Westfalen-Lippe: Stark wie zwei

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Westfalen-Lippe: Stark wie zwei
SP
5. OKTOBER 2009
NRW
EZ
IA
L
Westfalen-Lippe:
Stark wie zwei
Erfolgreiche Wirtschaft – schöne Landschaften
Rüttgers gegen Kraft
Das Duell um die Macht im Lande
125 JAHRE WGZ BANK
Wir danken unseren
Kunden und Partnern
für 125 Jahre und
freuen uns auf die
gemeinsame Zukunft.
Unser 125-jähriges Bestehen verdanken wir
maßgeblich der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit unseren Mitgliedsbanken und unseren
mittelständischen Kunden. Verlässlichkeit,
Kontinuität und Qualität werden auch in Zukunft
Basis unserer Leistung sein.
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Im FinanzVerbund der Volksbanken Raiffeisenbanken
I N H A LT
4 Regierung: SPD-Chefin Kraft bläst
20 Dynastie
bei der Landtagswahl zum Angriff auf
Ministerpräsident Rüttgers (CDU)
Die Brüder
Franz-Peter (l.)
und Paul Falke
führen das Textilunternehmen im
sauerländischen
Schmallenberg
10 Interview: Stephan Prinz zur Lippe
4 Nach der Wahl ist vor der Wahl
Angela Merkel hat es geschafft, jetzt muss
Jürgen Rüttgers beweisen, dass auch er
den Wahlerfolg von 2005 wiederholen kann
über Adel und das Selbstbewusstsein
der Lipper
12 Porträt: Sparkassenpräsident
Rolf Gerlach ist der Prototyp eines
Westfalen – gradlinig und stur
15 Kunst: Die ostwestfälische Kreisstadt Herford lockt in das von Frank
Gehry gebaute Museum MARTa
16 Attendorn: Warum die Menschen in
dem kleinen Sauerland-Städtchen das
höchste Einkommen in NRW haben
12 Ur-Westfale
In Witten aufgewachsen, im
Münsterland heimisch geworden –
Sparkassenpräsident Rolf Gerlach
liebt seine Heimat
20 Interview: Die Falke-Brüder über
Modemarken – und warum man
feine Strümpfe auch in Deutschland
erfolgreich produzieren kann
24 RWE: Immer mehr Kommunen
kündigen die Verträge mit
dem Essener Stromgiganten
24 Leitung
gekappt
Stromgigant RWE
verliert den Anschluss an viele
Kommunen, vor
allem im Sauerund Münsterland
27 Münster: Höchste Kriminalitätsrate
– selbst der Polizeipräsident ist
vor den Fahrraddieben nicht sicher
30 Forschung: Warum Flugzeugbauer
Boeing und weitere Konzerne in einer
Paderborner High-Tech-Schmiede
neue Werkstoffe entwickeln lassen
32 Hochschule: Niederländische Unis
locken westfälische Abiturienten mit
attraktiven Angeboten über die Grenze
35 Interview: Fußballtrainer Jürgen Klopp
15 Gehrys Kunstmuseum
Der amerikanische Stararchitekt entwarf
seine schiefen Türme für die Provinz –
ein Hauch von Bilbao jetzt auch in Herford
über den BVB in der Krise, das neue
Leben in Dortmund und seinen
Umgang mit Wünschen der Fans
38 Marktführer: Der Erfolg des
Bielefelder Familienunternehmens
Richter mit Ritex-Kondomen
35 Fußballgott Trotz Krise
verehren die Fans von Borussia
Dortmund ihren begeisterungsfähigen Trainer Jürgen Klopp
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FOCUS 41/2009
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3
NORDRHEIN-WESTFALEN
WAHLEN
Auf Konfrontationskurs
Zur Landtagswahl am 9. Mai 2010 formieren sich zwei gleich starke Blöcke –
CDU-Ministerpräsident Rüttgers gegen Hannelore Krafts linkes Bündnis
Ergebnis der Bundestagswahl 2009 für das Land
Nordrhein-Westfalen in Prozent
Ergebnis der Bundestagswahl 2005 für das Land
Nordrhein-Westfalen in Prozent
40,0
33,1
andere
J
5,0
6,2
7,6
ABSTURZ
Die SPD fährt
das historisch
schlechteste Ergebnis in NRW ein
ürgen Rüttgers gab den Frontmann
der CDU. Als erster christdemokratischer Spitzenpolitiker trat er am Wahlabend kurz nach 18 Uhr aus den Kulissen der Berliner Parteizentrale und
kommentierte im ZDF die Prognosen
der Forschungsinstitute zur Bundestagswahl: „Ich habe mir das Ergebnis
etwas besser gewünscht.“
Der CDU-Vize dachte bereits an
die nahe Zukunft: Schon am 9. Mai
2010, in nur sieben Monaten, hat er
den nächsten Wahlkampf im bevölkerungsreichsten Bundesland zu bestreiten – die Landtagswahlen an Rhein
und Ruhr.
Es droht eine erbitterte Schlacht um
die Düsseldorfer Staatskanzlei. Eine
heftige Auseinandersetzung, die mit
dem geradezu lässigen Wahlkampf
zum Bundestag nicht zu vergleichen
sein wird. Denn in Nordrhein-Westfalen werden erstmals die beiden neuen politischen Blöcke aufeinanderprallen: Schwarz-Gelb gegen Rot-Rot-Grün
– und beide Formationen erscheinen
derzeit in NRW nahezu gleich stark.
Jürgen Rüttgers kann sich nicht sicher sein, wie 2005 erneut Regierungschef zu werden. Dieses Mal hat er es
mit einem neuen Dreierbündnis zu tun,
das die dem linken Parteiflügel zuge4
37,1
10,0
14,9
8,4
44,8
34,4
28,5
10,1
Ergebnis der Landtagswahl 2005 in
Nordrhein-Westfalen in Prozent
5,2
andere
2,8
ERHOLT
Im Herbst 2005
hatte sich die
NRW-SPD noch in
alter Stärke gezeigt
rechnete SPD-Chefin Hannelore Kraft
anführt.
Seine Herausforderin legte sofort
nach dem Bundestagswahl-Debakel ihrer Partei los und formulierte ihr kühnes
Ziel „Wahlsieg 2010“, den sie gerade
jetzt für möglich hält: „Wir müssen aus
dem Tal herauskommen und dann, wie
immer in NRW, noch etwas draufsatteln.“ Zwar hatte die Kraft-SPD in NRW
5,5 Prozent mehr Stimmen als im Bundesdurchschnitt geholt, aber dennoch
ihr schlechtestes Ergebnis der Landesgeschichte kassiert.
Jetzt blickt die Republik nach Nordrhein-Westfalen, weil sich dort eine
erneuerte SPD zeigen will. Der Kurs
wird auf links gedreht, das wissen die
Wahlkämpfer am Rhein auf beiden Seiten. Auch wenn Kraft derzeit noch behauptet, sie strebe „keine Zusammenarbeit mit den Linken“ an, sondern eine
inhaltliche Auseinandersetzung.
Wenn jetzt aber Ministerpräsident
Matthias Platzek (SPD) in Brandenburg
seine große Koalition mit der CDU nicht
fortführt und stattdessen die Linken in
seine Regierung holt, werden Bündnisse mit Oskar Lafontaines neuer politischer Heimat für die SPD immer normaler. Alle rechnen damit, dass Kraft
diesen Trend unterstützt.
Fotos: beide R. Sondermann/FOCUS-Magazin
andere
6,2
WECHSEL
5,7
Nach 30 Jahren
hatte die CDU wieder
eine Landtagswahl
gewonnen
Auf diese politische Vorlage hat die
nordrhein-westfälische CDU nur gewartet. Mit harten Worten hatte ihr Generalsekretär Hendrik Wüst in den vergangenen Wochen und Monaten die
SPD-Frau attackiert. Auch am Wahlabend nannte er sie nur „die Wahlverliererin Hannelore Kraft“.
FDP-Generalsekretär Christian Lindner erkannte am vergangenen Dienstag die Demaskierung der Sozialdemokraten. „Nach der Bundestagswahl
lässt die SPD jetzt offensichtlich die
Maske fallen“, sagte der in den Bundestag wechselnde Liberale. „Wenn
die Sozialdemokraten sich der chaotischen und populistischen Linkspartei an den Hals werfen, gibt die SPD
Wähler wie Wolfgang Clement endgültig auf.“ Der wortgewaltige Liberale
fürchtet, dass den Genossen „die Kraft
zur Abgrenzung“ von den Linkspopulisten fehlt.
Im Wahlkampf hatte CDU-General
Wüst den Begriff „Kraftilanti“ für die
Oppositionsführerin erfunden. Er wollte
so eine direkte Linie zur gescheiterten
hessischen SPD-Chefin Andrea Ypsilanti ziehen, die vor der Wahl in ihrem
Land eine Zusammenarbeit mit den
Linken ausgeschlossen hatte, sie dann
aber doch realisieren wollte.
FOCUS 41/2009
Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik
CDU NACH 26 JAHREN WIEDER STÄRKSTE PARTEI BEI BUNDESTAGSWAHLEN IN NRW
BÜRGERLICH So entspannt wie bei Fahrradtouren zeigt sich Jürgen Rüttgers selten, der Regierungschef erwartet einen harten Wahlkampf
ROT-ROT Denkt an eine Partnerschaft mit den Linken, Hannelore Kraft lotet – hier beim Wahlkampf in Dortmund – ihre Chancen aus
5
NORDRHEIN-WESTFALEN
BAUSTOPP
Wegen Planungsfehlern wurde die
Baustelle des Kohlekraftwerks
Datteln stillgelegt
„Entscheidend wird sein,
ob es gelingt, die Linken in
die Regierungsverantwortung zu bekommen“
Sylvia Löhrmann ı
Grünen-Fraktionschefin
„Wir waren die Einzigen,
die in diesem diffusen
Wahlkampf klar gesagt
haben, was wir mit wem
umsetzen möchten“
Andreas Pinkwart ı FDP-Vorsitzender
Zu einer derartigen politischen Lüge
wird es nach der Bundestagswahl in
NRW wohl nicht mehr kommen. Die
Konsequenz aus der Mehrheit für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und FDPChef Guido Westerwelle sowie dem
dramatischen Absturz der Sozialdemokraten war schon am Wahlabend
fühlbar. Nach Schwarz-Gelb im Bund
könnten SPD, Grüne und Linke in den
Ländern zueinander finden.
Die SPD sieht keine andere Wahl. Ihre
neue Ausrichtung in Nordrhein-Westfalen zielt klar nach links. Dann hofft
sie, in den klassischen Arbeitermilieus
zu punkten, wenn die Rüttgers-Regierung in nächsten Wochen bei wichtigen
Themen Probleme bekommt:
• An Rhein und Ruhr könnte in den
nächsten Monaten die Zahl der Arbeitslosen wieder auf eine Million steigen.
• Das Bochumer Opel-Werk ist auch
nach der geplanten Übernahme des
Konzerns durch den Autozulieferer
Magna noch nicht gesichert.
• Die Industriepolitik liegt durch den
per Gericht verordneten Baustopp für
das Kohlekraftwerk Datteln in Fesseln.
In Nordrhein-Westfalen werden die
deutschen Sozialdemokraten daher testen, ob ein linkes Bündnis auch im
Bund zukunftsfähig ist. Wenn im Mai
6
mehr als 13 Millionen Wahlberechtigte
im traditionsreichen roten Stammland
über den Ministerpräsidenten entscheiden, ist das wie eine kleine Bundestagswahl. Die neuen Spitzengenossen
werden sich mit großem Schwung in
die Wahlauseinandersetzung stürzen.
Wahlforscher rechnen damit, dass die
Parteien in NRW konfrontativ wie lange
nicht in ihren dann wohl festgezurrten
Rechts-links-Blöcken aufeinanderprallen werden. Die Berliner Opposition aus
SPD, Linken und Grünen hat in sieben Monaten erstmals die Chance, geschlossen gegen die neue Politik von
Union und FDP und die beabsichtigten
Reformen anzutreten.
Das weiß auch Jürgen Rüttgers. Der
Regierungschef fürchtet, dass ein für
die CDU negativer bundespolitischer
Trend ihn treffen könnte. Schon vor
Wochen hatte der Duisburger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte den
NRW-Regierungschef gewarnt: „Bei
Schwarz-Gelb in Berlin bekommt Rüttgers 2010 in Düsseldorf kein Bein auf
die Erde.“
Rüttgers ahnt, dass der Kampf um
die gläserne Staatskanzlei bei Weitem
nicht so einfach wird, wie er es sich
noch vor Monaten ausgemalt hatte. Der
CDU-Regierungschef und sein Partner
Fotos: R. Sondermann/FOCUS-Magazin, Caro/Oberhäuser, dpa
Andreas Pinkwart (FDP) verkündeten
zwar noch wenige Tage vor der Wahl
stolz, durch ihren Wahlsieg 2005 eine
„Blaupause“ für Berlin geliefert zu haben. Insgeheim fürchtet Rüttgers jedoch
politischen Gegenwind durch Reformaktivitäten der neuen Bundesregierung.
Aus diesem Grund betonte Rüttgers
noch am Wahlabend, bei den Koalitionsverhandlungen gehe es darum,
„wirtschaftliche Vernunft mit sozialer
Gerechtigkeit zu verbinden“.
Der selbst ernannte Arbeiterführer
aus Düsseldorf wird in den Koalitionsverhandlungen in Berlin darauf drängen, auf schmerzhafte Einschnitte in
den nächsten Monaten zu verzichten.
Viele FDP-Forderungen – wie etwa Veränderungen beim Kündigungsschutz –
dürfte er bekämpfen, damit sein Werben
um die Arbeiterschaft im industriellen
Kernland nicht konterkariert wird.
Rüttgers weiß seit dem Wahlabend,
wie stark sich seine Herausforderin
Hannelore Kraft in die linke Kurve legen wird. Gleich am Sonntag startete
sie ihre Attacke auf die Parteirechten
in der SPD. Schon eine Stunde nach
Schließung der Wahllokale schloss sie
nicht aus, auf dem SPD-Parteitag im
November nach dem stellvertretenden
Parteivorsitz zu greifen.
FOCUS 41/2009
Kraft will den zu den Parteirechten
zählenden Peer Steinbrück als Parteivize verdrängen. Der Noch-Finanzminister, der seinen Wahlkreis in Mettmann
nicht direkt erobern konnte, aber über
die Landesliste in den Bundestag einzieht, erklärte bereits seine Bereitschaft
zum Rückzug: „Ich bin jetzt 62 Jahre alt
und werde sehen, welche Aufgaben auf
mich warten.“ So klingt niemand, der
um seinen Job kämpfen will.
Steinbrück, der kluge Kopf der SPD in
der großen Koalition, macht Platz für
Jüngere und erklärt im gleichen Atemzug, dass er auf „keinen Fall nach NRW“
zurückkomme. Das sei eine Erfindung
der CDU, aber nie Realität gewesen.
Um aber ganz sicherzugehen, dass
sich Steinbrück den linken Kräften in
der SPD beugt, schob der Düsseldorfer Generalsekretär Michael Groschek
seine Parteivorsitzende zusätzlich aufs
Gleis: „Hannelore Kraft muss nächste
stellvertretende Parteivorsitzende werden“, sagte der neue Oberhausener
Bundestagsabgeordnete. Groschek erhofft sich wie viele andere SPD-Funktionäre auf diese Weise Rückenwind für
die Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl.
