organisation des Magazins hat ein
halbes Jahr in Anspruch genommen. Wir haben ein Konzept entwickelt und diskutiert, welche Bands wir überhaupt präsentieren
wollen. Uns ist klar, dass es viele interessante Bands gibt, aber
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damit unser Angebot nicht ausufert, haben wir festgelegt, dass
wir uns auf experimentelle Bands mit Metal-Anteilen beschränken. Auch das Logo und das Layout haben viel Zeit gekostet,
vor allem aber die Programmierung des Content Management
Systems, mit dem jeder Redakteur seine Beiträge selbst online
stellen kann. So muss nicht jeder erst mit der Redaktion Rücksprache halten und mir seine Artikel schicken, sondern kann
diese selbst gestalten und veröffentlichen.“
Vom Hobby zum Beruf:
erst wider, dann für das Establishment?
Diese Art der Organisation und Präsentation wirkt nicht nur
im Gegensatz zu kopierten, kleinformatigen Fanzines hypermodern und professionell, sondern spiegelt eine Einsatzbereitschaft und Kreativität, die an anderer Stelle immer wieder
gebraucht wird. Fanzine-Schreiber, seien es Jungspunde oder
alte Hasen, zeichnen sich durch ein gutes Gespür für interessante Newcomer und authentische Bands aus, die durch
ihre Integrität – das ist im Metal wichtig – vielleicht mal zu
den „Kult-Bands“ aufsteigen könnten. Wie schätzen ehemalige und aktive Fanzine-Macher die Chancen ein, durch das
Engagement mit dem Fanzine einen Job im Musikgeschäft
zu ergattern?
„Ziemlich gut. Wer ein Fanzine macht und nicht nur Schaumschläger ist, der sollte zumindest den ihn interessierenden Teil
des Marktes weitgehend erforscht haben und sich da auch relativ sicher in Stilrichtungen und Bands bewegen können. Wenn
man jahrelang für ein Fanzine geschrieben hat und ein Demo
auf den Tisch bekommt, kann man schon gut einordnen, ob das
nun mittelmäßig, schlecht oder sensationell ist. Ich glaube, dass
sich also gerade der A&R-Bereich und die Marktanalyse für einen Quereinstieg anbieten. Und wer ins Musikgeschäft einsteigen will, dem kann eine solche Vorarbeit sicher nicht schaden.“
(Volkmar Weber)
„Ich denke, die Chancen sind eigentlich ganz gut. Es hängt nicht
unbedingt davon ab, wie viele Leute du kennst, sondern eher,
was du drauf hast. Ich kenne jedoch Beispiele, wo Menschen nur
durch ihre Mitarbeit bei metal.de davon erfahren haben, dass es
einen Job gibt und anders herum Firmen auf bestimmte Leute
aufmerksam geworden sind, weil sie bei einem Fanzine schreiben. Als Fanzine-Schreiber hat man etwas vorzuweisen: Man
kann wahrscheinlich ganz gut mit Leuten umgehen und auch
ganz locker mit Bands reden, wo andere nervös würden. Für
Promotion oder andere Label-Tätigkeiten bist du wahrscheinlich besser vorbereitet, als wenn du ohne solche Erfahrungen nur
mit Studium oder Ausbildung einen solchen Job beginnen würdest.“ (Florian Dammasch)
„Wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und dann
auch noch Kontakt zu den richtigen Leuten hat, kann man wohl
schon im Business landen. Allerdings glaube ich, dass man,
wenn man einmal richtig drin ist, das Feeling verliert, wie man
es noch als Fanzine-Schreiber hat.“ (Ralf Hauber)
Kraftvolle Worte von Idealisten für Freigeister?
Dass Metal-Fanzines für gewöhnlich alles andere sind als seelenlose Werbeblättchen am verlängerten Arm der Musikindustrie, sollte an dieser Stelle klar geworden sein. Dass ihre
Erstellung, ihre Organisation und ihr Vertrieb nicht zwischen
Tür und Angel abgewickelt werden können, sondern häufig
enorme zeitliche, zuweilen auch, zumindest in Anbetracht
der Lebensverhältnisse der Macher, relativ große finanzielle
Ressourcen in Anspruch nehmen, steht ebenso außer Frage. Somit lässt sich konstatieren, dass Fanzine-Macher und
-Schreiber häufig auf einem ebenso Kräfte zehrenden wie frei
setzenden Ego-Trip sind, mit dem sie sich selbst und ihren
Lesern individuelle Perspektiven eröffnen. Oder wie erleben
Fanzine-Macher ihre Kollegen?
„Für die Metal-Szene gesprochen, sind das extreme MusikFreaks; einfach die Fans, die mehr wissen wollen und richtig
in den Underground reingehen. Die Beweggründe hinter den
Fanzines sind bei vielen ähnlich, und generell gibt es eine sehr
positive Zusammenarbeit unter den Fanzine-Machern. Das gilt
auch für die Unterstützung von Online-Magazinen, die häufig
von Leuten gemacht werden, die früher selbst Print-Fanzines
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hatten. Wer ein Fanzine macht, muss ein Idealist sein, um es
durchzuziehen.“ (Ralf Hauber)
„Die Leute, die Fanzines machen, haben meistens eine total
kraftvolle Art zu schreiben, hinter der man sich einen vier mal
acht Meter großen Menschen vorstellt. Wenn man diese Leute
dann trifft, wirken sie häufig – ich will jetzt nicht unscheinbar
sagen – aber wesentlich kleiner als das geschriebene Wort von
ihnen. Ich schließe mich da selbst gerne ein, denn ich habe es von
ganz vielen Leuten selbst gehört. Es sind eher ruhige Leute, mit
denen man sich ganz normal unterhalten kann und die nicht
gleich mit 80 Bier auf dem Rücken durch die Gegend rennen
– eher halt im positiven Sinne verkopft.“ (Volkmar Weber)
Am Ende unserer kleinen Reise durch die Welt der MetalFanzines treffen wir noch mal auf Maik Godau, den „Macher“
vom Sin Is There, denn er verkörpert exemplarisch einige
grundlegende Eigenschaften des besessenen Zeilenschinders:
In zahlreichen Artikeln mit einem vielschichtig kritischen bis
wütenden Tenor wider Vergnügungsgesellschaft, Kirche oder
Kommerz in der eigenen Szene nimmt er kein Blatt vor den
Mund, und nicht trotz, sondern gerade aufgrund seiner persönlichen Auseinandersetzung mit etlichen Themen innerund außerhalb des Metal ist er in der Lage, über den sprichwörtlichen Tellerrand zu schauen:
„Ich habe meine eigene Meinung zu bestimmten Vorgängen,
und diese möchte ich kundtun, egal, ob sie jemandem passt,
oder ob ich vielleicht ‚politically incorrect‘ bin. Außerdem, naja,
ich denke, heutzutage ist die Mainstream-Kultur recht armselig geworden, armseliger noch als zu meinen Jugendzeiten. Ich
will jetzt nicht behaupten, dass Metaller intelligenter sind als
Normalos, Popper oder Spießer, da gibt es auch einen ganzen
Haufen Dumpfbacken in dieser unserer Szene. Aber die Konformitätsverweigerung, die sich im Tragen von Chains and Leather,
Kutte, Bulletbelt und Nieten zeigt, ist oftmals schon ein guter
Ansatz, aus allen bürgerlichen Normen auszubrechen. Zu diesen Normen zähle ich auch die Dummheit der breiten Masse,
die ihre Bildung aus BILD und TV zusammenbastelt. Ich habe
auch gemerkt, dass man mit Metal-Fans oftmals tiefer gehende Gespräche führen kann als z. B. mit meinen Arbeitskollegen,
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obwohl letztere eigentlich einen repräsentativeren Querschnitt
der Bevölkerung darstellen sollten. Außerdem möchte ich das
alte Klischee vom saufenden, halbdebilen Knallkopp, der sich
mit grässlichem Lärm die Ohren zudröhnt, und nicht mal seinen
Namen richtig buchstabieren kann, vehement bekämpfen.“
Somit bliebe noch die Frage offen, wer sich eigentlich die
Mühe macht, Metal-Fanzines zu bestellen und zu lesen? Zwei
Antworten dazu von Fanzine-Machern:
„Vorwiegend Menschen, die bereits vor dem Internet-Zeitalter Metal hörten. Oft Vinylhörer, Traditionalisten, Menschen,
die eher Bücher lesen als TV schauen, Idealisten, Träumer ...“
(Tom, Nebelmond)
„Menschen, die mit offenem Herzen und beflügeltem Geist
durch Welt und Leben schreiten und ein aufrichtiges Interesse
an Musik und den Menschen dahinter haben.“ (Loke)
Deutsche Print-Fanzines im Überblick:
Wer nun genau wissen möchte, wie es um gedruckte MetalFanzines in Deutschland steht, der sollte sich flugs die zweite
Ausgabe des Hammerheart besorgen. Herausgeber Christian
Metzner hat über 30 Fanzine-Macher interviewt und präsentiert deren Hefte in einem bis dato beispiellosen Überblick,
der mit seiner Vielzahl von O-Tönen vor allem eines deutlich
macht: Metal-Fanzines und die Menschen dahinter lassen
sich kaum in eine Schublade zwängen – wohl ein wesentlicher Grund, warum es selbst für manch langjährigen Leser
spannender ist, immer wieder neue obskure Lektüren aufzustöbern, als sich mit dem von der Musikindustrie verseuchten
Lesefutter der Kioskmagazine abspeisen zu lassen.
Print-Fanzines (eine Auswahl):
Abditus Vultus, www.abditus-vultus.com
Carnage, www.carnage-zine.de.vu
Chaos, www.chaosmagazine.de
German Underground Crossection, www.guc-area.de
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Hammerheart, www.myspace.com/hammerheartzine
Mystical Music, www.mystical-music.de
Nebelmond, nebel-mond@gmx.net
Rauhnacht, www.myspace.com/rauhnacht
Sin Is There, GrotGlory@aol.com
The Pagan Herald, www.myspace.com/paganherald
Twilight, www.twilight-magazin.de
Internet-Fanzines & -Portale (eine Auswahl):
www.avantgarde-metal.com
www.metal.de
www.metalmessage.de
www.underground-empire.de
www.voicesfromthedarkside.de
Wenske / Hyde:
SCHEISS DRAUF!
Eine Rock‘n‘Roll-Bio in Bildern, ein Leben gegen den Strich!
2003, 276 Seiten, 400 Abbildungen, 22 Euro
ISBN 978-3-940213-18-1
19 Jahre lang lebte Helmut Wenske zwei Stockwerke über einem drittklassigen
Puff im Hanauer Rotlichtbezirk. 9 Jahre stand er unter Mordverdacht. Helmut
Wenske hat Einiges zu erzählen. Nun hat er mit „Scheiss drauf“ eine lebhafte Autobiografie geschrieben, die uns an die Stationen seines bewegten Lebens vom
stadtbekannten Rock‘n‘Roller und Halbstarken zum Kulissenmaler für StripteaseShows, vom Pornobuchillustrator zum Coverdesigner von Schallplatten und
Deutschlands bekanntestem Undergroundmaler in den psychedelischen 70ern
führt. In den 90ern rockte er als „Special Guest“ am Mikro mit den Barracudas,
G.U.L.P., Party Busters, Rollsplitt und Tequila Flight über die Bühne. Auch diese
legendären Auftritte sind in der reich bebilderten Rock‘n‘Roll-Bio dokumentiert.
Chris Hyde:
ROCK’N’ROLL TRIPPER
2003, 168 Seiten inklusive 24 Fotoseiten, 18 Euro
ISBN 978-3-940213-17-4
„Keith Richards würde mit ihm auf Tournee gehen. Er hat mit Worten
das gemacht, was Keith auf der Gitarre anstellt: Literatur als Riffs.
Es gibt nichts Authentischeres und nichts besser Geschriebenes.
Dabei auch noch witzig wie Bukowski auf Äppelwoi, der gerade
mit den Hell‘s Angels ein Drehbuch für Klaus Kinski schreibt.“
Martin Compart
„Das Authentischste, was ich bisher über diese Zeit gelesen habe.“
Ulcus Molle Info
In jeder guten Buchhandlung oder unter www.jugendkulturen.de
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Im Copyshop mit ... Andi und Christian
TEXT: ANDI KUTTNER & CHRISTIAN SCHMIDT
FOTOS: CHRISTIAN KARSCHNIK
Transparenz – ein Begriff, der heutzutage in aller Munde ist.
Von Management-Ratgebern, über Talkshows bis hin zu den
Kummerkasten-Rubriken der Illustrierten. Der offenbarende
Blick des Publikums hinter die Kulissen scheint heute notwendig, um die Komplexität der Welt überhaupt noch fassen zu
können. Diesem Trend wollen wir im Archiv der Jugendkulturen natürlich nicht im Weg stehen. Statt wieder einmal ein
Projekt aus der schönen weiten Fanzine-Welt vorzustellen, das
außerhalb unserer Mauern beheimatet ist, dachten wir diesmal: Warum der geneigten Leserschaft eigentlich nicht mal
unsere Arbeit nahe bringen. Und so bieten wir diesmal – ganz
im Sinne der Transparenz – einen ungeschönten und authentischen Blick hinter die Kulissen der Fanzine-Archivar-Arbeit.
Im Copyshop stehen deshalb in dieser Ausgabe des Journals
wir selbst, das heißt Andi und Christian. In bester „Sendung
mit der Maus“-Tradition werden wir euch heute erklären, welchen langen Weg jene Fanzines zurück legen, die tatsächlich in
unseren Beständen landen ...
1. Das Telefonat
Alles beginnt meist mit einem Anruf bei Klaus Farin. Die Personen am anderen Ende der Leitung sind so unterschiedlich
wie die Szenen, die die kleinen Underground-Heftchen hervorbringen. Da gibt es den in die Jahre gekommenen Punk,
der mit seiner 80er-Jahre-Fanzine-Sammlung nicht zum xten Mal umziehen möchte. Oder die Promo-Agentur, die für
uns brav die Belegexemplare internationaler Musik-Zines
gesammelt hat. Oder einfach jemanden, der seine ScienceFiction-Fanzines los werden möchte. Sie alle finden bei Klaus
Farin ein offenes Ohr, der auf ihre Frage, ob denn das Archiv
möglicherweise Interesse an ihren Druckerzeugnissen haben
könnte, grundsätzlich mit „Nur her damit! Wir sammeln alles! Wegschmeißen können wir’s ja immer noch!“ antwortet.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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2. Die Anlieferung
Es folgt schließlich die Anlieferung der Hefte. Ob als Postpaket, mit der Spedition oder per Selbst-Abholung durch Christian Karschnik, unserem „Mädchen für alles“. Hin und wieder
werden Zines sogar per Mitfahrgelegenheit nach Berlin verfrachtet. Uns ist quasi jedes Mittel recht! Während Klaus Farin
in seinem Büro bereits der nächsten potenziellen Anlieferung
grünes Licht erteilt, schuften sich Christian und Andi damit
ab, die Kisten mit Bergen an Papier in den Vorsortierraum
im hintersten Winkel des Lagers zu schleppen. So mancher
Hexenschuss fand hier schon seine Ursache. Nach über fünf
Jahren hat dieser Knochenjob bei den beiden Fanzine-Archivaren Spuren hinterlassen. Praktikanten, denen diese Arbeit
zugewiesen wurde, schmissen meist nach wenigen Tagen das
Handtuch oder zeigten Christian und Andi dreist den Vogel.
3. Die Sichtung
Nachdem die Kisten in den Vorsortierraum gewuchtet wurden, ruhen sie meist einige Wochen oder gar Monate in den
entsprechenden Regalen. Christian und Andi sind oft so sehr
mit anderen Dingen beschäftigt, dass sie keine Zeit finden, sich
dem angelieferten Haufen Papier in dem fensterlosen Raum,
der im Archiv-Jargon auch als „Gruft“ bezeichnet wird, sofort
zu widmen. Und so wächst die Anzahl der Kartons immer
wieder bedrohlich an. So bedrohlich, dass die Fanzine-Archivare bisweilen am Rande des Nervenzusammenbruchs stehen
und blanke Verzweiflung in ihr Gesicht geschrieben steht. Dabei ist die Sichtung der Kartons einer der spannendsten Momente in der ganzen Fanzine-Archiv-Arbeit. Das hat immer
was von Geschenkpapier aufreißen. Wenn man die Kartons
aufschneidet, weiß man nie, was einen erwartet. Mal findet
man ein rares Punk-Zine aus den 1970er-Jahren, mal ein vergilbtes und kaum noch lesbares Science-Fiction-Journal aus
den 1950er-Jahren, ein aufwändig aufgemachtes Ego-Zine mit
Stofftasche, Linoleumdruck und dazu gepacktem Gimmick,
ein Dark-Wave-Magazin aus Indonesien, Neuseeland oder aus
Rumänien oder sogar das eigene Fanzine, das man vor über
zehn Jahren mal gemacht hat. Aber das ist noch nicht genug.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
Sex-Hefte, Telefonrechnungen, Liebesbriefe, Müll, Einkaufszettel, vergammelte Butterbrote, Schuhe ... All das findet man
dort auch hin und wieder. Letzt genanntes wandert entweder
mit in die entsprechenden Bestände oder wird unverhohlen in
den Altpapier-Container – die sogenannte „Lagerung: Blau“
– bzw. die Restmüll-Tonne verfrachtet.
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4. Die Vorsortierung
Nachdem der Müll ausgesiebt wurde, beginnt die Vorsortierung der Hefte. Hier wird man sich der Heterogenität und
Vielfalt der Fanzine-Landschaft voll und ganz bewusst – im
positiven, wie im negativen Sinne. Im Idealfall sollen die Zines
nämlich in Schuber abgelegt werden, die der Aufteilung unserer Bestände entsprechen. Also diejenigen Punk-Fanzines, die
in der BRD erschienen sind, sollen in einen anderen Ordner
wandern als diejenigen, die aus Irland, der Schweiz oder Österreich stammen. Die kommerziellen Musikmagazine sollen
komplett aus dem Fanzine-Bereich wandern und in das Zeitschriften-Regal in der Bibliothek kommen etc. Doch in der
Realität sieht das oft ganz anders aus. Wo soll nur dieses Heft
hin, dass die HipHop-Combo Anarchist Academy featured,
ein Interview mit der HC-Band Sick Of It All abgedruckt hat,
Artikel zur faktischen Abschaffung des Asylrechts enthält
und dessen Rest aus Comics ohne klaren thematischen Bezug
besteht? Und wo zur Hölle soll das Split-Fanzine einsortiert
werden, das von einem Punk aus der Schweiz und einem anderen aus der BRD gemacht wurde? Welcher Szene lässt sich
jenes Magazin zuordnen, dass komplett auf kyrillisch verfasst
wurde? Und gehört die De:Bug jetzt noch zu den TechnoFanzines oder nicht? Schon beim Vorsortieren treten also
die ersten Probleme auf, die nur durch zähe und langatmige
Diskussionen unter uns Fanzine-Archivaren und hin und wieder sogar nur mit der zur Schlichtung herbeizitierten Bibliothekarin Antje Pfeffer gelöst werden können. Was sich der Kategorisierung komplett widersetzt, kommt schließlich in den
Schuber mit „Sonstiges“, der meist besonders schnell anwächst
oder, im schlimmsten Falle, in den Ordner mit „?“, über dessen
Inhalt sich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal Gedanken gemacht wird.
5. Die Prüfung
Nehmen wir aber mal an, ein Fanzine konnte eindeutig einem
Genre zugeordnet werden. Der nächste Schritt wäre dann, zu
prüfen, ob sich dieses Fanzine bereits in unseren Beständen
befindet.
Im ersten Halbjahr 2003 finanzierte die Kulturstiftung des
Bundes ein Projekt zur Erfassung von Fanzines im Archiv.
In jenem Zeitraum wurden von mehreren MitarbeiterInnen
unserer Einrichtung Hefte verschiedener Genres in unsere
extra erstellte Datenbank eingegeben. In der Zeit danach beschränkte sich die (meist ehrenamtliche) Arbeit vor allem auf
die Eingabe von Punk-Fanzines.
Das bedeutet, dass sich vorwiegend ebene jene Publikationen in unserer Datenbank befinden. So kann die Prüfung,
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
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ob wir das betreffende, vorsortierte Fanzine bereits in unseren
Beständen haben, für den Punk-Bereich über den Computer
geschehen.
Bei den meisten anderen Genres heißt es allerdings: Jedes Mal zum Regal rennen und nachsehen, ob das Heft bereits
existiert oder nicht.
6. Die Eingabe
Wenn festgestellt wurde, dass sich das Fanzine noch nicht im
Bestand des Archivs befindet, muss es in die Datenbank eingegeben werden. Da sich Andi und Christian darauf geeinigt
haben, zunächst den Bereich der Punk-Hefte komplett zu erschließen, gilt das allerdings im Moment (zumindest auf absehbare Zeit…) nur für diese Zines. Die Hefte anderer Genres
werden im Moment einfach in den Bestand eingeordnet.
Aber allein die Eingabe der Punk-Fanzines nach inhaltlichen und formalen Charakteristika gibt immer wieder genug
Anlass zu Nervenzusammenbrüchen. Diese kleinen Heftchen bieten uns Archivaren selbstredend nur in den seltensten Fällen gewisse Service-Standards. Was eigentlich auch
verständlich ist, schließlich werden Fanzines in erster Linie
nicht gemacht, um irgendwann archiviert zu werden. Ein
Inhaltsverzeichnis, Angaben, wann das Heft erschienen ist,
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
Seitenzahlen … Häufig nichts zu machen und nicht mit Sicherheit heraus zu kriegen. Das ist aber bei weitem nicht alles.
Da gibt es seitenlange Artikel ohne Überschriften. Fanzines
aus den 1980er- und frühen 1990er-Jahren enthalten zum Teil
noch handgeschriebene Artikel in geschwungenen Schriften,
die natürlich nur schwer zu entziffern sind. Häufig sind auch
die Artikel in einem völlig verwirrenden Layout angeordnet.
Sie sehen: Wir haben es nicht leicht …
Sobald eine Fanzine erschlossen ist, wird der Datensatz
ausgedruckt, und freundliche KollegInnen sind dann so nett,
den Ausdruck auf Fehler durchzusehen. Erst wenn dieser
Check geschehen ist, wandert das Fanzine in den Bestand.
7. Die Einsortierung
Die Einsortierung ist ein eher kurzer und unspektakulärer
Vorgang. Das Fanzine wird idealerweise in eine Plastikfolie
gepackt und dann an passender Stelle in die vorhandenen
Schuber eines Bestandes („Punk“, „Dark Wave“, „Skins“ etc.)
eingeordnet. Diese Ordnung verläuft alphabetisch, dann numerisch von links nach rechts. In Streitfragen ist Bibliothekarin Antje eine zuverlässige Ansprechpartnerin. Eine beliebte
Frage ist zum Beispiel, an welcher Stelle ein Fanzine eingeordnet werden muss, das Abkürzungen enthält. Nimmt man das
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Beispiel: „A.D.S.W.“
„A.D.S.W.“, gehört das vor oder nach ein mit „Ados?“
betiteltes Heft? Aber derlei Probleme lassen sich glücklicherweise recht schnell klären.
8. Die Nutzung
Im Grunde könnte alles ganz einfach sein. Wenn, ja, wenn da
nicht die NutzerInnen wären. Sie sind die natürlichen Feinde
jedes Archivars. Der Nutzer an sich gehört nämlich zu jener
Gattung Mensch, die sich außerordentlich darüber freut, dass
unser Archiv Tausende von Fanzines bereit hält und diese
auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt (so viele Fanzines, wie keine andere uns bekannte Institution in Deutschland übrigens – soviel Stolz am Rande). Ein Menschenschlag,
der auch begeistert zur Kenntnis nimmt, dass unser Fanzine-Bestand teils völlig offen und unbewacht zugänglich ist.
Und so schön sortiert, nach Alphabet, da greift man doch am
besten gleich selbst zu.
Und die MitarbeiterInnen – so nett, aber so im Stress – da
stellt man die herausgenommenen Hefte doch am liebsten
gleich selbst wieder zurück.
So kommt es teils aus Schlamperei, teils aus der Verkennung unseres Einordnungsprinzips (alphabetisch von links
nach rechts, nicht andersherum!) zu einer Unordnung in unserem Bestand, die uns immer wieder aufs Neue zu überraschen
und zu beeindrucken weiß und weitere Anlässe für Nervenzusammenbrüche bietet. Wie zur Hölle kommt das Trust nur
zum Zap oder ein US-amerikanisches Zine zu den österreichischen? Die häufig angedachten öffentlichen Auspeitschungen
von NutzerInnen sind bisher allerdings unterblieben.
So viel zu unserer kleinen Fanzine-Archivar-Nabelschau.
Wir hoffen, wir konnten der geneigten Leserschaft unseren
Arbeitsalltag etwas transparenter und damit verständlicher
machen. Beim nächsten Mal warten wir mit einem weiteren
Blick hinter die Archiv-Kulissen auf. Dann wird es darum gehen, wie man für die Datenbankerfassung die Schriftzüge von
Bands in Black Metal-Fanzines entziffert. Ein äußerst komplexes Thema. Sie dürfen gespannt sein!
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
84
Bei dem hier beschriebenen Weg, den die Fanzines bis zur Eingliederung in unsere Bestände zurück legen, handelt es sich natürlich um den Idealfall, der nur bedingt den tatsächlichen Alltag im Archiv der Jugendkulturen
widerspiegelt. Verdeutlicht wird einem das immer wieder, wenn man in unseren Räumen auf ein biologisch
anmutendes Phänomen stößt, dass ForscherInnen auch als „Acervus Ferorum Manubriorum“ (Wilde Heftehaufen) oder gar als „Fungus Ferorum Manubriorum“ (Wilder Heftepilz) bezeichnen. Es handelt sich dabei um
kleine Ansammlungen von Fanzines und Magazinen, die aus meist unerklärlichen Gründen in dunklen Ecken
und Nischen des Archivs entstehen, wo sie zunächst von den Archivaren übersehen werden. Doch innerhalb
von Wochen, ja manchmal sogar schon innerhalb weniger Tage wuchern diese kleinen Stapel zu regelrechten
Haufen an, die von Christian und Andi mit Schrecken zur Kenntnis genommen werden. In ähnlicher Weise wie
Krebsgeschwüre streut dieses Myzel unkontrolliert Metastasen in den Räumen unserer Einrichtung. Wo tags
zuvor noch nichts zu sehen war, befindet sich plötzlich eine weitere Ansammlung mit noch mehr
Heften. Im Normalfall weiß zunächst niemand von uns, um was es sich bei diesen Fanzines handelt. Sie scheinen wie Pilze aus dem Boden geschossen zu sein. In kurzer Zeit können diese
wilden Heftehaufen die komplette Infrastruktur des Archivs lahm legen. Die Arbeit
von Andi und Christian ist damit auch immer eine Arbeit gegen das Chaos und
die Unordnung. Sie sind quasi die Müllabfuhr, die den
„Abfall“, der sich zwischen den Bestandsregalen
gebildet hat, entsorgt. Kaum auszumalen, was
geschehen würde, wenn die Fanzine-Archivare für zwei Monate in den Urlaub
fahren würden. Der Rückfall in die
Barbarei wäre sicher.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008
85
Rezensionen
 LITERATUR
Oliver Maria Schmitt: Anarchoschnitzel schrieen sie
Nadine Heyman ............................................................................... 88
Patricia Schröder: Zwischen Hölle und Himmel
Antje Pfeffer....................................................................................... 89
Uwe Szymborski: Radikal
Klaus Farin .......................................................................................... 89
Thorsten Dietze: Teenage Kicks
Klaus Farin .......................................................................................... 89
Eva Bude: Verpisst euch! sex and drugs and hardcore-punk
Klaus Farin .......................................................................................... 90
Sascha Lange: DJ Westradio
Antje Pfeffer....................................................................................... 90
Ric Graf: iCool
Klaus Farin .......................................................................................... 91
Lorenz Schröter: Das Buch der Liebe
Klaus Farin .......................................................................................... 92
 SACHBUCH
Rechtsrock. Eine Sammelbesprechung
Klaus Farin .......................................................................................... 93
Reinhard Barth: Jugend in Bewegung
Klaus Farin .......................................................................................... 95
Jakob Kandlbinder: Halbstark und cool
Klaus Farin .......................................................................................... 96
Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging
Andreas Kuttner ............................................................................... 96
Ian Christe: Höllen-Lärm
Jana Kimmritz ................................................................................... 97
Stefan Riermaier: Heavy Metal aus Osteuropa
Jana Kimmritz ................................................................................... 98
Keith Kahn-Harris: Extreme Metal
Sarah Chaker ..................................................................................... 98
Heinrich Geiselberger (Hrsg.): Und jetzt?
Bernd Hüttner .................................................................................100
Uwe Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg?
Kurt Schilde .....................................................................................101
Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.): 1968
Bernd Hüttner .................................................................................102
Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.):
Wo „1968“ liegt.
Bernd Hüttner .................................................................................103
Detlef Siegfried: Time Is on My Side
Antje Pfeffer.....................................................................................104
Gisela Notz: Warum flog die Tomate
Bernd Hüttner .................................................................................105
Moritz Ege: Schwarz werden
Nana Adusei-Poku.........................................................................106
Mark Terkessidis: Die Banalität des Rassismus
Nadine Heymann ..........................................................................107
Natalia Wächter: Wunderbare Jahre?
Roman Schweidlenka ..................................................................108
Tom Strohschneider: Erziehung in der Produktion
Bernd Hüttner .................................................................................108
Birgit und Heiko Klasen: Elf Freundinnen
Nadine Heymann ..........................................................................109
Betsy Udink: Allah & Eva
Edith Hartmann .............................................................................109
Ayşegül Ecevit / Birand Bingül (Hrsg.): Was lebst du?
Ela E. Gezen .....................................................................................111
Hilal Sezgin: Typisch Türkin?
Ela E. Gezen .....................................................................................111
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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REZENSIONEN
Inhaltsverzeichnis
Hatice Akyün: Einmal Hans mit scharfer Soße
Nadine Heymann ..........................................................................112
Michael Heatley: John Peel. Ein Leben für die Musik
John Peel/Sheila Ravenscroft: Memoiren des
einflussreichsten DJs der Welt
Sarah Chaker ...................................................................................113
Uwe Nielsen: 40 Jahre BEAT-CLUB
Thorsten Schmidt (Hrsg.): BEAT-CLUB9
Uschi Nerke: 40 Jahre mein BEAT-CLUB9
The Best of BEAT-CLUB ’65-’73 (10-DVD-Box)
Antje Pfeffer.....................................................................................115
Sebastian Haunss: Identität in Bewegung
Nadine Heymann ..........................................................................116
Martina Claus-Bachmann: Die musikkulturelle
Erfahrungswelt Jugendlicher
Dies.: Musik kulturell vermitteln
Antje Pfeffer.....................................................................................117
Lentos Kunstmuseum Linz (Hrsg.):Just do it
Christian Schmidt ..........................................................................117
Marc Calmbach: More Than Music
Christian Schmidt ..........................................................................118
Thomas Groetz: Kunst – Musik
Christian Schmidt ..........................................................................121
Ronald Galenza und Heinz Havemeister (Hrsg.):
Wir wollen immer artig sein …
Andreas Kuttner .............................................................................122
Michael Boehlke/Henryk Gericke (Hrsg.):
Too much future
Andreas Kuttner .............................................................................123
Frank Willmann (Hrsg.): Stadionpartisanen
Martin Pickelmann ........................................................................123
Stefan Thomas: Berliner Szenetreffpunkt Bahnhof Zoo
Corinna Steffen ..............................................................................124
die ärzte SONGBOOK
Andreas Kuttner .............................................................................125
Dorothee Hackenberg: Kreuzberg
Andreas Kuttner .............................................................................125
Hans Nieswandt: Disko Ramallah und andere
merkwürdige Orte zum Plattenauflegen
Ralf Mahlich .....................................................................................125
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Hartmut Brenneisen/Michael Wilksen/
Michael Martins (Hrsg.): Techno
Ralf Mahlich .....................................................................................126
Karin R. Fries/Peter H. Göbel/Elmar Lange: Teure Jugend
Martin Pickelmann ........................................................................127
Tory Czartowski: Die 500 bekanntesten Marken der Welt
Anne Hagemann ...........................................................................128
Peter Schmerenbeck (Hrsg.): „Break on through to
the other side“.
Bernd Hüttner .................................................................................129
Michael H. Kater: Hitlerjugend
Kurt Schilde .....................................................................................130
Peter Longerich: Die Geschichte der SA
Michael Klarmann .........................................................................131
Andreas Huettl/Peter-Robert König: Satan – Jünger,
Jäger und Justiz
Arvid Dittmann ..............................................................................132
Bernd Hüttner (Hrsg.): Verzeichnis der Alternativmedien 2006/2007
Sarah Chaker ...................................................................................133
 FANZINES
Mørkeskye Nr. 10+11
Sarah Chaker ...................................................................................136
 POSTEINGANG
(Besprechungen von Andreas Kuttner)
A Ticket To Write. No. 84 und Nr. 86 ..............................................138
Andromeda Nachrichten. 212 ........................................................138
AntiEverything. # 6666 ......................................................................138
Antifaschistisches Info Blatt. Nr. 75 ..............................................139
Bad Rascal. Nr. 2 ....................................................................................139
Der gestreckte Mittelfinger. Ausgabe # 4 ..................................139
Influenza. Nr. II.......................................................................................139
JPN Journal. I/07 und IV/07..............................................................139
Karl May & Co. Nr. 110 (4/2007) ......................................................139
Der kranke Bote. Nr. 3/2007 und 1/2008....................................140
Lockenkopf. Ausgabe 3 .....................................................................140
Moloko Plus. No. 32 .............................................................................140
Non Plus Ultra. Nr. 2 ............................................................................141
Inhaltsverzeichnis
OX. Nr. 72 und 73 ..................................................................................141
OX. Nr. 76 .................................................................................................141
Pankerknacker. NO. 11 .......................................................................141
Pankerknacker. # 17 ............................................................................141
Perry Rhodan. Nr. 2426 ......................................................................142
Plastic Bomb. Nummer 59 ................................................................142
Plastic Bomb. Nummer 61 ................................................................142
Punkrock! Nr. 4 ......................................................................................142
Raumschiff Wucherpreis. Nr. 21 .....................................................143
Schlagzeilen. Nr. 92 und 95..............................................................143
Der Siebenstein. Ausgabe 4 ............................................................143
Things. Nr. 141-143 .............................................................................143
Trust. Nr. 127/06 ...................................................................................143
Übersteiger. Nr. 83 und 85 ...............................................................144
Wahrschauer. Nr. 53 ............................................................................144
Der Zwergpirat. # 9 und 10 ..............................................................144
 QUERGELESEN
(Besprechung von Klaus Farin) .........................................................145
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung
Bernd Hüttner .................................................................................146
 FILME
(Besprechungen von Emil Gruber)
„Heavy Metal in Baghdad“ ...............................................................147
„Tirador“ ...................................................................................................148
„South of Pico“ ......................................................................................149
„London to Brighton“.........................................................................150
„Three Comrades“ ................................................................................150
„Armin“ .....................................................................................................151
„Heile Welt“.............................................................................................151
„Slumming“ ............................................................................................151
REZENSIONEN
 NEUE WISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN
Christian Koch: Rechtsextremismus in der Heavy
Metal-Szene
Jana Kimmritz .................................................................................153
Christian Koch: Wir sind die Stimme der arischen Jugend
Jana Kimmritz .................................................................................154
Birol Mertol: Männlichkeitsbilder von Jungen mit türkischem Migrationshintergrund sowie die Möglichkeiten und Grenzen für die interkulturelle Jungenarbeit
Antje Pfeffer.....................................................................................154
Peter Wolter: Die Gothic Szene und ihre Musik
Antje Pfeffer.....................................................................................155
Nadine Heymann: „Nazipop“
Martin Pickelmann ........................................................................155
Alena Karaschinski: Weiche T
Töne harter Ideologen
Antje Pfeffer .......................................................................................156
Maurice Wojach: Selbstbestimmungen der Punkbewegung in der DDR (1981-1989)
Antje Pfeffer.....................................................................................156
Nana Adusei-Poku: Schwarze Körper – weiße Bilder
Martin Pickelmann ........................................................................156
Silke Eckert: Auswirkungen subkultureller Identifikationen auf die Identitätsentwicklung im Erwachsenenalter am Beispiel männlicher Punks
Martin Pickelmann ........................................................................156
Christian Schmidt: Punk-Fanzines in der BRD 1977-80
Martin Pickelmann ........................................................................157
Eva Stein/Julia Rochel: Design to Death
Martin Pickelmann ........................................................................157
Backjumps – The Live Issue # 3
Antje Pfeffer.....................................................................................157
 MEDIENPROJEKT WUPPERTAL
 NEUE VERÖFFENTLICHUNGEN UNSERER MITGLIEDER
„Blinde Katze“
„Worauf warte ich hier?“
Nadine Heymann ..........................................................................152
Edward Larkey: Rotes Rockradio
Antje Pfeffer.....................................................................................159
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
87
88
REZENSIONEN
Literatur
Literatur
Oliver Maria Schmitt: Anarchoschnitzel schrieen
sie. Ein Punkroman für die besseren Kreise.
Rowohlt, Berlin 2006, 352 Seiten, 19,90 Euro
Man kennt das ja: Es gibt einige Autoren, deren Texte man
kennt und schätzt, weil sie unterhaltsam, interessant, witzig,
intelligent oder inhaltlich überzeugend sind. Dann stößt man
auf ein neues Buch dieses Verfassers, und sowohl Titel als
auch Layout erregen sofort Interesse. Wenn man dann noch
den Klappentext liest, in dem von einem „Pointengewitter“ die
Rede ist, hat man das Buch wahrscheinlich schon fast gekauft.
Tja, und wenn man nun zu lesen beginnt, will man es eigentlich gar nicht wahrhaben: Es liest sich wahnsinnig zäh.
Aber man liest weiter, die Story könnte sich ja noch entwickeln
und der Humor ganz hinten versteckt sein. Man kämpft sich
durch die Kapitel, doch vergebens. Vom Anfang bis zum Ende
kann die Geschichte nicht überzeugen. Man ist enttäuscht
und ein fades Gefühl bleibt zurück. „Ein Punkroman für die
besseren Kreise“ lautet der Untertitel des Buches, um das es
hier geht, wobei sich die „besseren Kreise“ wohl eher auf die
schöne Gestaltung als auf den Inhalt beziehen lassen. Und um
dem Anspruch an einen Punkroman gerecht zu werden, wird
in fast jedem zweiten Satz eine (deutsche) Punkband namentlich erwähnt oder zitiert.
Oliver Maria Schmitt, 1966 in Heilbronn am Neckar geboren, studierte Rhetorik und Kunstgeschichte in Tübingen und
Leeds. Von 1995 bis 2000 war er Autor, Herausgeber, Künstler
und Ehrenvorsitzende der PARTEI, Chefredakteur des Satiremagazins Titanic und ist zusammen mit Thomas Gsella und
Martin Sonneborn Mitglied der „Titanic Boy Group“. Von
1981 bis 1987 war er Sänger und Gitarrist der Heilbronner
Punkband Tiefschlag. Im vergangenen Jahr hat er nun sein Romandebüt „Anarchoschnitzel…“ vorgelegt.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Inhaltlich geht es um die Punkband Gruppe Senf aus dem
süddeutschen Hellingen, die sich fast zwei Jahrzehnte nach ihrer Auflösung wiedervereinen will. Die Vereinigung ist wichtig, denn es geht um Leben und Tod, um Geld und um Liebe.
Von Hellingen aus fährt der Erzähler Peter „Zombie“ Hein
(namensgleich mit dem Fehlfarben-Sänger) mit seinem tablettensüchtigen Pseudo-Arzt Dr. Hollenbach, dem Drummer
der Band, in den wilden Osten, um die noch lebenden Bandmitglieder einzusammeln. Offizieller Anlass ist der Auftritt
in einer Fernsehsendung. In Wirklichkeit dient die Reise den
Protagonisten aber auch dazu, aus dem langweilig gewordenen bürgerlichen Leben auszubrechen, und im Falle von Peter
Hein vor allem, um seiner Jugendliebe Itty Lunatic, ehemals
Sängerin der Band, wieder näher zu kommen: „Mit ihr wollte
ich von frühester Jugend an alt werden, hatte mir ausgemalt,
wie wir zusammen mit Kumpels und Schäferhunden in der
Fußgängerzone sitzen, Kohle schnorren, Rotwein aus Zweiliterbomben trinken.“
Die Reise führt sie in „Ilkas Reich“, wo sie schwule NaziSkins treffen und Peter Hein in einer rituellen Mutprobe Unmengen Thüringer Würste verschlingen muss, und auch zu
einer Gründungsversammlung einer Ost-Protest-Partei in
Chemnitz, die in Kotze versinkt. Der Bassist der Band wird auf
seiner Hanffarm bei Magdeburg aufgegabelt und die Frontfrau
Itty aus einer Braunkohlegrube gefischt, in der sie unter Tage
lebt, um das Dorf Horno vor dem Untergang zu bewahren.
Im Osten wundert man sich natürlich über die Altpunks,
denn „schließlich sah man eine solche Gurkentruppe nicht
alle Tage. Ein Schießbuden-Cowboy Arm in Arm mit einem
Nadelstreifenpunk, gefolgt von einem speckigen Altrocker,
einem vollbärtigen Latzhosenhippie und einem Pärchen, das
aus einem bulligen Jogginganzugträger in Begleitung einer semipornographischen Minirocktussi bestand.“
Literatur
Der Osten ist wild und gefährlich, und die Wiedervereinigung der Band steht unter einem schlechten Stern. So bleibt
es auch bis zum letzten Kapitel fraglich, ob der Erzähler Ittys
Herz noch erobern kann und auch, ob Punk nicht vielleicht
doch schon tot ist.
Nadine Heyman
Patricia Schröder: Zwischen Hölle und Himmel.
Ein Mädchen befreit sich aus der Gewalt (generation).
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2004,
184 Seiten, 7,90 Euro
Sie trägt den schönen Namen Kamala, nach der Kurtisane aus
„Siddhartha“, einer Erzählung von Hermann Hesse, und sie
trägt ein Baby im Bauch. Kamala ist 17. Der Vater des Kindes ist Ronny, von dem sie sich sexuell missbrauchen lässt, der
sie mit Drogen voll pumpt, der sie schlägt und an die Heizung kettet. Ein Elternhaus hat Kamala nicht; ihre Mutter will
nichts von ihr wissen, einen Vater kennt sie nicht. So treibt
die junge Frau durch ein Leben, das völlig hoffnungslos erscheint. In dieses Leben hinein soll sie nun ein Kind gebären?
Sie wehrt sich mit aller Gewalt dagegen, doch das Kleine bleibt
hartnäckig in ihrem Bauch…
Kamalas Leben nimmt eine jähe Wendung, als sie den
kleinen Jungen Janis vor einem LKW rettet. Hedy, seine Mutter, nimmt Kamala bei sich auf. Alles scheint sich zum Guten
zu wenden, als sich Kamala auch noch in Hedys Bruder Abel,
einen Künstler, verliebt. Wird die Hoffnung auf eine Familie,
Kamala, Abel und Baby Paul, in Erfüllung gehen?
REZENSIONEN
Florian, um die 20, arbeitslos, hat sich einer rechtsextremen
Clique angeschlossen, nachdem deren Führer ihn vor einer
erpresserischen Migrantenkindergang rettete. Die Clique
verwüstet erst einen jüdischen Friedhof, ein paar Tage später
schmeißen sie Brandbomben in ein von Flüchtlingen bewohntes Haus und ermorden dabei ein Kind. Florian ist bei der Tat
nicht dabei, denn er hat sich in der Nacht davor besoffen und
verpennt. Als er endlich beim Haus eintrifft, brennt es bereits.
Er rennt aus Neugier hinein, stolpert über einen Jungen und
rettet diesen. Dabei wird er selbst schwer verletzt. Im Krankenhaus freundet er sich mit dem Zivi Danny an – der ist
schwul, wie er selbst auch. Soweit grob zusammengefasst der
Plot dieses Romans. So holzschnittartig, wie das hier klingt,
liest sich leider auch der komplette Roman. Die erste Hälfte
strotzt nur von rechtsextremen Tiraden –
„Wusstet ihr“, fragt Heydrich, „dass in Gärten, die wo ein
Krematorium in der Nähe ist, also, dass da alles viel besser
wächst als woanders?“
„Klar“, grinst Tom. „Deswegen gab es doch in Auschwitz das
beste Gemüse. Und total bio.“ (S. 39)
–, in der zweiten Hälfte möchte der Autor darstellen, wie
Florian „ins Schwimmen kommt“ und beginnt, „über sein Leben nachzudenken“. Aber wirklich glaubwürdig wird dieser
Prozess nicht präsentiert, wie überhaupt in diesem blutleeren,
ideologisch überfrachteten Roman weder Florian noch die
anderen Figuren irgendwie geartete Charaktere besitzen. Und
ein literarisches Werk, das dies nicht leistet, bei dem man als
LeserIn nicht mit leiden, -hassen, -fühlen kann, ist leider nicht
nur langweilig, sondern auch wirkungslos.
