PRAGER TAGEBUCH (4) – von Michael Schneider Di, 25.11
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PRAGER TAGEBUCH (4) – von Michael Schneider Di, 25.11
PRAGER TAGEBUCH (4) – von Michael Schneider Di, 25.11. Magische Lesung aus meinem historischen Schelmenroman „Das Geheimnis des Cagliostro“ im ehemaligen Weinkeller des Literaturcafés Řetězová. Ich garniere meine Lesung mit kleinen magischen Einlagen, was gut zum Charakter meines Protagonisten passt, der ja in seiner Epoche als Hochstapler und Scharlatan, Magus und Heilkünstler, Logenfürst und Freimaurer Furore gemacht hat. Einen zaubernden Literaten und literarischen Zauberer hat man, wie ich den erstaunten und amüsierten Mienen meiner Zuschauer entnehme, hier noch nicht erlebt. Gegen drei Uhr morgens werden B. und ich durch lautes Gerumpel und Getöse aus dem Schlaf gerissen. Ich kenne das schon: das ist die Müllabfuhr, die hier nur des Nachts aktiv werden kann, weil tagsüber die Gassen von Touristen so voll gestopft sind, dass kein Müllwagen passieren könnte. Als wir ans Fenster treten, bietet sich uns ein ebenso skuriles wie anrührendes Schauspiel: Zwei in dicken Jacken verpackte, gebeugte Menschen, ein Männlein und ein Weiblein, mit Schäufelchen und Besen in der Hand, trotten hinter dem Müllwagen her, um mit völlig automatisierten Bewegungen unsichtbare Rückstände auf die Schaufel zu kehren. Prags Altstadt wird – für den Tourismus -- sehr, sehr sauber gehalten, darum sieht man, auch tagsüber, überall uniformierte Putzleute, meist handelt es sich um ältere Frauen, ihre Reinigungswägelchen über das Pflaster schieben. Mi, 26.11. Treffen mit Jiří Dědeček, dem Vorsitzenden des tschechischen PEN-Clubs im Café Slavia. Er ist vor allem als Texter und Sänger von Chansons in Tschechien bekannt, schreibt aber auch Prosatexte und hat vor einem Jahr seinen ersten Roman publiziert. Da er lange in Frankreich gelebt hat und fließend Französisch spricht, können wir uns gut miteinander verständigen. Jiří erzählt von den Schwierigkeiten der Dissidenz unter den Bedingungen der kommunistischen Diktatur; wie er und andere literarische Dissidenten, die der Charta 77 angehörten und nicht mehr publizieren durften, sich geistig und materiell über Wasser gehalten haben; wie sie in kleinen Cafés, Underground-Clubs, Kellertheatern etc. ihre Texte vorgelesen oder in Szene gesetzt und sich auch gegenseitig unterstützt und geholfen haben. Nur wenige Dissidenten wie Václav Havel hatten das Glück, während dieser Epoche im Ausland gespielt oder publiziert zu werden. Was Jiří Dědeček selbst damals an Unterstützung, Zuspruch und Ermunterung erhalten hat, versucht er nun, in seiner Funktion als PENVorsitzender, an andere Autor/innen, die aus politischen Gründen verfolgt werden und sich in Not befinden, weiterzugeben. Ich frage ihn, ob er mit den Ergebnissen der „samtenen Revolution“ zufrieden ist oder ob es Entwicklungen gibt, die er auch bedauert. Gewisse Auswüchse des neoliberalen Kapitalismus, wie sie auch in Tschechien sichtbar würden, bedaure er schon, erwidert Dědeček, der heute die tschechischen Grünen wählt: etwa das wachsende Gefälle zwischen Reich und Arm, viele Tschechen müssen heute zwei oder sogar drei Jobs nachgehen, um sich und ihre Familien über die Runden zu bringen, dann die hohe Arbeitslosigkeit in gewissen Provinzen. Auch sei es für viele seiner Landsleute schwer erträglich, dass sich die neureichen Russen, im Volksmund die „russische Maffia“ genannt, hier ungehindert einkaufen könnten. Das Palladium zum Beispiel, dieser gigantische Konsumtempel am Platz der Republik, gehöre zu 100 Prozent den Russen. Ebenso Karlsbad, das sich komplett in russischer Hand befinde. Welch Ironie der Geschichte! 