Nur kurz lamentierte Oppositionsführerin Kraft über die „katastrophale
Niederlage“ und fügte hinzu: „Wir sind
am Tiefpunkt angekommen.“ Ein Tief,
aus dem Hannelore Kraft ihre Partei
an Rhein und Ruhr bisher nicht ziehen konnte: Die SPD fuhr mit 28,5 Prozent ein noch schlechteres Wahlergebnis ein als bei der Kommunalwahl vier
Wochen zuvor (30 Prozent). Fast zwölf
Prozent verlor die SPD bei der Bundestagswahl in ihrem Stammland im Vergleich zu 2005, als Gerhard Schröder
in einem gewaltigen Endspurt die Genossen noch zur Wahlurne trieb und die
NRW-SPD bei 40 Prozent landete.
Aber auch Rüttgers’ CDU verlor, sie
liegt jetzt bei nur noch 33 Prozent. Dennoch wurden die Christdemokraten
nach 26 Jahren jetzt auch bei Bundes-
„ Wir haben noch Großes vor.
Sie auch?“
Felix, Sara, Nicole und Uwe Ladberg
Schön zu wissen, dass manche schon an übermorgen denken. Wir denken laufend mit.
Und begleiten die Menschen in ihrem täglichen Leben. Heute, morgen und in Zukunft.
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tagswahlen wieder die stärkste politische Kraft an Rhein und Ruhr. Noch etwas besser als im Bund schnitt in NRW
die FDP ab und erzielte fast 15 Prozent. Liberalen-Chef Pinkwart jubelte
über „das beste Ergebnis aller Zeiten“
in Nordrhein-Westfalen: „Wir sind und
bleiben die dritte politische Kraft in diesem Land.“
Die Blöcke in NRW scheinen fest zementiert, beide Lager liegen gleichauf.
Noch nie war die Linke im sozialdemokratischen Stammland so stark wie bei
der Bundestagswahl mit 8,4 Prozent.
Die Grünen liegen mit zehn Prozent auf
dem Bundesniveau. „Das Rennen ist
offen“, gibt sich die grüne Fraktionschefin Sylvia Löhrmann optimistisch.
Die Grünen setzten ihren eigenständigen Kurs fort, betont Löhrmann. Eine
Regierungspartnerschaft mit SPD und
Linken schließt sie aber nicht aus: „Entscheidend ist, ob die Linken sich überhaupt der Regierungsverantwortung
stellen.“ Eine Tolerierung – wie sie
NORDRHEIN-WESTFALEN
„Bund und Länder können ihre
Kredite erhöhen, die Städte
geraten in Gefahr, ihre Eigenständigkeit zu verlieren“
Jürgen Roters ı Oberbürgermeister Köln
„Bei der Wahlpleite handelt es
sich nicht um einen Betriebsunfall, deshalb muss sich die
SPD personell neu aufstellen“
Frank Baranowski ı SPD-Chef Ruhrgebiet
in Hessen geplant war – sei kein Modell für NRW. „Rosinenpickerei gibt es
nicht“, so die Grüne, „die müssen dann
auch ins Kabinett.“ Zwar signalisiert
der grüne Parteichef Arndt Klocke eine
grundsätzliche Offenheit der Grünen,
mit allen Parteien zusammenzuarbeiten
– aber nur, wenn es inhaltlich zusammenpasse: „Das halte ich mit CDU und
FDP für schwer möglich.“ Klocke zweifelt an der Stärke der Linken in Nordrhein-Westfalen und verweist auf deren
mageres Ergebnis von nur 4,4 Prozent
bei der Kommunalwahl.
Auch SPD-Frontfrau Kraft scheint nicht
vom Einzug der Linken ins Parlament
überzeugt zu sein. Sie wolle zunächst
versuchen, „den Gewerkschaftsflügel
der Linken wieder in die SPD zurückzuholen“, sagt sie. Vielleicht kann ihr dabei in den nächsten Monaten der nordrhein-westfälische DGB-Chef Guntram
Schneider helfen, dessen Karriere auf
dem Genossen-Ticket mit dem verpassten Bundestagsmandat in Bielefeld vorerst gestoppt wurde.
Linken-Chef Wolfgang Zimmermann
freilich zweifelt nicht an eigener Stärke. Er triumphierte nach dem erstmaligen Einzug seiner Partei in den schleswig-holsteinischen Landtag und schlug
gleich den Bogen von der Förde an den
8
Rhein: „Im nächsten Mai werden wir
unsere roten Fahnen für eine linke Politik endlich auch im Düsseldorfer Landtag hissen.“
Im Wahlkampf wollen die Oppositionsparteien der Regierung Rüttgers ihre
Defizite vorhalten. Sylvia Löhrmann
sieht besonders in der Finanzpolitik die
„Entzauberung von Rüttgers“, der die
„soziale Spaltung der Kommunen“ in
Kauf nehme. Während Wirtschaftsforscher schon das Ende der Krise sehen,
kommt die Flaute jetzt erst in den Kassen der Städte an. Nicht nur Dortmund,
wo am Tag nach der Kommunalwahl
eine Haushaltssperre verkündet wurde,
ist klamm. „Die Auswirkungen treffen
nahezu jeden. Die Gewerbesteuer geht
zurück und bricht dramatisch ein“, sagt
Norbert Bude, SPD-Oberbürgermeister
von Mönchengladbach und Chef des
NRW-Städtetags. Er rechnet mit einem
zweistelligen Millionenminus.
„In Köln werden uns mehr als 350
Millionen Euro an Steuereinnahmen
fehlen“, räumt der künftige Kölner
Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD)
ein. Da im 3-Milliarden-Etat der Domstadt lediglich 200 Millionen Euro an
freiwilligen, von der Stadt gesteuerten
Leistungen steckten, sei die Lücke nicht
zu schließen. „Bund und Länder könFotos: dpa (2)
nen ihre Kreditaufnahme erhöhen, die
Gemeinden hingegen geraten in Gefahr, in einen Nothaushalt zu rutschen
und ihre Eigenständigkeit weitgehend
zu verlieren.“
Aus eben dieser Notlage hatte sich
sein Gelsenkirchener Amtskollege
Frank Baranowski jüngst befreit. „Wir
waren auf Kurs, bis 2012 einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Nun
erwarten wir einen Anstieg des Defizits
von 20 auf 100 Millionen Euro“, ärgert
sich der Sieger der Kommunalwahl.
„Dann droht uns wieder ein Nothaushalt, bei dem der Regierungspräsident
entscheidet.“ Um die Handlungsfähigkeit nicht zu verlieren, wirbt er um Verständnis für die Städte. „Der Bund verschuldet sich enorm, um die Krise zu
bekämpfen. Da kann doch niemand
erwarten, dass wir in die andere Richtung marschieren.“ Die grüne Fraktionschefin Löhrmann fordert einen Altschuldenfonds für die Kommunen, da sie es
„aus eigener Kraft nicht schaffen, aus
dieser Situation herauszukommen“.
Doch diese Themen stehen für Ministerpräsident Rüttgers nicht im Vordergrund. Noch am Wahlabend blies er
zum Angriff auf die Sozialdemokraten.
Er setzt auf diejenigen SPD-Wähler,
die eine Partnerschaft mit den Linken
ablehnen. Wahrscheinlich denkt er
auch an Anhänger seines Vorvorgängers Wolfgang Clement, der kurz vor
dem 27. September per Zeitungsanzeige in Bonn zur Wahl des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle aufgerufen hatte. Rüttgers sagt es ganz direkt:
„Wir brauchen jetzt ein Angebot für die
Helmut-Schmidt- und Johannes-RauWähler“, ist seine Strategie. Rüttgers’
Amtsvorgänger Peer Steinbrück konterte flugs: „Wir lassen uns nicht überholen von einem Jürgen Rüttgers, der
vorgibt, Nachfolger von Johannes Rau
zu sein.“ Steinbrück kündigte an, er
wolle Hannelore Kraft im Wahlkampf
massiv unterstützen.
Auch wenn Steinbrück als Vormann
der Rechten in der SPD gilt, lässt er sich
offenbar auch für einen linken Kurs gegen Rüttgers verpflichten. „Wir geben
das Gegenmodell ab zu Schwarz-Gelb“,
kündigte der Noch-Finanzminister an.
Eine überraschende Unterstützung, mit
der die linksgerichteten Kräfte in der
SPD bisher nicht rechnen konnten. ■
KARL-HEINZ STEINKÜHLER/
MATTHIAS KIETZMANN
FOCUS 41/2009
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S
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NORDRHEIN-WESTFALEN
INTERVIEW
„Pacta sunt servanda“
Der Enkel des letzten lippischen Fürsten, Stephan Prinz zur Lippe, über Geschichte zum
Anfassen, das „Detmolder Verhältnis“ zu NRW und über Schlösser, die zu Disneyland verkommen
FOCUS: Die Lipper haben Napoleon
schadlos überstanden und anschließend
die Preußen – aber 1947 war „Schluss mit
lustig“ im Detmolder Schloss. Bedauern
Sie die Fusion mit NRW?
zur Lippe: Bei nüchterner Betrachtung
muss man sagen, die Kleinstaaterei in
Deutschland hat sich überholt, und die
Fusion mit NRW war richtig. Aber die
Lipper haben sich ein vitales Selbstbewusstsein und ein emotionales Selbstverständnis erhalten.
FOCUS: Dann muss man nicht lange
rätseln, mit welchem Autokennzeichen
Sie fahren?
zur Lippe: Eins mit LIP-PE selbstverständlich. Die Umstellung vom DTKennzeichen – für Detmold – war in
den frühen 90er-Jahren durchaus so etwas wie identitätsstiftend, zumal wir ja
vor dem Krieg auch schon LIP als Nummernschild hatten.
FOCUS: Die Lippische Rose im Landeswappen – Alibi oder ehrliches Bekenntnis von Zugehörigkeit?
zur Lippe: Eine Frage der Perspektive. Aus lippischer Sicht ist die Rose ein
stolzes Bekenntnis zur Region und zur
eigenen Kultur. Ob aus Düsseldorfer
Sicht auch – müssen andere sagen.
FOCUS: Sie sind seit Ende August für
die FDP Abgeordneter des lippischen
Kreistags – als Bürger oder als Schlossherr und Resident?
zur Lippe: Ich engagiere mich zunächst
mal als Bürger und Demokrat. Die Chance wahrzunehmen, mich aktiv am kommunalpolitischen Gestalten der Zukunft
Lippes einzubringen, ist mir gleichermaßen Pflicht wie Freude. Politische Verantwortung für die Region übernehme
ich gern.
FOCUS: Was bedeutet Ihnen der Name
Cajus Julius Caesar?
zur Lippe: Zunächst denke ich an den
römischen Feldherrn, aber Sie meinen
unseren gleichnamigen heimischen
Bundestagsabgeordneten der CDU. Der
10
steht, wie alle Berliner Parlamentarier,
immer auch in einer kommunalpolitischen Verantwortung – und schon dadurch leisten sie einen Beitrag für die
Region. Wenn es um den Erhalt von lippischen Behörden geht, um Infrastrukturprojekte, um Bildung, Kultur und
nicht zuletzt als Türöffner für Fördermittel, die viele unsere regionalen Einrichtungen mit ihrer oft überregionalen
Bedeutung brauchen, stellen sich alle in
den Dienst unserer Region.
FOCUS: Ihr Schloss in Detmold ist eine
private Residenz – ein enger Verwandter
von Ihnen in Bückeburg hält das ganz
anders. Welchen Vorteil hat der „closed
shop“?
zur Lippe: Unser Schloss wird zunächst mal privat bewohnt, aber es steht
in einem öffentlichen Teil als Museum
auch der Bevölkerung zur Verfügung
und mit seinen Archiven und Magazinen auch der wissenschaftlichen Forschung. Grundsätzlich gibt es adelige
Familien, die versuchen, ihre Schlösser
offensiv zu vermarkten. Wir sind allerdings davon überzeugt: Wer aus seinem
Schloss ein Disneyland macht, gibt kulturhistorisches Erbe preis – diesen Weg
wollen wir nicht gehen. Aber es ist auch
immer eine Frage, wie lange man das
durchhält.
FOCUS: Durchhalten? – Sie meinen Ihren ethisch-moralischen Anspruch?
zur Lippe: Ich meine das vor allem wirtschaftlich, denn die deutsche Steuergesetzgebung geht mit dem Betrieb eines
Schlosses nicht sehr freundlich um. Damit stellt sich die Frage, inwieweit in Privatbesitz befindliches Kulturgut öffentlich noch wertgeschätzt wird. Denn die
Defizite, ohne die ein Schloss heute –
mit der Ausnahme „Disneyland“ – nicht
zu betreiben ist, sind nur sehr eingeschränkt steuerlich geltend zu machen.
Da gibt es auch keine politischen Bestrebungen, das zu ändern. Das ist bedauerlich.
VITALE GESCHICHTE
ı Erfolgreicher Jurist
Im bürgerlichen Leben ist der 50-jährige
Prinz zur Lippe als Rechtsanwalt Spezialist für Vermögensübertragungen.
ı Fürstliche Vorfahren
Der verheiratete Vater von fünf Kindern
ist der Enkel des letzten lippischen Fürsten Leopold IV., der nach dem 1. Weltkrieg abdanken und die lippische Staatsform der Monarchie aufgeben musste.
FOCUS 41/2009
DAS LAND LIPPE HEUTE
Beim kommunalen Steueraufkommen
belegt Lippe Rang 151 unter den 409
Kreisen (kreisfreien Städten) im Bund.
NORDRHEINWESTFALEN
Bad Salzuflen
Einwohner: 355 000
Fläche:
Steuerkraft:
Leopoldshšhe
Lage
1246 km2
803 Euro pro Ew.
Detmold
Quelle: Landesverband Lippe
10 km
NIEDERSACHSEN
Lemgo
Blomberg
LŸdge
HornBad Meinburg
NORDRHEINWESTFALEN
PRÄCHTIG
Das Residenzschloss der
lippischen Fürsten aus dem
16. Jahrhundert im Stil
der Weser-Renaissance
KLEINOD
Der Königssaal des
Schlosses mit Wandteppichen aus der Brüsseler
Werkstatt von Johannes
Franziskus van der Hecke
FOCUS 41/2009
Fotos: O. Krato/FOCUS-Magazin, Bildagentur Huber, Topic Media
FOCUS: Hat Adel heute noch einen gesellschaftlichen Wert, oder ist er eher
eine liebgewordene Reminiszenz an alte
Zeiten?
zur Lippe: Zunächst mal: Den Adel als
Institution gibt es in Deutschland nicht
mehr. Adel ist heute eine Lebenshaltung.
Für mich bedeutet das Gradlinigkeit und
Prinzipientreue, aber auch Toleranz und
soziale Verantwortung. Aber adelige Familien repräsentieren auch immer noch
ein Stück deutscher Geschichte, sie stehen praktisch für eine „Geschichte zum
Anfassen“ und geben Menschen auch
heute noch damit ein Stück Heimat.
Identität zu stiften ist schon ein gesellschaftlicher Wert und mehr als bloß eine
Reminiszenz.
FOCUS: „Blaublüter“ zwischen Jetset
und gesellschaftlicher Verantwortung –
wo sehen Sie Ihre Aufgaben?
zur Lippe: In den bunten Blättern spielt
der deutsche Adel neben dem europäischen Adel zwischen Stockholm, London
und Madrid ja eher eine untergeordnete
Rolle. Mit wenigen Ausnahmen verfolgt
der „neue deutsche Adel“ doch eher die
„Guttenberg-Schiene“, nämlich durch
Arbeit – häufig vor Ort – aufzufallen und
Verantwortung zu tragen.