Klaus Farin
So leicht macht es die Autorin Patricia Schröder den jungen
Leserinnen und Lesern allerdings nicht. Ein eindeutiges Happy
End ist nicht zu erwarten. Dieses Buch aus der Reihe „generation“ des Fischer Taschenbuch Verlages (www.fischergeneration.de) ist eines, das der jugendlichen Zielgruppe alles andere
als eine heile Welt vorführt. Gnadenlos empfehlenswert.
Antje Pfeffer
Uwe Szymborski: Radikal.
MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2007,
141 Seiten, 16 Euro
Thorsten Dietze: Teenage Kicks.
Sunny Bastards Production, Essen 2007,
266 Seiten, 11,90 Euro
Der 15-jährige Tony will nicht wie der Rest der Welt Rapper
werden, sondern Skinhead. Der Roman beschreibt seinen
Einstieg in die Szene: erste Konzerte, die langsame ästhetische Wandlung (zunächst gegen den harschen Widerstand
des Vaters und die ängstlichen Befürchtungen der Mutter,
die früher selbst der Szene angehörte), erste Erfahrungen mit
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REZENSIONEN
Literatur
Gewalt, Alkohol, Sex und Liebe und Liebeskummer. Unterstützt wird Tony dabei von Rocco, einem älteren Szene-Aktivisten, der früher einmal der beste Freund seiner Mutter
war. „Teenage Kicks“ ist nach „No llores me querida – Weine
nicht, mein Schatz“ von André Pilz erst der zweite von einem
deutsch(sprachig)en Skinhead veröffentlichte Roman. Während André Pilz‘ Roman sehr spektakulär daherkommt (inklusive Hooligan-Schlägereien, anderer extremer Gewalt und
existentieller Auseinandersetzungen; nicht zufällig wird er in
Reviews oft mit Irvine Welsh – „Trainspotting“ – verglichen),
erzählt Thorsten Dietze eher vom Alltag der Skinheadsubkultur. Ohne die literarische Brillianz von Pilz zu erreichen, aber
dennoch spannend, mitunter amüsant, strikt „fiktiv“, wie er
im Vorwort betont, aber doch immer sehr nah an der realen
Szene und vor allem für Old-School-Skins schon aufgrund der
präsentierten Playlists und anderer Details der von Tony besuchten Ska-Allnighters und Konzerte ein Genuss.
Klaus Farin
Eva Bude: Verpisst euch!
sex and drugs and hardcore-punk.
Europa Verlag, Leipzig 2005, 362 Seiten, 16,90 Euro
Die Punks kommen in die Jahre und basteln fleißig an ihren Biographien. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht ein
Szene-Aktivist seine Memoiren anbietet. Das meiste ist nicht
anders gestrickt als die Biographien von (Ex-)Zuhältern,
(Ex-)Prostituierten, (Ex-)Bundeskanzlern auch: narzisstische
Selbstbeweihräucherung und der Versuch, noch etwas Kasse
zu machen. Über die Zeitgeschichte, in der sich diese Personen bewegten, erfährt man selten Neues. Eva Budes RomanAutobiographie ist besser.
Sie gehörte zu den im wahren Leben sehr wenigen Punks,
die man oft tagsüber beim Einkaufen in Berlin-Schöneberg
statt mit den obligatorischen zwei bis drei Hundemischlingen
pro Punk mit einer Ratte auf der Schulter antreffen konnte.
Und abends sah man sie in den frühen Achtzigern wieder,
wenn man zu einem Konzert ins K.O.B. wollte, einem besetzten Haus in der Potsdamer Straße mit Konzertkneipe im
Erdgeschoss. Normalerweise wurde man dort von ihr recht
freundlich begrüßt, es sei denn, man hatte sich zu hippiesk
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
oder new-wavig aufgebrezelt, dann wurde einem gnadenlos
mit einem „Verpisst euch!“ oder „Der Dschungel is’ da hinten“
der Weg zurück auf die Straße gewiesen.
Inzwischen ist Eva Bude Mitte 40, Modedesignerin, verheiratet und Autobiographin ihrer eigenen Geschichte. Naturgemäß ist ihr rund 360 Seiten dickes Werk auch reichlich
selbstverliebt, doch es bleibt nicht bei der Nabelschau stehen.
Man erfährt in der Tat sehr viel über die Westberliner Punkund Hausbesetzerszenen der frühen 1980er-Jahre, zumal Eva
Bude gar nicht erst versucht, das Ganze literarisch aufzumotzen, sondern Dialoge im authentisch-korrekten Szene-Slang
wiedergibt. Sie erzählt mit sehr viel Liebe zum Detail vom
Hausbesetzer-Fünf-Sterne-Menü (Hundefutter mit Reis)
über Demo-Dramaturgien bis zum Ambiente von ehemaligen Kultstätten wie der „Ruine“ oder dem „Risiko“. „Verpisst euch!“ ist sicher nicht die ultimative Szene-Biographie
– schon deshalb nicht, weil die Szene so vielseitig und widersprüchlich war, dass ein Dutzend AktivistInnen jener Jahre
wahrscheinlich ein Dutzend vollkommen verschiedener Versionen schreiben und sich in den jeweils anderen nicht wiedererkennen würden. Doch diese kommt der Realität schon
sehr nahe – und ist auf jeden Fall eine der unterhaltsamsten.
Und das ist auch schon viel wert.
Klaus Farin
Sascha Lange: DJ Westradio.
Meine glückliche DDR-Jugend.
Aufbau-Verlag, Berlin 2007, 202 Seiten, 16,90 Euro
Sascha Lange heißt eigentlich Alexander („… nennt mich
niemand“) und wurde 1971 als Sohn von Bernd-Lutz Lange
in Leipzig geboren. Sein Vater ist ein bekannter Kabarettist
(„academixer“) und Autor, der sich 1989 bei den Protesten
in der „Heldenstadt“ Leipzig stark für eine friedliche Umwälzung engagiert hatte.
Sascha wuchs in privilegierten Verhältnissen auf. Das
bedeutete zu DDR-Zeiten vor allem eins: West-Kontakte, die
verbunden waren mit regelmäßiger Zufuhr von begehrten
West-Waren. So dreht sich in Sascha Langes Erinnerungsbuch
an seine „glückliche DDR-Jugend“ auch das meiste um WestSpielzeug, West-Comics und vor allem um West-Mode und
Literatur
REZENSIONEN
so wichtig, West-Klamotten zu haben, Hauptsache, alles war
irgendwie schwarz. Und da konnte man improvisieren: Der
Inhalt des Kleiderschranks wurde einfach in die Färberei gebracht, Vaters Lederjacke umgeschneidert, robuste Arbeitsschuhe wurden gekauft…
Die Abschnitte im Buch, die Saschas jugendkulturelle Vorlieben, gelebt in der DDR, schildern, vor allem seine Reise nach
Ost-Berlin zum Depeche-Mode-Konzert, gehören zum Lebendigsten und Originellsten seiner Betrachtungen. Hier kann ich,
die ich zwar eher andere musikalische und kleidungstechnische
Vorlieben pflegte, aus eigener Erfahrung nachvollziehen, wie
ungeheuer wichtig es für in der DDR Heranwachsende war, die
favorisierte Band auch mal live sehen zu können. Das waren
Erfahrungen, von denen man ein Leben lang zehrt!
Leider gehört der Rest der DDR-Erinnerungen des Leipzigers
eher in den Bereich des Belanglosen. Seine Heimatstadt war
als internationale Messestadt mit besonderen Bedingungen
(West-Besucher, West-Kontakte) gesegnet. Und Leipzig hat
mit seinen friedlichen Massenprotesten, an denen der Autor
selbstverständlich auch teilgenommen hat, wesentlich dazu
beigetragen, die DDR ad acta zu legen. Dort zu leben, diese
Zeit mitgemacht zu haben, ist natürlich spannend. Doch eine
DDR-Kindheit und -Jugend vorwiegend unter dem Aspekt
der bunten Warenwelt aus dem Westen, an der man als Sohn
eines privilegierten Vaters teilhaben konnte, zu beschreiben,
erscheint mir elitär und überflüssig.
Antje Pfeffer
Ric Graf: iCool. Wir sind so jung,
so falsch, so umgetrieben.
Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2006, 207 Seiten, 7,90 Euro
West-Musik, publik gemacht durch die beliebteste aller Teenie-Postillen, die BRAVO.
Mit etwa 14 Jahren interessiert sich Sascha zunehmend für
New Wave und Depeche Mode. Wie er in der DDR-Mangelgesellschaft an das von der BRAVO vorgegebene Waver-Outfit
gelangt, ist aufschlussreich. Hier war es für Sascha mal nicht
Der Autor dieses Werkes ist „1985 in Berlin geboren, hat vor
zwei Jahren sein Abitur gemacht“, arbeitete „nach zahlreichen
Praktika in Presse, Rundfunk und Fernsehen als Associate
Editor für das Magazin Quest und als persönlicher Assistent
von Christoph Schlingensief “, lebt in Berlin und „denkt sicher
gerade darüber nach, auf welche Party er heute Abend gehen
soll“. Aber eigentlich spürt man es von der ersten Zeile an: Hier
schreibt ein Fünfzigjähriger im Körper eines Zwanzigjährigen.
Es wimmelt von „Erinnerungen“ und „Vergangenheit“; alles,
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REZENSIONEN
Literatur
an das der Autor sich erinnert, ist „Jahre her“, geschah, „als ich
noch jung war“. Da lässt einer seine ferne Jugend noch einmal
aufleben, in der allerdings, stellt man nach ermüdenden 207
Seiten fest, nicht allzu viel geschah. Oder zumindest nichts,
was man nicht allwöchentlich in der BRAVO ebenso lesen
kann: unglückliche Liebe, das „erste Mal“, schlechte Parties,
Pickel und andere Probleme der Identitätsfindung. „Soll ich
aufstehen oder liegen bleiben? Ich entscheide mich für das
Liegenbleiben“, schildert uns der junge Philosoph zum letzten
Mal seine existenziellen Nöte, um uns dann mit einem Betthupferl zu verabschieden und sein literarisches Erstlingswerk
doch noch zu einem überraschenden Ende zu bringen: „Es
kommt mir ein Gedanke: Vielleicht bedeutet Jugend, langsam aufzuwachen, aus einem Schlaf, in dem man eben noch
süß geträumt hat. Es erwartet dich ein bitterkalter Morgen,
schmerzlichst vermisst man das schöne Gefühl. Irgendwann
werden wir uns vielleicht zurück erinnern und denken: So
schlimm war das doch gar nicht!“
So schlimm war’s wirklich nicht, nur eben langweilig und
überflüssig. Schlimm war eigentlich nur, dass dieser auch
schon sprachlich eher fünfzigjährige Autor („Ich verstand und
begab mich zu ihr.“), der die Liebe in „Teen-Splatter-Filmen“
sucht, aber „der Literatur mehr vertraut“, penetrant im großen
„Wir“ bramarbasiert, als könne er für seine ganze Generation
reden, ein Eindruck, den die Verlags-PR logischerweise durch
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Werbeslogans wie „Was es heißt, heute jung zu sein“ verstärkt.
Ab in die Tonne.
Klaus Farin
Lorenz Schröter: Das Buch der Liebe.
Antje Kunstmann, München 2007, 188 Seiten, 16,90 Euro
Ein Familienvater trifft am Flughafen auf eine japanische
Punkmusikerin und reist mit ihr und ihrer Band (später auch
ihrer Mutter) durch Süddeutschland auf der Spurensuche nach
Elvis, bzw. zu einem Konvent der Church of Elvis Presley,
immer wieder von obskuren Elvis-Hassern verfolgt, entführt
und verprügelt. Denn: Elvis ist Jesus und lebt! Ein abgedrehtes Roadmovie mit manch netten Szenen und Einfällen (und
einem sehr schönen Cover), aber nicht wirklich spannend,
nicht wirklich Interesse weckend, da die Personen allesamt
wenig Tiefgang haben, der gesamte Plot immer unentschieden zwischen Slapstick, Persiflage auf Verschwörungstheorien
und Reiseroman schwankt und uns dazu mit einem seltsamen,
irgendwie nicht überzeugenden Ende entlässt. Nix für mich,
auch wenn der Autor sympathischerweise mal Punk war und
ein Fanzine mit dem schönen Titel Die Einsamkeit des Amokläufers herausgegeben hat. Aber: Christian Kracht liebt ihn, so
verkündet das Backcover. Das hätte mich vorwarnen sollen.
Klaus Farin
Sachbuch
REZENSIONEN
Sachbuch
Rechtsrock. Eine Sammelbesprechung.
Seit Mitte der 1990er-Jahre entstehen Jahr für Jahr fünf bis
zehn Diplom- und andere wissenschaftliche Arbeiten zum
Thema rechtsextreme Musik. Leider geschieht das fast ausschließlich in den Fachbereichen (Sozial-)Pädagogik, Politik
und Sozialwissenschaften, sehr selten bei GermanistInnen
oder im Fachbereich Musik. So wird in der Regel nur das
gesellschaftliche Umfeld analysiert, die Musik und die Texte
selbst dagegen werden allenfalls deskriptiv präsentiert. Manche der studentischen AutorInnen publizieren ihre Arbeiten
sogar, zumeist in Verlagen, die dafür zwischen zwei- und viertausend Euro an „Druckkostenzuschuss“ kassieren.
Auch Constanze Krüger, seit 2006 Diplomsozialpädagogin, konnte der Versuchung nicht widerstehen und ließ ihre
an der Hochschule Magdeburg-Stendal eingereichte Diplomarbeit „Rechte Bands. Geschichte, Gegenstrategien, Wirkung“
vom VDM Verlag Dr. Müller drucken. Die 93 Seiten umfassende Arbeit (zzgl. 53 Seiten Anhang) gliedert sich in drei
Teile: Nach einem Abriss zur Geschichte der Skinheadkultur
befasst sich der zweite Teil kritisch mit staatlichen Maßnahmen gegen die rechtsextreme Musikszene, ein elf Seiten umfassender dritter Teil beschäftigt sich mit der Wirkung und
den Rezipienten rechtsextremer Musik.
Inhaltlich bieten allerdings alle drei Teile nichts Neues.
Der historische Teil (S. 12-46) beruht im Wesentlichen auf der
Veröffentlichung „Skinheads“ von Farin/Seidel-Pielen aus dem
Jahr 1993 (35 Zitate auf 34 Buchseiten), was dem Rezensenten
zwar schmeichelt, den potentiellen Käufer aber wenig erfreuen dürfte, ist das Original doch weiterhin zu einem Viertel des
Preises dieser „Neu“veröffentlichung in jeder Buchhandlung
zu erwerben. „Not amused“ dürften auch die New Yorker Altpunker Television sein, deren Foto, aufgenommen bei einem
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REZENSIONEN
Sachbuch
Konzert Ende der 1970er-Jahre, ohne Zusammenhang zum
Inhalt des Buches dessen Cover ziert.
Die inhaltliche Hauptmotivation der Autorin zur Veröffentlichung ihrer Diplomarbeit scheint ihre Empörung über
die repressiven Maßnahmen des Staates gegen rechtsextreme
Bands zu sein. Constanze Krüger sieht diese als kontraproduktiv an, weil sie nicht die Ursachen des Rechtsextremismus
bekämpfen und zudem oft im Konflikt mit den demokratischen Grundrechten stehen, etwa wenn Rechtsrockkonzerte
mit der Berufung auf baupolizeiliche Gesetze verhindert werden oder Polizeibeamte Saalvermieter oder Arbeitgeber von
rechtsextremen Musikern aufsuchen, um diese über deren
politische Gesinnung „aufzuklären“ – eine Position, die dem
Rezensenten sehr sympathisch ist, da er sie teilt und selbst
immer wieder für die Auflösung solch nutzloser und demokratieschädigender Einrichtungen wie Verfassungsschutz und
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien plädiert.
Neue Argumente oder gar Fakten dazu enthält Constanze
Krügers knapp 30-seitiges Plädoyer allerdings ebenso wenig
wie der letzte kurze Beitrag zur „Wirkung“ von (rechtsextremer) Musik, der eigentlich nur unterschiedliche Statements
zum Thema aneinander reiht. Der Anhang schließlich dokumentiert ausschließlich Songtexte der Bands Böhse Onkelz
und Landser. Warum gerade diese ausgewählt wurden, nicht
aber beispielsweise auch solche der Bands Endstufe und Skrewdriver, denen im Hauptteil immerhin eigene Kapitel gewidmet
wurden, wird nicht weiter begründet.
Fazit: Als Gutachter hätte der Rezensent diese durchaus
engagierte und eigenständige Arbeit der Studentin Constanze
Krüger sehr positiv bewertet, als Buchveröffentlichung ist dieses Werk leider unergiebig und überflüssig – zumal bei einem
unverschämten Preis von 49 Euro.
Das gilt leider überwiegend auch für die zweite aktuelle
Veröffentlichung zum Thema „Rechtsrock“ im selben Verlag
mit dem Untertitel „Einstiegsdroge in rechtsextremes Gedankengut?“. Der Diplompolitologe Mahmut Kural analysiert in
seiner Abschlussarbeit im Kern einige Dutzend Songtexte
hinsichtlich ihrer nationalistischen, revisionistischen, neonazistischen und rassistischen Inhalte, wobei die Analyse eher
oberflächlich-deskriptiv ausfällt: Auf zumeist zwei- bis sechszeilige interpretatorische Hinweise folgt ein mehr oder weniger
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
langes Songzitat. Die im Untertitel gestellte Frage verneint
Kural abschließend: Der „Rechtsrock“ sei weniger eine „Einstiegsdroge“ in rechtsextremes Gedankengut als ein Spiegel
des „Extremismus der Mitte“: „Der Hauptunterschied zu nationalistischen und rassistischen Tendenzen in Politik, Medien
und Gesellschaft liegt in der drastischen Art der Formulierung und zum Teil im offenen Aufruf zu Gewalttaten.“ (S. 62)
Eine wirkliche Untersuchung über die Rezeptionswirkung des
Rechtsrock „ist bisher von der Forschung nicht erbracht worden“ (S. 63). Das gilt natürlich auch trotz vielversprechender
Ankündigung im Vorwort für diese 76-seitige Broschüre, die
letztlich keinerlei noch nicht veröffentlichtes Wissen enthält.
An diesem Thema Interessierte sollten sich also für den
halben Preis besser gleich die beiden bis heute aktuellen
„Klassiker“ zu diesem Thema besorgen, den im Archiv der Jugendkulturen 2001 erschienenen Titel „Reaktionäre Rebellen.
Rechtsextreme Musik in Deutschland“ (von dem allerdings
nur noch 80 Exemplare lieferbar sind – danach ist der Titel
definitiv vergriffen; eine Neuauflage ist nicht geplant!) sowie
„Rechtsrock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien“ (Unrast 2002) von Christian Dornbusch und Jan Raabe.
Die beiden letztgenannten nordrhein-westfälischen Autoren recherchieren seit vielen Jahren zu rechtsextremen Subkulturen, sind als Vortragsreisende unterwegs und haben jüngst
auch zwei regionale Fallstudien veröffentlicht: „RechtsRock
– Made in Thüringen“ und „RechtsRock – Made in SachsenAnhalt“. In diesen beiden Broschüren werden akribisch jeweils
rund zwei Dutzend Bands und ihr rechtsextremes Netzwerk
vorgestellt, neben solchen des „klassischen“ Rechtsrock-Spektrums auch Liedermacher und Hard- bzw. Hatecore-Bands,
sowie die Schnittmengen zwischen der rechtsextremen Subkultur und anderen Szenen (Punk, Dark Wave/Gothic, Neofolk, Black Metal). Die beiden Arbeiten sind weitgehend nicht
textidentisch, sodass sich auch der Bezug beider Broschüren
(ohnehin nur gegen eine kleine Gebühr) lohnt.
Bibliographie:
Krüger, Constanze: Rechte Bands. Geschichte, Gegenstrategien, Wirkung. VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007.
147 Seiten, 49 Euro.
Kural, Mahmut: Rechtsrock. Einstiegsdroge in rechtsextremes
Sachbuch
Gedankengut? VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007.
76 Seiten, 42 Euro.
Archiv der Jugendkulturen (Hrsg.): Reaktionäre Rebellen.
Rechtsextreme Musik in Deutschland. Tilsner, Bad Tölz
2001. 252 Seiten, 15 Euro.
Dornbusch, Christian/Raabe, Jan (Hrsg.): RechtsRock.
Bestandsaufnahme und Gegenstrategien. Unrast, Münster
2002. 541 Seiten, 24 Euro.
Dornbusch, Christian/Raabe, Jan/Begrich, David: RechtsRock Made in Sachsen-Anhalt. Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2007. 70 Seiten,
Bezug nur über die LpB (www.lpb.sachsen-anhalt.de).
Dornbusch, Christian/Raabe, Jan: RechtsRock Made in
Thüringen. Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2006. 70 Seiten, Bezug nur über die LpB
(www.lzt.thueringen.de).
Klaus Farin
Reinhard Barth: Jugend in Bewegung.
Die Revolte von Jung gegen Alt in Deutschland im 20.
Jahrhundert. Mit e. Nachw. von Klaus-Jürgen Scherer.
Vorwärts Buch, Berlin 2006, 175 Seiten, 19,80 Euro
Eine spannende Idee: Nicht weniger als „einen umfassenden
Überblick über ein ganzes Jahrhundert ‚bewegter Jugend‘“
will der Historiker Barth mit seinem Büchlein liefern: von den
Wandervögeln zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die als erste
echte Jugendbewegung mit dem Anspruch auf die eigene Gestaltung ihrer Lebens- oder zumindest Freizeitwelten gelten,
über oppositionelle und regimetreue Jugendgruppen im Dritten Reich bis zu den jungen Globalisierungskritikern der heutigen Zeit. Auch die FDJ im Osten Deutschlands wird nicht
ausgespart. Jedes Kapitel besteht aus einem kurzen Essay, dem
ein oder mehrere Auszüge aus Originalquellen folgen, deren
Fundstellen allerdings in vielen Fällen nicht benannt werden,
sodass der interessierte Leser sie nicht ohne Weiteres im Original nachlesen kann.
Überhaupt wirkt das Buch in seiner Gesamtheit leider
immer noch so, als sei es nur ein längeres Exposé oder ein
Zwischenbericht zum eigentlichen, noch in Arbeit befindlichen Werk. Es werden Fakten und Daten referiert, aber selten
REZENSIONEN
atmosphärisch verdichtet; die verschiedenen Jugendbewegungen werden chronologisch abgehandelt, dabei durchaus interessante Details vermittelt, aber bis auf wenige Sätze zu Parallelen zwischen den 68ern und den Wandervögeln (S. 144)
niemals in Verbindung gesetzt, das Gemeinsame, Trennende
analysiert. Wie weit verstanden und verstehen sich Jugendbewegungen wirklich als „politisch“? Woll(t)en sie wirklich
gesellschaftsverändernd wirken oder nur ihren eigenen, persönlichen Lebensspielraum erweitern? Was bleibt vom Aufbegehren „der Jugend“? Haben sie wirklich die Kraft, die Gesellschaft zu verändern, oder war und ist ihr Aufbegehren nur ein
notwendiger (post-)pubertärer Prozess, um sie anschließend
umso besser in die gesellschaftlichen Normen und Rituale hineinzusozialisieren? – Fragen, die in diesem Zusammenhang
interessante Diskussionsstränge bilden könnten. Doch sie
werden nicht einmal gestellt.
So spiegelt sich dann auch das eigentliche Thema des Buches – die Revolte der Jungen gegen die Alten – nur in wenigen Kapiteln wider. Konnte man bei den ersten (von insgesamt zwölf) Kapiteln über „Sturm und Drang“ sowie die
„Burschenschaften“ des 18. und 19. Jahrhunderts noch sagen,
okay, als historischer Background mag das notwendig zum
Verständnis der folgenden Kapitel sein, auch wenn‘s nicht
wirklich zum Thema gehört, so wundert man sich dann doch
über ein drittes, „Langemarck“ betiteltes Kapitel, das das sinnlose Opfern von jugendlichen Soldaten im November 1914
beschreibt, insofern schon einmal im 20. Jahrhundert angekommen ist, aber mit „Revolte von Jung gegen Alt“ nun wirklich gar nichts zu tun hat. Die Arbeit Reinhard Barths endet
kurz „Nach 1968“, so auch der Titel seines letzten Kapitels, in
dem er mit wenigen Strichen noch einmal die 1970er-Jahre
bis zur beginnenden Hausbesetzer- und Friedensbewegung
der frühen 1980er-Jahre skizziert. Es folgt zum Abschluss ein
als Nachwort deklarierter Essay von Klaus-Jürgen Scherer, in
dem dieser auf 19 Seiten „das letzte Vierteljahrhundert“ abarbeitet: Neue Soziale Bewegungen, Spontis, Techno, Globalisierungsgegner und andere.
Da taucht eine zündende Idee auf, ein Vertrag wird geschlossen, der Autor begibt sich an seine Arbeit. Irgendwann, auf
halber Strecke, vergeht ihm die Lust oder er hat zu viele andere
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Sachbuch
Dinge zu erledigen oder er ist plötzlich selbst nicht mehr von
der Idee überzeugt – wie auch immer: Irgendwie liefert er
dann doch ein Manuskript ab. Leider fehlt das letzte Viertel
des Jahrhunderts. Also wird ein zweiter Autor beauftragt, den
Job des eigentlichen Autors zu erledigen. Er tut es, und das gar
nicht einmal schlecht, doch das Buch wirkt dadurch insgesamt
noch ein wenig mehr zusammengestückelt. Doch da die Autorenhonorare ja bereits gezahlt wurden und das Erscheinen des
Buches ja auch bereits angekündigt war (gut eineinhalb Jahre
zuvor), veröffentlicht der Verlag es eben, auch wenn es für alle
Seiten unbefriedigend bleibt: für den Lektor, weil der seine eigentliche Arbeit nicht tun und das unvollendete Buch zurückweisen durfte, für den Verlag, weil der offenbar schon nicht
mehr so sehr an dem Thema interessiert ist (das legt zumindest die lieblos-billige Produktion nahe), für den Leser, weil
für ihn trotz manch interessanter Kapitel letztlich das gestellte
Thema nur gestreift wird und viele Fragen unbeantwortet bleiben, und damit auch für den Autor, weil der enttäuschte Leser
möglicherweise sein nächstes Buch, das wieder ertragreicher
sein könnte, nicht mehr erwirbt. Schade eigentlich.
Klaus Farin
Jakob Kandlbinder: Halbstark und cool.
Ausgewählte Jugendkulturen seit den 1950er Jahren.
Telos Verlag, Münster 2005, 122 Seiten, 12 Euro
Nach knappen, aber – da sie sich in fast jeder wissenschaftlichen Arbeit wiederfinden – dennoch überflüssigen „Begriffsbestimmungen“ zu Jugend/Kultur/Szene/Clique/Jugend- und
(Jugend-)Subkulturen zeichnet der Autor die entwicklungsund stilgeschichtlichen Motive der Jugendkulturen der
1950er-Jahre (Halbstarke, Teenager, Existentialisten) und
1960er-Jahre (Beat, Studentenproteste, Hippies) sowie von
Techno, Skinheads und HipHop nach. Ein abschließendes Kapitel erörtert den Wandel von Jugend(kulturen) unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der letzten Jahrzehnte.
Die Zusammenstellung ist nicht wirklich neu und aufregend, aber sachlich ordentlich zusammengetragen und
als Überblick geeignet. Und immerhin handelt es sich hier
nicht um eine Veröffentlichung eines professoralen Autors
oder Jugendforschers, sondern um die Diplomarbeit im FachJOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
bereich Sozialwesen eines inzwischen als Streetworker arbeitenden Mittzwanzigers – und das verdient einen Extrabonus
Respekt.
Klaus Farin
Frank Apunkt Schneider:
Als die Welt noch unterging. Von Punk zu NDW.
Ventil Verlag, Mainz 2007, 385 Seiten, 17,90 Euro
Ist die Geschichte des DDR-Punk mittlerweile sehr gut schriftlich aufgearbeitet, fehlten bisher ähnliche Werke über Punk in
der alten BRD. Natürlich gibt es das allgemein bekannte „Verschwende deine Jugend“ von Jürgen Teipel; dieses gibt aber
bestenfalls ausschnittartige Einblicke in einige der relevanten
frühen Szenen, zudem mit einer zurecht kritisierten Schieflage
zugunsten der „Kunst“-Szene.
Verglichen damit hat Frank Apunkt Schneider, Redakteur
unter anderem bei Intro und Testcard, eine in sich geschlossene Analyse vorgelegt, die eben nicht nur nachträglich eingesammelte O-Töne unkommentiert aneinander reiht, sondern seine Eindrücke der Geschichte von Punk und NDW in
Deutschland wiedergibt: eher schlicht, aber stilvoll illustriert
durch Abbildungen einiger Magazin-, Fanzine- und Tape-Covers sowie durch zeitgenössische Fotos.
Schneider definiert die Zeit der „Neuen Deutschen Welle“
(NDW) für die Jahre 1976 bis 1985 und zählt dazu die Entwicklung von Punk, New Wave, Minimalismus, aber auch
die Kommerz-Variante ab Mitte 1982, die im Mainstream als
NDW gilt. Er betont die in den späten 1970er-/frühen 1980erJahren herrschende Untergangsstimmung als Hintergrund
für das „No Future“ von Punk und New Wave. Nur diese Zeit
erscheint ihm, der sich offen als Anhänger der „Art-SchoolTradition von Punk zu Post-Punk“ positioniert, als die Zeit
des „wahren“ Punks. Eine „Ruinenlandschaft“, die noch nicht
erwachsen geworden war und noch keine eigenen Werte geschaffen hatte. Alles danach Folgende aus dem Bereich Punk
sieht er nur noch als „Stagnation“. So verliert er den eigentlichen Punk-Bereich selbst bereits recht früh (um 1980) wieder
aus den Augen, zeichnet die verschiedenen Aspekte (u. a. Gegensatz Großstadt vs. Provinz) der Entwicklung des Punk und
seiner Vorläufer bis dahin allerdings sehr gut nach.
Sachbuch
Höhepunkte der weiteren Betrachtung sind sicher die
Schilderung der Kassettenszene mit spürbarer Sympathie,
sowie die Geschichte von Sounds und Magazinen, die sich
nach diesem Vorbild gegründet haben (Scritti, Lautt). Eine
schaurige Zeit, diese Phase der „Deutschrock“- bzw. „Schlager“-NDW, in der Bands und „Interpreten“ wie Hubert Kah,
Nena oder Peter Schilling in Dieter Thomas Hecks „Hitparade“ auftraten. (Ob man diese nicht am liebsten völlig vergessen möchte?)
Im Anhang findet sich eine Diskographie und Kassettographie; bei ersterer stört etwas die betont subjektive Sichtweise (der insbesondere einige Punk-Klassiker zum Opfer fallen),
die (unkommentierte) Kassettographie ist jedoch uneingeschränkt verdienstvoll.
„Als die Welt noch unterging“ ist oft nicht leicht verdaulich. Gerade wenn es um pop-theoretische Analysen geht,
muss man sich doch zum Teil durch die Sätze kämpfen und
hat ohne Vorkenntnisse zunächst größere Probleme, alle
Hinweise und Anspielungen verstehen zu können. Auch stellt
sich die Frage, ob man die Aussagen von Punk und NDW so
ernst nehmen und ihnen diese verschiedenen Bedeutungen
unterschieben muss. Dabei wird vergessen, dass die Akteure damals meist Jugendliche gewesen sind, die häufig völlig
spontan und ohne besondere Hintergedanken einfach losgelegt haben. Ist das nicht das, was auch er selbst kritisiert: ein
Analysieren, um nun auch diese Phase in die bürgerliche oder
gar pop-nationale Geschichte einzupassen? Möchte man böse
sein, könnte man behaupten, das Buch habe immer dann seine lesbarsten Momente, wenn der Autor das macht, was er eigentlich nicht machen will („positivistisches Einklauben von
Daten“). Wobei das dem Buch nicht gerecht werden würde.
Auch wenn manche Zuspitzung zu weit geht (u. a. die Bezeichnung von „Das Leben ist eine Baustelle“ als „neoliberaler Propaganda-Film“, oder der Vorwurf an die Band Artless,
„reaktionär“ zu sein), machen es gerade die klugen Verbindungen zu heute besonders interessant und lesenswert. Insgesamt ein empfehlenswerter Debatten-Beitrag zur Geschichte
von Punk und New Wave in Deutschland, an dem man nicht
nur deswegen nicht vorbei kommt, weil es sonst noch nicht
viel zu dem Thema gibt.
Andreas Kuttner
REZENSIONEN
Ian Christe: Höllen-Lärm.
Die komplette, schonungslose, einzigartige
Geschichte des Heavy Metal.
Verlagsgruppe Koch GmbH/Hannibal, Höfen 2004,
424 Seiten, 25,90 Euro
Sex, Drugs, Rock’n’Roll – kein Klischee wird ausgelassen. Zum
Glück beschäftigt sich das Buch vor allem mit auf Fakten begründeten Klischees.
Geschichte, Stilistik, Fakten – eine Reise durch die Musikgeschichte ist immer auch eine Reise durch die Gesellschaft.
Man kann Musik und ihre Entstehung sowie Entwicklung
nicht ohne die gesellschaftlichen und politischen Umstände
betrachten.
Hier wurde nicht einfach aus anderen Büchern abgeschrieben, wie das leider in vielen Arbeiten der Fall ist, die die
Geschichte von jedweder Art von Musik erzählen oder gar erklären wollen, sondern Ian Christe ist der buchstäbliche Opa,
den man fragt, wie es denn damals so war. Das Buch strotzt vor
Innenperspektiven. Nun wissen wir noch einmal ganz genau
Bescheid, wie das damals so war, als der Metal noch nicht ganz
so hart war, wie er heute manchmal ist. Das ist gut, vor allem
für Metaller, die bereits ein paar Gedächtnisverknüpfungen
dem heiligen Bier und den Mosh Pits der Konzerthallen und
Festivals geopfert haben.
Es ist wahrlich nicht leicht, eine Szene mit unzähligen Substilen zu beschreiben, in der jede zweite Band selbsternannter
Erschaffer einer neuen Strömung sein möchte, bei aller Wahrung der „truen“ Wurzeln. Doch die Namen sind in aller Hülle
und Fülle doch wohl dosiert, so dass selbst diejenigen, denen
mindestens die Hälfte davon noch nicht bekannt ist, nicht das
Gefühl bekommen, ein Lexikon zu lesen, sondern eher anekdotenhaft wie lehrreich unterhalten werden. „Höllen-Lärm“
illustriert enorm geistreich und sehr detailgenau den Werdegang der großen Dame Heavy Metal. Zudem kommen wir in
den Genuss ganz furchtbar interessanter Informationen: Denn
wer hat schon mal die offiziellen Mitglieder von Black Sabbath
gezählt (29) oder die Plattenfirmen, bei denen Motörhead unter Vertrag standen (16)?
Nicht zuletzt sind die s/w-Bilder mitunter schmunzelnswert. So illustriert ein High-School-Jahrgangsbild von James
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Sachbuch
Hetfield das Kapitel zur amerikanischen Einöde, auch ein Uralt-Foto von Anthrax lädt den Leser des Kapitels über fiebrige
Fans zum Grinsen ein und mit einem bauchfrei und toupierte
Haare tragenden Quorthon beginnt die Bebilderung des Kapitels über die frühen Black-Metal-Bands. Leckere Black-MetalTournee-Requisiten garnieren das Kapitel über den norwegischen Black Metal.
Noch bevor wir die 1990er-Jahre erreichen, ist die Hälfte
des Buches geschrieben und wird von einer nicht repräsentativen, bunten Glanzbilderstrecke unterbrochen – und das
mitten in Metallica. Aber danach geht es munter weiter in der
schonungslosen Geschichte, und uns wird auch nichts vorenthalten über die dunklen Kapitel des Heavy Metal: Denn selbst
Metalcore, Alternative Metal und Funk Metal haben sich ein
paar Zeilen verdient. Und der Leser erfährt zudem, was es mit
Techno Metal auf sich hat.
Auch wenn Christe eindeutig Fan des klassischen MetalAltertums ist, ist er ein treuer Metal-Kreuzritter und gewissenhafter Geschichten-Schreiber. Im Abgang des Buches gibt
es eine Liste der 25 besten Metal-Alben aller Zeiten, völlig subjektiv selbstverständlich, mit der Christe nicht nur Geschmack
demonstriert, sondern ebenso den Beweis antritt, dass Ozzy
nicht der einzige Held ist.
Schließlich wird noch der Halbgötter an der Axt gedacht, wie
Chriss Oliva oder Chuck Schuldiner, denn keine Geschichte
ohne zu früh Gestorbene.
Den einzigen, denen dieses Buch nicht gefallen dürfte, sind
die Manowar-Fans: Christe sieht ihre Götter beim Pokal um
die tollste Faust schwingende, einzig wahre Metal-Hymne nur
auf Rang zwei…
Jana Kimmritz
Stefan Riermaier: Heavy Metal aus Osteuropa.
2., überarb. u. erg. Aufl., I.P. Verlag Jeske/Mader GbR, Berlin
2003, 247 Seiten, 19,25 Euro
Druckfrisch ist das vorliegende Werk nicht, deswegen zwar
nicht im Mindesten veraltet, aber zugegebenermaßen etwas
staubig geschrieben.
Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Plattenkritiken, ein sehr ambitionierter und kompakter Überblick über
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Heavy-Metal-Bands aus Osteuropa und Österreich, und somit
als Nachschlagewerk durchaus dienlich. Die Perspektive des
Fans, aus der dieses Buch geschrieben wurde, hat zwei Seiten.
Es ist natürlich eine sehr einseitige Sicht auf die osteuropäische Metal-Szene. Es gibt nicht erst seit gestern viele weitere
Spielarten im Metal jenseits des Heavy Rock und Heavy Metal: Gerade im Black Metal und Death Metal bewegte sich in
den letzten Jahren in Osteuropa enorm viel, beide werden aber
hier nicht besprochen. Dies zum einen. Auf der anderen Seite
ist es jedoch als löblich anzuerkennen, dass hier nur darüber
geschrieben wird, wozu Interesse und inhaltliche Kompetenz
befähigen. So ist dieses Buch eine artige Sammlung von Rezensionen, die für Interessenten und Sammler auf diesem
Gebiet durchaus interessant sein sollte. Aus demselben Grund
ist es jedoch für alle anderen Leser eine womöglich recht trockene Angelegenheit, die Bewältigung dieses Buches gleicht
dem Durchforsten von Nachschlagewerken. Was den Informationswert durchaus erhöhen würde, wäre ein Glossar. Aber
das wird von den Autoren a priori im Inhaltsverzeichnis wegdiskutiert, das Buch solle kein Lexikon sein, weswegen man
auf Biographien weitestgehend verzichtet habe, damit es sich
nicht so trocken lese. Das verleitet fast zum Schmunzeln.
Ganz klar, das Buch kann nicht jeden Informationsanspruch erfüllen, schon gar nicht in irgendeiner Form erschöpfende und vollständige Hintergründe und Zusammenhänge
liefern. Doch es liefert durchaus einen Beitrag für den interessierten Heavy-Metal-Fan und Journalisten. Nach der Betrachtung der westeuropäischen und südeuropäischen HeavyMetal-Szene liegt hiermit nun der dritte Band vor. Falls die
Autoren sich dazu entschließen, Asien und Südamerika mit
auf den Menüplan zu nehmen, könnten sie damit sicher nicht
nur bei Journalisten einen Wimpel gewinnen.
Jana Kimmritz
Keith Kahn-Harris: Extreme Metal.
Music and culture on the edge.
Berg, Oxford/New York 2007, 194 Seiten, 29,31 Euro
Die englischsprachige Buchveröffentlichung „Extreme Metal.
Music and culture on the edge“ des englischen Soziologen Keith
Kahn-Harris geht auf dessen Doktorarbeit „Transgression
Sachbuch
and Mundanity. The Global Extreme Metal Music Scene“ zurück, die zwischen 1997 und 2001 am Department of Sociology des Goldsmiths College of London entstanden ist.
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern hat sich in
Deutschland der Begriff „Extreme Metal“ bisher noch nicht
etablieren können. Kahn-Harris definiert die „Extreme-Metal-Szene“ sehr allgemein als „globale Musikszene, die in sich
lokale Szenen enthält. Sie umschließt außerdem Szenen, die
auf der Produktion und dem Konsum spezieller Formen von
Extreme-Metal-Genres wie Black Metal und Death Metal basieren. Dennoch erlaubt uns die erhebliche musikalische und
institutionelle Überschneidung all dieser Szenen von einer Extreme-Metal-Szene als Gesamtheit zu sprechen.“ (S. 22) Während sich laut Kahn-Harris Black Metal, Death Metal, Grindcore und Doom Metal recht eindeutig dem Extreme Metal
zurechnen lassen, bleibt offen, ob Musikstile wie Speed Metal
oder Thrash Metal, die er als Wegbereiter und Vorläufer des
Extreme Metal ansieht, diesem zuzuordnen sind oder nicht.
Jedenfalls sei den unterschiedlichen Genres des Extreme Metal gemein, dass sie alle einen musikalischen Radikalismus
teilen, „der sie von anderen Formen des Heavy Metal klar unterscheidet. Alle Formen des Extreme Metal teilen sich Fans,
Musiker und Institutionen. Im Gegensatz zur sonst üblichen
kommerziellen Reichweite des Heavy Metal wird Extreme
Metal durch kleinere ‚Underground’-Institutionen verbreitet,
die in der ganzen Welt zu finden sind. Die Unterschiede zwischen Extreme Metal und den meisten anderen Formen populärer Musik liegen vor allem darin, dass Menschen, die keine
Fans sind, die beträchtlichen Unterschiede innerhalb der Szene oft nicht wahrnehmen können“. (S. 5) Kahn-Harris wurde
bereits 1987 durch die „John-Peel-Show“ auf BBC Radio1 auf
Grindcore und später auch auf Death Metal aufmerksam. Im
Zuge seiner Doktorarbeit tauchte er von 1997 bis 2001 tiefer in
Extreme-Metal-Szenen verschiedener Länder ein. Er bezeichnet sich selbst als „einen ambivalenten Fan von Extreme Metal“ (S. 5), da ihn zwar die Musik fasziniere, er aber teilweise
Probleme mit den von Extreme-Metal-Musikern vermittelten
Inhalten habe: „Im politischen Bereich konnte ich bestimmte Elemente der Szene nur sehr schwer akzeptieren, wie etwa
beiläufig geäußerten Sexismus, Homophobie und Rassismus.“
(S. 25) Methodisch basieren Kahn-Harris’ wissenschaftliche
REZENSIONEN
Erkenntnisse auf Feldforschungsdaten, die er hauptsächlich
in Israel, Schweden und Großbritannien erhoben hat. Er
sieht sich dabei in der Rolle eines Ethnographen (S. 23), der
ein ihm weitgehend unbekanntes Feld wissenschaftlich erschließt. Während seiner Forschungsaktivitäten im Feld habe
seine Rolle zwischen „kritischem Insider und sympathisierendem Outsider“ (S. 5) hin und her geschwankt. Ausschnitte aus
halbstrukturierten Interviews mit Fans, Musikern, Pressevertretern und Label-Inhabern setzt Kahn-Harris in seinem Buch
gezielt ein, um komplexere soziologische Ideen und Theorien
an praktischen Beispielen aus der Extreme-Metal-Szene zu
erläutern. Seit 1997 arbeitete Kahn-Harris außerdem als Redakteur für das britische, szeneintern äußerst renommierte Terrorizer-Magazin, was ihm nach eigenen Angaben den
Zugang zur Szene und zu interessanten Interviewpartnern
der Szeneelite aus aller Welt erleichterte. So war es ihm nicht
nur möglich, sich szenespezifisches Sonderwissen (bei KahnHarris: „subcultural capital“) anzueignen, sondern er gelangte
darüber hinaus zu einer Innenansicht der Extreme-Metal-Szene, wie sie nur für wenige Menschen möglich ist.
Das Buch gliedert sich in acht Abschnitte. Die einzelnen
Kapitel sind sehr übersichtlich gestaltet und münden jeweils
in einer kurzen Zusammenfassung, was hilfreich ist, da sie logisch aufeinander aufbauen. Vereinzelt illustrieren sorgfältig
ausgewählte Schwarz-Weiß-Bilder die inhaltlichen Zusammenhänge.