1968 sind die Sowjets mit ihren Panzern einmarschiert, jetzt marschierten die neureichen Russen mit ihrem Geld ein! Mittags Fahrt nach Olmütz, wo Lucie und Birgit Gunsenheimer, Dozentin der Germanistische Fakultät, eine Lesung für mich organisiert haben. Vorher führt sie mich durch die Altstadt, die mit ihren alten Rennaissance- und Barockhäusern, ihren großen Plätzen, Barockkirchen und Laubengängen wie ein kleines Prag (ohne Moldau und Hradschin) wirkt. Im Unterschied zum berühmten Uhrturm am Rathaus des Altstädter Rings präsentiert der (im Krieg beschädigte und nach 1948 im Stile des Sozialistischen Realismus wieder aufgebaute) Uhrturm des Olmützer Rathauses dem Betrachter allerdings keine zwölf Apostel, sondern zu jeden vollen Stunde zwölf Vertreter der werktätigen Klassen, Handwerker mit Hammer und Säge, Fischer mit Netzen, Bergleute mit Spitzhacke und Schaufel etc. -- eine bemerkenswerte historische Wachablösung, die freilich auch schon wieder überholt ist. Statt ihrer müssten heute die Zwölf Heiligen Banker, vorneweg Josef Ackermann von der Deutschen Bank, zu jeder vollen Stunde aus dem Uhrturm heraustreten und mit huldvollen Gebärden die geschröpfte Kundschaft begrüßen. Sehr eindrucksvoll sind die beiden Pestsäulen auf den beiden zentralen Plätzen der Altstadt, dem Horní náměstí, wo viel Volks sich um den Weihnachtsmarkt schart, und dem Dolní náměstí. Meine Begleiterin zeigt mir auch das Haus, in dem Wolfgang Amadeus Mozart einen Teil seiner Kindheit verbrachte und seine 1. Sinfonie komponiert haben soll. Obwohl sie hier nur ein Achtel dessen verdient, was sie in Deutschland verdienen würde, fühlt sie sich in Olmütz und in Tschechien sehr wohl. Die Menschen hier seien sehr freundlich, kommunikativ und gesellig, Konsum und Statussymbole spielten nicht entfernt die Rolle wie bei uns, umso so mehr lege man Wert auf menschlichen Beziehungen, Freundschaften und die Pflege der Kultur - eine Erfahrung, die auch ich während meines Prager Aufenthaltes gemacht habe. Nach der Lesung laden die drei Dozentinnen der germanistischen Fakultät mich und Dr. Hartmut Holzapfel, den ehemaligen hessischen Bildungsminister und Vorsitzenden des Hess. Literaturrates, der sich sehr für den deutsch-tschechischen Kulturaustausch engagiert, zum Essen ein. Do.,27.11. Fahrt zurück nach Prag. Abends Besuch des Black & Light-Theaters am Národní, im Souterrain des Café Louvre. Unter den vielen touristischen Black &Light-Theatern, die es in Prag gibt, war mir dieses empfohlen worden, weil es noch nach den originalen Vorstellungen seiner Erfinder arbeite. Und unsere Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Es war ganz zauberhaft, wie die leibhaftigen Schauspieler auf der Bühne von der ein magisches Eigenleben führenden Dingwelt um sie herum ständig herausgefordert, gefoppt und aufs Glatteis geführt wurden. Besonders faszinierte mich die Solonummer einer jungen zaubernden Fee, die Zauberstäbe, Reifen, Bälle und Hüte mit einer Leichtigkeit schweben und um ihren Körper tanzen ließ, als hielte sie diese an unsichtbaren Fäden. Dabei wanderten die betreffenden Requisiten auf unmerkliche Weise von ihren sichtbaren Händen in die ihrer unsichtbaren, weil ganz in Schwarz gekleideten Helfer und Mitspieler. Aber dieser Wechsel ist so sauber einstudiert und wird durch das Black & Light-Prinzip so perfekt verhüllt, dass man ihn auch auf kürzeste Distanz- wir saßen in der ersten Reihe- nicht bemerkt. Und mit wie einfachen Mitteln etwa ein galoppierendes Pferd dargestellt wird- nämlich durch ein mehrfach ineinander geschlungenes und verknotetes weißes Laken, in das sich einer der unsichtbaren Mitspieler gewickelt hatte, der das Maul des Pferdes auf – und zuschnappen ließ, während andere unsichtbare Helfer zugleich die vier Pferdehufe im Takt des Galopps auf- und abbewegten. Wir freuten