FOCUS: Wo tritt der Liberale in Ihnen
in Erscheinung?
zur Lippe: Politisch vertrete ich den
Ordoliberalismus, in dem ein strenger
internationaler Ordnungsrahmen ökonomischen Wettbewerb und die Freiheit
der Bürger gewährleistet. Gesellschaftlich setze ich liberal mit tolerant gleich
und sage: Toleranz ist die Basis für eine
funktionierende Demokratie.
FOCUS: Es gibt Überlegungen, die
Regierungsbezirke in NRW, also auch
Ostwestfalen-Lippe mit der „Hauptstadt“ Detmold aufzulösen und neu zu
ordnen. Eine gute Idee?
zur Lippe: Die Lippischen Punktationen regeln die Bedingungen des Beitritts Lippes zu NRW. Geschäftsgrundlage dieses Beitritts war die Bildung
eines Regierungsbezirks mit Sitz in
Detmold. Dass Verwaltungs- und Regierungshandeln vor Ort durch eine
entsprechende Behörde ausgeübt wird,
ist für Lipper identitätsstiftend. Schließlich waren wir 800 Jahre lang ein Freistaat. Die Punktationen können daher
weder wegdiskutiert noch einem anderweitigen Regionalproporz geopfert
■
werden. Pacta sunt servanda.
INTERVIEW: THOMAS VAN ZÜTPHEN
11
NORDRHEIN-WESTFALEN
ROLF GERLACH
ı Gradlinig
Der 56-jährige promovierte
Wirtschaftswissenschaftler
startete seine Karriere
bei den Sparkassen vor
40 Jahren.
ı Karriere
Seit April 1995 steht der
Wittener als Präsident an der
Spitze des Verbands. Künftig
nennt er sich Vorstandsvorsitzender. Sein Vertrag wurde
verlängert bis
ins Jahr 2014.
ı Solide
Als Sparkassenchef führt
er 74 Institute in WestfalenLippe mit insgesamt
28 626 Beschäftigten.
SAMMLER Rolf Gerlach leistet sich exklusive Hobbys – er sammelt Kameras und Armbanduhren
PORTRÄT
Westfälischer geht’s kaum
Sparkassenpräsident Rolf Gerlach liebt seine Heimat, engagiert sich
im Westfälischen Heimatbund und in der Westfaleninitiative
M
anchmal, wenn er so richtig erschöpft ist, eine Woche mal wieder
aus dem Koffer gelebt hat, der Terminkalender Besprechungen und Konferenzen in Frankfurt, Stuttgart, Düsseldorf, Hamburg und Berlin im engen
Takt aneinanderreiht, will Rolf Gerlach nur noch Heimat spüren. Dann
steigt der westfälisch-lippische Sparkassenpräsident aufs Fahrrad und
strampelt von Nottuln aus die Baumberge hoch, die höchste Erhebung im
Münsterland.
Gerlach liebt die Aussicht über bestellte Felder und sattgrüne Wiesen, seine
Fahrt geht vorbei an rassigen braunen
Pferden und Schwarzbunten. „Ich genieße das total, das entspannt, dann
spüre ich, wo ich zu Hause bin“, offenbart der 56-Jährige, wenn er in einen
westfälischen Landgasthof einkehrt,
12
ein Pils trinkt und sich ein Schnitzel
mit Bratkartoffeln servieren lässt. Westfälischer geht’s kaum.
Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler wurde in Witten am Rande
des Ruhrgebiets geboren und ist geprägt von seinem Elternhaus. Gerlach
erzählt gern von seiner Mutter, die
ihn zu Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit angehalten habe, zum Beharren
auf Werten, aber auch zu Sauberkeit
und Ordnung. „Tu das mal dorthin, wo
du es hergeholt hast“, habe seine Mutter ihm gesagt.
Viele in diesem Lande haben sich in
der Vergangenheit an Gerlach, der heute im münsterländischen Nottuln lebt,
gerieben: Finanzminister Peer Steinbrück (SPD), Ministerpräsident Jürgen
Rüttgers (CDU), aber auch der WestLB-Chef Thomas Fischer, den der Auf-
sichtsratsvorsitzende Rolf Gerlach im
Sommer 2007 quasi über Nacht aus der
Vorstandsetage entfernte und auf die
Straße setzte.
Der Banker aus Westfalen fühlt sich
seit fast 37 Jahren den deutschen Sparkassen verpflichtet. Bei der Sparkasse in Witten startete er mit einer Banklehre seiner Karriere. Seit 1995 ist er
Oberaufseher über 74 westfälische
und lippische Sparkassen. Noch lautet
sein Titel „Präsident“, bald darf er sich
Vorstandsvorsitzender nennen.
In den fast 15 Jahren als Chef der
kommunalen Kreditinstitute muss der
Manager eine kritische Situation nach
der nächsten bewältigen.
Nur kurze Zeit nach seinem Amtsantritt trudelt die Landesbank WestLB
in eine erste Krise – die zweite, dritte,
vierte und fünfte folgen schnell. Und
Foto: R. Sondermann/FOCUS-Magazin
FOCUS 41/2009
Gerlach ist stets gefordert – als Aufsichtsrat und Eigentümer. Denn die
westfälischen Sparkassen besitzen ein
Viertel der Krisenbank. „Man kann sich
an mir die Zähne ausbeißen, das berührt mich wenig“, charakterisiert sich
Gerlach selbst. Und schiebt nach: „Privat und beruflich.“
Mitstreiter und Widersacher der Bankenszene kennen die Standhaftigkeit
des Westfalen, der feine Unterschiede
macht: „Wenn Sturheit heißt, das
Lernen einzustellen, ist das verhängnisvoll“, kritisiert Gerlach einen typischen
Wesenszug seiner Landsleute. Für
ihn selbst bedeutet „Sturheit, dass ich
beharrlich ein Ziel verfolge. Und das ist
keine schlechte Eigenschaft.“
Bisher ist er mit dieser Strategie ganz
gut gefahren. Die Finanzkrise, den Absturz von Landesbanken wie der WestLB, hat er intensiv begleitet, auch in
seiner Funktion als erster Vizepräsident
des deutschen Sparkassenverbands.
In diesen Wochen und Monaten wur-
de es für Gesprächspartner immer unbequem, wenn Gerlach sein Ringbuch
aufklappte und zu blättern begann.
Dann wies er meist auf eine Vorschrift
oder einen Fakt hin, der unbedingt zu
beachten sei.
Vom westfälischen Sparkassenchef heißt es, dass er sich sehr sorgfältig auf Termine vorbereite und oft
mehr zum Tagesthema wisse als seine
Kontrahenten. Dabei bleibt er stichhaltigen Gegenargumenten aufgeschlossen – der Sparkassenmanager lässt
sich auch überzeugen.
Auf Gerlachs Wort sei Verlass, sagen
Mitstreiter. „Dann machen wir das so“,
ist einer seiner typischen Sätze.
Im rauen Revier, wo der fast 2-Meter-Mann aufgewachsen ist, hat Gerlach
zwar auch gelernt, tolerant zu sein und
andere Meinungen zu hören. Aber er ist
sehr fixiert auf seine Unabhängigkeit.
„Ich lasse mir ungern reinreden.“
Kommt da doch der sogenannte typische sturköpfige Westfale durch?
Gerlach selbst erkennt sich in diesem Klischee nicht wieder. Aber ihm
fallen sofort Zeitgenossen ein, die seiner Meinung nach den knorrigen Westfalen verkörpern: „Wolfgang Clement
ist so einer“, sagt der Sparkassenmanager. „Dessen Sturheit ist ein
schlechtes Beispiel“, analysiert Gerlach den ehemaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, der in
seiner Nachbarschaft – in Bochum –
groß geworden ist.
Nach wenigen Gesprächsminuten ist
Clement vergessen. Gerlach geht in
der Geschichte lieber ein paar Jahrhunderte zurück und erinnert an einen
anderen Westfalen: Widukind.
Der Sachsenherzog, dessen Gebeine
in der Kirche des ostwestfälischen Enger
beerdigt worden sein sollen und der den
Germanen das Christentum nach erbitterten Kämpfen gegen Karl den Großen
beschert hat. Solche „einflussreichen
Westfalen“, erklärt Gerlach, machten in
stolz. Vor allem, wenn Hamburger
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NORDRHEIN-WESTFALEN
VERWURZELT
In Witten im Ruhrgebiet
geboren und in Nottuln heimisch
geworden – Rolf Gerlach fühlt
sich in der Ortsmitte seines
Wohnorts im Münsterland wohl
oder Berliner den Westfalen wegen seiner Herkunft belächeln.
Gerlach ist tief verwurzelt im Land.
Der Nottulner engagiert sich nicht
nur in seinem örtlichen Heimatverein,
wo er vor Jahren eine betagte Eiche
am historischen Platz rettete. Gerlach
gründete nach der Finanzierung einer Sammlung von Grafiken des spanischen Künstlers Picasso im Alleingang das erste deutsche Museum mit
Arbeiten des verstorbenen Malers. In
Münster – wo sonst.
Der Kunstfreund, Hobbyfotograf, Kamera- und Uhrensammler kümmerte
sich auch darum, dass Sparkassenmillionen ins Ruhrgebiet fließen. Mit
dem Geld finanziert die europäische
Kulturhauptstadt Ruhr.2010 die extrem
teure Ausstellung „Ruhrblicke“. Das
Highlight des ambitionierten Kulturevents im nächsten Jahr präsentiert
prominente Fotografen wie Andreas
Gursky, die ihren exklusiven Blick aufs
Revier im Essener Weltkulturerbe Zollverein zeigen.
Heimatverbunden, wie er ist, mischt
Gerlach natürlich auch in den Kuratorien von Heimatbund und Westfaleninitiative mit. Dort schätze man
seinen Rat und seine Kenntnis westfälischen Lebens.
Mit wachen Augen bereist er das
Land, besucht jede seiner Sparkassen mindestens einmal im Jahr und
betrachtet außer vielen Akten, die er
auf diesen Fahrten im Fond seines Audi
bearbeitet, auch noch die Besonderheiten seiner Region.
14
„Wenn westfälische
Sturheit bedeutet,
das Lernen einzustellen,
ist das verhängnisvoll“
weiß so etwas schon? Historiker, Heimatforscher. Aber Finanzmanager?
Gerlach überrascht mit seiner Kenntnis über westfälische Landschaften,
beschreibt die typischen „Höfe in
Alleinlage“ im Gegensatz zu rheinischen Bauernschaften.
Die lebendige westfälische Geschichte und das Gedenken an den
in Münster und Osnabrück geschlossenen Westfälischen Frieden nach
dem Dreißigjährigen Krieg sind ihm
wichtig. Deshalb fördert der Finanzmanager auch die FriedenspreisVerleihung an Politiker wie Václav Havel oder Kofi Annan, die der Region
neue Bedeutung verleihe.
Ein Mann wie Gerlach, der an der Theke eines Wirtshauses über unterschiedliche Traufhöhen wie Baufluchten philosophieren kann, überzeugt nach
dem dritten Bier sein Gegenüber auch
davon, dass die Westfalen sauberer
und korrekter bauten als wenige hundert Kilometer entfernt die Rheinländer. Dort sei alles „krumm und schief“,
behauptet er.
Dabei kennt Gerlach das in Westfalen ungeliebte Rheinland und die
Menschen sehr genau. Seine Frau
stammt aus Bonn. Und seine ersten
Jahre in der Sparkassenorganisation erlebte er unter den rheinischen
Verbandspräsidenten Friedel Neuber
und Johannes Fröhlings.
Die Düsseldorfer Erfahrungen helfen dem weltläufigen und weitgereisten Westfalen, der in seiner Freizeit
gern nach Skandinavien fährt und mit
dem Postschiff die norwegische Küste
bis zum Nordkap erkundet. Dass Rheinländer unzuverlässig sind, will Gerlach nicht behaupten. „Sie legen sich
nicht fest, leben und arbeiten eher
nach dem Beckenbauer-Motto“, hat
der Westfale erkannt. Und das heißt:
Schaun mer mal.
■
Rolf Gerlach ı Sparkassenpräsident
KARL-HEINZ STEINKÜHLER
So betont er, dass Westfalen keineswegs an der Grenze zu Niedersachsen
endet. „Sprache und Bauweise von Häusern sind identisch.“ Das Osnabrücker
Land gehöre einfach zu Westfalen, sagt
Gerlach. Auch wenn es über einen
denkbaren Gebietstransfer zwischen
den Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (NRW) und Christian Wulff (Niedersachsen) wohl nie Verhandlungen
geben wird.
Aber Gerlach entdeckt die „Vierständerhäuser, unter deren Dächern Vieh
und Mensch gelebt haben“, im Münsterland wie rund um Osnabrück. Wer
Fotos: beide R. Sondermann/FOCUS-Magazin
FOCUS 41/2009
SKIZZE Zeichenkunst
des Architekten Gehry
TORKELNDER BAU
Das Museum in
Herford erinnert an
das ebenfalls von
Gehry gestaltete
Guggenheim im
spanischen Bilbao
KUNST
Beunruhigende Bilder
Das von Frank Gehry entworfene MARTa Herford will
die Ostwestfalen für moderne Kreationen begeistern
D
rei schwarze Gipsmänner mit langen Haaren stehen in der Mitte des
Raumes: Einer würgt einen Kampfhund,
der zweite sticht einem auf dem Boden
knienden Opfer mit einem Messer in
den Rücken. Der dritte schaut an sich
herunter, wo eine übergroße phallische
Spritze aufragt. Bjarne Melgaards düster-brutale Gipsfiguren provozieren den
Betrachter ebenso wie der Raumkörper,
der das Kunstwerk umgibt.
Die Skulpturengruppe gehört zur
Sammlung des Hauses, die in diesem
Sommer unter dem Titel „Hellwach gegenwärtig“ zu sehen war. „Melgaard
thematisiert die untergründige Faszination für Momente der Unterdrückung
und Gewalt sehr offensiv“, erläutert Roland Nachtigäller, seit einem Jahr Leiter des Kunstmuseums MARTa in Herford. „Es sind die Reibungspunkte, an
denen die Kunst in unserem Museum
ansetzt. Künstler sind keine Experten
für Lebensglück – Kunst stellt in Frage,
verwirrt, beunruhigt und sucht“, erläutert der 49-Jährige seine Philosophie.
Genau diese Reibungspunkte bietet
das MARTa Herford. Es fügt sich nicht
glatt und problemlos in seine mittelFOCUS 41/2009
Foto: T. Mayer
städtisch geprägte Nachbarschaft ein
– weder architektonisch noch inhaltlich. Zwar steht das M für „Möbel“,
ART für die Kunst und a für Ambiente. Wer aber glaubt, die finanzielle Anbindung an die örtlichen Hauptsponsoren aus der Möbelindustrie werde die
Ausstellungsmacher zähmen, erlebt in
dem asymmetrischen Raumkörper eine
Überraschung. Geplant hat den kurvigen Bau unverkennbar der kalifornische Stararchitekt Frank Gehry (Guggenheim in Bilbao). Der Ziegelbau des
Avantgardisten vertreibt jeden Gedanken an eine gefällige Kunst.
Der Eindruck setzt sich im Inneren
fort: In hohen Hallen zeigt Nachtigäller
moderne und modernste Exponate. Seit
Anfang Oktober ist „Pittoresk – Neue
Perspektiven auf das Landschaftsbild“
zu sehen. Als Kontrapunkt zu den Bildern von 37 Zeitgenossen finden sich
Gemälde von Caspar David Friedrich,
Gerhard Richter und dem Herforder Landschaftsmaler Heinrich Funk.
Sie stehen im Gegensatz zu dem, was
Nachtigäller die heutige Kunst nennt.