In den ersten Kapiteln reflektiert Kahn-Harris den Stand
der Forschung, entwickelt die Leitfragen der Arbeit, definiert
den Begriff „Szene“ und führt den Terminus „transgression“
(engl.: Überschreitung, Übertretung, Vergehen) in seine theoretischen Überlegungen zum Extreme Metal ein. Das Ausreizen jeglicher Grenzen, sowohl im inhaltlichen als auch
im musikalischen Bereich, begreift Kahn-Harris als typisch
und charakteristisch für die Extreme-Metal-Szene. Sonst
Unaussprechliches wird hier in Bildern und Texten lustvoll
aufgegriffen, wobei immer wieder gesellschaftlich normierte
Grenzen überschritten werden. Interessanterweise unterliegt
die Extreme-Metal-Szene aber gleichzeitig szeneinternen Konventionen: „Die Szene setzt sich selbst enge Grenzen, obwohl
sie andere Grenzen übertritt.“ (S. 7) Kahn-Harris interessiert
nun die Frage, wie Szenegänger mit dieser widersprüchlichen
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Sachbuch
„transgression“-Erfahrung umgehen und wie diese sowohl das
persönliche, individuelle Empfinden, als auch das szenische
Gemeinschafts(er)leben beeinflusst. In den nachfolgenden
Kapiteln beleuchtet Kahn-Harris unter Zuhilfenahme verschiedener Schriften Pierre Bourdieus Habitus und Status der
Extreme-Metal-Fans und beschreibt Hierarchien und Machverhältnisse in der Szene. Er setzt sich ferner mit der „Infrastruktur“ der Extreme-Metal-Szene auseinander, insbesondere
mit ihren Verbreitungsnetzwerken wie Zeitschriften, Fanzines,
Labels oder Konzertveranstaltern, um näher bestimmen zu
können, „auf welche Art und Weise Szenemitglieder interagieren und auf welche Art und Weise sich das Kapital bewegt und
angehäuft wird“ (S. 78). Dabei vergleicht er verschiedene Extreme-Metal-Szenen in den USA, in Schweden, Großbritannien,
Israel, Europa, Südamerika und Südostasien miteinander, um
zu verdeutlichen, inwieweit die verschiedenen „locations“ die
Entwicklung der regionalen Szenen und das alltägliche Szeneleben prägen. Anschließend beschäftigt sich Kahn-Harris mit
dem „subcultural capital“ der Extreme-Metal-Szene, wobei er
zwischen einem auf Individualität ausgerichteten „transgressive subcultural capital“ und einem eher allgemein orientierten
„mundane subcultural capital“ unterscheidet (S. 121 ff.). In
der Regel seien die Szenegänger aber bestrebt, sich beide Arten dieses „subcultural capital“ anzueignen und nach außen
zu tragen, um so von anderen Szenegängern als vollwertiges
Mitglied der Szene anerkannt zu werden (S. 130). In den beiden letzten Kapiteln geht Kahn-Harris auf den selbstreflexiven
Umgang der Szeneanhänger mit der Musik und den Inhalten
des Extreme Metal ein. Dabei attestiert er den Szenegängern
eine „reflexive anti-reflexivity practice“ (S. 144). Mit diesem
etwas aufgeblasenen Begriff beschreibt Kahn-Harris die für
die Extreme-Metal-Szene typische Verweigerungshaltung, sich
mit den „transgressiven“ Inhalten des Extreme Metal näher zu
befassen und Stellung zu diesen zu beziehen. Die häufige Marginalisierung der Bedeutungen von Texten und Bildern sowie
die scheinbar mangelnde individuelle Reflexion inhaltlicher
Thematiken deutet Kahn-Harris als eine Art Verteidigungsstrategie, die zum einen das Überleben der Extreme-MetalSzene sichern soll und zum anderen eine freie Meinungsäußerung zu den „meisten derzeitigen transgressiven Diskursen
innerhalb der westlichen Kultur – einschließlich Rassismus“
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(S. 156) möglich macht, ohne dass szeneintern irgendwelche
Konsequenzen gefürchtet werden müssen.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass Kahn-Harris hier
zum ersten Mal eine ausführliche, wissenschaftlich fundierte,
durchdachte, kluge und rundherum überzeugende „first-handresearch“-Studie zum Extreme Metal vorlegt, die allen Interessierten zur Lektüre ausdrücklich empfohlen werden kann.
Sarah Chaker
Heinrich Geiselberger (Hrsg.): Und jetzt?
Politik, Protest und Propaganda.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt Main 2007,
364 Seiten, 12 Euro, www.politikundprotest.de
Pop ist es, so geht das Bonmot, wenn man enttäuscht wird,
sich dabei aber wenigstens gut unterhalten hat. Dieses Buch
aus der Hochburg der bundesdeutschen Intelligenzkultur ist
insofern Pop. Es enttäuscht, aber auf hohem Niveau. Es hat
drei andere P-Wörter im Titel: Das schmissige „Protest“, das
unvermeidliche „Politik“ und das schon fast vergessene und
an dieser Stelle etwas unpassende „Propaganda“.
Zuerst geht es um die drei eher klassischen Akteure Parteien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, ihren Zustand und ihre Zukunftsaussichten. Dem werden dann
drei Typen politischen Handelns außerhalb der klassischen
Arena gegenübergestellt: Protest, politischer Konsum und
Medienaktivismus. Klaus Dörre zeigt auf, wie die Gewerkschaften ihren Ohnmachtszirkel verlassen können und wie sie
sich – Tschüss Flächentarifvertrag – dem Milieu der „Arbeitnehmer zweiter Klasse“ und dem der neuen Selbstständigen,
das mittlerweile ein Drittel aller Beschäftigten stelle, widmen
können bzw. müssen.
Die Gewerkschaften könnten dabei von den Instrumenten, die die neuen sozialen Bewegungen anwenden, lernen:
Sie müssten Konflikte wagen, Kampagnen entwickeln, offensiv
Mitglieder werben und Bündnisse eingehen.
Wie das real geht, zeigt Geiselberger in einem Beitrag zum
Social Movement Unionism in den USA, während Iris Nowak
über den EuroMayday in Italien und Hamburg berichtet. Über
den Beitrag zum Stichwort „Protest“ von Dieter Rucht, dem
Papst der Bewegungsforschung, soll hier besser der Mantel
Sachbuch
des Schweigens gebreitet werden – während die Beiträge zu
den konkreten Beispielen des Internet-Aktivismus empfohlen werden können. Unterbrochen wird das ganze mit etwas
„Name-Dropping“ durch Interviews mit Michael Hardt, dem
Mitautor des Großwerkes „Empire“, mit der Postmarxistin
Chantal Mouffe und mit Ulrich Beck.
Den meisten Beiträgen merkt man an, dass sie von jungen Journalisten geschrieben wurden, sie sind gut lesbar. Die
Veröffentlichung zeigt, dass die krisenhaften Großorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften ruhig etwas von
den vielfältigen Protestformen lernen können. Diese neueren
Formen sind allesamt von Vernetzung, Offenheit, Vielfalt
und horizontaler Kooperation geprägt und eben deswegen
erfolgreich geworden.
Wie gesagt, es gibt schlechtere Bücher und wem die Dinge, die dort erwähnt werden, bislang unbekannt sind, der hat
mit dem Buch einen preiswerten Überblick über das, was
Linke, die nach 1966 geboren sind, heute grundlegend und
wichtig finden.
Bernd Hüttner
Uwe Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg?
Der 2. Juni 1967.
Verlag 1900 Berlin, Berlin 2007, 272 Seiten, 19,90 Euro
Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg durch den
Beamten der politischen Polizei Karl-Heinz Kurras am Abend
des 2. Juni 1967 hat die Welt verändert. Sie beeinflusste die Generation von „1968“, gab der „Bewegung 2. Juni“ ihren Namen
und diente ihr und der „Roten Armee Fraktion“ als Legitimation für individuellen Terror.
Zum 40. Jahrestag dieses Ereignisses hat Uwe Soukup versucht, Licht in das teilweise geheime und geheimnisvolle Dunkel des damaligen Geschehens zu bringen. Dies konnte ihm
nur begrenzt gelingen, da einige Beteiligte nicht reden wollten, andere nicht die Wahrheit sagten sowie unterschiedliche
geheime Dienste und gegnerische politische Interessenten ihr
Unwesen trieben.
Zunächst beschreibt Soukup als „Protokoll einer Eskalation“
die dem Schuss vorhergehenden Ereignisse: Der Schah von
Persien besuchte 1967 Deutschland und machte am 2. Juni
REZENSIONEN
mit seinem Gefolge einen politisch gewollten Abstecher nach
West-Berlin. Studentische Proteste waren vorprogrammiert,
ebenso Gegenproteste. Am Rathaus Schöneberg, wo der Schah
empfangen wurde, schlugen „Jubelperser“ genannte Schläger
auf die Anti-Schah-Demonstration ein. Statt die Geprügelten
zu schützen, beteiligten sich viele Polizisten – Schutzpolizei in
Uniform und politische Polizei in Zivil – daran.
Es ist unklar, ob Benno Ohnesorg bei diesen katastrophalen Ereignissen dabei war. Sicher ist, dass er einen Kopfkissenbezug mit der Aufschrift „Autonomie für die Teheraner
Universität“ bei sich trug, als er am Abend des 2. Juni auf einem Parkplatz in der Krummen Straße 66/67 in der Nähe der
Deutschen Oper von Kurras erschossen wurde.
Dieses Ereignis wird genau beschrieben und mit zahlreichen Abbildungen sowie mit Zeugenaussagen von Polizisten,
DemonstrantInnen, Schaulustigen und zufällig in das Geschehen geratenen Personen belegt. Soukup gibt einen guten
Überblick über die eskalierende Gewalt prügelnder Polizisten,
vereinzelt gab es auch um Deeskalation bemühte Personen
– auch Polizeibeamte, die versuchten, ihre prügelnden Kollegen aufzuhalten.
„Der Schuss, der alles veränderte“ war das Resultat der Eskalation anhaltender polizeilicher Aktionen. Danach bemühten sich viele der Beteiligten offensichtlich darum, den Tathergang zu verschleiern. Bei dem angeblichen Meisterschützen
der West-Berliner Polizei Kurras hat sich einfach so – „die ist
mir losgegangen“, soll er nach dem Schuss gestammelt haben
– ein Schuss aus seiner Pistole gelöst? Er hat sich – von mehreren Polizisten umgeben – in einer Notwehrsituation befunden? Er gefährdete sogar die auf Ohnesorg einprügelnden Polizisten! Um noch mehr Verwirrung zu stiften, erfand er sogar
noch einen zweiten Schuss. Die polizeilichen Ermittlungen
haben ihren Kollegen nicht bloßgestellt.
Nach dem Tod von Benno Ohnesorg befand sich WestBerlin im „Ausnahmezustand“. Der Regierende Bürgermeister
Albertz – früher selbst als Innensenator für die Polizei zuständig – stellte sich fatalerweise hinter „seine“ Polizei und billigte die von ihr inszenierte Straßenschlacht. Für studentische
Proteste hatte der frühere Pfarrer keinerlei Verständnis. Albertz und andere begingen Fehler um Fehler. Sein Pressesprecher Hanns-Peter Herz gab eine skandalöse Presseerklärung
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Sachbuch
heraus. Der in der SPD umstrittene Albertz unterschätzte seinen parteiinternen Gegner Gerd Löffler, der als Vorsitzender
des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Verschleierung der Ereignisse beitrug. Der Skandal nahm seinen
Lauf: Der Ausschuss billigte das brutale Vorgehen der Polizei.
An der Entmachtung von Albertz wirkten „Linke“ wie
Harry Ristock und „Rechte“ wie Kurt Neubauer und Konsorten in einer befristeten Koalition zusammen. Sie fürchteten
um ihre tradierten Futterkrippen im öffentlichen Dienst. Auf
all dies wird in den weiteren Kapiteln über die Auseinandersetzungen in der Berliner SPD und die Demontage von Albertz – der am 26. September 1967 zurücktrat – ausführlich
eingegangen, bevor abschließend die Folgen der „Provokation“ beschrieben werden. Als Resultat ist festzuhalten: „Wirklich aufgeklärt wurden die Hintergründe nie.“
Das mit 129 Abbildungen illustrierte Buch ist ein positives
Beispiel für Recherche-Journalismus und es ist gut lesbar. Wer
sich allerdings genauer informieren und/oder etwas nachprüfen will, bekommt nur spärliche Hinweise auf die Quellen und keine exakten Nachweise für die zahlreichen Zitate.
Das ist einerseits der Preis für die ausgezeichnete Lesbarkeit,
aber andererseits misslich. Ein Nachteil ist auch, dass über den
ermordeten Benno Ohnesorg selbst wenig zu erfahren ist. Es
wäre ferner wünschenswert gewesen, wenn Soukup ausführlicher auf die Arbeit des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses und die Gerichtsverfahren gegen den Todesschützen
eingegangen wäre. Insbesondere dessen nicht erfolgte Verurteilung dürfte für die spätere Radikalisierung und Militanz der
„Bewegung 2. Juni“, der „Roten Armee Fraktion“ und anderen
Gruppen nicht unwichtig gewesen sein.
Zusammengefasst setzt sich Soukup intensiv mit der Mischung aus Wahrheit, Halbwahrheiten und Unwahrheiten
auseinander. Sein Buch ist einerseits empfehlenswert für alle,
die die damaligen Ereignisse miterlebt haben und nun viele
Hintergrundinformationen erhalten, es ist aber ebenso wichtig
zum Verständnis der bis heute nicht aufgearbeiteten Geschichte des deutschen Nachkriegsterrorismus. Den „Deutschen
Herbst“ und die – aktuellen – Diskussionen über Begnadigungen ehemaliger TerroristInnen kann besser verstehen,
wer über die vorausgegangene Katastrophe des brutalen Polizeieinsatzes am 2. Juni 1967 und die ungesühnte Ermordung
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
von Benno Ohnesorg informiert ist. Diese polizeiliche und
politische Katastrophe gehört zur Vorgeschichte der terroristischen Katastrophe des „Deutschen Herbstes“. Daran zu erinnern ist das Verdienst des Buches von Uwe Soukup.
Kurt Schilde
Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.):
1968. Handbuch zur Kultur- und
Mediengeschichte der Studentenbewegung.
Verlag J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2007,
323 Seiten, 49,95 Euro
Seit einigen Jahren werden in der Soziologie und der Geschichts- und Politikwissenschaft die „langen“ oder auch „dynamischen 1960er-Jahre“ in den Ländern des globalen Nordens
als Zeit einer Liberalisierung, Stabilisierung und Demokratisierung angesehen. Wichtigste Indizien dafür seien der Wandel
des (jugendlichen) Konsums und des individuellen Habitus, alles sei – kurz gesagt – irgendwie bunter und lässiger geworden,
oder soziologisch gesprochen, es seien „neue Symbolsysteme
mit langfristiger Breitenwirkung“ entstanden. Wurden die
Debatten um „1968“ als Mythos und Chiffre bis vor einigen
Jahren vor allem von ZeitzeugInnen geprägt, so wird die Arbeit nun immer mehr von jüngeren ForscherInnen getragen,
ein Umstand, der auch zu einer Historisierung beiträgt. Es geht
aber weiter. So hat die erst 2004 gegründete Zeitschrift Zeithistorische Forschungen jetzt ein Heft mit dem Schwerpunkt „Die
1970er-Jahre – Inventur einer Umbruchzeit“ vorgelegt.
Die Debatten um den Stellenwert und die Deutung von
„1968“ hat sich von einer Ereignisgeschichte dahin entwickelt,
wie die Begebenheiten repräsentiert, medial aufbereitet und
rückgespiegelt wurden. Denn spätestens seit „1968“ gilt die
Regel, „was nicht in den Medien ist, hat nicht stattgefunden“.
Diese Entwicklung in der Forschung kann einerseits als Zurückweichen vor harten ökonomischen Themen (oder auch
der „Gewaltfrage“) interpretiert werden und ist dies teilweise
auch. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass der kulturelle
Sektor seit „1968“ immens an Bedeutung gewonnen hat und
damit auch ein ökonomischer Faktor geworden ist. Zum anderen ist es sehr Erkenntnis fördernd, darüber nachzudenken, ob sich ein Phänomen wie „Terrorismus“ mithilfe seiner
Sachbuch
REZENSIONEN
Spektrum reicht im Einzelnen von Literatur, Kunst und Film
über die Wege der transnationalen Kommunikation der Studierenden und die Vorstellung von Gegenöffentlichkeit bis hin
zu Wohnen, Mode und dem Wortschatz und der Diskussionswut der Revolte. Die Beiträge sind relativ kurz gehalten und
jeweils – wie das kurze, aber dafür pointierte Vorwort – mit
einem kommentierten und deshalb sehr hilfreichen Literaturverzeichnis versehen.
Bernd Hüttner
Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.):
Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in
der Geschichte der Bundesrepublik.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006,
205 Seiten, 19,90 Euro
massenmedialen Wahrnehmung und Bearbeitung besser erklären und verstehen lässt oder, als weiteres Beispiel, ob sich
durch „1968“ Sexualität verändert hat oder nicht vielmehr die
Art und Weise wie über Sexualität geredet wurde und wird.
Der Band mit dem etwas anmaßenden Namen „Handbuch“ enthält ein Vorwort und 25 kurze Beiträge zu sehr
verschiedenen Aspekten von Medien und Öffentlichkeit, zu
neuen kulturellen und künstlerischen Praktiken und zur öffentlichen diskursiven Thematisierung von „Gewalt“. Geographisch werden nur die westlichen Länder behandelt. Dort gab
es „Öffentlichkeit“, in Osteuropa gab es nur die eingeschränkte Form einer so genannten „zweiten Öffentlichkeit“. Das
Wie die Debatte um die Begnadigung von Christian Klar zu
Beginn des Jahres gezeigt hat, sind die 1970er-Jahre und die
davor liegenden Ereignisse, die gemeinhin mit der Chiffre
„1968“ bezeichnet werden, samt der mit ihnen verbundenen
Konflikte, noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil, sie sind in
der zeitgenössischen politischen Kultur präsent und tief in sie
eingeschrieben.
Die Veröffentlichungswelle zur vierzigsten Wiederkehr
von 1967/68 ist angelaufen. Der an der Universität Kopenhagen lehrende Detlef Siegfried ist unter den AutorInnen, die sich
zu „1968“ äußern, einer der eher sympathischen. In der kritischen und linksliberalen Zeitgeschichtsschreibung zu „1968“
macht sich zunehmend die Tendenz breit, „1968“ zu nivellieren
und die Sozialrevolte von 1967/68 in einen gesellschaftlichen
Mega-Trend hin zu mehr Liberalität und Demokratie einzuordnen. So auch der Band „Wo ‚1968‘ liegt“. Er deutet „1968“
als Chiffre für Umbrüche der modernen Gesellschaft in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese betrafen fast jeden
Bereich der Gesellschaft: Arbeit, Mobilität, Konsum, Freizeit,
Sexualität und Erziehung – um nur die wichtigsten zu nennen.
Die negativen Nebenfolgen des Liberalisierungsschubs hin zu
einer postindustriellen Gesellschaft, die Herausgeber nennen
hier Umweltverschmutzung, Drogenkonsum (!!!) und politischen Radikalismus, seien gegenüber den positiven eindeutig
geringer zu gewichten.
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REZENSIONEN
Sachbuch
Hodenberg und Siegfried versuchen in der Einleitung,
den Platz von „1968“ in der Geschichte der Bundesrepublik
genauer zu bestimmen. Sie setzen dazu die mit der Studentenbewegung verbundenen Ereignisse ins Verhältnis zu den
längerfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Frage
der Periodisierung lösen sie damit, dass sie das Verhältnis von
„1968“ zu den „langen 60er-Jahren“, die ungefähr den Zeitraum zwischen 1958 und 1973 umfassen, untersuchen.
Wichtig in dem Band ist neben dem Vorwort der weitere
Beitrag von Siegfried zur Gegenkultur in der Konsumgesellschaft: Durch den enormen wirtschaftlichen Aufschwung und
die Bildungsexpansion bildete sich die Jugend als eigenständige, mit eigenem Geld ausgestattete Generation heraus, die
zunehmende Freizeit wird nun als Zeit für Konsum verstanden. Kulturelle Außenseiter werden zu InnovatorInnen, da die
meisten der gegenkulturell codierten Produkte und Praktiken,
wie etwa Bücher, Musik, Kleidung, für die kapitalistische Vermarktung besonders geeignet waren. Die Jugendlichen waren
die Avantgarde des Konsums und der politischen Partizipation. (Vgl. dazu auch die Rezension zu Siegfried: „Time Is on
My Side“ in dieser Ausgabe, d. Red.)
Fünf weitere Fallstudien zur Erinnerungspolitik gegenüber dem Nationalsozialismus, zur Sexualkultur, zu den
Massenmedien, zur Schülerbewegung und zum Zivildienst
integrieren die Debatte über „1968“ in den kulturellen Wandlungsprozess der sechziger Jahre. Dabei erfasst der Blick eine
ganze „Gesellschaft im Aufbruch“. Westdeutschland erscheint
in dieser Perspektive als Teil eines weltweiten kulturellen und
politischen Umbruchs, der keineswegs nur von der jungen
Generation ausging.
Bernd Hüttner
Detlef Siegfried: Time Is on My Side.
Konsum und Politik in der westdeutschen
Jugendkultur der 60er Jahre (Hamburger
Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 41).
Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 840 Seiten, 49 Euro
Mit diesem monumentalen Werk hat Detlef Siegfried, Associate Professor für Neuere Deutsche Geschichte und Kulturgeschichte an der Universität Kopenhagen, seine 2005 in
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Hamburg angenommene Habilitationsschrift vorgelegt. Herausgekommen ist ein Standardwerk, das für die (sozial-, kulturwissenschaftliche und historische) Forschung nicht mehr
wegzudenken sein wird. Thema sind die bundesdeutschen
Jugend(sub)kulturen im Spannungsfeld von Konsum und
Politik. Der zeitliche Rahmen der Studie umfasst die Jahre
1959 bis 1973.
Die 1960er-Jahre gelten als eine Zeit des bis heute nachwirkenden gesellschaftlichen Wandels, in der besonders die
Sachbuch
jungen, besser gebildeten Menschen die Entwicklung vorangetrieben haben. Diese waren in einen umfassenden soziokulturellen Umbruch eingebunden. Neu gewonnene Freizeit
bot vielfältige Möglichkeiten des Konsumierens, welche wiederum individuelle Entfaltungsansprüche beförderten. Es
war die Epoche, in der traditionelle Ordnungen nachhaltig
in Frage gestellt und neue Erfahrungs- und Lebenskonzepte
ausgelotet wurden. Das wurde von den Ordnungshütern der
Macht nicht widerstandslos hingenommen. Hatten Ende der
1950er-Jahre bereits die Halbstarken die Nachkriegs-Bürgerlichkeit erschüttert, wetterten nun Bürger und Staat gegen die
sich verbreitende Beatmusik, gegen die Gammler, gegen lange
Haare bei Jungen und kurze Röcke bei Mädchen… Mit der
Emanzipation vom Althergebrachten und der Durchsetzung
alternativer Lebensstile setzte im Verlauf der 1960er-Jahre eine
Politisierung ein. Mitgetragen wurde diese von Zeitschriften
wie Twen, Pardon oder Konkret, in denen die veränderten
Wertvorstellungen ihren Widerhall fanden. Nicht nur in den
Medien, vor allem in der populären Musik und in den Tanzstilen – besonders im Twist –, sondern auch in der Mode eroberten Stil- und Ausdrucksmittel der Energie, des Aufbruchs, der
Vergemeinschaftung, aber auch der Individualität die (vorerst) jungen Massen. Privates wurde politisch, Lifestyle wurde
mit gesellschaftlicher Bedeutung aufgeladen, Räume wurden
erobert. Es entstand eine Gegenkultur, die in ihrer kulturellen und politischen Zuspitzung heute mit dem Etikett „1968“
belegt ist. (Vgl. dazu auch die Rezension zu von Hodenberg/
Siegfried: „Wo ‚1968‘ liegt“ in dieser Ausgabe, d. Red.) Um
1973 stabilisierte sich der Werte- und Lebensstilwandel. Die
„langen 1960er-Jahre“ hatten die Weichen für soziokulturelle,
politische und ökonomische Ausdifferenzierungen gestellt.
Detlef Siegfried gebührt höchste Achtung, diese für sich
schon umfassenden Themen Konsum, Pop, Politik und Protest in der BRD der 1960er-Jahre so detailliert und kenntnisreich zu verknüpfen. Dabei stützt er sich auf ein beeindruckend umfangreiches Quellen- und Literaturstudium. Allein
die bibliographischen Nachweise, die 69 Seiten umfassen und
anhand derer einleitend ein aktueller Forschungsüberblick gegeben wird, machen dieses Buch zu einem unentbehrlichen
Nachschlagewerk.
Antje Pfeffer
REZENSIONEN
Gisela Notz: Warum flog die Tomate. Die autonomen
Frauenbewegungen der Siebzigerjahre.
Verlag AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2006, 70 Seiten, 7 Euro
Die Historikerin Gisela Notz erzählt in ihrem Buch die Geschichte der zweiten oder auch neuen Frauenbewegung in
der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre. Diese
wird „neue“ oder „zweite Frauenbewegung“ genannt, um
kenntlich zu machen, dass es von der Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus schon einmal eine
Frauenbewegung gegeben hat. Notz deutet die Entstehung der
Frauenbewegung als Reaktion auf und als Kritik an dem Politikmodell und den Inhalten, die in der reformistischen und
revolutionären Linken als Folge der Jugendrevolte und Studentenbewegung von 1967/68 entstanden waren. Dort, so die
Kritik, spielten die Probleme, die sich aus der geschlechtsspezifischen Arbeits- und Rollenverteilung ergeben, keine Rolle.
Notz unterteilt ihren Untersuchungszeitraum in vier Etappen: die Entstehungsphase (1969 bis 1974/75), die der Innerlichkeit (bis ungefähr 1977) und dann die der Frauenprojekte,
die zunehmend und fließend ab Ende der 1980er-Jahre in den
im Grunde bis heute andauernden Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung übergeht.
Bis Ende der 1980er-Jahre habe es drei Strömungen gegeben: erstens gemäßigte Feministinnen, die vor allem auf
Gleichstellung mit Männern drängten, zweitens sozialistische
Feministinnen, die für eine solche Gleichstellung eine Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse für notwendig
hielten und schließlich die autonome Frauenbewegung, die
das Patriarchat als grundlegende gesellschaftliche Struktur
ansah und deshalb abschaffen wollte. Trotz dieser unterschiedlichen politischen Grundierungen sind die behandelten
Themen ähnlich. Da ist das Verfügungsrecht über den eigenen
Körper einschließlich des Schutzes vor männlicher Gewalt,
die ungleiche Situation in der Arbeitswelt und nicht zuletzt
Aspekte von Wohnen, Kultur und Kindererziehung.
Der kurze Text von Notz behandelt eine Zeit, in der die
politischen Verhältnisse auch in der Frauenbewegung noch
relativ übersichtlich waren. Die Fortschritte und auch die
Schwierigkeiten, die sich aus der Auseinandersetzung mit postmodernen Theorien ab den 1990er-Jahren ergeben, werden nur
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Sachbuch
angedeutet. Ebenso wie die wichtige Debatte, ob es angesichts
von rassistischen und klassenmäßigen Spaltungen überhaupt
ein gemeinsames „Wir“ zwischen Frauen geben kann.
Das Buch ist ein gelungener Versuch, kurz und einführend ein Stück Geschichte zu schreiben – die Debatten um die
aktuelle Situation und die Perspektiven der Frauenbewegung
finden selbstredend woanders statt. Es macht ungewollt auch
deutlich, dass noch lange nicht alle Ansprüche von feministischen Theorien und Praktiken eingelöst sind.
Bernd Hüttner
Moritz Ege: Schwarz werden. „Afroamerikanophilie“
in den 1960er und 1970er Jahren (Cultural Studies 24).
Transcript Verlag, Bielefeld 2007, 178 Seiten, 18,80 Euro
„Afroamerikanophilie“?, fragen sich die Leser sicherlich bereits bei dem Titel dieses Buches, denn oft wird – sei es nun
in der Fachliteratur oder in der Presse – in Deutschland über
dieses Thema nicht berichtet. Daher werde ich diesen Begriff gleich in den Worten des Autors erklären: „Der sperrige
Terminus ‚Afroamerikanophilie‘ meint – in leicht satirischer
Anlehnung an die ‚Negrophilie‘ der 1920er-Jahre (und ohne
intendierte Pathologiezuschreibungen!) – ein auf den ersten
Blick amorphes, aber deswegen nicht weniger reales ‚kulturelles Thema‘, nämlich die wertschätzende Aneignung und Wahrnehmung von kulturellen Formen, die ‚schwarz‘ codiert sind,
und zugleich – in durchaus unterschiedlichem Maße – das
analoge Verhältnis zu schwarzen Menschen oder zumindest
ihren Repräsentationen.“ (S. 11f.) Weiter führt der Autor aus,
dass in der BRD zwischen 1960 und 1970 „schwarz“ hauptsächlich als „US-amerikanisches schwarz“ verstanden wurde,
und so ergibt sich nach Ege, dass „‚Schwarz werden‘, vorläufig
zu definieren ist als die Praxis der Aneignung afroamerikanischer Kultur, in deren Prozess eine wie auch immer geartete
imaginäre oder symbolische ‚Identifikation‘ mit Schwarzen
stattfindet (...), (und) ist dabei nicht nur als rhetorische Zuspitzung zu verstehen, sondern als heuristischer Analysebegriff und phantasmatischer Fluchtpunkt afroamerikanophiler
Diskurse und Praktiken“.(S. 12)
Auf dieser – hier äußerst reduziert dargestellten – theoretischen Basis analysiert Moritz Ege in seiner überarbeiteten
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Magisterarbeit eine Vielzahl an Quellen, die von Printmedien,
Zeitschriften(-covern), autobiographischen Texten, Plattenrezensionen, Flugblättern, Plakaten, grauer Literatur und archivarischen Quellen über Filme bis hin zu Interviews reichen.
So präsentiert er den Lesern ein sehr fein gewebtes Netz an
historiographischen Phänomenen.
Die von ihm untersuchten Ausformulierungen dieser
„wertschätzenden Aneignung“ gliedern sich in vier Kapitel: Im
ersten Kapitel befasst er sich mit der visuellen Repräsentation
Schwarzer Menschen durch Charles Wilps „Afri-Cola“-Kampagne und zeigt anhand dieser eine Umwertung der Wahrnehmung imaginierter Bilder Schwarzer Menschen, obgleich
sich die Kampagne derselben assoziativen und funktional eingesetzten Mittel des Warenkolonialismus bedient.
Diese Erkenntnisse fließen in das zweite Kapitel, welches
sich mit dem Phänomen „Soul“ auseinandersetzt, ein. Ege
erörtert, wie Soulmusik in der BRD von weißen Rezipienten
wahrgenommen und mimetisch vereinnahmt wurde, um sich
als Mitglied einer als exklusiv wahrgenommenen „Communitas“ verstehen zu dürfen. Im folgenden Kapitel verbindet er die
mimetische Einnahme „Schwarzer Identität“ mit der imaginierten Auflösung rassistischer Diskurse durch die Postulation
des sexuellen Kontaktes Schwarz-Weißer Geschlechtspartner
als „antirassistischen Akt“ und gibt dem Leser einen Einblick
in die enge Verknüpfung rassistischer Diskurse mit Sexualität.
Zum Abschluss ermöglicht Ege den Lesern, weiße Gegenkulturen aus einer in der BRD oftmals unerwähnten Perspektive
wahrnehmen zu können, indem er den Einfluss afroamerikanischer Bürgerrechtsbewegungen (vornehmlich die BPP) auf
weiße Gegenkulturen (SDS, RAF oder „Berliner Blues“) nachzeichnet. Ferner zeigt sich in diesen Solidaritätsströmungen
der sechziger Jahre eine starke Mimikry weißer Menschen,
das verdeutlicht das Beispiel der White Panther Party. Jedes
dieser Kapitel darf als ein Diskursstrang aufgefasst werden,
der eng mit den jeweiligen Elementen verflochten ist.
Die Themen-, Quellen- und besonders die Theoriefülle erschweren es den Lesern oftmals, dem Autor zu folgen, einige
Kapitel sind stark von theoretischen Diskussionen überladen,
so dass man nur mit dezidierten Vorkenntnissen folgen kann.
Moritz Ege versucht sich – ganz in der Tradition der Cultural Studies – in der Einleitung als weißer Mann politisch
Sachbuch
zu verorten, um Transparenz in sein Schreiben zu bringen.
Dies gelingt ihm jedoch leider nicht durchgängig, was dazu
führt, dass ich als afrodeutsche Leserin oftmals an die Grenze
meiner Toleranz gestoßen bin, wenn das N-Wort unkommentiert zitiert wird und die nicht klare Definition der Begriffe
„Schwarz“ als auch „Weiß“ in ihrer politischen und kulturellen
Dimension und den damit verbundenen Machtstrukturen erörtert werden. Das macht den Text oftmals sehr schwammig.
So wie die von Ege beschriebenen „afroamerikanophilen“
Protagonisten nach Türen in „Schwarze Kultur“ suchen, so
verschwimmen auch im Text die Grenzen von Einnahme und
„netter“ Nachahmung und bieten durchlässige Stellen, die positiven Rassismus zulassen und schlicht eine weiße, deutsche,
hegemoniale Perspektive reproduzieren und relativieren. So
heißt es z. B. bei Ege: „Sich als weißer Deutscher ‚schwarz‘ zu
‚fühlen‘, war also zunächst einmal eine Form metaphorischer
Praxis, eine gegen- und populärkulturelle‚ Perspektive aus
Unstimmigkeit heraus‘.“ (S. 158)
Es ist fraglich, welche Position der Autor bezieht. Er versteckt sich hinter einer dicken Theorie-Mauer und bemächtigt
sich sogar zum Ende eines Zitates der schwarzen US-Sängerin Donna Summer, in welchem sie die BRD auf Grund der
„Afroamerikanophrophilie“ als einen – paraphrasiert ausgedrückt – „place to be for black Americans“ darstellt (S.164).
Das geht wirklich an der Realität vorbei, wenn man/Frau als
Schwarzer Mensch im heutigen Deutschland lebt und sich ein
wenig mit Schwarzer Deutscher Geschichte auseinander gesetzt hat. Rassismus bleibt Rassismus, ob positiv oder negativ,
und beides trägt das Moment der Gleichzeitigkeit im Kern mit
sich. Die Frage der Identitätskonstruktion des Weißseins, welche in den Begriff der „Afroamerikanophilie“ eingeschrieben
ist, wird zwar als Analysebegriff erwähnt, bleibt jedoch in der
konkreten thematischen Reflexion außen vor. Daher findet
nur eine Beschreibung der „Afroamerikanophilie“ und weniger eine Reflexion über die Ausformulierungen weißer Identität in der BRD der 1960er- und 1970er-Jahre statt. Leider,
denn dieser Ausgangspunkt hätte auch zu einer deutlicheren
Positionierung des Autors beigetragen.
Trotz all dieser Schwachpunkte möchte ich das Buch empfehlen, denn es enthält viele Quellen und Informationen, die für
REZENSIONEN
das Thema von Bedeutung sind und jedes Bewusstsein bereichern können.
Nana Adusei-Poku
Mark Terkessidis: Die Banalität des
Rassismus. Migranten zweiter Generation
entwickeln eine neue Perspektive.
Transcript Verlag, Bielefeld 2004, 226 Seiten, 23,80 Euro
„Der Begriff Rassismus ist in Deutschland ein rotes Tuch. Er
ist strikt reserviert für Gewalttaten gegen Migranten, Juden
und andere Minderheiten, oder für Extremismus im Sinne der
politischen Ideologie.“ (S. 7)
Aber was ist eigentlich Rassismus und welchen Wirkmechanismen unterliegt er? Diese Frage versucht Mark Terkessidis in seinem Buch „Die Banalität des Rassismus“ zu
beantworten. Er geht dabei von Michel Foucaults Idee der
„unterdrückten Wissensarten“ aus. Danach werden bestimmte gesellschaftliche Kategorien, z. B. der psychisch Kranke, erst
durch eine bestimmte Praxis geschaffen. Wenn diese Kategorie etabliert ist, kann über das „Objekt“ schließlich ein Wissen
produziert werden. Terkessidis nimmt nun an, dass dieselben
Mechanismen auch im Fall des Rassismus greifen. Davon
ausgehend kann man noch weiter differenzieren: Gegenüber
einem verbreiteten gesellschaftlichen Wissensbestand, dem
„rassistischen Wissen“, steht ein lokales Wissen, das „Wissen
der Leute“ oder aber auch das „Wissen über Rassismus“. Dieses Wissen stellt der Autor ins Zentrum seiner Untersuchung.
Um etwas über das „Wissen der Leute“ zu erfahren, liegt es
nahe, eine qualitative Sozialforschung durchzuführen. Dem
empirischen zweiten Teil des Buches hat der Autor im ersten
Teil eine Kritik der Begriffe vorangestellt. Hier geht es vor allem um die wissenschaftliche Rezeption der Begriffe „Ausländerfeindlichkeit“, „Fremdenfeindlichkeit“ und schließlich um
„Rassismus“. Diese unterzieht er einer grundlegenden Kritik
und entwickelt dann eine eigene Definition von Rassismus.
Terkessidis beschreibt Rassismus als eine Form sozialer
Praxis bei gleichzeitiger Wissensbildung. Eine Rassismusforschung sieht sich so mit dem Problem konfrontiert, dass sie
Erkenntnisse über einen Gegenstand formulieren soll, der seinerseits einen Prozess der Erkenntnisbildung enthält. Der hier
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vorgestellte Rassismusbegriff des Autors umfasst drei Komponenten: erstens die Rassifizierung, zweitens die Ausgrenzungspraxis und drittens die differenzierende Macht. Die Arbeitsweise des „Apparats“ des Rassismus beschreibt er am Beispiel
der institutionellen Produktion von „Ausländern“.
Im zweiten Teil des Buches kommen zehn Männer und
Frauen der so genannten zweiten Generation zu Wort. Als
Grundlage für die Analyse und Interpretation der mit ihnen
geführten Interviews dient die Aufgliederung in verschiedene
„Inventare“. Im „Inventar der Praxis“ werden die Erfahrungen
mit bestimmten institutionellen Strukturen wie Schule, Familie oder Staatsbürgerschaft reflektiert und deren rassistische
Wirkmechanismen offen gelegt. Im „Inventar der rassistischen
Situationen“ geht es vor allem um die strukturellen Aspekte
des Rassismus und um Subjektivierungsprozesse der Betroffenen. Hier wird besonders deutlich, dass die herrschende
Wahrnehmung von Rassismus als Gewalt und Extremismus
und die Disqualifikation der Erlebnisse Betroffener dazu führen, dass sie krasse Fälle von Diskriminierung nicht als solche
benennen können. Ein Befragter äußerte auf die Frage nach
den kleinen ausgrenzenden Begebenheiten: „Das ist schon so
oft passiert. (...) Das ist so banal, das merk ich mir gar nicht.“
Und genau an diesem Punkt hat Terkessidis angesetzt: Ihm
geht es darum, diese kleinen Erlebnisse der Banalisierung zu
entreißen. Denn dass sie immer noch als banal gelten zeigt,
dass wir in Deutschland noch weit von einer ernsthaften Diskussion über Rassismus entfernt sind.
Trend, da war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Buch über die
Jugendbewegungen erscheint, die Wien im Lauf der Jahrzehnte unsicher gemacht haben.
Das Buch ist chronologisch aufbereitet. Los geht es mit
dem Beginn des 20. Jahrhunderts: die österreichische Jugendbewegung, die jüdische Jugendbewegung, Pfadfinderbund, der
Verband jugendlicher Arbeiter, die Katholische Jugend. Das
sind interessante Informationen, die bis jetzt nur InsiderInnen bekannt waren. Brisant geht es weiter mit jener Phase von
1919 bis 1938, als verschiedene linke und rechte Jugendbewegungen in den Bann verschärfter Politisierung, Militarisierung und auch in den Bereich widerständlerischer Aktivitäten
gerieten. In den Zeiten provokanter Machtdemonstrationen
rechter Jugendlicher ist besonders das Kapitel über die Jugend
im Nationalsozialismus zu empfehlen. Die Hitlerjugend und
der Bund deutscher Mädel erinnern daran, dass jene Zeiten
nicht heroisch, sondern unselig und voller Repressionen waren. Das brauchen wir nicht wieder.
Die Schlurfs als typische Wiener Erscheinung kommen als
Widerstand leistende Jugendliche zu geschichtlichen Ehren.
Und auch die rebellischen 1968er und ihre NachfolgerInnen
sowie die Wiener HausbesetzerInnenszene werden anschaulich aufbereitet.
Das Buch endet mit den neuesten Entwicklungen, den
verschiedenen Jugendszenen. Der/die LeserIn merkt: Wien
hat’s faustdick hinter den Ohren. Und die Wiener Jugendlichen auch.
Nadine Heymann
Roman Schweidlenka
Natalia Wächter: Wunderbare Jahre?
Jugendkultur in Wien.
Tom Strohschneider: Erziehung in der
Produktion. Jugendbrigaden in der DDR und der
Konflikt um die betriebliche Jugendarbeit.
Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2006, 174 Seiten, 22 Euro
Bei der Betrachtung des Bildteils im Buch wurde der Rezensent ein wenig melancholisch, fast schon wehmütig: Da wurden die Wiener 1970er-Jahre wieder lebendig, die Besetzung
der Arena, heute noch ein Musikkulturzentrum, die Friedensmärsche, die eigene Jugend... Doch auch jenseits persönlicher
Emotionen ist das Buch zu empfehlen – und das weit über den
Wiener LeserInnenkreis hinaus. Für in der offenen Jugendarbeit Tätige ist es fast ein Muss. Jugendkulturen liegen im
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007,
120 Seiten, 49 Euro
Meldungen über Jugendbrigaden konnte man in der DDRPresse häufig lesen: Da wurden Planerfüllungen gefeiert oder
auch bummelnde Kollegen kritisiert. Die Jugendbrigaden
fehlten auch bei den „machtvollen Manifestationen der Arbeiterklasse“ nicht. Sie waren in gewisser Weise „überall“. Erfolge
konnte die SED mit den Jugendbrigaden aber nur kurzfristig
Sachbuch
verbuchen. Zwar halfen die Kollektive als „Planfeuerwehren“
Wettbewerbsziele zu erreichen. Auch spielten sie im Alltag der
Beschäftigten eine große Rolle. Zur „Bildung von sozialistischen Persönlichkeiten“ – wie von der SED erhofft – trugen
die Jugendbrigaden dagegen wenig bei. Stattdessen wurden sie
zum Spielball unterschiedlicher Interessen zwischen dem Gewerkschaftsverband FDGB und der Jugendorganisation FDJ.
Tom Strohschneider zeichnet die Geschichte der Jugendbrigaden von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Zusammenbruch des Realsozialismus nach. Im Mittelpunkt
stehen dabei vor allem die Vorgaben und Erwartungen, die
SED, FDGB und FDJ an die Arbeitsgruppen adressierten:
wirtschaftliche Mobilisierung und ideologische Erziehung.
Mit der Arbeit liegt erstmals eine Gesamtdarstellung zur Geschichte der DDR-Jugendbrigaden vor.
Bernd Hüttner
Birgit und Heiko Klasen: Elf Freundinnen.
Die Turbinen aus Potsdam.
Das Neue Berlin, Berlin 2005, 174 Seiten, 16,90 Euro
Noch 1989, als Frauenfußball wenig populär war und die
Deutsche Nationalmannschaft den ersten von drei Europameistertiteln errungen hatte, erhielt jede Nationalspielerin als
Siegprämie ein Kaffeeservice. Fußball spielende Frauen wurden oft belächelt und meist auch unterschätzt.
Inzwischen ist Frauenfußball auch in Deutschland eine
der am schnellsten wachsenden Sportarten. Nicht zuletzt
dank der Erfolge der Nationalmannschaft und der Vereinsmannschaften hat sich der deutsche Frauenfußball von einer
belächelten Randsportart zu einem gesellschaftlich akzeptierten Sport gemausert.
Zu den erfolgreichsten Vereinen der Frauenfußball-Bundesliga gehört der 1. FFC Turbine Potsdam. In ihrem kurzweiligen Buch erzählen die Journalisten Birgit Klasen und
Heiko Klasen die Geschichte der erfolgsverwöhnten Potsdamer Fußballspielerinnen um ihren langjährigen Trainer
Bernd Schröder.
Aus einer Silvesterlaune heraus wird der Verein 1971 als
Betriebssportgruppe des VEB Energieversorgung Potsdam gegründet. Auf eindrucksvolle Weise gelang es Bernd Schröder,
REZENSIONEN
aus einem Haufen unerfahrener Frauen eine durchsetzungsfähige Mannschaft zu formen, die nur wenige Monate später ein
Freundschaftsspiel gegen Empor Tangermünde gewann.
Nachdem das Training anfangs auf einem Acker am Horstweg stattfand, zog man zu Beginn der 1970er-Jahre auf einen
guten Platz in der Potsdamer Waldstadt um und trainierte nun
schon dreimal pro Woche. 1981 wurde die Mannschaft von
Turbine Potsdam zum ersten Mal beste Frauenfußballmannschaft der DDR und viele weitere Titel sollten noch folgen.
Auch im Ausland hatte sich die Ausnahmestellung der BSG
Turbine bald herumgesprochen, und so wurde man zu ersten
internationalen Turnieren eingeladen, an denen man teilweise
nur mit gefälschten Papieren teilnehmen konnte. Auch heute
noch ist der 1. FFC Turbine Potsdam mit zwei Meistertiteln
und dem dreimaligen Gewinn des DFB-Pokals neben dem 1.
FFC Frankfurt die erfolgreichste Frauenfußballmannschaft
der Bundesrepublik.
Die historischen Linien, die diese Erfolgsgeschichte zurückverfolgen, werden im Buch gut nachvollzogen, wobei
auch einige alte Anekdoten ausgegraben wurden. Die heutige
Situation des Vereins und der Spielerinnen hingegen wird nur
am Rande gestreift. So erhält man wenige Hintergrundinformationen über Training, Turnierteilnahmen, Spielalltag oder
die Spielerinnen selbst. Die wichtige und interessante Rahmung in den großen Kontext des Frauenfußballs findet erst
ganz am Ende des Buches in einer sehr kurzen „Geschichte
des Frauenfußballs“ statt. Die schönen Fotos von Jan Kuppert
illustrieren das Gesagte und könnten teilweise auch ganz für
sich selbst stehen.