uns wie die Kinder über diese fabelhafte Mischung aus hochartistischer und gleichzeitig naiver Darstellungskunst, aus Ballet, Zauberei und optischer Täuschung. Entsprechend herzlich war der Applaus für das 7köpfige Team. Fr., Sa, 28. und 29.11. Vier Augen sehen mehr als zwei. Und da B. als bildende Künstlerin eine sehr ausgeprägte visuelle Wahrnehmung hat, sehe ich Prag auch wieder mit neuen Augen. Schon am ersten Tag ihres Hierseins hat sie das sonderbare Emblem, das das Cover ihres Reiseführers ziert, eine sich ringelnde goldene Schlange auf blauem Grund, an einem Eckhaus der Liliová, unweit unseres Domizil, entdeckt. (Mir war es entgangen) Dann fiel ihr auf, dass alle Sitzbänke an den großen Boulevards, der Moldauuferstraße und der Parks auf schmiedeeisernen Stützen ruhen, die die Gestalt einer in sich gekrümmten Schlange haben. Man sitzt also in Prag buchstäblich auf der Schlange – fragt sich nur auf welcher: auf der Schlange der Versuchung und der Rebellion oder auf der Schlange der Erkenntnis? Ich entscheide mich für beide Symbole: denn es gibt keine Erkenntnis ohne Rebellion, keine Weisheit ohne Versuchung. Auch stach B. sofort die Skulptur eines Mannes in die Augen, der auf den ersten Blick wie ein Selbstmörder wirkt: mit ausgestrecktem Arm hängt er an einem Seil, das zwischen zwei Häuser bzw. Dachfirsten der Liliová gespannt ist; der Mann hängt buchstäblich in der Luft. Wie wir später erfahren, handelt es sich um eine Skulptur von David Černý, die den originellen Titel trägt: „Die Verzweiflung des Intellektuellen am Ende des 20 Jahrhunderts.“ , Černý will mit seinen provokativen Skulpturen- von ihm stammt auch das von der Decke der Laterne-Passage hängende Reiterstandbild mit dem nach unten hängenden Pferd -- die Prager und ihre traditionelle Heiligenvergötzung, einschließlich der Verehrung des Stadtheiligen Wenzel, aufs Korn nehmen. Als ich B. die makabre Skulpturengruppe auf der Treppe am Fuße des Petřín- Hügels zeige, die den Opfern der kommunistischen Totalitarismus gewidmet ist, ist sie sehr beeindruckt und korrigiert sogleich meine Deutung, die auf einer Fehlwahrnehmung basierte: Erst jetzt erkenne ich nämlich, dass es sich bei den verschiedenen Bronze-Skulpturen, deren Körper, von Skulptur zu Skulptur fortschreitend immer weiter demontiert werden, immer um die gleiche Gestalt handelt: Dass also das ganze Skulpturen- Ensemble auf ebenso gespenstische wie eindrückliche Weise die fortschreitende Demontage eines Menschen, des Menschen zum Ausdruck bringt. Lucie zeigt Hartmut Holzapfel, Ex-Botschafter Černý, Veronika, B. und mir das künftige Domizil des Prager Literaturhauses in der Ječná-Straβe.Während wir die noch leeren und renovierungsbedürftigen Räume durchstreifen, die bis vor kurzem einer Anwaltskanzlei gehörten, schmiedet sie schon Pläne für die Zukunft: wo die Lesungen und Veranstaltungen stattfinden sollen, wo die Bibliothek hinkommen, wo das Büro der Chefin und wo die Wohnung für den jeweiligen Stipendiaten liegen wird. Beim anschließenden Abschiedsessen und Umtrunk stoßen wir auf die Zukunft des Prager Literaturhauses an! Wenn „Ahoi!“ im Tschechischen nicht „Hallo!“ hieße, würde ich dem kleinen deutsch-tschechischen Literatur- Zweimaster und seiner kleinen tapferen Mannschaft bei seinem ersten Stapellauf ein kräftiges „Ahoi!“ zurufen. Stattdessen rufe ich denn: „Bella Ciao!- Lucie! Bella Cioa –Veronika! Bella Ciao- Herr Cerny! Bella Ciao – Praha!“ Und bedanke mich nochmals herzlich für eure liebenswürdige Fürsorge und Gastfreundschaft, für das schöne Loft nahe der Karlsbrücke, für die guten Gespräche und die vielen praktischen Tips und kulturellen Anregungen, die mir diesen Aufenthalt in der „Goldenen Stadt“ zu einem sehr angenehmen und unvergesslichen Erlebnis machten.