„Unsere Ausstellung zeigt auch vermüllte und ökologisch gefährdete Land-
AVANTGARDIST
Museumsleiter Roland
Nachtigäller sucht
die Auseinandersetzung
mit moderner Kunst
schaften, die in Kontrast stehen zu den
Postkartenmotiven der Natur, die wir
in uns tragen“, erläutert der MuseumsChef. „Die Künstler gleichen so Bilder
und Wirklichkeit ab.“
Ob die Herforder diesen Kontrast ertragen? Rund 60 000 Besucher kamen
2008 in den Gehry-Bau, 2009 sollen es
ebenso viele sein. Damit liegt Herford
hinter der benachbarten Kunsthalle
Bielefeld. „Für mich ist es eine enorme
Chance, an der Peripherie zu arbeiten“,
sagt Nachtigäller, der seinem Vorgänger Jan Hoet bei der Kasseler Kunstschau Documenta IX assistierte und zuletzt die Städtische Galerie Nordhorn
leitete. „Das Energiefeld, das durch
diese Kunst in dieser Umgebung ent■
steht, ist eine Herausforderung.“
MATTHIAS KIETZMANN
15
NORDRHEIN-WESTFALEN
REPORTAGE
Muster-Stadt im grünen Tal
Menschen im sauerländischen Attendorn sind die Spitzenverdiener in NRW
und leben meist von den traditionellen Industrien
INDUSTRIE-REGION Die 25 000 Einwohner leben von den vielen familiengeführten Metall- und Kunststoffwerken
16
D
ie 1600 Tonnen schwere Stanze
hebt und senkt sich mit einem tiefen Stampfen. An der linken Seite des
Lkw-großen Automaten zieht die Maschine das Blech von der Rolle, schneidet und formt es in drei Schritten zu
zwei Metallteilen, die am Ende auf
ein Förderband purzeln. 17-mal in der
Minute fährt das Ungetüm nach oben
und wieder nach unten, bis Werkzeugmacher Ali Bardak die abgelaufene
Rolle – den „Coil“– ersetzen muss. Etwas mehr als 18 000 Werkstücke soll
das Gerät in drei Schichten auswerfen,
lautet der Auftrag des Kunden. Die Metallteile enden als Türschwellen im VWGeländewagen Tiguan. Von Flaute ist
in der lärmenden Werkshalle von Kirchhoff Automotive nichts zu spüren. „Das
Unternehmen ist hoch angesehen“, sagt
der 22-Jährige ernst. „Wer hier arbeitet,
ist schon etwas in Attendorn.“
Dieser eigenwillige und etwas altmodische Stolz ist auch an anderen Stellen des sauerländischen Vorzeigestädtchens zu spüren: Die Fußgängerzone
vor dem Rathaus ist mit Kopfsteinen akkurat gepflastert, der Dom hübsch restauriert. Auf einem Hügel erhebt sich
wie ein Schloss die 92 Jahre alte katho-
Einkommensmillionären und nur wenige, die auf staatliche Hilfe angewiesen
sind“, interpretiert Hilleke den auf den
ersten Blick überraschenden Reichtum
der Provinzstadt. Zugleich verweist er
darauf, dass die Datenbasis aus dem
Jahr 2007 stammt. „Das ist der Wohlstand der Vergangenheit. Inzwischen
spüren auch wir den Abschwung.“
Sorgen bereitet der Stadtspitze der
Einbruch bei der Gewerbesteuer. Für
dieses Jahr kalkuliert der Kämmerer mit
einem Rückgang von 25 auf 17 Millionen, 2010 fließen womöglich nur noch
13 Millionen Euro, fürchten die Rechner
im Rathaus. „Wir steuern auf ein tiefes
Loch zu“, seufzt Hilleke und will mit einer Haushaltssperre und Investitionskürzungen gegenhalten: „Dann werden die Dächer der Gebäude erst mal
geflickt statt erneuert.“
In den vergangenen zehn Monaten
ist die Zahl der Unterstützungsempfänger von 650 auf 725 geklettert. Und
die Arbeitslosigkeit von vier auf sechs
Prozent. Zumindest bei Kirchhoff denkt
allerdings niemand an Entlassungen.
„Von März bis Mai haben wir einen
Wochentag kurzarbeiten müssen, aber
seit Juni kehrt so etwas wie Normalität
„Charakteristisch für
Attendorn sind die vielen
Familienunternehmen.
Die Inhaber sind emotional
an die Stadt gebunden“
Wolfgang Hilleke ı Neu-Bürgermeister
VORSICHTIG Neu-Bürgermeister Wolfgang
Hilleke kalkuliert, dass die Flaute mit
Verzögerung auch in Attendorn ankommt
STATISTISCH AN DER SPITZE
47 914 Euro
70,3 Prozent
verdiente jeder Bürger im Jahr 2007
(NRW: 19 290 Euro)
der 12 000 Beschäftigten sind im produzierenden Gewerbe tätig
(NRW: 30,9 Prozent)
Quellen: Landesamt für Datenverarbeitung, Stadt Attendorn
lische St-Ursula-Schule. Und die größten Arbeitgeber am Ort sind nicht etwa
Stadt oder Sparkasse, sondern Metallund Kunststoffbetriebe, die sich ausnahmslos in Familienhand befinden
und ihre sauerländischen Produkte in
alle Welt exportieren.
„Auf den ersten Blick könnte man
denken, das ist die Insel der Seligen“,
sagt der künftige – parteiunabhängige
– Bürgermeister Wolfgang Hilleke, 46,
und schmunzelt. „Aber auf uns kommen dramatische Veränderungen zu.“
Rechnerisch gilt Attendorn als reichste
Kommune in NRW: 47 914 Euro verdient
jeder Einwohner im Jahr, teilte das Statistische Landesamt nach einem Vergleich
unter 396 Städten mit. Das ist mehr als
doppelt so viel wie der Landesdurchschnitt von 19 290 Euro. „Wir haben
eine breite Mittelschicht, eine Reihe von
FOCUS 41/2009
ein“, erläutert Firmenchef Arndt Kirchhoff, der praktisch alle Automarken beliefert. „Wir liegen noch etwa zehn Prozent unter Vorjahr. Aber am Tiefpunkt
waren es 50 Prozent.“
Das Vertrauen in die Zukunft ist dennoch ungebrochen. „Wir können alles in Attendorn“, lacht der 54-Jährige. „Alles außer Schwäbisch.“ Da der
Standort räumlich an Grenzen stoße, interessiere sich das Unternehmen für ein
neues Industriegebiet, das in 500 Meter Entfernung entstehen soll. Wäre die
drangvolle Enge im Tal nicht eine Gelegenheit, den Betrieb in eine Region
mit niedrigeren Löhnen zu verlagern?
„In den vergangenen 15 Jahren haben
wir die Zahl unserer Beschäftigten in
Attendorn auf 690 verdoppelt. Warum
soll sich das nicht wiederholen?“, fragt
Kirchhoff zurück. Über die StammFotos: alle J. Bindrim/FOCUS-Magazin
GELASSEN Betriebsrat Manfred Lohölter
(Kirchhoff Automotive) ist froh, dass
es seit Juni keine Kurzarbeit mehr gibt
17
NORDRHEIN-WESTFALEN
„In den vergangenen
15 Jahren haben wir
die Zahl unserer Beschäftigten in Attendorn
auf 690 verdoppelt“
Arndt Kirchhoff ı Unternehmer
GESELLIG Herrenausstatter und Wanderwart Walter Alsleben ist Mitglied in fünf
Vereinen: „Das machen hier viele so“
BERÜHMT Die bis zu 2,5 Millionen Jahre
alten Tropfsteine der Atta-Höhle –
Deutschlands größtes Höhlensystem
18
belegschaft hinaus sind aktuell 35 Leiharbeiter im Werk tätig. „Wenn es gut
läuft, könnten daraus feste Arbeitsplätze entstehen“, gibt sich Betriebsrat
Manfred Lohölter, 61, zuversichtlich.
Während anderswo die Dienstleistungen dominieren, stammen zwei Drittel der 12 000 Attendorner Arbeitsplätze aus der Produktion und überwiegend
aus der regionaltypischen Metall- und
Kunststoffindustrie. „Charakteristisch
für Attendorn sind die vielen Familienunternehmen“, sagt der jugendlich wirkende künftige Stadtchef Hilleke. „Die
Inhaber sind emotional an die Stadt und
an den Standort gebunden, und das hat
uns von Entlassungswellen verschont.“
Inmitten von Traditionsfirmen – wie
der 1899 gegründeten Armaturenfabrik
Viegener sowie der Autofedernfabrik
Muhr und Bender (seit 1921) – nimmt
sich der aufstrebende Rohrleitungsspezialist Aquatherm wie ein Newcomer
aus. 1973 startete Gerhard Rosenberg
im Keller seines Einfamilienhauses mit
der Entwicklung einer Fußbodenheizung. Heute sind er und seine Söhne
Maik und Dirk in 70 Ländern aktiv und
stolz auf die Zertifizierung ihrer Produkte durch Greenpeace.
„Täglich stellen wir 200 Kilometer
Rohre her und beschäftigen inzwischen
460 Mitarbeiter“, rechnet Maik vor. Ihre
grünen Leitungen bringen warmes Wasser unter den Rasen der Veltins-Arena
oder speisen die Sprinkleranlage in
einem der Kölner Kranhäuser. Sie versorgen Wolkenkratzer von Madrid über
Barcelona bis Singapur. „90 Prozent der
Fertigung gehen in den Export“, sagt
Dirk. „Daher spüren wir die Krise nur
leicht und liegen lediglich fünf Prozent
unter Vorjahr.“
Wie viele Unternehmerkinder ging
Dirk an St. Ursula zur Schule. Das hochherrschaftliche Anwesen startete 1917
als höhere Mädchenschule, heute besuchen dort 1500 Schüler Realschule
und Gymnasium, erläutert der gerade
ins Sauerland gewechselte Rektor Markus Ratajski. Während im Flur der Musiklehrer den Chor am Flügel begleitet, fühlt man sich im Direktorenzimmer
an eine Eliteschule versetzt. Das verwinkelte Gebäude mit Blick über die
Stadt bietet bilingualen deutsch-englischen Unterricht in drei Fächern. Es
gibt Schulpartnerschaften mit England,
Irland, Frankreich und Mexiko.
„Wir sind keine Eliteschule und beschränken den Zugang nicht“, wiegelt
Fotos: alle J. Bindrim/FOCUS-Magazin
Ratajski ab, der zuvor in Hamm und Hagen unterrichtete. Aber die Leistungen
der Schüler lägen „in allen Bereichen
deutlich“ über dem NRW-Durchschnitt.
Diesen Sommer mussten sie ein Drittel der Bewerber für die fünfte Klasse „aus Kapazitätsgründen“ ablehnen.
Zur Ausstattung trügen die Ehemaligen
und ein zahlungskräftiger Förderverein bei. „Mehrere tausend Ex-Absolventen“ hielten der Bildungsstätte die
Treue und zahlten den Jahresbeitrag.
Darunter auch die Kinder aus den Unternehmerfamilien. „Die sind alle hier“,
sagt er und benennt einen markanten
Unterschied zu früheren Arbeitsstellen.
„In Hagen herrschte unter den Abiturienten eine Stimmung: Bloß weg hier“,
erinnert sich der 42-Jährige. „Auch aus
Attendorn wollen viele nach dem Abschluss erst mal weg, aber nicht wenige kehren zurück.“
Bodenständig sind die Menschen, katholisch und stolz auf ihre Arbeit. Dennoch können solche Etiketten die eigenwillige Persönlichkeit der Sauerländer
nicht vollständig erklären. Sie haben
auch eine andere Seite, wie ein Blick
auf den Altbürgermeister Alfons Stumpf
zeigt. 15 Jahre lang vertrauten die Bürger
die Geschicke ihrer Stadt ausgerechnet
einem langhaarigen 2-Meter-Mann an,
der heute noch von seinen Erfahrungen
aus der 68er-Ära schwärmt. „Der Zottel“, nennt ihn Einzelhändler und Wanderführer Walter Alsleben respektvoll.
Mit 70,5 Prozent bestätigten die Attendorner den SPD-Mann zuletzt im
Jahr 2004. Dass er im Videoportal YouTube freimütig über seine studentenbewegte Zeit, seine Abneigung gegen
den Vietnamkrieg und den „Muff der
Adenauer-Jahre“ Auskunft gibt, tut seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Im Gegenteil: „Hätte er sich nochmals zur
Wahl gestellt, wäre er wiedergewählt
worden“, ist sich Alsleben sicher. „Und
ich wäre ganz gewiss nicht angetreten“, ergänzt sein Nachfolger Hilleke.
So mischt sich in das leicht biedere Flair ein kräftiger Schuss Toleranz,
der auch zugezogenen Großstädtern
wie Ex-Regierungssprecher Wolfgang
Buchow gut gefällt. „Ich habe 30 Jahre
in der Stadt gelebt und kann nur sagen:
Attendorn tut mir gut“, sagt der Pensionär im kleinen Straßencafé gegenüber
dem Rathaus und führt die Kaffeetasse
■
zum Mund.
MATTHIAS KIETZMANN
FOCUS 41/2009
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NORDRHEIN-WESTFALEN
INTERVIEW
„Strümpfe und Socken im Abo“
Die Familienunternehmer Franz-Peter und Paul Falke über Standortfaktoren des Sauerlands
– und warum sich ihr Strick- und Strumpfkonzern von der Konjunktur unbeeindruckt zeigt
FOCUS: Damenstrumpfhosen und
Kaschmirsocken für Männer können bei
Falke schon mal 129 Euro kosten. Wem
wollen Sie in Krisenzeiten damit eine
Freude machen?
F.-P. Falke: Ihr Preisbeispiel bezieht
sich auf extravagante Artikel, die in kleinen Mengen angeboten und gekauft
werden. Solche Produkte leiden gerade
nicht unter Krisenzeiten, sondern bedienen den Ausnahmebedarf: „Man gönnt
sich ja sonst nichts.“ Wir haben effektiv keine krisenbedingten Einbußen. Im
Gegenteil. Wir wachsen – in Deutschland wie im Ausland. Wenn es so weiterläuft im Herbst- und Wintergeschäft
– was ja unsere eigentliche Saison ist –,
könnten wir das Jahr mit einem Plus abschließen.
FOCUS: Ihre Enterhaken im Markt sind
Sinnlichkeit, Emotion und Lebensstil –
sind diese eher weichen Faktoren weniger krisenanfällig?
P. Falke: In Krisensituationen zeigt
sich die Stärke einer Marke. Zum einen können Sie die harten Faktoren jedes unserer Artikel natürlich messen –
Materialeinsatz, Kostenfaktoren zum
Beispiel. Das, was der Markenkern ist,
die Begehrlichkeit ausmacht, das sind
weiche Faktoren: ein über Jahrzehnte
glaubhaftes Marken-Image, das die Verbraucher langfristig mit Sympathie beantworten. Diese emotionale Beziehung
hält auch Krisenzeiten durch.
FOCUS: Warum soll ich Socken Ihrer
Marke Falke kaufen und nicht von den
Marken Palmers oder Wolford? Oder:
Wie differenzieren Sie Ihre Produkte und
sich selbst als Anbieter?