Nadine Heymann
Betsy Udink: Allah & Eva. Der Islam und die Frauen.
Verlag C. H. Beck, München 2007, 233 Seiten, 18,90 Euro
Pakistan bedeutet in der Landessprache Urdu das „Land der
Reinen“. Als eigener Staat für Moslems 1947 im Rahmen der
indischen Unabhängigkeit gegründet, wurde Pakistan im
Jahr 1956 zur „islamischen Republik“ ernannt. Im Jahr 1977
putschte sich General Zia ul-Haq an die Macht. Er führte die
Scharia als Rechtsgrundlage ein, änderte das Strafrecht und
trug damit entscheidend zur Islamisierung des Landes bei.
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Sachbuch
Hier lebte die Autorin Betsy Udink drei Jahre lang mit ihrer
Familie als Ehefrau eines niederländischen Diplomaten.
Sie zeichnet in ihrem Buch das düstere Bild eines Landes, dessen Gesetze auf dem Koran basieren und 1400 Jahre
alt sind, die so genannten Hudud-Verordnungen. Nach diesen Dekreten werden Frauen, die „Zina“, also Ehebruch oder
unzüchtige Handlungen begehen, hart bestraft. So beschreibt
Betsy Udink ihren Besuch in einem Frauengefängnis, in dem
90 Prozent der Frauen aufgrund von Zina-Delikten einsitzen.
Den meisten von ihnen wurde nie der Prozess gemacht, sie
wurden einfach von Männern eines Zina-Vergehens beschuldigt, ohne dass diese Anklagen je überprüft wurden. Das Klima gegenüber Frauen in Pakistan ist so diskriminierend und
hasserfüllt, dass es für Ehemänner und Väter ein Leichtes ist,
sich ihrer unliebsamen Frauen und Töchter zu entledigen.
Niemand scheint sich daran zu stören, weil das pakistanische
Rechtssystem, wie alle anderen gesellschaftlichen Systeme des
Landes, schon längst zusammengebrochen ist.
Karo-kari ist die Bezeichnung für Ehrenmord. Er ist selbst
in wohlhabenden Familien mit akademischem Hintergrund
immer noch verbreitet. Die Familie ist zugleich Kläger, Richter und Henker. Frauen leben in ständiger Angst, die Ehre der
Familie zu beschmutzen, sie sind erst das Eigentum ihrer Väter und dann ihrer Ehemänner. Fühlen diese sich in ihrer Ehre
verletzt, erlauben ihnen zwei Bestimmungen aus dem Koran,
die im pakistanischen Gesetz verankert sind, ihre Frauen zu
töten. Die männlichen Blutsverwandten lassen es sich nicht
nehmen, die Strafe selbst zu vollziehen. Ein Zeitungsreporter
bezeichnet Ehemänner und Brüder als tickende Zeitbomben,
die uneingeschränkte Macht über das Schicksal ihrer Frauen
besitzen. Frauen, die vergewaltigt wurden, werden aus der
Familie bzw. Dorfgemeinschaft ausgestoßen. Wenn sie nicht
umgebracht werden, bleibt ihnen nur das Leben auf der Straße
als Bettlerin oder Prostituierte. Jede große Stadt hat ein Rotlichtviertel. Der Beruf der Prostituierten wird von der Mutter
an die Tochter vererbt.
Barbarische Sitten und Gebräuche in Pakistan sind größtenteils auf Feudalismus, Stammeswesen und Macht der Großgrundbesitzer zurückzuführen. Mädchen werden als Schadensersatz zur Verfügung gestellt, z. B. wenn eine Geldschuld nicht
zurückgezahlt werden kann. Als Folge der FrauendiskriminieJOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
rung hat Pakistan ein Defizit von mindestens acht Millionen
Frauen. Es ist für Frauen das tödlichste Land der Welt.
Es sind jedoch nicht nur Frauen, die in Pakistan diskriminiert werden. Die weltweite Organisation „Save the Children“
prangert an, dass es eine weit verbreitete Praxis von Großgrundbesitzern ist, sich kleine Jungen als Mätressen zu halten.
Pädophilie, Knabenprostitution und -konkubinat sowie Homosexualität sind laut Islam streng verboten und werden doch
in großem Rahmen praktiziert. Wegen der strikten Trennung
der Geschlechter ist Sex mit Jungen der einzige Sex, an den
man problemlos herankommt und bei dem man kein Risiko
eingeht. Selbst in Schulen ist es üblich, dass kleine Jungen von
Lehrern oder älteren Schülern vergewaltigt und missbraucht
werden. Auch Minderheiten wie Christen und islamische Sekten wie die Ahmadis sind ständiger Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt.
Islamistische Fundamentalisten behaupten, der Islam habe
als einzige Religion der Welt den Frauen Rechte gegeben. Doch
ist die bedingungslose Unterwerfung der Frau ein wesentlicher
Bestandteil des Islam. In der Realität gibt es für die Frau mehr
Verbote als Rechte. So muss z. B. eine „gute islamische Frau“
ihre Haare verdecken, weil Haare nach islamischer Vorstellung
einen Mann so erregen, dass er dafür alles im Stich lässt. Die
ganze Ambivalenz hinsichtlich der Frau wird auf Werbeplakaten deutlich, die junge Frauen am Steuer eines Cabrios mit offenem Verdeck zeigen. Ungeachtet der Tatsache, dass nur wenige
Frauen einen Führerschein besitzen, würde kein Mann seiner
Frau oder Tochter erlauben, so durch die Stadt zu fahren. Seit
dem Wahlsieg der Fundamentalisten in den nördlichen Provinzen ist dort Werbung mit Frauen verboten.
Betsy Udink spricht von einer „Apartheid der Geschlechter“. Die Zustände in Pakistan, die sie in ihrem Buch beschreibt,
sind ohne Zweifel schockierend und erschütternd. Am Ende
des Buches angelangt, bin ich froh und dankbar, dass ich das
unverschämte Glück habe, als Frau in Europa zu leben. Ich
habe allerdings nicht den Eindruck, dass die Autorin immer
die Distanz der Beobachterin einhält. Bei einem Skiausflug
im Hindukusch verschlägt ihr die Aussicht auf einem Berg
den Atem und sie behauptet: „Dafür haben sie [die Pakistanis,
E. H.] kein Auge“. Sie fragt sich, ob die Menschen in diesem
Land nicht die Gefühle von Vitalität, Aufregung, Erwartung
Sachbuch
neuer Abenteuer verspüren, die das Panorama in ihr weckt.
Ist es nicht eher anmaßend zu erwarten, dass alle Menschen
in bestimmten Situationen das Gleiche empfinden? In einem
Kapitel wird erzählt, dass pakistanische Jungen als Kameljockeys in die Vereinigten Arabischen Emirate eingeschmuggelt
werden. Dort leben sie mit den erwachsenen Knechten in den
Ställen, „und man darf sich gar nicht ausdenken, was dort mit
ihnen geschieht“. Gibt es nicht auch Kindesmissbrauch und
-vernachlässigung in der „zivilisierten“ westlichen Welt?
Mich nervt es jedenfalls, nur Negatives zu lesen, als würde
die ganze arabische Welt der Barbarei frönen. Angesichts der
Spannungen, die eh schon zwischen Orient und Okzident
herrschen, trägt dieses Buch sicher nicht zu einem besseren
Verständnis der arabisch/islamischen Welt bei. Islamophobie
gibt es schon zur Genüge, und das Wort „Islamofaschisten“ in
diesem Buch ist auch nicht glücklich gewählt. Die beschriebenen Zustände in Pakistan haben mich sehr an Darstellungen
Europas zu Zeiten der Inquisition erinnert. Macht der Islam
vielleicht die gleiche Entwicklung durch wie das Christentum,
nur 600 Jahre später, weil der Islam auch erst 600 Jahre nach
dem Christentum entstanden ist? Mein Fazit: Pakistan und
der ganze Orient sind nicht mit unseren Maßstäben zu messen. Die Gesellschaft in Europa hat Jahrhunderte gebraucht,
den heutigen Status der Frau einigermaßen zu akzeptieren.
Genauso muss sich die Gesellschaft in Pakistan selbst entwickeln, bis sie erkennt, dass Frauen, wo immer sie auf der Erde
leben, eine Bereicherung sind. Die westliche Welt sollte dabei
Vorbild sein und nicht nur anprangern und Richter spielen.
Auch hier gibt es noch genügend für eine Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft zu tun.
Edith Hartmann
Ayşegül Ecevit / Birand Bingül (Hrsg.): Was lebst du?
Jung, deutsch, türkisch. Geschichten aus Almanya.
Knaur Taschenbuch Verlag, München 2005,
255 Seiten, 8,95 Euro
Mit „Was lebst du?“ haben die Herausgeber Ayşegül Ecevit
und Birand Bingül nicht zu viel versprochen, denn wie der
Untertitel bereits andeutet, handelt es sich um „Geschichten
aus Almanya“. Sie bieten dem Leser eine aufschlussreiche und
REZENSIONEN
unterhaltsame Tour durch die verschiedensten Erfahrungslandschaften der in Deutschland geborenen, lebenden oder
auch in die Türkei zurückgekehrten Türken. Von Django Asül,
dem Kabarettisten aus Niederbayern, über Fikriye Selen Okatan, der international bekannten Boxerin, bis Cem Özdemir,
dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten, bietet diese Anthologie eine breite Palette an Hintergründen, Meinungen und
Ansichten. Der Leser erhält Einblicke in Momente im Leben
derer, die die Herausgeber als „Brückengeneration“ bezeichnen:
„in der Türkei meist schon etwas fremd – und in Deutschland
nicht immer selbstverständlich“. Was Türken in Deutschland
über immer wiederkehrende Themen wie Integration, Zugehörigkeit, Migration, Heimat und Herkunft denken, wird hier
offen angesprochen. Die erste Liebe, Erfahrungen mit alltäglichem Rassismus und Vorurteilen sowohl in Deutschland als
auch in der Türkei, berufliche Einstiege, Überlebenskämpfe,
Sitten und Bräuche, Religionen – hier wird nichts ausgelassen.
Die Autoren zeigen, dass man sich weder für das eine noch das
andere entscheiden muss, dass Bikulturalität kein Nachteil ist,
sondern eine Bereicherung. Dieses Buch ist besonders empfehlenswert für all diejenigen, die mehr aus erster Hand erfahren
möchten, sei es über Old-School-Vertreter und Erfolgsrapper
Erci E oder den Verfasser von „Im Juli“, Selim Özdoğan. Ein
gelungenes und überzeugendes Werk!
Ela E. Gezen
Hilal Sezgin: Typisch Türkin?
Porträt einer Generation.
Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2006, 192 Seiten, 12,90 Euro
In „Typisch Türkin?“ räumt Hilal Sezgin mit den gängigen
Vorurteilen über türkische Mädchen und Frauen auf. Im Gespräch mit neunzehn Frauen türkischer Herkunft in Deutschland gibt sie verschiedenste Lebensläufe wieder. Kiraz, Anfang
dreißig, teilt mit uns ihre ersten Erfahrungen allein zu Haus,
denn ansonsten wird für die Karrierefrau im „Hotel Mama“,
wie sie es liebevoll zu nennen pflegt, der Haushalt von ihrer
Mutter geschmissen. Eine weitere Interviewte, Elif, ermöglicht
dem Leser Einblicke in die Jahrhunderte alte Tradition der
„Sufismus“ genannten islamischen Mystik. Denn Glaube und
Spiritualität spiegeln sich nicht nur im Tragen des Kopftuches
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Sachbuch
wider, wie es viele hierzulande annehmen. Auch Neslihan, die
erfolgreiche Anwältin, die in ihrem Beruf ein Kopftuch trägt
und bereits nach Mekka gepilgert ist, demonstriert, dass ihre
Religiosität in keinerlei Hinsicht aufgezwungen und unterdrückend ist. Pembe wiederum, thematisch abseits von jeglicher
Religiosität, teilt ihre Erfahrungen darüber mit, als sechzehnjähriges Mädchen auf Wunsch ihrer Mutter in eine betreute
WG gezogen zu sein. Heute sagt sie: „Mit meiner Mutter kann
ich über alles Mögliche sprechen […] Sie ist inzwischen wie
eine gute Freundin für mich.“ In allen Beiträgen lässt sich
erkennen, dass die hier porträtierten Frauen, in kein ihnen
auferlegtes Muster hineingezwängt werden möchten. Die typische (deutsche) Türkin, wie vom Buchtitel in Frage gestellt,
gibt es also nicht.
Während der Lektüre fällt es anfangs schwer, die jeweilige
Stimme den entsprechenden Lebensläufen zuzuordnen, da die
Autorin „Lebengeschichten auseinander gerissen und unterschiedliche Personen ineinander gebastelt“ hat. Oft kommentiert Hilal Sezgin die Aussagen ihrer Gesprächspartner, wobei die Übergänge zwischen Interviewerin und Befragten oft
fließend erscheinen oder manchmal ganz verwischen. Jedoch,
je mehr der Leser im weiteren Verlauf des Buches über die
Gesprächspartner erfährt und mit den Namen und jeweiligen
Erlebnissen vertrauter wird, desto besser gelingt es ihm, den
einzelnen Laufbahnen zu folgen. Die Beiträge sind informativ,
aufrichtig und abwechslungsreich. Ein gelungenes „Porträt einer neuen Generation“!
Ela E. Gezen
Hatice Akyün: Einmal Hans mit scharfer Soße.
Leben in zwei Welten.
Goldmann, München 2005, 190 Seiten, 18 Euro
Im Frühjahr 2005 wurde Hatün Aynur Sürücü in Berlin von
ihren drei Brüdern ermordet, weil sie ihnen zu westlich lebte.
Dies hat die Diskussion um die Integration von MigrantInnen
neu entfacht. Von „Parallelkulturen“ war die Rede, von Kindern, die bei ihrer Einschulung kaum ein Wort Deutsch sprechen, und von Jugendlichen, die in der neuen Heimat ihrer
Eltern und Großeltern nicht Fuß fassen können. Erfahrungsberichte muslimischer Frauen standen ganz oben auf den
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Bestsellerlisten. Titel wie „Ich klage an“ oder „Erstickt an euren Lügen“ erzählen von Unterdrückung und Zwangsheirat.
Genau in dieser Zeit erschien auch das Debüt von Hatice
Akyün. Die Journalistin wurde in Zentralanatolien geboren
und kam 1972 als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland,
wo sie seither lebt. Als freie Autorin schreibt sie für den Spiegel, Emma und den Tagesspiegel und führt bei Westropolis ein
Weblog über Kultur.
In ihrem semibiographischen Roman „Einmal Hans mit
scharfer Soße“ beschreibt sie höchst vergnüglich die Existenz
zwischen zwei Welten, erklärt kulturelle und gastronomische
Unterschiede, um deutlich zu machen, wie verschieden beide
Kulturen sind, und wie bereichernd es ist, wenn man aus beiden Welten die positiven Seiten lebt. Akyün erzählt von dem
Leben als junge Türkin in Deutschland, eine junge Türkin, die
zwar kein Kopftuch trägt, aber dennoch nicht die Reize Anatoliens missen möchte. Sie fühlt sich zu deutsch, um eine Türkin
zu sein, und zu türkisch, um sich eine Deutsche zu nennen.
Pointiert rückt sie den Eigenarten von Türken und Deutschen
zu Leibe und erklärt, warum die Deutschen für Türken nur
Hans und Helga heißen.
Die LeserInnen erfahren von dem Leben einer Duisburger
Gastarbeiterfamilie – eine fremde Welt, mitten in Deutschland. Sogar im kältesten Winter werden hier Berge von Fleisch
auf den Grill geworfen, Gäste werden mit zehngängigen Menüs bewirtet, und es wird nach dem besten Ehemann für die
Tochter gesucht. Akyün hat ihren Mann fürs Leben – den Titel
gebenden „Hans mit scharfer Soße“ – noch nicht gefunden.
Einen türkischen Macho lehnt sie entschieden ab, lieber wäre
ihr ein blonder Deutscher, der eine gleichberechtigte Frau an
seiner Seite will. Na ja, fast zumindest: Denn weil der deutsche
Mann an sich für sie etwas fad erscheint, bräuchte der Traummann eben auch noch einen Spritzer scharfer Soße.
Die Autorin verschweigt nicht die Schwierigkeiten, die
sie hatte, mit ihrem „untürkischen“ Lebensstil Akzeptanz bei
ihren Eltern und ihren fünf Geschwistern zu finden. So berichtet sie von den wiederkehrenden Heiratsgesprächen mit
ihrem Vater: Erst musste es ein Türke sein, dann zumindest
ein Muslim, nach ein paar Jahren hätte der Vater auch einen
Deutschen als Schwiegersohn akzeptiert. Heute muss er damit
leben, dass die Tochter fünfunddreißig ist und noch immer
Sachbuch
nicht verheiratet – nach türkischen Maßstäben eine uralte
Jungfer, die bald wieder bei ihren Eltern einziehen kann.
Nadine Heymann
Michael Heatley: John Peel. Ein Leben für die Musik.
Iron Pages Verlag, Berlin 2006, 192 Seiten, 14,90 Euro
John Peel/Sheila Ravenscroft:
Memoiren des einflussreichsten DJs der Welt.
Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, Berlin 2006,
557 Seiten, 24,90 Euro
Gleich zwei Bücher über das Leben des bekannten britischen
Radiomoderators und -DJs John Peel sind 2006 in deutscher
Sprache erschienen – zum einen Michael Heatleys chronologisch erzählte Biographie „John Peel. Ein Leben für die Musik“ (englischer Originaltitel: „John Peel – A Life In Music“)
und zum anderen John Peels Autobiographie, die den Untertitel „Memoiren des einflussreichsten DJs der Welt“ (im englischen Original: „Margrave of the Marshes“) trägt und die er
aufgrund seines plötzlichen Todes 2004 in Peru nicht mehr
selbst vollenden konnte. Die zweite Hälfte des Buches stammt
daher aus der Feder seiner Ehefrau Sheila Ravenscroft.
Peel gehörte zu der heute nahezu ausgestorbenen Spezies
von Radiomachern, die sich als Vermittler zwischen Künstlern
und Publikum begreifen und nicht müde werden, in unendlichen Fluten von Demo-Tapes und -CDs nach neuen, originellen Sounds zeitgenössischer Popmusik zu suchen, getreu
dem Motto: „Darunter könnte ein zweiter Elvis stecken“ (Peel/
Ravenscroft, S. 19). Peels Quotenungehorsam machte seine
Sendungen einzigartig und berühmt. Bei der Musikauswahl
für seine Radiosendungen verließ sich Peel auf seine eigenen
Ohren, das Erfolgsrezept seiner trocken moderierten Radiosendungen lautete: „A balance between things that you know
people will like and things that you think people will like.“
Trotz seiner Prominenz blieb Peel Zeit seines Lebens bodenständig und bescheiden. Sein Dasein als DJ pflegte er als „parasitär“ zu bezeichnen, da Discjockeys „– mit beklagenswert
wenigen Ausnahmen – weder kreativ noch produktiv“ seien
(ebd., S. 22). Peel begriff seinen Beruf als Berufung. Sein Ziel
als Radio-DJ und -Moderator war es, „alles [zu tun], was in
REZENSIONEN
meiner Macht steht, um das zu verbreiten, was ich zu hören
bekomme und gut finde. Dass Sie diese Musik zu hören bekommen und sich daran freuen können, haben Sie den Musikern zu verdanken, die sie machen – nicht J. Peel.“ (Ebd.).
Peel wurde 1939 in Heswall (GB) als John Robert Parker
Ravenscroft geboren. Er begann seine Radiokarriere 1962 in
den USA als Aushilfskraft beim Radiosender WRR in Dallas.
Nach kürzeren Stationen bei den Sendern KOMA in Oklahoma City und KMEN in San Bernardino kehrte er 1967 nach
England zurück. Von März 1967 an bis zum Verbot aller Piratensender in England im August des selben Jahres moderierte
Peel für den Piratensender Big L/Radio London die zweistündige Mitternachtssendung „The Perfumed Garden“. Nach der
Auflösung von Big L wechselte Peel direkt zum kommerziellen
Radiosender BBC und gestaltete fortan auf dem neu gegründeten Sender BBC Radio 1 die Sendung „Top Gear“, die später
in „John Peel“ umbenannt wurde. Bis zu seinem Tod 2004 ist
Peel BBC Radio treu geblieben, produzierte und moderierte
aber diverse weitere Sendungen, wie „Home Truths“ auf Radio 4. Im norddeutschen Raum konnte man 30 Jahre lang
die Sendung „John Peel’s Music on BFBS“ auf dem britischen
Soldatensender BFBS Radio 1 empfangen, seine BBC-Radio-1-Sendungen waren weltweit über das Internet zu hören.
Weltbekannt geworden sind die „Peel Sessions“, in welchen
Bands ihre Musikstücke live bei ihm im Studio einspielten.
Dies verhalf nicht nur so mancher Band aus dem musikalischen Underground zu größerer Popularität, sondern machte
Peel zudem zum Geburtshelfer verschiedener Musikstile wie
HipHop, Punk, Hard- und Grindcore oder Techno.
Zu den beiden deutschsprachigen Veröffentlichungen
über Peels Leben ist als erstes anzumerken, dass Peels Autobiographie Heatleys Lebensbeschreibung klar vorzuziehen ist.
Heatleys Peel-Biographie besteht im Wesentlichen aus einer ziemlich inspirationslosen Aneinanderreihung von chronologisch geordneten Anekdoten und O-Tönen von John Peel
selbst und von „denen, die ihn am besten kannten“ (Rückumschlag). Eigenartigerweise kommt seine Familie im Buch so
gut wie nie zu Wort, die meisten Aussagen stammen von Arbeitskollegen, Freunden und Künstlern. Die zitierten Passagen
belegt Heatley nicht, so dass dem Leser unklar bleibt, woher
diese eigentlich stammen. Einige von Peels Originalaussagen
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REZENSIONEN
Sachbuch
finden sich jedoch fast wortgleich in seiner Autobiographie.
Heatleys Buch leidet stark unter der deutschen Übersetzung
von Alan Tepper und Isabel Parzich. Die oftmals holprigen
Satzkonstruktionen mindern das Lesevergnügen beträchtlich.
Zusätzliche Verwirrung stiftet die häufig völlig willkürliche
Komma-Setzung, die bezweifeln lässt, dass die deutschsprachige Übersetzung jemals ein Lektorat passiert hat. Im Anhang findet sich eine Sammlung mit zahlreichen Statements
von prominenten Persönlichkeiten wie Paul McCartney,
Robert Plant, Courtney Love, Moby oder Thom Yorke, die
Peels Lebensleistung in wenigen Worten zu würdigen versuchen. Wesentlich interessanter lesen sich da Peels „feierliche
Fünfzig“ aus den Jahren 1976 bis 2003. Dabei handelt es sich
nicht um die Aufstellung von John Peels persönlichen Lieblingssongs, sondern um die alljährliche Auflistung der bevorzugten Tracks der Radio-1-Hörerschaft. Auch wenn Peel die
durch Abstimmung ermittelten „Chart“-Ergebnisse häufig
„konservativ und nostalgisch“ (Heatley, S. 158) vorkamen, so
hielt er diese dennoch akribisch in einem Tabellenbuch fest.
Die „feierlichen Fünfzig“ stellen heute ein beeindruckendes
Zeugnis aus 28 Jahren Popmusikgeschichte dar, ihre Aufnahme in den Anhang von Heatleys Peel-Biographie entschädigt
für den etwas langweiligen Erzählstil des Autors und die miserable deutsche Übersetzung des Buches.
Die zehn Euro, die John Peels und Sheila Ravenscrofts
Veröffentlichung teurer ist als Heatleys Biographie, kann man
getrost investieren. Dabei sollte man sich auch nicht von dem
dummen und irreführenden deutschen Buchuntertitel „Memoiren des einflussreichsten DJs der Welt“ abschrecken lassen. Wie Martin Büsser in der Jungen Welt richtig bemerkt,
hatte Peel nämlich gar keinen Einfluss auf die Radiolandschaft:
„Oder kennen Sie Rundfunk-DJs, die seine Begeisterung für
Field Recordings aus allen Teilen der Welt, für rare Schellacks,
für The Fall, für Grindcore und zuletzt für den Antifolk von
Herman Düne geteilt und öffentlich ausgelebt haben?“ (Junge
Welt vom 6.12.2006) Peel blieb Zeit seines Lebens (leider) ein
„Unikat ohne Nachahmer“ (ebd.), seine Einzigartigkeit speist
sich allein aus dem Konformismus und der Quotengeilheit seiner Kollegen. Der stets bescheidene Peel, der „allergisch […]
auf Hybris und Hype reagierte“ (Doebeling in Peel/Ravenscroft, S. 14), wäre über den deutschen Untertitel mit Sicherheit
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wenig erfreut gewesen. Viel Löbliches lässt sich über Peels
und Ravenscrofts Autobiographie sagen. Schon rein äußerlich
ist das Buch ansprechend gestaltet. Das Hardcover-Exemplar
liegt gut in der Hand, es wurde feines, champagnerfarbenes
Papier verwendet, und die Textzeilen sind in einem angenehm
lesbaren 1,5-Zeilen-Abstand gedruckt. Jedes Kapitel ziert zu
Anfang eine kleine Karikatur von John Peel mit oder ohne
Familienanhang, die Sheila Ravenscroft bereits zu seinen Lebzeiten zu zeichnen pflegte und die Peel wohl sehr geschätzt hat
(Peel/Ravenscroft, S. 18). Liebevoll ausgewählt sind auch die
privaten Fotografien in schwarz-weiß, die vereinzelt Peels und
Ravenscrofts Chronik illustrieren. Nach einem einleitenden
Vorwort zur deutschen Ausgabe von Wolfgang Doebeling, der
auf Radio4U und Radio 1 zeitweise Peels Kollege war, kommen in einem kurzen Prolog Peels vier Kinder zu Wort, die
nach seinem plötzlichen Tod ihrer Mutter geholfen haben,
seine Lebensgeschichte zu Ende zu erzählen. In der Hoffnung,
„genügend Originaltöne von ihm [zu recyceln], damit seine
Stimme durch das ganze Buch hallt“ (ebd., S. 20), haben sie
Peels Tagebücher gelesen, viele seiner zahlreichen Zeitungsartikel und Rezensionen studiert, Familienfotos zusammengetragen und Erlebnisse mit ihrem Vater aus dem Gedächtnis
zitiert. Der erste große Teil des Buches, der gut 200 Seiten umfasst, stammt von John Peel selbst. In zehn Kapiteln erzählt
er chronologisch und in Ich-Form sehr lebendig und oftmals
selbstironisch Erlebnisse aus seiner Kindheit, der Schulzeit
und aus seiner Zeit beim Militär. Dabei schweift Peel bei seinen Schilderungen zwar immer wieder ab und greift da, wo es
ihm nötig erscheint, zeitlich voraus, allerdings verliert er dabei
nie den roten Faden, so dass der Leser ihm leicht zu folgen
vermag. Peels eigene Aufzeichnungen enden mit Anekdoten
aus seiner Zeit in Houston/Texas, wo Peel sich seit Anfang der
1960er-Jahre mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt.
Im zweiten Teil des Buches, der knapp 300 Seiten umfasst,
erzählt Peels Ehefrau Sheila Ravenscroft auf kluge und amüsante Art und Weise Erlebnisse aus ihrer 36 Jahre währenden gemeinsamen Zeit. Ihre Beschreibungen, die ebenfalls in
Ich-Form gehalten sind, setzen Ende des Jahres 1968 ein, also
zu der Zeit, in der sie Peel kennen lernte, und enden mit der
knappen Schilderung seiner letzten Radiosendung für Radio 1
Sachbuch
im Oktober 2004. Ausschnitte aus Peels Tagebüchern und aus
Briefwechseln zwischen ihm und seinen Fans finden in Ravenscrofts Ausführungen ebenso Platz wie Erzählungen ihrer
Kinder. In einem kurzen Epilog geht Sheila Ravenscroft dankbar auf die große öffentliche Anteilnahme ein, die ihre Familie
nach Peels Tod erfahren hat. Im Anhang findet sich eine Briefkorrespondenz von Peel mit seiner Literaturagentin Cat Ledger
aus den frühen 1990er-Jahren, als er zum ersten Mal ernsthaft
über die Veröffentlichung seiner Autobiographie nachgedacht
hat. Nicht zuletzt ist auf die gelungene Übersetzung von Christoph Hahn hinzuweisen. Insgesamt ein charmantes, feinsinniges Buch mit erfrischenden Anekdoten, dessen Lektüre wirklich Spaß macht. Peel wäre sicher zufrieden gewesen.
Sarah Chaker
Uwe Nielsen: 40 Jahre BEAT-CLUB.
Parthas Verlag, Berlin 2005, 185 Seiten, 19,80 Euro
Thorsten Schmidt (Hrsg.): BEAT-CLUB.
Alle Sendungen, alle Stars, alle Songs.
Kultur Buch Bremen 2005, 111 Seiten, 25 Euro
Uschi Nerke: 40 Jahre mein BEAT-CLUB.
Persönliche Erlebnisse und Erinnerungen.
Kuhle Buchverlag/tema verlag, Benitz 2005,
99 Seiten, 8,80 Euro
The Best of BEAT-CLUB ’65-’73 (10-DVD-Box).
ARD Video 2002, Spieldauer: 511 Min, 113,89 Euro
„Guten Tag, liebe Beat-Freunde, nun ist es endlich soweit,
in wenigen Sekunden beginnt die erste Show im Deutschen
Fernsehen, die nur für Euch gemacht ist. Sie aber, meine Damen und Herren, die Sie Beat-Musik nicht mögen, bitten wir
um Ihr Verständnis: Es ist eine Live-Sendung mit jungen Leuten für junge Leute. Und nun geht’s los!“ (Programmansage
von Wilhelm „Pit“ Wieben vor der ersten Sendung des BEATCLUB) Und schon schmetterten die Yankees aus Bremen ihren
Titel „Halbstark“ … Das war vor zweiundvierzig Jahren. Man
schrieb den 25. September 1965, als Radio Bremen die erste
Sendung des BEAT-CLUB ausstrahlte. Fortan sollten in sieben
REZENSIONEN
Jahren 83 Sendungen über den Bildschirm flimmern und den
Streit der Generationen anheizen, wenn es um den Platz vor
dem Fernseher ging. Der Regisseur und Redakteur Michael
„Mike“ Leckebusch hat mit dem BEAT-CLUB Fernsehgeschichte geschrieben. Er und seine Mitstreiter, zu denen Gerd
Augustin, erster deutscher Discjockey und später Manager
von Ike and Tina Turner, und der Sexualwissenschaftler und
Jazzfan Ernest Bornemann gehörten, lehnten ihr Sendeformat
an das englische Original „Top of the Pops“ an und holten erstmals britische und US-amerikanische Bands und Interpreten
nach Bremen. Hier traten Graham Bonney, Eric Burdon mit
seinen Animals, Led Zeppelin, T’Rex, Rory Gallagher, die Bee
Gees, Donovan, die Spencer Davis Group, Cream, Deep Purple,
Canned Heat, Joe Cocker, die Grateful Dead und viele andere
auf und gelangten so in Deutschland zu großer Popularität.
Leckebusch wurde durch seine experimentelle Präsentation
der Sendung zum Vorreiter einer sich erst in den 1980er-Jahren ausbreitenden Videoclip-Ästhetik. Die Sendung war und
ist – heute auf DVDs erhältlich – Kult.
Die Jahre 1965 bis 1972 waren nicht nur musikalisch eine
aufregende Zeit. Während – ausgehend von den britischen
Inseln – der Beat die Welt eroberte, begannen die Studentenunruhen nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Uwe Nielsen, der Autor des Buches „40 Jahre
BEAT-CLUB“, stellt die Chronik der Sendung in den Kontext zeitgeschichtlicher und kultureller Ereignisse, die damals bahnbrechend und revolutionär erschienen. Jedes Jahr
BEAT-CLUB, jede Sendung wird mit kurzem Kommentar und
Playlist, mit Fotos, zeitgenössischen Daten und Fakten präsentiert. So ist ein buntes Kaleidoskop entstanden, das zu einer
informativen und überaus unterhaltsamen Zeitreise durch die
Sechziger und frühen Siebziger einlädt.
Ebenfalls zum 40-jährigen Jubiläum im Jahr 2005 dokumentiert Thorsten Schmidt in „BEAT-CLUB“ chronologisch
alle Sendungen, alle Stars und alle Songs aus dem Archiv des
Senders Radio Bremen. Was dieses Buch so kurzweilig macht,
ist nicht nur die ansprechende Schwarz-Weiß-Gestaltung mit
großartigen Fotos, sondern es sind vor allem die Anekdoten
aus Interviews mit Protagonisten wie Uschi Nerke, Dave Dee,
Gerd Augustin, Pete York oder Alice Cooper. Weitere Hintergrundinformationen bieten Zeitungsberichte und Briefe von
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REZENSIONEN
Sachbuch
Eltern und Lehrern, die den mitunter spießigen Zeitgeist der
sechziger Jahre widerspiegeln. Ein unverzichtbarer Almanach
für alle BEAT-CLUB-Fans.
Last but not least kommt Uschi Nerke zu Wort. Keine Sendung des BEAT-CLUB ohne die schicke Moderatorin, die von
Anfang an dabei war und später auch die Nachfolgesendung
„Musikladen“ präsentierte. Uschi Nerke war damals 21 Jahre
jung und machte ein Architektur- und Hochbau-IngenieurStudium. Sie war Leckebusch von Rudi Carrell, bei dem sie
für seine Show vorgesungen hatte, mit den Worten empfohlen
worden: „Bei mir kann sie nicht singen, aber vielleicht kann
sie bei Dir reden.“ Das tat sie dann auch, oft etwas holprig,
aber das gehörte zu ihr wie ein Markenzeichen. Ebenso wie die
damals revolutionären Mini-Röcke, überhaupt das sexy Outfit, mit dem Uschi Nerke zur Stil-Ikone der Sechziger werden
sollte. Das 40-jährige Jubiläum des BEAT-CLUB im Jahr 2005
war auch für Nerke Anlass, ein Erinnerungsbüchlein vorzulegen. Sehr viel Wissenswertes erfährt der interessierte Leser
allerdings nicht. Es sind vorwiegend Oberflächlichkeiten, die
vermittelt werden. So schreibt sie, dass sie sich ihre Garderobe
häufig selbst geschneidert hat, sich künstliche Wimpern ankleben ließ und mit „umwerfender“ neuer Frisur auftrat. Kein
Wunder, dass alle Mitstreiter, Musiker und andere Zeitzeugen,
die in Uschis Erinnerungsbuch zu Wort kommen, sie ganz toll
finden. Zu den eindrucksvollsten Texten dieses Buches zählt
noch Uschi Nerkes persönliche Würdigung von Mike Leckebusch, der 2000 verstorben ist.
Nicht unerwähnt bleiben muss ein Hinweis an das Lektorat: Fehler wie Mike Leckenbusch (S. 57, 69, 70), Bill Hayley,
statt Haley (S. 60) oder die Kings statt Kinks (S. 68) sind mehr
als ärgerlich.
Antje Pfeffer
Sebastian Haunss: Identität in Bewegung.
Prozesse kollektiver Identität bei den
Autonomen und in der Schwulenbewegung.
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004,
291 Seiten, 29,90 Euro
Sebastian Haunss ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Universität Hamburg und hat sich in seiner Dissertation mit
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Prozessen kollektiver Identität in sozialen Bewegungen auseinander gesetzt.
Die Arbeit stellt vor allem die Frage, ob kollektives Handeln
kollektive Identität voraussetzt. Um hierauf eine Antwort zu
finden, wird nach den Konstruktionsmechanismen kollektiver Identitäten gefragt. Ausgangspunkt der Untersuchung
sind die Prozesse, in denen kollektiv Handelnde sich und
ihrem Tun eine gewisse Permanenz, Kontur, einen Sinn und
ein Ziel verleihen. Haunss geht von der Hypothese aus, dass
diese kollektiven Identitäten einen wesentlichen Einfluss auf
das Mobilisierungspotenzial sozialer Bewegungen haben. Es
soll untersucht werden, welche Auswirkungen kollektive Identitätskonstruktionen auf die Art und Dauer des Engagements
der AktivistInnen haben.
Als Grundlage der Untersuchung hat der Autor die, wie
er es nennt, autonome Bewegung und die zweite Schwulenbewegung in Deutschland gewählt. Die Vermutung, dass
Prozesse kollektiver Identitäten in beiden Bewegungen auf
unterschiedlichen Ebenen eine Rolle spielen, bildet den
Ausgangspunkt für einen Vergleich der Bewegungen. Als
Grundlage der empirischen Untersuchung dienen die „Bewegungszeitungen“ Rosa Flieder für die Schwulenbewegung und
Interim für die Autonomen.
Um sich dem Thema zu nähern, werden zunächst Ansätze und Theorien der Bewegungsforschung vorgestellt. Das
Konzept der „kollektiven Identität“ und die bisherige wissenschaftliche Behandlung des Themas stehen dabei im Mittelpunkt, wobei auch verschiedene Konstrukte von Subkultur, Milieu bis hin zur Szene gestreift werden. Dann werden
jeweils die Autonomen und die zweite Schwulenbewegung
aus historischer, thematischer und diskursiver Perspektive
betrachtet und im Anschluss daran die Prozesse kollektiver
Identität herausgearbeitet.
Im Ergebnis wird die Vermutung bestätigt, dass diese Prozesse für die Entwicklung der untersuchten Bewegungen und
das Selbstverständnis der AktivistInnen eine sehr wichtige
Rolle spielen.
Nadine Heymann
Sachbuch
Martina Claus-Bachmann:
Die musikkulturelle Erfahrungswelt Jugendlicher.
Ein kulturwissenschaftlicher Deutungsansatz
und seine musikpädagogische Relevanz.
2., überarb. Aufl., Ulme-Mini-Verlag, Gießen 2005.,
301 Seiten, 33,00 Euro
Dies.: Musik kulturell vermitteln.
Musikpädagogik und kulturelle Kompetenz.
Ulme-Mini-Verlag, Gießen 2006, 101 Seiten, 25,00 Euro
Der kleine Ulme-Mini-Verlag in Gießen steht für die Publikation und den Vertrieb unkonventioneller didaktischer Medien, besonders im Bereich der Musikpädagogik. Zwei Titel
von Martina Claus-Bachmann liegen hier vor. Zum einen ihre
Habilitationsschrift „Die musikkulturelle Erfahrungswelt Jugendlicher. Ein kulturwissenschaftlicher Deutungsansatz und
seine musikpädagogische Relevanz“ und zum anderen eine
Sammlung von Beiträgen zu Musikpädagogik und kultureller
Kompetenz.
Martina Claus-Bachmann zeichnet sich als Expertin aus,
als Grenzgängerin zwischen Musikpädagogik, Musikethnologie und Kulturwissenschaften. Sie war Musik- und Deutschlehrerin an einer Realschule, bevor sie zu religiöser Musik in
Indonesien als Stabilisationsfaktor kultureller Identität bei chinesischen Migranten promovierte. Unterschiedliche Feldforschungsprojekte führten sie nach Westafrika, Indonesien und
Sri Lanka. Seit 2002 lehrt sie an der Universität Gießen.
In ihren Publikationen zur Musikpädagogik vertritt sie
einen Ansatz, der sich von der üblichen eurozentristischen
Betrachtungsweise und der Festlegung auf starre Methodik distanziert. Ihre Habilitationsschrift untersucht Kultur
als dynamisches System, das im Austausch mit dem Kulturträger existiert. Qualitative und quantitative Erhebungen in
Jugendgruppen und Schulklassen untermauern ihre Grundthese, dass Jugendliche sich als Reaktion auf eine multikulturell ausgeprägte Gesellschaft eigenständige Wege kultureller
Ausdrucksmöglichkeiten suchen. In ihrer Forschung findet
die Autorin einen neuen Ansatz in der Musikpädagogik, der
für flexible ethnomusikologische bzw. kulturwissenschaftliche Methodenkompetenz plädiert. Sie untermauert ihn durch
REZENSIONEN
einen sehr dichten Theorieteil und die Ergebnisse ihrer empirischen Untersuchungen. Unterrichtspraktisch stellt sie darüber hinaus ein Multimedia-Arbeitsatelier mit Laptops und
CD-ROM-Erfahrungsstationen vor, um neben der kulturellen Kompetenz unbedingt auch die mediale zu fördern. Eine
dem Buch beiliegende CD-ROM visualisiert einerseits einige
theoretische Aspekte und enthält andererseits Module, bestehend aus interaktiven Shows, zu „Gothic, Metal, Rap und Rave
– Musikerfahrungen in subkulturellen Systemen“.
Auf Vorträgen und ihrer Habilitationsschrift basieren die
zehn Beiträge in dem Band „Musik kulturell vermitteln“. Sie
stellen eine Diskussionsbasis für diejenigen dar, die sich einem unkonventionellen Zugang zu Musik und deren Vermittlung öffnen wollen, seien es Studierende der Musikpädagogik
oder Musikwissenschaften oder Musiklehrende. Themen wie
„Marginalität als Auslöser (musik)kultureller Formationsprozesse am Beispiel von Juden, Frauen und Punks“, „Weibliche
Rollenklischees in Musikkulturen – Wege der Konstruktion,
Re- und Dekonstruktion“ oder „Medienkompetenz als Kulturkompetenz“ verbinden auch hier wieder kulturwissenschaftliche Ansätze mit Musikpädagogik. Die dem Band beigefügte
CD-ROM mit audiovisuellem und grafischem Material ist
unverzichtbarer Bestandteil der einzelnen Artikel. Somit kann
und sollte dieser Band Ausgangspunkt für einen lebendigen
und (jugend)kulturell offenen Umgang mit Musik als einer
prägenden, Identifikation stiftenden Komponente sein.
Antje Pfeffer
Lentos Kunstmuseum Linz (Hrsg.):
Just do it!. Die Subversion der Zeichen von
Marcel Duchamp bis Prada Meinhof.
Edition Selene, Wien 2005, 246 Seiten, 22 Euro
Schick kommt er daher, dieser „Katalog“ zur gleichnamigen
Ausstellung im Lentos Kunstmuseum in Linz. Nicht im gewöhnlich quadratischen oder rechteckigen Format, sondern
in Form eines silbern-glänzenden Totenkopfes. Und auch
nicht mit den üblichen Ausführungen und Essays zu einzelnen Ausstellungsexponaten und KünstlerInnen, sondern mit
einer Art CutUp-Text im Sinne William S. Burroughs, der
sich aus Fragmenten vieler verschiedener Veröffentlichungen
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Sachbuch
zusammensetzt, die sich ab dem 19. Jahrhundert im weitesten Sinne mit der Subversion von Zeichen beschäftigen. Ohne
direkten Verweis auf die Original-AutorInnen wurde hier
fröhlich in den Publikationen zahlreicher TheoretikerInnen
der künstlerischen Avantgarde, Popkultur und Postmoderne
„gewildert“. So wurde aus den Ideen-„Splittern“ von Jean Baudrillard, Dario Azzellini, Roland Barthes, Michel de Certeau,
Noam Chomsky, Michel Foucault, Umberto Eco, Bret Easton
Ellis, Elfriede Jelinek, Marshall McLuhan, Naomi Klein, Antonio Negri, Marcel Duchamp, Ferdinand de Saussure, Guy
Debord und vielen anderen eine einzigartige Komposition.
Eine Collage ganz im Sinne des „Détournement“-Prinzips der
Situationisten, die einzelne Bestandteile aus ihrem originären
Kontext reißt, sie in einen neuen Zusammenhang einfügt, so
ihre Bedeutung verändert und letztlich die Frage nach der AutorInnenschaft einer Publikation unterläuft. Darüber hinaus
zeigt sie demonstrativ auf, dass die Bedeutungen von Zeichen
niemals starr und definitiv, sondern stets flüssig sind und sich
in stetiger Veränderung befinden. Da Herrschaft auch auf
Kommunikation gründet, kann durch die Subversion von Zeichen, die zur Kommunikation benötigt werden, symbolischer
Widerstand gegen die Macht geleistet werden. Dies meinte
Umberto Eco, als er Ende der 1960er-Jahre von der so genannten „semiologischen Guerilla“ sprach. Und dies griff auch
Dick Hebdige ein Jahrzehnt später in seinen Ausführungen
über Jugendkulturen wie Punk auf, die sich Zeichen aus der
Alltagskultur (Sicherheitsnadeln, Ketten, Arbeiterstiefel etc.)
aneigneten und zu stilistisch subversiven Zwecken nutzten.
Tatsächlich „Neues“ hat dieser Katalog also in gewissem
Sinne nicht zu bieten. All dies konnte man bereits in anderen
Büchern sehr viel detaillierter lesen. Interessant sind an ihm
aber dennoch zwei Punkte. Erstens, wie die Idee der Ausstellung, nämlich die Subversion der Zeichen, bis in ihr gedrucktes Begleitmedium vorgedrungen ist und damit die Grenzen
des „white cubes“, also des Ausstellungsraums, übertreten hat.