P. Falke: Das ist keine Frage von besser oder schlechter, sondern von Marken-Affinität der Kunden. Viele Leute
identifizieren sich mehr mit der Marke
Falke als mit der Marke Wolford. Aber
auch umgekehrt. Außerdem machen
wir nicht nur den Feinstrumpfbereich,
sondern auch den Strickstrumpfbereich
Mit seinen 2734
Mitarbeitern – fast die Hälfte davon in Deutschland –
knackte der Falke-Konzern im vergangenen Jahr erstmals die Umsatzmarke von
200 Millionen €uro und erwartet in diesem Jahr eine weitere Steigerung
EFFEKTE BEI FRAUEN Kampagnen-Foto des Japaners Koichiro Doi
20
FOCUS 41/2009
VETTERNWIRTSCHAFT IM ALLERBESTEN SINNE
Vierte Generation: Zwei Cousins stehen an der Spitze des Strumpfherstellers.
ı Stratege
Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften in St. Gallen ging FranzPeter Falke, 58, zunächst zum Bielefelder Lebensmittelkonzern Oetker, bevor
er bei Falke einstieg.
ı Kosmopolit
Im Anschluss an ein BWL-Studium in
Lausanne und München arbeitete Paul
Falke, 51, in Neuseeland, Australien
und Belgien und wurde 1986 zunächst
Chef von Falke Fashion, Inc. in New York.
und Oberbekleidung. Dadurch haben
wir schon einen ganz anderen Zugang
zur Modewelt.
F.-P. Falke: Unser Credo ist immer gewesen, moderne Bekleidung für moderne Menschen zu machen, statt auf
kurzfristige Modetrends zu reagieren.
Andere fühlen sich im Geleitzug geborgen, wir bevorzugen unseren eigenen Kurs.
FOCUS: Von Ihrem Lizenzgeschäft, das
früher Weltmarken wie Kenzo, Armani
und Joop umfasste, ist heute nur noch
Esprit übrig – warum?
P. Falke: Im Lizenzgeschäft hat man
nie die Gewähr, die Früchte seiner Arbeit auch langfristig zu ernten, denn
bei jeder Partnerschaft kann es mal zur
Scheidung kommen. Die Marke Burlington etwa haben wir deshalb gekauft und
bestimmen heute selbst über die „Endlichkeit“. Wir werden beide Marken
stark ausbauen.
FOCUS: Was bedeutet der Name William Cotton für Ihre Region?
F.-P. Falke: Seine Entwicklung der sogenannten Fully-Fashion-Maschinen ermöglichte es uns in den 50er-Jahren, höhere Stückzahlen zu produzieren. Zwar
waren die Musterungsmöglichkeiten
eingeschränkt, aber trotzdem waren die
Cotton-Maschinen ein Meilenstein.
FOCUS: Welchen Stellenwert hat für Sie
das Bekenntnis zum Sauerland „made in
Schmallenberg“?
P. Falke: Wir produzieren 60 bis 65
Prozent im Inland. Das kapitalintensive
Know-how ist in Deutschland, und die
lohnintensive Veredelung, die Konfektion, wird in Portugal, Ungarn, Slowenien und in der Slowakei gemacht. Von
unseren 2734 Mitarbeitern arbeiten gut
1300 in Deutschland, davon 925 hier in
Schmallenberg.
F.-P. Falke: Das Unternehmen ist hier
gegründet worden. Wir haben eine ganz
natürliche Affinität zu dem Standort,
eine Bindung, und wir profitieren von
der Loyalität unserer Mitarbeiter, wenn
diese ihr Wissen von Generation zu Generation weitergeben. Dass drei Generationen einer Familie gleichzeitig bei
uns arbeiten, ist keine Seltenheit. Diesen Know-how-Transfer können Sie monetär gar nicht bewerten.
FOCUS: Führen Sie Ihren „Kampf um
Talente“ nur im Sauerland?
F.-P. Falke: Nein, für unser Marketing und Design holen wir zunehmend
Leute, die von außerhalb kommen. Die
sind dann in der Woche hier und
FÜHRUNGSDUO Franz-Peter und Paul Falke (r.) am Konzernstammsitz in Schmallenberg
Foto: O. Krato/FOCUS-Magazin
21
NORDRHEIN-WESTFALEN
fühlen sich dem Unternehmen und
der Gegend sehr verbunden. Am Wochenende sind sie bei ihren Familien in
Hamburg, Paris oder Düsseldorf. Und
der Austausch zwischen dem, was von
außen kommt an Menschen, und dem
typischen Sauerländer in unserem Unternehmen, dieser Mix macht es sehr
interessant.
FOCUS: Also kein Standortnachteil im
Sauerland?
P. Falke: Ein Handicap ist unsere suboptimale Verkehrsanbindung. Schmallenberg ist nicht leicht zu erreichen.
Wenn potenzielle Bewerber einen Partner haben, der täglich über die „Kö“
spazieren möchte, dann bringen sie den
auch nicht mit Geld und guten Worten
hierher.
FOCUS: Als familiengeführter Mittelständler beliefert Falke von Westfalen
Rand moderater ausfallen als zwischen
Dollar und Euro. In den USA wachsen wir sehr erfreulich. England ist von
der Wirtschaftskrise speziell gebeutelt.
Aber auch dort haben wir keinen großen
Einbruch.
FOCUS: Bei Sportbekleidung und Funktionswäsche setzen Sie stark auf Innovationen – mit welcher Resonanz?
F.-P. Falke: Sport ist seit einigen
Jahren kontinuierlich unser stärkster
Wachstumsbereich mit einer zweistelligen Dynamik. Auslöser war unser Ergonomic Sport System, mit dem wir als
Erste am Markt darauf eingegangen
sind, dass unterschiedliche Sportarten
nicht nur entsprechendes Schuhwerk,
sondern auch unterschiedlichste Socken
und Strümpfe erfordern. Um den differenzierten physiognomischen Anforderungen – und beim linken Fuß noch
„Wir profitieren,
wenn Mitarbeiter
ihr Wissen
von Generation zu
Generation weitergeben“
„Das kapitalintensive
Know-how ist in Deutschland, und die lohnintensive Veredelung, die
Konfektion, im Ausland“
Franz-Peter Falke
Paul Falke
aus inzwischen die ganze Welt. Wie entwickelt sich der Export?
F.-P. Falke: Falke-Produkte bekommen Sie in 40 Ländern der Erde. Altes
und neues Europa – die haben wir gut
abgedeckt. Aber auch in Südafrika, wo
wir seit 36 Jahren ein eigenes Werk haben. Von dort aus beliefern wir Australien sowie Nord- und Südamerika. Unsere Exportquote liegt bei 40 Prozent, und
sie steigt – auch beim Umsatz.
FOCUS: Nirgendwo Laufmaschen in
der Bilanz?
P. Falke: Raketenartig geht in der momentanen Wirtschaftslage keiner ab.
Aber es gibt Länder, in denen wachsen wir Jahr für Jahr stetig, wie etwa
Schweden, die Schweiz und Österreich.
Unser US-Geschäft profitiert davon,
dass die Währungsschwankungen zwischen Dollar und dem südafrikanischen
22
„Airport“, dann wissen sie, dass der heute noch genauso aussieht und sich genauso anfühlt wie vor einem Jahr und in
einem Jahr. Die Kunden wissen, was sie
bekommen, und lassen sich damit gern
zu Hause beliefern. Das ist Convenience
pur. So steigt zum Beispiel die Zahl unserer Abonnenten kontinuierlich.
FOCUS: Wie bitte – Abonnenten?
P. Falke: Kunden, die ihre Strümpfe und
Socken im Abo bestellen, alle drei Monate die gleiche „Ration“ bekommen.
FOCUS: Um etwa Nylon- und Seidenstrümpfe ins richtige Licht zu setzen,
beauftragt Falke traditionell ausgewiesene Meister des Fotografen-Handwerks.
Wen sollen deren glamourös und sexy
anmutende Arbeitsproben ansprechen?
F.-P. Falke: Seit den 60er-Jahren arbeiten wir mit Fotografen wie F. C. Gundlach und Helmut Newton, Annie Leibo-
einmal anders als beim rechten Fuß –
gerecht zu werden, sind wir mit Blick auf
die Sohlen, die Spitzen und den Materialmix ergonomisch vorgegangen.
FOCUS: Wer hilft Ihnen dabei?
P. Falke: Wir arbeiten interdisziplinär
sehr eng etwa mit der Deutschen Sporthochschule Köln zusammen, aber auch
mit internationalen Textilforschungsinstituten oder der Fraunhofer Gesellschaft.
FOCUS: Welche Rolle spielen OnlineKommunikation und E-Commerce für
Produktwelten, in denen haptisches Erlebnis und „anprobierter“ Tragekomfort
einen Kauf entscheiden können?
F.-P. Falke: Eine sehr große. Bei uns
haben die einzelnen Artikel eine Produktpersönlichkeit, eine Kontinuität, die
die Kunden kennen. Wenn sie einmal ihren „Bristol“ gekauft haben oder ihren
Fotos: beide O. Krato/FOCUS-Magazin
vitz und Bettina Rheims, aber auch mit
Michel Comte, Ellen von Unwerth oder
seit vier Jahren mit dem Japaner Koichiro Doi. Dabei geht es uns immer um
den erkennbaren Stil. Es bleibt immer
typisch Falke.
FOCUS: Gut, aber die Frage war, wen
Sie damit ansprechen wollen?
F.-P. Falke: Die Fotografen teilen unser klar definiertes Ästhetikverständnis.
Wir haben sie danach ausgewählt. Mit
ihrer Bildsprache vermitteln sie unseren
emotionalen Kontakt zu unseren Kunden. Besonders sprechen Frauen darauf
an, denn noch immer sind es Frauen,
die vorrangig unsere Produkte kaufen –
Damenstrümpfe genauso wie Männersocken. Das ist in Sydney und Paris nicht
anders als im Sauerland.
■
INTERVIEW: THOMAS VAN ZÜTPHEN
FOCUS 41/2009
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NORDRHEIN-WESTFALEN
UNTERNEHMEN
Kommunale Konkurrenz
RWE verIiert den Anschluss: Immer mehr Städte und Gemeinden
steigen mit eigenen Stadtwerken in die Energieversorgung ein
A
ls vor mehr als zehn Jahren der deutsche Energiemarkt liberalisiert wurde, standen die großen Verlierer für viele
Experten schnell fest: Gegen die damals neuen Strom-Discounter wie Yello,
Avanza und Co. hätten die rund 800
Stadtwerke bundesweit keine Chance
– so die einhellige Meinung. Ihr Ende
schien nur eine Frage der Zeit zu sein.
Ein klassischer Kurzschluss. Eine Dekade später ist genau das Gegenteil der
Fall. Wenn jemand derzeit dem Strommarkt frischen Wind verleiht, dann sind
es Städte und Gemeinden. Bundesweit
– mit einem der Schwerpunkte in Westfalen – erobern sie Marktanteile zurück
und denken über die Gründung eigener kommunaler Versorger nach. Ein
wichtiger Schritt dazu ist die Übernah-
me der lokalen Strom- und Gasnetze
von den mächtigen Energieriesen RWE,
E.on oder EnBW. „Rekommunalisierung“ nennen das Fachleute.
Die Zeit dafür ist günstig. In den
nächsten Jahren laufen zwischen Kommunen und Konzernen viele Kontrakte
aus. Mit diesen Konzessionsverträgen
räumt eine Gemeinde gegen eine Abgabe einem Unternehmen das Wegerecht für die Versorgung mit Energie
ein. Allein im ersten Halbjahr 2009 erfolgten im Bundesanzeiger knapp 700
Ankündigungen für endende Stromund/oder Gasnetz-Kontrakte. „Es wird
einen regen Wettbewerb um diese Verträge geben“, weiß Hans-Joachim
Reck, Hauptgeschäftsführer des Verbands kommunaler Unternehmen.
UNABHÄNGIGKEITS-BESTREBUNGEN
Niedersachsen
Kommunen gegen Konzern: An drei
Punkten in Westfalen ist der Kampf ums
Netz in vollem Gange: in Recklinghausen,
im Münsterland sowie im Hochsauerland
Minden
Rheine
Herford
Bielefeld
2
NIEDERLANDE
MŸnster
GŸtersloh
Paderborn
AUF DER HUT Jürgen
Großmann, Chef der
RWE AG, weiß um die
Bedeutung des Konzessionsgeschäfts und hat
in der Essener Holding
jüngst eine Extra-Abteilung
dafür eingerichtet
Hamm
Recklinghausen
1
Dortmund
Gelsenkirchen
Arnsberg
Duisburg
Essen Bochum
Hagen
Krefeld
Wesel
50 km
Düsseldorf
3
Hessen
LŸdenscheid
Mšnchengladbach
Kšln
Aachen
24
Detmold
Siegen
Bonn
Quelle für alle Charts: Unternehmensangaben
10 km
2
Ste i nfu r t
Rosendahl,
5/2009
1
Billerbeck,
1/2011
Havixbeck,
12/2011
MŸnster
Coesfeld
Coesfeld
MŸ ns te r
43
Senden,
7/2010
Wa r e n d o r f
DŸlmen
B o r ken
Lüdinghausen,
9/2010
Olfen,
9/2009
Recklinghausen
Ascheberg,
5/2010
Nordkirchen,
2/2011
Ham m
MÜNSTERLAND
1
Oer-Erkenschwick
Marl
Bockholt
43
Erkenschwick
Speckhorn
Acht Gemeinden haben im Kreis
Coesfeld eine gemeinsame Gesellschaft gegründet, die das Stromnetz
übernehmen will. Dafür ist ein Partner
mit Know-how gesucht, der unter
50 Prozent am Versorger halten soll
Horneburg
Essel
Scherlebeck
Recklinghausen,
12/2010
Herten
Stuckenbusch
Hillerheide
Grullbad
2 km
RECKLINGHAUSEN
Suderwich
2
CastropRauxel
Ein ganz großer Brocken für RWE:
Hier hat der Energieriese nicht nur
die Strom-, sondern auch die Gasversorgung in der Hand. Beide Verträge
laufen Ende des kommenden Jahres
aus. Der Poker hat bereits begonnen
43
Horsthausen
He rne
ERZEUGUNG
UND VERTRIEB
Bei der Stromerzeugung ist der Konzern
vor Konkurrenz weitgehend sicher. Im
Netzgeschäft droht
nun aber Ungemach
FOCUS 41/2009
Fotos: W. v. Brauchitsch, Mauritius
25
3
NORDRHEIN-WESTFALEN
EN
Warstein
Soest
Seit Anfang Oktober beliefert die
HochsauerlandEnergie die ersten
eigenen Kunden mit Strom.
Für das Netz verlangt RWE gut 50
Millionen Euro. Einigt man sich nicht,
könnte die Sache vor Gericht landen
46
Brilon
Meschede,
11/2009
Olsberg,
11/2009 12/2009
Hoch- Bestwig,
sauerlandkreis
10 km
Naturpark
Rothaargebirge
Bad Fredeburg
STROM-REBELLEN Bürgermeister Uli Hess (Meschede), sein Amtskollege Elmar Reuter
(Olsberg), die beiden Geschäftsführer Siegfried Müller und Christoph Rosenau sowie die
Bürgermeister Christof Sommer (Lippstadt) und Ralf Péus (Bestwig) haben die HochsauerlandEnergie aus der Taufe gehoben. Diese geht mit einem Kampfpreis auf Kundenfang
Die Motive für den Schritt, den
Strom- und Gasvertrieb wieder in eigene Regie zu bringen, sind je nach Ort
unterschiedlich. Da ist zum einen die
Hoffnung auf ein lukratives Geschäft.
Auf der anderen Seite ergeben sich so
neue Versorgungsposten für ausscheidende Bürgermeister oder einflussreiche Kommunalpolitiker. Meist steht
aber die Abgrenzung zu den Großen
der Branche im Vordergrund: „Anders
als anonyme Stromriesen und InternetAnbieter wollen wir als kommunales
Unternehmen in der Region für die Bürger da sein und nicht in erster Linie die
Dividenden von Aktionären bedienen“,
unterstreicht etwa Christoph Rosenau,
Co-Geschäftsführer der neuen HochsauerlandEnergie GmbH.