Und zweitens, wie die Beispiele für subversive Zeichenspiele
mit den theoretischen Ausführungen arrangiert sind. Wie in
einer Collage, lässt sich an jeder Stelle dieses CutUp-Textes
einsteigen. Ob auf Seite 1 oder erst auf Seite 75, die Anordnung der Fragmente widersetzt sich einem linearen Lesen und
ist damit im besten Sinne ein postmoderner Text.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Das alles wirkt sehr amüsant und liest sich schließlich auch
sehr spannend, aber der machtkritische Anspruch, den die Ausstellung offenbar präsentieren wollte, geht in der Verkürzung
von Herrschaftsverhältnissen auf das „Spiel der Signifikanten“
und damit auf Sprache eher unter. Auch wenn es, mit Foucault
gesprochen, keine Erfahrungswelt außerhalb des Diskurses gibt
und man deshalb nicht um ihn herum kommt, will man gegen
Machtrelationen protestieren und Widerstand leisten, so gilt es
doch auch die materielle Grundlage von Sprache zu reflektieren
und gegebenenfalls zu kritisieren. Genau ein solcher materialistisch informierter Ansatz der Semiologie hätte dem Anspruch
des Ausstellungsprojektes mehr Gewicht verliehen.
Christian Schmidt
Marc Calmbach: More Than Music.
Einblicke in die Jugendkultur Hardcore.
Transcript Verlag, Bielefeld 2007, 274 Seiten, 27,80 Euro
Im Gegensatz zu Punk, über den wissenschaftliche Studien
mittlerweile ganze Regalwände füllen, schenkte der akademische Betrieb der seit den 1980er-Jahren bestehenden Postpunk-Szene „Hardcore“ (HC) kaum Beachtung. Dass dies,
wie Marc Calmbach, der Autor der vorliegenden Dissertation
über Hardcore, konstatiert, an der – verglichen mit Punk – stilistischen Unauffälligkeit dieser Szene liegt, mag sicherlich ein
Grund dafür sein. Ein weiterer lässt sich aber m. E. auch im
elitären und exklusiven Selbstverständnis dieser Subkultur finden. Vor allem die von Calmbach in seiner Promotionsarbeit
fokussierte Do-it-Yourself-(DIY)-Hardcore-Szene grenzt sich
nach außen stark ab und macht es für Eindringlinge wie ForscherInnen extrem schwer, einen von den Szenemitgliedern
legitimierten, verstehenden Zugang dazu zu finden. Authentizität spielt in der HC-Subkultur eine große Rolle. Diese wird
vor allem durch den unkommerziell ausgerichteten Support
der Community, also durch DIY-Praxis in Form von Arbeit an
Fanzines, Labels, Konzerten, Vertrieben usw. hergestellt. Den
meisten WissenschaftlerInnen fehlt diese Einbindung in die
internen und praktisch orientierten Szenestrukturen, weshalb
sie gerade bei Hardcore immer wieder scheitern.
Marc Calmbach hingegen war selbst lange Zeit Teil der
Subkultur. Er veranstaltete Konzerte und spielte mit seiner
Sachbuch
Band Dawnbreed in den 1990er-Jahren in zahllosen Szenelocations. Auch seine heutige Musikgruppe Monochrome bewegt sich im Dunstkreis von Hardcore. Dadurch hat er genug
biografische Anknüpfungspunkte, die ihm den Zugang zur
Szene sehr erleichtern.
Doch was einerseits ein Vorteil beim Feldzugang ist, kann
methodisch und erkenntnistheoretisch auch zum Problem
werden. Die eigene Involviertheit in das zu untersuchende
Feld kann die für eine kulturhermeneutische Studie nötige Befremdung auch verhindern und blinde Flecken in der Analyse
erzeugen. Der Autor ist sich dieser Problematik bewusst und
widmet ihr in seiner Dissertation ein eigenes, kleines Kapitel.
In Anlehnung an den „going-native“-Begriff von EthnologInnen, mit dem die Gefahr des Distanzverlustes auf Grund einer
einseitigen Überidentifikation der Forschenden gegenüber der
zu untersuchenden Kultur bezeichnet wird, nennt Calmbach
das Phänomen, mit dem er konfrontiert ist, „going academic“.
Dieses Problem, das inkorporierte Insiderwissen in akademisches Wissen zu transformieren, kann nur durch einen ständigen selbstreflexiven Prozess und eine objektive Nachvollziehbarkeit des methodischen Vorgehens realisiert werden. Beides
gelingt dem Autor überzeugend.
Im Gegensatz zu vielen anderen Jugendkultur-Studien,
die Stilanalysen in ihren Mittelpunkt stellen und dabei meist
auf der semiologischen Ebene bleiben, widmet sich Calmbach
den Do-It-Yourself-Praktiken innerhalb der Szene, also der
Produktivität ihrer Mitglieder. Über sie werden vornehmlich
die authentische Beteiligung an der Subkultur und damit ihre
Ein- und Ausschlussmechanismen verhandelt.
Calmbachs Dissertation ist in fünf Hauptkapitel gegliedert.
Er beginnt mit der Entwicklung seiner Fragestellung und der
Präsentation des Forschungsstandes zum Thema „Hardcore“
und führt anschließend in den theoretischen Bezugsrahmen
seiner Studie ein. Im darauf folgenden zweiten Kapitel widmet
er sich seinen Forschungsmethoden und dem erkenntnistheoretischen und forschungspraktischen Problem des „going academic“. Im dritten Abschnitt folgt seine eigentliche Kulturanalyse der Hardcore-Szene. Er zeichnet den Ursprung von DIY
nach, weist auf die wesentlichen praktischen Umsetzungen
dieser Idee innerhalb der Szene hin, unternimmt eine theoretische Kontextualisierung des Phänomens des Selbermachens
REZENSIONEN
und beschäftigt sich ausgiebig mit dem Erwerb und der Vermittlung von DIY-Kompetenzen. Diesem methodisch qualitativ ausgerichteten Teil folgt im vierten Kapitel die Auswertung
seiner quantitativen Befragung von über 400 Hardcore-SzenegängerInnen aus der BRD und dem europäischen Ausland.
Ihr räumt Calmbach den größten Teil seiner Dissertation ein.
Im letzten Kapitel seiner Arbeit fasst er die zentralen Ergebnisse seiner Studie noch einmal zusammen.
Im Kapitel zu seinem theoretischen Bezugsrahmen geht
der Autor zunächst auf jene Ansätze ein, die v. a. in den 1970erJahren am Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS)
in Birmingham entwickelt und verfolgt wurden. Das CCCS
vertrat die Ansicht, dass Jugendsubkulturen klassenspezifische
Phänomene seien, die mit der Kreation ihres jeweils eigenen
Stils nicht nur symbolischen Widerstand gegen die Kultur der
Erwachsenenwelt leisteten, sondern sich auch gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und deren Antagonismen
richteten. Anhand aktueller Jugendkulturforschungen, die
v. a. von individualisierungstheoretischen und postmodernen
Ansätzen inspiriert sind, kritisiert Calmbach diese Vorstellung des CCCS. Subkulturen sind diesen Ansätzen nach nicht
länger als klassenspezifische und soziokulturell homogene
Phänomene beschreibbar, die sich entlang der Dichotomie
von Authentizität und kommodifizierender bzw. ideologischer Vereinnahmung erklären lassen. Der Autor folgt diesen
Ansätzen, die eine weitgehende Entkoppelung von jugendkulturellen Lebensweisen und objektiven Lebensbedingungen
konstatieren, aber nicht uneingeschränkt Die Betonung der
gegenwärtigen Unbeständigkeit bzw. der Flüchtigkeit von Stilen und die Möglichkeit ihrer laufenden An- und Abwahl, wie
sie einige ForscherInnen hervorheben, sieht Calmbach nicht
gegeben. Authentizität im Sinne von „Realness“, konstruiert
durch stilistische Kreationen und kulturelle Praktiken, spiele
für das Selbstverständnis von Subkulturen auch heute noch
eine bedeutende Rolle. Damit schafft Calmbach in diesem
Kapitel ein solides theoretisches Fundament für seine spätere
Analyse der Do-It-Yourself-Praktiken in der Hardcore-Szene.
Stärken seiner Dissertation sind die Methodenvielfalt und
Fülle des Quellenmaterials. Neben der quantitativen Befragung
führte er acht leitfadenorientierte Experteninterviews und
analysierte Fanzines, Flyer und Plattencover der HardcoreJOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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Sachbuch
Szene. Doch während er ausführlich auf die ersten beiden
Ansätze eingeht und die Methodenliteratur dazu diskutiert,
bleibt die Grundlage seiner Untersuchung der subkulturellen
Artefakte ungeklärt. Hier bewegt sich die Analyse leider nicht
über die deskriptive Ebene hinaus und bleibt eher ahistorisch.
Fanzines, Flyer und Plattencover, die sich über einen Zeitraum
von teilweise über 20 Jahre erstrecken, werden hier in gleicher
Weise herangezogen, was auf Grund der szenegeschichtlichen
Entwicklung m. E. jedoch nicht ohne weiteres plausibel ist. Da
es sich bei diesen Quellen um die zentralen Produkte, also die
Materialisierungen des DIY-Prinzips handelt, hätte dies aber
sicherlich noch einen tieferen Einblick in die Funktionsweisen der Do-It-Yourself-Idee und ihren Wandel gegeben. Hier
merkt man, dass der Schwerpunkt von Calmbachs Studie
deutlich auf der quantitativen Erhebung liegt.
In der an das Methodenkapitel anschließenden Auseinandersetzung mit dem Do-It-Yourself-Prinzip der Hardcore-Szene ist m. E. vor allem die theoretische Einbettung dieser szeneimmanenten Philosophie und Praxis besonders gelungen. In
Anlehnung an Pierre Bourdieus Ausführungen zur Verortung
der Kunst im System sozialer Felder beschreibt Calmbach
DIY-Hardcore als ein Feld eingeschränkter popkultureller
Produktion. Analog zum Selbstverständnis der etablierten
Kunst und ihren Werken steht der finanzielle Mehrwert in der
HC-Szene bei der Veröffentlichung von Fanzines und Platten
oder der Organisation von Konzerten und Festivals nicht im
Vordergrund. Die Anhäufung kulturellen Kapitals hat in der
Hardcore-Szene eine größere Bedeutung für die Authentizität
der jeweiligen Feldmitgliedschaft eines Protagonisten als die
des ökonomischen Kapitals.
Anders als in der etablierten Kunst, in der das kulturelle
Kapital streng bewacht wird, werden die DIY-Kompetenzen,
mit denen sich dieses Kapital in der HC-Gemeinschaft aneignen lässt, kollektiv geteilt. So kursieren die unterschiedlichsten „How to …“-Ratgeber innerhalb der Szene, die von
Anleitungen zur Plattenproduktion über Tipps und Tricks bei
der Organisation von Bandtourneen bis hin zum Selbstdruck
der eigenen T-Shirts reichen. Auf diese Art von Erwerb und
Vermittlung von DIY-Kompetenzen geht Calmbach sehr ausführlich und anschaulich anhand entsprechender Fanzineartikel ein.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
In seiner quantitativen Befragung von SzenegängerInnen
ermittelt der Autor methodisch sauber und objektiv nachvollziehbar u. a. die demografische Struktur des HC-Publikums,
seine politische und religiöse Einstellung, seine soziokulturelle
Verortung, seine Haltung zu spezifischen Ernährungsweisen
wie Vegetarismus und Veganismus, die sozialen Bedeutungsaspekte von Hardcore, die Szene-relevanten Informationsquellen und die Bedeutung von Kleidung und Style innerhalb
der Subkultur. Die Studie macht darüber hinaus klar, dass HC
nicht einfach eine Szene ist, die an- und abgewählt werden
kann, sondern dass es sich dabei um eine Einstellung und
Haltung handelt, die Einfluss auf das gesamte restliche Leben
ihrer Mitglieder hat.
Auch wenn langjährige HC-Szene-Mitglieder und -BeobachterInnen viele der Ergebnisse nicht unbedingt überraschen,
so kommt dieser quantitativen Erhebung doch einerseits das
Verdienst zu, die bislang subjektive Wahrnehmung und Erfahrung methodisch stichhaltig in objektiviertes Wissen überführt zu haben und andererseits klar zu machen, dass Hardcore quer zu den meisten gegenwärtigen Jugendkulturtheorien
liegt. Diese Szene entgleitet einer individualisierungstheoretischen Betrachtung und widerspricht der vorherrschenden
Annahme in der Jugendforschung, dass Gemeinschaften
heutzutage eine geringere Bindungskraft aufweisen würden.
Hardcore ist gerade durch sein Selbstverständnis, „more than
music“ zu sein, weitaus mehr als eine bloße Freizeitaktivität
– sofern man als authentisches Mitglied partizipieren möchte. „Do It Yourself!“ ist damit nicht nur eine zentrale Idee der
HC-Szene, sondern auch die Praxis, die darüber entscheidet,
ob man dabei ist oder eben nicht. Dies hat Marc Calmbach in
seiner Studie sehr gut veranschaulicht.
Ob es sich bei Hardcore und seinem DIY-Prinzip allerdings tatsächlich um eine „widerspenstige“ Jugendkultur und
Praxis handelt, wie der Autor am Ende seiner Dissertation
resümiert, ist zumindest anzuzweifeln. Schließlich sind zentrale Ideen, die noch bis in die 1980er-Jahre hinein mit der
Do-It-Yourself-Philosophie verknüpft waren, heute zu zentralen Prinzipien einer neoliberalen und postfordistischen
Wirtschaft geworden. Die mit DIY verknüpften Eigenschaften
der Autonomie und der Eigenverantwortung sowie die Aufhebung der Trennung von Arbeit und Freizeit sind gegenwärtig
Sachbuch
Anforderungen, die die herrschende Ökonomie an ihre Subjekte stellt. Auf diese Problematik hätte Marc Calmbach zumindest hinweisen können.
Abgesehen davon ist ihm eine wissenschaftlich solide und zugleich interessante und vielfältige Studie zur DIY-HardcoreSzene gelungen, die weit über bloße „Einblicke“ hinausgeht, wie
sie im Untertitel angekündigt werden. Seine Dissertation ist das
Beste, was man bislang zu dieser Jugendkultur lesen konnte.
Christian Schmidt
Thomas Groetz: Kunst – Musik. Deutscher Punk und
New Wave in der Nachbarschaft von Joseph Beuys.
Martin Schmitz Verlag, Berlin 2002, 199 Seiten, 14,50 Euro
Mit der zunehmenden Komplexität von Gesellschaft werden
die ehemals klaren Grenzen zwischen einzelnen sozialen Feldern immer durchlässiger. Kunst, Medien, Musik, Werbung
und viele weitere Systeme sind heute so stark miteinander verkettet, dass es fast unmöglich erscheint, ein kulturelles Phänomen isoliert und nur innerhalb eines Feldes zu betrachten.
Mit den gesellschaftlichen Transformationen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Ausgangspunkt nahmen
und mit den unterschiedlichsten Begriffen – von der Postmoderne über den Postfordismus bis hin zur Reflexiven Moderne
– belegt wurden, erfuhr diese Entwicklung von Kultur und
Gesellschaft hin zu einem komplexen Beziehungsgeflecht verschiedener sozialer Felder einen enormen Schub.
Punk und New Wave, die für einige Publizisten auch als
erste postmoderne Jugendkulturen gelten, verdeutlichen diese Komplexität sehr gut. Der Kunsthistoriker Thomas Groetz
zeigt dies in der vorliegenden Dissertation sehr anschaulich anhand der zahlreichen Verbindungen von Kunst und Musik zu
den Anfangszeiten der beiden Szenen in der BRD. Dass er sich
dabei wiederum „nur“ auf die Relationen zwischen dem Feld
der Kunst und dem Feld der Musik bezieht, mag angesichts des
Einflusses vieler anderer Felder auf das Phänomen „Punk/New
Wave“ von einigen kritisiert werden. Eine wissenschaftliche
Auseinandersetzung braucht aber einen Fokus, um nicht aus
dem Ruder zu laufen oder sich in der eigenen Komplexität zu
verlieren. Groetz wählt die Punk- und New-Wave-Szene im
REZENSIONEN
Rheinland und Ruhrgebiet bis Anfang der 1980er-Jahre. Gerade an ihr lassen sich für diese Zeit zahlreiche biographische
und auch ideologische Bezüge zum Kreis der Personen um Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie ziehen. Beuys
Schüler waren nicht nur in der Szene aktiv, auch sein erweitertes und nicht-elitistisches Kunstverständnis entsprach in weiten Teilen dem Do-It-Yourself-Prinzip der Subkultur.
Groetz Arbeit beginnt im ersten Kapitel mit der Formulierung seiner Fragestellung, der Darlegung seines methodischen Zugangs zum Thema, seines untersuchten Materials
und des Forschungsstandes. Leider breitet er dies auf lediglich
vier Seiten aus. Darunter leidet die wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit seiner Arbeit stark.
Im zweiten Abschnitt führt er hingegen sehr anschaulich
in die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von bildender Kunst und populärer Musik seit den 1960er-Jahren
ein. Am Beispiel von Bands wie The Who, The Beatles, The
Velvet Underground, Amon Düül, Can, Tangerine Dream oder
Kraftwerk weist er auf die zahlreichen Verknüpfungen mit der
Kunst hin.
Darauf folgt das dritte Kapitel, das die eigentliche Untersuchung der Relationen zwischen Kunst und Musik am Beispiel von Punk/New Wave beinhaltet. Ausgangspunkt seiner
Analyse ist der Beuys-Schüler Jürgen Kramer, der zwischen
1978 und 1982 das Fanzine Die 80er Jahre herausgab, in Bands
wie Das 20. Jahrhundert spielte und den Begriff der „Neuen
Welle“ maßgeblich mitprägte. Am Beispiel Jürgen Kramers
und seiner Arbeiten verdeutlicht Groetz den Ideentransfer
zwischen Punk und Kunst und macht klar, dass die Grenze
zwischen diesen beiden Feldern durchlässig war und sie sich
gegenseitig beeinflussten. Detailliert spürt er anschließend
weitere Relationen auf. Anhand von Bands wie Der Plan und
Die Salinos, Labels wie „Ata Tak“ und „Pure Freude“, PunkKünstlern wie Achim Weber und Walter Dahn und SzeneTreffpunkten wie dem „Ratinger Hof “ oder der Galerie „Art
Attack“ verweist er beeindruckend dicht auf die stilistischen,
biographischen und geistigen Schnittmengen zwischen Kunst
und Punk/New Wave.
Groetz beendet sein Buch mit einer Zusammenfassung
und Schlussbetrachtung seiner Untersuchung. Hier weist er
noch einmal darauf hin, dass es gerade die Punk-Bewegung
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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REZENSIONEN
Sachbuch
an, dass er tief „gegraben“ hat. Nicht zuletzt deshalb liest sich
seine Dissertation bisweilen sehr spannend. Ein Manko bleibt
jedoch die viel zu kurze Darlegung seines methodischen Vorgehens, die unbefriedigende Auseinandersetzung mit dem
Quellenmaterial und das Fehlen eines theoretischen Bezugsrahmens. Liest man seine Arbeit jedoch nicht mit der „wissenschaftlichen Brille“, so beeindruckt sie voll und ganz.
Christian Schmidt
Ronald Galenza und Heinz Havemeister (Hrsg.):
Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop
und Independent-Szene in der DDR von 1980-1990.
Überarb. u. erw. Neuaufl., Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag,
Berlin 2005, 792 Seiten, 14,90 Euro
war, die beim Einreißen der Grenzen zwischen Popmusik und
bildender Kunst als ein besonderer „Katalysator“ wirkte. Sie,
so Groetz, „demonstrierte einen Zerfall von Wertigkeiten“ in
Bezug auf den kreativen Ausdruck, wodurch „die Trennlinie
zwischen so genannter hoher und niedriger Kunst nicht mehr
klar zu erkennen“ gewesen sei. Und dies hätte schließlich einen wechselseitigen Ideen-Transfer zwischen Punk/New Wave
und dem künstlerischen Feld ermöglicht.
Groetz‘ Untersuchung ist außerordentlich detailreich und
bezieht viele Quellen, vom Interview über Plattencover, Fanzines, Fotos bis hin zu Gemälden ein. Man merkt dem Autor
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Bereits im Dezember 2005 erschien die vorliegende überarbeitete Zweitauflage dieses Standardwerkes über Punk und
andere subkulturelle Szenen in der DDR von 1980 bis 1990.
Gegenüber der bereits sehr umfangreichen Erstausgabe
aus dem Jahr 1999, die die erste Zusammenfassung der unabhängigen Musikszene in der DDR war, sind zahlreiche weitere
Aufsätze hinzugekommen. So u. a. über die Aktivitäten der
Berliner Erlöserkirche und über DDR-Punk in westdeutschen,
schließlich auch ersten ostdeutschen Fanzines (verfasst von
meinem Archiv-Kollegen Christian Schmidt). Ebenfalls neu
ist ein Überblick über die Geschichte der Skinhead-Bewegung
in der DDR, außerdem am Beispiel der Ortschaft Lugau eine
Spurensuche, wie Punk auch in ländlichen Gebieten der DDR
Fuß fassen konnte.
Erweitert und aktualisiert wurde auch der umfangreiche
Anhang, u a. mit Diskografie und „Kassettografie“.
„Wir wollen immer artig sein …“ – ursprünglich ein
Songtitel der Band Feeling B – ist das Buch, das allen an der
Geschichte subkultureller Jugendszenen in der DDR Interessierten einen ersten, fundierten und dazu noch gut lesbaren
Einstieg bietet. War das Erstwerk Impulsgeber für zahlreiche
weitere Forschungen zu Punk in der DDR, bündelt die Neuauflage nun Erträge aus der zu Jahrtausendbeginn aufgeblühten Forschung zum Thema – und Dank der Taschenbuchform
sogar preiswerter als zuvor.
Andreas Kuttner
Sachbuch
Michael Boehlke/Henryk Gericke (Hrsg.):
Too much future. Punk in der DDR.
Verbrecher Verlag, Berlin 2007, 224 Seiten, 16,80 Euro
Endlich da, die überarbeitete Zweitauflage des Katalogs zur
Ausstellung „Too much future – Ostpunk – Punk in der DDR“.
War die Erstauflage bereits nach wenigen Tagen (nach meiner Erinnerung gar am ersten Tag!) der Ausstellung in Berlin
im Jahr 2005 vergriffen, kommt nun, zwei Jahre später, wohl
anlässlich der Ausstellung in Dresden seit Ende August, der
überarbeitete Nachdruck.
Das absolute Standardwerk zu Punk in der DDR bleibt
natürlich „Wir wollen immer artig sein“, herausgegeben von
Galenza und Havemeister, das einen mit Informationen schon
geradezu überfordert, will man es ganz lesen. (Vgl. dazu Rezension in dieser Ausgabe, d. Red.)
Der vorliegende Band beleuchtet eher exemplarisch einzelne Aspekte von Punk in der DDR; wirklich hervorragend
aufgemacht im künstlerischen Punk-Layout, mit Rücksicht
auf das internationale Publikum zweisprachig Deutsch-Englisch gehalten und geschrieben von Menschen, die spürbar
geübt sind, sich auszudrücken – was aber auch zum Nachdenken anregt: Was ist wohl aus jenen DDR-Punks geworden, die
heute nicht Künstler, Designer oder andere „wichtige“ Personen geworden sind? Diese bleiben hier außen vor. Wobei es ja
durchaus einige gäbe, die bis zum heutigen Tage aktiv in der
Punk-Szene sind. Aber das abzubilden, darum geht es den Herausgebern nicht. (Wenn man böse wäre, könnte man sagen:
diese lassen sich heute lieber von der „Neuen Mitte“ in BerlinMitte und Prenzlauer Berg feiern ...)
Ihre Betrachtung endet mit dem Ende der DDR 1989/1990,
und diese Aufgaben lösen sie mit einer bemerkenswerten
Leichtigkeit und Souveränität. Ein Highlight ist der Artikel
von Galenza und Havemeister über die zweite Phase der Repression gegen DDR-Punks, ein weiteres besonderes Bonbon
ist die Schilderung eines Punk-Konzerts in einem ProvinzOrt Mitte der 1980er-Jahre. Überraschend, dass gerade für die
Thüringer Szene, die die Band Schleimkeim hervorgebracht
hat, ein künstlerisches Interesse dokumentiert ist. Dazu viele
gute Fotos (u. a. von Dachstock-Konzerten) und am Ende ein
REZENSIONEN
Bandregister, das allerdings längst nicht vollständig ist, so dass
die bis heute wichtige Band Kaltfront fehlt.
Im Ganzen, trotz meiner nun erfolgten Mäkelei am Rande, eindrucksvolles, ganz großes Kino, das Spaß macht und
jedem nur zu empfehlen ist!
Andreas Kuttner
Frank Willmann (Hrsg.): Stadionpartisanen.
Fußballfans und Hooligans in der DDR.
Verlag Neues Leben, Berlin 2007, 223 Seiten, 16,90 Euro
Dass Fußball nicht nur unterhaltsam, sondern auch ein Spiegel deutscher Zeitgeschichte sein kann, beweist das von Frank
Willmann herausgegebene und mit Beiträgen von Gabriele
Damtew, Wolfgang Engler, Andreas Gläser und Anne Hahn
versehene Buch über Fußballfans und Hooligans in der DDR.
Dem Herausgeber, seines Zeichens auch Schriftsteller,
Journalist, Fußballer und Reisender, gelingt es, ein lebendiges Bild der Ostberliner Fußball- und Hooligan-Szene der
1970er-Jahre bis zur Wende- und Nachwendezeit zu zeichnen. Es geht, wie es im Vorwort heißt, „um den Traum einer
unbestimmten Freiheit, um Fußball, um rebellische Jugend,
um Kloppereien“.
Im Fokus des Buches steht die Rivalität von Fans der beiden
Berliner Traditionsvereine FC Union und BFC Dynamo in der
so genannten DDR-Oberliga.
Nach einer essayistischen Einstimmung auf das Thema
durch den Berliner Autor und selbsterklärten BFC-Fan Andreas Gläser kommen zunächst ausschließlich einzelne Anhänger der beiden Fußballclubs in Interviews zu Wort. Schnell
wird deutlich, dass die Klischees vom „Stasiclub“ BFC auf der
einen und den DDR-kritischen Union-Fans auf der anderen
Seite in keiner Weise zutreffend sind. Fragen, die immer wieder angeschnitten werden, sind das Verhältnis der Ostberliner Hooligans zu ihren Pendants aus dem Westen oder der
Umgang der Polizei und der Staatssicherheit mit dem, wie es
im offiziellen Sprachgebrauch hieß, „feindlich-negativen Fußballanhang“. Darüber hinaus wird auf die Rolle und Entwicklung von rechtsradikalen Tendenzen und Haltungen unter den
Fans und Hooligans beider Vereine eingegangen.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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REZENSIONEN
Sachbuch
Daneben gibt es Interviews mit dem Fanforscher HansJörg Stiehler (Zentralinstitut für Jugendforschung), mit Mitarbeitern des MfS sowie mit Spielern, Trainern und Funktionären beider Vereine. Außerdem werden die Journalisten
Harald Hauswald, Horst Friedemann, Edgar Külow, Michael
Jahn und der bekannte DDR-Oberliga-Schiedsrichter Siegfried Kirschen befragt.
Der Soziologe Wolfgang Engler widmet sich in seinem
Beitrag dem Thema „Private Gewalt als politischer Akt“, Anne
Hahn setzt sich mit dem Gewaltpotenzial der Fußballanhänger aus Sicht der Volkspolizei und Staatssicherheitauseinander,
wobei sie unter anderem Diplomarbeiten von Absolventen der
Hochschule des MfS auswertet.
Zahlreiche Fotos von Harald Hauswald und Knut Hildebrand, aber auch aus Fanarchiven, runden das – nicht nur für
Fußballfans – lesenswerte Buch ab. Einzig ein Abkürzungsverzeichnis wäre wünschenswert, da vielleicht nicht jeder Leser
unmittelbar etwas mit Begriffen wie KWO, SEZ, SGD oder
TRO anzufangen vermag.
Martin Pickelmann
Stefan Thomas: Berliner Szenetreffpunkt Bahnhof
Zoo. Alltag junger Menschen auf der Straße.
VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH,
Wiesbaden 2005, 249 Seiten, 22,90 Euro
Für seine Promotionsarbeit im Bereich Klinische Psychologie
an der FU Berlin, deren Ergebnisse in diesem Buch veröffentlicht sind, hat sich Diplom-Psychologe Stefan Thomas mit den
„Kindern vom Bahnhof Zoo“ beschäftigt. Da im Hinblick auf
das Phänomen „Hinwendung zur Straße“ jedoch keineswegs
Jugendliche oder gar Kinder, sondern junge Erwachsene die
zahlenmäßig am stärksten vertretene Gruppe am Bahnhof
Zoo bilden, stehen diese im Mittelpunkt seiner Betrachtung.
Mit Hilfe der Streetworker vom Verein Treberhilfe Berlin hat
Stefan Thomas Kontakt zu ihnen aufgenommen, Gespräche
mit ihnen geführt und ein Jahr lang ihren Alltag beobachtet,
um sich ein Bild von ihrer konkreten Lebenswelt zu machen.
Das besondere Interesse seiner Studie gilt dabei der Armutsproblematik. Für Thomas stellt sich Armut nicht nur als Begleiterscheinung und indirekte Folge von „Straßenkarrieren“
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
dar, sondern vielmehr als Ursache für das Herausbrechen der
jungen Menschen aus sozialen und gesellschaftlichen Integrationsformen. Thomas’ Fallbeispiele veranschaulichen sehr eindringlich, wie die aus der Armutslage der jungen Menschen
resultierenden Einschränkungen und Entbehrungen sich so
stark verdichten können, dass die tagtägliche Alltagsorganisation beeinträchtigt oder gar unmöglich wird. Ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Armut und Marginalität
erscheint dann kaum noch möglich. Durch diese Darstellung
werden die Beweggründe der jungen Menschen für den täglichen Aufenthalt am Bahnhof Zoo sehr leicht nachvollziehbar.
Die besondere Bedeutung dieses Treffpunktes liegt vor allem
in seiner Funktion als sozialer Ort. Für die jungen Menschen,
deren Lebenssituation von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung geprägt ist, bietet er fast die einzige Möglichkeit, ein
Netzwerk aufzubauen – sei dies auch oftmals brüchig –, das
ihnen ein Stück soziale Integration bietet.
Nicht nur angesichts des Umstandes, dass sich zwar zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten finden lassen, die sich mit
der Problematik von Straßenkindern und -jugendlichen beschäftigen, bisher aber nur wenige existieren, welche in diesem
Zusammenhang der Gruppe junger Erwachsener einen eigenständigen Stellenwert einräumen, stellt Thomas’ Studie eine
interessante Lektüre dar. Zwar wäre es wünschenswert, wenn
die Arbeit in einer etwas weniger theorielastigen Sprache veröffentlicht worden wäre und der Autor auf eine allzu häufige
Wiederholung bestimmter Sachverhalte und Erklärungsmuster verzichtet hätte. Auch wäre ein nochmaliges Korrekturlesen empfehlenswert gewesen. Insgesamt ist aber festzuhalten,
dass es Stefan Thomas gelungen ist anhand der Darstellung
seiner Studienergebnisse ein umfassendes, differenziertes und
plastisches Bild der Bahnhof-Zoo-Szene zu zeichnen, bei dem
der Autor jederzeit eine große Empathie für seine „Protagonisten“ und deren Handlungen spürbar werden lässt.
P.S.: Was allerdings den Verlag dazu bewogen hat, im Klappentext den Alltag der jungen Menschen am Treffpunkt Bahnhof Zoo als u. a. „schillernd“ anzupreisen, erschließt sich beim
Lesen des Buches nicht und mutet etwas zynisch an.
Corinna Steffen
Sachbuch
REZENSIONEN
die ärzte SONGBOOK. Die komplette Sammlung
aller Songs der Besten Band der Welt.
Bosworth Edition, [o. O.] 2004, 284 Seiten, 14,95 Euro
„Gesangbuch raus, jetzt wird gesungen, und zwar nach Noten!“ Mit diesem Satz donnerte früher unser Mathematiklehrer sein Notenheft auf das Pult, ehe es ans Abfragen ging. Sicher nicht zufällig erinnert auch das vorliegende Songbook in
Format und Einband an ein Gesangbuch. Es enthält die Texte
aller 274(!) bis zum September 2004 geschriebenen Songs der
Ärzte. Von „1/2 Lovesong“ über „Claudia Teil 95“, „Grace Kelly“, „Mein kleiner Liebling“ und „Sweet sweet Gwendoline“ bis
„Zu spät“, alle in alphabetischer Reihenfolge und mit Hinweis
auf die Alben, auf denen sie erschienen sind, angeordnet. Zwischen den Texten sind zusätzlich die Gitarrengriffe angegeben,
die wiederum in einer ausklappbaren Grifftabelle am Ende des
Buches nachzufassen sind. Abgerundet wird das Buch von einer zweiseitigen Diskografie der Band.
Manische Fans der Besten Band der Welt (und gibt es andere?) haben das Buch, das bereits Ende 2004 erschien, sicher
schon längst. Seit April 2007 gibt es ergänzend das „Songbook
Gitarrentabulatur“ mit Musiknoten.
Andreas Kuttner
Dorothee Hackenberg: Kreuzberg.
Keine Atempause. Porträts.
jedoch bei Zusammenfassungen eher oberflächlicher Gespräche, und dass sich der immer noch politisch umtriebige ExBewegung-2.-Juni-Aktivist Ralf Reinders zu einer Teilnahme
bereit erklärt hat, überrascht doch etwas.
So gelingt das Vorhaben Hackenbergs, einen „bunten“
Berliner Stadtteil nachzuzeichnen, in dem der Künstler neben dem Ex-Terroristen lebt und alle auf ihre Art glücklich
werden können ...
Kurzweilige Unterhaltung, aber nicht mehr.
Andreas Kuttner
be.bra Verlag, Berlin 2007, 128 Seiten, 9,80 Euro
Neunzehn Porträts Kreuzberger Einwohnerinnen und Einwohner sammelt Dorothee Hackenberg, Programm-Managerin beim Berliner Radiosender radioeins, in Zusammenarbeit
mit ihrem Hauptarbeitgeber in diesem Taschenbüchlein, das
auf dem Weg in den Görlitzer Park oder ins Prinzenbad in
jedes Hand- oder Badetäschchen passen sollte.
Launige Unterhaltungen, u. a. mit Aziza A, Fritzi Haberland, Annette Humpe, Luci van Org, Walter Momper, Gerhard
Seyfried und Klaus Zapf werden geboten, über das vergangene wie auch das aktuelle Kreuzberg und was es der bzw. dem
Befragten bedeutet. Schön, dass dabei auch relativ junge Ereignisse wie die Diskussion um die Wrangelstraße zum Jahreswechsel 2006/2007 zur Sprache kamen. Im Ganzen bleibt es
Hans Nieswandt: Disko Ramallah und andere
merkwürdige Orte zum Plattenauflegen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 223 Seiten, 8,95 Euro
Wie haben wir uns das Leben eines House-DJs eigentlich
vorzustellen? Neigen wir zur positiven Verklärung, wenn wir
uns ein lockeres Leben von Montag bis Freitag ausmalen? Da
schläft der House-DJ immer lange und geht spät frühstücken,
phantasieren wir uns. Er trifft dabei die anderen coolen DJs
aus den anderen coolen Clubs, und sie reden über das letzte
coole Wochenende. Wer wieder wo was warum aufgelegt hat.
Wie der Club ein einziger vibrierender kreischender Körper
war. Wie die Crowd den DJ nicht gehen lassen wollte. Die Nadel in der Rille. Der frenetische Beifall beim letzten Track. Das
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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Sachbuch
absolute Glück. So „guuddee Laune“ like. Und gut bezahlt,
denken wir uns naiv, wird der DJ auch.
Oder, fragen wir uns, ein Knochenjob? Bandscheibenvorfälle vom Plattenkoffer schleppen als Berufskrankheit? Leere
Clubs mit mürrischem Publikum, das sich nur zur Peaktime
bewegen will und den DJ den Rest der Nacht gelangweilt anglotzt? Schlecht bezahlte Gigs zu unmöglichen Uhrzeiten für
Menschen mit Drogenproblemen und nach wenigen Jahren
ebenfalls mit Ohrenproblemen?
Der seit 15 Jahren aktive DJ, Musikproduzent und Popjournalist Hans Nieswandt klärt uns in seinem Buch „Disko
Ramallah“ endlich auf. Er erzählt von frustrierenden Gigs als
Hochzeits-DJ in Amsterdam, bei denen er gebeten wird, die
Lieder doch bitte bis zum Ende laufen zu lassen. Er berichtet
von dem Publikum der Clubs, bei dem er „es mit einer komplexen sozialen Gruppe zu tun hat, die im Lauf des Abends
erheblich mutiert und meist aus allen Fugen gerät“ und verrät
uns den Inhalt des „elektronischen Musterkoffers“.
Viele der 13 Kurzgeschichten behandeln aber weniger
die konkreten Momente an den Turntables. Viel mehr geht es
um die Wege und Umwege dorthin. So beschreibt er in „Von
Checkpoint zu Checkpoint“ eine Party- und Workshopreise
im Auftrag des Goethe-Instituts durch den Nahen Osten. Was
in Form von leichten Anekdoten daher kommt, schildert auf
spannende Weise das hochgradig widersprüchliche Leben in
Israel und in den palästinensischen Gebieten. Es sind diese
Momente der scharfen Beobachtung, verpackt in amüsanter
und ehrlicher Erzählweise, die das Buch von vielen anderen,
belanglos bleibenden Veröffentlichungen der Popliteratur unterscheidet.
Ralf Mahlich
Hartmut Brenneisen/Michael Wilksen/Michael
Martins (Hrsg.): Techno. Professionelles Einsatzmanagement von Polizei und Ordnungsbehörden
bei Veranstaltungen der Techno-Party-Szene.
Verlag Deutscher Polizeiliteratur, Hilden 2004,
285 Seiten, 19,90 Euro
Viel ist geschrieben worden über Techno. Die musikalische
Entstehung und Hintergründe von Kraftwerk bis Underworld
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
wurden erläutert, Soziogramme der Szene erstellt, unzählige
Bücher, Broschüren und Flyer zum Drogenkonsum verteilt, Biographien veröffentlicht und Hochglanz-Fotobände gedruckt.
In dem 2004 erschienenen Buch „Techno“ wird diese nunmehr zwanzig Jahre alte musikalische und soziale Bewegung
aus neuer Sicht beleuchtet, denn in diesem Buch werden Erfahrungen und Kenntnisse der Ordnungsbehörden im Umgang mit Events der Techno-Szene zusammengetragen.
Das Buch beginnt mit einer recht informativen Einführung
in die Entstehung der House- und Techno-Musik. Wichtige
Strömungen wie Disco, EBM, Chicago House, Detroit Techno, Gabba, Trance etc. werden in kurzen Kapiteln treffend beschrieben. Im zweiten Abschnitt widmen sich die AutorInnen
den Menschen in der Techno-Bewegung und ihren Gewohnheiten. Dabei liegt das Augenmerk der OrdnungshüterInnen
auf dem illegalisierten Drogenkonsum der Raver.
Eben dieser Drogenkonsum wird im Folgenden unter
stoffkundlichen, kriminalistischen und rechtlichen Aspekten
untersucht, und daraus ergeben sich für die AutorInnen die
polizeitaktischen Eingriffsmöglichkeiten bei Techno-Events.
Mit großem Enthusiasmus widmen sie sich präzise und
scharfsinnig den rechtlichen Bedingungen für die Einrichtung
von „Durchfahrtkontrollen“, „Verkehrskontrollen“, „Lagebild
abhängigen Kontrollen“, „Anhaltekontrollen“, „Kontrollen“
und der „Einrichtung von Kontrollstellen“.
Da sich die OrdnungshüterInnen sehr besorgt um das
Wohl der Teilnehmenden eines Techno-Events zeigen, diskutieren sie weitere spitzfindige Möglichkeiten zum Schutz
dieser jungen Leute. So wird der Einsatz einer „verdeckten
Videoüberwachung“ ebenso gewünscht und erläutert, wie
eine „Erstellung von Bewegungsbildern“. Selbstverständlich
sollten auch „Datenspeicherung und Errichtung von Dateien“ möglich sein.
Wem bei soviel Kontrolle dann doch der Spaß vergeht, sei
auf das siebte Kapitel verwiesen. Hier geht es unter anderem
um den Umgang der Ordnungsmacht mit nicht „angemeldeten Szeneveranstaltungen“. Dort ist zu lesen: „Je weiter die
Veranstaltung fortgeschritten ist, je mehr Teilnehmer sich eingefunden haben und je weniger sich die Polizei insbesondere
kräftemäßig auf die Lage einstellen konnte, um so schwieriger
ist es erfahrungsgemäß die Lage zu bewältigen.“
Sachbuch
REZENSIONEN
Soll heißen: Es bleibt für die Techno-Szene möglich, ihren
Spaß jenseits von Regulierung und Repression zu haben. Sie
muss nur ein wenig organisiert und schnell sein.
In diesem Sinne: Rave on!
Ralf Mahlich
Karin R. Fries/Peter H. Göbel/Elmar Lange:
Teure Jugend. Wie Teenager kompetent mit
Geld umgehen.
Verlag Barbara Budrich, Opladen/Farmington Hills 2007,
193 Seiten, 12,90 Euro
Welche Aspekte sind zu berücksichtigen, wenn man das Konsum- und Finanzverhalten von Kindern und Jugendlichen
beschreiben und erklären will? Wie verschulden sich Jugendliche?
Wie und in welcher Form sparen sie? Wie steht es um die
„Einnahmen“ der Kinder und Jugendlichen? Wie sehen die
Kauf- und Konsummuster im Allgemeinen und die für Handys im Besonderen aus? Welche Rolle spielt dabei die Werbung? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt des
Buches, welches ins Bewusstsein rücken möchte, wie Kinder
und Jugendliche im Alter von zehn bis 17 Jahren heutzutage
mit ihrem verfügbaren „Vermögen“ umgehen.
Grundlage für das Buch ist die wissenschaftliche Studie
„Jugend und Geld 2005“, die im Auftrag der SCHUFA Holding AG zwischen August 2005 und Februar 2006 unter Beteiligung der drei Autoren dieses Buches durchgeführt wurde.
Die wissenschaftliche Projektleitung lag bei Elmar Lange, Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Die Durchführung der empirischen Erhebungen lag beim IJF Institut für
Jugendforschung (seit 01.01.2006 Synovate Kids+Teens), unter der Leitung von Karin Fries, Research Director und Head
of Synovate Kids+Teens in München. Projektkoordinator war
Peter Göbel. Von den ca. 6,4 Mio. Kindern und Jugendlichen
der untersuchten Altersgruppe wurde eine repräsentative Auswahl von etwa 1000 zugrunde gelegt. Die Kinder und Jugendlichen wurden interviewt. Jeweils ein Elternteil wurde parallel
schriftlich befragt.
Insgesamt wird den Kindern und Jugendlichen ein hohes Maß an Finanzkompetenz bescheinigt. Mehr als vier
Fünftel von ihnen kommen mit ihren „Einnahmen“ auch regelmäßig aus. Wichtigster Einflussfaktor auf den Erwerb der
Finanzkompetenz ist die Familie, insbesondere „Erziehungsmaßnahmen“ und Vorbildverhalten der Eltern. Die Untersuchung der Ausgabenstruktur der Kinder und Jugendlichen
ergab relativ hohe und häufige Ausgaben für Speisen und
Getränke. Dabei zeigte es sich, dass die Jüngeren besonders
häufig und viel Geld für Süßigkeiten, die Älteren für Fastfood
ausgaben. Die Fastfood-Ausgaben standen überhaupt an der
Spitze bei den Verschuldungsanlässen.
Ein eigenes Kapitel ist dem „Spezialfall“ Handy gewidmet.
Ein Viertel bis zu einem Drittel ihrer „Einnahmen“ geben die
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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REZENSIONEN
Sachbuch
Kinder und Jugendlichen für das Handy aus. Die Autoren sind
der Meinung, dass sowohl die Eltern als auch die Kinder und
Jugendlichen durchaus in der Lage sind, die Handykosten effektiv zu kontrollieren. Die dafür zur Verfügung stehenden
Kontrollinstrumente seien auch bekannt, könnten aber teilweise noch umfassender ausgeschöpft werden. Mögliche Kontrollinstrumente sind Prepaid-Karten, welche bei etwa vier
Fünfteln aller Mobilfunktelefone zum Einsatz kommen, eine
Begrenzung der Höhe des aufladbaren Guthabens, die Sperrung besonders teurer Rufnummern oder die Wahl eines Vertrags ohne monatliche Grundgebühren. Eine effektive Kostenkontrolle durch den Verbraucher ist also möglich und wird von
den Kindern und Jugendlichen grundsätzlich auch genutzt, so
das Resümee. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt,
dass die vorliegende Studie die weit verbreitete These, dass
Handys eines der Hauptprobleme bei der Verschuldung von
Kindern und Jugendlichen darstellen, widerlegt. Nur bei weniger als einem Prozent aller Kinder und Jugendlichen übersteigen die Ausgaben für Mobiltelefone deren Einnahmen.