Eine Gemeinsamkeit gibt es in Westfalen allerdings: Hier droht immer einer
den Anschluss zu verlieren – der Essener Energie-Riese RWE. Beispiel Recklinghausen: Für RWE ist die Kreisstadt
ein ganz „dicker Fisch“, den es mit al26
len Mitteln zu verteidigen gilt. Schließlich beliefert man die 120 000 Einwohner nicht nur mit Strom, sondern auch
mit Gas. Beide Verträge enden im Dezember 2010.
Die Konkurrenten laufen sich schon
warm und sind bereits im Rathaus vorstellig geworden. „Mir sind fristgerecht
zum 31. März 2009 Interessenbekundungen mit unterschiedlichen Varianten zugeleitet worden“, heißt es in
einem Schreiben des Fachbereichs Wirtschaftsförderung und Liegenschaften.
RWE macht vor Ort schon seit Monaten Werbung in eigener Sache. Gerade
erst hat man den Standort gestärkt, medienwirksam die Zahl der Mitarbeiter
erhöht, steckt eine Million in den Ausbau des örtlichen Strom-Museums. Außerdem zahlt der Konzern rund 680 000
Euro an Gewerbesteuer. Alles Pfunde,
mit denen man wuchern kann. Genauso klar ist aber, dass es mit all den Wohltaten schnell vorbei sein könnte, wenn
RWE nicht erneut zum Zuge käme.
Quelle: Unternehmensangaben
HOCHSAUERLAND
Die Übernahme des Strom- und/oder
Gasnetzes ist längst kein Selbstläufer. Es gilt nicht nur den Kaufpreis zu
schultern sowie einen eigenen Energieeinkauf und Kundendienst aufzubauen. Der größte Haken: Nach dem neuen
Energiewirtschaftsgesetz bleiben die
Kunden beim bisherigen Versorger. Der
Newcomer muss also jeden einzelnen
Haushalt, Bäckermeister und Kleinbetrieb für sich gewinnen. Das funktioniert mit einem günstigen Stromtarif.
Weil der Altversorger aber alles tut, um
die Kunden zu halten, ist das Ganze ein
oft langwieriger und teurer Prozess.
Viele Kommunen holen sich deshalb
einen erfahrenen Partner ins Boot. Bestes Beispiel für diesen Weg sind die
Sauerland-Gemeinden Meschede, Olsberg und Bestwig. Das Trio hat im Mai
die HochsauerlandEnergie GmbH gegründet. Die Hälfte der Anteile halten
die Stadtwerke Lippstadt, die das entsprechende Know-how mitbringen. Seit
einigen Wochen geht der neue Versorger mit einem Kampfpreis von 20,20
Cent pro Kilowattstunde in der Region
auf Kundenfang. „Guter Service vor Ort
und faire Preise sind unser Grundprinzip“, unterstreicht Co-Geschäftsführer
Rosenau.
David gegen Goliath. Noch mehr
Stromrebellen haben sich zum Projekt Stadtwerke Münsterland zusammengeschlossen. Im Kreis Coesfeld
wollen Ascheberg, Billerbeck, Havixbeck, Lüdinghausen, Nordkirchen, Olfen, Rosendahl und Senden die Stromleitungen von RWE übernehmen und
haben dazu eine gemeinsame Netzgesellschaft gegründet. In den acht Gemeinden leben zusammen etwa 120 000
Menschen. Schon bevor im Mai die entsprechenden Verträge unterschrieben
waren, standen auch hier die Interessenten Schlange. „Wir haben Nachfragen von 15 möglichen Partnern“, so
Aschebergs Bürgermeister Dieter Emthaus stolz. „Unter ihnen befinden sich
auch die Stadtwerke Münster und Düsseldorf.“ Die Gemeinden wollen einen
Anteil von „unter 50 Prozent“ an dem
neuen Unternehmen verkaufen. Auch
hier ist ein Partner mit Erfahrungen gesucht. Emthaus: „Die Wertschöpfung
entsteht in der Region, und wir möchten an Entscheidungen mitwirken, die
im Augenblick in Essen oder sonst wo
■
getroffen werden.“
JOCHEN SCHUSTER
FOCUS 41/2009
SICHERHEIT
Schlimmste Seuche
Münster ist die Kriminalitätshochburg des Landes – wegen der
Fahrraddiebe. Die Polizei will das durch Vorbeugung stoppen
LEICHTE BEUTE
DELIKT MIT TÜCKISCHEN KONSEQUENZEN
SCHLECHTES ZEUGNIS
Fahrraddiebstähle sind
kaum aufzuklären. Das
verschlechtert die Kriminalstatistik von Münster
Straftaten
insgesamt
42% 29 182
davon:
FahrraddiebstŠhle
Z
ehn Jahre nach seiner Ernennung
zum Chef der örtlichen Polizeibehörde war Hubert Wimber endgültig
in Münster angekommen. Denn die
höheren Weihen der Einbürgerung bemessen sich in der westfälischen Domstadt weniger am Eintrag im Einwohnermeldeamt als vielmehr an einem
geflügelten Wort: „Ein Münsteraner,
dem noch nie ein Fahrrad geklaut
wurde, ist kein echter Münsteraner.“
Hubert Wimber traf „unsere schlimmste Seuche seit der Pest“ im Sommer
2007. Der Einladung zu einem Grillabend bei Freunden war NordrheinFOCUS 41/2009
AufklŠrungsquote
Straftaten in Münster 2008
Beiderseits des
Münsteraner
Hauptbahnhofs
parken täglich
Tausende von
Fahrrädern – potenzielle Beute für Diebe
6% 5867
Quelle: Polizeipräsidium Münster
Westfalens einziger Polizeipräsident,
der Mitglied der Grünen ist, per Fahrrad
gefolgt, hatte die ein Jahr alte „Gazelle“ allerdings unverschlossen in einem
Carport abgestellt. Knapp drei Stunden später war der Sozialwissenschaftler um etwa 800 Euro ärmer und eine
Erfahrung reicher: „Es gibt keinen sicheren Ort in dieser Stadt, an dem man
vor Fahrraddieben gefeit ist.“
Die prekäre Sicherheitslage der Münsteraner Pedalritter hat mit einer Besonderheit des westfälischen Oberzentrums zu tun: Dank der geschätzten
500 000 Fahrräder ihrer 280 000 Ein-
Foto: O. Krato/FOCUS-Magazin
wohner gilt Münster als Fahrradhauptstadt der Nation. Ein Alleinstellungsmerkmal, bei dem sich Wimbers 1600
Polizeibeamte noch so sehr abstrampeln können – den Spitzenplatz in der
bundesweiten Kriminalstatistik hat die
Stadt damit praktisch abonniert.
Die niedrigste Aufklärungsquote aller Städte mit mehr als 200 000 Einwohnern ist ein Makel, von dem sich die
ehemalige Hansestadt kaum je befreien
können wird. Nur in 12 296 ihrer insgesamt 29 182 Kriminalfälle konnten die
Münsteraner Ermittler im vergangenen
Jahr einen Straftäter präsentieren.
27
NORDRHEIN-WESTFALEN
Ob Mountainbike, Touren- oder Trekking-Rad – mit fast 6000 gestohlenen
Drahteseln (20,1 Prozent aller Delikte)
pro Jahr ist jeder fünfte Fall in Wimbers
Behörde ein Fahrraddiebstahl. Zum
Vergleich: In der Bundeskriminalstatistik von Innenminister Schäuble hält
sich die Langfingerei rund ums Rad im
Rahmen – in gerade mal jedem 20. Fall
ist die Beute ein Fahrrad.
Tücke der Statistik. „Und da“, so
Wimber, „steckt das Malheur.“ Weil
derzeit durchschnittlich nur 6,2 Prozent
der Münsteraner Fahrraddiebe erwischt
werden, „drückt das unseren Schnitt
gewaltig“. So werden niedrige Fallzahlen und hohe Aufklärungsquoten
nach Wimbers Erfahrung „gern als Indikator guter Polizeiarbeit verstanden,
dabei ist diese oberflächliche Lesart der
Statistik schon auf den allerersten Blick
nur sehr bedingt aussagefähig“. Grundsätzlich gilt Münster nämlich als attraktives urbanes Oberzentrum, wurde – als
bisher einzige Kommune Deutschlands
– 2004 mit dem LivCom Award als lebenswerteste Großstadt der Welt ausgezeichnet.
Dazu beigetragen haben auch hohe
Aufklärungsquoten der Polizei bei Delikten, die mehr Angst und Schrecken
verbreiten als die berühmt-berüchtigte
Fahrrad-Klauerei. So enttarnt die Kripo
Münster bei den Straftaten Raub, Vergewaltigung, gefährliche und schwere Körperverletzung deutlich mehr Gesetzesbrecher als ihre Kollegen im Land
oder im Bund.
Im Bereich der Schwerkriminalität
liegt die Stadt weit unter dem Durchschnitt: Nur drei Prozent der rund 29 000
Straftaten sind Gewaltverbrechen. So
ereigneten sich 2008 gerade einmal
drei Fälle von Mord und Totschlag – weniger, als „Tatort“-Folgen von der ARD
gesendet wurden. Und wie im Fernsehen konnte Münsters Mordkommission
alle Fälle aufklären.
Gelegenheit macht Diebe. Ist die Erfolgsquote der Polizei bei Vermögensde-
likten bundesweit schon recht niedrig,
erschweren in Münster drei Faktoren
die Arbeit der Ermittler besonders:
● Umfang und Größe des „Beuteangebots“, so der Polizeijargon, sind außergewöhnlich;
● Das Entdeckungsrisiko ist für Diebe,
auch außerhalb des 270 Kilometer
langen Radwegenetzes der Stadt, minimal, wenn schon statistisch jeder
Münsteraner mit zwei Fahrrädern unterwegs ist:
● das „Wiedererlangungsinteresse“ der
Bestohlenen ist gering, da der Verlust
wertvoller Räder in vielen Fällen von
Versicherungen beglichen wird.
Viele Drahtesel sind zudem oft bloß
mit Schlössern versehen, die zu knacken laut Polizei „einen versierten
Fahrraddieb nur ein scharfes Gucken
kostet“. Daher empfehlen die Polizeibeamten, „nur solche Fahrradschlösser
zu benutzen, deren Aufbruch mindestens 30 Sekunden dauert“. Als Faustformel gilt bei Fahrrädern mit einem Neu-
Immer da, immer nah.
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MACHTLOS
Ausgerechnet
Münsters Polizeipräsident Hubert
Wimber ist eines
der prominentesten
Opfer von Fahrraddieben in der Stadt
FAHRRAD-HAUPTSTADT
Weil fast jeder Münsteraner im Schnitt zwei
Fahrräder besitzt, spricht die Polizei von
einem „großem Beuteangebot“.
Einwohner:
Fahrräder:
Polizisten:
280 000
500 000
1 600
wert von 2000 Euro, mindestens fünf
Prozent der Kaufsumme (100 Euro) in
ein Schloss zu investieren.
Mit Hochdruck verfolgen Wimbers
Beamte auch andere Präventionsansätze. So raten sie, Fahrräder außer mit der
regulären Rahmennummer mit einer
weiteren Kombination aus Buchstaben
und Zahlen zu codieren. Die entsprechende Registrierung ist seit Kurzem
auf der Internet-Seite des Polizeipräsidiums auch online möglich. So hat die
Polizei die Chance, in ihrer Halterdatei
nicht nur den ursprünglichen Erstkäufer eines Rades zu ermitteln, sondern
auch den jeweils aktuellen Besitzer. Bei
Kontrollen im Straßenverkehr wird so
der Name des Fahrers schnell mit dem
des Eigentümers verglichen. Immerhin:
Knapp 20 Prozent der 500 000 „städtischen“ Fahrräder sind dort heute bereits erfasst. Und inzwischen auch die
drei Fahrräder von Hubert Wimber. ■
THOMAS VAN ZÜTPHEN
Foto: O. Krato/FOCUS-Magazin
NORDRHEIN-WESTFALEN
ZAHN DER NEUEN ZEIT
Dental-Labors nutzen bereits die schichtweise Fertigung. é Anhand gescannter
Modelle entwirft der Techniker Kronen am
PC. Software wandelt die 3-D-Modelle in
Schichtdaten um, die an die Sinteranlage
gehen. è Dort wird eine 0,02 Miilimeter
dünne Metallpulver-Schicht aufgetragen.
ê Der 0,1 Millimeter feine Laser schmilzt
das Pulver auf. Nach circa 1000 Schichten ist die Krone fertig.
1 Kronen-Design am PC
2
Metallpulverschicht
auftragen
3
ERSATZTEIL Bis zu 450 Kronen und
Brücken können auf einem Träger
gleichzeitig mit dem Laser schichtweise aufgebaut werden
Laser verschmilzt
das Pulver.
SCHICHTARBEIT Die aus der Zahntechnik bekannte Laser-Fertigung wollen Forscher für den
FORSCHUNG
Werkzeug überflüssig
An der Universität Paderborn entwickeln Ingenieure
die Metall- und Kunststoff-Fertigung von übermorgen
F
QUALITÄTSKONTROLLE Laboringenieur
Michael Brand vom DirektfertigungsInstitut der Uni Paderborn prüft Maße
und Oberfläche des Bauteils
30
lugzeugbauer Boeing kämpft mit negativen Schlagzeilen: Der aus einer
Kunststoffhülle bestehende Langstreckenjet B787 („Dreamliner“) stellt die
Tüftler vor größte Herausforderungen –
und startet daher verspätet in die Luft.
Weniger bekannt ist, dass der US-Hersteller aus dem Staat Washington schon
an der Produktionstechnik von übermorgen feilt – und zwar an der Universität
Paderborn. Boeing ist Teil eines Industrie- und Forschungskonsortiums, das
im Mai die Arbeit aufgenommen hat.
Die Amerikaner zählen zu den Gründungsmitgliedern des Direct Manu-
facturing Research Centers (DMRC)
ebenso wie der Chemieriese Evonik,
die Münchner Technikschmiede EOS
und die Maschinenkonstrukteure MTT
Technologies aus Lübeck. In Ostwestfalen suchen sie zusammen mit anderen Ingenieuren nach Wegen, Werkstücke anhand von dreidimensionalen
Konstruktionszeichnungen vollautomatisch und in Serie zu fertigen.
Sonst übliche Arbeitsschritte würden
eingespart, der aufwendige Bau von Produktionswerkzeugen gestrichen. „Einfach ausgedrückt: Wir arbeiten daran,
Metall- und Kunststoffteile direkt durch
FOCUS 41/2009
Flugzeugbau weiterentwickeln
WASHINGTON UND WESTFALEN
Boeing montiert in Renton im US-Bundesstaat
Washington den Mittelstreckenjet B737. Der
Airbus-Rivale sucht neue Techniken – und
stellt den Chef des Paderborner Instituts
das Erhitzen feinster Pulverschichten
mit dem Laser herzustellen“, erläutert
Projektleiter Hans-Joachim Schmid
das Prinzip. „Auf diese Weise kann der
Konstrukteur das am Computer entwickelte Design sozusagen dreidimensional ausdrucken.“
In der Dentaltechnik wird dieses Verfahren bereits angewendet. „Auf eine
Bauplatte passen bis zu 450 Kronen und
Brücken, die in bis zu 24 Stunden aus
CobaltChrom im Schichtbauverfahren
produziert werden“, rechnet Christof
Stotko von der Münchner Firma Electro
Optical Systems vor. „Einige Formel-1Rennställe nutzen die Technik bereits,
um defekte Bauteile selbst herzustellen
und rasch zu ersetzen. Und es werden
noch längst nicht alle Anwendungsmöglichkeiten ausgeschöpft“, betont
der EOS-Manager.