Den Autoren gelingt es, die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse allgemeinverständlich darzustellen. Zum besseren
Verständnis stehen dem Leser zahlreiche Tabellen, Grafiken
und Abbildungen zur Verfügung. Regelmäßig kommen auch
die Jugendlichen selber „zu Wort“, indem Auszüge aus den Interviews nachgelesen werden können. Es ist hervorzuheben,
dass es den Autoren nicht zuletzt darum geht, pädagogische
Ansätze zu vermitteln. Den „abweichenden Konsummustern“
(bis hin zur Kaufsucht) von Kindern und Jugendlichen gilt es
präventiv oder intervenierend zu begegnen. Finanz- und Konsumkompetenz der Kinder und Jugendlichen werden als Teil
einer umfassenderen Kompetenz zu selbständigem und kooperativem Verhalten angesehen, die es zu stärken gilt. Dieser
pädagogische Ansatz wird durch den Anhang konkretisiert, in
dem jeweils zehn Tipps für Eltern und für Kinder und Jugendliche für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Geld
gegeben werden. Außerdem wird speziell für Lehrerinnen
und Lehrer auf eine Reihe von Projekten verwiesen, die der
Förderung der Wirtschafts- und Finanzkompetenz von Schülern dienen. Eine ausgewählte Linkliste verweist auf grundlegende und weiterführende Internetadressen.
Martin Pickelmann
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Tory Czartowski: Die 500 bekanntesten Marken der
Welt. Ein populäres Lexikon von Adidas bis Zippo.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 400 Seiten, 22,90 Euro
Tory Czartowski ist Wirtschaftsjournalist und als freier Autor
tätig. In „Die 500 bekanntesten Marken der Welt“ beschreibt
er die Geschichte sowie interessante und amüsante Details von
– nein, nicht 500 – sondern 315 weltweit bekannten Marken.
Zumindest besteht das Lexikon aus 315 Artikeln, in denen jedoch oft auch Mutterkonzern und verwandte Marken erwähnt
werden, was die Markenanzahl etwas erhöht. Die meisten Artikel sind mit den Logos der Stichwort-Marke, gegebenenfalls
auch des Mutterkonzerns und der Schwestermarken, illustriert und locker geschrieben. Die einzelnen Beschreibungen
haben auch einen meist recht plakativen (Unter-)Titel, z. B.
Afri-Cola – „Die Hippie-Brause“, Pepsi – „Der ewige Zweite“
oder BMW – „Aus Freude am Rasen“.
Auch wenn es sich bei den Artikeln im Allgemeinen eher
um Kurzabrisse handelt, ist ihr Umfang doch recht unterschiedlich. Da schlagen Apple und Mercedes mit circa viereinhalb Seiten zu Buche, während viele andere Marken knapp
eine halbe Seite einnehmen. Ob diese Schwerpunktsetzung im
Interesse des Autors oder in der Schwierigkeit der Informationsbeschaffung begründet liegt, die sich primär auf firmeneigenes Material sowie eine überschaubare Liste an externen
Büchern und Zeitschriften stützt, erfährt man nicht. Was man
ebenfalls nicht erfährt, ist, warum genau diese Marken ausgewählt wurden – klar, Coca-Cola – „Die bekannteste Marke
der Welt – sollte schon vertreten sein, aber warum ausgerechnet Bärenmarke und Schweppes? Im amüsant geschriebenen
Vorwort bemerkt der Autor zwar, dass sein Lexikon keinen
Anspruch auf Vollständigkeit erhebe und dass „bei der Auswahl […] vor allem so genannte Consumer-Marken im Vordergrund [standen], die bei den Konsumenten einen hohen
Bekanntheitsgrad haben“, aber wie diese genau ausgewählt
wurden, bleibt leider im Dunkeln. Das ist jedoch zu verschmerzen, wenn man bedenkt, dass es sich bei Czartowskis
Buch um ein populärwissenschaftliches Lexikon und nicht
um eine Dissertation handelt.
Alles in allem ist das Werk ein kurzweiliges Lesevergnügen, in dem man beispielsweise erfährt, dass es sich beim
Sachbuch
AGFA-Mitgründer Paul Mendelssohn-Bartholdy tatsächlich
um einen Sohn des berühmten Komponisten handelt, dass
Walt Disney wohl keine der Disney-Figuren selbst erfunden
hat, dass die Tabakfirma Lucky Strike von einem Arzt gegründet wurde und dass William Wrigley Jr. anfangs Seife und
Backpulver verkaufte, wobei die Kaugummis nur Werbegeschenke waren. Das Buch ist eine wahre Fundgrube für Informationen, die man auf einer Party oder im Kreis von BWLStudierenden sicher Gewinn bringend verwenden kann.
Anne Hagemann
Peter Schmerenbeck (Hrsg.):
„Break on through to the other side“. Tanzschuppen,
Musikclubs und Diskotheken in Weser-Ems.
Katalog zur Sonderausstellung im Schlossmuseum
Jever vom 1.9.2007 bis 27.4.2008 (Kataloge und
Schriften des Schlossmuseums Jever 27).
Isensee Verlag, Oldenburg 2007, 239 Seiten, 19,80 Euro
In diesem reichhaltig und größtenteils vierfarbig illustrierten
Buch geht es um die Orte und Räume, in denen vorrangig jugendliche AkteurInnen Rockmusik als Leitmedium ihres Habitus ausleben konnten. Rock ist Mitte der 1960er-Jahre noch
ein halbwegs dissidentes Mittel, und die ersten Beatschuppen
sind zweckentfremdete Tanzsäle in Landgaststätten, die temporär für einen Nachmittag (die Konzerte beginnen oft schon
um 16 und enden um 21 Uhr) oder auf Dauer umgenutzt werden. Einige, wie etwa das 1977 geschlossene „Scala“, sind nur
200 Quadratmeter groß.
Sie heißen „Voom Voom“, „Etzhorner Krug“, „Ede Wolf “
oder „Fizz Oblion“ und sind in ganz Nordwestdeutschland
bekannt. Dahinter verbergen sich die ersten Diskotheken, die
sich teilweise aus den Beatschuppen heraus entwickeln, in denen in der Regel aber noch zu Live-Musik getanzt wurde. Von
Diskotheken, dem Gegenstand dieses Begleitbandes, spricht
man erst ab Anfang der 1970er-Jahre, vorher waren Live-Auftritte von Beatbands die Regel, die nur Cover-Versionen aus
der aktuellen Hitliste (nach)spielten, oft ohne den Text wirklich zu kennen.
Die einzelnen, insgesamt 14 Beiträge erzählen nun die
Geschichte einzelner Städte und Regionen (Wilhelmshaven,
REZENSIONEN
Oldenburg) oder einzelner Einrichtungen nach, vor allem die
Stätten, die einer „progressiven Diskotheken-Szene“ zuzuordnen wären, werden in den Blick genommen. Die Autoren
sind in der Regel Zeitzeugen, die sich auch in etlichen der von
ihnen beschriebenen Einrichtungen aufgehalten haben. Sie
und die anderen BesucherInnen von Tanzlokalen oder auch
Beatkonzerten waren damals AnhängerInnen einer zusehends
massenmedial bearbeiteten Minderheit. Der Beat und Rock
kam vor allem über das Radio der britischen Streitkräfte in
die kulturelle Diaspora, später kam das Fernsehen hinzu. Die
Diskjockeys, die die besten Kontakte zu den in Holland oder
Hamburg ansässigen Importeuren von Platten hatten, besaßen
einen Vorteil. Weitere Beiträge behandeln das Verhältnis von
Jazz- und Rockfans in den 1950er-Jahren in Oldenburg oder
die Entwicklung in der Medien- und Lichttechnik und deren
Auswirkungen auf die Diskotheken.
Das Buch lebt von seinem Nostalgiefaktor, der von seinen popsozialisierten LeserInnen wohl sehr gerne angenommen wird.
Es enthält eine Unmenge an Daten, sein analytischer Gehalt
ist aber überschaubar und entspricht dem eines Ausstellungskataloges. Die Inhaber der Diskotheken zum Beispiel werden
zwar namentlich genannt, bleiben aber seltsam blass. Wer waren sie? Hatten sie eine politische oder kulturelle Mission, wie
es bei der Beschreibung einiger, vor allem von Meta Rogall,
der Gründerin von „Metas Musikschuppen“ in Norddeich
anklingt, oder waren sie vor allem toughe Geschäftsleute mit
dem richtigen Riecher? Oder beides? Waren diese Orte wirklich solche der kulturellen Dissidenz oder vor allem solche der
subkulturellen Vergesellschaftung?
Schmerenbeck ist ein wichtiger Beitrag zur Erstellung
einer popmusikalischen Topographie Nordwestdeutschlands
gelungen, wie ja Pop- und Jugendkulturen im Herbst 2007
im Vorklapp zu „40 Jahren 1968“ in der nordwestdeutschen
Ausstellungslandschaft öfter vertreten waren: Im Oldenburger Landesmuseum gab es eine große Ausstellung mit Fotos
des mittlerweile 66-jährigen Günter Zint samt dazugehöriger
Publikation, und in Bremen-Vegesack die kleine Ausstellung:
„Wilde Zeiten – Musik, Lebensgefühl, Zeitgeschichte“.
Bernd Hüttner
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Sachbuch
Michael H. Kater: Hitlerjugend.
Aus dem Engl. v. Jürgen Peter Krause, Primus Verlag, Darmstadt 2005, 288 Seiten, 24,90 Euro
Der bis zu seiner Emeritierung an der York University in Toronto lehrende Historiker Michael H. Kater ist ein profunder
Kenner der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands. Von ihm stammen „The Nazi Party“ (1983) und Untersuchungen wie „Studentenschaft und Rechtsradikalismus“
(1975), die Studie über Jazz im Nationalsozialismus „Gewagtes
Spiel“ (1995), „Das ‚Ahnenerbe‘ der SS“ (2001) und „Ärzte als
Hitlers Helfer“ (2000), um nur eine kleine monographische
Auswahl zu nennen. Zu seinem Renommee haben auch seine
Aufsätze, z. B. zur Soziographie der NSDAP, zum NS-Studentenbund, über die „Ernsten Bibelforscher“ oder die bürgerliche
Jugendbewegung und Hitler-Jugend, beigetragen. Die neue
Studie zu dem viel diskutierten Thema „Hitler-Jugend“ basiert
auf den genannten und weiteren Arbeiten. Bei ihr handelt es
sich um die Übersetzung der englischsprachigen Ausgabe von
„Hitler Youth“ von 2004. Sie gibt einen Überblick, der auf zeitgenössischen Veröffentlichungen, Zeitzeugen- und Sekundärliteratur sowie Materialien einschlägiger Archive beruht.
Die Arbeit ist in vier Hauptkapitel untergliedert, die eingeleitet und abschließend zusammengefasst werden: Sie beginnt
mit der Überschrift „Macht Platz, Ihr Alten!“ und thematisiert
eingangs die Erinnerungen von ehemaligen Hitler-Jungen und
BDM-Mädchen. Es wird nach den Erwartungen der „hoffnungsvollen Anfänge“ 1933 gefragt und den Enttäuschungen
am „katastrophalen Ende“ 1945. Den Kindern und Jugendlichen sind nationalsozialistische Werte vermittelt worden und
das Gefühl, das neue „junge Deutschland“ zu verkörpern.
Der Historiker geht dann ausführlich auf den Dienst in
der Hitler-Jugend, Monopolisierungs- und Uniformitätsbestrebungen sowie Schulungs-, Disziplin- und Führungsprobleme vor Beginn des Zweiten Weltkrieges ein. Die Darstellung der Organisationsgeschichte der NS-Jugendorganisation
schließt die teilweise sehr gewalttätigen Auseinandersetzungen mit gegnerischen Gruppierungen ein. Angesprochen wird
die „chronisch unzulängliche Rekrutierung von HJ-Führern“
(S. 53) und das „Fehlen fähiger Führungspersönlichkeiten“,
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
was sich als ein dauerhaftes Problem gezeigt hat. Die HitlerJugend habe sich als „korrupt und verdorben“ (S. 54) gezeigt
und es soll „immer wieder auch HJ-Führer und -Führerinnen“
gegeben haben, „die ihre Sexualität im Dienstzimmer auslebten“ (S. 54). Hier und an vielen anderen Stellen entsteht der
Eindruck, dass Kater eine Sexualchronik der Hitler-Jugend
schreiben wollte: Es ist häufig von „homosexuellen Handlungen“ (S. 50), „sexuellem Verkehr“ (S. 64), „sexuell aktiven
weiblichen Teenagern“ (S. 94), „freizügige[r] Einstellung zur
Sexualität“ (S. 120), „sexuellen Aktivitäten“, „Gruppensex“
sowie „weitschweifigen Orgien“ (S. 127), „schlüpfrigen Witzen“ (S. 174) und ähnlichen, sexuell konnotierten Themen die
Rede. Ein weiteres Beispiel: „Für deutsche Mädchen und Frauen besaß Hitler eine sexuelle Anziehungskraft wie heutzutage
ein internationaler Rockstar.“ (S. 93)
In dem Kapitel über Mädchen im Dienst der NS-Politik
geht Kater zunächst ausführlich auf die Entstehung und das
Wirken des Bundes Deutscher Mädel (BDM) im Frieden ein
und widmet sich dann den besonderen Herausforderungen
im Zweiten Weltkrieg. Eine große Rolle spielt die Eugenik als
„Rassenpflege“.
Bevor Kater auf „Hitlers Jungen und Mädel an der Front“
zu sprechen kommt, wird auf die „Dissidenten und Rebellen“
eingegangen: Er untersucht unterschiedliche Formen des Dissidententums von der individuellen Absage an die Hitler-Jugend bis zu subkulturellen oppositionellen Jugendgruppen,
wie Blasen, Meuten, Edelweiß-Piraten, Swing-Jugend usw. Es
ist auffällig, dass oppositionelle Aktivitäten von sozialistischen
und kommunistischen Gruppen als Marginalien behandelt
werden. Es kommt zwar zur Erwähnung einer „Antifaschistischen Jungen Garde (Antifa), der Jugendorganisation des
kommunistischen Rotfrontkämpferbundes“ (S. 12) – gemeint
ist offensichtlich die „Rote Jungfront“ – mit dem Bezug auf
Straßenkämpfe in der Weimarer Republik, aber eine angemessene Darstellung des antifaschistischen Widerstandes der
deutschen Arbeiterjugend gegen das NS-Regime bleibt aus. Er
beschreibt, wie die „Zügelung der widersetzlichen Jugend“ (S.
128) durch den NS-Staat und die Hitler-Jugend durch hartes
Durchgreifen des Streifendienstes der Hitler-Jugend (einer
Art jugendlicher Polizei), der Geheimen Staatspolizei und Justiz u. a. Institutionen erfolgte. Dazu gehört die Schaffung der
Sachbuch
„Jugendschutzlager“ genannten Jugend-Konzentrationslager
Moringen und Uckermark.
Im Zweiten Weltkrieg wandelt sich bei vielen Jugendlichen die Begeisterung zur Ernüchterung. Der Glaube an den
Endsieg löst sich in Luft auf und kostet Tausenden von Hitler-Jungen das Leben, die als Flakhelfer und Angehörige von
Volkssturmbrigaden, HJ-Panzerabwehrdivisionen, HJ-Bataillonen, der SS-Panzerdivision „Hitler-Jugend“ oder von Werwolf-Kommandos kämpften.
Zu den ausführlich dargestellten Themen Katers gehört
der „Verrat an Mädchen und Frauen“, die im Zweiten Weltkrieg als Stabs-, Marine-, Schwestern-, Luftwaffen- und Nachrichten- und Wehrmachtshelferinnen zum Kriegseinsatz
gekommen sind und dadurch zu „Komplizinnen Hitlers“ (S.
199) geworden seien. Es soll sogar ein „Todesbataillon“ junger Mädchen „mit rot angemalten Lippen“ (S. 203) gegeben
haben. Katers „Leidenschronik“ (S. 205) der Mädchen und
Frauen endet nicht mit den Massenvergewaltigungen durch
alliierte, überwiegend sowjetische, Soldaten. Viele Mädchen
und junge Frauen gerieten in Gefangenschaft, kamen in den
GULAG und fanden den Tod.
Zum Abschluss seiner flüssig geschriebenen und etwas essayistischen Darstellung kommt Kater auf die „Verantwortung
der Jugend“ zu sprechen. Er konstatiert, das „Schweigen über
die Vergangenheit“ habe einen „Betäubungszweck erfüllt“ (S.
226). Erst im Alter fanden manche sich bereit, sich den Erinnerungen zu stellen.
Angesichts der bis in die jüngste Zeit anhaltenden Forschungen zur Hitler-Jugend, von denen Kater manche wichtige Publikation ausweislich der 54 Seiten Anmerkungen nicht
berücksichtigt hat, fällt das Urteil differenziert aus: Das Buch
ist ein brauchbarer Überblick eines ausgewiesenen Zeithistorikers, der aus dem Fundus eigener Veröffentlichungen schöpft.
Es ist ein anschaulicher lebens- und organisationsgeschichtlicher Überblick zur Hitler-Jugend und zum Bund Deutscher
Mädel mit dem Fokus auf der Frage der Verantwortung entstanden. Die Studie ist ein interessantes Diskussionsangebot,
fordert zur Auseinandersetzung auf und provoziert.
Leider lässt sich Kater manches Mal zu allzu pauschalen
und manchmal fragwürdigen Verallgemeinerungen verleiten. Einige Aussagen sind nicht quellenmäßig belegt. Häufig
REZENSIONEN
werden verallgemeinernde Aussagen mit einem einzigen Beispiel belegt. Dazu eine Illustration: Mit Bezug auf ein Urteil des
Amtsgerichts München 1941 behauptet Kater, dass Handfeuerwaffen „damals von HJ-Führern routinemäßig an Hitlerjungen
ausgegeben“ wurden (S. 32). Die Darstellung mutet stellenweise wie eine Sexualchronik der NS-Jugendorganisationen an.
Kater hat einen Hang zur Personalisierung des Namensgebers.
So gibt fast keine Seite ohne Nennung Hitlers bis hin zu der Behauptung, dass „Hitler vielen jungen Menschen wie ein Vater
oder älterer Bruder erschien“ (S. 15). Leider hat Kater auf ein
gesondertes Quellenverzeichnis verzichtet. Das umfangreiche
Personenregister ist nur ein ungenügender Ersatz.
Kurt Schilde
Peter Longerich: Die Geschichte der SA.
Verlag C.H. Beck, München 2003; 298 Seiten, 14,90 Euro
Das Buch „Die Geschichte der SA“ gilt als ein Standardwerk
über die „braunen Sturmbataillone“, wie SA-Chef Ernst Röhm
im Juni 1933 seine SA-Verbände nannte. Peter Longerichs
Werk erschien schon 1989, eine leicht ergänzte Neuauflage
erschien 2003. Interessant ist das Buch heute gerade deswegen, weil viele Neonazi-„Kameradschaften“ sich als eine Art
SA-Orts- bzw. -Regionalgruppe verstehen oder zwecks Eigendefinition Umschreibungen aus dem Jargon der NSDAP„Sturmabteilung“ nutzen. Durch den fortschreitenden Schulterschluss zwischen „Kameradschaften“ – die sich teils als
„Räumkommando“ der NPD ansehen – und NPD – die wiederum „Kameradschaften“ als „Ordnerdienst“ akquiriert
– liest sich das Buch heute aktueller denn je.
So hatte NPD-Parteichef Udo Voigt vor zwei Jahren gesagt, man arbeite mit den „Kameradschaften“ zusammen, weil
deren Mitglieder „junge, aktionistische Leute [sind], die etwas
verändern wollen und bereit sind, ein persönliches Risiko zu
tragen. Wir holen sie von der Straße runter.“ Außerdem brauche die NPD „Leute, die nicht umknicken, wenn der Sturm
wieder ansetzt“. Diese Argumentation trifft sowohl als eine
Art Rückblick auf die SA-Politik zu, als auch auf aktuelle „Kameradschaften“, die im Schulterschluss mit der NPD stehen.
Die NSDAP sprach einst von dem „Ordner- und Aufklärungsdienst der Bewegung“ – die NPD spricht heute von ihrem
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REZENSIONEN
Sachbuch
„Ordnerdienst“, im Umfeld der „Kameradschaften“ sammeln
„Anti-Antifa-Aktivisten“ Daten über ihre politischen Gegner.
Einst war die SA nicht nur „Saalschutz“ von NSDAP-Veranstaltungen, sondern ebenso Störtrupp bei Veranstaltungen
des politischen Gegners – auch derlei passiert heute immer öfter, wenn auch meist noch gewaltlos. Die SA unterhielt in den
1930er-Jahren „Sturmlokale“, in denen sowohl gefeiert wurde,
aber ebenso politische Bildung stattfand. Auch wenn es derlei
heute in Deutschland noch selten gibt, versucht sich gerade
die NPD daran, Gaststätten für ihre Zwecke zu nutzen oder
diese unter eigener Leitung zu führen, „Kameradschaften“
sind dabei gern gesehene Gäste oder sogar Protagonisten.
Überdies schienen sich weder die SA, noch scheinen sich
Teile der heutigen, als militant und gewaltbereit eingestuften
„Kameradschaften“ sonderlich um das geltende Gesetz zu
scheren: Bei der SA war der Typ „Rabauke“ hoch angesehen,
der „das Leben kennt und [...] auch mit der Faust zu schreiben
versteht,“ zitiert Longerich aus einer Berliner Parteichronik –
Longerich meinte wohlgemerkt nicht die „Kameradschaften“
oder „Ordner“ der NPD, skizziert Teile der heutigen Mitgliedschaft ebenda jedoch erstaunlich präzise.
Michael Klarmann
Andreas Huettl/Peter-Robert König:
Satan – Jünger, Jäger und Justiz. Andreas
Huettl im Gespräch mit Peter-R. König.
Kreuzfeuer Verlag, Großpösna 2006, 416 Seiten, 18 Euro
Satan alias Luzifer hat Konjunktur. Der Fürst der Finsternis
und Engel des Lichts in Personalunion fasziniert auch in heutiger Zeit Heerscharen an Jüngern, Religionswissenschaftlern,
Weltanschauungs- und Sektenbeauftragten, Journalisten und
Buchautoren. So kam es in den vergangenen fünfundzwanzig
Jahren zu einer Fülle an Veröffentlichungen zum Thema Satanismus, sowohl im angloamerikanischen als auch im deutschsprachigen Sprachraum, die jedoch in qualitativer Hinsicht
oft immense Unterschiede aufwiesen. Ein nicht geringer Teil
dieser Publikationen behandelte die Thematik vorrangig unter dem Aspekt einer ausführlichen Schilderung von sexuellem Missbrauch und anderer Gewaltverbrechen innerhalb
„satanistischer Zirkel“, bzw. „Orden“. Nach Angaben diverser
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
einschlägiger Autoren werden derartige Straftaten einschließlich der Opferung von Menschen allein in Deutschland jährlich in hoher Zahl begangen.
Der in Leipzig tätige Rechtsanwalt Andreas Huettl befasst
sich seit Jahren mit der Problematik der Verifizierung von Ritualmordbehauptungen und anderen, für den Bereich des Satanismus typischen Anschuldigungen, die oftmals mit keinem
oder nur mangelndem Beweismaterial vorgebracht werden.
Das vorliegende, in zwei Teile gegliederte Buch ist das vorläufige Ergebnis seiner ausführlichen Recherchen. Ursprünglich
nur als Vorwort zu dem im zweiten Teil abgedruckten Dialog
mit Peter-R. König gedacht, bemüht sich Huettl im ersten Teil
erfolgreich um eine repräsentative Auswertung des ihm zur
Verfügung stehenden Materials.
Gemäß seinem beruflichen Ethos geht Huettl mit bloßen
Mutmaßungen und immer wiederkehrenden Behauptungen
hart ins Gericht und scheut sich im Gegensatz zu anderen
Autoren nicht, auch bei den jeweiligen Landeskriminalämtern
sowie dem Bundeskriminalamt und dem Bundesnachrichtendienst diesbezügliche Auskünfte einzuholen. Laut Huettl
verneinte der von ihm zu der Frage eines oft angeführten Zusammenhangs zwischen internationaler Organisierter Kriminalität und satanistischen bzw. okkulten Gruppen konsultierte
BND jegliches Vorliegen entsprechender Erkenntnisse. Seitens
des BKA und der Landeskriminalämter wurde Huettl die Auskunft zuteil, dass nennenswerte Informationen und Hinweise
bezüglich satanistisch motivierter Straftaten nicht vorlägen.
Im weiteren Verlauf seiner Studie befasst sich Huettl mit
den einer größeren Öffentlichkeit bekannt gewordenen Fällen
wie dem „Satansmord von Sondershausen“ und dem „Satansmord von Witten“ und zitiert aus den Ausführungen der jeweils
mit den umfangreichen Ermittlungen befassten Staatsanwaltschaften wie auch den entsprechenden Gerichtsentscheiden,
welche in jedem der angeführten Fälle eine Zugehörigkeit der
Täter zu einer organisierten satanistischen Gruppierung in Abrede stellten. Die Schwierigkeit, weit verbreiteten und immer
wieder genährten diesbezüglichen Vorurteilen trotz sauberer
Recherche die Nahrung zu nehmen, wird von Huettl unter
Hinweis auf die viel zitierte „Arkandisziplin“ okkulter Gruppen geschildert, nach der Mitglieder eines Kultes angehalten
sind, zu keinem Zeitpunkt Interna gegenüber Außenstehenden
Sachbuch
mitzuteilen. Nach Ansicht gewisser Autoren begünstigt eine
strikte Arkandisziplin, durchgesetzt angeblich auch mittels
Bedrohung und Gewaltanwendung, nicht nur das Verschleiern von Straftaten, sondern verhindert ferner eine Aufklärung
derselben durch die Polizeibehörden. Eine derartige Argumentation öffnet den wildesten Spekulationen naturgemäß Tür und
Tor und so verwundert es nicht, dass der Jurist Huettl dieses
Argumentationsmuster eingehend analysiert.
Des Weiteren wird die Geschichte der Ritualmordbeschuldigungen gegenüber marginalen gesellschaftlichen Gruppen
seit der Antike von Huettl einer ausführlichen Betrachtung
unterzogen. Huettl weist unter anderem darauf hin, dass den
frühen Christen ebenfalls vorgeworfen wurde, Kinder zu opfern und deren Blut während des Abendmahles zu trinken.
Ähnliche Anschuldigungen wurden seit Beginn des Mittelalters bis heute gegenüber Juden erhoben. Die Ritualmordvorwürfe an deren Adresse sind Legion und ähneln in ihrer
Beweisführung oft frappierend den Verdächtigungen, denen
okkulte Gruppierungen ausgesetzt sind.
Der zweite, umfangreichere Teil des Buches ist dem per EMail geführten Dialog des Verfassers mit Peter-Robert König,
seines Zeichens Experte auf dem weiten Feld der okkulten Orden und Gruppierungen, gewidmet. Der Schweizer Ethnologe
und Psychologe König ist als Verfasser und Herausgeber von
rund einem Dutzend Büchern über okkulte Bünde bekannt
geworden und gilt wohl zu Recht als schillernde Person. König publizierte seine Detail verliebten Werke bislang vorrangig
bei der von dem evangelischen Theologen Friedrich-Wilhelm
Haack im Jahr 1965 gegründeten Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen (ARW) in München, die
sich unter anderem um die Veröffentlichung seltener und seltenster Primärquellen verdient gemacht hat.
Königs Spezialgebiet ist allerdings genau genommen nicht
der Satanismus mit all seinen Spielarten, sondern der „Ordo
Templi Orientis“ (O.T.O.), ein ursprünglich deutscher Orden,
dessen internationales Oberhaupt im Jahre 1925 der englische
Okkultist Aleister Crowley wurde, der noch heute bei vielen
fälschlicherweise als Begründer des modernen Satanismus
gilt. Crowleys hedonistischer Lebensstil und seine für Uneingeweihte oft missverständlichen Äußerungen und Praktiken
festigten diesen Ruf, der ihm schon zu Lebzeiten vorausging.
REZENSIONEN
Der O.T.O. wie auch die „Fraternitas Saturni“ und verwandte Orden werden von etlichen Autoren oft wider besseres
Wissen dem „organisierten Satanismus“ zugerechnet, und insofern nimmt es nicht Wunder, dass Huettl als Gesprächspartner auf König verfiel. Obwohl der Satanismus als eigentlicher
Schwerpunkt des Buches nie völlig in den Hintergrund gerät,
ist zu erkennen, dass Königs Forschungen in der Vergangenheit vorzugsweise dem O.T.O. als gesellschaftlichem Phänomen galten. So vermisst man zum Beispiel jegliche Ausführungen zur „Church of Satan“ oder dessen Ableger „Temple
of Set“, beides Organisationen, die immer wieder unberechtigterweise in Zusammenhang mit satanistisch motivierten
Straftaten gebracht wurden und werden.
Trotz dieser gewissen Verengung des Fokus stellt auch der
zweite Teil des Buches für jeden an diesem Sachgebiet Interessierten eine wahre Fundgrube dar. Huettl behandelt eingehend
die justiziablen Aspekte des Themas, während König erschöpfend Auskunft über okkulte Orden und deren Angehörige gibt
und dabei auch nicht mit lesenswerten Anekdoten geizt. Die
präsentierte Fülle an Informationen ist, wie immer bei Königs
Werken, äußerst bemerkenswert – ein umfangreiches Register
jedoch wäre zweifelsohne von großem Nutzen gewesen.
Huettl und König haben mit dieser gemeinsamen Veröffentlichung ein Werk geschaffen, das auf dem deutschsprachigen Buchmarkt seinesgleichen derzeit nicht findet. Die Veröffentlichung ist nicht frei von Mängeln, und der über weite
Strecken lockere Stil des Dialogs wird gewiss nicht jeden Leser ohne weiteres ansprechen. Die generell unkonventionelle
Form sollte jedoch nicht über das ernsthafte Bemühen beider
Autoren hinweg täuschen, dem Leser ein fundiertes Hintergrundwissen zum Thema zu offerieren und ihn so in die Lage
zu versetzen, Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden.
Arvid Dittmann
Bernd Hüttner (Hrsg.):
Verzeichnis der Alternativmedien 2006/2007.
Zeitungen und Zeitschriften.
AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2006, 216 Seiten, 18,00 Euro
Bernd Hüttner, Politikwissenschaftler, Publizist und Gründer
des Archivs der sozialen Bewegungen, legt mit dem „Verzeichnis
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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134
REZENSIONEN
Sachbuch
der Alternativmedien 2006/2007. Zeitungen und Zeitschriften“ ein fundiertes Nachschlagewerk über heutige alternative
Printmedien in Deutschland vor. Die Veröffentlichung gliedert sich in einen gut hundertseitigen redaktionellen Teil und
in einen Adressteil mit 52 Seiten. Im Anhang findet sich eine
Materialsammlung zu alternativen Medien mit einigen Literaturvorschlägen und nützlichen Verweisen auf Online-Dokumente und Datenbanken.
Die Alternativmedien, die in Westdeutschland in den
1960er- und 1970er-Jahren entstanden, entwickelten sich aus
einer Unzufriedenheit vieler Menschen mit den damals etablierten Medien und erhielten wichtige Impulse aus der Studentenbewegung und den neuen sozialen Bewegungen. In
selbstverwalteten, dezentralen, demokratisch organisierten
und ökonomisch autarken Redaktionskollektiven versuchten
die dort aktiven Menschen, mit den von ihnen produzierten
alternativen Medien, von Print über Radio bis hin zu TV, eine
Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Darüber hinaus gehörte es
zu den erklärten Zielen der alternativen Medienmacher, die
Trennung zwischen Kommunikator und Rezipient so weit
wie möglich aufzuheben und stattdessen ein neues ZweiWege-Kommunikationsmodell durchzusetzen, das mediale
Kommunikation von beiden Seiten aus ermöglicht und mit
Interaktionsmöglichkeiten verbindet. In der „ersten Generation“ deutscher alternativer Printmedien, die Hüttner in den
Zeitraum der 1970er- bis 1990er-Jahre verortet, existierte eine
Vielzahl von Initiativzeitungen, Volks- und Szeneblättern, Tageszeitungen, Stadtmagazinen, Fachzeitschriften, Meinungs-,
Verbands- und Parteiorganen sowie von Theorie- und Wissenschaftstiteln. Ernüchternd dagegen stellt sich die heutige
Situation alternativer Printmedien dar. Hüttner diagnostiziert
in seinem redaktionellen Beitrag: „Die Szene der alternativen
Stadtzeitungen, die als die klassischen alternativen Medien
gelten, ist tot. […] Es scheint jenseits von kleinen subkulturellen Szenen, den Fachzeitschriften und Meinungsorganen
keine relevanten alternativen Printmedien mehr zu geben.
[…] Das Segment der ‚Alternativpresse’ hat seine Bedeutung
eingebüßt, alternative Medienarbeit mit Printmedien hat gegenwärtig für das Erreichen einer auch nur marginalen Öffentlichkeit geringe Bedeutung“ (S. 17 f.). Hüttner bezieht sich
hier auf Ergebnisse seiner eigenen Recherchen zur Erstellung
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
eines Adresskatalogs alternativer Printmedien. Der Bedeutungsverlust zeige sich vor allem in dem starken Rückgang
der Titel. Zahlreichen Einstellungen alternativer Printmedien
steht heute eine relativ geringe Anzahl an Neugründungen
gegenüber (S. 191). Festzustellen sei außerdem eine räumliche Zentralisierung der alternativen Printmedien in den
großen Medienstädten Deutschlands (S. 18 und S. 191). Auch
die inhaltliche Schwerpunktsetzung befinde sich im Wandel.
Während laut Hüttner die Themen Demokratie, Ökologie und
Internationalismus in alternativen Presseorganen immer noch
präsent und bedeutsam sind, werden Geschlechterthemen,
Frieden und Antimilitarismus heute inhaltlich weitgehend
ausgespart (S. 18). Die Krise der alternativen Printmedien
wird laut Hüttner durch mehrere Faktoren begünstigt: Erstens seien viele alternative Blätter durch das Medium Internet abgelöst worden, dass „die angestrebte Zwei-Wege-Kommunikation […] besser [umsetzt] als es jemals alternativen
Printmedien gelungen ist“ (S. 18). Darüber hinaus seien im
Internet die Produktions-, Material- und Vertriebskosten wesentlich günstiger als im Printbereich. Hinzu käme zweitens
die Krise des linken Buchhandels. Mit der Schließung vieler
linker Buchläden seien für viele Menschen die Möglichkeiten
geschwunden, alternative Medienprodukte überhaupt wahrzunehmen und zu kaufen (S. 19). Drittens seien heute weniger
Menschen bereit oder in der Lage, ehrenamtlich an einem alternativen Printmedium mitzuwirken.
Die Angaben im Adressteil des Verzeichnisses gehen auf
das Archiv des Informationsdienstes zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (ID-Archiv) in Amsterdam zurück,
das in den 1990er-Jahren der Zeitschrift Contraste in Heidelberg eine dokumentierte Liste mit den Adressen alternativer
Medien überließ. Contraste wiederum stellte Anfang 2006
Hüttner diese Daten zur Verfügung, die er in der Folgezeit
in Kleinarbeit sortierte, nach „Karteileichen“ durchforstete
und um Neugründungen ergänzte. Im Juni 2006 versandte
Hüttner außerdem an 521 Adressen alternativer Printmedien
einen Fragebogen, die Rücklaufquote betrug ca. 50 Prozent.
Insgesamt stellt das sehr übersichtlich gestaltete „Verzeichnis alternativer Medien 2006/2007“ 455 Adressen alternativer Printmedien zur Verfügung, wobei 375 Adressen „entweder durch einen ausgefüllten Fragebogen, persönliche
Sachbuch
Inaugenscheinnahme von Heften, ihre Internetpräsenz oder
Auskünfte qualifizierter Dritter sicher oder relativ sicher
belegt“ (S. 136) sind. Allerdings sind im Verzeichnis nur in
Deutschland erscheinende Titel und ausschließlich gedruckte
Pressemedien, d. h. keine Online-Magazine, aufgeführt. Die
Adressangaben enthalten den Namen des Pressemediums,
falls vorhanden einen Untertitel des Organs, die Anschrift,
darüber hinaus Telefonnummer(n), Faxnummer, Mail-Adresse und Homepage soweit verfügbar, die Verbreitungsart (lokal,
regional oder überregional), den Erscheinungsrhythmus und,
sofern es sich um gesicherte Angaben handelt, den Vermerk
GA. Die Adressen sind nach Postleitzahlen sortiert.
Im redaktionellen Teil des Verzeichnisses finden sich
neben dem einführenden Aufsatz von Bernd Hüttner neun
weitere, gut geschriebene und lesenswerte Beiträge, die mehrheitlich „die Geschichte bestimmter Bewegungen bzw. die
einzelner relevanter Medien“ (S. 8) reflektieren. Burghard Flieger erläutert an den Beispielen WOZ (Die Wochenzeitung
Wochenzeitung), taz
(Die
Die Tageszeitung
Tageszeitung) und der Jungen Welt, weshalb er „Verlagsgenossenschaften als besondere Chance alternativer Printmedien“ (S. 23) begreift. Gottfried Oy gibt in seinem Aufsatz eine
REZENSIONEN
„kleine Gegenöffentlichkeits-Geschichtsstunde“ (S. 42). Dieter Moldt, Mitarbeiter der Offenen Arbeit Berlin, Gründungsmitglied der „Kirche von unten“ und ehemaliger Herausgeber
des mOAning star, schildert in seinem Beitrag kurzweilig die
Geschichte und Entwicklung dieses Untergrundblattes aus
Ostberlin. Lena Laps und die Ihrsinn-Redaktion ermöglichen
einen kurzen Einblick in ihr feministisch-lesbisches Printmedienprojekt, dessen Produktion im Jahr 2004 eingestellt
wurde. Insgesamt bleibt festzuhalten: Egal, ob die Autoren
Entstehungsgeschichten von Fanzines (Andi Kuttner) und
Blättern der Neuen Frauenbewegung (Gisela Notz) schildern,
ein Interview mit Bernd Drücke, dem GraswurzelrevolutionRedakteur (Lea Hagedorn) führen oder „Schlaglichter zur
Geschichte der Zeitschrift Agit 883“ (Knud Andresen, Markus
Mohr, Hartmut Rübner) näher beleuchten – sie verstehen es,
historische Begebenheiten rund um alternative Printmedien
spannend und kompetent darzustellen. Für (alternative) Medienmacher und solche, die es werden wollen, eine hilfreiche
und empfehlenswerte Lektüre.
Sarah Chaker
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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REZENSIONEN
Fanzines
Fanzines
Mørkeskye Nr. 10+11
Thor Wanzek, In der Hälver 20, 58553 Halver,
Nr. 10: 59 Seiten, Nr. 11: 76 Seiten, beide DIN A4, jeweils 5,00
Euro zzgl. Porto, www.trollmusic.net / thor@trollmusic.net.
Laut Gründer und Herausgeber Thor Wanzek lässt sich der Titel seines großartigen Fanzines Mørkeskye nicht wörtlich übersetzen, sondern lediglich umschreiben als das „Stimmungsbild einer dunklen nordischen Landschaft“(*). Auch wenn
Thor Wanzek im schwarzmetallischen Underground verwurzelt ist – er dürfte vielen Metal-Anhängern als Redakteur des
kommerziellen Metal-Magazins Legacy bekannt sein – wendet
sich sein Fanzine nicht ausschließlich an ein Black-Metal-Publikum. Das Mørkeskye sprengt festgefahrene (Szene-)Grenzen, indem es Menschen zu erreichen versucht, die generell an
experimenteller, avantgardistischer Musik mit einem dunklen
Touch, darunter auch „Metal-Musik mit geistiger Substanz“
(Nr. 11, S. 1), interessiert sind und die diese Art von Musik näher kennen lernen möchten. Der Untertitel der elften Ausgabe
des Mørkeskye lautet daher auch recht allgemein: „Magazin
für abenteuerliche Musik & Menschen“.
1995 erschien die erste Ausgabe des Mørkeskye im DINA5-Format und mit einem Umfang von 24 kopierten Seiten.
Inzwischen hat sich das Blatt in punkto Layout zu einem liebevoll gestalteten Deluxe-Fanzine im DIN-A4-Format mit
ungefähr dreimal so vielen Seiten und einer Auflage von 500
Exemplaren gemausert, ohne dabei in inhaltlichen Dingen
den typischen Fanzine-Charakter einzubüßen. So glauben die
Redakteure, neben Thor Wanzek sind das vor allem Marcel
Tilger, Björn Thorsten Jaschinski, Timo Kölling, Stefan Belda
und Philipp Jonas, „nicht, dass sich der Anspruch, eine abenteuerliche Lektüre über dem Niveau standardisierter Werbekataloge anzubieten, und die ungezügelte Begeisterung und in
deren Schlepptau eine gewisse unkritische Haltung gegenüber
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
dem Interviewten ausschließen müssen – im Gegenteil: das
Mørkeskye ist nach wie vor ein Fanzine, es wird von Fans für
Fans gemacht, und die hierin vorgestellten Musiker und vor
allem ihre Musik liegen uns so am Herzen, dass wir es nicht
als unsere Pflicht ansehen, besonders kritisch an sie heranzutreten“ (Nr. 11, S. 1).
In den beiden letzten Ausgaben des Mørkeskye kamen in
zahlreichen und meist sehr ausführlichen Interviews innovative Musiker und Künstler wie Jóhann Jóhannsson, Trond
Engum, Glen Johnson (Piano Magic), Steven Wilson, Sel Balamir (Amplifier), Obsidian (Keep of Kalessin) oder Keith Fay
(Cruachan) zu Wort. Darüber hinaus finden sich im Mørkeskye
anregende Artikel über philosophische Querdenker (z. B. über
den polnischen Soziologen Zygmunt Bauman oder über den
„Neugierologen“ Heinz von Foerster), sowie einzelne Buchbesprechungen (z. B. von Janne Tellers Roman „Odins Insel“
oder Max Picards 1946 erstmals erschienener Analyse des
Nationalsozialismus „Hitler in uns selbst“) und Autorengespräche (z. B. mit Tor Åge Bringsværd oder Rüdiger Sünner).
Als besonderes Schmankerl liegt dem Mørkeskye oft eine CDCompilation mit ausgewählten Musikstücken bei, die Thor
Wanzek zusammenstellt und die Lust machen auf mehr. Auf
den Samplern der beiden letzten Mørkeskye-Ausgaben waren
unter anderem die Bands Elane, Ainulindale, Noekk, Manes,
Negura Bunget (Nr. 10) bzw. Dornenreich, Neun Welten, Secrets
of the moon und Naervaer (Nr. 11) zu hören.
Wanzeks Motivation und Engagement für das Mørkeskye
speist sich wesentlich aus seiner Erkenntnis, „dass viele lautstarke Angebote der Massenmedien kaum bereichernd sind, ja
sogar die Phantasie und Gefühlstiefe von Menschen mit ihrer
Eintönigkeit von Berieselung, Kommerzorientierung und Kritiklosigkeit sogar abtöten können“ (*). Durch das Mørkeskye
soll es dem Leser ermöglicht werden, neue, spannende Musiken jenseits des Mainstreams überhaupt wahrzunehmen und
Fanzines
zu erleben. Dass Wanzeks Konzept von einem Alternativmedium, das als Mittler zwischen Künstlern und Publikum fungiert, nicht nur aufgeht, sondern ein echtes Bedürfnis seiner
Leserschaft befriedigt, zeigt sich auch darin, dass er regelmäßig „von einigen Lesern Brief- und Kartenpost [erhält], davon
etliche mit ‚trollischen’ Motiven, manche schicken mir unaufgefordert Musik als Dankeschön zu, andere wiederum Bücher
oder zu Weihnachten sogar selbstgebackene Kekse – das sind
Momente, in denen ich ahne, dass ich da wirklich Menschen
gerührt und ihnen wohl für sie Wertvolles vorgestellt habe;
REZENSIONEN
dann hat sich alle Mühe gelohnt!“ (*). Seit neuestem lässt sich
im Internet unter www.soundsurface.com der virtuelle Nachfolger des Mørkeskye im Netz bestaunen, „der sich vom Metal
wie von den finanziellen Hürden befreit hat und einfach nur
sublime Musik präsentieren wird, die uns selbst begeistert.
Vom Mørkeskye ist allerdings wohl noch nicht die letzte Ausgabe erschienen …“ (*). Und das ist auch gut so!
(* Zitiert aus privatem Interview mit dem Herausgeber.)
Sarah Chaker
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REZENSIONEN
Posteingang
Posteingang
Von Andreas Kuttner
A Ticket To Write. No. 84 und Nr. 86
Beatles Club Wuppertal, Paulussenstr. 7, 42349 Wuppertal, je
36 Seiten, DIN A5, je 4,50 Euro inkl. Porto, www.beatles-club.de
Erscheint vierteljährlich, in Heft 84 u. a. mit den Schwerpunkten: 40 Jahre Sergeant Peppers Lonely Hearts Club Band,
40 Jahre „All you need is love“, Paul McCartney: Memory Almost Full.
Nr. 86 u. a. mit einem Kommentar zu Klagen der Musikindustrie, News, „Help!“ auf DVD, Beatles in München
1966, 40 Jahre „Magical Mystery Tour“, John Lennons Einbürgerung in die USA, einer Übersicht deutscher Pressungen
von Beatles-EPs sowie einem Vorabdruck aus dem im eigenen
Verlag erschienenen Buch „Komm, Gib Mir Deine Hand“.
Hält im Gegensatz zum monatlich erscheinenden Things längere Artikel bereit.
Andromeda Nachrichten. 212.
Science Fiction Club Deutschland e. V., Birgit Fischer, Am Schafbuckel 6, 64853 Otzberg, 96 Seiten, DIN A4, 4.Euro zzgl. Porto,
Bifi-2000@aol.com
Das dienstälteste deutsche Fanzine: Gelten doch die Andromeda Nachrichten, zum ersten Mal 1955 erschienen, als erstes
deutsches Fanzine, und es gibt sie bis heute. Das ganze Heft
besteht nahezu ausschließlich aus Reviews von Fanzines,
Büchern, Spielen und Filmen aus dem Bereich Fantasy und
Science Fiction, ergänzt durch Termine und Berichte aus der
Wissenschaft. Interessant, dass es auch 2007 noch sehr einfach
aufgemacht und layoutet und die Auflage mit nur 425 Exemplaren angegeben ist.
AntiEverything. # 6666.
AntiEverything, Postfach 350439, 10213 Berlin, 84 Seiten, DIN
A5, 2,50 Euro zzgl. Porto, www.antieverything.de
Nach langer Pause ein neues Exemplar des Fanzines gegen alles und jeden aus Berlin. Wobei sich das Heft immer mehr zu
einer fast schon hochkulturellen Schrift entwickelt. So enthält
diese Ausgabe vor allem die „Erste Staffel der Roman-Serie“
Glory White Trash in 10 Teilen, und wird nur ergänzt durch
weitere längere Artikel wie einen Reisebericht über Manila/
Philippinen, sowie Features über den „Unabomber“ Theodore
Kaczynski und den Verfasser der „Turner Tagebücher“ William
Pierce. Kurzes Verweilen und Durchatmen nur bei den wenigen
Reviews und dem Comic „Argwohn und Lethargie“. Aber wer
die gute Schreibe kennt, kauft sich das Heft in jedem Fall. Und
einen schicken „AntiEverything“-Aufnäher gibt es gratis dazu.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Posteingang
Antifaschistisches Info Blatt. Nr. 75.
AIB, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin, 60 Seiten, DIN A4, 3,10
Euro zzgl. Porto, www.antifainfoblatt.de
Dieses Magazin dürfte das bekannteste Antifa-Blatt sein,
es existiert bereits seit 1988 und erscheint vierteljährlich. In
dieser Ausgabe mit dem Schwerpunkt DDR: Extreme Rechte,
Hooligans und antifaschistische Selbstorganisierung vor dem
Mauerfall. Dazu diverse gut recherchierte und flüssig lesbare
Artikel zu den Bereichen NS-Szene, Antifa, Rassismus, Gesellschaft, Braunzone, Repression und Kultur.
Bad Rascal. Nr. 2.
Julian Schulte, Am Kupferofen 34, 52066 Aachen, 44 Seiten,
DIN A5, 3 Euro incl. Porto, badrascal@gmx.de
Die zweite Nummer von Bobso und Jules, diesmal u. a. mit
Einweg Versus, Ausgang Ost, Chaoze One und Keine Ahnung.
Einweg,
Dazu Force-Attack-Festival 2006, Kochrezepte, eine Kolumne
über Vorratsdatenspeicherung und Drogodil, dem unglaublichen Monster. Punk-Nachwuchs is not dead!
REZENSIONEN
und das Heft spielt somit in derselben Liga wie das sehr gute
Berliner AntiEverything-Fanzine. Man muss sich aber die Zeit
nehmen, sich darauf einzulassen. In diesem Sinne nicht so
leicht verdaulich wie manch andere Punk-Fanzines.
Influenza. Nr. II.
Ronja Schwikowski, Grabenstr. 77, 47057 Duisburg, 52 Seiten,
DIN A5, 1,50 Euro zzgl. Porto, kasseddenlabel@web.de
Die zweite Ausgabe von Ronja und ihrer Truppe, diesmal u. a.
mit Auweia!, T.O.D., Invader Ink, Punk in Mexiko, Papst-Besuch
in Bayern und einer Vorstellung der Initiative Pankahyttn in
Wien, die offenbar tatsächlich davor steht, von der Stadt Wien
ein Haus zur Verfügung gestellt zu bekommen. Neben recht
vielen und ausführlichen Fanzine-Reviews machen kritische
Kolumnen den Schwerpunkt des Heftes aus, wobei der Artikel
über bzw. gegen „myspace“ einiges außer Acht lässt. Auch viele
Punk- und HC-Bands nutzen diese Oberfläche zur Kommunikation und Vernetzung untereinander – ein positiver Aspekt
wie dieser fehlt in der rein negativen Polemik leider, so dass die
Kolumne dem Phänomen nicht ganz gerecht wird. Klassisches
Punk-/HC-Fanzine alter Schule im cut-&-paste-Stil.
Der gestreckte Mittelfinger. Ausgabe # 4.
Falk Fatal, Postfach 4146, 65031 Wiesbaden, 92 Seiten, DIN A5,
2.50 Euro zzgl. Porto, www.dergestrecktemittelfinger.de
Kein leicht verdauliches Fanzines, das man eben mal so auf dem
Klo liest, ist das vorliegende Heft. Allein schon das Layout wirkt
ausgetüftelt und ambitioniert, das gleiche stellt sich auch beim
Lesen hinsichtlich des Inhalts heraus. Es gibt zwar auch einige
Interviews (u. a. mit Bubonix, The Kids und Raped – Kenner
werden eine 77er-Punk-Orientierung daraus lesen) und viele
Reviews, den Großteil des Heftes machen aber Alltagsberichte
aus, die zumeist sehr gut geschrieben sind, u. a. das „Tagebuch
eines Taugenichts“, der doch mal wieder die S-Bahn zur Uni
verpasst und lieber wieder nach Hause fährt. Besonders interessant auch das Nachdenken darüber, ob man als Punk ein
Spießer ist, wenn einen die zu laute Techno-Musik des Nachbarn stört und man ihn sich am liebsten zum Teufel wünscht.
Die Autoren können schreiben, und das alles kommt in einem ausgefeilten Layout daher. Das ist rundum gut gelungen,
JPN Journal. I/07 und IV/07.
Je 32 Seiten, DIN A4, [Bezugspreis unbekannt],
www.jungepresse-online.de
Publikationsorgan der „Junge Presse Niedersachsen e. V.
(JPN)“, mit Meldungen aus der JPN, Beschreibung von Seminaren und Rezensionen von Spielen. Bemerkenswert ein persönlicher Kommentar zum 60. Jubiläum des Spiegel.
Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns noch das Heft
IV/07 mit den Themenschwerpunkten Film & Fernsehen,
Frauenmagazine und einem Spezial über Brüssel.
Karl May & Co. Nr. 110 (4/2007).
Nicolas Finke, Emser Str. 2, 51105 Köln, 92 Seiten DIN A4, 6,50
Euro, www.karl-may-magazin.de
Vierteljährlich erscheinendes, aufwändig bebildertes Magazin
mit den vier Schwerpunkten „Karl May – Leben und Werk“,
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REZENSIONEN
Posteingang
„Karl May auf der Bühne“, „Karl May im Film“ und „KarlMay-Szene“. Ein Thema ist natürlich die soeben beendete Ausstellung des Deutschen Historischen Museums.
Der kranke Bote. Nr. 3/2007 und 1/2008.
Je 40 Seiten, DIN A5, www.jesusfreaks.de
Jesus-Freaks-Magazin, zweimonatlich erscheinend, erinnert
eigentlich mehr an eine kleine „Vereinszeitschrift“ als an ein
Fanzine. Inhalt in Nr. 3/2007 u. a. das JF-Konzil 2007 in Reichenbach, Konzertberichte und die Geschichte des Freakstock-Festivals.
Schon mit der Nr. 6/2007 hatte sich das Erscheinungsbild
deutlich verbessert, es ist ansprechender, da abwechslungsreicher geworden. Da macht auch die Nr. 1/2008 weiter; thematisch geht’s u. a. um „Wessen Wille soll geschehen?“, das
Thema Suizid, Jesus Freaks in Japan und die christliche Punkrockband Fallobstfresser.
Lockenkopf. Ausgabe 3.
Lockenkopf, Postfach 16, 15881 Eisenhüttenstadt, 60 Seiten,
DIN A5, 2 Oiro zzgl. Porto, Lockenkopf-fanzine@web.de
Gut aussehendes, noch recht junges Oi!-Punk-Fanzine aus
der „Stalinstadt“ Eisenhüttenstadt. Inhaltlich geht’s um FußJOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
ballfans und Hools in Polen, den Tätowierer Mirko, Stadtbericht Eisenhüttenstadt, Mike Crucified, Biertest, Stalinstadt
Ensemble, das Ost-Derby Union Berlin – Dynamo Dresden,
die indonesische Band Skinlander und Reviews. Den ersten 50
Heften liegt eine Demo-CD von Stalinstadt Ensemble bei. Liest
sich gut, ist gut gestaltet – erscheint leider nur etwa einmal
im Jahr.
Moloko Plus. No. 32.
Moloko Plus, Feldstr. 10, 46286 Dorsten, 76 Seiten, Format 17 x
17, 2,50 Euro (Abo über vier Ausgaben für 10 Euro incl. Porto),
www.moloko-plus.de
Dieses Heft hat sich in den letzten Jahren straight zu einem der
lesenswertesten Fanzines im Bereich Punk und Oi! gemausert,
wobei immer klar ist, dass politisch rechtsoffene Bands für das
Heft nicht in Frage kommen. Für mich persönlich hat dieses
Heft die späte Nachfolge des in den frühen 90ern „marktführenden“ Scumfuck-Fanzines eingenommen, mit einem bunten, aber niemals beliebigen Mix aus lockeren Kolumnen,
Blind Dates, Stories über Fußball und andere Nebensächlichkeiten sowie Interviews (diesmal u. a. mit den Herausgebern
des Punkwax-Buches, Broilers, vom Ritchie, Merry Widows
…) und Reviews. Klasse Unterhaltung und obendrein superschick gestaltet.
Posteingang
Non Plus Ultra. Nr. 2.
Dominik Schell, Jeßnitzer Weg 9, 67240 Bobenheim-Roxheim,
56 Seiten, DIN A5, 2 Euro zzgl. Porto, Honda04@gmx.de
Streetpunk- und Ska-Fanzine, u. a. mit Bandhistories von
Infa-Riot, Menace, Slaughter & the Dogs und Desmond Dekker.
Dazu ein Porträt über den englischen Fußball-Club West Ham
United, eine Vorstellung des Genres Slasherfilme und viele Reviews. Wobei nicht nur aktuelle Platten besprochen werden,
sondern auch die ein oder andere bereits länger existierende
Lieblings-Platte Erwähnung findet. Durchaus sympathisch!
OX. Nr. 72 und 73.
Je 138 Seiten, DIN A4 mit CD-Beilage, 4,50 Euro zzgl. Porto,
www.ox-fanzine.de (Erhältlich auch in Plattenläden und
Bahnhofskiosken.)
Erscheint wie das Trust alle zwei Monate, allerdings incl. Gratis-CD und mit deutlich mehr Inhalt. Wobei Masse natürlich
nicht immer Klasse ist, und zu viel manchmal einfach zu viel
ist, um es bewältigen zu können. Dafür ist aber sichergestellt,
dass immer irgendwas Interessantes dabei ist, und was den
„Service“ (Konzertdaten, Reviews neuer Platten, News) angeht, ist das Ox sicher die Nummer 1 im deutschsprachigen
Punk-HC-Bereich. In den vorliegenden Heften u. a. mit Neurosis, Balzac, Fehlfarben, Gang Green, Muff Potter und Turbonegro (Nr. 72) sowie Against Me!, Agent Orange, Bad Religion,
EA 80, Subhumans, Social Distortion, Sonic Youth, Turbostaat
und Kommando Sonnenmilch (Nr. 73).
OX. Nr. 76.
132 Seiten, DIN A4 mit CD-Beilage, 4,50 Euro zzgl. Porto,
www.ox-fanzine.de (Erhältlich auch in Plattenläden und
Bahnhofskiosken.)
Jüngste Ausgabe des Ox, diesmal jedoch mit lauter alten Leuten im Inhalt … So u. a. Interviews und Features mit den Razors, Core-Tex Records, Sham 69, Cock Sparrer, Flogging Molly,
Einstürzende Neubauten, der AntiEverything-Crew und den
Skeptikern (geführt von Archiv-Kollegin Katrin Schneider).
Dazu wie immer massig Reviews, News und Konzertdaten.
REZENSIONEN
Pankerknacker. NO. 11.
Pankerknacker, Postfach 2022, 78010 Villingen,
80 Seiten, DIN A4,5 (Zwischengröße), 3 Euro zzgl. Porto,
www.pankerknacker.com (Erhältlich auch in vielen
Plattenläden.)
Das Pankerknacker-Fanzine gehört zweifelsohne schon zu
den größeren Heften, auch wenn ich ehrlich gesagt nie so
recht den Erscheinungsrhythmus verstanden habe. Vor rund
ein bis zwei Jahren ließ der Herausgeber verlauten, er würde
das Heft nun einstellen. In der Zeit danach folgten aber recht
schnell mehrere neue Ausgaben. Gestartet als A5-SchnipselHeft, weitete es sich irgendwann auf A4-Größe aus, und wurde
auch layouttechnisch und inhaltlich versierter. Die vorliegende Nummer kommt besonders stylish daher, in Anbetracht
des handlichen, besonders wirkenden Zwischenformats und
des guten Layouts. „Style-Punks“, die sich an Tätowierungen,
blondierten Gel-Haaren, Sonnenbrillen und neben dem ständigen Punkrock auch mal an Rock’n’Roll erfreuen können,
dürfte das Heft auch am meisten ansprechen. Da darf natürlich ein Interview mit Frontkick nicht fehlen. Weiterhin gibt
es Interviews u. a. mit Lurkers und Psychopunch, einen Sardinien-Bericht, viele Kolumnen und längere Erlebnisberichte
sowie zahlreiche Reviews. Mit Meia, Klaus N. Frick, Abel Gebhard, Antje Thoms und Falk Fatal ist dem Herausgeber auch
gelungen, gestandene KolumnistInnen aus anderen Fanzines
für sein Heft zu gewinnen.
Pankerknacker. # 17.
Pankerknacker, Postfach 2022, 78010 Villingen,
108 Seiten, DIN A4,5 (Zwischengröße), 3 Euro zzgl. Porto,
www.pankerknacker.com (Erhältlich auch in vielen
Plattenläden.)
Das Fanzine der Reichen und Schönen des Punkrock, und so
spielen in der neuesten Ausgabe (die Zählweise versteht längst
niemand mehr) neben den neuesten Tattoos, Sonnenbrillen
und Frisuren der Herausgeber Urlaube eine besondere Rolle.
Nach Sardinien ging es, zu den Sex Pistols nach London, dazu
gibt es noch Berichte aus Manila und Neuseeland. Wer hat, der
hat; aber zum Glück gibt es auch den üblichen Fanzine-Stoff
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REZENSIONEN
Posteingang
wie Reviews, Konzertberichte und Interviews (u. a. mit den
Veranstaltern der Force-Attack- und Back-to-future-Festivals,
Hiroshima Mon Amour und Tight Finks), der auch den uns zuhause Gebliebenen das Gefühl möglicher Teilnahme gibt.
Dazu gewohnt viele News, Konzertdaten und Reviews aller
Art. Pflichtstoff. Auflagenmäßig nach Selbstauskunft mittlerweile auch im fünfstelligen Bereich angekommen.
Perry Rhodan. Die größte Science
Fiction-Serie. Nr. 2426.
Plastic Bomb, Postfach 100205, 47002 Duisburg, 80 Seiten,
DIN A4, 3,50 Euro zzgl. Porto, www.plastic-bomb.de
(Erhältlich auch in Plattenläden und Bahnhofskiosken.)
Plastic Bomb. Nummer 61.
Pabel-Moewig Verlag KG, 76437 Rastatt, 68 Seiten, DIN A5,
1,75 Euro zzgl. Porto, www.vpm.de
Die wöchentlich erscheinende Sci-Fi-Heftroman-Serie, zuletzt
erreichte uns das vorliegende Heft. Inhalt diesmal der Roman
„Aufbruch der Friedensfahrer“ von Uwe Anton, sowie PerryRhodan-Clubnachrichten und Leserbriefe.
Plastic Bomb. Nummer 59.
Plastic Bomb, Postfach 100205, 47002 Duisburg, 80 Seiten,
DIN A4, 3,50 Euro zzgl. Porto, www.plastic-bomb.de
(Erhältlich auch in Plattenläden und Bahnhofskiosken.)
Das Plastic Bomb bemüht sich, neben der musikalischen Seite
auch den politischen Anspruch von Punk und Hardcore zu featuren. Insbesondere in der vorliegenden Ausgabe bleibt es aber
bei der „Bemühung“ darum, die in dieser Hinsicht relevanten
Artikel (Vorwort, Interview mit Stopcox, u. ä.) sind diesmal
eher dürftig und oberflächlich ausgefallen. Die üblichen Artikel
und Rubriken (u. a. „Herstory of Punk“, diesmal mit Tati von
Apocalipstix) sind aber lesenswert wie immer und bringen den
Leser/die Leserin punkrockmäßig auf den aktuellen Stand.
Punkrock! Nr. 4.
Gilt als das große Punk-Heft mit der höchsten „Street credibility“. In dieser Ausgabe u. a. mit: Canal Terror (sehr ausführliches Interview!), Discharge, The Ruts, ZSK,
ZSK Hammerhai, Goldblade, The Porters, Georg Kreisler, Piromanes Del Ritmo (aus
Chile), Chaostage-Film, Osterbierdosensuchen in Stuttgart.
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Punkrock!, Postfach 10 05 23, 68005 Mannheim, 96 Seiten,
DIN A5, 2 Euro zzgl. Porto, www.punkrock-fanzine.de
Zweimal jährlich erscheint das Punkrock!-Fanzine und hat
sich bereits einen festen Platz in der Punk-Fanzine-Landschaft
Posteingang
erobert. Die Herausgeber sind auch alle alte Hasen und seit
Jahren im „Geschäft“. Diesmal Interviews u. a. mit Loaded,
Lower Class Brats, Lurker Grand (Herausgeber des Buches
„Hot Love – Punk in der Schweiz 1976-80“), Frontkick und
Gee Strings. Sehr gelungen auch der Artikel über das Verhalten
mancher „Szene-Größen“ anlässlich der Premiere des Filmes
„American Hardcore“, der tief blicken lässt. Dazu Massen an
Tonträger-, Buch-, Fanzine- und DVD-Besprechungen.
Diese Mannheimer Crew hat‘s einfach immer wieder
drauf, ein lockeres und gleichzeitig informatives PunkrockHeft herauszugeben. Auf der Homepage übrigens eine Auswahl aller bisher erschienenen Artikel und Interviews.
REZENSIONEN
Jeweils beiliegend der Katalog des Schlagzeilen-Versandes, Mailorder für SM-Bedarf.
Der Siebenstein. Ausgabe 4.
Katja Angenent, Kanonierstr. 9, 48149 Münster, 44 Seiten,
DIN A5, 3 Euro zzgl. Porto, Der_siebenstein@yahoo.de
Fantasy-Fanzine mit Berichten über Okkultismus und Spiritismus um 1900, Wave-Gothic-Treffen in Leipzig 2007, Marcus
Rietzsch, Buddhismus – die Rolle des Dalai Lama in der heutigen Welt, Halloween und John Bauer, der als „Wegbereiter der
Fantasy“ bezeichnet wird. Dazu Gedichte, Kurzgeschichten
sowie Buch- und Fanzine-Besprechungen.
Raumschiff Wucherpreis. Nr. 21.
66 Seiten, DIN A4, kostenlos, www.scumfuck.de
Die Scumfuck-Crew um Willi Wucher, streitbares „Ichmach-mein-Ding“-Punk-Urgestein, bringt halbjährlich das
Raumschiff Wucherpreis heraus: normalerweise zur einen
Hälfte Fanzine, zur anderen aktueller Katalog des ScumfuckMailorders. In der vorliegenden Ausgabe scheint mir jedoch
der redaktionelle Teil etwas kurz gekommen zu sein. Neben
den stets unterhaltsamen „Wuchers Worten“ finden sich nur
noch vier weitere längere Artikel: Punk-&-Disorderly-Festival
2007, Melanie and the Secret Army, Cotzraiz und – festhalten!
– DrehkrOi!z. Dazu noch 14 Seiten Reviews. So eigentlich im
Wesentlichen ein Plattenkatalog, als solcher aber unterhaltsamer als manch anderer.
Schlagzeilen. SM aus der Szene
für die Szene. Nr. 92 und 95.
Je 120 Seiten, DIN A4, 15,50 Euro, www.schlagzeilen.com
Der Untertitel dürfte alles sagen, das Magazin enthält Diverses zum Thema Sado-Maso-Sex, u. a.: erotische Geschichten,
Adressen von SM-Gruppen im deutschsprachigen Bereich,
Abbildungen von Gemälden, Porträt der „Location Catonium“ in Hamburg, Debatte: SM und Therapie?, Reviews aktueller Buchtitel und Filme, Leserbriefe und Kontaktanzeigen. In
Ausgabe Nr. 95 lautet das Titelthema „SM & Familie – Wie viel
Familienleben verträgt SM, wie viel SM verträgt die Familie?“
Things. Nr. 141-143.
Beatles Museum, Alter Markt 12, 06108 Halle, je 28 Seiten,
DIN A5, 3 Euro zzgl. Porto, www.beatlesmuseum.net
Dieses Heft erscheint monatlich, u. a. mit Rückblicken auf
diverse Beatles-Alben, Auftritten von Beatles-Mitgliedern in
TV-Shows und aktuelle Projekte von Ex-Beatles-Mitgliedern.
Ein Überblick über die Titelstories der vorliegenden Ausgaben: „Help! auf DVDs“ in Heft 141, Ringo Starr und seine neuen CDs in Heft 142 und in Heft 143 die Promoclips von Paul
McCartney. Mit vielen Reviews und farbigen Abbildungen!
Trust. Nr. 127/06.
Dolf Hermannstädter, Postfach 110762, 28087 Bremen,
68 Seiten, DIN A4, 2,50 Euro zzgl. Porto, www.trust-zine.de
(Erhältlich auch an jedem Bahnhofskiosk.)
Weiterhin kommt zweimonatlich das Trust an den Tisch,
diesmal u .a. mit einem R.K.L.-Special sowie Interviews mit
Constance vom Chaos Computer Club und Turbostaat. Letzteres ist sehr ausführlich geworden: Es handelt sich um ein
längeres, freundschaftliches Gespräch, das vor allem den Major-Deal der Band zum Thema hat. Ich kann mir nicht helfen,
aber nach 15 Jahren Punkrock interessiert mich das Thema
persönlich nicht mehr so wirklich ... Vielmehr jedoch die
amüsant zu lesenden, unbestechlichen Reviews von Howie,
Alva und Andreas.
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REZENSIONEN
Posteingang
Soeben noch eingegangen: Trust Nr. 128/01, mit u .a. Core-Tex
Records, Steve Ignorant/Crass und Inferno. Letzteres natürlich
besonders spannend, da die Geschichte des Trust sehr mit der
von Inferno verwoben ist. Wieder eine sehr runde Sache!
Übersteiger. Nr. 83 und 85.
Der Übersteiger, Brigittenstr. 3, 20359 Hamburg, je 36 Seiten,
DIN A4, 1,60 Euro zzgl. Porto, www.uebersteiger.de
Der FC St. Pauli ist in die 2. Bundesliga aufgestiegen, und der
Übersteiger, das Zentralorgan der St.-Pauli-Fans, reibt sich
erst nur überrascht die Augen. Trotz des fröhlichen Ereignisses kommen die kritischen Berichte nicht zu kurz (Stichwort:
never ending story um Präsident Conny Littmann), und mit
Berichten über Fußball in Bolivien und Diego Maradona auch
nicht der Blick über den Tellerrand.
In der jüngsten uns vorliegenden Ausgabe Nr. 85 geht es
thematisch u.a. um die neuen Investoren des Millerntor-Stadions, ein Rückblick auf 30 Jahre Bundesliga und Marketingvergleich HSV – FC St. Pauli. Der Übersteiger hat sich nach seiner
Krise längst wieder gefangen – gut so!
Wahrschauer. Nr. 53.
Wahrschauer, Postfach 120363, 10593 Berlin, 130 Seiten,
DIN A4, mit Gratis-CD, 4 Euro zzgl. Porto, www.wahrschauer.net
Auch eines der anerkannt großen Hefte im Bereich Punk/HC
und angrenzendes; nach eigener Auskunft in einer Auflage
von 15.000. In der vorliegenden Ausgabe u. a. mit Billy Talent,
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Die Goldenen Zitronen, Against Me!, Peaches, Ostkreutz, Fettes
Brot, Chicks on Speed, Juliette & the Licks, Dead Moon, 10 Jahre Force-Attack-Festival und einer nachdenklich stimmenden
Vorstellung des Ramones-Museums („Ramones – bereits reif
für’s Museum?“). Aber auch andere Themen finden im Wahrschauer ihren Platz, so u.a. Rechtsextremismus in Mecklenburg-Vorpommern und die Kommerzialisierung Lateinamerikas. Runde Sache!
Der Zwergpirat. # 9 und 10.
Carsten Hantel, Augsburger Str. 18, 85290 Geisenfeld,
80 Seiten, DIN A5, 2 Euro zzgl. Porto, C.hantel@gmx.de;
www.myspace.com/vinkingbalg
Oi!-Fanzine, das vom Layout her durchaus an ein gut gestyltes
Punk-Heft erinnert. U. a. mit Soko Durst, SpringtOifel, Cheap
Stuff, Njord, Wasted-Festival 2006 und Skrewdriver in der BRAVO 1977. (Warum unser Buch trotz Gratis-Exemplar nicht rezensiert wurde, wäre aber durchaus ein paar Zeilen wert gewesen, oder nicht?) Steckt viel Mühe drin und hat durchaus was!
Die soeben noch eingetroffene Nr. 10 macht ebenso weiter wie die Vorgänger-Nummer. Diesmal u. a. mit One Way
System, Kraftheim („teutonischer Vikingrock aus dem Teutoburger Wald“), Rackham’s Revenge und wie immer zahlreichen Reviews und Konzertberichten. Schon verwirrend: die
Reisen des Herausgebers zu Konzerten von einerseits Bands
wie Missbrauch und Mimmi’s, andererseits konspirativen
RAC-(„Rock against communism“)-Gigs wie von Endstufe.
Aber interessant allemal.
Posteingang
REZENSIONEN
Quergelesen. Ein Blick in die aktuelle Fachpresse
Von Klaus Farin
Eigentlich glaubt man ja, es sei zu diesem Thema schon alles gesagt, doch ein Blick in die aktuelle Fachpresse belehrt
einen eines Besseren: Rechtsextremismus hat immer noch
oder schon wieder – zum wievielten Male eigentlich? – Hochkonjunktur. Genauer: Rechtsextremismus & Jugend bzw.
Jugendkulturen. Vor allem in den pädagogischen Blättern,
denn die Jugend in Deutschland gehört sowieso der Pädagogik, und dass die jeweils aktuelle Jugend im Vergleich zur
bereits angegrauten, gefühlten Jugend nicht wohlgeraten ist,
wissen wir seit Sokrates. Ob es ein Zufall ist, dass sich fast alle
aktuellen Fachblätter auf die beiden Themen „Rechtsrock“
und „Junge Frauen in der rechtsextremen Szene“ kaprizieren
– zwei gesamtgesellschaftlich betrachtet extrem randständige
Themen? Die miese Qualität des rechtsextremen Agitprop
und die Unattraktivität der prügelnden und saufenden Männerhorden selbst für gleichgesinnte Frauen sind seit Jahr und
Tag Garanten für die Erfolglosigkeit der Rechtsextremen bei
über 90 Prozent der Jugendlichen in Deutschland. Auch wenn
Martina Kobriger in den Jugendnachrichten des Bayerischen
Jugendrings zur Begründung des gewählten Schwerpunktes
erläutet, dass „Jugendliche immer empfänglicher für die einfachen Lösungsangebote rechtsextremer Parteien“ seien, so
ist dies schlicht Unsinn. Thomas Pfeiffer, Mitarbeiter des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, der Ska schon mal
für rassistische Skinheadmusik hält und den Namen der bedeutendsten Nazi-Band Skrewdriver immer noch nicht korrekt
zu schreiben weiß, steuert im selben Heft den Auftaktbeitrag
„Menschenverachtung mit Unterhaltungswert“ bei. Es folgen
eine „Lageskizze“ zum Rechtsextremismus in Bayern – Autor:
ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz – sowie mehrere, eher praxisorientierte Beiträge zur Jugendarbeit.
Nicht fehlen darf der Hinweis, dass der Bayerische Jugendring
seinen Landesfürsten politisch überflügelt und einstimmig ein
Verbot der NPD fordert.
In der ebenfalls aus Bayern stammenden Fachzeitschrift
proJugend hat Kurt Möller den Einführungsbeitrag mit einigen Definitionen, Bestandsaufnahmen und pädagogischen
Schlussfolgerungen übernommen, Christian Dornbusch bearbeitet das Thema Rechtsrock, Michaela Köttig widmet sich
erwartungsgemäß den jungen Frauen in der rechten Szene.
Wirklich Neues enthalten die Beiträge ebenso wenig wie der
folgende Aufsatz von Stefan Glaser – jugendschutz.net – zu
Neonazis im Internet.
Kurt Möller führt auch mit einer Bestandsaufnahme und
pädagogischen Schlussfolgerungen in den Schwerpunkt der
NRW-Zeitschrift für Jugendschutz und Erziehung Thema Jugend ein. Es folgen ein Essay von Irma Jansen zum Thema junge Frauen in der rechten Szene, der sich wesentlich auf Arbeiten von Möller, Köttig und Bitzan stützt, Christian Dornbusch
arbeitet sich wieder am Thema Rechtsrock ab und praxisorientierte Beiträge u. a. zu einem Partizipationsprojekt der Stadt
Rheine beschließen den Schwerpunkt.
Eine Reportage aus der Kreisstadt Bernburg in SachsenAnhalt, eine Analyse des Rezensenten (bebildert mit einem
britischen Sex-Pistols-Fan und deutschen Gothics bei einem
Konzert, Untertitel: „Rechtsorientierte Jugendliche …“) sowie kurze Beiträge zu Nazis im Internet und Schulaktivitäten
gegen rechts bilden den Fokus der Februar-Ausgabe des LehrerInnen-Magazins Erziehung und Wissenschaft.
Zu verdenken ist es den AutorInnen ja eigentlich nicht,
wenn sie bei jeder neuen Anfrage nach einem (schlecht oder
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REZENSIONEN
Quergelesen
gar nicht honorierten) Beitrag nicht jedes Mal die Welt neu erfinden wollen, sondern bereits veröffentlichte Texte neu collagieren. Vermutlich überschneiden sich die LeserInnen dieser
Blätter sowieso kaum, also ist es auch im Grunde nicht tragisch, dass sich die immer gleichen AutorInnen mit den immer gleichen Themen immer wieder publizistisch begegnen.
Und eigentlich finden sich in allen erwähnten Heften auch
durchaus lesenswerte Beiträge, die nur der gepeinigte Rezensent nicht mehr lesen mag und objektiv zu würdigen weiß,
nachdem ihm Woche für Woche immer mehr Schriften mit
dem ewig gleichen Schwerpunkt auf den Schreibtisch flatterten. Aber das ist ja nun sein ureigenes Problem, und deshalb
seien den neugierigeren Leserinnen und Lesern hier noch die
Kontaktdaten und Bestellmöglichkeiten der erwähnten Magazine genannt:
Erziehung und Wissenschaft. Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW 2/2008 (Reifenberger Straße 21, 60489 Frankfurt am Main; www.gew.de).
Jugendnachrichten. Zeitschrift des Bayerischen Jugendrings
6/2007 (Herzog-Heinrich-Straße 7, 80336 München;
www.bjr.de).
proJugend. Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz Landesarbeitsstelle Bayern e. V
V. 4/2007 (Fasaneriestraße 17, 80636
München; www.bayern.jugendschutz.de).
Thema Jugend. Zeitschrift für Jugendschutz und Erziehung
4/2007, hrsg. von der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V.
(Salzstraße 8, 48143 Münster; www.thema-jugend.de).
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung.
Liechtensteinstrasse 46a/2/5, A-1090 Wien
http://www.derive.at
Die in Wien erscheinende Zeitschrift für Stadtforschung dérive hat ihre 30. Ausgabe veröffentlicht. Das erste Heft erschien
im Juli 2000. Heute hat sich der Titel im Feld der Architekturund Stadtplanungszeitschriften etabliert und dürfte der kritischste im deutschsprachigen Raum sein. Der Ursprung des
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Namens liegt in der Theorie des französischen Situationismus:
Dessen AnhängerInnen nannten es „dérive“, wenn sie ziellos
und experimentell durch die Stadt streiften, um ebenjene besser kennen zu lernen. Sie entwickelten aus diesen ungewohnten, unvorhersehbaren Perspektiven ihre Kritik der Urbanität
– und das schon in den 1950er- und 1960er-Jahren.
Herausgeber Christoph Laimer, der das Heft von Anfang
an unter prekären Bedingungen produziert und maßgeblich
geprägt hat, geht es genau um jene Kritik der Urbanität. Er
sieht dérive als Zeitschrift zur Kritik der gesellschaftlichen Zustände, die nun mal in der Regel in Städten früher und massiver
auftreten und dort auch besser erkenn- und damit kritisierbar
seien. Themen von dérive sind und waren: Überwachung des
öffentlichen Raumes, Rassismus, Multi- und Einkaufserlebniskomplexe, Migration, Stadtplanung, Obdachlosigkeit, Umbau
des Sozialstaates und Kulturwirtschaft.
Das aktuelle Heft hat den Schwerpunkt „Cinematic Cities – Stadt im Film“ und berichtet über die kinematographische Darstellung der Modernisierung und Urbanisierung in
Deutschland vor 1914, die Selbstdarstellung von Hollywood
als Stadt in den dort produzierten Filmen und die Markierung
und Inszenierung von Wien als gefährlicher Stadt im Film der
Nachkriegszeit. Mehrere Beiträge behandeln die chinesische
Stadtplanung und ihren derzeitigen Wandel, und von der
grundlegenden Serie „Geschichte der Urbanität“ von Manfred
Russo wird schon der 22. Teil abgedruckt.
Dérive ist global, mit Beiträgen zu Danzig, Hongkong oder
Los Angeles, und vielfältig, denn es wird auch schon einmal
über Natur, Vögel und Menschen in der Stadt berichtet. Wichtig und nützlich sind die Besprechungen von Ausstellungen
und Büchern, die diese sehr ansprechend gestaltete Zeitschrift
abschließen. Für eine Beschäftigung mit der Transformation
der Städte ist diese Zeitschrift ein wirklich gutes Hilfsmittel.
Bernd Hüttner
Quergelesen
REZENSIONEN
Filme
Das ganz normale Leben – Drei Filmfestivalhighlights
Von Emil Gruber
Piff Pusan 2007
Berliner Fimfestspiele 2008
Diagonale Graz 2008
Drei Länder, drei Festivals, drei andere Arten Unentdecktes zu
entdecken. Die „Berlinale“ zählt ja seit Jahren zur weltweiten
Elite der unzähligen weltweiten Festivalangebote. Das „Piff “
im südkoreanischen Pusan hat sich in seinem nun zwölfjährigen Bestand zu einem der wichtigsten asiatischen Filmtreffpunkte entwickelt und bietet ein überzeugendes Crossover
von fernöstlicher cineastischer Leistungsschau und mehr und
mehr europäischem Autorenfilm. Die österreichische „Diagonale“ hat weiterhin mit der Finanzierung zu kämpfen und
überzeugt trotzdem als inhomogener Jahresrückblick des österreichischen Filmschaffens von No-Budget- bis zu kommerziellen Spielfilmproduktionen. Durch den heurigen Oscargewinn des Ruzowitzky Films „Die Fälscher“ herrschte durchaus
auch hier Aufbruchstimmung.
Der Trend der kleinen, feinen Dokus und unter einfachsten Bedingungen hergestellten Digitalproduktionen, die ohne
den üblichen Major-Studio-Lack überzeugen, ist ungebrochen. Es ist daher sehr erfreulich, dass jedes Festival diesen
meistens nur schwer verwertbaren Filmen, einen beachtlichen
Raum bietet und das Publikum durch volle Säle die Leistungen der jungen, unabhängigen Filmemacher würdigt.
Berlin hat dafür ja seit langer Zeit eine eigene Sektion,
das Forum des jungen internationalen Films. Daneben hat
sich auch seit einigen Jahren existierenden Talente Campus,
in dem Nachwuchshoffnungen, unterstützt von renommierten Filmschaffenden, miteinander an der Umsetzung und
Realisierung von Ideen arbeiten, voll etabliert. Der nachfolgend besprochene, international sehr erfolgreiche Film „South
of Pico“, der 2005 hier seinen Anfang nahm, sei stellvertretend
für viele verwirklichte Projekte genannt.
Auch Pusan kümmert sich intensiv um die junge Garde.
Gut die Hälfte der Filme stammt hier von zukünftigen Hoffnungsträgern. Größen wie Schlöndorff, Lelouch oder Greenaway lieferten 2007 spannende Inputs in Workshops speziell
für Filmstudenten. Das Festival ist im Gegensatz zu Berlin, das
durch Mondänität immer etwas an Volksnähe verliert, noch
ein klassisches Publikumsfestival.
Auch Graz zeichnet sich durch den lockeren Umgang
zwischen Zuschauer und Profi aus. Fast ein Familienbetrieb
könnte man im Vergleich zu den beiden großen meinen.
Stellvertretend für die hohe Qualität vieler Filme zur Jugendkultur seien hier nun drei Beispiele genannt, die durch die
ungewöhnliche Geschichte oder den exotischen Schauplatz
besondere Aufmerksamkeit erzeugten.
„Heavy Metal in Baghdad“
2007, 84 Min.
Firas – Bass, Tony – Leadgitarre, Faisal – Gesang, Marwan –
Schlagzeug. Die Band heisst Acrassicauda, die lateinische Bedeutung für „Schwarzer Skorpion“. Die Musik? Heavy Metal!
Acrassicauda ist wahrscheinlich die einzige Musikgruppe auf
der Welt, die zu Ehren eines Diktators einen Headbangersong geschrieben hat. Um in den Zeiten von Saddam Hussein öffentlich mit Musik auftreten zu können, musste man
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REZENSIONEN
Filme
um Genehmigung beim Ministerium für Kultur ansuchen.
Dieses Amt erteilte seine Zustimmung nur, wenn zumindest ein Loblied auf den irakischen Führer dabei war. Und
so komponierten die vier Jungs mit schrillen Gitarrensoli,
hämmerndem Schlagzeug und kreischender Stimme eine
Huldigung der etwas außergewöhnlichen Art. Der kanadische Film „Heavy Metal in Baghdad“ erzählt die Geschichte der wohl einzigen „hardcore motherfuckin“ Band des
Iraks, die unter dem totalitären System begann, die Bomben und Schüsse der letzten Jahre überlebte, vor zwei Jahren nach Jordanien flüchtete und heute in der Türkei lebt.
Vier Stahlbuben, die es in sieben Jahren gerade auf ebenso viele Konzerte brachten. Jungs, die von langen Haaren träumen
und nun Gefahr laufen, in der Türkei in ein Spezialdorf im
Nirgends abgeschoben zu werden, wo tiefgläubige Muslime
das Sagen haben. Knapp 2,5 Millionen Iraker sind seit dem
„Kriegsende“ in die umliegenden Nachbarländer geflüchtet
und niemand will sie eigentlich haben. Es gibt für den, der kein
Geld hat, kein Visum und natürlich auch keine legale Arbeit.
“Heavy Metal in Baghdad“ zeigt uns zwar vordergründig ein
exotisches musikalisches Unikum, aber in der Essenz macht er
dem Betrachter sehr bewusst, dass die Situation im Irak einen
sozialen Flächenbrand im nahen Osten ausgelöst hat. Amerika ist im Öl und schießt, Europa steckt nüchtern seine Köpfe
zusammen und analysiert. Im Westen nix Neues. Und irgendwo tickt etwas immer schneller....
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„Tirador“
2007, 86 Min.
Quiapo, ein Slum im Herzen von Manila. Tausende Menschen
leben hier in verfallenden Gebäuden und Hütten. Jugendgangs, Drogen, Raubüberfälle, nächtliche Razzien von schwer
bewaffneten Polizeieinheiten sind hier der Alltag. Hier jeden
Tag einfach zu überleben ist die Hauptaufgabe, für weitere
Träume und Ziele ist eigentlich kein Platz.
„Tirador“ (Slingshot) des philippinischen Regisseurs
Brillante Mendoza wirbelt in einem semidokumentarischen
Stil durch dieses Ghetto. Unbeschönigt und roh werden die
Schicksale von gut einem Dutzend Menschen miteinander verknüpft. Da ist der noch halbwüchsige Vater, der sein
Baby ins Crackhaus mitnimmt, der Schüler, der wegen eines
Rucksackdiebstahls von der Polizei blutig geprügelt wird, die
junge Frau die sich für einen Zahnersatz durchs Leben bettelt
und stiehlt. Politiker lassen sich im Ghetto nur blicken, weil
Wahlkampf ist und sie sich mit Bettelbeträgen und Pseudoversprechungen Stimmen erkaufen wollen. Trotz vieler brutaler
Momente, verzichtet Mendoza nicht auf ironische Momente.
Ein Räuber bringt schon einmal beleidigt seinem Opfer die
eben entrissene Goldkette wieder zurück, weil diese sich als
eine Imitation herausstellt. Und als der jungen Frau der endlich erstandene Zahnersatz beim Reinigen in die Kloake fällt,
sucht die ganze Nachbarschaft solidarisch mit ihr danach, bis
zum Bauch in der Scheiße watend.
Filme
„With a cast blending amateurs and professionals, Mendoza weaves his stories with an endlessly mobile, roaming digital
camera and dynamic, energetic cutting and angles. Slingshot
may make viewers think of the multi-stranded stories in Robert Altman’s films, or the best US TV dramas. This amazingly
talented and inventive young Filippino director is both keeping us on the edge of our seats and effortlessly showing us a
richly human community, but one horribly stuck in poverty. It
is a raw and real vision of a world seemingly without a future,
but a world not so far from us all.“ – Simon Field
Der mittlerweile mehrfach bei Festivals prämierte Film
begeisterte beim Pusan Filmfestival in Südkorea und gewann
in Berlin im Rahmen des Forums des internationalen jungen
Films den Caligari Preis.
REZENSIONEN
Freundin gehen, bevor sie die Stadt verlässt. Das Schicksal verkettet diese Einzelepisoden miteinander am Pico Boulevard,
einer Durchzugsstrasse, die Arm und Reich im Süden von Los
Angeles trennt. ein schrecklicher Autounfall verändert für alle
brutal ihr bisheriges Leben.
Auch dieser Film ist mittlerweile mehrfach prämiert.
Neben dem Thomas Pluch Drehbuch Preis bei der heurigen
Diagonale räumte er drei Preise, inklusive Best Picture, beim
American Black Film Festival 2007 ab und erhielt einen Award
for best director eines Erstlingswerkes beim Pan African Film
Festival 2008.
„South of Pico“
2007, 84 Min.
Inspiriert von einer wahren Begebenheit, in der Augenzeugen einen Autolenker, der gerade ein Kind überfahren hatte,
aus seinem Wagen zerrten und zu Tode prügelten, hat der
Österreicher Ernst Gossner das Kunststück zusammengebracht, mit minimalen Mitteln einen Film in Los Angeles
zu drehen. „South of Pico“ zeigt uns vier normale Menschen
und diesen einen Moment, in dem jeder von ihnen plötzlich
zu etwas Unvorstellbarem bereit ist. Da ist ein angespannter
Mediziner, der kurz davor ist, das dringend benötigte Geld
für seine Forschung zu erhalten und daneben einen an Krebs
erkrankten, sterbenden Jungen und dessen verzweifelte Eltern begleitet. Patrick, ein Fünfzehnjähriger, ist unterwegs,
um endlich wieder seinen ihm fehlenden Vater zu treffen,
während er von einem unerreichbaren Mädchen, das im zulächelte, träumt. Carla lebt ein verschlossenes, einsames Leben
und spult desillusioniert ihren Job als Kellnerin herunter. Ein
Stammgast ihres Lokals bemüht sich intensiv hinter ihre Fassade zu gelangen. Ein junger Limousinenfahrer ist gerade von
seiner Freundin verlassen worden. Ein intensives Zusammentreffen mit einer reichlich abgebrühten Braut, die er zu ihrer
Hochzeit bringt, lässt ihn auf die Suche nach seiner eigenen
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Filme
„Laufen, um zu leben“ – Beispiele exemplarischer Filme
zur Jugendkultur auf österreichischen Filmfestivals
Von Emil Gruber
Es ist schon recht erfreulich festzustellen, das gemütliche Alpenland entdeckt die Bewegung. Und ist auch fähig, dabei
über seinen eigenen Brunnenrand hinweg zu schauen. Frühling in Österreich bedeutet nicht mehr, die erste Sonne sich
in das Gesicht scheinen zu lassen, sondern mehr den je ab in
den Kinosaal. Mit der „Diagonale“ in Graz und dem knapp
danach stattfindenden „Crossing Europe“ in Linz garantieren
zwei feine Festivals wetterunabhängige Ausflüge für die Fantasie mit ungeschönten und zuckerfreien Einblicken in die
Welt des Jungseins.