Für ihre filigranen Damenschuh-Absätze aus Titan ist beispielsweise die britische Schuh-Designerin Kerrie Luft bekannt. „Direct Manufacturing hat sich
bisher in der Herstellung von Prototypen und in wenigen Nischenanwendungen etabliert“, sagt Scott Martin,
Vorsitzender des Instituts und Leiter
von Direct Digital Manufacturing von
Boeing Research im amerikanischen St.
Louis. So fänden sich derartige Teile in
zivilen Flugzeugen, Militärjets wie der
Boeing F/A-18 Super Hornet oder auf
der Internationalen Raumstation ISS.
„Zahlreiche Restriktionen stehen einer breiteren Anwendung dieser viel
versprechenden Technologie noch im
Weg“, bedauert der US-Manager. „So
fehlen Industrienormen, um die Herstellung zu vereinheitlichen und vergleichbar zu machen. Zudem müssten
die Festigkeit des Materials gesteigert
und das Tempo der Produktion deutlich erhöht werden.“ Dann könnte die
werkzeuglose Fertigung in anderen
Wirtschaftsbereichen Einzug halten.
„Die Autoindustrie etwa verfolgt die
Entwicklung mit großem Interesse.“
Das tun auch die Politiker. Als das
Labor im Mai die Arbeit aufnahm,
lobte NRW-Innovationsminister Andreas Pinkwart das DMRC als „international herausragendes Forschungsinstitut“ und stellte Landeshilfen in Höhe
von fünf Millionen Euro in Aussicht.
Grund: „Wir können nur mit Qualität
und nicht mit Löhnen weltweit konkurrieren“, so der FDP-Mann. „Und neue
Arbeitsplätze entstehen in den wissensintensiven Bereichen.“ Im kommenden
Foto: Redux/laif
Jahrzehnt sollten so 16 000 neue Arbeitsplätze und Wertschöpfung in Milliardenhöhe entstehen.
Gleichzeitig forderte Pinkwart die
Industrie auf, die öffentlichen Gelder
durch Eigenmittel in gleicher Höhe aufzustocken. Seinem Ruf folgten Siemens,
der US-Spezialist für die Herstellung
von Plastik-Prototypen Stratasys sowie
Stükerjürgen Aerospace und Kabinenausstatter JetAviation. „Wir führen Gespräche mit weiteren Interessenten“,
erläutert Schmid. Insgesamt kalkuliert
der Hochschullehrer mit einem Budget
von rund elf Millionen Euro.
Die Ostwestfalen starteten ursprünglich mit Prüfungen der Festigkeit. „Wir
wollen und müssen mehr über die Eigenschaften von laserbearbeiteten Teilen wissen“, so Schmid. Beim Kunststoff
werden zwischen 0,1 und 0,15 Millimeter feine Staubschichten aufeinandergelegt, bei Metall experimentiere
man mit 0,02 bis 0,07 Millimetern, berichtet Doktorand Stefan Rüsenberg.
So entstehe Lage für Lage ein dreidimensionaler Körper. „Im Moment erproben wir Zugstäbe, deren Festigkeit wir anschließend messen“, erläutert der 28-Jährige. Vorläufiges Fazit:
„Metallobjekte sind nahezu genauso
stabil wie herkömmliche Spritzgussteile, bei gesinterten Kunststoffteilen
erreichen wir 80 bis 90 Prozent der Eigenschaften.“
Die Schichtbautechnik verspricht der
Industrie erhebliche Kostenvorteile. Bislang müssen beispielsweise Flugzeugbauer teure Werkzeuge herstellen, obwohl selbst Bestseller-Maschinen wie
die Boeing 737 und der Airbus A320
jeweils nur etwas mehr als 6000-mal
produziert wurden. Im Vergleich zur
Autoindustrie sind das geringe Stückzahlen. Gleichwohl müssen die Hersteller über den 50-jährigen Lebenszyklus
der Jets hinweg Werkzeuge verfügbar
halten, um defekte Teile nachliefern zu
können.
Das könnte sich durch die Direktproduktion drastisch ändern, schwärmt
Hochschullehrer Schmid. „Künftig
könnten Hersteller wie Boeing die Konstruktionszeichnungen auf einem Server
hinterlegen. Fällt nun ein Bauteil aus,
sendet der Hersteller die Konstruktionsdatei zum Kunden, der sie auf seiner Direktfabrikation ohne händische
■
Arbeit nachbaut.“
MATTHIAS KIETZMANN
31
NORDRHEIN-WESTFALEN
GRENZENLOSE BILDUNG
Benjamin Wohl (r.) und
Tobias Hummels studieren
in den Niederlanden.
ı Schlechte Erfahrung
Der angehende Technische
Wirtschaftsingenieur
Tobias Hummels studierte
in Aachen, bevor er nach
Enschede wechselte.
ı Erste Wahl
Der Münsteraner Benjamin
Wohl entschied sich schon
2004 für ein Studium
der Technischen Chemie
in den Niederlanden.
ALTERNATIVE Immer mehr Studenten entscheiden sich für ein Studium im Nachbarland
BILDUNG
Lernen bei Nachbarn
Niederländische Hochschulen werben um deutsche Studenten —
auch mit finanziellen Hilfen und zweisprachigen Kursen
N
ach zwei Semestern hatte Tobias
Hummels die Nase voll. Mit dem
Berufsziel Technischer Wirtschaftsingenieur hatte der heute 25-Jährige 2004
sein Studium in Aachen begonnen.
Doch in Reihe 36 mit 1000 Kommilitonen im selben Hörsaal zu sitzen, „das
war nicht mein Ding“. Sein Fazit zum
Kurzgastspiel an der einzigen Eliteuniversität in NRW wirkt ernüchternd:
„Bevor einige wenige die Segnungen
einer Prestige-Hochschule nur touchieren dürfen, müssen ganz viele erst
aufgeben.“
Seit zwei Jahren studiert der junge
Mann aus dem münsterländischen Borken nun im niederländischen Enschede
und ist begeistert: „Hier wird in kleinen
Gruppen, den ‚werkcolleges‘, gelehrt
und geforscht, die Studienbegleitung
durch die Hochschule ist extrem ziel32
führend und das Betreuungsverhältnis
sensationell.“ Dass an den niederländischen Hochschulen wie im Fall der Universiteit Twente (UT) etwa 8600 Studenten von 2000 Mitarbeitern betreut werden, ist ein Zahlenschlüssel, der zunehmend mehr bildungshungrigen jungen
Westfalen eine Perspektive eröffnet.
So auch Benjamin Wohl, 25, der an
der UT im fünften Jahr Technische Chemie studiert: „Die Menschen sind hier
lockerer drauf, die Hierarchien an der
Uni sind viel flacher, und die Profs lassen ein großes Interesse erkennen, uns
Studenten auszubilden und zum Abschluss zu bringen.“ Für den Münsteraner ist auch die Mentalität der
Nachbarn „ein großes Plus“.
Vor fünf Jahren konnte sich Wohl
noch ausschließlich im Internet über
www.studieren-in-holland.de informieFoto: E. Hinz/FOCUS-Magazin
ren. Heute vermarkten sich die Hochschulen des Nachbarlands vor allem
im grenznahen Münsterland offensiver, schicken Studenten als Botschafter aus, die an deutschen Gymnasien
Nachwuchs werben oder auf Ausbildungsmessen zu Info-Veranstaltungen
auf ihrem Campus einladen.
An guten Argumenten fehlt es nicht,
wenn die Rekrutierungs-Teams der niederländischen Unis auf Roadshows gehen: Mit gut 1600 Euro pro Jahr liegen
die Studiengebühren zwar über dem
Niveau vieler deutscher Hochschulen.
Doch der Staat unterstützt jeden Studenten, der mindestens 32 Stunden
monatlich einem Nebenjob nachgeht,
mit 260 Euro Studienfinanzierung im
Monat – 3120 Euro pro Jahr. „Und wer
sein Studium zum Abschluss bringt“, so
Tobias Hummels, „braucht das
FOCUS 41/2009
1
Emmen
Niedersachsen
2 Zwolle
RICHTUNGSWEISEND GRENZWERTIG
Niederländische Hochschulen bieten zahlreiche Studiengänge.
Hengelo
Deventer
OsnabrŸck
é
Emmen | Stenden Hogeschool
Maschinenbau, Informatik, International Business
è
Zwolle | Windesheim Honours College
Verkehrswirtschaft, Gesundheitswirtschaft
ê
Enschede | Universiteit Twente
Naturwissenschaften, Informatik, Psychologie
ë
Velp | Hogeschool Van Hall Larenstein
www.vanhall-larenstein.de
Biotechnologie, Wildlife Management, Wasserwirtschaft
í
Arnheim/Nijmegen | Hogeschool van Arnhem en Nijmegen
Informatik, Wirtschaft, Sozialpädagogik
ì
Nijmegen | Radboud Universiteit
Naturwissenschaften, Jura, Medizin
Enschede 3
Appeldorn
NIEDERLANDE
Nordrhein-
Arnheim 5 4 Velp
Westfalen
Nijmegen 6
MŸnster
Bocholt
Kleve
Hamm
Recklinghausen
Oberhausen
Eindhoven
Duisburg
Venlo 7
Dortmund
Essen
www.fh-stenden.de
www.fh-windesheim.de
www.utwente.nl
www.han.nl
Krefeld
Düsseldorf
Mšnchengladbach
www.studieren-in-nimwegen.nl
îï Venlo und Sittard | Fontys Hogeschoolen
Sittard 8
Kšln
9 Maastricht
Aachen
www.fontys.de
Maschinenbau, Software-Engineering, Wirtschaftsinformatik
50 km
ñ
Maastricht | Universiteit Maastricht
www.maastrichtuniversity.nl
Medizin, Psychologie, Jura, Internationale Wirtschaftswissenschaften
Ein starkes Stück NRW
Anne Kotthoff, Jungzüchterin aus Remminghausen
bei Meschede und Mitglied der Rinder Union
West eG
Hartmut und Jürgen Decker, Inhaber der „Max und
Moritz HähnchenBraterei“ in Ladbergen und Mitglieder
der Volksbank Tecklenburger Land eG
Almut Burgsmüller, Inhaberin der Ruhr-Apotheke
in Essen und Mitglied der NOWEDA eG
Apothekergenossenschaft
Genossenschaften in Rheinland und Westfalen: modern, innovativ und mit guter Tradition

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drei Millionen Mitglieder
48.000 Arbeitsplätze
über 600 mittelständische Unternehmen in Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft
27 Milliarden Euro Umsatz
164 Milliarden Euro Bilanzsumme
www.rwgv.de
NORDRHEIN-WESTFALEN
KLUGER KOPF
Carola Winter (2. v. l.) vereint
Studium mit Profi-Sport
„In Enschede ist es für mich viel einfacher,
meine sportlichen Ziele und das Studium
unter einen Hut zu bringen“
Carola Winter ı Studentin und Ex-Bundesliga-Spielerin
Geld nie zurückzuzahlen.“ Dass durch
die Nebenjobs das Studium der deutschen Studenten oft länger als vorgesehen dauert, nehmen die Hochschulen gern in Kauf. „Wir ermuntern die
jungen Deutschen, neben dem Studium
zu arbeiten, denn dann ‚selbstverständlicht‘ sich der Gebrauch der niederländischen Sprache schneller“, sagt Pollus
Fornerod, Sprecher an der Enscheder
Universität.
Sprachkenntnis Voraussetzung. Ob die
akademische Ausbildung in Richtung
Ingenieurwesen oder Pferdewirtschaft
zielt, Nanotechnologie oder Jura – während der dreijährigen Bachelor-Studiengänge werden fast alle Veranstaltungen
auf Niederländisch gehalten. Entsprechende Kenntnisse müssen Studienbewerber nachweisen. „Crash-Kurse, garantiert erfolgreich“, so ein Tipp von
Benjamin Wohl, „kosten 1000 Euro,
dauern nur vier Wochen und sind die
sinnvollste Investition überhaupt.“ Erst
in den Master-Studiengängen ist Vorlesungssprache zumeist Englisch.
Mit der „bilingualen Ausbildung sind
uns die Holländer zehn Jahre voraus“,
sieht André Zimmermann vom Düsseldorfer Wissenschaftsministerium die
Nachbarn weit enteilt.
34
Vorteil für das Oranje-Diplom. Und noch
einen Punkt muss Zimmermann an die
Unis im Nachbarland vergeben: „Bei
uns liegt die Orientierung vieler Professoren vorrangig in der Forschung, weniger in der Lehre. Ein nötiges Umdenken
findet da nur sehr langsam statt.“
BILDUNG IM ORANJE-STAAT
ı Ambition statt Tradition
Mit dem modernen Bildungssystem
der niederländischen Nachbarn machen
aktuell mehr als 20 000 deutsche
Studenten gute Erfahrungen.
ı Offensive Werbung
Die Universitäten haben ein großes
Interesse an ausländischen Studenten.
Mit dem Slogan „Ein Königreich für deinen Erfolg“ wirbt die Internet-Plattform
www.studieren-in-holland.de
Jährlich 8000 Euro erhalten die staatlichen Universitäten pro Student von
der Regierung in Den Haag; für die Abschlüsse Bachelor und Master oder Promotionen gibt es Extra-Prämien. So fließen gut 70 Millionen Euro aus dem Etat
von Bildungsminister Ronald Plasterk
allein in den Etat der UT. Noch einmal
so viel steuern Forschungsinstitute und
Industriesponsoren dazu. Shell, Philips,
Unilever und Rabobank – die Liste der
Unternehmen, die Lehre und Forschung
etwa in Enschede unterstützen, liest
sich wie das Who’s who der niederländischen Wirtschaft.
Zum Renommee der akademischen Kaderschmieden zwischen Groningen und
Maastricht tragen auch die nicht wenigen internationalen Top-Karrieren bei,
zu denen ein Studium an den „Universiteiten“ und „Hogeschoolen“ Tür und
Tor öffnen. Als der deutsche Bayer-Konzern im September mitteilte, im Oktober
2010 den Manager Marijn Dekkers zum
CEO zu berufen, machte die Homepage
der renommierten Radboud Universiteit
in aller Bescheidenheit darauf aufmerksam, wo der US-Niederländer das Chemiker-„Handwerk“ gelernt hat – am Comeniuslaan 4 in Nijmegen.
Nicht immer sind es jedoch ausschließlich akademische Gründe, die bildungshungrige junge Deutsche an niederländische Hochschulen führen: Die damals
19-jährige Carola Winter hatte bereits
zwei Semester Psychologie in Münster
studiert, als sie im Sommer 2007 entschied, an die Universiteit Twente zu
wechseln. Neben ihrem Studium ist die
angehende Sportpsychologin auch eine
erfolgreiche Fußballerin, mit drei Jahren
Bundesliga-Erfahrung als Spielerin der
SG Essen-Schönebeck. „Doch der Weg
– viermal die Woche – von Münster zum
Training nach Essen war sehr lang“, so
Winter. Mit ihrem Wechsel nach Enschede konnte die Kickerin sofort beim Ehrendivisionisten FC Twente anheuern
und ist – mit der Rückennummer 4 –
seither einzige Deutsche in der niederländischen Profi-Liga. „In Enschede
ist es viel einfacher, meine sportlichen
Ziele und das Studium unter einen Hut
zu bringen.“ Und das, obwohl sie sich
– Stichwort „Ausbildungsunterschiede
Niederlande/Deutschland“ – noch auf
einen anderen Punkt einstellen musste:
„Beim FC Twente wird siebenmal die
Woche trainiert.“
■
THOMAS VAN ZÜTPHEN
FOCUS 41/2009
VOM SPIELER ZUM TRAINER
ı Der 42-Jährige
kickte als Fußball-Profi elf Jahre bei
Mainz 05, bevor er dort im Winter 2001
den Trainerposten übernahm.