Während sich Graz als eine Art gefilterte Leistungsschau
des österreichischen Films sieht, wählt sich Linz neben einem
Oberösterreichschwerpunkt sehr stark in die europäische
Landschaft des Low-Budget-Films ein. Für den Wettbewerb
werden nur erste oder zweite Werke eines Regisseurs ausgesucht. Brigitte Dollhofer, die Intendantin, hat im vierten Jahr
des noch recht frischen Festivals mit viel Gefühl emotionales
Kino von Ost nach West in allen Nuancen präsentiert.
„London to Brighton“
Großbritannien 2006, 86 Min., Regie: Paul Andrew Williams
Ein Pappbecher spült sich Wind getrieben durch die menschenleere Uferpromenade des englischen Seebades Brighton. Für einen kurzen Moment herrschen Stille und Ruhe für
Kelly, die Prostituierte, und Joanne, die elfjährige Ausreißerin.
Ein traumatisches Erlebnis mit einem päderastischen Freier
hat sie zu Weggefährten zusammengeschweißt. In einem 24stündigen, alptraumhaften Roadmovie durch ein düsteres
und gewalttätiges England voller Zuhälter, Junkies und anderen Verlierern ist alles reduziert auf das nackte Überleben.
„London to Brighton“ von Paul Andrew Williams besticht
durch beeindruckende Schauspieler, unglaubliche Rasanz und
permanente Anspannung. Ein englisches „Außer Atem“, das
den Existentialismus nicht zitiert sondern ihn durchlebt.
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Williams dazu im Interview: „The aim was to create a
piece of work that bled reality, that created a world generally
ignored in today’s society, a world full of characters that we
pass by every day.“
„Three Comrades“
Niederlande 2006, 99 Min., Regie: Masha Novikova
„Three Comrades“ beginnt entsetzlich surreal. Eine amateurhafte Kamera zeigt uns drei muslimische Jugendliche im Auto
in einer nächtlichen Großstadt. Led Zeppelin und Deep Purple
dröhnen aus dem Autoradio. Die Jungs sind auf Mädchensuche. Die Stadt ist Grosny und liegt in Tschetschenien. Und der
Krieg ist noch weit weg. Die Dokumentation der russischen
Regisseurin Masha Novikova erzählt von der Freundschaft
dreier heranwachsender junger Männern, Ruslan, Ramzan
und Islam, und wie ein sinnloser Krieg Leben zerstört. Der
Film wird von vielen Bildern, die von Ramzan gemacht worden sind, getragen. Die Kamera immer dabei, gibt uns dieses
Material einen sonst kaum zu sehenden Einblick, wie sich
normales Leben mit Festen, Späßen und Alltagssituationen
in Horror verwandelte, als russische Truppen in der Silvesternacht 1994 in Grosny einmarschierten. Am Ende überlebt nur
einer den Irrsinn. Ruslan wird ohne Grund zu einem Verhör
abgeholt, von dem er niemals mehr zurückkehrt, Ramzan
stirbt mit der Kamera in der Hand als Berichterstatter für das
Grosny-TV bei einem russischen Tieffliegerangriff auf Flüchtlinge. Zurück bleiben Witwen und Halbwaisen. Islam, der als
einziger flüchten konnte, lebt heute verbittert und immer weniger zugänglich als Arzt in den Niederlanden.
„Der Krieg in Tschetschenien wurde von den Russen initiiert und geführt, und ich bin Russin. Ich empfinde tiefste
Scham über das, was da unten vor sich geht und für die Art
und Weise, in der die Russen eine Tragödie, die sich seit über
zehn Jahren abspielt, ignorieren,“ so Masha Novikova
Filme
„Armin“
Kroatien/Deutschland/Bosnien 2006, 82 Min.,
Regie: Ognjen Sviličić
Armin und sein Vater Ibro verlassen ihr bosnisches Dorf und
gondeln in einem Bus nach Zagreb. Eine deutsche Filmfirma
veranstaltet ein Casting für einen Film, und Ibro will seinem
Sohn einen Start in ein besseres Leben damit bieten. Doch Armin ist zu alt, zu aufgeregt und zu unerfahren – der Traum
platzt trotz aller Anstrengungen und Tricks, die Ibro aufbietet.
„Armin“ ist ein Film über die Sprachlosigkeit, die Unfähigkeit sich auszudrücken. Er setzt gekonnt Sicht gegen Sicht.
Das deutsche Filmteam möchte den Krieg und seine Traumata
darstellen, Vater und Sohn das alles endlich aus ihrem Leben
entfernt wissen.
„Sagen Sie, ... ist sein Zustand die Folge von einem KriegsTrauma?“ fragt die Produzentin den Vater. „Danke. Ich habe
kein Interesse“, antwortet er. Die einen suchen nach Pathos,
die anderen nach weniger Armut. Das Projekt Filmruhm
scheitert zwar und doch öffnet es einen vorsichtigen Zugang
zwischen Armin und Ibro zueinander. Ein behutsamer und in
seiner Langsamkeit anrührender Film.
Das Crossing-Europe-Projekt ist also auf dem richtigen
Weg. Filme zu präsentieren, die es schwer haben, außerhalb
ihrer Heimatländer einen Verleih zu finden, ist immer ein
Wagnis. Doch machen solche Festivals klar, wie viele Perlen
uns durch eine ängstliche Verleihpolitik vorenthalten werden.
„Heile Welt“
Österreich 2007, 90 Min., Regie: Jakob M. Erwa
Die „Diagonale“ in Graz ist dagegen ja schon ein etabliertes
Festival. Auch wenn es zwischendurch immer wieder ums
Überleben kämpfen musste und der Grund dafür manche Politiker waren, die sich aufgrund von (gesellschafts-)politischen
Aussagen und Stellungnahmen der Leitung auf den Schlips
getreten fühlten.
Natürlich lässt generell das Intendantenprinzip wegen
der Auswahl der Filme oft viele Fragen offen. Andererseits
leben ja Veranstaltungen im Kunstbereich von Diskurs und
Widerspruch.
REZENSIONEN
Gerade beim heurigen Siegerfilm konnte man durchaus großen Beifall, aber auch Verwunderung, was seine Nominierung
durch die Jury betrifft, feststellen. Als Lokalmatador hatte
Jakob M. Erwa natürlich schon einen Startvorteil. Auch die
Tatsache, dass seine „Heile Welt“ im vorigen Jahr als Kurzfilm
heftig akklamiert war und nun zu einem Langepos umgewandelt wurde, ist diskussionswürdig, aber auch nicht ganz unüblich. So entlässt einen der Film zwiespältig. Erwa arbeitet zwar
geschickt mit Tempo, Zeitebenen und allen anderen Gadgets
der modernen, wilden Filmkunst. Aber irgendwie will sich
in die Geschichte, die den Ablauf eines Tages aus der Sicht
mehrerer Jugendlicher aus unterschiedlichen Sozialschichten
schildert, keine rechte Homogenität einstellen.
Das Potpourri aus speedigen Jugendlichen, bösen Vätern, trinkenden Müttern, lieben Nutten und offenherzigen
Blinden, untermalt von fetten Soundtracks, wirkt daher
manchmal wie ein langer Videoclip und verhindert so, dass
die Geschichte berührt. Dennoch, als Talentprobe darf es allemal gelten, und Erwa hat noch genug Leben vor sich, seinen
eigenen Stil zu finden.
„Slumming“
Österreich/Schweiz 2006, 96 Min.,
Regie: Michael Glawogger
Ganz intensiv dagegen eines der Meisterwerke des österreichischen Films im Vorjahr: Michael Glawoggers „Slumming“.
Zwei Studenten aus besserem Hause sind voll damit beschäftigt, der tieferen Schicht zu zeigen, wo die wahre Intelligenz
zu Hause ist. Mit Wonne spielen Sebastian und Alex mit ihren
menschlichen Opfern. Ob sie Mädchen beim Date unterm
Tisch unbemerkt zwischen den Beinen fotografieren und die
Bilder als Trophäen an die Wand hängen, ob sie in einem Lokal den Schlüssel mitgehen lassen und Wirt und Gäste einsperren, sie bekämpfen ihre Langeweile, aber auch ihre Angst
vor dem Leben mit bösartigem Spott und überheblicher Gehässigkeit. Ihr Spiel kumuliert, als sie den Sandler und Gelegenheitspoeten Kallmann völlig betrunken auf einer Wiener
Parkbank finden, ihn versteckt im Kofferraum ihres Autos in
eine tschechische Grenzstadt bringen und dort den praktisch
Bewusstlosen wieder aussetzen.
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REZENSIONEN
Filme
„Mein Name ist nicht Furcht, mein Name ist Angst, ich
muss die Zeit, die verbleibt, verleben, zerfallen und bröckeln,
flüssig werden, in voller Fahrt.“, zitiert Sebastian, als er den
schlafenden Kallmann noch schnell vor der Rückfahrt für seine Sammlung fotografiert.
„Slumming“ ist an der Oberfläche ein gegenläufiges Roadmovie. Während Kallmann den Weg aus dem Osten zurück
sucht, zu sich, zu seiner Stadt, zu seinem Leben im Zweifel, suchen Sebastian und Alex den Weg davon weg. Pia, Sebastians
Freundin, bleibt zerrissen zwischen den Fronten. Nihilismus
und Liebe tanzen nur solange, bis das schmelzende Eis darunter bricht. „Slumming“ erzählt vom Verirren, Versäumen,
von der Kälte und vom Alleinsein. Wenn am Ende Kallmann
nach seiner Odyssee dann wieder von einer Wiener Brücke ins
Vertraute blickt, während Sebastian, auf der Flucht vor seiner
Angst, entlang eines Schienenstrangs durch die Slums Jakartas
in die Ungewissheit geht, kann, kein Ziel zu haben, schon wieder Erlösung bedeuten.
Medienprojekt Wuppertal e. V.:
„Blinde Katze“
2002, 28 Min.
„Worauf warte ich hier?“
2003, 20 Min.
Das Medienprojekt Wuppertal konzipiert und realisiert seit
1992 erfolgreich Modellprojekte aktiver Jugendvideoarbeit
unter dem Motto „das bestmögliche Video für das größtmögliche Publikum“. Im Rahmen der Arbeit des Medienprojektes
werden jedes Jahr ca. 100 Videos von 1000 aktiven Teilnehmerinnen und Teilnehmern produziert. Auf einer DVD wurden
zwei Filme von russischen Migranten herausgegeben.
Der autobiographische Dokumentarfilm „Blinde Katze“
handelt von vier jungen „Russlanddeutschen“ aus Kasachstan
und Kirgisien, die teilweise schon als Kinder mit ihren Eltern
nach Deutschland gekommen sind. „Mit vierzehn hat man
sich nicht ausgesucht, hierher zukommen, das waren die Eltern. Du bist wie eine blinde Katze: Du wurdest reingeschmissen und fertig.“ So beschreibt die 24-jährige Olesja ihre Ankunft in Deutschland. Wie ihre Familie sind die meisten aus
wirtschaftlichen Gründen immigriert, um hier ein besseres
Leben zu beginnen.
Die Protagonisten berichten über ihre Schwierigkeiten
in der Schule und mit der deutschen Sprache, über AusgrenJOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
zungen und Anfeindungen. Verbale Attacken, wie „du scheiß
Russe“, aber auch körperliche Auseinandersetzungen gehören
für sie zum Alltag. Letztere werden vor allem auch zwischen
Russlanddeutschen und Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund geführt: „Mit Türken gibt es oft Konflikte,
weil man sich von denen oft angegriffen fühlt, jedes Mal irgendwie.“ Die drei männlichen Protagonisten erzählen von
ihren Erfahrungen bei diesen Schlägereien und davon, dass
sie sich ihnen nicht entziehen können und wollen. Trotz der
Schwierigkeiten ist für alle klar, dass sie in Deutschland bleiben wollen, weil sich ihnen hier bessere Perspektiven bieten.
Das Thema der zweiten, mit szenischen Teilen kombinierten,
Dokumentation „Worauf warte ich hier?“ sind die ersten Eindrücke und Erlebnisse junger russischer MigrantInnen nach
ihrer Ankunft in Deutschland. Die Jugendlichen erzählen von
ihren Gefühlen des Fremd- und Andersseins, die sie vor allem
in den ersten Wochen viel beschäftigt haben. Sie schildern ihre
enge Wohnsituation in den Übergangswohnheimen und die
Probleme beim Erlernen einer fremden Sprache. Man erfährt
etwas über das bedrückende Gefühl, fremd zu sein; so bedrückend, dass man nach den ersten zwei Wochen „einfach nur
eine Pistole rausholen und alle Deutschen und überhaupt alle
auf der Welt abknallen möchte“.
Nadine Heymann
Neue wissenschaftliche Arbeiten
REZENSIONEN
Neue wissenscha ftliche Arbeiten
im Archiv der Jugendkulturen
Christian Koch:
Rechtsextremismus in der Heavy Metal-Szene.
Diplomarbeit, Soziale Arbeit, Evangelische Fachhochschule
Ludwigshafen 2006
Wollen wir diese Arbeit einmal nicht vom fachlichen, sondern
vom informativen Standpunkt aus betrachten. Der Autor bezeichnet sich selbst als jemand, der sich noch für Metal interessiert, aber sich nicht mehr dazugehörig fühlt. Die notwendige Distanz zum Forschungsobjekt wird dadurch natürlich
nicht erreicht, immerhin ist sich Koch dieser Schwierigkeit
des Forscherblicks mit Vorannahmen bewusst.
Im ersten Teil seiner Arbeit referiert er über die HeavyMetal-Szene, um seinen Forschungsgegenstand zu beschreiben. Warum sich dabei jemand, der vorher angibt, sich in der
Szene auszukennen, in fast jedem Satz auf Bücher stützt, erscheint selbst in einer wissenschaftlichen Arbeit wenig plausibel. Entsprechend träge liest sich auch dieser Teil und wird für
den einen oder anderen nicht wirklich erhellend sein. Dass die
Literaturlage im Bereich Metal sehr dürftig aussieht, weiß der
Autor selbst und zitiert daher vornehmlich aus zwei Büchern
– das ist vor allem einseitig. Ferner werden textliche Aspekte
lediglich angerissen, das Textthema Frauenfeindlichkeit wird
mit einem Manowar-Text und einigen aufgezählten Songtiteln
belegt – das ist vor allem oberflächlich. Auch Tom-Angelripper-Songs stehen nicht gerade stellvertretend für die textliche
Ausrichtung von Metal-Songs im Hinblick auf Alkohol. Da
reißt Koch ebenfalls Fakten aus ihrem Kontext – und das ist
vor allem verfälschend. Genauso ist die Gleichsetzung der
textlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und dem
Thema Todessehnsucht in den meisten aller Fälle sehr weit
von der Wahrheit entfernt. Die Fans und die Fankultur werden aus einem zehn Jahre alten Buch zitiert. Leider setzt sich
diese halbgare thematische Betrachtung in der Beschreibung
der Stilarten fort. Besonders interessant ist die von Koch konstatierte Tatsache, dass Black Metal kein Musikstil sei. Spätestens hier stellt sich die Frage nach der Forscherdistanz noch
einmal. Es scheint fast so, als wäre die Distanz des Autors zu
seinem Thema größer als anfänglich angedeutet. Entsprechendes gilt für viele weitere Darstellungen.
Koch bezeichnet den stilistischen Ausdruck der Fans als
nicht dogmatisch. Das ist schlichtweg falsch. Jeder Stil einer
Subkultur ist dogmatisch, auch wenn es noch so viele Substilisierungen gibt, und auch wenn oder gerade weil die Fans
meistens behaupten, es wäre nicht so. Schließlich kommt
Koch ein paar Zeilen später auch darauf, widerspricht sich
nun selbst, indem er Dresscodes impliziert. Schließlich unterstellt Koch ja dann auch selbst dem äußerlichen Symbolgehalt
einen Zweck, was natürlich absolut richtig ist, und betont vor
allem den Zweck der Abgrenzung. Der Symbolgehalt und der
damit immanente, nur von Eingeweihten geteilte Wissensvorrat sind ja der Ausdruck dieser Abgrenzung und gleichzeitig
die Form der Aufrechterhaltung dieser Abgrenzung. Schade,
dass Koch gerade hier nicht speziell wird und dies auf seinen
Forschungsgegenstand anwendet.
Während Koch bei Themen, die als ehemaliger Fan selbst
beschrieben werden sollten, Bücher zitiert, stellt er bei sehr
viel heikleren und erklärungsbedürftigeren Themen wie NSBlack-Metal oftmals unbelegte Fakten auf die Seiten. Kochs
Ungenauigkeit, Falschaussagen und wertende Statements
setzen sich leider ebenso weiter fort wie die fehlende wissenschaftliche Ebene. So wird der später behandelte Rechtsextremismus in aller Kleinigkeit juristisch erläutert – in einer
Arbeit mit sozialem Schwerpunkt wäre der gesellschaftliche
Konsens zu dem Thema sicherlich der bessere Ausgangspunkt
gewesen. Die Auseinandersetzung Kochs mit dieser Thematik kommt ebenso holprig daher, und die Aneinanderreihung
von Zitaten erhellt den Komplex dabei auch nicht gerade. Was
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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154
REZENSIONEN
Neue wissenschaftliche Arbeiten
meines Erachtens in der Erörterung des Themas „Rechtsextremismus in der Heavy-Metal-Szene“ viel zu kurz kommt,
ist die Frage nach der Rezeption der Kontroverse innerhalb
der Szene. Kontroversen und Diskussionen innerhalb gesellschaftlicher Gruppen oder Untergruppen geben immer sehr
viele Ansatzpunkte zu forschender Betrachtung. Demzufolge
müsste dies in der Bearbeitung des Themas viel mehr und vor
allem fundiert Platz einnehmen.
Und schließlich, das muss mal wieder erwähnt werden,
sollte man langsam aufhören, bei der Beschreibung der norwegischen Black-Metal-Szene zu drei Vierteln etwas über
Selbstmorde, Brände und Morde zu schreiben – klar, man
kann oder soll es erzählen, aber man sollte diesen Ereignissen
keinen Kultcharakter geben. In diesem Falle ist die reißerische
Darstellung dieser Geschehnisse zudem noch Thema verfehlend. Auch bei der sehr ausführlichen, vierseitigen Behandlung des Themas Varg Vikernes findet keinerlei Diskussion
zur Rezeption der Person und seines Schaffens innerhalb der
Szene statt. Die Halgadom- und Absurd-Diskussion ergibt
absolut Sinn in der Betrachtung Kochs, aber leider muss hier
der unbedarfte Leser letztendlich den Eindruck gewinnen, die
Black-Metal-Szene sei von Grund auf rechtsextremistisch und
kriminell, denn es wird nicht, wie die Überschrift andeutet,
über die deutsche Black-Metal-Szene geschrieben, sondern es
wird äußerst fleißig aus „Unheilige Allianzen“ zitiert. Die kritische Diskussion des Themas Rechtsextremismus in der Szene
selbst findet sich lediglich in Randabschnitten wieder, was die
Zielsetzung dieser Arbeit erneut nicht erfüllt.
Außerdem erfährt der Leser noch einiges zur Neuen
Deutschen Härte, und das Thema Böhse Onkelz darf natürlich
auch nicht fehlen.
Schließlich gibt es noch einen sechs Seiten umfassenden
wissenschaftlich-praktischen Teil zur sozialarbeiterischen
Relevanz. Der wissenschaftliche wie praktische Wert dieser
Arbeit muss leider bezweifelt werden. Aus Sicht der Informationsrecherche über Heavy Metal und in Hinblick auf einen
wissenschaftlichen Beitrag zur Jugendkulturforschung kann
für diese Diplomarbeit keine unbedingte Empfehlung ausgesprochen werden.
Jana Kimmritz
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Christian Koch: Wir sind die Stimme der arischen
Jugend. Nationalsozialistische Motive in der
Skinhead-Szene anhand ausgewählter Liedtexte.
Seminar-Hausarbeit, Soziale Arbeit, Evangelische Fachhochschule Ludwigshafen [o. J.]
Arbeiten, die sich mit Rechtsextremismus auseinandersetzen,
gibt es zuhauf. Koch beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit den
Motiven in der Szene, die anhand von Liedgut ihre Verbreitung
finden, ein Ansatz, der gerade vor dem pädagogischen Hintergrund durchaus wichtig erscheint. Koch thematisiert dies, um
Notwendigkeit und Möglichkeiten der Intervention aufzuzeigen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Dem hohen Anspruch
wird diese Arbeit nicht wirklich gerecht. Größtenteils wird
wild aus Büchern zitiert, oder Songtexte werden strophenlang
abgeschrieben. Umgangssprachlichkeit und Zynismus sind
Kochs persönliche Note – sicher nicht der beste Weg, Ohren
für harte Themen zu sensibilisieren. Eine Inhaltsanalyse findet
zwar statt, doch der analytische Schritt führt nicht weit genug.
Auch wenn es Kochs Ziel als Pädagoge nicht ist, tiefgreifende
wissenschaftliche Erkenntnisse zu erringen, weiteres erringt
er auch nicht. Schade, denn der Ansatz, die Motive durch Inhaltsanalyse systematischer aufzugreifen, um daraus intervenierende Ansätze abzuleiten, erscheint durchaus sinnvoll.
Jana Kimmritz
Birol Mertol: Männlichkeitsbilder von
Jungen mit türkischem Migrationshintergrund
sowie die Möglichkeiten und Grenzen für die
interkulturelle Jungenarbeit.
Diplomarbeit, Erziehungswissenschaften, Universität EssenDuisburg 2006
Birol Mertol arbeitete knapp drei Jahre als pädagogische Fachkraft in einem Jugendhaus in Bochum. Hier lernte er fünf
männliche Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund
im Alter von 17 bis 22 Jahren kennen, die er in seiner qualitativen Studie auf ihre Männlichkeitsbilder hin untersucht.
Aktuelle Forschungen heranziehend, betrachtet er im ersten Teil seiner Arbeit Sozialisationsbedingungen und Familienstrukturen von Jugendlichen in türkischen Migrantenfamilien
Neue wissenschaftliche Arbeiten
in Deutschland. Besonderes Augenmerk richtet er auf die Erziehungsziele für Jungen. Weitere Aspekte seiner Betrachtung sind
die Rolle des Vaters in türkischen Familien, Vater-Sohn-Beziehungen, Männlichkeitsbilder der türkischen Jungen und die Bedeutung von Freundschaften. Anhand der Shell-Jugendstudie
2000 vergleicht Mertol einheimische mit türkischen Jungen.
Der zweite Teil seiner Arbeit ist der empirische. Hier geht
Mertol in fünf Interviews der Frage nach, welche Männlichkeitsbilder die Jungen mit türkischem Migrationshintergrund
für sich beanspruchen.
Im Teil Drei werden mit Blick auf den gegenwärtigen Forschungsstand der interkulturellen Jungenarbeit Schlussfolgerungen aus der vorhergehenden Untersuchung gezogen.
Antje Pfeffer
Peter Wolter: Die Gothic Szene und ihre Musik.
Hausarbeit. Ludwig-Maximilians-Universität München 2006
In Peter Wolters Arbeit, die im Rahmen eines Seminars zu
„Musik und Identität“ entstanden ist, stehen Musikstile der
Gothic-Szene wie u. a. Gothic Rock, Elektro, Industrial, Folklore, Black und Death Metal im Mittelpunkt. Einführend definiert er die Szene über ihre Ästhetik und geht ihrer Historie
nach. Im umfangreichen Anhang finden sich Links zu Künstlern und Bands, eine Diskographie, jeweils ein Abbildungsund Literaturverzeichnis sowie Internetadressen.
Antje Pfeffer
Nadine Heymann: „Nazipop“. Lifestyle, Symbole
und Aktionsformen Autonomer Nationalisten.
Magisterarbeit, Institut für Europäische Ethnologie, HumboldtUniversität zu Berlin 2006
Ende des Jahres 2003 traten vermehrt junge Neonazis in Erscheinung, die sich am Stil von Linksautonomen orientierten,
diesen teilweise sogar für sich übernahmen. Diese Erscheinung
wurde in linken Kreisen mit Unbehagen aufgenommen. Man
initiierte Informationsveranstaltungen mit Titeln wie „Bunt
statt Braun“ oder „Der Neonazis neue Kleider“, um sich darüber zu versichern, wie man Linke und Rechte auseinanderhalten könnte. Diese Entwicklung bildet den Ausgangspunkt für
REZENSIONEN
die Magisterarbeit von Nadine Heymann, die 2006 am Institut
für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität angenommen wurde. Zentrales Anliegen der Arbeit ist es, herauszufinden, warum Neonazis auf Stilelemente und Aktionsformen
des politischen Gegners zurückgreifen, welche Erklärungsmechanismen dahinter stecken und welche Bedeutung das für die
Akteure hat. Um die Praxen dieses Umgangs mit Stilmitteln herauszuarbeiten, werden in einer dichten Beschreibung die Kleidungserscheinungen, Symbole und Aktionsformen zusammengetragen, die im Alltag junger Neonazis eine Rolle spielen. Die
zentralen Fragen und Ziele dieser Arbeit sind es also, zu zeigen,
wie und durch welches Selbstverständnis junge Neonazis motiviert sind, linksautonome Stil- und Aktionsformen zu zitieren.
Grundlage des empirischen Materials ist dabei die Feldforschung im Umfeld einer der bekanntesten Berliner Kameradschaften. Um in das Thema einzuführen, werden zunächst
Entwicklungsgeschichte, Struktur und Charakter der Freien
Kameradschaften nachgezeichnet, um so deren Positionen
und Bedeutung in ihrem nationalen, politischen und gesellschaftlichen Kontext zumindest in Ansätzen nachvollziehbar
zu machen. Die Perspektive der Forschung wirft natürlich die
Frage auf, wie in einer neonazistischen Kameradschaft, einem
gesellschaftspolitisch so hart umkämpften Feld, empirisch geforscht werden kann. Da die Erfolgsaussichten für ein gelingendes Zustandekommen qualitativ-empirischer Forschung
im Bereich von neonazistischen Gruppen relativ prekär und
von zahlreichen Einflussfaktoren abhängig sind, bietet die Arbeit eine ausführliche Darstellung der spezifischen Probleme
einer qualitativen Forschung.
Im Hauptteil widmet sich die Autorin dem empirischen
Teil der Arbeit. Die theoretischen Befunde und methodischen
Zugänge werden für die Analyse der Wandlung und Entwicklungsform der ästhetischen Praxis und des (postmodernen)
Lebensstils der Akteure fruchtbar gemacht. Für die Analyse
der ästhetischen Praxis greift die Arbeit auf den Stilbegriff aus
der Jugend- und Subkulturforschung zurück, der durch einen
sozialwissenschaftlichen Lebensstilbegriff ergänzt wird.
Interessant ist vor allem der Kleidungsstil der untersuchten
Kameradschaft, deren Aktionsformen, wie z. B. der Schwarze
Block auf Demonstrationen, oder auch die so genannten Spuckis, die im öffentlichen Raum angebracht werden. Zu einigen
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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156
REZENSIONEN
Neue wissenschaftliche Arbeiten
der genannten Phänomene finden sich im Anhang eindrückliche Fotografien und weitere Bildnachweise.
Martin Pickelmann
Alena Karaschinski: Weiche Töne harter Ideologen.
Rechtsextreme Liedermacher im vereinten Deutschland.
Diplomarbeit, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Frankfurt (Oder) 2005
Alena Karaschinski stellt in ihrer Diplomarbeit fest, dass es
bisher keine detaillierten Forschungsergebnisse über rechtsextreme Liedermacher in Deutschland gibt. So macht sie es sich
zunächst zur Aufgabe, einen Überblick zu erstellen.
Dass rechtsextremen Liedermachern die Funktion einer
integrativen Wirkung innerhalb der Bewegung zukommt, ist
die Hypothese, die sie untermauern möchte. Dazu zieht sie
den Collective-Identity-Ansatz aus der Bewegungsforschung
heran. Anhand eines von ihr entwickelten Analyserasters
prüft und erfasst sie das Wirken der Liedermacher in Bezug
auf Herstellung und Stärkung kollektiver Identität innerhalb
der rechten Szene.
Antje Pfeffer
Maurice Wojach: Selbstbestimmungen der
Punkbewegung in der DDR (1981-1989).
Bachelorarbeit, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin 2007
Maurice Wojach geht in seiner Arbeit der Frage nach, wie
es in der DDR zu einer spezifischen Ausprägung der Punkbewegung kommen konnte. Den zeitlichen Rahmen bildet
zum einen das Jahr 1981, als mit dem Auftritt der Band Koks
in der Jugoslawischen Botschaft in Ost-Berlin erstmals ein
Punkkonzert stattfand, und zum anderen das Jahr 1989, das
mit dem Fall der Mauer auch einer DDR-Punkbewegung das
Ende bereitete. Die besonderen, konfrontativen Bedingungen
in der DDR-Gesellschaft forderten subkulturelle Selbstbestimmungsprozesse der Punks heraus, die der Autor untersucht.
Ein Exkurs behandelt die Punkbewegung und deren Vernetzung mit verschiedenen Szenen in der Messestadt Leipzig.
Antje Pfeffer
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
Nana Adusei-Poku: Schwarze Körper – weiße
Bilder. Zur visuellen Repräsentation „Schwarzer
Andersartigkeit“ als Ausdruck von Weißsein
Bachelorarbeit, Afrika- Asienwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin 2006
Im Zentrum der Bachelorarbeit von Nana Adusei-Poku steht
die Untersuchung und Analyse der v. a. bildlichen Darstellung
Afrikanischer Sportler bzw. Mannschaften in den bundesdeutschen Printmedien während der Fußballweltmeisterschaft 2006.
Ein Ziel der Autorin ist dabei die Sichtbarmachung weißer
Machtstrategien und weißer Identität. „Weißsein“ wird verstanden als soziale und kulturelle Identitätskonstruktion, die sich in
einer bestimmten Konstruktion von „Anderen“ bildet. Die dabei zum Tragen kommende Markierung der „Anderen“ durch
Stereotypisierung und Fetischisierung wird in einem eigenen
Kapitel dargestellt. Relativ breiten Raum nimmt ein mit Abbildungen versehener historischer Exkurs ein, der sich mit Bildern
von AfrikanerInnen bzw. „Schwarzer Männlichkeit“ im Mittelalter, in der Kolonialzeit und während der NS-Zeit beschäftigt.
An vier ausgewählten Beispielen (ebenfalls mit Abbildungen) der Medienberichterstattung im Rahmen der WM 2006
werden die Stereotypisierungs- und Fetischisierungsmuster,
mit denen Schwarze Sportler bzw. „Schwarze Andersartigkeit“
belegt werden, konkret analysiert.
Martin Pickelmann
Silke Eckert: Auswirkungen subkultureller
Identifikationen auf die Identitätsentwicklung im
Erwachsenenalter am Beispiel männlicher Punks.
Diplomarbeit, Psychologie, Universität Bremen 2006
Silke Eckert untersucht in ihrer Diplomarbeit, inwieweit sich
eine in der Jugend begonnene subkulturelle Entwicklung auf
die Identitätsentwicklung im Erwachsenenalter auswirkt. Sie
geht der Frage nach, wie sich der Ausdruck der Zugehörigkeit
zu einer Subkultur und dem damit verbundenen Wertesystem
von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter verändert.
In einem theoretischen Teil werden klassische und moderne Theorien der Identitätsentwicklung mit Bezug zu subkulturellen Aspekten dargestellt.
Neue wissenschaftliche Arbeiten
Im empirischen Teil der Arbeit werden diese Thesen dann
anhand von drei problemzentrierten Interviews geprüft. Alle
Interviewten sind der Punk-Szene zuzuordnen.
Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass sich subkulturelle Einflüsse insofern positiv auf die Identitätsentwicklung
auswirken, als sie neue Werte und Schwerpunkte in die Identitätsarbeit einfließen lassen und klassische identitätsstiftende
Momente, wie etwa den Beruf, überlagern.
Martin Pickelmann
Christian Schmidt: Punk-Fanzines in der BRD
1977-80. Zur Entstehung eines Szene-Mediums
und seinen kulturellen Bedeutungen.
Magisterarbeit, Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität
zu Berlin 2006
Christian Schmidt legt mit seiner Magisterarbeit eine kulturwissenschaftliche Analyse der Punk-Fanzines als spezifische
Medienform in der BRD in den Jahren von 1977 bis 1980 vor.
Der Autor, der selbst auch an der Herausgabe von Fanzines
beteiligt war, betreut seit einigen Jahren den Fanzine-Bestand
des Archivs der Jugendkulturen.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage nach der Genese der Punk-Fanzines als spezifische Medienform und deren
kulturelle Bedeutung. Neben einer Definition von Fanzines
und eines Überblicks ihrer historischen Entwicklung werden
die Personengruppen der HerausgeberInnen und der LeserInnen von Punk-Fanzines sowie deren Herstellungsweise und
Distribution dargestellt. Vor diesem Hintergrund werden die
einzelnen Themenfelder der Fanzines analysiert, zu anderen
Presseorganen aus dem Untersuchungszeitraum in Beziehung gesetzt und die spezifische kulturelle Bedeutung dieser
Szenemedien herausgearbeitet.
Martin Pickelmann
Eva Stein/Julia Rochel: Design to Death.
Seminararbeit, Fachbereich Design/Industriedesign, Burg Giebichenstein Hochschule für Kunst und Design Halle 2006
Im Mittelpunkt der Arbeit steht das Phänomen Autoaggression im Kontext verschiedener Subkulturen. Ein wesentlicher
REZENSIONEN
Aspekt der Arbeit ist die Layoutgestaltung und die Einbettung
des Textes in aussagekräftiges Bildmaterial.
Nachdem in einem einleitenden Kapitel Definitionen von
Autoaggression, Subkultur und Suchtverhalten gegeben werden, rücken die einzelnen subkulturellen Szenen bzw. Bewegungen näher ins Blickfeld.
Namentlich sind dies die Punk-, die Sadomasochismusund Gothic-Szene, die Pro-Ana-Bewegung (pro Anorexie)
sowie Body- bzw. Beauty-Modifikation.
Das Kapitel Sadomasochismus beinhaltet einen Exkurs über
den Fall Meiwes und Brandes („Kannibale von Rotenburg“).
Andere Aspekte, etwa bei der Betrachtung der GothicSzene, sind verschiedene Ausdrucksformen durch Mode, Stil,
Kommerz oder suizidale Tendenzen in der Szene.
Martin Pickelmann
Backjumps – The Live Issue # 3. Katalog.
From Here To Fame Publishing, Berlin 2007, 317 S., 29,90 Euro
„Backjumps – The Live Issue“ ist ein Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt, das bereits 2003 und 2005 in Berlin erfolgreich sämtliche Facetten von Street Art ausgeleuchtet hat. Hier
liegt der Katalog der dritten Schau vor, die vom 23. Juni bis 19
August 2007 im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien präsentiert
wurde. Grundlage der „Backjumps-The-Live-Issue“-Serien
bildet das seit 1982 aufgebaute Netzwerk des Editors und Ausstellungskurators Adrian Nabi. Das 1994 gegründete Berliner
Magazin für urbane Kommunikation und Ästhetik Backjumps
dient als Sprachrohr dieses nationalen und internationalen
Netzwerks. Die Themenpalette, anfangs ausschließlich auf
Graffiti ausgerichtet, hat sich auf Straßenkunst und HipHopKultur im weitesten Sinn, bis hin zu Mode, Fotografie und Architektur erweitert.
Der Katalog der Live Issue # 3 präsentiert in über 500
Abbildungen und ausgewählten Texten, u. a. von Christian
Schmidt (Ethnologe und langjähriger freier Mitarbeiter im Archiv der Jugendkulturen) und Don M. Zaza (seit 1983 Writer
und Herausgeber des ersten deutschen Buchtitels über Graffiti
auf Zügen), die 24 Künstler und Projekte der Ausstellung.
Antje Pfeffer
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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REZENSIONEN
Neue wissenschaftliche Arbeiten
Neue Veröf fentlichungen unserer Mitglieder
Edward Larkey:
Rotes Rockradio. Populäre Musik und
die Kommerzialisierung des DDRRundfunks (Medien und Kultur 2).
LIT Verlag, Berlin 2007, 372 Seiten, 29,90 Euro
Welche Rolle spielte der DDR-Rundfunk, speziell die Sendungen, die sich durch die Ausstrahlung populärer Musik an eine
jugendliche Hörerschaft wendeten, beim Untergang der DDR?
Edward Larkey, Associated Professor for German Studies and Intercultural Communication an der University
of Maryland, Baltimore County, promovierte 1986 an der
Humboldt-Universität zu Berlin über die kulturpolitische
Rezeption der US-Rockmusik in der DDR. In seinem jetzt
vorliegenden Langzeitprojekt geht es erneut um populäre
Musik, diesmal vermittelt durch die Institution Rundfunk als
ideologischem Instrument der DDR-Diktatur. Die Untersuchung umfasst den Zeitraum von zirka Mitte der 1970er- bis
Mitte der 1980er-Jahre.
Im Fokus der Betrachtungen stehen gesellschaftliche Widersprüche und ökonomische Widrigkeiten, denen sich sowohl die jugendlichen Rezipienten populärer Musik als auch
die Redaktionen der Jugendsender permanent ausgesetzt
sahen. Das „Rote Rockradio“ hatte die Aufgabe, den herrschenden ideologischen Duktus und Machtanspruch zu untermauern, sich dementsprechend vom Westen abzugrenzen
und dazu beizutragen, junge Menschen zu „sozialistischen
Persönlichkeiten“ zu formen. Um ihre Zielgruppe jedoch zu
erreichen, war es nötig, auf deren Interessen einzugehen, die
wiederum vor allem in punkto Musik unweigerlich durch Einflüsse aus dem Westen geprägt waren.
Larkey formuliert seine These wie folgt: „Spontane Praktiken, Verhaltensweisen, Strukturen und Werte bildeten sich
in Folge der aus dem Westen in die DDR vermittelten und
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
durch die kulturindustriell konstituierten pop- und rockmusikalischen Einflüsse heraus. Diesen Einflüssen musste die
parteistaatliche Führung immer wieder nachgeben, da sie
auf diese Weise die Loyalität der Bevölkerung zu untermauern suchte. In Wirklichkeit jedoch führten diese im Grunde
konzeptionslosen und von politischen Manipulations- und
Instrumentalisierungsinteressen diktierten Zugeständnisse
zu einer weiteren Aushöhlung ihres herrschaftsdiskursiven
Monopolanspruchs. Sie erweiterten den Spielraum für eigensinnig produzierte Texte, Wahrnehmungsweisen, Ausdrucksformen und Themenkomplexe über den von der Partei- und
Staatsführung gewünschten Rahmen hinaus.“ (S. 26)
Zur Untermauerung seiner These untersucht Larkey
strukturelle Veränderungen der Radioprogramme. So wird
der Ausbau von „DT 64“ von einer Sendung zum Sender behandelt. Spezielle Jugendsendungen wie „Hallo – das Jugendjournal“, „Die Notenbude“, „Trend – Forum populärer Musik“
oder „Parocktikum“ werden ausführlich auf ihre Programmgestaltung hin analysiert. Letztgenannter Sendung, seit März
1986 ausgestrahlt, kam dabei eine besondere Rolle zu: Erstmals wurde nicht der Mainstream bedient, sondern es wurden
Titel von so genannten Independent-Bands, auch aus der sich
gerade im Untergrund entwickelnden DDR-Szene, gespielt.
Einen breiten Raum nimmt die Betrachtung der Hörerpost ein, die Larkey in den Beständen des Deutschen Rundfunkarchivs in Potsdam-Babelsberg recherchierte. Hier wird
deutlich, wie vehement die oben erwähnte Zielgruppe die
Durchsetzung ihrer popmusikalischen Interessen einforderte,
die Redakteure dadurch herausforderte und in welcher Form
somit Einfluss auf die Struktur und Gestaltung der Rundfunkprogramme genommen werden konnte.
Von den Hörern ist beispielsweise häufig Musik zum Mitschneiden gefordert worden, ohne dass auf den Titel raufgesprochen wurde. Gab es doch nur in dieser Form die Möglichkeit,
Neue Veröffentlichungen unserer Mitglieder
an Musik heranzukommen, die ansonsten in der DDR nicht
auf Tonträgern erhältlich war. Eine wichtige Rolle spielte dabei
die täglich ausgestrahlte Mitschneidesendung „Duett – Musik
für den Rekorder“. Leider läßt sich aus dem Kapitel über diese
Sendung nicht ermitteln, seit wann genau diese Sendung etabliert worden war.
Einige kritische Anmerkungen sind unumgänglich: Die
fehlerhafte Schreibweise der Namen von Musikern wie Jackson Browne (hier: Brown, S. 125), Fritz Puppel (hier: Puppe,
S. 133) von der Band City, Gary Moore und Phil Lynott (hier:
Garry bzw. Zynott, S. 155), der irisch-englischen Band Thin
Lizzy (hier: australischen, ebd.), der Band Cockney Rebel (hier:
Rebe, S. 157), Hansi Biebl (hier: Biebel, S. 168) oder Uve Schikora (hier: Schickora, S. 284, 328) sollte in einem Werk, das
Rock- und Popmusik zum Thema hat, vermieden werden.
Weiterhin ziehen sich Redundanzen durch den Text, wenn
REZENSIONEN
z. B. wiederholt die Etablierung von DT 64 oder die Bedeutung der Sendung „Parocktikum“ in gleichen Zusammenhängen erwähnt werden. Generell würde eine Straffung des Textes
dem Thema angemessener erscheinen. Das Kapitel 6 über den
Sender RIAS als Konkurrenten des DDR-Rundfunks ist zwar
sehr informativ, erscheint aber zu umfassend und zu detailliert im Gesamtverhältnis des Textes.
Alles in allem aber leistet Larkeys Studie einen hervorragenden Beitrag einerseits zur Rolle der Rock- und Popmusik
im Kontext der DDR-Forschung, andererseits zur deutschen
Rundfunkhistoriographie. Die Geschichte des DDR-Rundfunks diskursanalytisch aufzuarbeiten und anhand von Rezeptionsforschung zu untermauern, ist ein spannendes Novum, und diese Leistung Edward Larkeys muss auf jeden Fall
gewürdigt werden.
Antje Pfeffer
JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
159
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 Weibliche Szene-Minder im
Panorama der Jugendkultur
 Junge Deutsche und die
Wiedervereinigung
Journal Nr. 7 / 2002:
 Wiedererwachen germanischer Werte?
 Black Metal, Satanismus, Nationalsozialismus  Dark Wave, Gabber und Rechtsextremismus  Nationalsozialistische
Symbolik in der Popkultur
Journal Nr. 2 / Juni 2000:
 Love Parade 2000 und der
Berliner Technomarkt  Zensur
 Forschungsfeld „Szenen“
 Poetry Slams
Journal Nr. 8 / April 2003:
 Infantilität als Zivilisationsrisiko?
 Boarding. Doing Gender der modernen
Mädchen  Trendsport – das ganz normale
Neue von den Geschlechtern
Journal Nr. 3 / Oktober 2000:
 Jesus Freaks  reclaim the
streets  Roter Stern Leipzig
 Der Rechtsextremismus und
das Sommerloch
Journal Nr. 9 / Oktober 2003:
 NPD: „Kampf um die Schüler“
 Makkabi Berlin
 HipHop-Kultur?
Journal Nr. 4 / April 2001:
 Rollenspieler
 Punk in Lateinamerika
 HipHop in Deutschland
 Dancehall-Reggae in Deutschland
Journal Nr. 10 / September 2004:
 Identität: Skateboarder
 Lateinamerika
 Eminem, die Medien und der HipHop
 Grrrl (Fan)Zines
 Österreich-Special von jugendkultur.at
Journal Nr. 5 / Juli 2001:
 Fankultur der Weimarer Republik
 Der Berliner Tennis Club Borussia,
sein Image und die Fans  Modischer
Sport oder sportliche Mode
 Rechte Jugendcliquen
Journal Nr. 11 / Oktober 2006:
 Black
 Sex, Jungfräulichkeit und Ehe
 Punk ist doch nicht tot
 Der Styler und seine Szene
Journal Nr. 6 / Mai 2002:
 Satanismus? Die WM3
 Provokation „Jugendlichkeit“. Mentale Un-Erwachsenheit als Zivilisationsrisiko?
 Die Goa-Szene: Eine Form posttraditioneller Vergemeinschaftung
Journal Nr. 12 / April 2007:
 Aggro Berlin
 B-Tight
 HipHop-Kultur der DDR
 Baile Funk
 Lernen in Szenen
 HipHop Mobil Berlin
DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008
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„EU for YOU!“: Ein Erfolgsbuch in 3. Auflage
Die Europäische Union beeinflusst längst unser tägliches Leben.
Dieses bereits in der 3. aktualisierten Auflage (Stand 2008) vorliegende Buch
erklärt verständlich, wie diese politische Gemeinschaft funktioniert.
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auch einen historischen Rückblick auf die Entstehung der Gemeinschaft
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��������������������������������������������(Die Presse).
Aus den Pressestimmen:
„Licht ins Dunkel des Dickichts der europäischen Institutionen“
Kurier
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EU for YOU!
So funktioniert die Europäische Union
16,5 x 23,5 cm, Softcover
128 Seiten, durchg. farbig illustriert
Euro 16,80
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„Ganz ohne Fachjargon und EU-Insiderspeak,
immer verständlich und angereichert mit konkreten Beispielen“
Der Standard
„Ein nützliches Hilfsmittel für das Verständnis
über die europäische Union“
Le Soir, Brüssel
„Höchst verständlich geschrieben: die EU, konkret“
Die Zeit, Hamburg
www.ggverlag.at