ı Seit Juli 2008
trainiert Klopp den BVB. In seiner ersten
Saison kam der Verein auf Platz sechs
und verpasste damit nur knapp das internationale Geschäft.
INTERVIEW
„Der Genuss nimmt nicht ab“
Jürgen Klopp, Trainer von Borussia Dortmund, über den samstäglichen Ausnahmezustand
um 15.30 Uhr, sein Leben in Dortmund und die negativen Erfahrungen beim Muschelessen
FOCUS: Herr Klopp, Borussia Dortmund ist zu Beginn der neuen Saison
nicht in Schwung gekommen. Fühlt sich
Krise in Dortmund anders an als auf Ihrer letzten Trainerstation in Mainz?
Klopp: Nein.
FOCUS: Anders gefragt: Ist eine Krise
in einem großen Verein wie dem BVB
eine andere Krise als in einem kleinen
Verein?
Klopp: Auch nicht wirklich. Man trifft
doch Entscheidungen im Leben, weil
man von einer Sache überzeugt ist, und
dann belässt man es dabei. Wir entscheiden uns ja auch irgendwann für
eine Frau, und wenn man nicht ganz
verwirrt ist, entscheidet man sich dann
nicht jeden Tag für eine andere. So ist
das auch als Trainer. Natürlich nimmt
man zur Kenntnis, was jeden Tag in der
Zeitung steht oder im Fernsehen geFOCUS 41/2009
Foto: dpa
zeigt wird. Da werden Menschen und
Fähigkeiten manchmal ganz schnell in
Frage gestellt. Dementsprechend haben sich auch Begrifflichkeiten verändert: Es gibt kaum noch Probleme, sondern es sind sofort Krisen.
FOCUS: Sie gelten als Beispiel für eine
junge erfolgreiche Trainergeneration
mit der richtigen Mischung aus Charme
und Strenge. Passt das?
Klopp: Wenn es sich allein auf das Alter bezieht, dann stimmt das. Ich mache
den Job aber auch schon neun Jahre.
Damals habe ich für mich einen Weg
gefunden, wie ich mit Spielern umgehe. Das geht nur, wenn man nicht jeden
Tag überlegen muss, wie mache ich das
jetzt und wie wirke ich dabei. Ich muss
am Tag Hunderte Entscheidungen treffen, und wenn ich da immer überlegen
würde, wie wirkt das auf wen und vor
allem natürlich auf die Öffentlichkeit,
dann wäre der Tag definitiv zu kurz.
FOCUS: Kommen wir zu Charme und
Strenge.
Klopp: Ich habe begriffen, dass es die
richtige Mischung aus Spaß am Spiel
und Disziplin braucht, um ein Spiel zu
gewinnen.
FOCUS: Wie findet man die Mischung
aus Schleifer und Kumpel?
Klopp: Mit gesundem Menschenverstand. Ich bin in einem völlig normalen
Umfeld aufgewachsen und habe diese
Mischung aus Zuneigung und Strenge auch gespürt. Und das setze ich genauso um. Mit gesundem Menschenverstand ist tatsächlich zu erkennen,
was der andere braucht und wie er gefordert werden muss. Fußballer neigen
– wie alle Menschen – schließlich auch
zur Bequemlichkeit.
35
NORDRHEIN-WESTFALEN
FOCUS: Wo ist Jürgen Klopp streng?
Klopp: Auf dem Trainingsplatz. In Abläufen rund um die Kabine. Da muss
Ordnung herrschen. Wer zu spät kommt
oder wer sich zum Beispiel gegenüber
BVB-Mitarbeitern respektlos benimmt
– erlebt mich knallhart. Wichtig ist allerdings, dass man vorlebt, wie man mit
Menschen richtig umgeht. Ich glaube,
ich habe mit jedem hier im Verein ein
recht gutes Verhältnis. Die helfen mir
bei dem, was ich tue, also helfe ich ihnen auch bei dem, was sie tun. Das
kriegen die Jungs mit und gehen hoffentlich den gleichen Weg. Andererseits
kann ich auch die Prioritätenliste „Familie an erster Stelle, dann der Beruf“
völlig akzeptieren.
FOCUS: Kann man sich darauf vorbereiten, dass es mit der Sympathie, die
Ihnen seit Ihrem Amtsantritt in Dortmund entgegengebracht wird, auch
schnell vorbei sein kann?
Klopp: Ich beschäftige mich nicht ständig damit, was andere Leute von mir denken. Das hängt im Fußball ohnehin ganz
extrem von Ereignissen ab. Der nette
Kerl von gestern ist morgen ein Idiot,
weil sein Team nicht mehr gewinnt. Das
muss man akzeptieren. Das weiß ich,
das reicht als Vorbereitung. Und dann
hofft man natürlich, dass es nicht zum
Schlimmsten kommt.
FOCUS: Sie können nicht für jedes Foto
stehen bleiben und nicht jedes Autogramm schreiben. Wenn Sie mal an jemandem vorbeigehen, denken Sie dann
„Was mag der nun von mir denken?“
Klopp: Nicht mehr. Aber ich habe lange Zeit so gedacht. Vor mehreren Jahren gab es eine Szene, da waren meine
Frau und ich Muscheln essen. Ich hatte eine aus der Schale gepult, da kam
jemand und wollte ein Autogramm. Ich
habe mir also die Finger abgewischt
und unterschrieben. Kaum hatte ich
die nächste gegessen, kam ein anderer. Wieder Hände abputzen. An dem
Tag habe ich nicht daran gedacht, irgendwann mal zu sagen:„Bitte warten
Sie, bis ich fertig bin.“ Jetzt tue ich das.
Dass man es nicht allen recht machen
kann, ist auch so eine Lehre, die das Leben einem mit auf den Weg gibt.
FOCUS: Sie haben gesagt, Familie stehe deutlich vor dem Sport. Können Sie
die Menschen in Ihrem Umfeld von der
Popularität abschirmen, oder beeinflusst diese Ihr Leben komplett?
Klopp: Es beeinträchtigt dich dann,
wenn du es zulässt. Wenn man mit den
36
ZUSAMMEN AUF DER TRIBÜNE
Wenn sein Team nicht spielt,
guckt sich Jürgen Klopp an,
was die Konkurrenz so macht.
Häufig in Begleitung seiner
Ehefrau Ulla, die beiden wohnen
in Herdecke. Klopp hat immer
wieder betont, das für ihn die
Losung „Familie vor Beruf“ gilt
STRESS AM SPIELFELDRAND
Auch beim Auswärtsspiel Mitte
September in Hannover
erreichte der BVB trotz Klopps
engagierter Anfeuerung an der
Linie nur ein Unentschieden.
Immerhin gelang ein paar Tage
später ein Sieg im Pokal
Fotos: DeFodi, firo
FOCUS 41/2009
DIE NEUE
Medien vernünftig umgeht, kann man
akzeptable Kompromisse finden.
FOCUS: Sie können Kompromisse mit
Journalisten schließen, aber nicht mit
den 30 Leuten, die täglich bei Ihnen anschellen und ein Autogramm wollen?
Klopp: Das sind ja meistens nur Kinder, die kommen logischerweise aus der
näheren Umgebung, und die habe ich
mittlerweile fast alle mit Autogrammen
versorgt. Ein Problem ist, wenn Fans bei
Freundschaftsspielen in kleinen Stadien
nach dem Abpfiff aus allen Richtungen
auf mich einstürmen. Da gibt es überhaupt keine Disziplin. Da bittet man:
„Drückt nicht so, ihr gefährdet die kleinen Kinder hier ganz vorne.“ Aber in
dem Moment geht es vielen nur darum,
ein Autogramm zu kriegen. Dann kann
ich durchaus aggressiv werden.
FOCUS: Können Sie das Gefühl beschreiben, wenn Sie am Spielfeldrand
stehen und Ihnen 80 000 zujubeln?
Klopp: Es geht nicht darum, dass
einem 80 000 zujubeln, sondern generell um die Atmosphäre. Du kommst ins
Stadion und erlebst, was da los ist. Wir
sind da, und das allein sorgt dafür, dass
die Menschen ausflippen. Das ist absoluter Wahnsinn. Man fühlt sich aber
mehr als Teil der Menge als als derje-
blut, das die Menschen da reinstecken,
ist Wahnsinn.
FOCUS: Haben Sie Ihre neue Umgebung schon mal genauer erforscht?
Klopp: Erforscht ist vielleicht nicht
ganz korrekt. Ich war jetzt endlich mal
im Sauerland, das war sehr schön, das
werde ich auch wiederholen. Das Ruhrgebiet empfinde ich als super angenehm, wenn man es als eine Metropole wahrnimmt. Die Möglichkeiten sind
unvergleichbar. Es ist sehr angenehm,
hier zu leben, aber als Fußballtrainer
ist es normal, dass die Lebensqualität
– wenn man die Spiele nicht gewinnt
– deutlich abnimmt. Das ist überall so,
egal ob man in Mainz, in Dortmund
oder anderswo arbeitet. Man lebt im
Wochenzyklus: Alles geht nur um das
Spiel am Samstag, dann wird das ein
oder zwei Tage verarbeitet. Und dann
geht es um die nächste Partie. Und
dann rennt das Jahr so weg. 34 Bundesliga-Spiele und idealerweise sechs
Pokal-Partien.
FOCUS: Was ist mit Dortmund selbst?
Klopp: Ich muss gestehen: Da war ich
bisher am wenigsten. Läuft es mit dem
BVB schlecht, ist das kein Spaß. Und
läuft es super, ist es auch nicht so der
Bringer. Weihnachtsmarkt geht, da sind
„Ich habe begriffen, dass es die richtige Mischung aus Spaß
am Spiel und Disziplin braucht, um ein Spiel zu gewinnen“
Jürgen Klopp
nige, der das ausgelöst hat. Kollektiver
Ausnahmezustand jeden Samstag um
halb vier.
FOCUS: Nimmt dieser Genuss ab, je
öfter man im Stadion steht?
Klopp: Das ist das Angenehme daran:
Er nimmt nicht ab.
FOCUS: Vermissen Sie eigentlich nach
Ihrem Umzug von Mainz nach Westfalen etwas besonders?
Klopp: Vermissen ist sicherlich das
falsche Wort. Freunde trifft man natürlich nicht mehr so oft.
FOCUS: Waren Sie in Mainz vielleicht
der totale Karnevals-Jeck? Das wäre in
Westfalen eher schwierig.
Klopp: Das war ich nie. Ich finde es
toll, wenn man das ausgiebig feiert und
ganz darin aufgeht, aber meine Sache
war es nie. Ich gucke gern zu, auch
beim Rosenmontagsumzug. Das HerzFOCUS 41/2009
alle eingemummelt. Die Leute meinen
es ja gut, aber ein Besuch der Currywurst-Bude in der Innenstadt ist für
mich schlicht nicht wirklich machbar.
FOCUS: Leben Sie eigentlich auch die
Rivalität zwischen Schalke und Dortmund aus?
Klopp: Ausleben ist das falsche Wort,
weil wir dazu keine Berührungspunkte
haben. Aber das Gefühl ist natürlich
da. Die Begegnungen sind immer etwas Besonderes. Wir wünschen den anderen ja nichts Schlechtes, sondern es
geht um die reine sportliche Rivalität.
Ein sehr gutes Wochenende ist, wenn
wir gewonnen haben und Schalke verloren hat. Andersrum gilt das natürlich
■
leider auch.
INTERVIEW: JOCHEN SCHUSTER/
KARL-HEINZ STEINKÜHLER
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NORDRHEIN-WESTFALEN
GUT GESCHÜTZT Robert Richter leitet seit
Februar 2009 zusammen mit seinem Vater
das ostwestfälische Familienunternehmen
tun hatte“, so der 28-Jährige, der in
seiner Heimatstadt Betriebwirtschaftslehre studierte. Zwar habe er das Familiengewerbe nie von sich aus offensiv
angesprochen, aber auf Partys habe er
immer ein Thema gehabt: „Wenn man
sein Geld mit Kondomen verdient, ist
das sicherlich deutlich interessanter als
zum Beispiel mit Brötchen.“
Das ostwestfälische Familienunternehmen bekam seinen Namen aus der
Zusammensetzung von Richter und Latex, dem flüssigen Naturrohstoff, aus
dem Kondome hergestellt werden. Ritex produziert seine Präservative ausschließlich in Deutschland, die Jahreskapazität der Anlagen liegt bei rund
120 Millionen Stück. Die gut 60 Beschäftigten erwirtschafteten zuletzt einen Umsatz von knapp unter zehn Millionen Euro. Seit 2003 hat die Firma
neben Gummis auch Gleitgele im Sortiment – ihr Umsatzanteil liegt bereits
bei 20 Prozent.
Größe ist in diesem Geschäft entscheidend – zumindest beim Umsatzvolumen. „Das kommt schon daher,
dass es einen ziemlich hohen Fixkostenanteil bei der Produktion gibt“, so
der Juniorchef. Bekannte Unternehmen wie Beiersdorf haben sich bei diesem Aspekt schwer verschätzt und sind mit ihren
UNTERNEHMEN
Produkten wieder aus den
Regalen verschwunden.
In den vergangenen
Jahren hat sich, so Richter, der Umgang der Menschen mit Kondomen
deutlich entspannt. 60
Mit Robert Richter steht schon die dritte Generation an der Spitze
Prozent werden mittlerdes Bielefelder Kondom-Herstellers Ritex
weile über Drogeriemärkte abgesetzt, das Geschäft
über Automaten in dunker TV-Spot ist legendär: Verschämt
spart geblieben sein. Denn der Bielelen Ecken oder auf öffentlichen Toiletfelder ist mit dem Thema Kondome groß
ten spielt kaum noch eine Rolle. Der
versteckt der von Ingolf Lück dargestellte junge Mann an der Supergeworden: Sein Großvater hat 1948 mit
Markt wächst allerdings kaum. Jahr für
Ritex einen der größten deutschen HerJahr kaufen die Deutschen zwischen
marktkasse seine Kondome (Marke
steller für Präservative gegründet. 2007
200 und 210 Millionen Kondome. Ein
„Die Bunten“) unter Lauch und Baguette. Weil die Kassiererin (Hella von
stieg der Enkel ins Unternehmen ein,
Grund: „Im Gegensatz zu den meisten
Sinnen) aber den Preis nicht kennt,
seit Februar dieses Jahres ist er einer
anderen Gütern ist der Verbrauch nicht
nützt ihm das wenig. Die Angestellte
von zwei Geschäftsführern (der andere
vom Preis abhängig“, unterstreicht Robert Richter, „sondern allein von der
brüllt durch den ganzen Laden: „Tina,
ist Vater Hans-Roland Richter).
Aussicht auf Sex.“
■
was kosten die Kondome?“
„Bei uns in der Familie ist man schon
Eine derartige Megapeinlichkeit dürfimmer ganz unverkrampft mit allem
te Robert Richter in seinem Leben erJOCHEN SCHUSTER
umgegangen, was mit Sexualität zu
Auf die Größe kommt es an
D
38
Foto: O. Krato/FOCUS-Magazin
FOCUS 41/2009
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